The Project Gutenberg eBook of Aus Indien

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Title: Aus Indien

Author: Hermann Hesse

Release date: February 9, 2021 [eBook #64513]

Language: German

Credits: Jens Sadowski. This file was produced from images generously made available by The Internet Archive.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK AUS INDIEN ***

Aus Indien

von
Hermann Hesse

1913
S. Fischer, Verlag, Berlin

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung,
vorbehalten.
Copyright 1913 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Aufzeichnungen von einer indischen Reise

Inhaltsverzeichnis

Nachts im Suezkanal 9
Abend in Asien 14
Spazierenfahren 20
Augenlust 25
Der Hanswurst 33
Architektur 35
Singapur-Traum 40
Überfahrt 50
Pelaiang 54
Sozieteit 60
Nacht auf Deck 64
Waldnacht 70
Palembang 77
Wassermärchen 83
Die Gräber von Palembang 86
Maras 90
Spaziergang in Kandy 96
Tagebuchblatt aus Kandy 102
Pedrotallagalla 108
Rückreise 112
Reisende Asiaten 119
Gedichte 123
Gegenüber von Afrika 125
Abend auf dem Roten Meer 126
Ankunft in Ceylon 127
Nachts in der Kabine 128
Fluß im Urwald 129
Kein Trost 131
Nachtfest der Chinesen in Singapur 132
Im malayischen Archipel 133
Bei Nacht 134
Pelaiang 135
Vor Colombo 136
Robert Aghion 137

Nachts im Suezkanal

Seit zwei Stunden wird das Schiff von Moskitos belästigt; es ist sehr warm, und die heitere Stimmung vom Mittelmeer hat sich erstaunlich rasch verloren. Viele fürchten sich einfach vor der berüchtigten Hitze im Roten Meer, die meisten aber kehren von kurzen Ferien und Besuchen in der Heimat zurück oder reisen zum ersten Male aus, und für sie alle beginnt jetzt erst die Heimat unterzusinken, und mit der Wärme, dem Sand, den frühen Sonnenaufgängen und den Moskitos überfällt sie der Osten, den sie alle nicht lieben, obwohl und weil sie draußen ihr Geld verdienen. Nur im Restaurant der zweiten Klasse zechen ein paar junge Deutsche, die meisten Passagiere sind schon in den Kabinen. Der ägyptische Quarantänebeamte, der unser Schiff seit Port Said begleitet, marschiert mißmutig auf und ab.

Ich versuche zu schlafen. Ich lege mich in meiner winzigen Kabine aufs Bett, über mir saust schnurrend der elektrische Fächer, im kleinen runden Fensterloch steht schwarzblau die heiße Nacht, knisternd singen die kleinen Stechmücken. Seit Genua war keine Nacht an Bord so still; seit Stunden kein Geräusch als das leise Rollen eines Eisenbahnzuges von Kairo, der auf dem langen öden Damm auftauchte, in gespenstischer Nachbarschaft vorüberschnob und wunderlich im Röhricht der weiten kahlen Landschaft verschwand.

Noch ehe der Schlummer kommt, schreckt mich das plötzliche Verstummen der Maschine auf. Wir liegen still. Ich kleide mich an und gehe aufs Oberdeck. Ringsum eine unerhörte Stille, vom Sinai her kommt der abnehmende Mond, bleiche Sandhaufen schauen im vorübergleitenden Blick entfernter Scheinwerfer tot und glanzlos auf, im unendlichen schwarzen Wasserstreifen blinken grelle giftige Reflexe, unterm schweren matten Mond zucken hundert Seen, Sümpfe, Lachen, Binsenteiche gelb und lieblos aus der traurigen Ebene. Unser Schiff fährt nicht mehr, kein Ruf oder Pfiff, es liegt regungslos, verzaubert, aber voll tröstender Wirklichkeit in der Wüste.

Auf dem Hinterdeck treffe ich einen kleinen, eleganten Chinesen aus Schanghai. Er lehnt aufrecht an der Brüstung und verfolgt die Scheinwerfer mit seinen dunklen, klugen Augen, und er lächelt dazu so hübsch wie immer. Er kann das ganze Shi-King auswendig, er hat alle chinesischen Examina gemacht und jetzt auch noch einige englische, er spricht über das Mondlicht über dem Wasser zart und nett in geläufigem Englisch und macht mir Komplimente über die schönen Landschaften Deutschlands und der Schweiz. Es fällt ihm nie ein, China zu rühmen, aber wenn er Lobendes über Europa zu sagen hat, klingt es bei aller Höflichkeit so überlegen, wie wenn der große Bruder nett ist und dem kleineren zu seinen starken Armen gratuliert. Wir wissen alle, daß in China gerade in diesen Tagen die große Revolution neu beginnt, die vielleicht dem Kaiser den Kopf kosten wird, und unser kleiner feiner Mann aus Schanghai weiß sicher weit mehr als wir und ist vielleicht gar nicht zufällig gerade jetzt unterwegs. Aber er ist still und arglos wie ein Berggipfel in der Sonne und strahlt in seiner höflich verschanzten Heiterkeit alle irgend unbequemen Fragen mit einer gewinnenden Sonnigkeit zurück, die uns alle verwirrt und mich entzückt.

Am Ufer erscheint ein lichter kleiner Fleck. Es ist ein weißer Hund, er läuft eine kleine Strecke weit den Strand entlang, streckt den mageren Hals lang aus und schaut zu uns herüber. Aber er bellt nicht. Er schaut eine Weile scheu und still herüber, riecht am trüben Wasser und trabt lautlos davon, immer der schnurgeraden Uferlinie nach.

Der Chinese redet von den europäischen Sprachen, er rühmt die Bequemlichkeit des Englischen und den Wohllaut des Französischen, er bedauert entschuldigend, daß er nur ganz wenig Deutsch und gar kein Italienisch gelernt hat. Er lächelt dazu lieb und wohlgestimmt und folgt mit den feuchten, klugen Augen den Bewegungen der Schiffslichter.

Unterdessen fahren zwei große Dampfer langsam und unendlich behutsam an uns vorüber. Unser Schiff ist am Ufer angebunden. Der große Kanal ist kostbar und gebrechlich und wird wie Gold geschont.

Ein englischer Beamter aus Ceylon tritt zu uns. Wir stehen lange und sehen ins tote Wasser, der Mond beginnt schon wieder zu sinken. Ich habe das Gefühl, ich sei seit Jahren von der Heimat fort. Nichts spricht zu mir, nichts ist mir nah und lieb, nichts tröstet mich als unser gutes Schiff. Die paar Bretter und Klammern und Lichter sind alles, was ich habe, und es macht mich unruhig, nach so viel Tagen plötzlich den vertrauten Herzschlag der Maschine nimmer zu hören und zu spüren.

Der Chinese redet mit dem englischen Beamten über Gummipreise, und ich höre immer wieder das Wort Rubber, das ich vor zehn Tagen noch nicht kannte und das mir jetzt so geläufig ist, das beherrschende Wort des Ostens. Er redet sachlich, hübsch und höflich, und er lächelt immerzu im fahlen elektrischen Licht, wie ein Buddha.

Der Mond hat seinen kleinen Bogen beschrieben, er neigt sich und versinkt hinter den grauen Schutthalden, und mit ihm versinken die hundert kühlen, übelwollenden Blinklichter der Sümpfe und Seen, die Nacht steht dick und schwarz, scharf durchschnitten von den Lichtbahnen der Scheinwerfer, die ebenso unheimlich und lautlos und unendlich geradlinig sind wie der furchtbare Kanal selber.

Abend in Asien

Abends Ankunft in Penang. Im Eastern and Oriental Hotel (dem schönsten Europäerhotel, das ich auf der hinterindischen Halbinsel traf) ward mir eine fürstliche Wohnung von vier Räumen angewiesen, vor der Veranda klatschte das braungrüne Meer an die Mauer, und im roten Sande standen groß und ehrwürdig die abendlichen Bäume. Die rotbraunen und gelben Segel vieler Dschunken, gebaut wie starksehnige Drachenflügel, leuchteten im letzten Tageslicht, dahinter der weiße Sandstreifen des Penangstrandes, die blauen siamesischen Berge und alle die winzigen, dick bewaldeten Koralleninselchen der wundervollen Bucht.

Nach Wochen eines unbequemen Wohnens in der beängstigend schmalen Schiffskabine genoß ich vor allem eine gute Stunde lang die Weite meiner Räume; ich probierte die ausschweifend bequemen Liegestühle des luftigen Vorzimmers, wo alsbald ein kleiner Chinese mit Philosophenaugen und Diplomatenhänden lautlos Tee und Bananen auftrug, ich badete im Baderaum und wusch mich im Ankleidezimmer. Dann kostete ich im hübschen Speisesaal bei ganz guter Tafelmusik zum erstenmal mit leiser Enttäuschung das üble Essen eines englisch-indischen Hotels. Inzwischen war eine tiefe, schwarze Nacht ohne Sterne heraufgekommen, die großen unbekannten Bäume rauschten wohlig im lauen, schweren Winde, und große unbekannte Käfer, Zikaden und Hummeln sangen, schwirrten und schrien überall heftig mit den scharfen eigenwilligen Stimmen junger Vögel.

Ohne Hut und in leichten Schlafschuhen trat ich auf die breite Straße hinaus, rief einen Rikschamann heran, stieg mit frohem Abenteuergefühl in den leichten Wagen und sprach mit Kaltblütigkeit meine ersten malayischen Worte, welche der flinke, starke Kuli so wenig verstand wie ich die seinen. Er tat, was jeder Rikschamann in diesem Falle tut, er lächelte mir mit seinem guten, kindlich bodenlosen Asiatenlächeln herzlich zu, wendete sich um und lief in frohem Trab davon.

Und nun erreichten wir die innere Stadt, und Gasse für Gasse, Platz für Platz, Haus für Haus glühte in einem erstaunlichen, unerschöpflichen, intensiven und doch wenig geräuschvollen Leben. Überall Chinesen, die heimlichen Herrscher des Ostens, überall chinesische Läden, chinesische Schaubuden, chinesische Handwerker, chinesische Hotels und Klubs, chinesische Teehäuser und Freudenhäuser. Dazwischen je und je eine Gasse voll Malayen oder Klings, weiße Turbane auf dunkelbärtigen Köpfen, blanke, bronzene Männerschultern und stille, ganz mit Goldschmuck behängte Frauengesichter rasch von einer Fackel beleuchtet, lachend oder aufheulend dunkelbraune Kinder mit dicken Bäuchen und wunderschönen Augen.

Hier gibt es keinen Sonntag, hier gibt es keine Nacht; ohne Ende und ohne sichtbare Pause geht die gelassene, gleichmäßige Arbeit weiter, nirgends nervös und übertrieben, überall fleißig und heiter. Klug und geduldig kauert auf hohem Brett der kleine Straßenhändler über seiner Bude, still und würdevoll arbeitet am Rande der brausenden Straße der Barbier, zwanzig Arbeiter klopfen und nähen in der Werkstatt eines Schuhmachers, freundlich breitet ein mohammedanischer Kaufmann auf niederen, breiten Ladentischen seine schönen Tücher aus, die aber fast alle aus Europa stammen. Japanische Dirnen sitzen kauernd am Steinrand der Gosse und girren wie fette Tauben, aus chinesischen Freudenhäusern glänzt golden der wohlbestellte steife Hausaltar, hoch über der Straße in offenen Veranden hocken alte Chinesen mit kühlen Gebärden und heißen Augen beim aufregenden Glücksspiel, andre liegen und ruhen oder rauchen und hören der Musik zu, der feinen, rhythmisch unendlich komplizierten und exakten chinesischen Musik. Köche sieden und braten auf der Gasse, Hungrige speisen an langen Brettertischen gesellig und feinschmeckerisch und sicher für zehn Cents nicht schlechter, als ich im Gasthaus für drei Dollar gegessen habe, Fruchthändler bieten unbekannte Früchte an, phantastische Erfindungen einer müßigen, überreichen Vegetation, kleine Buden haben ihre ärmlichen Güter, eine Handvoll getrocknete Fische oder drei Häuflein Betel, sorgsam mit Kerzen beleuchtet. Hier wandeln im verschwenderischen Licht, das namentlich der Chinese liebt, unverändert alle Gestalten der östlichen Märchen, nur die Könige, Wesire und Henker sind zum Teil verschwunden, gleichwie vor Jahrhunderten arbeitet der geschickte Barbier, tanzt die geschminkte Dirne, lächelt ergeben der Diener und blickt stolz der Herr, wie immer kauern wartend die Träger und Arbeitsuchenden, kauen Betel und erzählen einander Geschichten.

Ich besuchte ein chinesisches Theater. Da saßen still und rauchend die Männer, still und teeschlürfend die Frauen, vor ihrer hohen Empore turnte gefährlich auf schwankem Brett der Teeschenk mit mächtigem Kupferkessel. Auf der geräumigen Bühne saß eine Schar Musikanten, das Drama begleitend und seinen Takt kunstvoll betonend; auf jeden betonten Schritt des Helden fiel ein betonter Schlag der weichtönenden Holztrommel. Es wurde in alten Kostümen ein altes Stück gespielt, von dem ich wenig verstand und nicht ein Zehntel sah, denn das Stück ist lang und wird durch Tage und Nächte fortgespielt. Da war alles gemessen, studiert, nach alten heiligen Gesetzen geordnet und in rhythmischem Zeremoniell stilisiert, jede Gebärde exakt und mit ruhiger Andacht ausgeführt, jede Bewegung vorgeschrieben und voll Sinn, studiert und von der ausdrucksvollen Musik geführt. Es gibt in Europa kein einziges Opernhaus, in dem Musik und Bewegungen des Bühnenbildes so tadellos, so exakt und glänzend harmonisch miteinandergehen wie hier in dieser Bretterbude. Eine schöne, einfache Melodie kehrte häufig wieder, eine kurze, monotone Weise in Moll, die ich mir trotz aller Bemühungen nicht einprägen konnte und die ich später tausendmal wieder hörte, denn es war gar nicht, wie ich meinte, stets dieselbe Tonfolge, sondern es war die chinesische Grundmelodie, deren zahllose Variationen wir zum Teil kaum wahrnehmen können, da die chinesische Tonleiter viel kleiner differenzierende Töne hat als unsre. Was uns dabei stört, ist der allzu reichliche Gebrauch von Pauke und Gong; im übrigen ist diese Musik so fein und klingt abends von der Veranda eines festlichen Hauses so lebensfroh und oft so leidenschaftlich, lustbegierig, wie nur irgendeine gute Musik bei uns daheim es tun kann. Im ganzen Theater war außer der primitiven elektrischen Beleuchtung nichts Europäisches und Fremdes; eine alte, durch und durch stilisierte Kunst schwang ihre alten, heiligen Kreise weiter.

Leider ließ ich mich verführen, danach auch noch ein malayisches Theater zu besuchen. Da prangten grelle, wahnsinnige Kulissen von grotesker Häßlichkeit, von dem Chinesen Chek May in wohlgeglückter Spekulation auf die Affeninstinkte der Malayen gemalt, eine Parodie auf alle Entgleisungen europäischer Kunst, das ganze Theater von einer beiselhaften Drolligkeit und Hoffnungslosigkeit, die nach kurzem, krampfhaftem Lachvergnügen unerträglich wird. In üblen Kostümen spielten, sangen und tanzten malayische Mimen in varieteehafter Weise die Geschichte von Ali Baba. Hier wie später überall sah ich die armen Malayen, liebe, schwache Kinder, rettungslos an die bösesten europäischen Einflüsse verloren. Sie spielten und sangen mit oberflächlicher Geschicklichkeit, neapolitanerhaft heftig und manchmal improvisierend, und dazu spielte eine moderne Harmoniummaschine.

Als ich spät die innere Stadt verließ, klangen und glühten hinter mir die Gassen weiter, noch die halbe Nacht hindurch, und im Hotel ließ ein Engländer zu einsamem Nachtvergnügen ein Grammophon oberbayerische Jodlerquartette spielen.

Spazierenfahren

Nichts Schöneres als bei gutem Wetter in Singapur spazieren zu fahren! Man nimmt ein Rikschawägelchen, setzt sich hinein und hat nun außer der übrigen Aussicht immerzu den beruhigenden Blick auf den Rücken des ziehenden Kuli, der im Takt seines wiegenden Trabes auf- und niederhüpft. Es ist ein nackter, goldig gelbbrauner Chinesenrücken und darunter ein Paar nackte, starke, athletisch ausgebildete Beine von derselben Farbe, dazwischen eine verwaschene Badehose aus blauem Leinen, deren Farbe mit dem gelben Körper und der braunen Straße und mit der ganzen Stadt und Luft und Welt ganz delikat zusammenklingt. Daß auch die meisten Straßenbilder delikat und harmonisch aussehen, dafür müssen wir ebenfalls den Chinesen dankbar sein, die sich zu kleiden und zu tragen verstehen und deren hunderttausendköpfiges Gewimmel in Blau, Weiß und Schwarz die Gassen füllt. Dazwischen schreiten stolz und heldenhaft mit schwarzbraunen, hageren Gliedern und asketischen Augen hochgewachsene Tamilen und andere Indier, deren jeder auf den ersten Blick wie ein entthronter Radscha aussieht, die aber allesamt, nicht besser als die Malayen, mit negerhafter Hilflosigkeit auf jeden Importartikel hereinfallen und sich kleiden wie Dienstmägde am Sonntag. Man sieht da wunderschöne, dunkle, nobel blickende Menschen genau in denselben schreienden, grellen, schonungslos farbigen Kostümen einhergehen, wie sie etwa auf heimatlichen Maskenbällen von jungen phantasievollen Ladengehilfen getragen werden – wahre Karikaturen von Trachten! Die klugen Kaufleute aus unserem Westen haben die indischen Seiden und Leinen entbehrlich gemacht, sie färbten Baumwolle und druckten Kattune viel greller, viel indischer, jubelnder, wilder, giftiger, als sie je in Asien gesehen worden waren, und der gute Indier samt dem Malayen ist ein dankbarer Kunde geworden und trägt um seine bronzenen Hüften die billigen, farbengrellen Stoffe aus Europa. Zehn solche indische Figuren genügen, um eine belebte Straße farbig unruhig zu machen und in ein Stück unechten „Orient“ zu verwandeln. Aber sie kommen hier nicht auf, sie mögen noch so königlich schreiten und noch so papageienhaft leuchten, sie werden umschlossen und erstickt und still zugedeckt von dem diskreten gelben Volk aus China, das in hundert Straßen dicht und fleißig haust und wimmelt, von der uniformen, ameisenartigen Menge der Chinesen, von denen keiner in Farben schwelgen und seine Person zum König oder Hanswurst herausputzen will, deren unendlicher Schwarm in Blau, Schwarz und Weiß die ganze Stadt Singapur erfüllt und beherrscht.

Den Chinesen verdanken wir auch die langen, ruhigen, wohltuend gleichmäßigen Straßenzüge, wo Haus an Haus blau und bescheiden in der blauen stillen Reihe steht und jedes das andere hält und gelten läßt und hebt, mindestens so fein und diskret wie in Paris. Den Engländern aber verdanken wir die breiten, schönen, reinen, bequemen Wege, die anmutvollen Gartenvorstädte und die herrlichen Baumpflanzungen, die vielleicht das Schönste von ganz Singapur sind.

Da ist gleich vorn am Meere, mitten zwischen den protzigen Gebäuden und weiten, schönen Sportplätzen, die mittags so leer und kahl und unwahrscheinlich groß in der unbarmherzigen Sonne glühen, die mächtige Esplanade, eine fürstlich breite Allee von alten, herrlichen Bäumen, eine immer kühle, immer schattige, ehrwürdige Riesenhalle aus Laub und Ästen. Hier ist es schön am frühen Vormittag zu fahren, wenn über dem glänzenden Meer und über den ungezählten Schiffen und Segeln und schaukelnden Booten die heftige Sonne schräg herabbrennt und hinter Meer und Schiffen und Inseln den ganzen Horizont entlang phantastisch in Form von Türmen und riesigen Bäumen die steilen, weißen Morgenwolken stehen. Und es ist schön am Mittag, wenn ringsum alles in der Hitze kocht und brütet. Da ist die Einfahrt aus der blendenden Glut in diese dunkle Baumkühle nicht anders als der Schritt von einem sommermittäglichen Marktplatz in einen heilig kühlen Dom mit dunkeln Gewölben. Am Abend aber ist das schräg einfallende Licht voll Gold und Wärme, vom Meer weht frisch der duftende Wind, aufatmende Menschen fahren vergnügt in weißen Kleidern spazieren und spielen Ballspiele auf grünen, flachen Plätzen, deren Rasen im Abendlicht edelsteingrün leuchtet. Und nachts, da fährt man in die Esplanade ein wie in eine Zauberhöhle, in den kleinen Lücken zwischen den Baumkronen hängen grünfunkelnd die Sterne, im selben kühlen Feuer schimmern die Schwärme der Leuchtkäfer, und auf dem Meere schwimmt mit tausend roten Augen die geheimnisvolle Lichterstadt der Schiffe.

Ohne Ende sind die Gartenstraßen der äußern Stadt. Da fährst du auf glatten, feinen, äußerst gepflegten Wegen immerzu, und überall zweigen stille Wege ab und führen durch grüne reiche Baumgärten zu stillen, luftigen Landhäusern, deren jedes Heimweh weckt und Glück zu hegen scheint, und über dir und um dich her atmet ruhig und lebendig die wunderbare Baumlandschaft, stundenlang, ein Park ohne Ende, mit Bäumen, die an Eichen und an Buchen, an Birken und an Eschen erinnern, die aber alle ein wenig ausländisch und märchenhaft schauen und größer, höher, üppiger sind als unsere Bäume.

Plötzlich sind wieder Häuser da, man fährt an Werkstätten, Läden und ernsthaftem Chinesenbienenleben vorüber, vergoldetes Porzellan und hellgelbe Messingwaren glänzen in Schaufenstern, fette indische Händler sitzen auf niederen Ladentischen zwischen Haufen von Seidenstoffen oder lehnen neben Schaukasten voll Diamanten und grünen Jettsteinen. Das heftige Straßenleben erinnert wohlig an italienische Städte, entbehrt aber völlig des wahnsinnigen Gebrülls, mit dem in Italien jeder Streichhölzerbub seine Bagatelle ausschreit.

Wieder kommen niedere Häuser, Bäume dazwischen, halbländliche Vorstadtluft, und plötzlich ist man unter Kokospalmen. Niedere Hütten, mit Palmblättern gedeckt, Ziegen, nackte Kinder, ein Malayendorf und, soweit der Blick reicht, tausend und wieder tausend Palmen streng und kahl, darunter flimmernd das weißlichgrüne Tageslicht.

Und kaum hat das Auge sich angepaßt und kaum hat das Bewußtsein mit Genuß den heftigen Kontrast zwischen geradlinig stilisierter Palmenwelt und laubig weicher, wirrer Parklandschaft verzeichnet, da geht alles wankend auseinander, erschrocken fällt der Blick in eine ungeheure Weite, man ist am Meere, an einem ganz neuen, stilleren und weiten Meere mit flachem Palmenstrand und wenig Booten, und hinten im Bogen liegt mit blauen Hügelsilhouetten Insel an Insel, alles überragt und klein gemacht durch die große Form eines chinesischen Segels, das mit hundert feinen Rippen wie ein Drachenflügel in den Himmel sticht.

Augenlust

Wenn aus der Flasche, die mein Boy eben öffnet, ein turmhoher Ifrit emporrauchte und mir die Erfüllung dreier Wünsche gewährte, so würde ich ohne Besinnen sagen: Gesund sein, eine schöne, junge Geliebte bei mir haben und über zehntausend Dollar verfügen.

Alsdann würde ich eine Rikscha nehmen und einen Extra-Rikscha-Kuli für die Pakete und würde in die Stadt fahren, die ersten paar tausend Dollar lose in der Tasche. Ich würde nicht auf die bettelnden Kinder hören, die sich zum Entsetzen meiner Schönen mit dem leidenschaftlichen Ausruf: „O father, my father!“ um mich drängen. Dem kleinen elfjährigen Chinesenmädchen hingegen, das täglich vor den Hotels seinen fliegenden Handel mit Spielsachen betreibt, würde ich einen Dollar schenken. Sie ist, wie gesagt, elf Jahre alt, und ihr Wuchs und Aussehen ist noch weit kindlicher und minderjähriger; dennoch geht sie ihrem Straßenhandel schon seit sechs Jahren nach. Sie hat mir das selbst erzählt, doch würde ich es nicht weiterberichten, wenn nicht ein alter Singapurer es mir bestätigt hätte. Das kleine, schmächtige Mädel hat das süße Kindergesicht, das hübsche Chinesen oft bis zum Alter bewahren, aber sie hat gescheite, kühle Augen und ist vielleicht das hoffnungsvollste und smarteste Chinesenkind von Singapur, was sie auch sein muß, denn es leben seit Jahren fünf Personen von ihrer Arbeit, und ihre Mutter geht, so oft sie kann, Sonntags zum Spielen nach Johore. Die Kleine trägt einen wundervollen Zopf, schwarze, weite Hosen und eine verschossene blaue Bluse, und es wird dem ältesten Überseer nicht gelingen, sie beim Feilschen und Scherzen einen Augenblick in Verlegenheit zu bringen. Leider hat sie noch sehr wenig Kapital und noch keine Marktübersicht, aber das wird kommen, und vielleicht ist es auch reine Klugheit von ihr, daß sie gerade mit Kinderspielsachen handelt, so lange ihr leichtes Kinderfigürchen und ihr glattes Kindergesicht diesen Handel suggestiv unterstützen. Später wird sie mit Gegenständen handeln, die wohlhabende junge Herren brauchen, dann wird sie heiraten und ihr Geschäft in Porzellan, Bronzen und Altertümern machen, und schließlich wird sie nur noch spekulieren und Geld verleihen und die Hälfte ihres Vermögens in ein wahnsinnig luxuriöses Privathaus verbauen, wo in viel zu vielen Zimmern viel zu viele Lampen brennen und wo der riesige Hausaltar von Gold funkeln wird.

Sie soll also ihren Dollar haben, und nachdem sie ihn ohne Erstaunen und ohne vielen Dank eingesteckt hätte, würden wir gegen die High Street hin fahren. Erst würde ich noch in einer Seitenstraße beim besten Rottangflechter halten lassen und für mich und meine Liebste je einige Liegestühle bestellen, die beste Arbeit aus dem fehlerlosesten und biegsamsten Material, jeder Stuhl unsern Körpermaßen bequem angepaßt und mit einem kleinen Teegestell, einem kleinen Bücherkästchen, einem Zigarettenbehälter und spaßeshalber mit einem schönen, feingeflochtenen Vogelkäfig versehen.

In der High Street würden wir zuerst bei einem indischen Juwelier vorfahren. Diese Leute haben zuviel Verbindung mit Europa und verstehen selten mehr, ihre Sachen so naiv und edel zu fassen wie früher, sie arbeiten nach englischen und französischen Dessins und beziehen aus Idar und Pforzheim, aber ihre Steine sind meistens schön, und mit Geduld und Sorgfalt würde ich sicher sein, mindestens ein edles, goldenes Armband mit Rubinen und eine dünne, zarte Halskette mit bleichen, bläulichen Mondsteinen zu finden. Zeit hätten wir ja genug, und die Händler mögen in Asien sein wie sie wollen, jedenfalls ist ihre Zeit und Geduld und Höflichkeit unermessen, und du kannst ruhig zwei Stunden lang einen Laden besehen und nach allen Waren und Preisen fragen, ohne etwas zu kaufen.

Lachend würden wir dann einen chinesischen Laden betreten, wo vorn Blechkoffer und Zahnbürsten, im nächsten Raum Spiel- und Papiersachen, im nächsten Bronzen und Elfenbeinschnitzereien und im hintersten alte Götter und Vasen zu haben sind. Hier dringt der europäische Operettenstil nur bis in die Mitte des Ladens, weiter hinten gibt es wohl noch Imitationen und Fälschungen, aber die Formen sind echt, und sie drücken alles aus, was ein Chinese fühlen kann, von der eisigsten Würde bis zum tollen Vergnügen an wildester Groteskerie. Hier würden wir einen eisernen Elefanten mit erhobenem Rüssel kaufen, zwei oder drei alte Porzellanteller mit grün und blauen Drachen oder Pfauen und ein altes Teeservice, rotbraun und golden, mit Familien- und Kriegerszenen der alten Zeit.

Dann würden wir in einen von den japanischen Läden gehen. Der Schwindel ist hier am größten, und wir kaufen weder Silber noch Porzellan, weder Bilder noch Holzschnitte, aber eine Menge kleiner spielerischer Sachen ohne Wert: kapriziöse Fächer aus dünnstem Holz, kleine duftende Holzschachteln mit hübschen eingelegten Verzierungen, die nur durch einen geheimen Fingerdruck zu öffnen sind, und hölzerne und beinerne Geduldspiele von raffiniert erfinderischer Zusammensetzung, Kugeln, die beim Anfassen in dreißig Teile zerfallen und mit deren Wiederherstellung man eine Ferienwoche hinbringen kann, und kleine Figuren von Menschen und Tieren, die hier für fünfzig Cents zu haben sind und die alle deutschen Kunstgewerbler zusammen nicht so einfach und ausdrucksvoll fertig bringen würden.

Nun aber kämen die javanischen und die Tamilgeschäfte an die Reihe. Alte Battik-Sarongs mit Mustern von Vögeln und Blättern, Schnecken und Dreiecken, Sarongs aus reichem, schwerem Goldbrokat vom Süden Sumatras, satt leuchtend wie Sonnenuntergänge, und Kopftücher und Schärpen aus chinesischer und indischer Seide, viel Goldgelb und Rotbraun und Currygrün, und kleine steife Frauenschuhe, nadelspitz und gewölbt wie eine japanische Holzbrücke, mit Silber und Perlen gestickt. Und für mich selber will ich einen grünen Sarong und braune Saronghosen haben, dazu eine grüne Samtmütze und eine luftig dünne Schlaf- und Morgenjacke aus gelber Seide. Dann kämen die Spitzen dran, von denen ich nichts verstehe und die darum am meisten kosten, und dann die schönen Elfenbeinschnitzereien: Elefanten und Tempel, Buddhas und Götzen, Jackenknöpfe und Stockgriffe, auch ganze Elefantenzähne und Würfel und Spielzeug, Figürchen und Dosen.

Nicht vergessen dürften wir, auch ins Chinesenviertel hinüberzufahren und weit draußen in der North Bridge Road auszusteigen, wo Laden an Laden die Geschäfte der Trödler und Antiquitätenhändler stehen. Da sind neben Stiefeln und silbernen Matrosentaschenuhren, neben abgelegten Herrenkleidern und messingenen Tabakspfeifen schöne, alte bronzene Schalen und Vasen zu finden, manchmal auch altes Porzellan, wenn man Zeit und Geduld hat. Auf alle Fälle aber hängen und liegen dort in Glaskasten, geheimnisvoll im düsteren Ladenwinkel glühend, die schönsten chinesischen Schmucksachen: einfache alte Fingerringe aus Gold oder Silber mit einfach und schön gefaßten Steinen oder Perlen, dünne, lange Goldketten jeder Art, alles aus dem chinesischen hellgelben, freudig heiteren Gold, und dickere Ketten, an denen ein gelbgoldener Fisch hängt, ein grotesker schwänzelnder Fisch mit tausend zarten Schuppen und mit vorstehenden, glotzenden Augen aus Opalen, Armbänder aus Gold oder aus milchig-hellgrünem Jettstein, jedes Band aus einem Stück geschnitten, Broschen aus alten chinesischen Goldmünzen, alles ein wenig verblaßt und antiquiert und alles von derselben wunderbar exakten, kapriziös-spielerischen Arbeit. Das gemünzte Geld gilt hier wie bei allen naiven Völkern unbedingt als schmückendes Wertstück; die Schwarzwälder Bauern trugen und tragen da und dort heute noch Silbertaler als Jackenknöpfe, zum selben Zweck werden alte silberne Tikals in Siam verwendet, ich selbst trage solche Tikalknöpfe an meiner weißen Jacke; chinesische und siamesische Goldmünzen mit den schönen, dekorativen Schriftzeichen sieht man überall als Broschen und Manschettenknöpfe, und hier in einem Laden sah ich einmal eine ganze Kollektion von modernen billigen Broschen, die alle aus Geldmünzen der verschiedensten Länder gemacht waren; darunter war auch eine mit einem alten deutschen Zwanzigpfennigstück, mit einem jener dünnen, winzigen Silberstückchen, die längst abgeschafft und verschwunden sind. (In Schwaben sagte früher jedermann, wenn er im Bäckerladen ein paar solche Zwanziger herausbekam: „Das ist doch ein zu dummes Geld, überall verliert man sie, sie sind halt zu klein!“ Worauf der Bäcker unfehlbar erwiderte: „Ach was, wenn ich nur genug von denen hätte! Mir wären sie nicht zu klein.“)

Und wenn ich das alles gekauft hätte und ruiniert wäre und meine Geliebte mich verlassen hätte, dann würde ich immer noch zuweilen durch die Ladenstraßen gehen. Ich würde vor den Auslagen stehen und durch die Schaufenster blicken, würde an feinen Hölzern riechen, zarte Gewebe betasten und meine Geschicklichkeit an den hunderterlei Geduldspielen und Schnurrpfeifereien üben, und ich hätte dabei die Augenlust, die der Osten bietet und auf die er ganz allein gestellt ist. Alles, was man um Geld haben kann, ist hier in Asien zweifelhaft, vom Bett bis zum Essen, vom Diener bis zum Geldwechseln, aber ringsum glänzt unerschöpft der Reichtum und die Kunst Asiens, von allen Seiten her bedrängt, bestohlen, unterhöhlt und vergewaltigt, vielleicht schon arg geschwächt und vielleicht schon im Todeskampf, aber auch so noch reicher und vielfältiger, als wir im Westen es uns träumen können. Überall liegen Schätze zur Schau, und alle gehören dem, der seine Augenlust daran zu finden weiß, denn ob ich für hundert Dollar einkaufe oder für zehntausend, ich bekomme für alles Geld doch nur das hübsche einzelne, das vielleicht bald enttäuscht, und vom Bild der gehäuften Schätze, von dem großen, bunten asiatischen Basarglanz kann ich nichts mit nach Westen nehmen als einen Abglanz im Gedächtnis. Ob ich später zu Hause eine Kiste voll chinesischer und indischer Sachen auspacke oder zehn Kisten, das ist, als ob ich vom Meere eine oder zwanzig Flaschen voll Wasser mitbrächte. Brächte ich auch hundert Tonnen heim, es wäre doch kein Meer.

Der Hanswurst

In Singapur besuchte ich wieder einmal ein malayisches Theater. Ich tat es längst nicht mehr in der Hoffnung, hier etwas von Kunst und Volkstum der Malayen zu sehen oder sonst wertvolle Studien machen zu können, sondern lediglich in behaglicher Abendstimmung, wie man an einem müßigen Abend in einer fremden Seestadt nach dem Essen und Kaffee Lust bekommt, in ein Varietee zu gehen.

Die sehr geschickten Schauspieler, deren einer einen Europäer zu spielen hatte, stellten eine moderne Ehegeschichte aus Batavia dar, die ein Stückefabrikant auf Grund von Zeitungs- und Gerichtsnachrichten dramatisiert hatte. Die Gesangseinlagen mit Begleitung eines alten Klaviers, dreier Geigen, eines Basses, eines Horns und einer Klarinette waren von rührender Komik. Unter den Frauen eine wunderschöne junge Malayin, wohl Javanin, mit hinreißend edelm Gang.

Das Merkwürdige aber war eine magere junge Schauspielerin in der seltsamen Rolle eines weiblichen Hanswurst. Die sehr sensible, überintelligente, allen andern unendlich überlegene Frau stak in einem schwarzen Sack, trug über ihrem schwarzen Haar eine fahlblonde scheußliche Wergperücke und hatte das Gesicht mit Kalk beschmiert, auf der rechten Wange einen großen schwarzen Klecks. In dieser toll häßlichen Bettelmaske bewegte sich die nervös geschmeidige Person in einer Nebenrolle, die zum Stück nur äußerst flüchtige Beziehungen hatte, und war doch beständig auf der Bühne; denn sie spielte den vulgären Hanswurst. Sie grinste und fraß auf affenhafte Art Bananen, sie belästigte Mitspieler und Orchester, unterbrach die Handlung durch Witze oder begleitete sie stumm mit parodierender Nachäffung; dann wieder saß sie zehn Minuten lang teilnahmlos auf dem Fußboden, hielt die Arme verschränkt und blickte mit gleichgültigen, krankhaft klugen, kalt überlegenen Augen ins Leere oder fixierte uns Zuschauer der vordersten Reihe mit kühler Kritik. In dieser Abseitigkeit sah sie nicht mehr grotesk aus, eher tragisch, der schmale, brennend rote Mund teilnahmlos ruhend, vom vielen Lachen ermüdet, die kühlen Augen aus dem fratzenhaft bemalten Gesicht traurig, vereinsamt und erwartungslos blickend. Man hätte mit ihr reden mögen wie mit einem Shakespeareschen Narren oder wie mit Hamlet. Bis die Gebärde irgendeines Mitspielers sie reizte – dann stand sie auf, von Leben durchflossen, und parodierte diese Gebärde mit dem kleinsten Aufwande an Anstrengung in so hoffnungslos vernichtender Übertreibung, daß die Mitspieler hätten verzweifeln müssen.

Aber diese geniale Frau war nur Hanswurst: sie durfte nicht italienische Arien singen wie ihre Kolleginnen, sie trug das schwarze Kleid der Erniedrigung, und ihr Name stand weder auf dem englischen noch auf dem malayischen Theaterzettel.

Architektur

Große und prächtige Bauten sieht man in der malayischen Welt eigentlich nirgends; die paar Fürsten sind ziemlich bescheiden, und die Bevölkerung hat nie das Bedürfnis gekannt, sich in Bauorgien an Tempeln und anderen Kultusbauten auszutoben. Die buddhistischen und Hindutempel sind ohne viel Variationen von Vorderindien übernommen, die Moscheen sind ohne Originalität, von der meist ganz stillosen modernen Prachtmoschee bis zur kleinen, idyllischen mohammedanischen Dorfkirche, deren Turm aus vier unbehauenen Baumstämmen besteht. Das Klima zerstört alles Menschenwerk hier sehr rasch, die Wohnungen sind nicht auf Stabilität und Dauer, sondern nur aus dem momentanen Bedürfnis nach Schatten, Kühle und Regenschutz angelegt.

Der ebene Boden der malayischen Länder ist großenteils sumpfig und gärt in Fieberluft; Schlangen und Raubtiere sind zu fürchten; so ist heute wie vor viel tausend Jahren der Pfahlbau hier der herrschende Häusertyp. Der Fußboden ruht auf eingerammten oder auch einfach lebendig abgesägten Baumstämmen anderthalb bis zweieinhalb Meter über der Erde, mit ihr verbunden durch eine oder zwei leichte Holztreppen, die zum Schutz gegen Schlangen und anderes Getier möglichst steil angelegt und manchmal mühsam zu ersteigen sind. Der Fußboden besteht häufig aus Brettern, meistens aber nur aus einer losen Lage von Stangen, ist übrigens in allen Häusern mit reinen, schönen Bastmatten belegt. Darüber ruht ein einfaches Giebeldach, dessen vordere Balken häufig wie beim niedersächsischen Bauernhaus kreuzweise überstehen, das Dachgerippe aus Bambusstäben ist mit Palmblättern dicht belegt, leicht, kühl und sehr wasserdicht. Ich habe mehrmals im Urwald bei rasenden Tropenregen nachts unter einem solchen Blätterdach gelegen, ohne naß zu werden. Neuerdings sieht man, auch schon auf dem Lande, viele Hohlziegeldächer.

Das ist der Typ des hinterindischen Wohnhauses. An manchen Orten sind die Dächer nach chinesischer Art elegant geschweift und mit Hörnerschmuck versehen. Eine auffallende malayische Eigenart ist das Gliedern des Hauses und Bewerten der Räume durch Niveauverschiebung, so daß vom Eingang her jeder Raum des Hauses um zwei, drei Handbreiten höher liegt als der vorhergehende.

In den Städten, soweit sie trockenen und gesunden Boden haben, fällt der Pfahlunterbau weg; hier bestimmt der chinesische Typ das Straßenbild, das malayische Fischer- und Bauernhaus ist in die Vorstädte verdrängt. Die Chinesenstraßen, alte wie neue, sind ohne Ausnahme zusammenhängende Reihen kleiner Häuser von zwei, seltener drei Stockwerken; das Erdgeschoß ist Werkstatt oder Laden, das Obergeschoß sieht, wenn die Fensterläden offenstehen, mit offenen, leicht vergitterten Räumen nach der Straße und gibt ihr eine feine Luftigkeit, die Bauten sind farbig verputzt, meist heftig waschblau, was im starken Licht der Tropen kühl und nobel aussieht. Die Vorderräume der Obergeschosse ruhen auf Pfeilern, und so entsteht auf beiden Seiten jeder Straßenflucht eine Kolonnade, fröhlich anzusehen und voll von Bildern des kleinen Lebens. Der reiche Chinese freilich hat sein Landhaus im Villenquartier, luxuriös und meist europäisch beeinflußt, darum her ein stiller, steifer, sonniger Garten, wo jede Pflanze erhöht und isoliert in einer Vase steht.

Die Europäer haben nun alle Städte ganz neu gestaltet und damit viel Hygiene und Bequemlichkeit, aber wenig Schönheit hereingebracht. Von allen Europäerbauten hier draußen sind einzig die Bungalows schön, die in den Villenvorstädten erquickend wohnlich und lieblich in der üppigen Parklandschaft stehen. Diese Bungalows sind darum schön, weil sie notgedrungen sich den Bedürfnissen des Klimas fügen und sich darum an den Urtyp des indischen Wohnhauses halten mußten. Alles andere, was die Weißen hier gebaut haben und bauen, wäre durchaus würdig, in einer deutschen Bahnhofstraße aus den achtziger Jahren zu stehen. Die Engländer tun Großes für ihre Kolonien, die Anlage vieler Geschäftsstraßen, Häfen, Villenviertel und Parkvorstädte samt Straßenbau, Bewässerung und Beleuchtung sind musterhaft und oft von glänzender Großzügigkeit, aber schöne Häuser (mit Ausnahme des Bungalowtyps) konnten auch sie nicht bauen. Und nun wütet falscher Marmor, Wellblech und Gewerbeschulrenaissance weiter und verseucht auch die Modernen und Wohlhabenden unter den einheimischen Bauherren. Japanische Zahnärzte und chinesische Wucherer bauen sich Häuser, die in die geschmacklosesten Straßen deutscher Mittelstädte passen würden. Entsprechend sind Brücken, Brunnen und Denkmäler. Das Übelste aber sind die Kirchen. Von einem feinen stillen Palmenwalde, von einer weitern hübschen Malayendorfgasse oder von einer tiefblauen, diskret uniformen Chinesenstraße aus auf eine Kirche zu blicken, die auf ödem Platz in entwurzelter und entgleister englischer Gotik das kulturelle Unvermögen des Westens predigt, das gehört weit mehr als Schmutz und Fieber zu den Peinlichkeiten einer indischen Reise; denn hier fühlt man sich im Innersten mitverantwortlich. Und diese Dinge sind alle, gleich einem deutschen Postgebäude, ebenso solide wie häßlich gemacht. Ein Malayenhaus, das gestern fertig wurde, wird in drei Monaten wetterfarben und angepaßt und völlig eingewachsen sein, als stände es fünfzig Jahre da; ein holländisches Residentenpalais aber, eine englische Kirche oder ein französisch-katholisches Schulhaus wird unser Auge nicht erfreuen können, ehe es seine schuldbeladene Existenz zu Ende gelebt und seine Bestandteile der Natur zurückgegeben hat.

Singapur-Traum

Den Vormittag hatte ich zwischen den Gärten der Europäer auf den grasbewachsenen, laubig umrahmten Wegen Schmetterlinge gefangen, war in der weißen Mittagsglut zu Fuß in die Stadt zurückgegangen und hatte den Nachmittag mit Spazierengehen, Lädenbesuchen und Einkaufen in den schönen, lebendig wimmelnden Straßen von Singapur hingebracht. Nun saß ich im hohen Säulensaal des Hotels mit meinen Reisegefährten beim Abendessen, die großen Flügel der Fächer surrten fleißig in der Höhe, die weißleinenen Chinesenboys schlichen still und gelassen durch den Saal und trugen das schlechte englisch-indische Essen auf, das elektrische Licht blitzte in den kleinen schwimmenden Eisstückchen der Whiskygläser. Müde und ohne Hunger saß ich meinen Freunden gegenüber, schlürfte kaltes Getränk, schälte kleine goldgelbe Bananen und rief frühzeitig nach Kaffee und Zigarren.

Die andern hatten beschlossen, in einen Kinematographen zu gehen, wozu meine von der Arbeit in voller Sonne überangestrengten Augen keine Lust hatten. Dennoch ging ich schließlich mit, nur um für den Abend versorgt zu sein. Wir traten barhaupt und in leichten Abendschuhen vor das Hotel und schlenderten durch die wimmelnden Straßen in gekühlter blauer Nachtluft; in ruhigem Seitengassen hockten bei Windlichtern an langen rohen Brettertischen Hunderte von chinesischen Kulis und aßen vergnügt und sittsam ihre vielerlei geheimnisvollen und komplizierten Speisen, die fast nichts kosten und voll unbekannter Gewürze stecken. Getrocknete Fische und warmes Kokosöl dufteten intensiv durch die von tausend Kerzen flimmernde Nacht, Rufe und Schreie in dunkeln östlichen Sprachen hallten in den blauen Bogengängen wider, geschminkte hübsche Chinesinnen saßen vor leichten Gittertüren, hinter denen reiche goldene Hausaltäre düster funkelten.

Von der dunkeln Brettertribüne des Kinotheaters blickten wir über unzählige langzopfige Chinesenköpfe hinweg auf das grelle Lichtviereck, wo eine Pariser Spielergeschichte, der Raub der Mona Lisa und Szenen aus Schillers Kabale und Liebe, alle in derselben seelenlosen Anschaulichkeit, vorübergeisterten, doppelt gespensterhaft in der Atmosphäre von Unwirklichkeit oder peinlicher Zweifelhaftigkeit, welche diese westlichen Angelegenheiten hier zwischen Chinesen und Malayen annehmen.

Meine Aufmerksamkeit war bald erlahmt, mein Blick ruhte zerstreut in der Dämmerung des hohen Saales aus, und meine Gedanken fielen auseinander und blieben leblos liegen wie die Glieder einer Marionette, die man im Augenblick nicht braucht und weggelegt hat. Ich senkte den Kopf in die aufgestützten Hände und war alsbald allen Launen meines denkmüden und mit Bildern gesättigten Gehirns preisgegeben.

Es umgab mich zunächst eine schwach murmelnde Dämmerung, in der ich mich wohl fühlte und über welche nachzusinnen ich kein Verlangen trug. Allmählich begann ich zu merken, daß ich auf dem Deck eines Schiffes lag, es war Nacht, und nur wenige Öllaternen brannten, neben mir lagen viele andere Schläfer Mann an Mann, jeder am Boden auf seiner Reisedecke oder Bastmatte hingestreckt.

Ein Mann, der mir zur Seite lag, schien nicht zu schlafen. Sein Gesicht war mir bekannt, ohne daß ich seinen Namen wußte. Er bewegte sich, stützte die Ellbogen auf, nahm eine goldene Brille ohne Ränder von den Augen und begann sie mit einem weichen, flanellenen Tüchlein sorgfältig zu reinigen. Da erkannte ich ihn; es war mein Vater.

„Wohin fahren wir?“ fragte ich schläfrig.

Er putzte, ohne aufzublicken, an seiner Brille weiter und sagte ruhig: „Wir fahren nach Asien.“

Wir redeten Malayisch, mit Englisch vermischt, und dieses Englisch erinnerte mich daran, daß meine Kindheit lang vorüber sei, denn damals besprachen meine Eltern ihre Geheimnisse alle englisch, und ich verstand nichts davon.

„Wir fahren nach Asien,“ wiederholte mein Vater, und plötzlich wußte ich alles wieder. Jawohl, wir fuhren nach Asien, und Asien war nicht ein Weltteil, sondern ein ganz bestimmter, doch geheimnisvoller Ort, irgendwo zwischen Indien und China. Von dort waren die Völker und ihre Lehren und Religionen ausgegangen, dort waren die Wurzeln alles Menschenwesens und die dunkle Quelle alles Lebens, dort standen die Bilder der Götter und die Tafeln der Gesetze. Oh, wie hatte ich das nur einen Augenblick vergessen können! Ich war ja schon so lange Zeit unterwegs nach jenem Asien, ich und viele Männer und Frauen, Freunde und Fremde.

Leise sang ich unser Reiselied vor mich hin: „Wir fahren nach Asien!“ und ich gedachte des goldenen Drachens, des ehrwürdigen Bobaumes und der heiligen Schlange.

Freundlich sah mich mein Vater an und sagte: „Ich lehre dich nicht, ich erinnere dich nur.“ Und indem er es sagte, war er nicht mein Vater mehr, sein Gesicht lächelte eine Sekunde lang genau so wie das Gesicht, mit welchem in den Träumen unser Führer, der Guru, zu lächeln pflegt, und im selben Augenblick erlosch das Lächeln, und das Gesicht war rund und still wie die Lotosblüte und glich genau dem goldenen Bildnis Buddhas, des Vollendeten, und wieder lächelte es, und es war das reife, schmerzliche Lächeln des Heilands.

Der neben mir lag und gelächelt hatte, war nicht mehr da. Es war Tag, und alle Schläfer hatten sich erhoben. Bestürzt raffte auch ich mich empor und irrte auf dem ungeheuren Schiff umher, zwischen fremden Menschen, und sah auf dem schwarz-blauen Meere Inseln mit wilden, gleißenden Kalkfelsen und Inseln mit wehenden hohen Palmen und tiefblauen Vulkanbergen. Kluge, braune Araber und Malayen standen mit vor der Brust gekreuzten mageren Händen, verneigten sich bis zum Boden und verrichteten die vorgeschriebenen Gebete.

„Ich habe meinen Vater gesehen,“ rief ich laut, „mein Vater ist auf dem Schiff!“

Ein alter englischer Offizier in einem geblümten japanischen Morgenkleide sah mich aus hellblauen Augen glänzend an und sagte: „Ihr Vater ist hier und ist dort, er ist in Ihnen und außer Ihnen, Ihr Vater ist überall.“

Ich gab ihm die Hand und erzählte ihm, daß ich nach Asien fahre, um den heiligen Baum und die Schlange zu sehen und um in die Quelle des Lebens zurückzugehen, in welcher alles seinen Anfang nahm und welche die ewige Einheit der Erscheinungen bedeutet.

Aber ein Händler hielt mich eifrig an und nahm mich in Anspruch. Es war ein Englisch redender Singhalese, er zog aus einem Körbchen kleine Lappenbündel hervor, die er auseinanderwickelte und aus denen kleine und große Mondsteine zum Vorschein kamen.

Nice moonstones, Sir,“ flüsterte er beschwörend, und da ich mich heftig abwenden wollte, legte jemand eine leichte Hand auf meinen Arm und sagte: „Schenken Sie mir ein paar Steinchen, sie sind wirklich hübsch.“ Die Stimme fing mein Herz alsbald ein wie eine Mutter ihr entlaufenes Kind, ich wandte mich glühend um und begrüßte Miß Wells aus Amerika. Unbegreiflich, daß ich sie so ganz hatte vergessen können!

„O Miß Wells,“ rief ich erfreut, „Miß Annie Wells, sind Sie denn auch hier?“

„Wollen Sie mir einen Mondstein schenken, Deutscher?“

Ich griff schnell in die Tasche und zog den langen gestrickten Geldbeutel hervor, den ich als Knabe von meinem Großvater bekommen und als Jüngling auf meiner ersten Italienreise verloren hatte. Es war mir lieb, ihn wiederzuhaben, und ich schüttete eine Menge silberner Ceyloner Rupien heraus; aber mein Reisekamerad, der Maler, von dem ich nicht gewußt hatte, daß er noch da sei und neben mir stehe, sagte lächelnd: „Die können Sie als Hosenknöpfe tragen, sie gelten hier keinen Cent.“

Verwundert fragte ich ihn, wo er herkomme und ob er die Malaria wirklich überwunden habe. Er zuckte die Achseln und sagte: „Man sollte die modernen europäischen Maler alle einmal in die Tropen schicken, da könnten sie sich ihre Orangepalette wieder abgewöhnen. Gerade hier kommt man mit einer dunkleren Palette der Natur viel näher.“

Es war klar, und ich stimmte lebhaft bei. Aber die schöne Miß Annie hatte sich inzwischen im Gedränge verloren. Beklommen ging ich auf dem riesigen Schiffe weiter, wagte jedoch nicht, mich an einer Gruppe von Missionsleuten vorbeizudrängen, die im Kreise sitzend die ganze Deckbreite versperrten. Sie sangen ein frommes Lied, in das ich bald einstimmte, da ich es von Hause her kannte:

Darunter das Herze sich naget und plaget

Und dennoch kein wahres Vergnügen erjaget ...

Ich war damit einverstanden, und die schwermütig pathetische Melodie stimmte mich traurig, ich dachte an die schöne Amerikanerin und an unser Reiseziel Asien und fand so viel Ursache zur Ungewißheit und Kümmernis, daß ich einen der Missionare fragte, wie denn das nun sei, ob sein Glauben denn wirklich gut und auch für einen Mann wie mich zu brauchen sei.

„Sehen Sie,“ sagte ich trostbegierig, „ich bin Schriftsteller und Schmetterlingssammler – –.“

„Sie irren sich,“ sagte der Missionar.

Ich wiederholte meine Erklärung. Aber auf alles, was ich sagen mochte, gab er mit einem hellen, kindlichen, bescheiden triumphierenden Lächeln dieselbe Antwort: „Sie irren sich.“

Verwirrt floh ich davon. Ich sah, daß ich hier nicht zurecht kam, und ich beschloß, auf alles zu verzichten und meinen Vater zu suchen, der würde mir gewiß helfen. Wieder sah ich das Gesicht des ernsten englischen Offiziers und glaubte seine Worte zu hören: „Ihr Vater ist hier und ist dort, er ist in Ihnen und außer Ihnen.“ Ich begriff, daß dies eine Mahnung war, und ich kauerte mich nieder, um mich zu versenken und meinen Vater in mir selbst zu suchen.

So saß ich still und versuchte zu denken. Allein es ging schwer, die ganze Welt schien auf diesem Schiffe versammelt, um mich zu stören. Auch war es furchtbar heiß, und ich hätte gerne meines Großvaters gestrickten Geldbeutel für einen frischen Whisky-Soda hingegeben.

Von diesem Augenblick an, wo sie mir zum Bewußtsein gekommen war, schien diese satanische Hitze beständig anzuschwellen wie ein furchtbarer, unerträglich gellender Klang. Die Menschen verloren alle Haltung, sie soffen aus Korbflaschen gierig wie Wölfe, sie machten es sich auf die seltsamsten Arten bequem, und es geschahen rings um mich her unbeherrschte und sinnlose Taten; das ganze Schiff war offenbar im Begriff, wahnsinnig zu werden.

Der freundliche Missionar, mit dem ich mich nicht hatte verständigen können, war zwei riesengroßen chinesischen Kulis zum Opfer gefallen und wurde von ihnen auf das schamloseste als Spielzeug benützt. Sie wußten ihn durch einen heillosen Kunstgriff echt chinesischer Mechanik dazu zu bringen, daß er auf einen Druck hin seine gestiefelten Füße zu seinem eigenen Mund herausstreckte. Auf einen anderen Druck hin hing er beide Augen lang wie Würste aus den Höhlen, und als er sie wieder zurückziehen wollte, sah er sich dadurch verhindert, daß sie ihm Knoten darein geschlungen hatten.

Es war grotesk häßlich, aber es focht mich weniger an, als ich gedacht hätte, jedenfalls weniger als der Anblick, den Miß Wells mir bot, denn sie hatte sich ihrer Kleider entledigt und trug in überraschend draller Nacktheit nichts auf dem Leibe als eine wundervolle, braungrüne Schlange, die sich rund um sie geringelt hatte.

Verzweifelt schloß ich die Augen. Ich hatte das Gefühl, unser Schiff fahre sehr rasch abwärts in einen glühenden Höllenrachen.

Da hörte ich, dem Herzen tröstlich wie Glockengeläut einem im Nebel verlaufenen Wanderer, vielstimmig ein feierliches Lied ertönen, das ich alsbald mitsang. Es war das heilige Reiselied: „Wir fahren nach Asien,“ und es klangen darin alle menschlichen Sprachen, es rauschte darin alle Ehrfurcht, alle müde Menschensehnsucht, die Not und das wilde Verlangen aller Kreatur. Ich fühlte mich von Vater und Mutter geliebt, vom Guru geleitet, von Buddha gereinigt und vom Heiland erlöst, und ob das, was nun käme, Tod sei oder Seligkeit, schien mir durchaus gleichgültig.

Ich erhob mich und tat die Augen auf. Um mich her waren sie alle, mein Vater, mein Freund, der Engländer, der Guru und alle, alle Menschengesichter, die ich je mit Augen gesehen. Sie schauten geradeaus, mit ergriffenen, schönen Blicken, und auch ich schaute, und vor uns tat ein vieltausendjähriger Hain sich auf, aus himmelhoher Wipfeldämmerung rauschte Ewigkeit, und tief in der Nacht des heiligen Schattens glänzte golden ein uraltes Tempeltor.

Da fielen wir alle auf die Knie nieder, unser Sehnen war gestillt und unsere Reise zu Ende. Wir schlossen die Augen, und wir beugten uns tief und schlugen unsere Häupter an die Erde, einmal, und wieder, und nochmals, in atemloser, rhythmischer Andacht.

Hart schlug meine Stirn auf und schmerzte, Lichtfunken drangen in meine Augen, und mein Körper arbeitete sich mühsam aus tiefer Erstarrung. Meine Stirn lag auf der hölzernen Kante der Brüstung, unter mir dämmerten bleich die rasierten Schädel der chinesischen Zuschauer, die Bühne war dunkel, und Beifallgemurmel hallte in dem großen Kinematographentheater wider.

Wir standen auf und gingen. Es war quälend heiß und roch durchdringend nach Kokosöl. Draußen aber wehte uns nächtliche Meerluft, Lichtergeflimmer des Hafens und matter Sternenschein entgegen.

Überfahrt

Von Singapur aus fuhr ich auf einem kleinen holländischen Küstendampfer über den Äquator weg nach Südsumatra. Die Sache begann mit Gepäckschwierigkeiten am Pier und wäre beinahe im ersten Anfang schon verunglückt, denn kaum war das kleine Motorbötchen, das uns und unsre vielen Kisten an Bord des Brouwer bringen sollte, vom Pier abgestoßen, so fuhr uns ein etwas größeres Boot in eiliger Konkurrenz so wild mitten in der Breitseite an, daß wir alle übereinander fielen und schon ans Schwimmen dachten. Es war jedoch wider alle Wahrscheinlichkeit Gerechtigkeit geschehen und der Angreifer war der Geschädigte; mit einem großen Loch im Bug mußte er abziehen.

Auf dem Brouwer waren wir zu dreien die einzigen Passagiere der ersten Klasse und hatten das Schiff für uns wie eine Privatjacht. Das kleine Hinterdeck ward mit holländischer Behaglichkeit für uns eingerichtet, ein weiß gedeckter Tisch mit altväterischen Lehnstühlen, daneben vier von den nicht genug zu lobenden asiatischen Liegestühlen mit Holzgestellen zum Hochlegen der Beine, weiter zwei naive biedere Kanapees mit weiß und rot gestreiften Bezügen. Die gesamte Bedienung war malayisch, und alsbald wurde uns von drei aufmerksamen, geschickten, hübschen Javanen eine erste Mahlzeit aufgetragen, ein überaus reichhaltiges, solides Reisessen, das ich nach den schlimmen Schaubroten der indischen Gasthöfe mit Dankbarkeit begrüßte. In den Hotels der Straits und Malay States wird man überall von chinesischen Boys bedient, die fast ebenso schlecht und lieblos servieren wie europäische Kellner in einem Durchschnittshotel. Die Javanen hier waren dagegen um unser Wohlergehen mit der einschmeichelnden Treue guter Krankenschwestern bemüht, sie umkreisten uns beständig mit Aufmerksamkeit und kamen jedem kleinsten Bedürfnisse lächelnd und ohne Hast zuvor; sie trugen uns Speisen auf, boten das Beste mit bescheidener Gebärde lobend an, schenkten jedes Trinkglas nach jedem Schluck wieder sorglich voll, verteilten den Rest der gemeinsamen Flasche mit liebevoller Gerechtigkeit zwischen uns dreien, schützten uns vor der Sonne und vor dem Winde, standen augenblicks mit brennendem Streichholz bereit, wenn eine Zigarre ausgegangen war, und alle ihre Mienen und Bewegungen drückten weder widerwilliges Diensttun noch feige Sklaverei aus, sondern eitel freudige Dienerschaft und ergebenstes Wohlwollen.

Mittschiffs lagen drei Chinesen und spielten Karten, ohne zu sprechen, aber genau mit demselben leidenschaftlich hoffenden Auftrumpfen der guten und demselben resigniert ärgerlichen Hinschmeißen der schlechten Blätter, wie man es bei schwäbischen Soldaten, bayrischen Jägern und preußischen Matrosen sieht. Eine Malayenfamilie aus Tonkal lag auf ihrer Reisebastmatte: ein Großvater, ein Elternpaar, vier Kinder. Die Kinder hatten es gut, sahen wohlgehalten aus und trugen Halsketten und silberne Fußspangen. Beim Sonnenuntergang suchte sich der Großvater einen freien Raum, verneigte sich, kniete nieder, erhob sich wieder und vollzog mit langsamer Würde die Übungen des abendlichen Gebets. Sein alter Rücken krümmte und streckte sich in genauem Gleichtakt, sein roter Turban und sein spitzer grauer Bart standen scharf in der einbrechenden Dämmerung. Wir setzten uns mit den beiden Offizieren zu einem reellen holländischen Abendessen. Sterne kamen herauf, das Meer dunkelte tiefschwarz und die zackigen Silhouetten der kleinen Berginseln waren kaum mehr zu erfühlen. Wir waren still geworden und wären gerne zu Bett gegangen, doch war es allzu heiß, wir saßen alle ruhig und waren naß vom unablässig rieselnden Schweiß.

Wir bestellten Whisky und hatten kaum danach gerufen, so sprang schon einer der längst auf Deck schlafenden Jonges auf und lief nach Schnaps und Sodawasser.

An hundert Inseln vorüber fuhren wir durch die brütende Nacht, manchmal von Leuchttürmen begrüßt, wir nippten am lauen Getränk, rauchten holländische Zigarren und atmeten langsam und unwillig unter dem heißen schwarzen Himmel. Wir sprachen hin und wieder ein Wort, über das Schiff oder über Sumatra, über Krokodile und Malaria, aber es war keinem wichtig, und manchmal stand einer auf, trat an die Reling, ließ die Asche seiner Zigarre ins Wasser fallen und suchte, ob in der Finsternis etwas zu sehen wäre. Und wir gingen auseinander und lagen jeder für sich, an Deck oder in der Kabine, und der Schweiß rann beständig an uns nieder, und für diese Nacht waren wir alle reisemüde und verstimmt.

Am Morgen aber fuhren wir, schon jenseits des Äquators, in die breite kaffeebraune Mündung eines der großen Ströme von Sumatra ein.

Pelaiang

Der Europäer, der mit anderen als geschäftlichen Absichten nach den malayischen Inseln fährt, hat stets, und auch wenn er gar nicht auf Erfüllung hofft, als Hintergrund seiner Vorstellungen und Wünsche die Landschaft und die primitive Paradiesunschuld einer van Zantenschen Insel. Reine Romantiker werden diese Paradiese gelegentlich auch finden und eine Weile, bestochen von der gutartigen Kindlichkeit der meisten Malayen, Teilhaber an einem köstlichen Urzustande zu sein glauben.

Mir ist der volle Genuß einer solchen Selbsttäuschung nie geworden, aber einen kleinen weltfernen Kampong habe ich doch gefunden, wo ich eine Zeitlang im Urwalde zu Gast war, wo mir wohl und heimisch wurde und der in meiner Erinnerung die ganze Wald- und Stromwelt von Sumatra kristallisiert und ausdrückt. Dieser kleine Kampong mit hundert Einwohnern heißt Pelaiang und liegt zwei Tagereisen weit von Djambi flußaufwärts im Inneren des noch wenig bekannten Djambigebietes, das erst kürzlich pazifiziert wurde und zum größten Teil aus jungfräulichem Urwald besteht.

Dort wohnten wir zu vieren samt unsrem chinesischen Koch Gomok in einer Hütte aus Bambu, deren Dach und Wände aus Palmblättern geflochten waren und die auf hohen Pfählen ruhte. Da hingen wir in unsrem gelben, zierlich geflochtenen Käfig zweieinhalb Meter hoch in der Luft und lebten, wie es uns gefiel. Die beiden Kaufleute taxierten die im Walde ruhenden Kapitalien an Eisenholz, der Kunstmaler stieg mit dem Aquarellkasten am Ufer herum und ärgerte sich über die Malayenweiber, von denen gerade die hübschen sich durchaus nicht abzeichnen und nicht einmal gern aus der Nähe anschauen ließen. Und ich ließ mich von Tageszeit und Wetter treiben und lief in der endlosen Waldwelt herum wie in einem fabelhaften Bilderbuch. Jeder ging seinen Weg und wurde auf seine Weise mit den Moskiten, mit den wilden Gewittern, mit dem Urwald, mit den Malayen und mit der ewig lastenden heißfeuchten Schwüle fertig. Am Abend aber, der in den Tropen allzu früh einbricht, kamen wir stets alle zusammen und saßen und lagen auf der Veranda beim Tisch und bei der Lampe. Draußen brüllte der Gewitterregen oder schrie das rasende Insektenkonzert des Urwalds, der uns in die Fensterlöcher schaute; wir aber waren dann der Wildnis satt, wir wollten es gut haben und der lästigen Tropenhygiene vergessen, wir wollten fröhlich sein und nichts von der Welt wissen, und so lagen und saßen wir und schöpften aus vier großen Kisten Flaschen mit Sodawasser und Whisky, mit Rotwein und Weißwein, mit Scherry und mit Bremer Schlüsselbier. Und dann schliefen wir unterm Mückennetz auf unseren guten Matratzen am Boden, jeder mit dem Talisman der wollenen Leibbinde versehen, oder wir lagen still und hörten dem Regen zu, wie er in Kübeln herabklatschte oder auch zart und singend übers Blätterdach lief, bis am frühen Morgen der Nashornvogel und die vielen unbekannten Singvögel ihr Lied begannen und die Affen mit wahnsinnigem Geheule den Tag begrüßten.

Dann ging ich an den sechs oder sieben Hütten vorbei in den Wald, vor den Blutegeln und Schlangen geschützt durch dieselben Lodengamaschen, die ich im Winter in Graubünden trage, und alsbald nahm das zähe Dickicht mich auf und lag zwischen mir und der Welt fremder und trennender als alle Meere. Da liefen stille schöne Eichhörnchen vor mir weg, schwarze mit weißem Bauch und roten Vorderbeinen, und große Vögel sahen mich aus starren Waldaugen unfreundlich an, und bald erschienen in zahlreichen Familien die Affen, rannten im grünen Astgeschlinge, durch das kein Himmel blickte, wildfröhlich hinauf und hinab oder hockten hoch im Gezweig und heulten toll in lang gedehnten schmerzlichen Tonleitern. Schaukelnd flog manchmal einer von den großen schillernden Schmetterlingen über mich hin, selig in seiner Schönheit, und am Boden tat das kleine Gezücht seine Arbeit. Fußlange Tausendfüßler rannten in blinder Eile durchs Gedränge, und überall strebten in dichten dunklen Zügen mächtige Ameisenvölker, graue, braune, rote, schwarze, geordnet nach gemeinsamen Zielen. Dicke faulende Baumstämme liegen umher, tausendfach überwachsen von formenreichen Farnen und dünnem zähem Dorngeschlinge. Hier gärt die Natur ohne Pause in erschreckender Fruchtbarkeit, in einem rasenden Lebens- und Verschwendungsfieber, das mich betäubt und beinahe entsetzt, und mit nordländischem Gefühl wende ich mich jeder Erscheinung dankbar zu, die inmitten des erstickenden Zeugungstaumels eine einzelne Form besonders ausgestaltet zeigt. Da steht zuweilen, vom dicken Gewirre umgeben und als herrlicher Sieger darüber empor gebrochen, ein einzelner Riesenbaum von unwahrscheinlicher Stärke und Höhe, in dessen Krone tausend Tiere leben und nisten können, und aus seiner fürstlichen Höhe hängen still und vornehm schnurgerade, baumdicke Lianenfäden herab.

In diesem Walde wird seit kurzem auch von Menschen gearbeitet. Die Djambi-Maatschappji hat in dem noch völlig brach liegenden Lande die erste große Waldkonzession erworben und beginnt dort Eisenholzstämme zu holen. Ich ließ mich eines Tages zu einer Stelle führen, wo vor kurzem große Stämme gekappt und behauen worden waren, und sah eine Weile der mühseligsten Waldarbeit zu. Da wurden Stämme von zwanzig Meter Länge, schwer wie Eisen, von singenden und keuchenden Kulischaren mit Winden und Hebeln, an Tauen und Ketten aus tiefen, urweltlich dämmernden, sumpfigen Waldschluchten herauf geschleppt, auf Holzrollen und auf primitiven Schlitten, über Sumpf und Dorngestrüppe, über Busch und fettes feuchtes Gekräut hinweg, Elle für Elle gezerrt, gehalten, unterstützt und wieder weiter geschleppt, jede Stunde ein kleines Stück weiter. Ein kleiner Ast von diesem Holze, den ich spielend mit einer Hand aufnehmen wollte, erwies sich als so schwer, daß ich ihn auch mit beiden Armen und voller Kraft nicht zu heben vermochte. Dieser Schwere wegen ist das Holz unendlich mühsam zu transportieren: Bahnen gibt es im Lande noch nicht, die einzige Straße ist der Strom, und das Eisenholz schwimmt nicht.

Es war großartig und merkwürdig zu sehen, aber es ist kein Vergnügen, der Arbeit von Menschen zuzusehen, wo sie noch Last und Fluch und Knechtung ist. Diese armen Malayen werden nie, wie es Europäer, Chinesen und Japaner tun, als Herren und Unternehmer solche Werke betreiben, sie werden immer nur Holzfäller und Schlepper und Säger sein, und was sie dabei verdienen, das geht fast alles für Bier und Tabak, für Uhrketten und Sonntagshüte wieder an die ausländischen Unternehmer zurück.

Unberührt von den paar winzigen Feinden, die da an seinem Reichtum zu zapfen versuchen, steht noch immer der Urwald. Am Flußufer sonnen sich die Krokodile, unerschöpflich glüht in der feuchten Hitze das Wachstum weiter, und wo die Natives ein Stückchen roden, um Reis darauf zu bauen, da steht in zwei Jahren schon wieder hoher Busch und in sechs Jahren schon wieder hoher Wald.

Ehe wir abfuhren, versenkten wir unsre leeren Flaschen in den braunen Fluß. Unsre Matratzen wurden in Bastmatten eingerollt und auf das Boot gebracht und wir sahen unsre gelbe Bambuhütte am schwarzen Rande des ewigen Waldes stehen und kleiner werden, bis mit der ersten Windung des Flusses alles versank.

Sozieteit

Es war ein großer Kampong oder ein kleines junges Städtchen an einem der schönen breiten Ströme von Südsumatra. Vor drei, vier Jahren war hier noch Krieg, jetzt liegen nur noch etwa hundert holländische Soldaten im Städtchen und machen hie und da einen dekorativen Streifzug, um etwaigen rebellischen Einwohnern zu zeigen, daß man da ist und aufpaßt. Was man von Eingeborenen zu sehen bekommt, ist ein kindlich harmloses Gemisch von Urmalayen und Javanen, schattiert und gebrochen durch zwanzig wenig zuträgliche Einflüsse und Kreuzungen. Man sieht javanische Tagelöhner das Gras mit Schwertern abmähen, alle Viertelstunde eine Handvoll, und das Tragen eines Wasserkruges über die Gasse ist eine Mannesarbeit für einen Vormittag. Gearbeitet wird meist von den Frauen, und dann von den Chinesen, die auch hier sich am kleinsten aufblühenden Örtchen alsbald einfinden und die genügsamste Pionierarbeit tun; sie halten Kaufläden, sie treiben Schiffahrt, sie kaufen Gummi und verkaufen Reis, Fische und deutsches Bier. Gearbeitet wird auch von den paar Europäern; es gibt eine Eisenholzunternehmung, deren Leiter ein überaus landeskundiger Schweizer ist, die übrigen Weißen sind ohne Ausnahme holländische Beamte.

Ich besuchte den Residenten und den Kontrolleur, und bekam mit vieler Höflichkeit ein großes Papier zugestellt, von dessen Notwendigkeit ich zuvor gar nichts gewußt hatte und das eine Aufenthaltsbewilligung für Niederländisch-Indien darstellte.

Ich hatte mich viel im Kampf mit Moskitos, Dornen und Sumpfgras im Busch herumgetrieben, als ich nach dem Städtchen zurückkehrte. Alsbald ward ich eingeladen, mich in der „Sozieteit“ einzufinden, und ging also abends in den Klub, des Kontrolleurs wegen, der ein feiner und zartsinniger Mensch war, wie sie seit Multatuli je und je da draußen vorkommen.

Die Basarstraße, die Hauptdorfgasse, war schon dunkel. Die Malayen lehnten am Zaun und hatten ihre Kinder auf den Armen, die Chinesen werkelten geräuschlos im erleuchteten Hintergrund ihrer Kaufläden. Mitten inne lag ein heftig erleuchtetes Bretterhaus, das war der Klub, und beim Eintreten fand ich zwei Drittel der hiesigen Europäer versammelt. Viere standen um das Billard, drei ältere Herren und eine Dame saßen auf Schaukelstühlen vor den Fenstern nach der Flußseite, wandten der Sozieteit den Rücken zu und genossen schweigend in ruhigen Atemzügen die schwach gekühlte Luft der Abendstunde. Der Rest der Gesellschaft saß in der Mitte des Raumes um einen großen runden Tisch und spielte Karten. Zu ihnen setzte ich mich und wurde mit Munterkeit begrüßt, und nachdem man mit Enttäuschung vernommen, daß ich nicht Karten spielen könne, lud man mich zu einem Würfelspiele ein. Es ging um eine Runde Schnaps und jeder ließ sich seine Getränke kommen, Whisky, Bitter und Bols, Gin und Scherry, Wermut und Anis in den abenteuerlichsten Mischungen. Das Würfelspiel war so kompliziert und witzig, wie man es auf Schiffen und Leuchttürmen anzutreffen pflegt, wo die Leute Zeit haben.

Nun saßen wir, etwa zehn Männer und zwei Damen, im grellen Licht zweier Glühlampen von halb sieben bis gegen halb zehn Uhr und würfelten fleißig, immer wieder um eine Runde. Einmal blickte ich empor und im Raume herum und sah um die Lampen einen mächtig großen Schmetterling flattern, größer als meine flache Hand, mit gelb und grüner Zeichnung auf schwarzem Grunde. Ich beschloß, ihn später zu fangen und mitzunehmen, um doch etwas von diesem Abend zu haben, und nun tröstete und erheiterte es mich, hie und da aus dem Kreis der Raucher und Würfelspieler heraus einen Blick nach dem herrlichen Falter zu werfen, der in diese rauchende und trinkende Sozieteit so wenig paßte wie diese guten Holländer in den Urwald passen.

Die letzte Runde verlor ein armer Leutnant, der höchstens zweihundert Gulden im Monat kriegt. Er wurde mächtig ausgelacht, wie überhaupt alle diese langen Stunden hindurch Gelächter und laute Freudigkeit nie aufgehört hatten, und ich erhob mich zum Abschiednehmen. Wir schüttelten einander die Hände und man bedauerte sehr, daß ich schon weggehe, eben jetzt wo es fidel zu werden anfange.

Der Riesenschmetterling war mehrmals gegen das Licht geflogen und hatte sich verbrannt. Ich suchte eine Weile nach ihm und fand ihn, scheinbar wenig verletzt, tot auf dem Fußboden liegen. Als ich ihn aufhob, war sein Leib schon halb verschwunden und wimmelte von jenen winzigen grauen Zwergameisen, die man hier draußen im Zucker, in den Schuhen und Strümpfen, in der Zigarrentasche und im Bett findet und über deren wilde Beutegier man geduldig die Achseln zucken lernt wie über die Grausamkeit der Chinesen, die Verlogenheit der Japaner, das Stehlen der Malayen und andre große und kleine Übel des Ostens.

Nacht auf Deck

Der zweite Abend einer Flußreise auf einem kleinen chinesischen Raddampfer den Batang Hari hinauf. Ein hübscher junger Javane, Schneidermeister, der den halben Tag fleißig mit seiner Singerschen Nähmaschine geklappert hatte, war mein Nachbar auf Deck. Er packte seine Maschine ein und seine Matratze aus, nahm langsam und gründlich alle Übungen seines mohammedanischen Abendgebetes vor und legte sich nieder. Er zog ein arabisch gedrucktes Erbauungsbüchlein aus dem Gürtel, las darin, sang halblaut ein paar Seiten daraus vor sich hin und schlief ein. Noch im schlaffen Einnicken verwahrte er sorglich das kleine Büchlein wieder im Gürtel. Hinter ihm, unter der rauchenden Laterne, spielten drei Chinesen Karten, daneben lag eine Malayin mit vier Kindern schlafend auf der Bastmatte. Eins von den Kindern lag im schwachen, roten Licht, ein sehr schönes, langhaariges Mädchen von neun oder zehn Jahren, sie trug noch keinen Ohrschmuck, aber dicke, silberne Spangen an den Gelenken der zierlichen Hände und Füße, und an der zweiten Zehe beider Füße je einen goldenen Ring. Sonst überall Schläfer und Halbschläfer, in den weichen, wohlig animalischen, elastischen Bewegungen der Naturvölker dem Boden angeschmiegt, einer auch im Sitzen oder Hocken (auf beiden Fußsohlen) schlafend, dazwischen eine Männergruppe leise plaudernd. Hinten am Heck rauschte das große Rad wie in einer Mühle und draußen war dicke, schwarze Finsternis, zuweilen durchflogen und noch schwärzer gemacht durch einen kurzlebigen Funkenregen aus dem mit Holz geheizten Maschinenofen.

Eine Stunde blieb ich noch munter, versuchte beim mageren Lichtschein in meinen Notizen zu lesen und mich geistig von dem Gestank zu isolieren, der mich umgab. Der Geruch des Kokos- oder Zitronellaöls, mit dem die Natives kochen und mit dem sie sich leider auch den Leib einreiben, ist von einer trüben, ekelhaften Zähigkeit, und während meines ganzen Aufenthaltes im Osten war dieser Geruch der einzige Punkt, in welchem meine Menschlichkeit sich von der Menschlichkeit der Natives ernstlich, ja widerwillig abwandte.

Ich ließ meine Matratze am Boden ausbreiten, putzte die Zähne mit Sodawasser, zog die Taschenuhr auf, nahm mein tägliches Quantum Chinin ein und verbarg Schlüssel und Geldbeutel unterm Kopfkissen. Dann stellte ich, um nicht nachts etwa auf die Nase getreten zu werden, zwei Stühle überm Kopfende der Matratze auf, kleidete mich gemächlich aus, schlüpfte ins Schlafkleid und legte mich nieder. Nun gaben auch die Chinesen ihr Kartenspiel auf und verhängten die Laterne mit einer Leinenjacke, und wir alle ruhten beim monotonen Geräusch der Schiffsmaschine in einer Dunkelheit, die beinahe ebenso dicht und zäh und schwer war wie der dicke, schlimme Kokosölgeruch. Manchmal lärmten unter uns die Matrosen, manchmal ließen sie mitten in der pechfinstern Wildnis mit Heftigkeit die heisere Dampfpfeife spielen, und da ich nach zwei Stunden den Schlaf noch nicht gefunden hatte, stand ich auf und ging aufs Vorderdeck, wo in vollkommener Finsternis der Steuermann stand und mit rätselhafter Sicherheit in die gleichmäßig schwarze, undurchdringliche Nacht hineinsteuerte. Er mußte Nachtaugen haben wie ein Tiger, und es war beinahe unheimlich, ihn am Steuer drehen zu sehen und zu wissen, daß wir in der schmalen Fahrtrinne eines Urwaldstromes mit hundert launischen Windungen unterwegs waren, während ich mit aller Anstrengung vom Ufer keinen Schimmer noch Schatten wahrnehmen konnte. Der Kapitän schlief zusammengekauert nebenan.

Wieder legte ich mich nieder. Es war sehr heiß und auf meiner Schiffsseite ging kein Luftzug; immer wieder warf ich die Reisedecke ab, unter der ich die bloßen Füße geschützt gehalten hatte, und immer wieder nötigten mich die Bisse der Moskitos, sie von neuem zu bedecken. Und endlich, etwa um Mitternacht, schlief ich doch noch ein, und meinte lang geschlafen zu haben, als das oft wiederholte Geheul der Schiffspfeife mich weckte. Es war aber erst halb zwei Uhr. Da und dort richteten erschrockene Schläfer sich taumelnd auf, die meisten sanken alsbald wieder zurück und blieben ruhig, andre standen auf und zogen das Tuch von der Laterne, deren Licht ringsum einen ganzen Knäuel von Schlafenden enthüllte. Die Pfeife schrie weiter, die Maschine stoppte, das Schiff drehte sich; an die Reling tretend, sah ich plötzlich Land, ein Floß und eine Rohrhütte dicht neben uns, mit einem kleinen Stoß legten wir an. Wir hatten keine Feuerung mehr und mußten Holz einnehmen.

Die „Königstreppe“ herab kamen vom hohen Ufer zwei dunkle Männer mit rauchenden Fackeln gestiegen, ihre Fackeln waren aus dürren Blättern gedreht und mit Baumharz getränkt. Auf dem Floß lagen große Haufen von Holzscheiten gestapelt, und nun begann das Holzfassen, dem ich zwei Stunden lang zuschaute und namentlich zuhörte. Beim Fackellicht standen die Matrosen und Holzkulis in zwei Ketten, ein Holzscheit nach dem andern ging von Hand zu Hand, im ganzen mehrere Tausend, und Scheit für Scheit wurde vom Ablieferer mit lautem Gesange gezählt. Mit seiner weichen, trägen, hübschen Malayenstimme sang er in freien, wunderlich feierlichen Melodien mit unaufhörlichen Variationen immerzu die Zahl der gelieferten Holzscheite in die schwarze Nacht und das Strömen des Flusses hinein: ampat – lima! lima – anam! anam – tujoh! So arbeitete er und sang gleichmäßig und gleichtönig zwei Stunden lang, und bei jedem neuen Hundert tat er einen melodischen Freudenschrei. Dann sang er weiter, bald schläfrig und klagend, bald hoffnungsvoll und tröstlich, immer dieselbe Grundmelodie mit kleinen, der Stimmung nachgehenden, kapriziösen Beugungen und Variationen. So singen die Arbeiter und Landleute hier alle, wenn sie abends im kleinen Einbaum unterwegs sind und die Nacht anbricht; dann werden sie ängstlich und unendlich trostbedürftig, dann fürchten sie das Krokodil und die Geister der Toten, die nachts überm Fluß unterwegs sind, und dann hört man sie mit Ergebung und mit Inbrunst, mit Schmerzen und mit Hoffnung singen, unbewußt wie der Bambu im Nachtwind singt.

Ich lag wieder still und dämmerte ein, während die Maschine von neuem zu arbeiten begann. Es regnete jetzt und manchmal sprühte ein Dutzend lauer Tropfen zu mir herein; ich wollte mir noch die Decke über die Kniee ziehen, doch war ich schon zu müde, und nun schlief ich ein.

Als ich wieder die Augen auftat, war ein bleicher, kühler Nebelmorgen, mein Nachtkleid war durchnäßt und ich fror, schläfrig griff ich nach der feuchten Reisedecke und zog sie an mich. Als ich dabei den Kopf drehte, sah ich jemand über mir stehen. Ich schaute empor, da stand mit den kleinen, braunen, ringgeschmückten Füßen neben meinem Kopf das hübsche, langhaarige Malayenkind, hielt die Hände auf dem Rücken und betrachtete mich aufmerksam mit schönen, ruhigen Augen und sachlichem Interesse, als könne sie vielleicht im Schlaf erlauschen, welcherlei Tier eigentlich der weiße Mann sei. Ich hatte dabei genau dasselbe Gefühl, wie wenn man auf einer Bergreise im Heu erwacht und die schönen, neugierigen Augen einer Gais oder eines Kalbes auf sich gerichtet findet. Das Mädchen blickte mir noch eine Weile fest in die Augen; als ich mich aufrichtete, ging sie davon und zur Mutter.

Auf Deck war schon Leben, nur wenige schliefen noch, einer davon zusammengerollt und in sich selbst verkrochen wie ein Hund in kalter Nacht. Die andern rollten ihre Bastmatten zusammen, zogen den Sarong um die Hüften, banden das Kopftuch oder den Turban auf und blickten blöde und nüchtern in den feuchten Morgen.

Waldnacht

Wir waren kurz vor Sonnenuntergang von einem Ausflug im kleinen Boot zurückgekehrt, müde nach der Schwüle und dem stundenlangen Plätschern auf dem breiten braunen Strom zwischen den ewigen Wäldern. Wir waren dem chinesischen Dampferchen begegnet, das jede Woche auf dem Batang Hari fährt und heimwärts nach Djambi unterwegs war. Wir hatten ein paar Tauben und einen Nashornvogel geschossen, eine Bambushütte photographiert, die als letzter Rest einer vorjährigen Reispflanzung in der Öde stand und wo sich ein alter Malaye mit seinem Weib sorglos vom hereinwachsenden Dschungel belagern läßt, wir hatten ein paar große grüne Schmetterlinge gefangen und uns schließlich beeilen müssen, um vor der Nacht zurückzukommen.

Als wir anlegten und steif vom langen engen Sitzen über den kleinen Ländefloß vor unserer Hütte stiegen, ging eben die Sonne dunstig über dem Walde unter, der Strom blinkte trüb herauf, und die Ufer wurden schon finster, als bräche der Wald von beiden Seiten herein und wolle die schmale schwache Lichtbahn erdrücken.

Ehe die Nacht und die Krokodile kamen, war es eben noch Zeit, sich am Ufer ein paar Eimer voll Flußwasser über den Kopf zu gießen, ein frisches Hemd anzuziehen und sich auf unsere große Veranda zu begeben, wo der dicke wohlwollende Chinese schon das Abendessen bereit hielt. Ich blickte hinauf; es war schon dunkel geworden, und unsere Hütte stand mit der schwach erleuchteten Veranda schön und breit zwischen dem Urwald und dem steilen Flußufer, kaum hob sich noch das weiche Palmblätterdach vom schwarzen Himmel ab. Was Nacht ist, weiß man nur in den Tropen. Wie ist sie schön und fremd und feindlich, die tiefe satte Dunkelheit, der schwere schwarze Vorhang, um so viel unergründlicher und finsterer, wie der Tropenmittag glühender und prahlender ist als der nordische.

Wir setzten uns um den großen unbeweglichen Eisenholztisch, wir aßen Fischchen in Öl und Zwieback, wir tranken von den vielen schweren, guten, ungesunden Getränken Holländisch-Indiens. Zu sagen hatten wir uns wenig, wir waren seit Tagen und Tagen beisammen, zu dreien, und wir waren müde und trotz des Bades schon wieder heiß und feucht. In der Finsternis schrien ringsum die hunderttausend großflügeligen Insekten, gläsern und schrill oder tief und dunkel surrend, lauter als ein Streichorchester. Wir halfen dem Chinesen den Tisch abräumen, nur die Flaschen blieben stehen, das schwache Lampenlicht floß matt an der geflochtenen Wand hin und in die offene Nacht hinaus. Die Flinten lehnten am Eingang, das Schmetterlingsnetz daneben. Einer legte sich in den Liegestuhl unter der Hängelampe und versuchte in einem Tauchnitzband zu lesen, der andere begann die Flinten abzureiben und ich faltete kleine Düten aus Zeitungspapier für die Schmetterlinge.

Früh, es war kaum halb zehn Uhr, sagten wir einander Gutnacht und gingen hinein. Ich warf die Kleider ab und schlüpfte rasch im Dunkeln unter das hohe Moskitonetz, streckte mich auf der guten weichen Matratze aus und sank in den weichen müden Zustand von Halbschlummer, in dem ich seit langem meine Nächte hinbrachte. Es war nicht nötig, die Augen zu schließen, nur mit Mühe und gutem Willen vermochte ich das Viereck des offenen Fensterloches zu erkennen. Da draußen war es kaum um einen Schatten heller als zwischen meinen Bambuswänden und Bastmatten, aber man spürte die wilde Natur draußen gären und kochen in ihrem nie unterbrochenen geilen Treiben und Zeugen, man hörte hundert Tiere und atmete den krautigen Geruch von üppigem Wachstum. Das Leben ist hier wenig wert, die Natur schont nicht und braucht hier nicht zu sparen. Aber wir Weißen sind schon dahinter her, wir haben unsere Bambushütte und haben schon einen kleinen Kampong mit fast hundert Malayen, die uns helfen müssen, den ewigen Urwald anzuzapfen, und seit kurzem klingt hier, zum erstenmal seit die Welt steht, Axtschlag und Arbeitsgetöse durch das Dickicht. Vor drei Jahren wurden hier noch in wilden schnöden Streifzügen die Ureinwohner niedergeschossen, die dunkeln scheuen Kubus, die sich nicht so lange halten konnten wie die listig grausamen Atschi im Norden. Die Seelen der Gemordeten schweben nachts überm Fluß, aber sie werden nur von ihren Brüdern gefürchtet, und wir Weißen schreiten ruhig und herrisch durch die Wildnis, erteilen in unserem verdorbenen Malayisch kalte Befehle und sehen die dunkeln uralten Eisenholzbäume ohne Rührung fallen. Man braucht sie zum Werftenbau.

In blassen Halbgedanken dämmerte ich ein, hing müde schwüle Stunden zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich war ein Kind und war am Weinen, und eine Mutter wiegte mich mit Gesumse, aber sie sang Malayisch, und wenn ich die bleischweren Augen öffnen und sie ansehen wollte, so war es das tausendjährige Angesicht des Urwaldes, das über mich gebeugt hing und mir zuflüsterte. Ja, hier war ich am Herzen der Natur; hier war die Welt nicht anders als vor hunderttausend Jahren. Man konnte Drahtseile an den Gaurisankar nageln und den Eskimos ihre Fischjagd mit Motorbooten verderben, aber gegen den Urwald würden wir noch eine gute Weile nicht aufkommen. Da fraß die Malaria unsere Leute, der Rost unsere Nägel und Flinten, da verwesten und vergingen Völker, und aus dem Aashaufen trieb eilends und immerzu neues Völkergemisch empor, geil und nicht umzubringen.

Eine mächtige Erschütterung weckte mich plötzlich; ich sprang unmittelbar aus dem Schlaf in die Höhe, fiel wieder um, stand wieder auf und zog, nun erwacht, den Mückenschleier auseinander. Ein wildes, weißes, furchtbar grelles Licht schlug mir blendend entgegen, und erst nach Augenblicken erkannte ich, daß es das Licht von vielen, ohne Pause aufeinanderfolgenden Blitzen war. Der Donner rauschte mit Gekeuche hinterher, die Luft war seltsam bewegt und voll von Elektrizität, die ich in meinen Fingerspitzen zucken fühlte.

Benommen taumelte ich zum Fensterloch, das im Licht der Blitze vor mir schwankte und seine Ränder verschob wie die Fensterreihe eines vorüberrasenden Eisenbahnzugs. Da schaute, auf zwei Schritt Entfernung, der Wald mich an, ein umgerührtes Meer von Formen, von Astgeschlinge, Laubmengen und Fasern, wogend und in Verzweiflung sich wehrend, von den Blitzen überflogen und jäh bis ins zuckende dunkle Herz hinein verwundet, krachend und empört. Ich stand am Fenster und starrte in das Unwesen, geblendet und betäubt, und fühlte mit überwachen Sinnen das rasende Leben der Erde sich ergießen und vergeuden, und stand dazwischen mit meinem europäischen Gehirn und Gefühlswesen, das sich dem Toben nicht unterordnete, und sah neugierig zu und dachte an viele Nächte und Tage meines Lebens, an alle die vielen, vielen Stunden, da ich so wie hier irgendwo auf Erden gestanden war und fremde Dinge und Erscheinungen betrachtet hatte, geführt und verlockt von dem seltsamen Trieb des Zuschauens. Es kam mir nicht einen Augenblick sinnlos vor, daß ich im Süden des Sumpfurwaldes von Sumatra stehe und einem tropischen Nachtgewitter zusehe, ich empfand auch keinen Augenblick eine Ahnung von Gefahr, sondern ich fühlte voraus und sah mich noch hundertmal, an weit von hier entfernten Orten, einsam und neugierig stehen und dem Unbegreiflichen mit Verwunderung zusehen, dem das Unbegreifliche und Vernunftlose in mir selbst Antwort gab und sich verbrüderte. Genau mit demselben Gefühl von Ergriffenheit und unverantwortlicher Zuschauerschaft hatte ich als kleiner Knabe Tiere sterben oder Schmetterlingspuppen aufbrechen sehen, mit demselben Gefühl hatte ich in die Augen von Sterbenden und in die Kelche von Blumen gesehen – nicht mit dem Wunsche, diese Dinge zu erklären, nur mit dem Bedürfnis, dabei zu sein und ja keinen der seltenen Augenblicke zu versäumen, in denen die große Stimme zu mir sprach und in denen ich und mein Leben und Empfinden hinschwand und wertlos wurde, weil es nur ein dünner Oberton zu dem tiefen Donner oder noch tieferen Schweigen des unbegreiflichen Geschehens wurde.

Die Stunde war da, die seltene, lang erharrte, und ich stand und sah im weißen Licht der tausend Blitze den Urwald sein Geheimnis vergessen und in tiefer Todesangst erschauern, und was da zu mir sprach, das war genau dasselbe, was ich zehn- und hundertmal im Leben gehört hatte, beim Blick in eine Alpenschlucht, beim Fahren durch einen Meersturm, beim Sausen des einbrechenden Föhns auf einer Skihalde, und was ich nicht ausdrücken kann und doch immer wieder zu erleben trachten muß.

Und plötzlich war alles zu Ende, und das war sonderbarer und schauerlicher als der ganze Gewitterlärm. Kein Blitz, kein Donner mehr, nur namenlos dicke Finsternis und das Niederstürzen eines wilden, gierigen, selbstmörderisch wütenden Regens. Ringsum nichts mehr als das tiefe, wühlende Rauschen und der geile Geruch des aufgewühlten Urwaldbodens, und eine so tiefe Müdigkeit und Schlafbereitschaft, daß ich noch im Stehen einschlief und auf meine Matratze taumelte und nicht wieder erwachte, bis beim gelben Sonnenaufgang der Wald vom hundertstimmigen Gebrüll der Affen widerhallte.

Palembang

Palembang ist eine Pfahlbaustadt von etwa fünfundsiebzigtausend Einwohnern im Südosten von Sumatra, am sumpfigen Ufer eines großen Flusses gelegen, und hat von oberflächlichen Reisenden den sehr unzutreffenden Namen des malayischen Venedig erhalten, womit nichts gesagt ist, als daß die Stadt an und auf dem Wasser liegt und hauptsächlich Wasserverkehr hat.

Palembang liegt von Mittag bis Mitternacht im Wasser, von Mitternacht bis Mittag im Sumpf, in einem grauen, zähen Schmutz, der fabelhaft stinkt und dessen Anblick und Geruch mich eine Woche lang und nach der Abreise noch bis aufs offene Meer hinaus mit einem leisen Schleier von Ekel und Fiebergefühl verfolgte. Dazwischen und durch diesen Schleier hindurch erlebte ich die schöne, merkwürdige Stadt wie ein aufregendes Abenteuer.

Der Fluß und die hundert stillen, kanalartigen Seitenflüßchen, an deren Ufern Palembang liegt, fließen am Morgen alle in entgegengesetzter Richtung als am Abend, denn die ganze völlig flache Gegend liegt nur etwa zwei Meter über dem Meere, das siebzig oder achtzig Kilometer weit entfernt ist und dessen Flut jeden Tag den weiten Weg herauf kommt, die Strömung umkehrt, die Sümpfe zu Seen, die Schmutzstadt zu einem herrlichen Märchenort und das ganze Gebiet überhaupt bewohnbar macht.

Während dieser Flutzeit, die mit den Tagen wechselt und während meines Dortseins um Mittag begann, spiegeln sich die tausend Pfahlbauten zart und berückend in dem bräunlichen, schwach bewegten Wasser, auf dem kleinsten Kanal wimmeln hundert schlanke, malerische Prauwen mit stiller Lebendigkeit und verblüffender Geschicklichkeit durcheinander, nackte Buben und verhüllte Frauen baden am Fuß der steilen Holztreppen, die von jedem Haus ins Wasser führen, und die Laternen der schmucken, auf Flößen schwimmenden Chinesenkaufläden reißen wundervolle Ausschnitte eines asiatischen Abend- und Wasserlebens aus der Dunkelheit.

Zur Zeit der Ebbe aber ist dieselbe Stadt zur Hälfte eine schwarze Gosse, die kleinen Hausboote liegen schräg im toten Sumpf, braune Menschen baden harmlos in einem Brei von Wasser, Schlamm, Marktabfällen und Mist, das Ganze schaut blind und glanzlos in den unbarmherzig heißen Himmel und stinkt unsäglich.

Übrigens darf ich den Eingebornen nicht unrecht tun. Sie können nichts dafür, daß ihr Fluß kein Gefälle und darum kein sauberes Wasser hat, daß der Abfall der Küchen und der Kot der Abtritte um die Häuser her stehen bleibt und daß die wilde Sonne den Schlamm so rasch zur Gärung bringt. So sehr es dem Fremden manchmal graut, wenn er hiesige Reinlichkeitsverhältnisse betrachtet, so stolz er sich den Malayen überlegen fühlen mag, wenn er tagelang aufs Bad verzichtet und seine Zähne mit Sodawasser putzt, so bleibt doch die Wahrheit bestehen, daß der Ostasiate viel reinlicher ist als der Europäer und daß wir unsre ganze moderne europäische Reinlichkeit von den Indiern und Malayen gelernt haben. Diese moderne Reinlichkeit, die mit der Forderung des täglichen Bades beginnt, stammt von England, und sie kam in England auf unter dem Einfluß der vielen Angloindier und heimgekehrter Tropenleute, und diese hatten das Baden, das häufige Mundspülen und alle diese Reinlichkeitskünste von den Natives in Indien, Ceylon und der malayischen Welt gelernt. Ich sah einfache Weiber aus dem Volk nach jeder Mahlzeit die Zähne mit feinen Holzstäbchen und den Mund mit frischer Wasserspülung reinigen, was bei uns keine fünf oder zehn Prozent der Bevölkerung tun, und in Württemberg und Baden kenne ich Bauern genug, die allerhöchstens zwei oder dreimal im Jahre baden, während die Malayen und Chinesen das mindestens einmal im Tage, meistens öfter, tun. Und sie tun es schon sehr lange, wenigstens findet man schon in uralten chinesischen Büchern gelegentlich solche Reinlichkeitsübungen als selbstverständlich erwähnt, zum Beispiel im „Buch vom quellenden Urgrund“: „Als er zur Herberge kam und fertig war mit Waschen, Mundausspülen, Abtrocknen und Kämmen – –“.

In Palembang, in dieser sonderbaren Stadt, wird mit Yeloton und Rubber, mit Baumwolle und Rottang, mit Fischen und Elfenbein, mit Pfeffer, Kaffee, Baumharzen, mit einheimischen Geweben und Spitzen gehandelt; eingeführt werden imitierte Sarongstoffe aus England und der Schweiz, Bier aus München und Bremen, deutsche und englische Trikotwaren, sterilisierte Milch aus Mecklenburg und Holland, eingemachte Früchte aus Lenzburg und aus Kalifornien. In der holländischen Buchhandlung sind Übersetzungen der übelsten Kolportageromane aller Sprachen zu haben, Multatulis Havelaar aber nicht. Für den Gebrauch der Weißen sind die abgelegtesten Geschenkartikel aus europäischen Kleinstadtläden da, die Natives werden durch japanische Schundgeschäfte mit deutscher und amerikanischer Talmiware versehen. Tausend Meter davon entfernt holt sich der Tiger Ziegen und wühlt der Elefant die Stangen der Telegraphenleitung zuschanden. Über dem sumpfigen, von herrlichen Wasservögeln, Reihern und Adlern wimmelnden Lande und unter den Kanälen durch fließt unsichtbar und still, Hunderte von Meilen weit her, immerzu das rohe Petroleum in Eisenröhren nach den Raffinerien der Stadt. Einen alten chinesischen Seidenschal kaufte ich hier für das Anderthalbfache der Summe, die der Händler für eine Zwölfdutzendschachtel europäischer Stahlfedern verlangte. Und komischerweise lebt man in den zollfreien englischen Hafenstädten Penang und Singapur oder Colombo fast doppelt so teuer als hier bei den überaus hohen holländischen Zöllen, die den Handel lahmlegen, wie denn überall der holländische Kolonialbetrieb ein wenig den Eindruck einer kurzsichtigen Ausbeutung der Natives macht. Hingegen ist die niederländisch-indische Reistafel zwar nicht immer glänzend, aber sie ist noch im schlimmsten Falle ein Paradies im Vergleich mit dem Essen, das die Engländer in den teuren Prachthotels ihrer Kolonien sich vorsetzen lassen. Schade, die Engländer wären weitaus das erste Volk der Erde, wenn ihnen nicht zwei elementare und für ein Kulturvolk kaum zu entbehrende Talente fehlten: der Sinn für feine Küche und der Sinn für Musik. In diesen beiden Punkten erwarte man in englischen Kolonien das geringste; alles andere ist erster Klasse.

Das Volk hat hier jene furchtsam kriechende Unterwürfigkeit, die der europäische Beamte und Kaufmann schätzt, die unsereinem aber gelegentlich störend auffällt. Indessen ist der geknechtete Malaye äußerst flink im Übernehmen europäischer Bequemlichkeiten, Genüsse und Herrenmanieren. Der Kuli, den du vor einer Stunde in seiner dienstbaren Dürftigkeit tief bedauert hast, begegnet dir stolz im weißen Anzug (der vielleicht dir gehört und den dein Wäscher ihm vermietet hat) auf dem gemieteten Zweirad, die Stunde für zehn Cents, und tritt herrisch als Habituee in gelben Schuhen und mit brennender Zigarette in den Billardsaal. Nachher geht er in seine Hütte zurück, zieht den Sarong wieder an, macht sichs bequem und putzt auf der hölzernen Treppe am Ufer seine Zähne im Kanalwasser genau an derselben Stelle, an der er eine Minute zuvor seine Notdurft verrichtet hat.

Wassermärchen

Mit einer geliebten Frau möchte ich den Weg noch einmal machen, den ich gestern von Palembang aus in der kleinen, schmalen Prauw gefahren bin.

Wir fuhren in dem schwankenden Bötchen, das keine Handbreite Tiefgang hat und darum das kleinste Rinnsal noch befahren kann, eines der schmalen, braunen Seitenflüßchen hinauf, gegen Abend noch mit der Flut. Da war zwischen den Pfahlhütten das gewohnte unschuldig bewegte Leben, Netzfischerei jeder Art, worin die Malayen wie im Vogelfangen und im Rudern wahre Meister sind, nacktes, schreiendes Kindergewimmel, kleine, schwimmende Händler mit Sodawasser und Syrup, leise rufende Verkäufer von Koranen und winzigen mohammedanischen Andachtsbüchlein, badende Buben. Streitende sieht man hier selten, Betrunkene nie, und der Reisende aus dem Westen schämt sich, daß dies ihm auffällt.

Wir fuhren gemächlich weiter, der Bach ward schmal und seicht, die Hütten hörten auf, Sumpf und Busch umgab uns grün und schweigend, Bäume standen da und dort am Ufer und im Wasser selbst. Sie wurden unmerklich zahlreicher, streckten tausendfältige Wurzelstelzen nach uns aus, und über uns hing dichter und dichter ein grünes Netz und Gewölbe von Laub und Geäst. Bald war kein Baum mehr einzeln zu erkennen, jeder hing mit Wurzeln und Luftwurzeln, mit Ästen, Zweigen und Schlingpflanzen in die anderen verstrickt und verwoben, alle von hundert Farren, Lianen und andren Schmarotzerpflanzen gemeinsam umarmt und verbunden.

In dieser stillen Wildnis flog zuweilen farbenblitzend ein Eisvogel auf, die hier in Menge nisten, oder grau huschend eine kleine Schnepfe oder schwarz und weiß wie eine Elster der fette, amselartige Singvogel des Urwaldes, sonst war kein Laut und kein Leben da als das innige Wachsen, Atmen und Ineinanderdrängen des dicken Baumgewölbes. Der Bach, oft kaum noch breiter als unser Boot, beschrieb in jeder Minute einen neuen, launenhaften Bogen, jedes Gefühl für die Maße und Entfernungen ging vollständig unter, wir fuhren betroffen und still durch eine wirre, grüne Ewigkeit dahin, vom Baumgewirre dicht überwölbt, von großblättrigen Wasserpflanzen umdrängt, und jeder saß stumm und staunte, und keiner dachte daran, ob und wann und wie dieser Zauber wieder könnte gebrochen werden. Ich weiß nicht mehr, ob er eine halbe Stunde, oder eine Stunde, oder zwei Stunden gedauert hat.

Er wurde unversehens gebrochen durch ein wildes, vielstimmiges Gebrüll über unseren Köpfen und durch heftiges Wipfelschwanken, und alsbald glotzte eine Familie von großen, grauen Affen uns an, beleidigt und gestört durch unser Eindringen. Wir hielten an und blieben regungslos, und die Tiere begannen wieder zu spielen und sich zu jagen, und eine zweite Familie kam dazu, und wieder eine, bis über uns das Dickicht von großen, langschwänzigen, grauen Affen wimmelte. Zuweilen schauten sie wieder erbost und mißtrauisch herunter, schnoben zornig und knurrten wie Kettenhunde, und als wohl über hundert von den Tieren da über uns saßen und wieder zu schnauben und aus nächster Nähe die Zähne zu fletschen anfingen, da gab unser Palembanger Freund uns lautlos ein warnendes Zeichen mit dem Finger. Wir hielten uns behutsam still und hüteten uns, auch nur an einen Ast zu streifen, denn in Busch und Sumpf eine Stunde von Palembang von einem Affenvolk erwürgt zu werden, hätte jedem von uns ein vielleicht nicht schändliches, doch aber ein unfeines und unrühmliches Ende geschienen.

Vorsichtig tauchte unser Malaye sein kurzes, leichtes Ruder ein, und still und geduckt fuhren wir sorgsam zurück, unter den Affen und unter den vielen Bäumen durch, an den Hütten und Häusern vorüber, und als wir den großen Strom wieder erreicht hatten, war die Sonne schon untergegangen und aus der rasch einbrechenden Nacht glänzte die zauberhafte Stadt zu beiden Seiten des gewaltigen Wassers mit tausend kleinen, schwachen Lichtern her.

Die Gräber von Palembang

An jedem schönen Vormittag verließ ich die Stadt gleich nach dem Frühstück und blieb zwei, drei Stunden im Freien draußen, um reine Luft zu atmen, Grün zu sehen und gelegentlich einen Schmetterling zu fangen. Alle diese Städte, auch das große Singapur, liegen ganz von Dörfern, Weilern, Höfen und primitivster Ländlichkeit umgeben und lösen sich still und ohne Umriß in die fruchtbare grüne Wildnis auf. Eben erst warst du noch in einer dröhnenden Straße mit Geschäftshäusern, Lastwagen, ausrufenden Händlern und zigarettenrauchenden Lausbuben, du bist in einen stilleren Seitenweg eingebogen, wo helle freundliche Bungalows vereinzelt weitab von der Straße in Gärten stehen, und unversehens fühlst du dich, wunderlich erwachend, vollkommen auf dem Lande, wirst von weidenden Ziegen oder Kühen beschnobert oder hörst im wilden Gehölz die Sprünge der Affen rauschen.

In Palembang führte mein Spazierweg meistens am Fischmarkt vorbei, vorüber am grausigen Anblick lebend umherliegender Fische jeder Art und in Massen aufgehäufter abgehauener Fischköpfe, und an den Häusern und Magazinen der Großhändler hin bis zu einer alten Moschee, immer parallel mit dem Flusse, und von da rechtwinklig landeinwärts, und schon hier begann die typische Mischung von Dorfleben und Buschwildnis. Schönes kleines Rindvieh weidet überall, kreuzt sorglos die Fahrstraße und ist sehr zutraulich. Auf der Straße geht zu manchen Stunden ein starker Verkehr, Fußgänger und Lastträger, sehr viele Zweiräder, Ponywagen und auch schon Automobile. Zehn Meter davon, im dichten Busch, ist man in vollkommener Urwildnis, von Eichhörnchen und Vögeln in Menge umschwärmt, von Affen beknurrt und gelegentlich durch ungeheure, zum Teile giftige Tausendfüßler und Skorpione erschreckt. Wer sich auskennt, kann hier auch häufig Tigerspuren finden.

Nirgends aber kann man hundert Meter gehen, ohne auf Gräber zu stoßen. Überwachsen und vergessen liegen überall die Malayen- und Arabergräber, den unseren ganz ähnlich, die neueren mit welken Grasbüscheln geschmückt, die von den Mohammedanern am Freitag dort niedergelegt werden. Manchmal ist eine kleine Begräbnisstätte von einer Mauer umgeben, deren Portal mit edlem Bogen und fein profilierten Pfeilern, von hohen Gräsern umwachsen und von riesigen Bäumen überhangen, schattig und vereinsamt in seiner romantischen Verwahrlosung steht, so schön und nobel wie nur irgendein feiner stiller Ruinenwinkel in Italien.

Dazwischen kommt immer wieder, riesig und mit großen goldenen Buchstaben an den Pfeilern leuchtend, ein Chinesengrab, eine ummauerte Halbkreisterrasse am Abhang von fünf, zehn, zwanzig Metern Durchmesser, je nach Bedeutung und Reichtum des Beerdigten, in der schön emporgeschweiften Mauer blau und golden die Inschriften, das Ganze kostbar, feierlich und schön wie alles Chinesenwerk, ein wenig kühl und leer vielleicht, und überall rechts und links darum her und in den Lüften darüber aufgeschossen dicke Busch- und Baumwirre.

Manche von den mohammedanischen Grabanlagen werden früheren Sultanen zugeschrieben, dort sind einige der Mauerportale so schön und in sich abgewogen wie die allerbeste Renaissance. Man ist erstaunt, das auf Sumatra zu finden, aber man erstaunt noch mehr, wenn man hört, daß eine verschwommene alte Palembanger Sage behauptet, hier liege Alexander der Große begraben. Bis hierher sei er gekommen und hier sei er gestorben. Mir fiel dabei das Gespräch ein, das ein Freund von mir in Italien am Trasimener See mit einem Fischer hatte. Der Fischer erzählte Ungeheuerliches von der blutigen Schlacht, die hier vor langen Zeiten der große General Hannibal geschlagen habe, und als mein Freund weiter fragte, gegen wen denn Hannibal damals gefochten habe, wurde der Mann unsicher, meinte dann aber ziemlich bestimmt, es werde wohl Garibaldi gewesen sein.

Bei den Gräbern vor Palembang habe ich schöne wunderliche Stunden hingebracht, allein in dem krausen grünen Busch, von den großen Schillerfaltern umflogen, auf die vielen Rufe der Waldtiere und die wilden, phantastischen Gesänge großer Insekten horchend. Ich saß ausruhend und von der Hitze erschöpft auf den niederen Mauern der Chinesengräber, die so groß und fest und reich gebaut sind und doch vom wilden Leben und Wachstum dieses Bodens alle bald überholt, bezwungen und zugedeckt werden. Ich wurde von schwarzen und weißen Ziegen und von kleinen, sanften, rotbraunen Kühen besucht und betrachtet, oder von Rast haltenden Affen still beäugt, oder von umherschwärmenden Malayenkindern mit Scheu und Neugierde umringt. Ich kannte nur wenige von den Bäumen und Tieren, die ich um mich sah, mit Namen, ich konnte die chinesischen Inschriften nicht lesen und konnte mit den Kindern nur zehn Worte reden, aber ich habe mich nirgendwo in der Fremde so unfremd und so von der Selbstverständlichkeit und vom klaren Fluß alles Lebens umschlossen gefühlt wie hier.

Maras

Wer eine Zeitlang in Palembang war und auf der Rückseite des Hotel Nieukerk nach dem schwärzlichen Kanälchen hinaus gewohnt hat, vom Gestank und von den Moskitos verfolgt und ohne die Möglichkeit in reinem Wasser zu baden, der verfällt schließlich einem brennenden Verlangen nach Abreise, einerlei wohin, und beginnt die Stunden bis zum nächsten Schiffstermin zu zählen. Seit einem Monat ohne Post, fiebernd von Schlaflosigkeit, ermüdet vom Leben der sonderbaren Stadt, von der Hitze und dem Mangel an Bädern erschlafft, hatte ich mir einen Platz auf dem chinesischen Dampfer „Maras“ bestellt, der am Freitag früh ankommen und im Laufe des Sonnabends wieder nach Singapur abgehen sollte, und nun lag ich hoffend unterm Moskitonetz und wartete den Freitag Morgen ab. Zu lesen hatte ich längst nichts mehr, meine große Kiste stand in Singapur, die Nachrichten von Hause blieben Woche um Woche aus, ich konnte nichts tun, als mich täglich in der Stadt herumtreiben, bis ich ermüdet war, und dann viele Stunden liegen und warten, im Notizbuch blättern und malayische Vokabeln lernen. Aber nun war ein Schiff in Aussicht, noch einen Tag oder zwei, dann würde ich abfahren können, und bald würde, wie tröstliche Erfahrungen uns lehren, alles Widerwärtige dieser Tage in der Erinnerung einschrumpfen und vergehen und nur das viele Schöne, Bunte, freudig Erlebte bleiben.

Allein der Freitag Morgen und auch der Nachmittag verging, ohne daß der „Maras“ kam, auch während der Nacht zum Sonnabend lauschte ich vergeblich alle die vielen Stunden lang auf das Pfeifen eines einlaufenden Schiffes, und der ganze Sonnabend verging ebenso, und erst am Sonntagmorgen kam die Nachricht, es sei nun da und wenn es nicht zu viel regne, werde man vielleicht morgen abfahren.

Am Sonntag war ich von früh bis abends auf dem Flusse unterwegs. Ich hatte mich einer Krokodiljagd angeschlossen und saß mit einem schweren alten holländischen Militärgewehr auf den Knien, die Augen von der Hitze und dem Sonnenreflex des Stromes brennend, im kleinen Boot auf der Lauer. Aber an solchen Tagen hat man kein Glück; wir kamen nie zum Schuß und mußten bei dem viel zu hohen Wasserstande froh sein, daß wir wenigstens einige Krokodile zu sehen bekommen hatten.

Einerlei, morgen ging mein Schiff, und dann konnten mir alle Krokodile von Sumatra –. Bei der Rückkehr nach der Stadt erfuhr ich, der „Maras“ würde vielleicht morgen früh abfahren, vielleicht auch nachmittags oder abends, und ich packte meine Koffer mit suggestiver Gründlichkeit und Liebe. Der „Maras“, der am Morgen nicht gefahren war, fuhr auch am Nachmittag nicht, aber es wurde mir mitgeteilt, ich könnte abends an Bord gehen und müsse spätestens um zehn Uhr da sein, wenn ich mitreisen wolle.

An mir sollte es nicht fehlen, ich fuhr um neun Uhr durch die dicke Nacht (wir haben ja in Europa gar keine Ahnung von richtiger Nachtfinsternis!) nach dem Schiff, suchte und fand in der laternenlosen Dunkelheit tastend über fremde Boote und schlafende Ruderkulis hinweg für mich und mein Gepäck einen Weg zur unbeleuchteten Falltreppe und turnte hoffnungsvoll empor. Das Schiff war stark geladen, die Innenräume alle voll Yeloton und Baumwolle, aber es lagen noch zwanzig und mehr Lastboote voll Rottang beim Schiff, und so wurde weiter geladen, hundert Kulis schwärmten auf dem überfüllten dunkeln Deck, wo ich über Kisten und Balken klettern mußte, und wenn sie einer von den wenigen Laternen nahe kamen, glänzten ihre nackten, gelben, schweißbedeckten Körper warm aus dem finsteren Getümmel.

Es war ein holländischer Kapitän da und ich bekam eine Kabine, aber sie war so heiß wie ein Dampfbad und als ich die Stiefel auszog, merkte ich alsbald die Ursache: der Fußboden war von den benachbarten Heizräumen her so heiß, daß mir die Sohlen schmerzten. Die Luke war ein wenig größer als das Zifferblatt einer Taschenuhr. Dagegen war ein elektrischer Ventilator und elektrisches Licht da, die aber seit Jahren nicht mehr funktionierten, und der Raum wurde durch eine kleine rußende Erdölampel erleuchtet.

Von einer Stunde zur andern wurde die Abfahrt erwartet und verheißen, ich blieb bis nach ein Uhr steif vor Müdigkeit auf einem Stuhl am Oberdeck sitzen und schaute betäubt aus geschwollenen Augen in das Schiff, ging dann in die Kabine und legte mich nieder, hörte den Schweiß in schweren Tropfen von meiner herabhängenden Hand zu Boden fallen, stand wieder auf und rauchte eine Zigarre draußen im Regen zwischen den Kulis, irrte im dunkeln Schiff umher, fiel über Schlafende, warf einen Käfig mit lebenden Affen um, stieß mich an Kistenecken und fand mich bei Tagesanbruch zerstört und erschöpft an Oberdeck wieder.

Früh um sechs Uhr hatte ich noch niemals in meinem Leben Bordeaux getrunken und starke indische Zigarren geraucht. Heute tat ich es, und nun kann ich schon wieder fast ohne Schmerzen und Anstrengung die Augen offen halten.

Jetzt, wo ich diese Notizen aufschreibe, fährt das Schiff. Es fährt seit einer Stunde, seit Mittag, und ich täte gern irgend etwas anderes als schreiben, wenn das nicht eben das einzige wäre, was mir übrig bleibt. Die Kabine ist unmöglich, mehr als ein Stuhl steht mir an Deck nicht zur Verfügung, und höre ich mit Schreiben auf, so kommt der Kapitän und will mich in eine Unterhaltung ziehen. Er ist ein sympathischer Mann und hat seine Frau mit an Bord. Sie wohnen am Oberdeck in der Kapitänskabine. Er hat eine ungeheure Briefmarkensammlung und einen räudigen chinesischen Hund, der leider untreu ist und sich zu mir hält, und die Frau hat fünf junge Katzen und zehn oder elf Singvögel in Käfigen. Außerdem haben wir vier lebendige Affen (dieselben, die ich in der Nacht umgeworfen habe) an Bord, von denen der kleinste ganz zahm ist und sich von mir anfassen und streicheln läßt. Leider stinken sie teuflisch.

Wir fahren langsam flußabwärts und werden abends die See erreichen und vielleicht in etwa 32 Stunden in Singapur sein.

Nachtrag am Abend ... Ich nehme alles zurück. Als ich zu schreiben aufhörte, ward ich von niemand belästigt, vielmehr zu einem recht guten Mittagessen aufgefordert. Nachher machte mir die Kapitänsfrau vorn am Oberdeck ein Feldbett zurecht, wo ich zwei Stunden ruhen konnte. Da sah alles gleich wieder besser aus. Der chinesische Hund ist, glaube ich, nicht räudig; er hat nur, wie ja fast alle Hunde in den Tropen, den Haarschwund, wird von hinten her kahl, was schade ist, denn er muß früher, den Resten nach zu schätzen, ein ganz hübscher rotblonder Kerl gewesen sein. Die Kabinenluke ist beinahe so groß wie das Zifferblatt einer bescheidenen Wanduhr; die Taschenuhr war eine Übertreibung.

Ich habe mich tüchtig eingeseift und mit Flußwasser begossen, das erste frische Bad seit zehn Tagen! Nun kann ich wieder ohne Mühe aus den Augen sehen. Es ist abends fünf Uhr und schon dämmerig, wir sind in der weiten Flußmündung angekommen, vor uns liegt hellgelb das seichte Meer, der Pilot arbeitet am Steuer und kann uns nun bald verlassen. Gegenüber steht mit langen hohen Bergketten schön und ganz tiefblau die Insel Banca.

Nachtrag nachts zehn Uhr ... Der Hund ist doch räudig, die Berührung mit ihm hat mich zwei von meinen kostbaren Sublimatpastillen gekostet. Außer ihm, den Katzen, Vögeln und Affen sind noch zwei Gürteltiere, ein Stachelschwein und ein junger schöner Jaguar an Bord, alle lebend. Sie sind in Käfige gesperrt, aber sie haben weit mehr Luft als ich in meiner Kabine. Das Abendessen war sehr gesellig, die Kapitänin besitzt ein großes, heftig wirkendes Grammophon, das wurde mir zur Ehre losgelassen, Dollarprinzessin und Caruso. Alle Europäer in den Tropen haben Grammophone, und so bin ich denn schon vor der Rückkehr nach Singapur wieder von der operettenhaften Atmosphäre umgeben, die mir seit dem Betreten des Lloydschiffes in Genua als das Charakteristikum des Europäerlebens im Osten erscheint.

Spaziergang in Kandy

Das berühmte Kandy liegt in einem bedrückend engen Tal an einem unglücklichen, künstlichen See und hat außer seinem alten Tempel und seinem freilich wunderbar schönen Baumwuchs keine Verdienste, wohl aber alle Laster und Mängel eines von allzu reichen Engländern systematisch verdorbenen Fremdenstädtchens. Dafür aber führen von Kandy weg nach allen Seiten die schönsten Spazierwege der Welt in eine wundervolle Landschaft hinaus. Leider sah ich dies alles trotz einem längeren Aufenthalt nur halb, die Regenzeit hatte sich verspätet, und Kandy lag beständig in einem tiefen Regengrau und Nebelbrei, wie ein Schwarzwaldtal im Spätherbst.

Im leise strömenden Regen schlenderte ich eines Nachmittags durch die ländliche Malabar Street und hatte mein Vergnügen am Anblick der halbnackten singhalesischen Jugend. Ein atavistisches Behagen und Heimatgefühl, das ich zu meiner Enttäuschung der typisch-tropischen Landschaft gegenüber nie empfunden habe, empfand ich doch jedesmal beim Anblick unbekümmert primitiven Naturmenschentums; das gedeiht und vegetiert hier in Indien noch weit schöner und ernsthafter als etwa in Italien, wo wir sonst die „Unschuld des Südens“ suchen. Namentlich fehlt hier im Osten völlig die wahnsinnige Wichtigtuerei und Freude am brutalen Lärm, mit der in den mittelländischen Küstenstädten jeder Zeitungsjunge und Streichholzhausierer sich als schallenden Mittelpunkt der Welt kundgibt. Die Indier, Malayen und Chinesen füllen die unzähligen Straßen ihrer volkreichen Städte mit einem intensiven, bunten, starken Leben, das dennoch mit fast ameisenhafter Geräuschlosigkeit vor sich geht und damit unsere südeuropäischen Städte alle beschämt. Speziell die Singhalesen, so wenig sie sonst imponieren, gehen allesamt durch ihr einfaches, leichtes, wenig differenziertes Leben mit einer liebenswürdigen Sanftmut und einem stillen, rehartigen Anstand, die man im Westen nicht findet.

Vor jeder Hütte hing, schwebend zwischen Hauswand und Straßenbord, ein ganz kleines, naives Gärtchen, und in jedem blühten ein paar Rosen und ein Bäumchen mit Temple flowers, und vor jeder Schwelle trieben sich ein paar hübsche, schwarzbraune, langhaarige oder auch drollig rasierte Kinder herum, die Kleineren völlig nackt, aber auf der Brust mit Amuletten, an Fuß- und Handgelenken mit Silberspangen geschmückt. Sie sind, was mir als Kontrast zu den Malayen auffiel, ohne jede Scheu vor Fremden, kokettieren sogar sehr gerne und lernen den bettelnden Ruf nach Money als erste englische Vokabel, oft noch, ehe sie Singhalesisch können. Die Mädchen und ganz jungen Frauen sind oft wunderschön, und schöne Augen haben sie alle ohne Ausnahme.

Ein steil ins dicke wirre Grün verschwindender Seitenweg zog mich an, ich stieg hinab durch eine betäubend pflanzenreiche Schlucht, die wie ein Treibhaus gärend duftete. Dazwischen lagen auf zahllosen, winzigen Terrassen schlammige Reisfelder, in deren Morast die nackten Arbeiter und die grauen Wasserbüffel pflügend wühlten.

Plötzlich, nach einem letzten Absturz des Pfades, stand ich überm Ufer des Mahawelli. Der schöne, vom Regen geschwollene Bergfluß strömte in raschem Fall am dunkeln Urgestein der engen Felsenufer hin, kleine wilde Steininseln und Klippen standen schwarz und blank, wie aus glatter Bronze im bräunlichen Wasserschaum.

An einer breiten Felsenbank legte eben eine floßartige Fähre an, ein alter, blinder Mann ward ans Land geführt und tastete mit geduldigem Gesicht und mit welken gelben Händen, von denen ihm das Regenwasser in die Kleider rann, empor nach dem steilen Ufersteig. Rasch betrat ich das kleine Floß und fuhr hinüber, durch die rötliche, felsige Uferlandschaft, und stieg jenseits über die Felsstufen einen Weg durch neue Buschfinsternis hinan, wieder an Hütten und Reisterrassen vorüber. Die Leute haben soeben geerntet und pflügen nun den Sumpf ungesäumt wieder um, um sofort wieder auszusäen, denn in diesem guten Klima und auf diesem Urbrei von Boden wächst jahraus, jahrein Ernte nach Ernte. Das enge Tal mit roter Erde und überquellend dichtem Wachstum strömte im rauschenden Regen einen Geruch von heißer Fruchtbarkeit aus, als koche überall der weiche Erdschlamm in geheimnisvoller Urzeugung.

Zwei Meilen weiter oben sollte ein buddhistischer Felsentempel stehen, der älteste und heiligste von Ceylon, und bald sah ich das Klösterchen und den kleinen Hausgarten der Priester über mir am steilen Bergabhang kleben. Nun kam der Tempel, davor der ausgehöhlte Felsenboden voll Regenwasser stehend, eine schäbige Vorhalle mit nackten Mauerbögen aus neuerer Zeit, alles verlassen, dunkel und grämlich. Ein Junge lief und holte mir einen Priester herbei, die erste Tür des Heiligtums ward erschlossen, zwei winzige Stümpfe von Wachskerzen in der Hand des Priesters flimmerten ängstlich und konnten die schwarzen, stillen Räume nicht erhellen, es schwamm nur der greise, schlichte Kopf des Priesters in einem dünnen, roten Lichtschimmer, der da und dort an den Wänden ein Stück uralter Malerei auferweckte. Ich wollte die Wände besehen, und wir leuchteten nun mit den beiden schwachen, rußenden Lichtlein Zoll für Zoll die Wand entlang und bis zum Boden hinab, als wäre die mächtige Freskenwand eine Briefmarkensammlung. In alten primitiven Konturen, schwach gelb und rot gefärbt, kamen unzählige schöne, liebliche, auch lustige Darstellungen aus der Buddhalegende zum Vorschein: Buddha, das Vaterhaus verlassend, Buddha unter dem Bo-Baume, Buddha mit den Jüngern Ananda und Kaundinya. Unwillkürlich fiel mir Assisi ein, wo in der großen, leerstehenden Oberkirche von San Francesco Giottos Franzlegenden die Wände bedecken. Es war genau derselbe Geist, nur war hier alles klein und zierlich, und in der Zeichnung der Bildchen war wohl Kultur und Leben, aber keine Persönlichkeit.

Aber nun schloß der alte Mann die innerste Tür auf. Hier war es völlig finster, im Hintergrunde schloß sich die Felsenhöhle. Dort war etwas Ungeheuerliches zu ahnen, und da wir mit den Kerzen näher kamen, entstand aus Glanzlichtern und Schatten schwankend eine riesige Form, größer als der Kreis unserer schlechten Lichter, und allmählich erkannte ich mit einem Schauder das liegende Haupt eines kolossalen Buddha. Weiß und riesig glänzte das Gesicht des Bildes her, und unser bißchen Licht ließ nur die Schultern und Arme noch erfühlen, das andere verlor sich in der Dunkelheit, und ich mußte viel hin und her gehen und den Priester bemühen und mit den zwei Kerzen Versuche machen, ehe ich dämmernd die ganze Figur zu sehen bekam. Der liegende Buddha, den ich erblickte, ist zweiundvierzig Fuß lang, er füllt die Höhlenwand mit seinem Riesenleib, auf seiner linken Schulter ruht der Fels, und wenn er aufstünde, fiele der Berg über uns zusammen.

Und auch hier fiel mir ungesucht ein ähnliches Erlebnis ein. Vor Jahren trat ich einst in eine kleine gotische Kapelle in einem elsässischen Dorf, das Tageslicht fiel schwach und farbig schräg durch gemalte und verstaubte Scheiben, und aufblickend sah ich mit heftigem Erschrecken über mir im halben Lichte einen riesengroßen, geschnitzten Christus schweben, am Kreuz, mit roten grimmigen Wunden und mit blutiger Stirn.

Wir sind weit gekommen, und es ist schön, daß wir, ein kleiner, winziger Teil der Menschheit, diese beiden nicht unbedingt mehr brauchen, den blutigen Kruzifixus nicht und nicht den glatten lächelnden Buddha. Wir wollen sie und andere Götter auch weiter überwinden und entbehren lernen. Aber schön wäre es, wenn einst unsere Kinder, die ohne Götter aufgewachsen sind, wieder den Mut und die Freudigkeit und den Schwung der Seele fänden, so klare, große, eindeutige Denkmäler und Symbole ihres Innern zu errichten.

Tagebuchblatt aus Kandy

Es ist Abend; ich liege im Hotelzimmer. Seit einigen Tagen lebe ich von Rotwein und Opium, und mein Darm muß eine rasende Lebenskraft oder einen verzweifelten Todesmut besitzen, daß er trotz allem noch nicht Ruhe gibt. Zum Stehen und Gehen reicht heute abend der Mut und die Kraft nimmer recht, auch haben wir Regenzeit, und draußen liegt eine verregnete, tiefschwarze Nacht, obwohl es kaum erst Abend wurde. Ich muß irgendwie von der augenblicklichen Gegenwart abstrahieren; so will ich denn zu notieren versuchen, was ich vor zwei Stunden gesehen habe.

 

Es war etwa sechs Uhr und schon fast Nacht; der Regen floß; ich war vom Bett aufgestanden und ausgegangen, schwach vom Liegen und Fasten und betäubt von den Opiaten, mit denen ich gegen die Dysenterie ankämpfe. Ohne viel Überlegung bog ich in der Finsternis in den Tempelweg ein und stand nach einer Weile überm dunklen Wasser am Eingang des alten Heiligtums, in welchem der schöne, lichte Buddhismus zu einer wahren Rarität von Götzendienst gediehen ist, neben der auch der spanischste Katholizismus noch geistig erscheint. Eine traumhaft dumpfe Musik scholl mir entgegen; hier und da knieten dunkle Beter tiefgebückt und murmelnd; ein süßer heftiger Blumenduft überfiel mich betäubend; durchs Tempeltor sah ich in düster-nächtliche Räume, in denen viele einzelne dünne Kerzen irrlichthaft und verwirrend brannten.

Ein Führer hatte sich meiner sofort bemächtigt und schob mich vorwärts; zwei Jünglinge in weißen Kleidern mit guten, sanftäugigen Singhalesengesichtern eilten herbei, jeder mit zwei brennenden Kerzchen in der Hand, um mich führen zu helfen. Vorausschreitend beleuchteten sie eifrig, im Gehen tiefgebückt, jede kleinste Stufe und jeden Pfeilervorsprung, an den ich stoßen konnte; und benommenen Sinnes stieg ich in das Abenteuer hinein wie in eine arabische Märchen- und Schatzhöhle.

Eine Messingschale ward mir vorgehalten und eine Eintrittsgabe für den Tempel gefordert, ich legte eine Rupie hinein und ging weiter, die Kerzenträger vor mir her. Weiße süßduftende Tempelblumen wurden mir geboten, ich nahm einige zu mir, gab dem Darbietenden Geld und legte die Blüten in verschiedenen Nischen und vor verschiedenen Bildern als Opfer nieder. Dem Führer folgend, während vor meinen Augen die Finsternis mit hundert kleinen goldenen Kerzenpunkten flammend tanzte, kam ich an kleinen steinernen Löwen und vielen Lotosblumenbildern, an geschnitzten und bemalten Säulen und Pfeilern vorbei und eine dunkle Treppe empor und stand vor einem großen gläsernen Schrein, der war an den Scheiben und Stäben voll von Schmutz und innen voll von Buddhabildern, von goldenen und messingenen, silbernen und elfenbeinernen, granitenen und hölzernen, alabasternen und edelsteingezierten, von Bildern aus dem nördlichen und südlichen Indien, aus Siam und aus Ceylon. In einem üppig ornamentierten Silberschrein aber saß still und fein und unendlich apart ein schöner alter Buddha, der war aus einem einzigen riesigen Kristall geschnitten, und das Kerzenlicht, das ich dahinterhielt, schien farbig durch seinen gläsernen Leib; und von allen diesen vielen Bildern des Vollendeten war dies kristallene das einzige, das ich nicht vergesse und das den schlackenlosen Erlösten wahrhaft ausdrückt.

Hier und überall waren Priester, Tempeldiener und Handlanger in Menge da; Hände streckten sich mir entgegen, und feierliche messingene und silberne Schalen wurden mir allenthalben vorgehalten. Ich gab, um es kurz zu sagen, mehr als dreißig Trinkgelder. Doch tat ich dies, wie auch alle Fragen an die Priester, nur in einem unzulänglichen Traumzustand und Halbbewußtsein. Ich hatte keinerlei Achtung vor den miserablen Priestern, ich verachtete die Bilder und Schreine, das lächerliche Gold und Elfenbein, das Sandelholz und Silber, aber ich fühlte tief und mitleidend mit den guten, sanften indischen Völkern, die hier in Jahrhunderten eine herrlich reine Lehre zur Fratze gemacht und dafür einen Riesenbau von hilfloser Gläubigkeit, von töricht herzlichen Gebeten und Opfern, von rührend irrender Menschentorheit und Kindlichkeit errichtet haben. Den schwachen, blinden Rest der Buddhalehre, den sie in ihrer Einfalt verstehen konnten, den haben sie verehrt und gepflegt, geheiligt und geschmückt, dem haben sie Opfer gebracht und kostbare Bilder errichtet – was tun dagegen wir klugen und geistigen Leute aus dem Westen, die wir dem Quell von Buddhas und von jeder Erkenntnis viel näher sind? –

Weiter ward ich an Altären und Säulen vorübergeschleppt. Da und dort glänzten Gold und Rubinen auf, mattes altes Silber in Menge, und neben dem phantastischen Reichtum dieser Tempelschätze war die Schäbigkeit der Diener und Priester, die Armut der Holzverschläge und Glaskästchen, die bettelhafte Dürftigkeit der Beleuchtung ganz wunderlich anzusehen. Priester zeigten die alten heiligen Bücher des Tempels vor, die in Silber reich gebunden sind und deren heilige Texte in Sanskrit und Pali sie vermutlich selber nicht mehr lesen können; und was sie selber gegen ein Trinkgeld auf Palmblätter schrieben, war kein schöner Spruch oder Name, sondern das Datum des Tages und der Ortsname; eine nüchterne, schäbige Quittung.

Schließlich ward mir der Altarschrein und das Behältnis gezeigt, worin der heilige Zahn Buddhas verwahrt wird. Wir haben das alles in Europa auch; ich gab meinen Obolus hin und ging weiter. Der Buddhismus von Ceylon ist hübsch, um ihn zu photographieren und Feuilletons darüber zu schreiben; darüber hinaus ist er nichts als eine von den vielen rührenden, qualvoll grotesken Formen, in denen hilfloses Menschenleid seine Not und seinen Mangel an Geist und Stärke ausdrückt.

Und nun zerrten sie mich unversehens in die Nacht hinaus; in der wolligen Dunkelheit strömte immerzu der heftige Regen, unter mir spiegelten die Kerzen der Jünglinge sich im heiligen Schildkrötenteich. Ach, es fehlt hier nicht an Heiligkeit und heiligen Dingen; aber jenem Buddha, der nicht aus Stein und Kristall und Alabaster war, dem war alles heilig, dem war alles Gott!

Man zog und schob mich, der ich in der Dunkelheit mich blind fühlte und willenlos mitlief, in Eile über einige Treppenstufen und über nasses Gras hinweg ins Freie, wo plötzlich als rotes Viereck in der Nacht die erleuchtete Türöffnung eines zweiten, kleineren Tempels vor uns stand. Ich trat ein, opferte Blumen, ward zu einer inneren Tür gedrängt und sah plötzlich erschreckend nahe vor mir einen großen liegenden Buddha in der Wand, achtzehn Fuß lang, aus Granit und grell mit Rot und Gelb bemalt. Wunderlich, wie noch aus der glatten Leere all dieser Figuren ihre herrliche Idee hervorstrahlt, die faltenlos heitere Glätte im Angesicht des Vollendeten.

Nun waren wir fertig; ich stand wieder im Regen und sollte noch den Führer, die Kerzenträger und den Priester des kleineren Tempels bezahlen, aber ich hatte all mein Geld weggegeben und sah nun, auf die Uhr blickend, mit Befremdung, daß diese ganze nächtliche Tempelreise nur zwanzig Minuten gedauert hatte. Rasch lief ich zum Hotel zurück, hinter mir im Regen die kleine Schar meiner Gläubiger vom Tempel. Ich erhob Geld an der Hotelkasse und teilte es aus; es verneigte sich vor seiner Macht der Priester, der Führer, der erste und der zweite Kerzenjüngling; und fröstelnd stieg ich die vielen Treppen zu meinem Zimmer hinauf.

Pedrotallagalla

Um in der Stille einen schönen und würdigen Abschied von Indien zu feiern stieg ich an einem der letzten Tage vor der Abreise allein in einer kühlen Regenmorgenfrische auf den höchsten Berggipfel von Ceylon, den Pedrotallagalla. In englischen Fuß ausgedrückt, klingt seine Höhe sehr respektabel, in Wirklichkeit sind es wenig über zweieinhalbtausend Meter und die Besteigung ist ein Spaziergang.

Das kühle grüne Hochtal von Nurelia lag silbrig in einem leichten Morgenregen, typisch englisch-indisch mit seinen Wellblechdächern und seinen verschwenderisch großen Tennis- und Golfgründen, die Singhalesen lausten sich vor ihren Hütten oder saßen fröstelnd in wollene Kopftücher gewickelt, die schwarzwaldähnliche Landschaft lag leblos und verhüllt. Außer wenigen Vögeln sah ich lange Zeit kein Leben als in einer Gartenhecke ein feistes, giftig grünes Chamäleon, dessen boshafte Bewegungen beim Insektenfang ich lange beobachtete.

Der Pfad begann in einer kleinen Schlucht emporzusteigen, die paar Dächer verschwanden, ein starker Bach brauste unter mir hin. Eng und steil stieg der Weg eine gute Stunde lang gleichmäßig bergauf, durch dürres Buschdickicht und lästige Mückenschwärme, nur selten ward an Wegbiegungen die Aussicht frei und zeigte immer dasselbe hübsche, etwas langweilige Tal mit dem See und den Hoteldächern. Der Regen hörte allmählich auf, der kühle Wind schlief ein, und hin und wieder kam für Minuten die Sonne heraus.

Ich hatte den Vorberg erstiegen, der Weg führte eben weiter über elastisches Moor und mehrere schöne Bergbäche. Hier stehen die Alpenrosen üppiger als daheim, in dreimal mannshohen starken Bäumen, und ein silbriges, pelzig weiß blühendes Kraut erinnerte sehr an Edelweiß; ich fand viele von unsern heimatlichen Waldblumen, aber alle seltsam vergrößert und gesteigert und alle von alpinem Charakter. Die Bäume aber kümmern sich hier um keine Baumgrenze und wachsen kräftig und laubreich bis in die letzten Höhen hinauf.

Ich näherte mich der letzten Bergstufe, der Weg begann rasch wieder zu steigen, bald war ich wieder von Wald umgeben, von einem sonderbar toten, verzauberten Wald, wo schlangenhaft gewundene Stämme und Äste mich blind mit langen, dicken, weißlichen Moosbärten anstarrten; ein nasser, bitterer Laub- und Nebelgeruch hing dazwischen.

Das war alles ganz schön, aber es war nicht eigentlich das, was ich mir heimlich ausgedacht hatte, und ich fürchtete schon, es möchte zu manchen indischen Enttäuschungen heute noch eine neue kommen. Indessen nahm der Wald ein Ende, ich trat warm und etwas atemlos auf ein graues ossianisches Heideland hinaus und sah den kahlen Gipfel mit einer kleinen Steinpyramide nahe vor mir. Ein harter, kalter Wind drang auf mich ein, ich nahm den Mantel um und stieg langsam die letzten hundert Schritte hinan.

Was ich da oben sah, war vielleicht nichts typisch Indisches, aber es war der größte und reinste Eindruck, den ich von ganz Ceylon mitnahm. Soeben hatte der Wind das ganze weite Tal von Nurelia klargefegt, ich sah tiefblau und riesig das ganze Hochgebirge von Ceylon in mächtigen Wällen aufgebaut, inmitten die schöne Pyramide des uralt-heiligen Adams-Pik. Daneben in unendlicher Ferne und Tiefe lag blau und glatt das Meer, dazwischen tausend Berge, weite Täler, schmale Schluchten, Ströme und Wasserfälle, mit unzählbaren Falten die ganze gebirgige Insel, auf der die alten Sagen das Paradies gefunden haben. Tief unter mir zogen und donnerten mächtige Wolkenzüge über einzelne Täler hin, hinter mir rauchte quirlender Wolkennebel aus schwarzblauen Tiefen, über alles weg blies rauh der kalte sausende Bergwind. Und Nähe und Weite stand in der feuchten Luft verklärt und tief gesättigt in föhnigem Farbenschmelz, als wäre dieses Land wirklich das Paradies, und als stiege eben jetzt von seinem blauen, umwölkten Berge groß und stark der erste Mensch in die Täler nieder.

Diese große Urlandschaft sprach stärker zu mir als alles, was ich sonst von Indien gesehen habe. Die Palmen und die Paradiesvögel, die Reisfelder und die Tempel der reichen Küstenstädte, die von Fruchtbarkeit dampfenden Täler der tropischen Niederungen, das alles, und selbst der Urwald, war schön und zauberhaft, aber es war mir immer fremd und merkwürdig, niemals ganz nah und ganz zu eigen. Erst hier oben in der kalten Luft und dem Wolkengebräu der rauhen Höhe wurde mir völlig klar, wie ganz unser Wesen und unsre nördliche Kultur in rauheren und ärmeren Ländern wurzeln. Wir kommen voll Sehnsucht nach dem Süden und Osten, von dunkler, dankbarer Heimatsahnung getrieben, und wir finden hier das Paradies, die Fülle und reiche Üppigkeit aller natürlichen Gaben, wir finden die schlichten, einfachen, kindlichen Menschen des Paradieses. Aber wir selbst sind anders, wir sind hier fremd und ohne Bürgerrecht, wir haben längst das Paradies verloren, und das neue, das wir haben und bauen wollen, ist nicht am Äquator und an den warmen Meeren des Ostens zu finden, das liegt in uns und in unsrer eignen nordländischen Zukunft.

Rückreise

Wieder fahre ich Tage und Nächte, Tage und Wochen auf dem blauschwarzen Meer dahin, wohne in einem winzigen Kabinenloch und stehe zur Abendzeit stundenlang an die Reling gelehnt, sehe die kahle, schwarze Fläche im Abendlicht hell werden, sehe über dem grünen Späthimmel die wunderlich verschobenen Sternbilder flammen und den gleißend blanken Halbmond wagerecht wie ein Boot in der Schwärze schwimmen. Die Engländer liegen in Deckstühlen und lesen alte englische Magazine und Reviews, die Deutschen würfeln im Rauchzimmer mit Lederbechern, ich tue oft mit, und von Zeit zu Zeit entsteht Stille und Spannung an Deck, wenn die wunderbar gewachsene, braunschwarze, tigerhafte Frau aus Honolulu vorübergeht, bei jedem Schritt federnd und von Lebenskraft und animalischem Selbstgefühl gewiegt. Niemand ist in sie verliebt, niemand fühlt sich ihr gewachsen; man sieht ihr nach wie einem schönen, doch übermächtigen Naturereignis, einem Gewitter oder Erdbeben. Verliebt aber sind viele von uns in das zarte, überschlanke, zwei Meter hohe Fräulein aus England, das ein Knabengesicht hat und lächeln kann wie ein Engel. Sie hat in China Verwandte besucht, sie fuhr über Wladiwostok hin und fährt nun über Suez zurück, sie trägt tagsüber feine, diskrete, praktische Reisekleider und abends große Toiletten, und sie verbringt offenbar ihre ganze lächelnde Jugendzeit mit nichts anderem als damit, ihre eigene Lieblichkeit durch alle Meere und Länder der Erde spazieren zu führen.

Meine Wünsche und Gedanken sind schon alle in der Heimat, die trotzdem in ihrer unendlichen Ferne noch halb unwirklich bleibt, während eine Menge von Eindrücken der letzten Monate mich in junger sinnlicher Frische umgibt. Wenn ich über sie nachdenke, so stellt sich heraus, daß nur ganz wenige richtig „exotische“ dabei sind; die meisten sind von rein menschlicher Art und wurden mir nicht durch das fremde Kostüm, sondern durch ihre Verwandtschaft mit meinem eigenen und jedem Menschenwesen wichtig und lieb.

Zu den exotischen Bildern, die mich beständig noch in voller Frische bedrängen, gehört der Palmenstrand von Penang mit dem weißen Sandstreifen und den gelben Fischerhütten, die leuchtend blauen Chinesenstraßen der Städte in den Straits und den Malay States, das hügelige Inselgewimmel des Archipels bei Riouw, die Affenzüge im Urwald, die Krokodilflüsse von Sumatra. Der letzte solche Eindruck war oben in Nuwara Elia. Da war alles fast heimatlich einfach, rauh und grau, keine Tempel, keine Palmen. Aber als ich den ersten Ausgang machte, sprach plötzlich eine schöne, weiße Blume zu mir, die rührte bis zu jenem Schatz von frühesten und stärksten Eindrücken hinab, die wir als Kinder aufnehmen und denen es später kein Meer und Gebirge der Welt mehr gleich tun kann. Ich fühlte, nach einem wochenlangen Leben in neuen, fremden, oberflächlicheren Eindrücken, mich von dieser Blume im Innersten berührt und erinnert, und als ich suchte, fand ich bald, daß es dieselbe weiße großkelchige Kalla war, die zu meinen Knabenzeiten im Zimmer meiner Mutter blühte. Und im Weiterschreiten fand ich diese selbe weiße große Blume, die als Liebling und stolze Rarität in meinem Vaterhaus im Schwarzwald gepflegt worden war, zu Hunderten und zu Tausenden stehen und blühen wie bei uns die Butterblumen im April. Es war schön und üppig zu sehen, aber es gefiel mir und freute mich doch nur halb, hier auf Ceylon als mißachtetes Unkraut wachsen zu sehen, was einst meiner Mutter Stolz und liebe Sorge gewesen war.

Von der langen Seereise war das Schönste und Eindringlichste vielleicht die Insel Sokotra, von Norden gesehen, mit den bleichen, toten Sandhängen und dem wilden, jäh zerklüftet starrenden Kalkgebirge, dann das Südende von Calabrien mit den tausendjährig vereinsamten Steinstädten in den rauhen Felsbergen. Nicht zu vergessen das Sinaigebirge, mit den edlen Umrissen gläsern im weichen rosigen Lichte stehend, und den Suezkanal, den ich auf der Rückfahrt im vollen Farbenleuchten ägyptischer Lüfte sah.

Weit stärker noch als alle diese schönen Bilder steht mir der Anblick vieler kleiner menschlicher Dinge im Gedächtnis. Der magere, stille chinesische Diener, der auf dünner Bastmatte am Fußboden vor der Türschwelle seines Herrn schläft. Er wird, einer Kleinigkeit wegen, mitten in der Nacht vom Herrn wach gebrüllt. Müde wendet er den Kopf, einen Augenblick zittern seine Lider, dann blickt er mit den klugen, geduldigen braunen Augen auf und erhebt sich, wach und resigniert, mit dem ergebenen leisen Ruf: „Tuan!“

Oder der malayische Anführer der Waldarbeiter am Batang Hari, ein Verwandter der früheren Rajahs, aus adliger Familie, mager, mit einem schönen traurigen Gesicht. Ich sah ihn eines Abends lautlos unsre Veranda betreten, seine Laterne löschen und sich beim Hausherrn melden, mit einem Anstand und Adel der Gebärde, wie wir es kaum bei einem feinen adligen Offizier daheim sehen können.

Dann die schwärzlichen Kinderscharen der Urwalddörfer, die der Ankunft unseres Bootes mit starrender Neugierde und Spannung zusahen und beim ersten Schritt, den wir an Land taten, entsetzt und lautlos von dannen flohen und wie Tierchen im Wald verschwanden.

Und wie schön war es, in Chinesenstädten am Abend junge Freundespaare spazieren gehen zu sehen. Feine schlanke Jünglinge mit schönen braunen Augen und lichten, heiteren, geistigen Gesichtern, ganz weiß oder ganz schwarz gekleidet, mit unendlich nobeln, schmalen, vergeistigten Händen. Zart und fröhlich ging einer mit dem andern, seine linke Hand lose in die rechte Hand des Freundes oder den Arm auf dessen Schulter gelegt.

Und überall im Archipel die gutmütigen, hübschen Malayen, von den Holländern streng gehalten, höflich und ergeben, und auf Ceylon die sanften, zarten Singhalesen. Man schilt sie und sie machen betrübte Kindergesichter, man befiehlt ihnen und sie beginnen die Arbeit mit geheucheltem heftigem Eifer, man wirft ihnen ein Scherzwort zu und sie lachen breit und selig übers ganze Gesicht. Sie haben alle dieselben schönen, flehenden Augen, und sie haben alle einen Rest von wilder Unschuld und Rechenschaftslosigkeit im leicht bewegten Gemüt. Sie vergessen wichtige Dinge über einer Mahlzeit, und sie verlieren sich im Spiel so maßlos, daß sie manchmal Ernst daraus machen und einander totschlagen, wozu sie im wirklichen Ernst und um wichtige Dinge viel zu feige sind. In Nurelia sah ich einen Arbeiter, der vom Bauplatz weggejagt und vom Aufseher vertrieben und immer wieder geschlagen wurde. Er hatte irgendeine Gaunerei begangen, und er war bereit, eine Strafe zu tragen, aber er wollte durchaus nicht fortgehen, er wollte dableiben, nur dableiben bei seiner Arbeit und bei seinem Brot, bei seiner Ehre und bei der Gemeinschaft mit den andern. Der junge, kräftige Mann ließ sich ohne Widerstand stoßen und mit einem Strickende hauen, langsam wich er der Gewalt, er heulte dazu laut und unbeherrscht wie ein verwundetes Tier, und über sein dunkles Gesicht liefen dicke Tränen.

Schön und nachdenklich war es auch, alle diese Menschen bei ihren religiösen Übungen zu sehen, Hindu, Mohammedaner und Buddhisten. Sie haben alle, vom reichen städtischen Häuserbesitzer bis zum geringsten Kuli und Paria herab, Religion. Ihre Religion ist minderwertig, verdorben, veräußerlicht, verroht, aber sie ist mächtig und allgegenwärtig wie Sonne und Luft, sie ist Lebensstrom und magische Atmosphäre und sie ist das einzige, um was wir diese armen und unterworfenen Völker ernstlich beneiden dürfen. Was wir Nordeuropäer in unserer intellektualistischen und individualistischen Kultur nur selten, etwa beim Anhören einer Bachmusik, empfinden dürfen, das selbstvergessene Gefühl der Zugehörigkeit zu einer ideellen Gemeinschaft und des Kräfteschöpfens aus unversieglich magischer Quelle, das hat der Mohammedaner, der am fernsten Winkel der Welt abends seine Verbeugungen und Gebete verrichtet, und hat der Buddhist in der kühlen Vorhalle seines Tempels jeden Tag. Und wenn wir das, in einer höheren Form, nicht wieder gewinnen, dann werden wir Europäer bald kein Recht auf den Osten mehr haben. Die Engländer, die in ihrem Nationalitätsgefühl und in ihrer strengen Pflege der eigenen Rasse eine Art von Ersatzreligion besitzen, sind denn auch die einzigen Westländer, die es da draußen zu einer wirklichen Macht und Kulturbedeutung gebracht haben.

Mein Schiff fährt und fährt. Vorgestern brannte noch die unbändige Sonne Asiens auf unser Deck, wir saßen luftig in weißen dünnen Kleidern und tranken eisgekühlte Sachen; jetzt sind wir schon nahe am europäischen Winter, der uns mit Kühle und Regenschauern schon bald nach Port Said empfing. Dann werden die heißen Küsten der östlichen Inseln und die glühenden Mittage von Singapur in der Erinnerung noch an Glanz gewinnen; aber dies alles wird mir nie so lieb und wertvoll werden wie das starke Gefühl von der Einheit und nahen Verwandtschaft alles Menschenwesens, das ich unter Indiern, Malayen, Chinesen und Japanern gewonnen habe.

Reisende Asiaten

Eines fiel mir, seit ich die erste indische Hafenstadt sah und solange ich im Osten unterwegs war, täglich stärker auf: Wie viel die Asiaten reisen! Im Westen, in Europa und Amerika, hält man das Reisen und den „modernen Verkehr“ für eine Art westlicher Spezialität. Dabei gilt dem Durchschnittsbürger in ganz Europa eine Eisenbahnfahrt von mehr als sechs oder acht Stunden schon für eine bemerkenswerte Reise, und ein Handlungskommis oder Portier, der etwa in Paris, in Genf oder Nizza oder gar in Neapel war, steht im Ruf eines weltläufigen Mannes, der weit herumgekommen ist. Das ist in Asien anders. In Indien, Hinterindien, dem Archipel und einem großen Teil von China reist das Volk unendlich viel mehr als bei uns, für einfache Leute der niederen Klassen gelten Reisen von zwei, drei, sechs, zehn Tagen für gar nichts Besonderes. Unsereiner, wenn er zwischen Colombo und Batavia unterwegs ist, kommt sich schon unternehmend vor und ist erstaunt, zu sehen, daß eine Seereise von drei Wochen, eine Eisenbahnreise von Tagen für Asiaten gar nichts bedeutet.

Der Kuli, der dir in Singapur den Koffer an Land trägt, stammt aus Hankau. Der kleine Händler, dem du in Penang oder Kuala Lumpur eine Badehose oder Leibbinde abkaufst, ist in Peking zu Hause. Der malayische Kaufmann, der dir auf Sumatra Hosenträger und Stiefel verkauft, ist Hadschi und hat die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, was eine Hin- und Rückreise von je etwa zwanzig Tagen bedeutet, das Dreifache einer Fahrt von Europa nach Amerika und zurück.

Wenn bei uns ein Bauer seine Kartoffeln oder Äpfel in der nächsten größeren Stadt persönlich verkauft und dahin drei Stunden mit der Bahn zu fahren hat, so ist das für ihn eine große Sache. Arme, halbwilde Natives auf einer malayischen Insel fahren mit ihrer Ladung Rottang oder ihrem bißchen Baumwolle vier, sechs, zehn Tage ihren Urwaldfluß hinab bis zur nächsten Hafenstadt und brauchen doppelt so lange zurück. Von Nordindien gehen einzelne indische Händler alle paar Jahre auf wilden, anstrengenden und gefährlichen Zügen durch Tibet nach China oder bis zum Baikalsee, ja bis Moskau. In Pelaiang bei Djambi (Südsumatra) hatten wir einen chinesischen Koch, der seine Familie bei Schanghai leben hat und sie öfters besucht! Die chinesischen Großhändler in den Straits, auf Java usw. haben fast alle auch noch daheim in China Besitzungen, oft auch Frauen und Kinder, und reisen häufig zwischen beiden Orten hin und her, über Entfernungen wie zwischen Neapel und Moskau. Es gibt auch indische und arabische Händler, welche Filialen von Colombo oder Bombay an bis nach Peking hin haben und für die eine Seereise von drei Wochen nur eine kleine, oft wiederholte Geschäftsfahrt ist.

Dazu alle die vielen Pilgerfahrten! Leute aus Siam und Birma pilgern nach Ceylon, Gläubige aus Java und Sumatra nach Mekka, Fromme aus dem untersten Südindien hinauf nach Benares. Dagegen ist die Pilgerfahrt eines armen Bäuerleins vom Bodensee nach Lourdes eine Bagatelle.

Die letzten asiatischen Reisenden dieser Art, die ich sah, waren zwei Mohammedaner aus Java. Sie bestiegen unser Schiff in Singapur und fuhren als Beauftragte einer mohammedanischen Gemeinschaft bis Suez, von wo aus sie Tripolis erreichen, zuverlässige Berichte vom Krieg einsammeln und über die beste Art, die kriegführenden Glaubensgenossen moralisch und finanziell zu unterstützen, nach Hause berichten sollten.

Gedichte

Gegenüber von Afrika

Heimathaben ist gut,

Süß der Schlummer unter eigenem Dach,

Kinder, Garten und Hund. Aber ach,

Kaum hast du vom letzten Wandern geruht,

Geht dir die Ferne mit neuer Verlockung nach.

Besser ist Heimweh leiden

Und unter den hohen Sternen allein

Mit seiner Sehnsucht sein.

Haben und rasten kann nur der,

Dessen Herz gelassen schlägt,

Während der Wandrer Mühsal und Reisebeschwer

In immer getäuschter Hoffnung trägt.

Leichter wahrlich ist alle Wanderqual,

Leichter als Friede finden im Heimattal,

Wo in heimischer Freuden und Sorgen Kreis

Nur der Weise sein Glück zu bauen weiß.

Mir ist besser, zu suchen und nie zu finden,

Statt mich eng und warm an das Nahe zu binden,

Denn auch im Glücke kann ich auf Erden

Doch nur ein Gast und niemals ein Bürger werden.

Abend auf dem Roten Meer

Von brennenden Wüsten her

Zittert ein giftiger Wind,

Dunkel wartet das wenig bewegte Meer,

Hundert hastige Möwen sind

Durch die offene Hölle unsre Begleiter.

Blitze reißen kraftlos am Himmelsrand,

Keines Regens Wohltat kennt dieses verfluchte Land.

Drüben aber steht licht und heiter

Eine friedliche Wolke allein;

Die hat uns Gott dahin gestellt,

Daß wir nicht länger trostlos sein

Und einsam leiden mögen in dieser Welt.

Niemals will ich die Öde unermessen

Und nie diese quälende Hölle vergessen,

Die ich am heißesten Ort der Erde fand;

Daß aber darüber die lächelnde Wolke stand,

Soll mir ein Zeichen sein für die lastende Schwüle,

Die ich in meines Lebens Mittag mir nahen fühle.

Ankunft in Ceylon

Hohe Palmen am Strand,

Leuchtende See und nackte Rudrer im Boot,

Uralt heiliges Land,

Ewig vom Feuer junger Sonne umloht!

Blaues Gebirg verliert sich in Dunst und Traum,

Gipfel blenden, man sieht sie vor Sonne kaum.

Grell empfängt mich der Strand:

Seltsame Bäume starren streng in die Luft,

Häuser taumeln farbig im Sonnenbrand,

Menschengetöse aus schillernden Gassen ruft.

Dankbar flüchtet mein Blick ins Gedräng –

Nach unendlicher Seefahrt welch süßer Tausch!

Und mein Herz wird vor Freude eng,

Schlägt wie vor Liebe im seligen Reiserausch.

Nachts in der Kabine

Das Meer klopft an die Wand,

Im kleinen runden Fenster blaut die Nacht

Und atmet heiß mit Wüstenhauch herein.

Ich bin zum zehntenmal erwacht

Und liege still in atemlosem Brand

Und schlafe nimmer ein.

Und wie ein wildes Herz

Stößt die Maschine heiß und stöhnend fort

Und müht sich unerlöst in blindem Schmerz

Durch immer neue Fernen sinnlos fort.

O wessen Herz nicht klar und fest

Und froh ist wie Kristall,

Für den ist solcher Raum kein Nest,

Dem folgt die Sehnsucht und der Heimat Sorgenschwall,

Folgt ungestillte Liebe überall

Und macht ihn arm;

Und alles sieht ihn wild und teuflisch an,

Weil er den Feind im eignen Busen trägt

Und nie entrinnen kann.

Fluß im Urwald

Seit tausend Jahren fließt er durch den Wald

Und sieht der nackten braunen Menschen Hütten

Aus Holz und Rohrgeflecht erstehen und vergehn.

Sein braunes Wasser wälzt im lauen Schwall

Laub und Geäst und dunkeln Urwaldschlamm

Und gärt in brennend steilem Sonnenbrand.

Nachts kommt der Tiger und der Elefant

Und badet lärmend seine schwülen Kräfte

Und brüllt in dumpfer Wollust durch den Wald.

Am Ufer rauscht im trüben Schlamm und Rohr

Das schwere Krokodil, heut wie vor tausend

Und hunderttausend Jahren; scheu und schlank

Bricht durch den Schilf der wilde Jaguar.

Hier leb’ ich stille Tage hin im Wald

In röhrener Hütte und im leichten Einbaum

Und selten rührt ein Klang der Menschenwelt

Verschlafene Erinnerungen wach.

Am Abend aber, wenn die rasche Nacht

Sich feindlich naht, steh’ ich am Fluß und lausche

Und höre da und dort und nah und fern

Verirrten Laut,

Gesang von Menschenstimmen in der Nacht.

Das sind die Fischer und die Jäger, die

Im leichten Boot der Abend überrascht

Und denen kindlich tiefe Furcht das Herz erschlafft,

Furcht vor der Nacht und vor dem Krokodil

Und vor den Geistern der Verstorbenen,

Die nachts sich regen überm schwarzen Strom.

Fremd ist das Lied und mir kein Wort vertraut,

Und klingt mir doch nicht anders, als daheim

Am Rhein und Neckar mir ein Abendlied

Der Fischer oder Mägde klingt: ich atme Furcht

Und atme Sehnsucht, und der wilde Wald

Und fremde dunkle Strom ist mir wie Heimat,

Weil hier wie überall, wo Menschen sind,

Sich zage Seelen ihren Göttern nähern,

Den Schreck der Nacht beschwörend durch ein Lied.

Heimkehrend in der Hütte kargen Schutz

Leg’ ich mich nieder, ringsum Wald und Nacht

Und gläsern schrillender Zikadensang,

Bis mich der Schlaf entführt und bis der Mond

Die bange Welt mit kühlem Schimmer tröstet.

Kein Trost

Zur Urwelt führt kein Weg zurück.

Es gibt kein Sternenheer,

Kein Wald und Strom und Meer

Der Seele Trost und Glück.

Es ist nicht Baum noch Fluß noch Tier

Dem Herzen zu erreichen;

Trost wird im Herzen dir

Allein bei deinesgleichen.

Nachtfest der Chinesen in Singapur

Bei den wehenden Lichtern

Oben auf dem bekränzten Balkon

Kauern sie ruhevoll in der festlichen Nacht,

Singen Lieder von lang verstorbenen Dichtern,

Horchen beglückt auf der Laute schwirrenden Ton,

Der die Augen der Mädchen größer und schöner macht.

Durch die sternlose Nacht klirrt die Musik

Gläsern wie Flügelschlag großer Libellen,

Braune Augen lachen in lautlosem Glück –

Keiner, der nicht ein Lächeln im Auge hat!

Drunten wartet schlaflos mit tausend hellen

Lichteraugen am Meere die glänzende Stadt.

Im malayischen Archipel

In allen Nächten steht die Heimat nah,

Als wäre sie noch mein,

Vor meinen traumbeglückten Augen da.

Doch muß ich lange noch auf Reisen sein

Und in entlegener Inseln Sonnenglut

Mein Herz zur Ruhe bringen

Und wie ein widerspenstig Kind

Einwiegen und zur Ruhe singen.

Und immer wieder ist es ungemut,

Ist nicht zur Ruh’ zu bringen,

Ist wild und schwach wie Kinder sind.

Bei Nacht

Nachts, wenn das Meer mich wiegt

Und bleicher Sternenglanz

Auf seinen weiten Wellen liegt,

Dann löse ich mich ganz

Von allem Tun und aller Liebe los

Und stehe still und atme bloß

Allein, allein vom Meer gewiegt,

Das still und kalt mit tausend Lichtern liegt.

Dann muß ich meiner Freunde denken

Und meinen Blick in ihre Blicke senken,

Und frage jeden still allein:

„Bist du noch mein?

Ist dir mein Leid ein Leid? Mein Tod ein Tod?

Fühlst du von meiner Liebe, meiner Not

Nur einen Hauch, nur einen Widerhall?“

Und ruhig blickt und schweigt das Meer

Und lächelt: Nein.

Und nirgendwo kommt Gruß und Antwort her.

Pelaiang

Die Nacht ist ganz von Blitzen hell

Und zuckt in weißem Licht

Und flackert wild, verstört und grell

Über den Wald, den Strom und mein bleiches Gesicht.

Am kühlen Bambusstamm gelehnt

Steh’ ich und schaue unverwandt

Über das regengepeitschte, blasse Land,

Das sich nach Ruhe sehnt,

Und aus der fernen Jugend her

Blitzt mir aus regentrüber

Verdüsterung ein Freudenschrei herüber,

Daß doch nicht alles leer,

Daß doch nicht alles schal und dunkel sei,

Daß noch Gewitter sprühen

Und an der Tage ödem Zug vorbei

Geheimnisse und wilde Wunder glühen.

Tief atmend lausche ich dem Donner nach

Und spüre feucht den Sturm in meinem Haar

Und bin für Augenblicke tigerwach

Und froh, wie ichs in Knabenzeiten

Und seit den Knabenzeiten nimmer war.

Vor Colombo

In grünem Licht verglimmt der heiße Tag,

Still geht und steht das Schiff im Wellenschlag.

So still und gleich durch diese Welt zu gehn,

So unbeirrt in Kampf und Nacht zu sehn,

War meiner Reise Ziel, doch lernt’ ichs nicht.

Und wartend wend’ ich heimwärts mein Gesicht,

Zu neuer Tage Wechselspiel bereit,

Neugierig auf des Lebens Grausamkeit.

Für mich ist Stille nicht und Sternenbahn,

Ich bin die Welle, bin der schwanke Kahn,

Von jedem Sturm im Innersten erregt,

Von jedem Hauch verwundet und bewegt.

So fand ich bis zum fernsten Wendekreise

Mich selber nur und kehre von der Reise

Mit aller alten Wandersehnsucht her,

Nach Lust und Schmerz des Lebens voll Begehr,

Zu neuem Spiel und neuem Kampf gesonnen,

Aus allem Abenteuer ungeheilt entronnen.

Ich bin der Erde, nicht der Sterne Kind,

Unruhig ist mein Sinn, bewegt vom Wind,

Vom Meer geschaukelt und vom Sturm geweckt,

Vom Licht getröstet, von der Nacht erschreckt.

Und ob ich hundertmal im Lebensdrang

Um Weisheit flehte und nach Frieden rang,

Stets ruht mein Los gebannt an irdische Zeichen,

Und immer werd’ ich meiner Mutter gleichen.

Robert Aghion

Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts, das wie eine jede Zeit vielerlei Gesichter zeigen kann und mit der Vorstellung von galanten Romanen und heiter-schnörkelhaften Porzellanfiguren keineswegs erschöpft ist, wuchs in Großbritannien eine neue Art von Christentum und christlicher Betätigung heran, die sich aus einer winzigen Wurzel ziemlich rasch zu einem großen exotischen Baume auswuchs und welche einem jeden heute unter dem Namen der evangelischen Heidenmission bekannt ist. Es gibt auch eine katholische, die jedoch nichts Neues und Seltsames vorstellt, da von allem Anfang an die römische Kirche sich als ein Weltreich eingeführt und gebärdet hat, zu dessen Rechten, Pflichten und selbstverständlichen Arbeiten das Unterwerfen oder Bekehren aller Völker gehört, das ja denn auch zu allen Zeiten stark betrieben worden ist, bald auf die heilig-liebreiche Art der irischen Mönche, bald in der rascheren und unerbittlicheren Weise Karls des Großen. Im schärfsten Gegensatz hierzu aber hatten sich die verschiedenen protestantischen Gemeinschaften und Kirchen entwickelt, die sich von der katholischen Universalkirche eben dadurch am stärksten unterschieden, daß sie Landeskirchen waren und jede von ihnen dem geistlichen Bedürfnis einer bestimmten Nation, Rasse und Sprache diente: Hus den Böhmen, Luther den Deutschen, Wiclif den Engländern.

Wenn nun diese von England ausgehende protestantische Missionsbewegung also eigentlich dem Wesen der protestantischen Kirchen widersprach und auf das apostolische Urchristentum zurückgriff, so war allerdings äußerlich nicht wenig Grund und Anlaß dazu vorhanden. Seit dem glorreichen Zeitalter der Entdeckungen hatte man allerwärts auf Erden entdeckt und erobert, und es war das wissenschaftliche Interesse an der Form entfernter Inseln und Gebirge ebenso wie das seefahrende und abenteuernde Heldentum überall einem modernen Geiste gewichen, der sich in den entdeckten exotischen Gegenden nicht mehr für aufregende Taten und Erlebnisse, für seltsame Tiere und romantische Palmenwälder interessierte, sondern für Pfeffer und Zucker, für Seide und Felle, für Reis und Sago, kurz für die Dinge, mit denen der Welthandel Geld verdient. Darüber war man häufig etwas einseitig und hitzig geworden und hatte manche Regeln vergessen und verletzt, die im christlichen Europa Geltung hatten. Man hatte eine Menge von erschrockenen Eingeborenen da draußen wie Raubzeug verfolgt und niedergeknallt, und der gebildete christliche Europäer hatte sich in Amerika, Afrika und Indien benommen wie der in den Hühnerstall eingebrochene Marder. Es war, auch wenn man die Sache ohne besondere Empfindsamkeit betrachtet, recht scheußlich hergegangen und recht grob und säuisch geräubert worden, und zu den Regungen der Scham und Entrüstung im Heimatvolke, deren Folge schließlich das geordnete und anständige Kolonisieren war, gehörte auch unsere Missionsbewegung, fußend auf dem durchaus richtigen und schönen Wunsche, es möchte den armen hilflosen Heiden- und Naturvölkern von Europa her doch auch etwas anderes, Besseres und Höheres mitgebracht werden als nur Schießpulver und Branntwein.

Mag man nun über Wesen, Wert, Bedeutung und Erfolg dieser Heidenmissionen denken wie man will, jedenfalls steht fest, daß sie gleich jeder anderen wahrhaft religiösen Bewegung aus reinem Herzen und Willen entsprangen, daß edle und nicht unbedeutende Männer in treuer Überzeugung und Absicht sie begründet haben und daß bis zum heutigen Tage viele ebensolche Männer sich in ihren Dienst stellten. Wenn sie nicht alle Helden und Weise waren, so gab es doch solche unter ihnen, und wenn einzelne sich vielleicht nicht eben rühmlich bewährten, so wäre es unbillig, dies dem Ganzen als Schuld anzurechnen.

Jedoch genug der Einleitungen! Es kam in der zweiten Hälfte des vorvorigen Jahrhunderts in England nicht allzu selten vor, daß wohlmeinende und wohlwollende Privatleute sich dieses Missionsgedankens tätig annahmen und Mittel zu seiner Ausführung hergaben. Geordnete Gesellschaften und Betriebe dieses Behufes aber, wie sie heute blühen, gab es zu jener Zeit noch nicht, sondern es versuchte eben ein jeder nach eigenem Vermögen und auf eigenem Wege die gute Sache zu fördern, und wer damals als Missionar in ferne Länder auszog, der fuhr nicht wie ein heutiger gleich einem wohladressierten Poststück durch die Meere und einer geregelten und organisierten Arbeit entgegen, sondern er reiste mit Gottvertrauen und ohne viele Anleitung geradenwegs in ein zweifelhaftes Abenteuer hinein.

In den neunziger Jahren entschloß sich ein Londoner Kaufherr, dessen Bruder in Indien reich geworden und dort ohne Kinder gestorben war, eine bedeutende Geldsumme für die Ausbreitung des Evangeliums in jenem Lande zu stiften. Ein Mitglied der mächtigen ostindischen Kompagnie, sowie mehrere Geistliche wurden als Ratgeber herbeigezogen und ein Plan ausgearbeitet, nach welchem zunächst drei oder vier junge Männer, mit einer hinlänglichen Ausrüstung und gutem Reisegeld versehen, als Missionare ausgesandt werden sollten.

Die Ankündigung dieses Unternehmens zog alsbald einen Schwarm von abenteuerlustiger Mannheit heran, erfolglose Schauspieler und entlassene Barbiergehilfen glaubten sich zu der verlockenden Reise berufen, und das fromme Kollegium hatte alle Mühe, über die Köpfe dieser Zudringlichen hinweg nach ernsthaften und würdigen Männern zu fahnden. Unter der Hand suchte man vor allem junge Theologen zu gewinnen, doch war die englische Geistlichkeit durchweg keineswegs der Heimat müde oder auf anstrengende, ja gefährliche Unternehmungen erpicht; die Suche zog sich in die Länge, und der Stifter begann schon ungeduldig zu werden.

Da verlor sich die Kunde von seinen Absichten und Mißerfolgen endlich auch in ein Bauerndorf in der Gegend von Lancaster und in das dortige Pfarrhaus, dessen ehrwürdiger Herr seinen Neffen, einen jungen Bruderssohn namens Robert Aghion, als bescheidenen Amtsgehilfen bei sich in Kost und Wohnung hatte. Robert Aghion war der Sohn eines Schiffskapitäns und einer frommen fleißigen Schottin, er hatte den Vater früh verloren und kaum gekannt und war als ein Knabe von guten Gaben durch seinen Onkel, der ehemals selbst in Roberts Mutter verliebt gewesen war, auf Schulen geschickt und ordnungsgemäß auf den Beruf eines Geistlichen vorbereitet worden, dem er nunmehr so nahe stand als ein Kandidat mit guten Zeugnissen aber ohne Vermögen es eben konnte. Einstweilen stand er seinem Oheim und Wohltäter als Vikarius bei und hatte auf eine eigene Pfarre bei dessen Lebzeiten nicht zu rechnen. Da nun der Pfarrer Aghion noch ein rüstiger Mann am Ende der Fünfziger war, sah des Neffen Zukunft nicht allzu glänzend aus. Als ein armer Jüngling, der nach aller Voraussicht nicht vor dem mittleren Mannesalter auf ein eigenes Amt und Einkommen zu rechnen hatte, war er für junge Mädchen kein begehrenswerter Mann, wenigstens nicht für ehrbare, und mit anderen als solchen war er nie zusammengetroffen.

So war denn sein Gemüt wie sein Schicksal nicht frei von verdunkelnden Wolken, die jedoch über seinem bescheidenen und harmlosen Wesen mehr wie bedeutsame Verzierungen denn wie gefährliche Feinde schwebten. Zwar sah er, als ein gesunder und einfach fühlender Mensch, nicht ein, warum gerade er, der studiert hatte und den die geistliche Würde umfloß, im Liebesglück und in der Freiheit zu heiraten hinter jedem jungen Bauern oder Weber oder Wollenspinner zurückstehen müsse, und wenn er zuweilen eine festliche Trauung auf der kleinen gebrechlichen Orgel der Dorfkirche begleitete, war sein Gemüt nicht immer frei von Unzufriedenheit und Neid. Aber eben seine einfache Natur lehrte ihn, das Unmögliche aus seinen Gedanken zu verbannen und sich an das zu halten, was ihm bei seiner Lage und bei seinen Fähigkeiten offen stand, und das war gar nicht wenig. Als Sohn einer herzlich frommen Mutter hatte er einen schlichten, bewährten Christensinn und Glauben, welchen als Prediger zu bekennen ihm eine Freude war. Seine eigentlichen geistigen Vergnügungen aber fand er im Betrachten der Natur, wofür er ein feines Auge besaß. Von jener kühnen, revolutionären und konstruktiven Naturwissenschaft allerdings, die eben zu seiner Zeit und in seinem Lande emporwuchs und später so vielen Pfarrern das Leben sauer machen sollte, wußte und ahnte er nichts. Als ein bescheidener frischer Junge ohne philosophische Bedürfnisse, aber mit tüchtigen Augen und Händen fand er vielmehr vollkommene Befriedigung im Sehen und Kennen, Sammeln und Untersuchen der natürlichen Dinge, die sich ihm darboten. Als Knabe hatte er Blumen gezüchtet und botanisiert, hatte dann eine Weile sich eifrig mit Steinen und Versteinerungen abgegeben, in welch letztern er freilich nur schöne und ahnungsvolle Formenspiele der Natur verehrte, und neuerdings, zumal seit seinem Aufenthalt in der ländlichen Umgebung, war ihm die vielfarbige Insektenwelt vor allem andern lieb geworden. Das Allerliebste aber waren ihm die Schmetterlinge, deren glänzende Verwandlung aus dem Raupen- und Puppenstande ihn immer wieder innig entzückte und deren köstliche Zeichnung und milder satter Farbenschmelz ihm ein so reines Vergnügen bereiteten, wie es geringer befähigte Menschen nur in den genügsameren Jahren der frühen Kindheit erleben können.

So war der junge Theologe beschaffen, der als erster auf die Kunde von jener Stiftung hin alsbald aufhorchte und ein Verlangen in seinem Innersten gleich einem Kompaßzeiger gegen Indien hinweisen fühlte. Seine Mutter war vor wenigen Jahren gestorben, ein Verlöbnis oder auch nur ein heimlicher Verspruch mit einem Mädchen bestand nicht, der Oheim wehrte sich zwar und riet flehentlich ab, war aber schließlich ein aufrechter Pfarrherr, in dessen Amt und Anwesen sich der Neffe keineswegs unentbehrlich wußte. Er schrieb nach London, bekam ermunternde Antwort und das Reisegeld für die Fahrt nach der Hauptstadt zugestellt und fuhr gleich darauf, nach einem unfrohen Abschied von seinem noch immer zürnenden und heftig abmahnenden Onkel, mit einer kleinen Bücherkiste und einem Kleiderbündel getrost nach London, wobei ihm nur leid tat, daß er seine Herbarien, Versteinerungen und Schmetterlingskästen nicht mitnehmen konnte.

Ernst und bänglich betrat in der düstern brausenden Altstadt von London der indische Kandidat das hohe ernste Haus des frommen Kaufherrn, wo ihm im düsteren Korridor eine gewaltige Wandkarte der östlichen Erdhälfte und gleich im ersten Zimmer ein großes fleckiges Tigerfell seine Zukunft vor Augen führte. Beklommen und verwirrt ließ er sich von dem vornehmen Diener in das Zimmer führen, wo ihn der Hausherr erwartete. Es empfing ihn ein großer, ernster, schön rasierter Herr mit eisblauen scharfen Augen und strengen alten Mienen, dem der schüchterne Bewerber jedoch nach wenigen Reden recht wohl gefiel, so daß er ihn zum Sitzen einlud und sein Examen mit Vertrauen und Wohlwollen zu Ende führte. Darauf ließ der Herr sich seine Zeugnisse und seinen schriftlichen Lebenslauf übergeben und schellte den Diener herbei, der auf eine knappe Anweisung hin den Theologen stillschweigend hinwegführte und in ein Gastzimmer brachte, wo unverweilt ein zweiter Diener mit Tee, Wein, Schinken, Butter und Brot erschien. Mit diesem Imbiß ward der junge Mann allein gelassen und tat seinem Hunger und Durst Genüge. Dann blieb er beruhigt in dem schönen blausamtenen Armstuhl sitzen, dachte über seine Lage nach und musterte mit müßigen Augen das Zimmer, wo er nach kurzem Umherschauen zwei weitere Entgegenkömmlinge aus dem fernen heißen Lande entdeckte, nämlich in einer Ecke neben dem Kamin einen ausgestopften rotbraunen Affen und über ihm aufgehängt an der blauen Seidentapete das gegerbte Fell einer riesig großen Schlange, deren augenloser Kopf blind und schlaff herabhing. Das waren Dinge, die er schätzte und die er sofort aus der Nähe zu betrachten und zu befühlen eilte. War ihm auch die Vorstellung der lebendigen Boa, die er durch das Zusammenbiegen der glänzend silbrigen Haut zu einem Rohre zu unterstützen versuchte, einigermaßen grauenvoll und zuwider, so ward doch seine Neugierde auf die geheimnisvolle, an Wundern reiche Ferne durch ihren Anblick noch geschürt. Er dachte sich weder von Schlangen noch von Affen schrecken zu lassen und malte sich mit Wollust die fabelhaften Blumen, Bäume, Vögel und Schmetterlinge aus, die in solchen gesegneten Ländern gedeihen mußten.

Es ging indessen schon gegen Abend, und ein stummer Diener trug eine angezündete Lampe herein. Vor dem hohen Fenster, das auf eine tote Hintergasse schaute, stand neblige Dämmerung. Die Stille des vornehmen Hauses, das ferne schwache Wogen der großen Stadt, die Einsamkeit des hohen kühlen Zimmers, in dem er sich wie gefangen fühlte, der Mangel an jeder Beschäftigung und die Ungewißheit seiner romanhaften Lage verbanden sich mit der zunehmenden Dunkelheit der Londoner Herbstnacht und stimmten die Seele des jungen Menschen von der Höhe seiner Hoffnungen immer weiter herab, bis er nach zwei Stunden, die er horchend und wartend in seinem Lehnstuhl hingebracht hatte, für heute jede Erwartung aufgab und sich kurzerhand müde in das vortreffliche Gastbett legte, wo er in kurzem einschlief.

Es weckte ihn, wie ihm schien mitten in der Nacht, ein Diener mit der Nachricht, der junge Herr werde zum Abendessen erwartet und möge sich beeilen. Verschlafen kroch Aghion in seine Kleider und taumelte mit blöden Augen hinter dem Manne her durch Zimmer und Korridore und eine Treppe hinab bis in das große, grell von Kronleuchtern erhellte Speisezimmer, wo ihn die in Sammet gekleidete und von Schmuck funkelnde Hausfrau durch ein Augenglas betrachtete und der Herr ihn zwei Geistlichen vorstellte, die ihren jungen Bruder gleich während der Mahlzeit in eine scharfe Prüfung nahmen und vor allem sich über die Echtheit seiner christlichen Gesinnung zu unterrichten suchten. Der schlaftrunkene Apostel hatte Mühe, alle Fragen zu verstehen und gar zu beantworten; aber die Schüchternheit kleidete ihn gut, und die Männer, die an ganz andere Aspiranten gewöhnt waren, wurden ihm alle wohlgesinnt. Nach Tische wurden im Nebenzimmer Landkarten vorgelegt, und Aghion sah zum ersten Male die Gegend, der er Gottes Wort verkündigen sollte, auf der indischen Karte als einen gelben Fleck südlich von der Stadt Bombay liegen.

Am folgenden Tage wurde er zu einem ehrwürdigen alten Herrn gebracht, der des Kaufherrn oberster geistlicher Berater war und seit Jahren gichtbrüchig in seinem Studierzimmer vergraben lebte. Dieser Greis fühlte sich sofort von dem harmlosen jungen Menschen angezogen. Er stellte keine Glaubensfragen an ihn, wußte aber Roberts Sinn und Wesen rasch zu erkennen, und da er wenig geistlichen Unternehmungsgeist in ihm wahrnahm, wollte der Junge ihm leid tun, und er stellte ihm die Gefahren der Seereise und die Schrecken der südlichen Zonen eindringlich vor Augen; denn es schien ihm sinnlos, daß ein junger frischer Mensch sich da draußen opfere und zugrunde richte, wenn er nicht durch besondere Gaben und Neigungen zu einem solchen Dienst bestimmt schien. So legte er denn dem Kandidaten freundlich die Hand auf die Schulter, sah ihm mit eindringlicher Güte in die Augen und sagte: „Das alles, was Sie mir sagen, ist gut und mag richtig sein; aber ich kann noch immer nicht ganz verstehen, was Sie nun eigentlich nach Indien zieht. Seien Sie offen, lieber Freund, und sagen Sie mir ohne Hinterhalt: Ist es irgend ein weltlicher Wunsch und Drang, der Sie treibt, oder ist es lediglich der innige Wunsch, den armen Heiden unser liebes Evangelium zu bringen?“ Auf diese Anrede wurde Robert Aghion so rot wie ein ertappter Schwindler. Er schlug die Augen nieder und schwieg eine Weile, dann aber bekannte er freimütig, mit jenem frommen Willen sei es ihm zwar völlig ernst, doch wäre er wohl nie auf den Gedanken gekommen, sich für Indien zu melden und überhaupt Missionar zu werden, wenn nicht ein Gelüste nach den herrlichen seltenen Pflanzen und Tieren der tropischen Lande, zumal nach deren Schmetterlingen, ihn dazu verlockt hätte. Der alte Mann sah wohl, daß der Jüngling ihm nun sein letztes Geheimnis preisgegeben und nichts mehr zu bekennen habe. Lächelnd nickte er ihm zu und sagte freundlich: „Nun, mit dieser Sünde müssen Sie selber fertig werden. Sie sollen nach Indien fahren, lieber Junge!“ Und alsbald ernst werdend, legte er ihm beide Hände aufs Haar und segnete ihn feierlich mit den Worten des biblischen Segens.

Drei Wochen später reiste der junge Missionar, mit Kisten und Koffern wohl ausgerüstet, auf einem schönen Segelschiff als Passagier hinweg, sah sein Heimatland im grauen Meer versinken und lernte in der ersten Woche, noch ehe Spanien erreicht war, die Launen und Gefahren des Meeres kennen. In jenen Zeiten konnte ein Indienfahrer noch nicht so grün und unerprobt sein Ziel erreichen wie heute, wo man in Europa seinen bequemen Dampfer besteigt, sich auf dem Suezkanal um Afrika drückt und nach kurzer Zeit, verwundert und träg vom vielen Schlafen und Essen, die indische Küste erblickt. Damals mußten die Segelschiffe sich um das ungeheure Afrika herum monatelang quälen, von Stürmen gefährdet und von toten langen Windstillen gelähmt, und es galt zu schwitzen und zu frieren, zu hungern und des Schlafes zu entbehren, und wer die Reise siegreich vollendet hatte, der war nun längst kein Mutterkind und unerprobter Neuling mehr, sondern hatte gelernt, sich einigermaßen auf den Beinen zu halten und selber zu helfen. So ging es auch dem Missionar. Er war zwischen England und Indien hundertsechsundfünfzig Tage unterwegs und stieg in der Hafenstadt Bombay als ein gebräunter und gemagerter Seefahrer an Land.

Indessen hatte er seine Freude und Neugierde nicht verloren, obwohl sie stiller geworden war, und wie er schon auf der Reise jeden Strand mit Forschersinn betreten und jede fremde Palmen- und Koralleninsel mit ehrfürchtiger Neugierde betrachtet hatte, so betrat er das indische Land mit begierig offenen, dankbar freudigen Augen und hielt seinen Einzug in der schönen leuchtenden Stadt mit ungebrochenem Mut.

Zunächst suchte und fand er das Haus, an das er empfohlen war. Es lag schön in einer stillen vorstädtischen Gasse, von Kokospalmen überragt, und schaute dem frohen Ankömmling mit breiten Lauben und offenen Fenstern recht wie eine wünschenswerte indische Heimat entgegen. Im Eintreten streifte sein Blick den kleinen Vorgarten und fand, obwohl jetzt eben Wichtigeres zu tun und zu betrachten war, gerade noch Zeit, einen dunkelbelaubten Strauch mit großen goldgelben Blüten zu bemerken, der von einer zierlichen Schar weißer Falter auf das fröhlichste umgaukelt wurde. Dies Bild noch im leicht geblendeten Auge, trat er über einige flache Stufen in den Schatten der breiten Veranda und durch die offen stehende Haustüre. Ein dienender Hindu in einem weißen Kleide mit nackten dunkelbraunen Beinen lief über den kühlen roten Ziegelboden herbei, machte eine ergebene Verbeugung und begann in singendem Tonfall hindostanische Worte zu näseln, merkte aber rasch, daß der Fremde ihn nicht verstehe, und führte ihn mit neuen weichen Verbeugungen und schlangenhaften Gebärden der Ergebenheit und Einladung tiefer ins Haus und vor eine Türöffnung, die statt der Tür mit einer lose herabhängenden Bastmatte verschlossen war. Zur gleichen Zeit ward diese Matte von innen beiseite gezogen, und es erschien ein großer, hagerer, herrisch aussehender Mann in weißen Tropenkleidern und mit Strohsandalen an den nackten Füßen. Er richtete in einer unverständlichen indischen Sprache eine Reihe von Scheltworten an den Diener, der sich klein machte und der Wand entlang langsam davonschlich, dann wandte er sich an Aghion und hieß ihn auf englisch eintreten.

Der Missionar suchte zuerst seine unangemeldete Ankunft zu entschuldigen und den armen Diener zu rechtfertigen, der nichts verbrochen habe. Aber der andere winkte ungeduldig ab und sagte: „Mit den Schlingeln von Dienern werden Sie ja bald umzugehen lernen. Treten Sie ein! Ich erwarte Sie.“

„Sie sind wohl Mister Bradley?“ fragte der Ankömmling höflich, während doch bei diesem ersten Schritt in die exotische Wirtschaft und beim Anblick des Ratgebers, Lehrers und Mitarbeiters eine Fremdheit und Kälte in ihm aufstieg.

„Ich bin Bradley, gewiß, und Sie sind ja wohl Aghion. Also, Aghion, kommen Sie nun endlich herein! Haben Sie schon Mittagbrot gehabt?“

Der große knochige Mann nahm alsbald mit aller kurz angebundenen, herrischen Praxis eines bewährten Überseers und Handelsagenten, welcher er war, den Lebenslauf seines Gastes in seine braunen, dunkelbehaarten Hände. Er ließ ihm eine Reismahlzeit mit Hammelfleisch und brennendem Currypfeffer bringen, er wies ihm ein Zimmer an, zeigte ihm das Haus, nahm ihm seine Briefe und Aufträge ab, beantwortete seine ersten neugierigen Fragen und gab ihm die ersten, notwendigsten indischen Lebensregeln. Er setzte die vier braunen Hindudiener in Bewegung, befahl und schnauzte in seiner kalten Zornigkeit durch das schallende Haus, ließ auch einen indischen Schneidermeister kommen, der sofort ein Dutzend landesüblicher Kleidungen für Aghion machen mußte. Dankbar und etwas eingeschüchtert nahm der Neuling alles hin, obwohl es seinem Sinne mehr entsprochen hätte, seinen Einzug in Indien stiller und feierlicher zu begehen, sich erst einmal ein bißchen heimisch zu machen und sich in einem freundlichen Gespräch seiner ersten Eindrücke und seiner vielen starken Reiseerinnerungen zu entladen. Indessen lernt man auf einer halbjährigen Seereise sich bescheiden und sich in viele Lagen finden, und als gegen Abend Mister Bradley wegging, um seiner kaufmännischen Arbeit in der Stadt nachzugehen, atmete der evangelische Jüngling fröhlich auf und dachte nun allein in stillem Behagen seine Ankunft zu feiern und das Land Indien zu begrüßen.

Feierlich verließ er, nachdem er darin eine erste flüchtige Ordnung geschaffen, sein luftiges Zimmer, das weder Tür noch Fenster, sondern nur leere geräumige Öffnungen in allen Wänden hatte, und ging ins Freie, einen großrandigen Hut mit langem Sonnenschleier auf dem blonden Kopf und einen tüchtigen Stock in der Hand. Beim ersten Schritt in den Garten blickte er mit einem tiefen Atemzug herzlich ringsum und sog mit witternden Sinnen die Lüfte und Düfte, Lichter und Farben des fremden, sagenhaften Landes, das er als ein bescheidener Mitarbeiter erobern helfen sollte und dem er, nach so langer Erwartung und banger Vorfreude, sich nun willig und offen hinzugeben gesonnen war.

Was er um sich sah und verspürte, gefiel ihm alles wohl und kam ihm wie eine tausendfältige strahlende Bestätigung vieler Träume und Ahnungen vor. Dichte hohe Gebüsche standen rund und saftig im heftigen Sonnenlicht und strotzten von großen, wunderlich starkfarbigen Blumen; auf säulenschlanken glatten Stämmen ragten in erstaunlicher Höhe die stillen runden Wipfel der Kokospalmen, eine Fächerpalme stand hinter dem Hause und hielt ihr sonderbar strenges, gleichmäßiges Riesenrad von gewaltigen mannslangen Blättern steif in die Lüfte, am Rand des Weges aber nahm sein naturfreundliches Auge ein kleines lebendiges Wesen wahr, dem er sich vorsichtig näherte. Es war ein kleines, grünes Chamäleon mit einem dreieckigen Kopf und boshaften kleinen Augen. Er beugte sich darüber und fühlte sich wie ein Knabe beglückt, daß er solche Dinge sehen und die unerschöpflich reiche Natur nun am eigentlichen Quell ihres Reichtums betrachten durfte.

Eine fremdartige Musik weckte ihn aus seiner andächtigen Versunkenheit. Aus der flüsternden Stille der tiefen grünen Baum- und Gartenwildnis brach der rhythmische Lärm metallener Trommeln und Pauken und schneidend helltöniger Blasinstrumente. Erstaunt lauschte der fromme Naturfreund hinüber und machte sich, da nichts zu sehen war, neugierig auf den Weg, die Art und Herkunft dieser barbarisch-festlichen Klänge auszukundschaften. Immer den Tönen folgend, verließ er den Garten, dessen Tor weit offen stand, und verfolgte den hübschen grasigen Fahrweg durch eine freundliche kultivierte Landschaft von Hausgärten, Palmenpflanzungen und lachend hellgrünen Reisfeldern, bis er, um die hohe Hecke eines Parks oder Gartens biegend, in eine dörflich anmutende Gasse von indischen Hütten gelangte. Die kleinen Häuschen waren aus Lehm oder auch nur aus Bambusgestänge erbaut, die Dächer mit trockenen Palmblättern gedeckt, in allen Türöffnungen standen und hockten braune Hindufamilien. Mit Neugierde sah er die Leute an und tat den ersten Blick in das dörflich bescheidene Leben des fremden Naturvolkes, und vom ersten Augenblick an gewann er die braunen Menschen lieb, deren schöne kindliche Augen wie in einer unbewußten und unerlösten tierischen Traurigkeit blickten. Schöne Frauen schauten aus mächtigen Flechten langen, tiefschwarzen Haares hervor, still und rehhaft; sie trugen mitten im Gesicht, sowie an den Hand- und Fußgelenken goldenen Schmuck und Ringe an den Fußzehen. Kleine Kinder standen vollkommen nackt und trugen nichts am Leibe als an dünner Bastschnur ein seltsames Amulett aus Silber oder aus Horn.

Indessen hielt er sich nirgends auf, nicht weil es ihn bedrückt hätte, sich von den meisten dieser Menschen mit starrender Neugierde beschaut zu fühlen, sondern weil er sich der eigenen Schaulust heimlich schämte. Außerdem tönte immer noch die tolle Musik, und nun ganz in der Nähe, und an der Ecke der nächsten Gasse hatte er gefunden, was er suchte. Da stand ein unheimlich sonderbares Gebäude von äußerst phantastischer Form und beängstigender Höhe, ein ungeheures Tor in der Mitte, und indem er daran empor staunte, fand er die ganze riesengroße Fläche des Bauwerks aus lauter steinernen Figuren von fabelhaften Tieren, Menschen und Göttern oder Teufeln zusammengesetzt, die sich zu Hunderten bis an die ferne schmale Spitze des Tempels hinan türmten, ein Wald und wildes Geflecht von Leibern, Gliedern und Köpfen. Dieser erschreckende Steinkoloß, ein großer Hindutempel, leuchtete heftig in den wagrechten Strahlen der späten Abendsonne und erzählte dem verblüfften Fremdling deutlich, daß diese tierhaft sanften, halbnackten Menschen eben doch keineswegs ein paradiesisches Naturvolk waren, sondern seit einigen tausend Jahren schon Gedanken und Götter, Bildnisse und Religionen besaßen.

Die schallende Paukenmusik war soeben verstummt, und es kamen aus dem Tempel viele fromme Indier in weißen und farbigen Gewändern, voran und vornehm abgetrennt eine kleine feierliche Schar von Brahmanen, hochmütig in tausendjährig erstarrter Gelehrsamkeit und Würde. Sie schritten an dem weißen Manne so stolz vorüber wie Edelleute an einem Handwerksburschen, und weder sie noch die bescheideneren Gestalten, die ihnen folgten, sahen so aus, als hätten sie die geringste Neigung, sich von einem zugereisten Fremdling über göttliche und menschliche Dinge des Rechten belehren zu lassen.

Als der Schwarm verlaufen und der Ort stiller geworden war, näherte sich Robert Aghion dem Tempel und begann in verlegener Teilnahme das Figurenwerk der Fassade zu studieren, ließ jedoch bald mit Betrübnis und Schrecken davon wieder ab; denn die groteske Allegoriensprache dieser Bildwerke, deren viele bei aller wahnsinnigen Häßlichkeit doch wertvolle Künstlerarbeit zu sein schienen, verwirrte und ängstigte ihn nicht minder als der Anblick einiger Szenen von schamloser Obszönität, die er naiv mitten zwischen dem Göttergewimmel dargestellt fand.

Während er sich abwandte und nach seinem Rückweg ausblickte, erlosch der Tempel und die Gasse plötzlich; ein kurzes zuckendes Farbenspiel lief über den Himmel, und rasch brach die südliche Nacht herein. Das unheimlich schnelle Eindunkeln, obwohl er es längst kannte, überfiel den jungen Missionar mit einem leichten Schauder. Zugleich mit dem Anbruch der Dämmerung begann aus allen Bäumen und Gebüschen ringsum ein grelles Singen und Lärmen von tausend großen Insekten und in der Ferne erhob sich das Wut- oder Klagegeschrei eines Tieres mit fremden wilden Tönen. Eilig suchte Aghion seinen Heimweg, fand ihn glücklich wieder und hatte die kleine Strecke Weges noch nicht völlig zurückgelegt, als schon das ganze Land in tiefer Nachtfinsternis und der hohe schwarze Himmel voll von Sternen stand.

Im Hause, wo er nachdenklich und zerstreut ankam und sich dem ersten erleuchteten Raume näherte, empfing ihn Mister Bradley mit den Worten: „So, da sind Sie. Sie sollten aber fürs erste so spät am Abend nicht mehr ausgehen, es ist nicht ohne Gefahr. Übrigens, können Sie gut mit Schießgewehr umgehen?“

„Mit Schießgewehr? Nein, das habe ich nicht gelernt.“

„Dann lernen Sie es bald ... Wo waren Sie denn heut abend?“

Aghion erzählte voll Eifer. Er fragte begierig, welcherlei Religion jener Tempel angehöre und welcherlei Götter- oder Götzendienst darin getrieben werde, was die vielen Figuren bedeuteten und was die seltsame Musik, ob die schönen stolzen Männer in weißen Kleidern Priester seien und wie denn ihre Götter hießen. Allein hier erlebte er die erste Enttäuschung. Von allem, was er da fragte, wollte sein Ratgeber gar nichts wissen. Er erklärte, daß kein Mensch sich in dem scheußlichen Wirrwarr und Unflat dieser Götzendienste auskenne, daß die Brahmanen eine heillose Bande von Ausbeutern und Faulenzern seien und daß überhaupt diese Indier alle zusammen ein schweinisches Pack von Bettlern und Unholden wären, mit denen ein anständiger Engländer lieber gar nichts zu tun habe.

„Aber,“ meinte Aghion zaghaft, „meine Bestimmung ist es doch gerade, diese verirrten Menschen auf den rechten Weg zu führen! Dazu muß ich sie kennen und lieben und alles von ihnen wissen ...“

„Sie werden bald mehr von ihnen wissen, als Ihnen lieb sein wird. Natürlich müssen Sie Hindostani und später vielleicht noch andere von diesen infamen Niggersprachen lernen. Aber mit der Liebe werden Sie nicht weit kommen.“

„Oh, die Leute sehen aber doch recht gutartig aus!“

„Finden Sie? Nun, Sie werden ja sehen. Von dem, was Sie mit den Hindus vorhaben, verstehe ich nichts und will nicht darüber urteilen. Unsere Aufgabe ist es, diesem gottlosen Pack langsam ein wenig Kultur und einen schwachen Begriff von Anständigkeit beizubringen; weiter werden wir vielleicht niemals kommen!“

„Unsere Moral, oder was Sie Anständigkeit heißen, ist aber die Moral Christi, mein Herr!“

„Sie meinen die Liebe. Ja, sagen Sie nur einmal einem Hindu, daß Sie ihn lieben. Dann wird er Sie heute anbetteln und Ihnen morgen das Hemd aus dem Schlafzimmer stehlen!“

„Das ist möglich.“

„Das ist sogar ganz sicher, lieber Herr. Sie haben es hier gewissermaßen mit Unmündigen zu tun, die noch keine Ahnung von Ehrlichkeit und Recht haben, nicht mit gutartigen englischen Schulkindern, sondern mit einem Volk von schlauen braunen Lausbuben, denen jede Schändlichkeit einen Hauptspaß macht. Sie werden noch an mich denken!“

Aghion verzichtete traurig auf ein weiteres Fragen und nahm sich vor, nun einmal vor allem fleißig und gehorsam alles zu lernen, was hier zu lernen wäre, dann aber das zu tun, was ihm recht und klug scheinen würde. Doch ob nun der strenge Bradley recht hatte oder nicht, schon seit dem Anblick des ungeheuern Tempels und der unnahbar stolzen Brahmanen war ihm sein Vorhaben und Amt in diesem Lande unendlich viel schwieriger erschienen, als er je zuvor gedacht hätte.

Am nächsten Morgen wurden die Kisten ins Haus gebracht, in denen der Missionar sein Eigentum aus der Heimat mit sich geführt hatte. Sorglich packte er aus, legte Hemden zu Hemden und Bücher zu Büchern und fand sich durch manche Gegenstände nachdenklich gestimmt. Es fiel ihm ein kleiner Kupferstich in schwarzem Rahmen in die Hände, dessen Glas unterwegs zerbrochen war und der ein Bildnis des Herrn Defoe, des Verfassers des Robinson Crusoe, darstellte, und das alte, ihm von der frühen Kindheit an vertraute Gebetbuch seiner Mutter, alsdann aber als ermunternder Wegweiser in die Zukunft eine Landkarte von Indien, die ihm sein Oheim geschenkt, und zwei stählerne Netzbügel für den Schmetterlingsfang, die er sich selber noch in London hatte machen lassen. Einen von diesen legte er sogleich zum Gebrauch in den nächsten Tagen beiseite.

Am Abend war seine Habe verteilt und verstaut, der kleine Kupferstich hing über seinem Bette, und das ganze Zimmer war in saubere Ordnung gebracht. Die Beine seines Tisches und seiner Bettstatt hatte er, wie es ihm empfohlen worden war, in kleine irdene Näpfe gestellt und die Näpfe mit Wasser gefüllt, zum Schutz gegen die Ameisen. Mister Bradley war den ganzen Tag in Geschäften abwesend, und es war dem jungen Manne sonderbar, vom ehrfürchtigen Diener durch Zeichen zu den Mahlzeiten gelockt und dabei bedient zu werden, ohne daß er ein einziges Wort mit ihm reden konnte.

In der Frühe des folgenden Tages begann Aghions Arbeit. Es erschien und wurde ihm von Bradley vorgestellt der schöne dunkeläugige Jüngling Vyardenya, der sein Lehrmeister in der Hindostani-Sprache werden sollte. Der lächelnde junge Indier sprach nicht übel englisch und hatte die besten Manieren; nur schreckte er ängstlich zurück, als der arglose Engländer ihm freundlich die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, und vermied auch künftighin jede körperliche Berührung mit dem Weißen, die ihn verunreinigt haben würde, da er einer hohen Kaste angehörte. Er wollte sich auch durchaus niemals auf einen Stuhl setzen, den vor ihm ein Fremder benutzt hatte, sondern brachte jeden Tag zusammengerollt unterm Arm seine eigene hübsche Bastmatte mit, die er auf dem Ziegelboden ausbreitete und auf welcher er mit gekreuzten Beinen edel und aufrecht saß. Sein Schüler, mit dessen Eifer er wohl zufrieden sein konnte, suchte auch diese Kunst von ihm zu lernen und kauerte während seiner Lektionen stets auf einer ähnlichen Matte am Boden, obwohl ihm dabei in der ersten Zeit alle Glieder weh taten, bis er daran gewöhnt wurde. Fleißig und geduldig lernte er Wort für Wort, mit den alltäglichen Begrüßungsformeln beginnend, die ihm der Jüngling unermüdet und lächelnd vorsprach, und stürzte sich jeden Tag mit neuem Mut in den Kampf mit den indischen Girr- und Gaumenlauten, die ihm zu Anfang als ein unartikuliertes Röcheln erschienen waren und die er nun alle zu unterscheiden und nachzuahmen lernte.

So merkwürdig das Hindostani war und so rasch die Vormittagsstunden mit dem höflichen Sprachlehrer vergingen, welcher sich stets benahm wie ein Prinz, der aus Not in einem Bürgerhause Unterricht gibt, so waren doch die Nachmittage und gar die Abende lang genug, um den strebsamen Herrn Aghion die Einsamkeit fühlen zu lassen, in der er lebte. Sein Wirt, zu dem er in einem unklaren Verhältnisse stand und der ihm halb als Gönner, halb als eine Art Vorgesetzter entgegentrat, war wenig zu Hause; er kam meistens gegen Mittag zu Fuß oder zu Pferde aus der Stadt zurück, präsidierte als Hausherr beim Essen, zu dem er manchmal einen englischen Schreiber mitbrachte, und legte sich dann zwei, drei Stunden zum Rauchen und Schlafen auf die Veranda, um gegen Abend nochmals für einige Stunden in sein Kontor oder Magazin zu gehen. Zuweilen mußte er für mehrere Tage verreisen, um Produkte einzukaufen, und sein neuer Hausgenosse hatte wenig dagegen, da er mit dem besten Willen sich dem rauhen und wortkargen Geschäftsmann nicht befreunden konnte. Auch gab es manches in der Lebensführung Mister Bradleys, was dem Missionar nicht gefallen konnte. Unter anderem kam es zuweilen vor, daß Bradley am Feierabend mit jenem Schreiber zusammen bis zur Trunkenheit eine Mischung von Wasser, Rum und Limonadensaft genoß; dazu hatte er in der ersten Zeit den jungen Geistlichen mehrmals eingeladen, aber stets von ihm eine sanfte Absage erhalten.

Bei diesen Umständen war Aghions tägliches Leben nicht gerade kurzweilig. Er hatte versucht, seine ersten schwachen Sprachkenntnisse anzuwenden, indem er an den langen öden Nachmittagen, wo das hölzerne Haus ringsum von der stechenden Hitze belagert lag, sich zur Dienerschaft in die Küche begab und sich mit den Leuten zu unterhalten suchte. Der mohammedanische Koch zwar gab ihm keine Antwort und war so hochmütig, daß er ihn gar nicht zu sehen schien, der Wasserträger aber und der Hausjunge, die beide stundenlang müßig auf ihren Matten hockten und Betel kauten, hatten nichts dagegen, sich an den angestrengten Sprechversuchen des Master zu belustigen.

Eines Tages erschien aber Bradley in der Küchentür, als gerade die beiden Schlingel sich über einige Irrtümer und Wortverwechslungen des Missionars vor Vergnügen auf die mageren Schenkel klatschten. Bradley sah der Lustbarkeit mit verbissenen Lippen zu, gab blitzschnell dem Boy eine Ohrfeige, dem Wasserträger einen Fußtritt und zog den erschrockenen Aghion stumm mit sich davon. In seinem Zimmer sagte er dann etwas ärgerlich: „Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß Sie sich nicht mit den Leuten einlassen sollen! Sie verderben mir die Burschen, selbstverständlich in der besten Absicht, und ohnehin geht es nicht an, daß ein Engländer sich vor diesen braunen Schelmen zum Hanswurst macht!“

Er war wieder davongegangen, noch ehe der beleidigte Aghion sich rechtfertigen konnte.

Unter Menschen kam der vereinsamte Missionar nur am Sonntag, wo er regelmäßig zur Kirche ging, auch selbst einmal für den wenig arbeitsamen englischen Pfarrer die Predigt übernahm. Aber er, der daheim vor den Bauern und Wollwebern seiner Gegend mit Liebe gepredigt hatte, fand sich hier vor einer kühlen Gemeinde von reichen Geschäftsleuten, müden, kränklichen Damen und lebenslustigen jungen Angestellten, fremd und ernüchtert. Das kalte kaufmännische oder herrisch abenteuerhafte Wesen dieser Leute, die das reiche Land ausbeuteten und von denen keiner ein gutes Wort für die Eingeborenen hatte, tat ihm weh und verschob allmählich alle seine Begriffe, so daß er, der stets für die Hindus Partei nahm und von den Pflichten der Europäer gegen die eingeborenen Völker sprach, sich lächerlich und unbeliebt machte und als ein Schwärmer und naiver Bursche verachtet wurde.

Wenn er nun über dem Betrachten seiner Lage zuweilen recht betrübt wurde und sich erbarmenswert vorkam, so gab es einen Trost für sein Gemüt, der niemals ganz versagte. Dann rüstete er sich zu einem Ausflug, hängte die Botanisierbüchse um und nahm das Netz zur Hand, das er mit einem langen schlanken Bambusstab versehen hatte. Gerade das, worüber die meisten anderen Engländer sich bitter zu beklagen pflegten, die glühende Sonnenhitze und das ganze indische Klima, war ihm lieb und schien ihm herrlich; denn er hielt sich an Leib und Seele frisch und ließ keine Erschlaffung aufkommen. Für seine Naturstudien und Liebhabereien vollends war dieses Land eine unermeßliche Weide, auf Schritt und Tritt hielten unbekannte Bäume, Blumen, Vögel, Insekten ihn auf, die er mit der Zeit alle namentlich kennen zu lernen beschloß. Seltsame Eidechsen und Skorpione, riesengroße dicke Tausendfüßler und anderes Koboldzeug erschreckte ihn selten mehr, und seit er eine dicke Schlange in der Badekammer mutig mit dem hölzernen Eimer erschlagen hatte, fühlte er seine Bangnis vor unheimlicher Tiergefahr immer mehr dahinschwinden.

Als er zum erstenmal mit seinem Netz nach einem großen prächtigen Schmetterling schlug, als er ihn gefangen sah und mit vorsichtigen Fingern das stolze strahlende Tier an sich nahm, dessen breite starke Flügel alabastern glänzten und mit dem duftigsten Farbenflaum behaucht waren, da schlug ihm das Herz in einer unbändigen Freude, wie er sie nicht mehr empfunden hatte, seit er als Knabe nach langer, atemloser Jagd seinen ersten Schwalbenschwanz erbeutet hatte. Fröhlich gewöhnte er sich an die Unbequemlichkeiten des Dschungels und verzagte nicht, wenn er im wilden Urwald tief in versteckte Schlammgruben einbrach, von heulenden Affenherden verhöhnt und von wütenden Ameisenvölkern überfallen wurde. Nur einmal lag er zitternd und betend hinter einem ungeheuren Gummibaum auf den Knien, während in der Nähe wie ein Gewitter und Erdbeben ein Trupp von Elefanten durchs dichte Gehölz brach. Er gewöhnte sich daran, in seinem luftigen Schlafzimmer frühmorgens vom rasenden Affengebrüll aus dem nahen Walde geweckt zu werden und bei Nacht das heulende Schreien der Schakale zu hören. Seine Augen glänzten hell und wachsam aus dem gemagerten, braun und männlich gewordenen Gesicht.

Auch in der Stadt und noch lieber in den friedlichen gartenartigen Außendörfern sah er sich immer besser um, und die Hinduleute gefielen ihm desto mehr, je mehr er von ihnen sah. Störend und äußerst peinlich war ihm nur die Sitte der unteren Stände, ihre Frauen mit nacktem Oberkörper laufen zu lassen. Nackte Frauenhälse und Arme und Frauenbrüste auf der Gasse zu sehen, daran konnte der Missionar sich schwer gewöhnen, obgleich es häufig sehr hübsch aussah und obwohl diese Nacktheit durch die tiefe Bronzefarbe der sonnenharten Haut und durch die freimütig unbefangene Art, mit der sie von den armen Weiblein getragen wurde, den Anschein der größten Natürlichkeit gewann.

Nächst dieser Anstößigkeit machte nichts ihm so viel zu schaffen und zu denken wie die Rätsel, die ihm das geistige Leben dieser Menschen entgegenhielt. Wohin er blicken mochte, überall war Religion. In London konnte man gewiß am höchsten kirchlichen Feiertag nicht so viel Frömmigkeit wahrnehmen wie hier an jedem Werktag und in jeder Gasse; überall waren Tempel und Bilder, war Gebet und Opfer, waren Umzüge und Zeremonien, Büßer und Priester zu sehen. Aber wer wollte sich jemals in diesem wirren Knäuel von Religionen zurechtfinden? Da waren Brahmanen und Mohammedaner, Feueranbeter und Buddhisten, Diener des Schiwa und des Krischna, Turbanträger und Gläubige mit glattrasierten Köpfen, Schlangenanbeter und Diener heiliger Schildkröten. Wo war der Gott, dem alle diese Verirrten dienten? Wie sah er aus und welcher Kultus von den vielen war der ältere, heiligere, reinere? Das wußte niemand und namentlich den Indiern selber war dies vollkommen einerlei; wer von dem Glauben seiner Väter nicht befriedigt war, der ging zu einem anderen über oder zog als Büßer dahin, um eine neue Religion zu finden oder gar zu schaffen. Göttern und Geistern, deren Namen niemand wußte, wurden Speisen in kleinen Schalen geopfert, und alle diese hundert Gottesdienste, Tempel und Priesterschaften lebten vergnügt nebeneinander hin, ohne daß es den Anhängern des einen Glaubens einfiel, die anderen zu hassen oder totzuschlagen, wie es daheim in den Christenländern Sitte war. Vieles sogar sah sich hübsch und lieblich an, Flötenmusik und zarte Blumenopfer, und auf gar vielen frommen Gesichtern wohnte ein Friede und heiter stiller Glanz, den man in den Gesichtern der Engländer vergeblich suchte. Schön und heilig schien ihm auch das von den Hindus streng gehaltene Gebot, kein Tier zu töten, und er schämte sich zuweilen und suchte Rechtfertigung vor sich selbst, wenn er ohne Erbarmen einige schöne Schmetterlinge und Käfer umgebracht und auf Nadeln gespießt hatte. Andererseits waren unter diesen selben Völkern, denen jeder Wurm als Geschöpf Gottes heilig galt und die sich innig in Gebeten und Tempeldienst hingaben, Diebstahl und Lüge, falsches Zeugnis und Vertrauensbruch ganz alltägliche Dinge, über die keine Seele sich empörte oder nur wunderte. Je mehr es der wohlmeinende Glaubensbote bedachte, desto mehr schien ihm dieses Volk zum undurchdringlichen Rätsel zu werden, das jeder Logik und Theorie Hohn sprach. Der Diener, mit dem er trotz Bradleys Verbot bald wieder Gespräche pflog und der soeben ein Herz und eine Seele mit ihm zu sein schien, stahl ihm eine Stunde später ein baumwollenes Hemd, und als er ihn mit liebreichem Ernst zur Rede stellte, leugnete er zuerst unter Schwüren, gab dann lächelnd alles zu, zeigte das Hemd her und sagte zutraulich, es habe ja schon ein kleines Loch und so habe er gedacht, der Master werde es gewiß nimmer tragen mögen.

Ein anderes Mal setzte ihn der Wasserträger in Erstaunen. Dieser Mann erhielt seinen Lohn und sein Essen dafür, daß er täglich die Küche und die beiden Badekammern aus der nächsten Zisterne her mit Wasser versorgte. Er tat diese Arbeit stets am frühen Morgen und am Abend, den ganzen übrigen Tag saß er in der Küche oder in der Dienerhütte und kaute entweder Betel oder ein Stückchen Zuckerrohr. Einmal, da der andere Diener ausgegangen war, gab ihm Aghion ein Beinkleid zum Ausbürsten, das von einem Spaziergang her voll von Grassamen hing. Der Mann lachte nur und steckte die Hände auf den Rücken, und als der Missionar unwillig wurde und ihm streng befahl, sofort die kleine Arbeit zu tun, folgte er zwar endlich, tat die Verrichtung aber unter Murren und Tränen, setzte sich dann trostlos in die Küche und schalt und tobte eine Stunde lang wie ein Verzweifelter. Mit unendlicher Mühe und nach Überwindung vieler Mißverständnisse brachte Aghion an den Tag, daß er den Menschen schwer beleidigt habe durch den Befehl zu einer Arbeit, die nicht zu seinem Amte gehörte.

Alle diese kleinen Erfahrungen traten, sich allmählich verdichtend, wie zu einer Glaswand zusammen, die den Missionar von seiner Umgebung abtrennte und in eine immer peinlichere Einsamkeit verwies. Desto heftiger, ja mit einer gewissen verzweifelten Gier lag er seinen Sprachstudien ob, in denen er gute Fortschritte machte und die ihm, wie er sehnlichst hoffte, dies fremde Volk doch noch erschließen sollten. Immer häufiger konnte er es nun wagen, Eingeborene auf der Straße anzureden, er ging ohne Dolmetscher zum Schneider, zum Krämer, zum Schuhmacher. Manchmal gelang es ihm, mit einfachen Leuten ins Geplauder zu kommen, etwa indem er einem Handwerker sein Werk, einer Mutter ihren Säugling freundlich betrachtete und lobte, und aus Worten und Blicken dieser Heidenmenschen, namentlich aber aus ihrem guten, kindlichen, seligen Lachen, sprach ihn oft die Seele des fremden Volkes so klar und brüderlich an, daß für Augenblicke alle Schranken fielen und das Gefühl der Fremdheit sich verlor.

Schließlich meinte er entdeckt zu haben, daß Kinder und einfache Leute vom Lande ihm fast immer zugänglich seien, ja daß alle Schwierigkeiten, alles Mißtrauen und alle Verderbnis der Städter nur von der Berührung mit den europäischen Schiffs- und Handelsleuten herkomme. Von da an wagte er sich, häufig zu Pferde, auf Ausflügen immer weiter ins Land hinein. Er trug kleine Kupfermünzen und manchmal auch Zuckerstücke für die Kinder in der Tasche, und wenn er weit drinnen im hügeligen Lande vor einer bäuerlichen Lehmhütte sein Pferd an eine Palme band, und unter das Schilfdach tretend, grüßte und um einen Trunk Wasser oder Kokosmilch bat, so ergab sich fast jedesmal eine harmlos freundliche Bekanntschaft und ein Geplauder, bei dem Männer, Weiber und Kinder über seine noch mangelhafte Kenntnis der Sprache oft im fröhlichsten Erstaunen hellauf lachten, was er gar nicht ungerne sah.

Noch machte er keinerlei Versuche, den Leuten bei solchen Anlässen vom lieben Gott zu erzählen. Es schien ihm das nicht nur nicht eilig, sondern auch überaus heikel und fast unmöglich zu sein, da er für alle die geläufigen Ausdrücke des biblischen Glaubens durchaus keine indischen Worte finden konnte. Außerdem fühlte er kein Recht, sich zum Lehrer dieser Leute aufzuwerfen und sie zu wichtigen Änderungen in ihrem Leben aufzufordern, ehe er dieses Leben genau kannte und fähig war, mit den Hindus einigermaßen auf gleichem Fuße zu leben und zu reden.

Dadurch dehnten seine Studien sich weiter aus. Er suchte Leben, Arbeit und Erwerb der Eingeborenen kennen zu lernen, er ließ sich Bäume und Früchte zeigen und benennen, Haustiere und Geräte, er erforschte nach und nach die Geheimnisse des nassen und des trockenen Reisbaues, der Gewinnung des Bastes und der Baumwolle, er betrachtete Hausbau und Töpferei, Strohflechten und Webearbeiten, worin er von der Heimat her Bescheid wußte. Er sah dem Pflügen schlammiger Reisfelder mit rosenroten fetten Wasserbüffeln zu, er lernte die Arbeit des gezähmten Elefanten kennen und sah zahme Affen für ihre Herren die reifen Kokosnüsse von den hohen Bäumen holen.

Auf einem seiner Ausflüge, in einem friedevollen Tal zwischen hohen grünen Hügeln, überraschte ihn einst ein wilder Gewitterregen, vor welchem er in der nächsten Hütte, die er erreichen konnte, einen Unterstand suchte. Er fand in dem engen Raum zwischen lehmbekleideten Bambuswänden eine kleine Familie versammelt, die den hereintretenden Fremdling mit scheuem Erstaunen begrüßte. Die Hausmutter hatte ihr graues Haar mit Henna feurigrot gefärbt und zeigte, da sie zum Empfang aufs freundlichste lächelte, einen Mund voll ebenso roter Zähne, die ihre Leidenschaft für das Betelkauen verrieten. Ihr Mann war ein großer, ernsthaft blickender Mensch mit langen, noch dunkeln Haaren. Er erhob sich vom Boden und nahm eine königlich aufrechte Haltung an, tauschte Begrüßungsworte mit dem Gast und bot ihm alsbald eine frisch geöffnete Kokosnuß an, von deren süßlichem Safte der Engländer einen Schluck genoß. Ein kleiner Knabe, der bei seinem Eintritt still in die Ecke hinter der steinernen Feuerstelle geflohen war, blitzte von dort unter einem Wald von glänzend schwarzen Haaren hervor mit ängstlich neugierigen Augen; auf seiner dunkeln Brust schimmerte ein messingenes Amulett, das seinen einzigen Schmuck und seine einzige Kleidung bildete. Einige große Bananenbündel schwebten über der Türe zur Nachreife aufgehängt; in der ganzen Hütte, die all ihr Licht nur durch die offene Türe erhielt, war keine Armut, wohl aber die äußerste Einfachheit und eine hübsche, reinliche Ordnung zu bemerken.

Ein leises, aus allerfernsten Kindheitserinnerungen emporduftendes Heimatgefühl, das den Reisenden so leicht beim Anblick zufriedener Häuslichkeit übernimmt, ein leises Heimatgefühl, das er in dem Bungalow des Herrn Bradley niemals gespürt hatte, kam über den Missionar, und es schien ihm beinahe so, als sei seine Einkehr hier nicht nur die eines vom Regen überfallenen Wanderers, sondern als wehe ihm, der sich in trüben Lebenswirrsalen verlaufen, endlich einmal wieder Sinn und Frohmut eines richtigen, natürlichen, in sich begnügten Lebens entgegen. Auf dem dichten Schilfblätterdach der Hütte rauschte und trommelte leidenschaftlich der wilde Regen und hing vor der Türe dick und blank wie eine Glaswand.

Die Alten unterhielten sich froh und unbefangen mit ihrem ungewöhnlichen Gaste, und als sie am Ende mit Höflichkeit die natürliche Frage stellten, was denn seine Ziele und Absichten in diesem Lande seien, kam er in Verlegenheit und begann von anderem zu reden. Wieder, wie schon oft, wollte es dem bescheidenen Aghion als eine ungeheuerliche Frechheit und Überhebung erscheinen, daß er als Abgesandter eines fernen Volkes hierher gekommen sei mit der Absicht, diesen Menschen ihren Gott und Glauben zu nehmen und einen anderen dafür aufzunötigen. Immer hatte er gedacht, diese Scheu würde sich verlieren, sobald er nur die Hindusprache besser beherrsche; aber heute ward ihm unzweifelhaft klar, daß dies eine Täuschung gewesen war und daß er, je besser er das braune Volk verstand, desto weniger Recht und Lust in sich verspürte, herrisch in das Leben dieses Volkes einzugreifen.

Der Regen ließ nach, und das mit der fetten roten Erde durchsetzte Wasser in der hügeligen Gasse lief davon, Sonnenstrahlen drangen zwischen den naß glänzenden Palmenstämmen hervor und spiegelten sich grell und blendend in den blanken Riesenblättern der Pisangbäume. Der Missionar bedankte sich bei seinen Wirten und machte Miene, sich zu verabschieden, da fiel ein Schatten auf den Boden und der kleine Raum verfinsterte sich. Schnell wandte er sich um und sah durch die Tür eine Gestalt lautlos auf nackten Sohlen hereintreten, eine junge Frau oder ein Mädchen, die bei seinem unerwarteten Anblick erschrak und zu dem Knaben hinter die Feuerstatt floh.

„Heda, sag’ dem Herrn guten Tag!“ rief ihr der Vater zu, und sie trat schüchtern zwei Schritte vor, kreuzte die Hände vor der Brust und verneigte sich mehrmals. In ihrem dicken tiefschwarzen Haar schimmerten Regentropfen; der Engländer legte freundlich und befangen seine Hand darauf und sprach einen Gruß, und während er das weiche geschmeidige Haar lebendig in seinen Fingern fühlte, hob sie das Gesicht zu ihm auf und lächelte freundlich aus dunkeln wunderschönen Augen. Um den Hals trug sie eine rosenrote Korallenkette und am einen Fußgelenk einen schweren goldenen Ring, sonst nichts als das dicht unter den Brüsten gegürtete rotbraune Untergewand. So stand sie in ihrer einfachen Schönheit vor dem erstaunten Fremden; die schrägen Sonnenstrahlen spiegelten sich matt in ihrem Haar und auf ihren braunen blanken Schultern, blitzend funkelten die kleinen spitzen Zähne aus dem jungen Munde. Robert Aghion sah sie mit Entzücken an und suchte tief in ihre stillen sanften Augen zu blicken, wurde aber schnell verlegen; der feuchte Duft ihrer Haare und der Anblick ihrer nackten Schultern und Brüste verwirrte ihn, so daß er bald vor ihrem unschuldigen Blick die Augen niederschlug. Er griff in die Tasche und holte eine kleine stählerne Schere hervor, mit der er sich Nägel und Bart zu schneiden pflegte und die ihm auch beim Pflanzensammeln diente; die schenkte er dem schönen Mädchen und wußte wohl, daß dies eine recht kostbare Gabe sei. Sie nahm das Ding denn auch befangen und in beglücktem Erstaunen an sich, während die Eltern sich in Dankesworten erschöpften, und als er nun Abschied nahm und ging, da folgte sie ihm bis unter das Vordach der Hütte, ergriff seine linke Hand und küßte sie. Die laue, zärtliche Berührung dieser blumenhaften Lippen rann dem Manne ins Blut, am liebsten hätte er sie auf den Mund geküßt. Statt dessen nahm er ihre beiden Hände in seine Rechte, sah ihr in die Augen und sagte: „Wie alt bist du?“

„Das weiß ich nicht,“ gab sie zur Antwort.

„Und wie heißt du denn?“

„Naissa.“

„Leb’ wohl, Naissa, und vergiß mich nicht!“

„Naissa vergißt ihren Herrn nicht.“

Er ging von dannen und suchte den Heimweg, tief in Gedanken, und als er spät in der Dunkelheit ankam und in seine Kammer trat, bemerkte er erst jetzt, daß er heute keinen einzigen Schmetterling oder Käfer, nicht Blatt noch Blume von seinem Ausflug mitgebracht hatte. Seine Wohnung aber, das öde Junggesellenhaus mit den herumlungernden Dienern und dem kühlen mürrischen Herrn Bradley war ihm noch nie so unheimlich und trostlos erschienen wie in dieser Abendstunde, da er bei seiner kleinen Öllampe am wackligen Tischlein saß und in der Bibel zu lesen versuchte.

In dieser Nacht, als er nach langer Gedankenunruhe und trotz den singenden Moskiten endlich den Schlaf gefunden hatte, wurde der Missionar von sonderbaren Träumen heimgesucht.

Er wandelte in einem dämmernden Palmenhain, wo gelbe Sonnenflecke auf dem rotbraunen Boden spielten. Papageien riefen aus der Höhe, Affen turnten tollkühn an den unendlich hohen Baumsäulen, kleine edelsteinblitzende Kolibrivögel leuchteten kostbar auf, Insekten jeder Art gaben durch Töne, Farben oder Bewegungen ihre Lebensfreude kund. Der frohe Missionar spazierte dankbar und beglückt inmitten dieser Pracht; er rief einen seiltanzenden Affen an, und siehe, das flinke Tier kletterte gehorsam zur Erde und stellte sich wie ein Diener mit Gebärden der Ergebenheit vor Aghion auf. Dieser sah ein, daß er in diesem seligen Bezirk der Kreatur zu gebieten habe, und alsbald berief er die Vögel und Schmetterlinge um sich, und sie kamen in großen glänzenden Scharen, er winkte und taktierte mit den Händen, nickte mit dem Kopf, befahl mit Blicken und Zungenschnalzen, und gefügig ordneten sich alle die herrlichen Tiere in der goldigen Luft zu schönen schwebenden Reigen und Festzügen, pfiffen und summten, zirpten und rollten in feinen Chören, suchten und flohen, verfolgten und haschten einander, beschrieben feierliche Kreise und schalkhafte Spiralen in der Luft. Es war ein glänzendes herrliches Ballett und Konzert und ein wiedergefundenes Paradies, und der Träumer verweilte in dieser harmonischen Zauberwelt, die ihm gehorchte und zu eigen war, mit einer innig ergriffenen und beinahe schmerzlichen Lust; denn in all dem Glück war doch schon ein leises Ahnen oder Wissen enthalten, ein Vorgeschmack von Unverdientheit und Vergänglichkeit, wie ihn ein frommer Missionar ohnehin bei jeder Sinnenlust auf der Zunge haben muß.

Dieser ängstliche Vorgeschmack trog denn auch nicht. Noch schwelgte der entzückte Naturfreund im Anblick einer Affenquadrille und liebkoste einen ungeheuren blauen Sammetfalter, der sich vertraulich auf seine linke Hand gesetzt hatte und sich wie ein Täubchen streicheln ließ, aber schon begannen Schatten der Angst und Auflösung in dem Zauberhain zu flattern und das Gemüt des Träumers zu umhüllen. Einzelne Vögel schrien plötzlich grell und angstvoll auf, unruhige Windstöße erbrausten in den hohen Wipfeln, das frohe warme Sonnenlicht wurde fahl und siech, die Vögel huschten nach allen Seiten davon, und die schönen großen Falter ließen sich in wehrlosem Schrecken vom Winde davonführen. Regentropfen klatschten erregt auf den Baumkronen, ein ferner leiser Donner rollte langsam austönend über das Himmelsgewölbe.

Da betrat Mister Bradley den Wald. Der letzte bunte Vogel war entflogen. Hünenhaft groß von Gestalt und finster wie der Geist eines erschlagenen Königs kam Bradley heran, spuckte verächtlich vor dem Missionar aus und begann ihm in verletzenden, höhnischen, feindseligen Worten vorzuwerfen, er sei ein Gauner und Tagedieb, der sich von seinem Londoner Patron für die Bekehrung der Heiden anstellen und bezahlen lasse, statt dessen aber nichts tue als müßiggehen, Käfer fangen und spazieren laufen. Und Aghion mußte in Zerknirschung eingestehen, jener habe recht und er sei all dieser Versäumnis schuldig.

Es erschien nun jener mächtige reiche Patron aus England, Aghions Brotgeber, sowie mehrere englische Geistliche, und diese zusammen mit Bradley trieben und hetzten den Missionar vor sich her durch Busch und Dorn, bis sie auf eine volkreiche Straße und in jene Vorstadt von Bombay kamen, wo der turmhohe groteske Hindutempel stand. Hier flutete eine bunte Menschenmenge aus und ein, nackte Kulis und weißgekleidete stolze Brahmanen, dem Tempel gegenüber aber war eine christliche Kirche errichtet, und über ihrem Portal war Gottvater in Stein gebildet, in Wolken schwebend mit ernstem Vaterauge und fließendem Bart.

Auf die Stufen des Gotteshauses schwang sich der bedrängte Missionar, winkte mit den Armen und begann den Hinduleuten zu predigen. Mit lauter Stimme forderte er sie auf, herzuschauen und zu vergleichen, wie anders der wahre Gott beschaffen sei als ihre armen Fratzengötter mit den vielen Armen und Rüsseln. Mit ausgestrecktem Finger wies er auf das verschlungene Figurenwerk der indischen Tempelfassade, und dann wies er einladend auf das Gottesbild seiner Kirche. Aber wie sehr erschrak er da, als er seiner eigenen Gebärde folgend wieder emporblickte; denn Gottvater hatte sich verändert, er hatte drei Köpfe und sechs Arme bekommen und hatte statt des etwas blöden und machtlosen Ernstes ein feines, überlegen vergnügtes Lächeln in den Gesichtern, genau wie es die feineren unter den indischen Götterbildern nicht selten zeigten. Verzagend sah sich der Prediger nach Bradley, nach dem Patron und der Geistlichkeit um; sie waren aber alle verschwunden, er stand allein und kraftlos auf den Stufen der Kirche, und nun verließ ihn auch Gottvater selbst, denn er winkte mit seinen sechs Armen zu dem Tempel hinüber und lächelte den Hindugöttern mit göttlicher Heiterkeit zu.

Vollständig verlassen, geschändet und verloren stand Aghion auf seiner Kirchentreppe. Er schloß die Augen und blieb aufrecht stehen, jede Hoffnung war in seiner Seele erloschen, und er wartete mit verzweifelter Ruhe darauf, von den Heiden gesteinigt zu werden. Statt dessen aber fühlte er sich, nach einer furchtbaren Pause, von einer starken, doch sanften Hand beiseite geschoben, und als er die Augen aufriß, sah er den steinernen Gottvater groß und ehrwürdig die Stufen herabschreiten, während gegenüber die Götterfiguren des Tempels in ganzen Scharen von ihren Schauplätzen herabstiegen. Sie alle wurden von Gottvater begrüßt, der sodann in den Hindutempel eintrat und mit freundlicher Gebärde die Huldigung der weißgekleideten Brahmanen entgegennahm. Die Heidengötter aber mit ihren Rüsseln, Ringellocken und Schlitzaugen besuchten einmütig die Kirche, fanden alles gut und hübsch und zogen viele Beter nach sich, und so entstand ein Umzug der Götter und Menschen zwischen Kirche und Tempel; Gong und Orgel tönten geschwisterlich ineinander, und stille dunkle Indier brachten auf nüchternen englisch-christlichen Altären Lotosblumen dar.

Mitten im festlichen Gedränge aber schritt mit den glatten, glänzend schwarzen Haaren und den großen kindlichen Augen die schöne Naissa. Sie kam zwischen vielen anderen Gläubigen vom Tempel herübergegangen, stieg die Stufen zur Kirche empor und blieb vor dem Missionare stehen. Sie sah ihm ernst und lieblich in die Augen, nickte ihm zu und bot ihm eine Lotosblüte hin. Er aber, in überwallendem Entzücken, beugt sich über ihr klares stilles Gesicht herab, küßt sie auf die Lippen und schließt sie in seine Arme.

Noch ehe er hatte sehen können, was Naissa dazu sage, erwachte Aghion aus seinem Traum und fand sich müde und erschrocken in tiefer Dunkelheit auf seinem Lager hingestreckt. Eine schmerzliche Verwirrung aller Gefühle und Triebe quälte ihn bis zur Verzweiflung. Der Traum hatte ihm sein eigenes Selbst unverhüllt gezeigt, seine Schwäche und Verzagtheit, den Unglauben an seinen Beruf, seine Verliebtheit in die braune Heidin, seinen unchristlichen Haß gegen Bradley, sein schlechtes Gewissen dem englischen Brotgeber gegenüber. Es war so, es war alles wahr und nicht zu ändern.

Eine Weile lag er traurig und bis zu Tränen erregt im Dunkeln. Er versuchte zu beten und vermochte es nicht, er versuchte sich die Naissa als Teufelin vorzustellen und seine Neigung als verworfen zu erkennen und konnte auch das nicht. Am Ende erhob er sich, einer halbbewußten Regung folgend und noch von den Schatten und Schauern des Traumes umgeben; er verließ sein Zimmer und suchte Bradleys Stube auf, ebensosehr im triebhaften Bedürfnis nach Menschenanblick und Trost wie in der frommen Absicht, sich seiner Abneigung gegen diesen Mann zu schämen und durch Offenheit ihn sich zum Freunde zu machen.

Leise schlich er auf dünnen Bastsohlen die dunkle Veranda entlang bis zum Schlafzimmer Bradleys, dessen leichte Tür aus Bambusgestäbe nur bis zur halben Höhe der Türöffnung reichte und den hohen Raum schwach erleuchtet zeigte; denn jener pflegte, gleich vielen Europäern in Indien, die ganze Nacht hindurch ein kleines Öllicht zu brennen. Behutsam drückte Aghion die dünnen Türflügel nach innen und ging hinein.

Der kleine Öldocht schwelte in einem irdenen Schüsselchen am Boden des Gemachs und warf schwache, ungeheure Schatten an den kahlen Wänden aufwärts. Ein brauner Nachtfalter umsurrte das Licht in kleinen Kreisen. Um die umfangreiche Bettstatt her war der große Moskitoschleier sorgfältig zusammengezogen. Der Missionar nahm die Lichtschale in die Hand, trat ans Bett und öffnete den Schleier eine Spanne weit. Eben wollte er des Schläfers Namen rufen, da sah er mit heftigem Erschrecken, daß Bradley nicht allein sei. Er lag, vom dünnen, seidenen Nachtkleide bedeckt, auf dem Rücken, und sein Gesicht mit dem emporgereckten Kinn sah um nichts zarter oder freundlicher aus als am Tage. Neben ihm aber lag nackt eine zweite Gestalt, eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie lag auf der Seite und wendete dem Missionar das schlafende Gesicht zu, und er erkannte sie: es war das starke große Mädchen, das jede Woche die Wäsche abzuholen pflegte.

Ohne den Vorhang wieder zu schließen floh Aghion hinaus und in sein Zimmer zurück. Er versuchte wieder zu schlafen, doch gelang es ihm nicht; das Erlebnis des Tages, der seltsame Traum und endlich der Anblick der nackten Schläferin hatten ihn gewaltig erregt. Zugleich war seine Abneigung gegen Bradley viel stärker geworden, ja er scheute sich vor dem Augenblick des Wiedersehens und der Begrüßung beim Frühstück. Am meisten aber quälte und bedrückte ihn die Frage, ob es nun seine Pflicht sei, dem Hausgenossen wegen seiner Lebensführung Vorwürfe zu machen und seine Besserung zu versuchen. Aghions ganze Natur war dagegen, aber sein Amt schien es von ihm zu fordern, daß er seine Feigheit überwinde und dem Sünder unerschrocken ins Gewissen rede. Er zündete seine Lampe an und las, von den singenden Mücken umschwärmt und gepeinigt, stundenlang im Neuen Testament, ohne doch Sicherheit und Trost zu gewinnen. Beinahe hätte er ganz Indien fluchen mögen oder doch seiner Neugierde und Wanderlust, die ihn hieher und in diese Sackgasse geführt hatte. Nie war ihm die Zukunft so düster erschienen, und nie hatte er sich so wenig zum Bekenner und Märtyrer geschaffen gefühlt wie in dieser Nacht.

Zum Frühstück kam er mit unterhöhlten Augen und müden Zügen, rührte unfroh mit dem Löffel im duftenden Tee und schälte in verdrossener Spielerei lange Zeit an einer Banane herum, bis Herr Bradley erschien. Dieser grüßte kurz und kühl wie sonst, setzte den Boy und den Wasserträger durch laute Befehle in Trab, suchte sich mit langwieriger Umsicht die goldigste Frucht aus dem Bananenbüschel und aß dann rasch und herrisch, während im sonnigen Hof der Diener sein Pferd vorführte.

„Ich hätte noch etwas mit Ihnen zu besprechen,“ sagte der Missionar, als der andere eben aufbrechen wollte. Argwöhnisch blickte Bradley auf.

„So? Ich habe sehr wenig Zeit. Muß es gerade jetzt sein?“

„Ja, es ist besser. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß ich von dem unerlaubten Umgange weiß, den Sie mit einem Hinduweib haben. Sie können sich denken, wie peinlich es mir ist ...“

„Peinlich!“ rief Bradley aufspringend und brach in ein zorniges Gelächter aus. „Herr, Sie sind ein größerer Esel, als ich je gedacht hätte! Was Sie von mir halten, ist mir natürlich durchaus einerlei, daß Sie aber in meinem Hause herumschnüffeln und spionieren, finde ich niederträchtig. Machen wir die Sache kurz! Ich lasse Ihnen Zeit bis Sonntag. Bis dahin suchen Sie sich freundlichst eine neue Unterkunft in der Stadt; denn in diesem Hause werde ich Sie keinen Tag länger dulden!“

Aghion hatte eine barsche Abfertigung, nicht aber diese Antwort erwartet. Doch ließ er sich nicht einschüchtern.

„Es wird mir ein Vergnügen sein,“ sagte er mit guter Haltung, „Sie von meiner lästigen Einquartierung zu befreien. Guten Morgen, Herr Bradley!“

Er ging weg, und Bradley sah ihm aufmerksam nach, halb betroffen, halb belustigt. Dann strich er sich den harten Schnurrbart, rümpfte die Lippen, pfiff seinem Hunde und stieg die Holztreppe zum Hof hinab, um in die Stadt zu reiten.

Beiden Männern war die kurze gewitterhafte Aussprache und Klärung der Lage im Herzen willkommen. Aghion allerdings sah sich unerwartet vor Sorgen und Entschlüsse gestellt, die ihm bis vor einer Stunde noch in angenehmer Ferne geschwebt hatten. Aber je ernstlicher er seine Angelegenheiten bedachte und je deutlicher es ihm wurde, daß der Streit mit Bradley eine Nebensache, die Lösung seines ganzen verworrenen Zustandes aber nun eine unerbittliche Notwendigkeit geworden sei, desto klarer und wohler wurde ihm in den Gedanken. Das Leben in diesem Hause, das Brachliegen seiner Kräfte, ungestillte Begierden und tote Stunden waren ihm zu einer Qual geworden, die seine einfältige Natur ohnehin nicht lange mehr ertragen hätte, und so ward es ihm leicht, sich des Endes einer halben Gefangenschaft zu freuen, komme danach, was da wolle.

Es war noch früh am Morgen, und eine Ecke des Gartens, sein Lieblingsplatz, lag noch kühl im halben Schatten. Hier hingen die Zweige verwilderter Gebüsche über einen ganz kleinen, gemauerten Weiher nieder, der einst als Badestelle angelegt, aber verwahrlost und nun von einem Völkchen gelber Schildkröten bewohnt war. Hieher trug er seinen Bambusstuhl, legte sich nieder und sah den schweigsamen Tieren zu, welche träg und wohlig im lauen grünen Wasser schwammen und still aus klugen kleinen Augen blickten. Jenseits im Wirtschaftshofe kauerte in seinem Winkel der unbeschäftigte Stalljunge und sang; sein eintöniges näselndes Lied klang wie Wellenspiel herüber und zerfloß in der warmen Luft, und unversehens überfiel nach der schlaflosen erregten Nacht den Liegenden die Müdigkeit, er schloß die Augen, ließ die Arme sinken und schlief ein.

Als ein Mückenstich ihn erweckte, sah er mit Beschämung, daß er fast den ganzen Vormittag verschlafen hatte. Aber er fühlte sich nun frisch und ungetrübt und ging jetzt ungesäumt daran, seine Gedanken und Wünsche zu ordnen und die Wirrnis seines Lebens sachte auseinander zu falten. Da wurde ihm unzweifelhaft klar, was unbewußt seit langem ihn gelähmt und seine Träume beängstigt hatte, daß nämlich seine Reise nach Indien zwar durchaus gut und klug gewesen war, daß aber zum Missionar ihm der richtige innere Beruf und Antrieb fehle. Er war bescheiden genug, darin eine Niederlage und einen betrübenden Mangel zu sehen; aber zur Verzweiflung war kein Grund vorhanden. Vielmehr schien ihm jetzt, da er entschlossen war, sich eine angemessenere Arbeit zu suchen, das reiche Indien erst recht eine gute Zuflucht und Heimat zu sein. Mochte es traurig sein, daß alle diese Eingeborenen sich falschen Göttern verschrieben hatten – sein Beruf war es nicht, das zu ändern. Sein Beruf war, dieses Land für sich zu erobern und für sich und andere das Beste daraus zu holen, indem er sein Auge, seine Kenntnisse, seine zur Tat gewillte Jugend darbrachte und überall bereit stand, wo eine Arbeit für ihn sich böte.

Noch am Abend desselben Tages wurde er, nach einer Besprechung, die kaum eine Stunde gedauert hatte, von einem in Bombay wohnhaften Herrn Sturrock als Sekretär und Aufseher für eine benachbarte Kaffeepflanzung angestellt. Einen Brief an seinen bisherigen Brotgeber, worin Aghion sein Tun erklärte und sich zum spätern Ersatz des Empfangenen verpflichtete, versprach Sturrock nach London zu besorgen. Als der neue Aufseher in seine Wohnung zurückkehrte, fand er Bradley in Hemdärmeln allein beim Abendessen sitzen. Er teilte ihm, noch ehe er neben ihm Platz nahm, das Geschehene mit.

Bradley nickte mit vollem Munde, goß etwas Whisky in sein Trinkwasser und sagte fast freundlich: „Sitzen Sie und bedienen Sie sich, der Fisch ist schon kalt. Nun sind wir ja eine Art von Kollegen. Na, ich wünsche Ihnen Gutes. Kaffee bauen ist leichter als Hindus bekehren, das ist gewiß, und möglicherweise ist es ebenso wertvoll. Ich hätte Ihnen nicht soviel Vernunft zugetraut, Aghion!“

Die Pflanzung, die er beziehen sollte, lag zwei Tagereisen weit landeinwärts, und übermorgen sollte Aghion in Begleitung einer Kulitruppe dorthin aufbrechen; so blieb ihm zum Besorgen seiner Angelegenheiten nur ein einziger Tag. Zu Bradleys Verwunderung erbat er sich für morgen ein Reitpferd, doch enthielt sich jener aller Fragen, und die beiden Männer saßen, nachdem sie die von tausend Insekten umflügelte Lampe hatten wegtragen lassen, in dem lauen, schwarzen indischen Abend einander gegenüber und fühlten sich einander näher als in all diesen vielen Monaten eines gezwungenen Zusammenlebens.

„Sagen Sie,“ fing Aghion nach einem langen Schweigen an, „Sie haben sicher von Anfang an nicht an meine Missionspläne geglaubt?“

„O doch,“ gab Bradley ruhig zurück. „Daß es Ihnen damit Ernst war, konnte ich ja sehen.“

„Aber Sie konnten gewiß auch sehen, wie wenig ich zu dem paßte, was ich hier tun und vorstellen sollte! Warum haben Sie mir das nie gesagt?“

„Ich war von niemand dazu angestellt. Ich liebe es nicht, wenn mir jemand in meine Sachen hineinredet; so tue ich das auch bei anderen nicht. Außerdem habe ich hier in Indien schon die verrücktesten Dinge unternehmen und gelingen sehen. Das Bekehren war Ihr Beruf, nicht meiner. Und jetzt haben Sie ganz von selber einige Ihrer Irrtümer eingesehen! So wird es Ihnen auch noch mit anderen gehen ...“

„Mit welchen zum Beispiel?“

„Zum Beispiel in dem, was Sie heut morgen mir an den Kopf geworfen haben.“

„Oh, wegen des Mädchens!“

„Gewiß. Sie sind Geistlicher gewesen; trotzdem werden Sie zugeben, daß ein gesunder Mann nicht jahrelang leben und arbeiten und gesund bleiben kann, ohne gelegentlich eine Frau bei sich zu haben. Mein Gott, darum brauchen Sie doch nicht rot zu werden! Nun sehen Sie: als Weißer in Indien, der sich nicht gleich eine Frau mit aus England herübergebracht hat, hat man wenig Auswahl. Es gibt keine englischen Mädchen hier. Die hier geboren werden, die schickt man schon als Kinder nach Europa heim. Es bleibt nur die Wahl zwischen den Matrosendirnen und den Hindufrauen, und die sind mir lieber. Was finden Sie daran schlimm?“

„Oh, hier verstehen wir uns nicht, Herr Bradley! Ich finde, wie es die Bibel und unsere Kirche vorschreibt, jede uneheliche Verbindung schlimm und unrecht!“

„Wenn man aber nichts anderes haben kann?“

„Warum sollte man nicht können? Wenn ein Mann ein Mädchen wirklich lieb hat, so soll er es heiraten.“

„Aber doch nicht ein Hindumädchen?“

„Warum nicht?“

„Aghion, Sie sind weitherziger als ich! Ich will mir lieber einen Finger abbeißen als eine Farbige heiraten, verstehen Sie? Und so werden Sie später auch einmal denken!“

„O bitte, das hoffe ich nicht. Da wir so weit sind, kann ich es Ihnen ja sagen: Ich liebe ein Hindumädchen, und es ist meine Absicht, sie zu meiner Frau zu machen.“

Bradleys Gesicht wurde ernsthaft. „Tun Sie das nicht!“ sagte er fast bittend.

„Doch, ich werde es tun,“ fuhr Aghion begeistert fort. „Ich werde mich mit dem Mädchen verloben und sie dann so lange erziehen und unterrichten, bis sie die christliche Taufe erhalten kann; dann lassen wir uns in der englischen Kirche trauen.“

„Wie heißt sie denn?“ fragte Bradley nachdenklich.

„Naissa.“

„Und ihr Vater?“

„Das weiß ich nicht.“

„Na, bis zur Taufe hat es ja noch Zeit; überlegen Sie sich das lieber noch einmal! Natürlich kann sich unsereiner in ein indisches Mädel verlieben, sie sind oft hübsch genug. Sie sollen auch treu sein und zahme Frauen abgeben. Aber ich kann sie doch immer nur wie eine Art Tierchen ansehen, wie lustige Ziegen oder schöne Rehe, nicht wie meinesgleichen.“

„Ist das nicht ein Vorurteil? Alle Menschen sind Brüder, und die Indier sind ein altes edles Volk.“

„Ja, das müssen Sie besser wissen, Aghion. Was mich betrifft, ich habe sehr viel Achtung vor Vorurteilen.“

Er stand auf, sagte Gutenacht und ging in sein Schlafzimmer, in dem er gestern die hübsche große Wäscheträgerin bei sich gehabt hatte. „Wie eine Art Tierchen“ hatte er gesagt, und Aghion lehnte sich nachträglich in Gedanken dagegen auf.

Früh am andern Tage, noch ehe Bradley zum Frühstück gekommen war, ließ Aghion das Reitpferd vorführen und ritt davon, während noch in den wirren Baumwipfeln die Affen ihr Morgengeschrei verübten. Und noch stand die Sonne nicht hoch, als er schon in der Nähe jener Hütte, wo er die hübsche Naissa kennen gelernt hatte, sein Tier anband und zu Fuß sich der Behausung näherte. Auf der Türschwelle saß nackt der kleine Sohn und spielte mit einer jungen Ziege, von der er sich lachend immer wieder vor die Brust stoßen ließ.

Eben als der Besucher vom Wege abbiegen wollte, um in die Hütte zu treten, stieg über den kauernden Jungen hinweg vom Innern der Hütte her ein junges Mädchen, das er sofort als Naissa erkannte. Sie trat auf die Gasse, einen hohen irdenen Wasserkrug leer in der losen Rechten tragend, und ging, ohne ihn zu beachten, vor Aghion her, der ihr mit Entzücken folgte. Bald hatte er sie eingeholt und rief ihr einen Gruß zu. Sie hob den Kopf, indem sie das Grußwort leise erwiderte, und sah aus den schönen braungoldenen Augen kühl auf den Mann, als kenne sie ihn nicht, und als er ihre Hand ergriff, zog sie sie erschrocken zurück und lief mit beschleunigten Schritten weiter. Er begleitete sie bis zu dem gemauerten Wasserbehälter, wo das Wasser einer schwachen Quelle dünn und sparsam über moosig-alte Steine rann; er wollte ihr helfen, den Krug zu füllen und emporzuziehen, aber sie wehrte ihn schweigend ab und machte ein trotziges Gesicht. Er war über soviel Sprödigkeit erstaunt und enttäuscht, und nun suchte er aus seiner Tasche das Geschenk hervor, das er für sie mitgebracht hatte, und es tat ihm nun doch ein wenig weh, zu sehen, wie sie alsbald die Abwehr vergaß und nach dem Dinge griff, das er ihr anbot. Es war eine emaillierte kleine Dose mit hübschen Blumenbildchen darauf, und die innere Seite des runden Deckels bestand aus einem kleinen Spiegel. Er zeigte ihr, wie man ihn öffne und gab ihr das Ding in die Hand.

„Für mich?“ fragte sie mit Kinderaugen.

„Für dich!“ sagte er, und während sie mit der Dose spielte, streichelte er ihren sammetweichen Arm und ihr langes schwarzes Haar.

Da sie ihm nun Dank sagte und mit unentschlossener Gebärde den vollen Wasserkrug ergriff, versuchte er, ihr etwas Liebes und Zärtliches zu sagen, was sie jedoch offenbar nur halb verstand und indem er sich auf Worte besann und unbeholfen neben ihr stand, schien ihm plötzlich die Kluft zwischen ihm und ihr ungeheuer, und er dachte mit Trauer, wie wenig doch vorhanden sei, das ihn mit ihr verbinde, und wie lange, lange es dauern mochte, bis sie einmal seine Braut und seine Freundin sein, seine Sprache verstehen, sein Wesen begreifen, seine Gedanken teilen könnte.

Mittlerweile hatte sie langsam den Rückweg angetreten, und er ging neben ihr her, der Hütte entgegen. Der Knabe war mit der Ziege in einem atemlosen Jagdspiel begriffen; sein schwarzbrauner Rücken glänzte metallisch in der Sonne, und sein geblähter Reisbauch ließ die Beine zu dünn erscheinen. Mit einem Anflug von Befremdung dachte der Engländer daran, daß, wenn er Naissa heirate, dieses Naturkind sein Schwager sein würde. Um sich diesen Vorstellungen zu entziehen, sah er das Mädchen wieder an. Er betrachtete ihr entzückend feines, großäugiges Gesicht mit dem kühlen kindlichen Munde und mußte denken, ob es ihm wohl glücken werde, heute noch von diesen Lippen den ersten Kuß zu erhalten.

Aus diesem lieblichen Gedanken schreckte ihn eine Erscheinung, die plötzlich aus der Hütte trat und wie ein Spuk vor seinen ungläubigen Augen stand. Es erschien im Türrahmen, schritt über die Schwelle und stand vor ihm eine zweite Naissa, ein Spiegelbild der ersten, und das Spiegelbild lächelte ihm zu und grüßte ihn, griff in ihr Hüftentuch und zog etwas hervor, das sie triumphierend über ihrem Haupte schwang, das blank in der Sonne glitzerte und das er nach einer Weile denn auch erkannte. Es war die kleine Schere, die er kürzlich Naissa geschenkt hatte, und das Mädchen, dem er heute die Spiegeldose gegeben, in dessen schöne Augen er geblickt und dessen Arm er gestreichelt hatte, war gar nicht Naissa, sondern deren Schwester, und wie die beiden Mädchen nebeneinander standen, noch immer kaum voneinander zu unterscheiden, da kam sich der verliebte Aghion unsäglich betrogen und irregegangen vor. Zwei Rehe konnten einander nicht ähnlicher sein, und wenn man ihm in diesem Augenblick freigestellt hätte, eine von ihnen zu wählen und mit sich zu nehmen und für immer zu behalten, er hätte nicht gewußt, welche von beiden es war, die er liebte. Wohl konnte er allmählich erkennen, daß die wirkliche Naissa die ältere und ein wenig kleinere sei; aber seine Liebe, deren er vor Augenblicken noch so sicher zu sein gemeint hatte, war ebenso auseinander gebrochen und zu zwei Hälften zerfallen wie das Mädchenbild, das sich vor seinen Augen so unerwartet und unheimlich verdoppelt hatte.

Bradley erfuhr nichts von dieser Begebenheit, er stellte auch keine Fragen, als zu Mittag Aghion heimkehrte und schweigsam beim Essen saß. Und am nächsten Morgen, als Aghions Kulis anrückten und seine Kisten und Säcke aufpackten und wegtrugen und als der Abreisende dem Dableibenden noch einmal Dank sagte und die Hand hinbot, da faßte Bradley die Hand kräftig und sagte: „Gute Reise, mein Junge! Es wird später eine Zeit kommen, wo Sie vor Sehnsucht vergehen werden, statt der süßen Hinduschnauzen wieder einmal einen ehrlichen ledernen Engländerkopf zu sehen! Dann kommen Sie zu mir, und dann werden wir über alles Mögliche einig sein, worüber wir heute noch verschieden denken!“

Werke von Hermann Hesse

Peter Camenzind

Roman. 60. Auflage. Geheftet 3 M., gebunden 4 M.

Wenn du aber zu den Menschen gehörst, die weinen können, weil der Himmel kornblumenblau über einem goldenen Weizenfeld steht, wenn du einer von denen bist, die jauchzen können, wenn der Wind durch blühende Lindenbäume rauscht, dann schnür dein Bündel und pack die Geschichte des Peter Camenzind obenauf. Und dann wandre und wandre, bis du zu einem dunklen See kommst, der zu Füßen einiger hoher Bergschroffen liegt. Dort sitz nieder und lies, was dir Peter Camenzind von den Bergen und vom Walde, von den Strömen und von der Liebe zu erzählen hat. Und glaub mir: Du wirst größer, reiner, freier wieder heimkehren in die Stadtwirrnis.

(Die Woche)

Unterm Rad

Roman. 19. Auflage. Geheftet 3.50 M., geb. 4.50 M.

Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher leiser Klage und ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.

(Münchener Zeitung)

Diesseits

Erzählungen. 18. Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.

Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband „Diesseits“ lesen.

(Neue Zürcher Zeitung)

Nachbarn

Erzählungen. 12 Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.

Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt erscheinen sie. Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne Leidenschaft und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten erzählt. Aber in einer Sprache, die ihresgleichen sucht und die den Stolz in uns aufleben läßt: sehet, das ist Deutsch.

(Württembergische Zeitung, Stuttgart)

Umwege

Erzählungen. 10. Auflage. Geh. 3.50 M., geb. 4.50 M.

Wie Gottfried Keller in seinen „Seldwylern“, so hat Hesse in seinen Gerbersauern seine sicherste Meisterschaft erreicht, seine ganz persönliche Domäne gefunden. Nur ungern verläßt man den Kreis derer, die sein Blick aus dem Alltage gehoben, gewählt und geweiht hat zu Kunstwerklein, deren filigranfein gestichelte Prägung dem Kenner und beschaulichen Genießer nachhaltige Freuden gewährt.

(Berliner Tageblatt)

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Ausgaben, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):