The Project Gutenberg eBook of Der Moloch This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Der Moloch Author: Jakob Wassermann Release date: January 22, 2007 [eBook #20413] Language: German *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MOLOCH *** Der Moloch Roman von Jakob Wassermann Dritte und vierte Auflage neu bearbeitet S. Fischer, Verlag, Berlin 1908 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Frau Ansorge Erstes Kapitel Zwischen Podolin und Lomnitz, wo sich die Ebene aus einer flachen Mulde zu einem unscheinbaren Hügelchen erhebt, lag der Ansorge-Hof. Das Wohngebäude lehnte mit der Rückseite gegen die wilden Hecken, die den weitläufigen parkartigen Garten begrenzten. Das Haus, mit den weißgekalkten Mauern tief in die Erde gebohrt, erschien durch eine zum Tor führende Steintreppe und durch die zopfigen Verzierungen um die Fenstervierecke als ein Mittelding zwischen Bauern- und Herrenhaus. Das überhängende Ziegeldach leuchtete wie eine mächtige Kapuze brennend rot über die Landschaft. Vom Dorf war nur der Kirchturm zu sehen, denn unvermutet, durch eine Laune der Natur, erhebt sich bei Podolin ein schroffer Erdhügel, der den träg einherziehenden Fluß zwingt, ihm in weitem Knie auszuweichen. Podolin selbst liegt auf der sanfter abfallenden Seite des Hügels, ist aber gegen Süden bis hart an den Fluß herangebaut, so daß die Hauptstraße des Dorfs nahezu die Gestalt eines #S# hat. Ringsumher dehnt sich wellig-ebenes Land, das nicht allzu reichlich mit Baum und Busch bedeckt erscheint. Zwischen dem Dorf und dem Ansorge-Hof breitete sich ein häuserloser, öder Erdstrich. Nur ein großer Zimmerplatz lag am Flußufer und von ihm strömte Sommer und Winter der Geruch frisch behauener Baumstämme aus. Die meisten Leute in der Gegend erinnerten sich genau des Tages, an welchem Frau Ansorge in einer altertümlichen vierschrötigen Kutsche von der Ostrauer Straße her ins Dorf eingefahren war, begleitet von ihrer Dienerin Ursula, die den fünfjährigen Arnold auf den Knien hielt. Der damalige Bürgermeister hatte die Frau hinüber geführt auf den Hof, der seit mehr als hundert Jahren einem ehemals reichen und nun zu grunde gegangenen Bauerngeschlecht gehört hatte. Bald begann eine ruhige, doch unablässige Geschäftigkeit das Aussehen des verwahrlosten Gutes zu verändern. Stall und Scheune wurden in Stand gesetzt, Zäune aufgerichtet, der versandete Brunnen wurde tiefer gegraben, der Viehstand verbessert, neue Möbel, neue Pflüge, neues Gesinde beschafft und das Wohnhaus erhielt ein neues Dach. Drei Monate früher hatten Frau Ansorges Wünsche noch andern Lebenszielen gegolten, als in der mährischen Einsamkeit Ruhe vor der Welt zu suchen. Sie hatte die Vergnügungen der Geselligkeit und alle jene Freuden geliebt, welche ihr der Reichtum ihres Mannes verschaffen konnte. Alfred Ansorge war einer der großen Kohlenwerksbesitzer des Ostrauer Reviers gewesen. Allerdings hatten ihn seine Geschäfte gezwungen, einen großen Teil des Jahres in der traurigen, rußigen Stadt zuzubringen, aber desto schöner war dann der Gegensatz zu der in Wien, im Gebirge oder auf Reisen verbrachten Zeit. Von einer solchen Reise kehrte die Familie, Mann, Frau und Kind, anfangs Dezember nach Ostrau zurück. Die Winternacht, der sie entgegenfuhren, besiegelte das Schicksal der drei Menschen. Eine Viertelstunde vor dem Ziel lief der Eisenbahnzug auf ein falsches Geleise und prallte in vollem Rasen gegen einen aus Schlesien kommenden Personenzug. Dieselben zusammenprasselnden Wagenteile, die dem entsetzt auffahrenden Mann den Kopf zermalmten, waren der Frau zum Schutz geworden und hatten sie und den Knaben umgeben wie die Bretter eines Sarges. Als man sie befreien konnte, lag das Kind unversehrt zwischen ihren zu einem Bett erweiterten Schenkeln. Nur ihre Augen zeigten, was in ihr vorgegangen war, als sie in dem Verließ gelegen, das Brausen des Windes im Ohr, der Rettung ungewiß, ungewiß auch was mit dem Knaben sei. Vierzehn Tage lang vermochte sie nicht zu gehen, zu reden und zu hören. Ihre Seele schien erfroren, schien nichts mehr aufzubewahren als die furchtbaren Laute dieser Stunde, die am Rande des Lebens und am Anfang des Todes lag. Doch wie das Wasser unter der Eisdecke des Stromes fließt, trieb ihr dunkler Wille einer neuen Form des Lebens zu. Der Anwalt Borromeo aus Wien, ein Bruder Frau Ansorges, ordnete die Hinterlassenschaft des Mannes, wohnte dem Begräbnis bei und nahm den Knaben in seine Obhut. Bald wurde Frau Ansorge innerlich und äußerlich ruhig; sie vermochte sich mit den laufenden Geschäften zu befassen und bekundete sogar eine eindringlichere Teilnahme als der geschäftsgewohnte Bruder. Sie sorgte für die beste Verzinsung des Kapitals, nachdem alle liegenden Gründe veräußert waren, und kaufte, ohne ihren Vorteil zu übersehen, das Gut bei Podolin, dessen Weltentlegenheit ihre Wahl sehr beeinflußt hatte. Ihr Fuß wurde vorsichtig im Schreiten wie der eines Blinden. Sie tat keinen unnotwendigen Schritt und vermied jede überflüssige Bewegung. Sie haßte alles Fahrige, Eilige, alles Springen, Laufen und Tänzeln. Was auf Rädern lief und nur entfernt einer Maschine ähnlich sah, erregte ihren Abscheu. Im Hause durften keine Wanduhren ticken, vor den Fenstern mußten Büsche gepflanzt werden, denn sonderbarerweise konnte sie weder den Anblick der Horizontlinie, noch den der langhinlaufenden Straße ertragen. Spiegel und Bilder liebte sie nicht; nichts was an der Wand oder an der Decke hing. Ihr Bett lag flach und knapp über den Dielen. In solchem Kreis des Ruhens wuchs Arnold empor. Auf dem Grunde eines schwarzen Unheils malte sich wie etwas Rosiges sein junges Leben. Die beharrende Furcht der Mutter war eine Schranke um ihn, aber eine unsichtbare. Nicht etwas Nennbares und Wechselndes, sondern ehern und unablässig als Naturkraft wirkend, bildete sie die Quelle seiner Gewohnheiten; sein Herz blieb rein von Unfrieden, auch hatte er nichts von der Zuchtlosigkeit, die durch regellose und eifersüchtige Geselligkeit entsteht. Er zeigte als Kind oft ein verstocktes, ja grämliches und mürrisches Wesen. Mit zusammengezogenen Brauen und seltsam gespreizten Schrittchen stapfte er herum wie ein kleiner Bär. Dies reizte natürlich die Leute auf dem Hof zum Lachen; besonders Ursula äffte Arnolds Gebaren nicht ohne Bosheit nach. Das empörte den Knaben zu unbändigem Zorn; denn für die Neckereien der Erwachsenen besaß er damals und auch später nicht das geringste Verständnis; sie erschienen ihm als ein durchaus unrechtmäßiger Eingriff in seine persönliche Freiheit. Mit schiefem Blick und zwischen die Schultern eingezogenem Kopf stand er bei solchen Gelegenheiten da, und wenn der feindliche Spott kein Ende nehmen wollte, zog er die Lippen auseinander, jappte jähzornig, machte zwei Fäuste, die er gleich Puffern links und rechts an der Brust hielt, sprang auf den Plagegeist los und biß und schlug. Doch solche Zornwütigkeit zeigte sich mit den Jahren immer seltener, und statt ihrer stellte sich eine verächtliche Blick- und Wortsparsamkeit ein, die dem Bewußtsein der Körperkraft entsprang und gar possierlich wirkte. Die Verlorenheit des Aufenthaltes entzog Arnold jedem Bildungszwang. Durch die weitgehenden Verbindungen Friedrich Borromeos bildete die Militärpflicht Jahre voraus keine Sorge mehr für Frau Ansorge. Sie selbst lehrte ihn lesen und schreiben. Um ihn auch weiterhin unterrichten zu können, studierte sie Tag und Nacht mit wahrer Wut und so wurde sie seine Lehrerin in Sprachen, Geschichte, Geographie und den niederen Fächern der Mathematik. Ihn im Dunkel der Unwissenheit zu lassen, darin sah sie keine Sicherheit. In seinem fünfzehnten Jahr besaß er die Durchschnittsbildung der jungen Leute seines Alters. Er hatte keinen Ehrgeiz in geistigen Dingen und fand Vergnügen an körperlicher Arbeit. Die Mutter wünschte ihn mittelmäßig und so am meisten geschützt gegen die Stürme des Schicksals. Der Anschein befriedigte sie. In der drängendsten Zeit der aufwachenden Mannbarkeit verriet sich an ihm eine unruhige Überschwänglichkeit und Phantasterei, die seiner Natur im Innersten fremd war. Da kam es vor, daß er während einer ganzen Sommernacht sich in den Wäldern herumtrieb, nach den Sternen starrte, in die Erde hinein horchte und mit eigentümlicher Angst den Aufgang der Sonne erwartete. Ein andermal entfernte er sich in der Früh und kam erst am zweiten Tag zurück. Vierzehn Stunden war er gegangen, um zu erfahren, was hinter dem Wald, hinter den Hügeln der Ferne lag, und traurig hatte er den Heimweg angetreten, als immer wieder dieselben Äcker und Wiesen, dieselben unansehnlichen Häuschen an derselben Straße erschienen waren. Bald verging das aufgeregte Wesen wieder und kehrte sich fast in sein Gegenteil, so daß Arnold den Eindruck eines mürrischen und phlegmatischen Burschen machte. Ohne sichtbare Freude der Wahrnehmung, ja sogar ohne Frohsinn, ließ er Sommer und Winter und wieder Sommer und Winter vorbeiziehen, denn dieser Wechsel und nicht die Ereignisse der Welt war für ihn das bedeutendste Schauspiel auf dem Zifferblatt der Zeit, das er mit trockener Selbstgenügsamkeit verfolgte. Er war träg und schwieg gern aus Trägheit, auch gegen die Mutter. Es bestand zwischen ihnen kein gefühlvolles Streben nach Annäherung, auch keine geheimnisvolle Abgeschlossenheit. Jeder schien in einem eigenen Land, nach eigenen Gesetzen zu leben. Die Einfachheit der Tage und der Beschäftigungen bestimmte den Charakter ihres Verhältnisses. Arnold war nie trotzig oder aufgeblasen gegen die Mutter, aber sie war für ihn mehr eine ältere Genossin als eine Achtungsperson. Später zeigte er in den kurzen Gesprächen mit ihr gern eine spöttische Aufmerksamkeit, die ihm nicht übel zu Gesichte stand und die Frau Ansorge vielleicht nur darum ein wenig ängstigte, weil sie etwas an sich hatte, was wie ein Zeichen geistiger Überlegenheit aussah. Aber die Sache war einfach die, daß Arnold nicht mehr ausschließlich die Mutter, sondern auch die Frau in ihr erblickte, die er, in komischem Männlichkeitswahn, sich untergeordnet glaubte. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern war nie ein schwüles Mysterium für ihn gewesen. Seine früh erwachte Sinnlichkeit, abgelenkt durch körperliche Arbeit, hatte keinen Anlaß zu dunklen Träumereien gefunden. Als er mit sieben Jahren zum erstenmal das Belegen einer Stute mit ansah, da begriff er das gewaltige Weben, welches scheinbar aus dem Nichts eine neue Kreatur erschafft. Obwohl sich sein Blick langsam für dergleichen Schauspiele abstumpfte, so vergaß er doch niemals den herrlichen Anblick des sich bäumenden Hengstes, sein schaumtriefendes Maul, die geblähten Nüstern, die feurig lohenden Augen, die schweißbedeckte dampfende Haut. Nun war er zwanzig; es ging auf den Sommer zu und ein wunderliches Drängen und Wühlen meldete sich bisweilen in seinem Innern. Oft war es, als ob das Herz aufgeschwellt wäre durch einen schrecklichen Überschwang zielloser Kräfte, die des Nachts, in einem Traum etwa, den eigenen Körper, in dem sie wohnten, zu erschüttern und zu verwunden trachteten. Da heiratete die Kleinmagd auf einen fremden Bauernhof fort, und die neuankommende war in ihrer Art eine Schönheit, braun wie eine Kastanie, frisch und voll Rasse. Sie war aus dem Polnischen und hieß Salscha. Als Arnold sie gewahrte -- sie stand am Brunnentrog und wusch, ihre Bewegungen hatten etwas Rauhes und Herausforderndes -- da besann er sich lange, schaute gegen das sonnebeschienene Gelände und blinzelte mit den Augen. Aber er konnte nicht helfen, es zog ihn hin. Er machte nicht viel Umstände; als er vor Salscha stand, fragte er einfach, ob sie ihn haben wolle, und zwar hatte er dabei einen strengen Ton und sah finster aus, als fordere er etwas, das ihm seit langem gehörte und unrechtmäßig vorenthalten war. Die Magd lachte und ließ ihn stehen. Aber zwölf Stunden darauf war sie die seine. Ohne zu schleichen, ohne Belauern und Überlisten, das war seine Sache nicht, nahm sie Arnold und war bei ihr nachts in der Kammer oder mittags im Heu, wenn alles auf dem Hof unter der senkrechten Sonne schlief. Kurze Zeit glaubte Salscha guter Hoffnung zu sein, doch damit war es nichts. Und als die Glut des Sommers abnahm, verschwand plötzlich Arnolds hastiges Liebesfeuer und Salscha war ihm nichts mehr denn ein leeres Gefäß, dessen Inhalt er hatte trinken müssen, um den eigenen Körper vor Verderben zu bewahren. Sein Herz wurde wieder ruhig. Zweites Kapitel Das Laub zeigte schon alle herbstlichen Farben. Gelb, violett, purpurn und zinnoberrot wogte es in der abendlichen Luft. Ferne Waldstände glichen einem Girlandenbehang in der tiefen Sonne, der Arnold langsam entgegenging. Aus der Ebene ertönte bäuerlicher Gesang, vom leise sausenden Oktoberwind bald verweht, bald überdeutlich gemacht. An einem Tümpel in den Wiesen stand Maxim Specht, der Podoliner Lehrer, und plätscherte mit einem Baumzweig im Wasser. Bisweilen blickte er gegen den Ansorge-Hof, als ob er von dort jemand erwarte. Er war erst seit zwei Monaten in Podolin; Arnold hatte noch nicht mit ihm gesprochen. An der Zauntüre des Hofes angelangt, lehnte sich Arnold lässig an den Pfosten und betrachtete die ruhig vorbeitrippelnden Hühner, die sich langsam nach ihrer Schlafstätte in der Scheune aufmachten und bisweilen leise gackerten, als ob sie einander gute Nacht wünschten. Draußen schob sich Maxim Spechts Gestalt schwarz und scharf zwischen die Ebene und den flammenden Himmel. Kleiderrauschen veranlaßte Arnold, sich umzudrehen. Zu seinem Erstaunen bemerkte er zwei Frauen, die aus dem Tor tretend, an ihm vorübergingen. Die eine der beiden, ein junges Mädchen, lächelte verlegen und verschmitzt mit halbabgewandtem Gesicht. Während er ihnen nachschaute, kam der Lehrer voll Eile den beiden Frauen entgegen und schlug mit ihnen die Richtung nach dem Dorf ein. Als Arnold in die Stube trat, fragte er, wer dagewesen sei. Frau Ansorge wandte ihm langsam das Gesicht zu, das so viele Falten zeigte wie ein Baumblatt Adern. »Sie machen Besuche,« erwiderte sie vorsichtig, »Nachbarsvisite; sie glauben, das muß so sein. Sie haben das Haus des verstorbenen Michael Becker geerbt und sind nach Podolin übersiedelt. Hanka heißen sie.« Ursula brachte das Abendessen, und Arnold setzte sich hungrig zu Tisch. Seine Wißbegierde war befriedigt. Er bemerkte nicht, daß die Mutter durch die neuen Ansiedler nachdenklich geworden war, denn ein neuer Mensch war ihr eine neue Gefahr. Der Pfarrer, der Doktor, die Post- und Gerichtsbeamten waren außer den Bauern die einzigen, die man hier zu Gesicht bekam. Kaum war die Lampe angezündet, als es an die Tür klopfte und Maxim Specht eintrat. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung,« sagte er gewandt und liebenswürdig, »das Fräulein hat einen Schal hier vergessen.« Er lächelte, wobei das Liebenswürdige, Gesellschaftliche noch stärker hervortrat und daneben etwas Überlegenes wie bei jemand, der zu beobachten fähig ist und sich dessen freut. Das Tuch hing über einem Stuhl, und Arnold gab es dem Lehrer. »Es ist sehr gelb, das Ding,« meinte er lachend. Er schnupperte und steckte die Nase in den gestrickten Stoff. »Pfui!« rief er. »Es ist parfümiert,« sagte Specht verwundert. »Finden Sie das schlecht?« Er sah Arnold an wie einen jungen Bären, dessen Kraft und Dressur zu allerlei geschäftlichen Unternehmungen locken. Er hatte in Podolin viel reden hören von dem Leben auf dem Ansorge-Hof. Arnold seinerseits betrachtete das Gesicht des Lehrers, das im vollen Lampenlicht ihm zugewandt war, mit spöttischer Aufmerksamkeit. Er empfand Mißtrauen und zugleich eine unklare Regung der Kameradschaft. Dem Lehrer, der den abweisenden Blick Frau Ansorges auf sich ruhen fühlte, geboten Takt und Bescheidenheit, sich zu entfernen. Mit einer leichten Bewegung warf er das gelbe Tuch über die Schulter, verbeugte sich galant und wünschte gute Nacht. Drittes Kapitel Vor Aufgang der Sonne erwachte Arnold. Als er gewaschen und angekleidet war und in den Stall hinüberging, leuchtete schon der frühe Tag. Er liebte diese Stunde, besonders jetzt, in der Oktoberklarheit und -frische. Die Waldränder am Horizont waren rosig bemalt. Die Rinder wurden zur Tränke geführt, und sie blökten freundlich. Ehe Arnold nach Podolin ging, wo er mit dem Fleischer Uravar wegen einer Kuh unterhandeln sollte, kehrte er ins Haus zurück, um zu frühstücken. Er fand Elasser, einen Hausierer aus dem Dorf, bei Frau Ansorge. Der Jude kam jeden Monat zwei- bis dreimal, um Stoffe und Wolle, auch sonstige Gegenstände für den Haushalt zu verkaufen. Elasser begrüßte Arnold knixend, während er Stirn und Glatze, die trotz des kühlen Morgens schon schweißbedeckt waren, mit einem blauen Tuch trocknete. Sein langhängender brauner Bart verhüllte fast den Ausdruck eines ziemlich gutmütigen Gesichts. Er steckte das Geld, das er empfing, mit liebevoller Sorgfalt in einen schmutzigen alten Lederbeutel, huckte seinen ansehnlichen Pack auf den Rücken, grüßte ehrerbietig und ging. Arnold trank seinen Topf Milch und sagte: »Ich geh' jetzt ins Dorf.« Der Weg wurde leicht in der windstillen und würzigen Luft. Die Welt atmete Frieden. Indem Arnold rege vorwärts schritt, fühlte er sich gelaunt, tagelang zu wandern. Er hob einen dicken Ast auf, der am Wege lag, brach ihn entzwei wie ein Rohr und warf die Stücke in den Fluß, dessen mühselig hinfließendes Wasser nichts von der Reinheit des Himmels wiedergab. Podolin streckte sich lang hin. Die Häuser, arm und schmutzig, entfernten sich nur an einer Stelle von der Straße und bildeten, den Hügelrücken hinan, einen weiten Platz, an welchem die Kirche, das Pfarrhaus, die Schule, die Post und das Gerichtsgebäude standen. Uravar wohnte am Eck hoch oben. Als Arnold in den Laden trat, erblickte er den jüdischen Hausierer, hektisch rot im Gesicht, mit leidenschaftlichen Geberden auf den Metzger einsprechend. Uravar hockte nachlässig, die Hände in den Taschen, auf der Kante des langen Tisches, der mit Blut und Fleisch bedeckt war, knirschte mit den Zähnen und lachte. Sein bartloses Gesicht war rot und glänzend wie das rohe Fleisch; am Kinn hatte er eine Warze mit fünf langen Haaren, welche aussah, als ob beständig eine Kreuzspinne auf seine Lippen zukröche. »Wenn Sie mir nicht geben wollen mein Geld,« sagte der Hausierer, »werd' ich Ihnen verklagen bei Gericht.« Uravar schlug sich auf die Schenkel und zeigte die blendend weißen Zähne. »Judd, geh furt, sonst holl ich Hund,« sagte er und warf einen beifallhaschenden Blick auf Arnold, der still auf der Schwelle stand. Elasser wurde erregt. »Ich fürcht' mich nicht vor Ihrem Hund,« antwortete er. »Ich fürcht' mich nicht einmal vor Ihnen, wie soll ich mich vor Ihrem Hund fürchten. Geben Sie mir mein Geld und die Sach' hat sich gehoben.« Sein Gesicht sah fahl aus, und die Augen fielen kummervoll und ermüdet in ihre Höhlen. Rettungsuchend blickte er an Arnold vorbei auf den öden Platz, als Uravar sich von seinem Sitz herabschnellte und mit ausholenden Schritten auf ihn zuging. Er packte Elasser mit beiden Armen um den Leib, hob ihn empor und schleppte ihn gegen die Türe. Aber zwei Hände klammerten sich mit solcher Kraft um seine dicken Schultern, daß die Schlüsselbeinknochen krachten und zurückgedreht wurden. Mit einem Wutgebrumm ließ Uravar den Juden zur Erde gleiten, drehte sich schwerfällig um, den Kopf geduckt und blickte Arnold, der ihn nun losgelassen hatte, tückisch an. Arnold erwiderte den Blick mit solcher Ruhe, daß der brutale Mensch fast demütig den Kopf duckte und das Kinn herabzog, wodurch die Kreuzspinne mutlos zusammenschrumpfte. Elasser huckte keuchend seinen Pack auf. »Der Herr wird dafür zu büßen haben,« sagte er, auf Uravar deutend. »Einem Besoffenen und einem Heuwagen muß man ausweichen, heißt es. Aber gegen Gewalttätigkeiten sind da die Gerichte.« Er nickte Arnold zu und verließ den Laden. Angewidert und nicht imstande mit dem Fleischer zu reden, trat Arnold auf den Platz hinaus und sah gedankenvoll hinunter, die Augen gegen die blendende Sonne mit der Hand beschirmend. Trotzdem kam es ihm vor, als sei der Sonnenschein trüber geworden. Hinter den Kindern, die jetzt dem gegenüberliegenden Schulhaus entströmten, wurde Maxim Specht sichtbar. Er schritt ohne weiters auf Arnold zu und sagte mit anerkennendem Ausdruck: »Sehr schön, sehr gut. Ich habe vom Fenster aus zugesehen. Endlich einmal hat dieser Kerl eine Lektion erhalten.« Er lachte meckernd, wobei seine Augen ganz klein wurden und freundschaftlich glänzten. Dann lud er Arnold ein, ihn ein Stück Wegs zu begleiten; oft schon hätte er sich eine nähere Bekanntschaft gewünscht, sagte er. Obwohl sein Anzug ärmlich war, sah er darin adrett aus; im Gespräch war er ungezwungen und zugleich zurückhaltend. Er war sehr neugierig in bezug auf alles, was Arnold betraf. »Wie können Sie denn das aushalten hier, das eintönige Leben?« fragte er. »Was tun Sie denn den ganzen Tag über?« Arnold gab, so gut er konnte, Auskunft. »Sie sind also eine Art Verwalter auf dem Gut Ihrer Frau Mutter?« meinte Specht. »Und wird Ihnen das nicht langweilig?« »Langweilig? Nein; langweilig ist es nicht!« »Waren Sie nie in der Stadt?« »Nein.« »Überhaupt noch nicht? Wie merkwürdig! Dem Äußern nach sind Sie doch ein Städter. Ihre Sprache, Ihr Gesicht, Ihr Benehmen, alles ist wie bei einem Städter. Sehr merkwürdig!« »Ist denn das so etwas Besonderes, ein Städter?« erkundigte sich Arnold. »Na, etwas Besonderes ... das will ich nicht gerade sagen. Aber wenn Sie die Stadt noch nicht kennen, da steht Ihnen ein großer Genuß bevor. Haben Sie noch nie Sehnsucht danach gehabt? Nein! Wie merkwürdig! Ich sage Ihnen, es ist etwas Herrliches um so eine große Stadt. Theater, Konzerte, reiche Leute, schöne Damen, Paläste, Kirchen, kolossale Straßen und abends ein Lichtermeer! Das können Sie sich nicht vorstellen. Es ist wie ein Traum. Hier versumpft man ja, glauben Sie mir.« Verwundert schüttelte Arnold den Kopf. Da es ihm zu heiß wurde, zog er seine Lodenjacke aus, wobei er stehen blieb und den Lehrer durchdringend und verständnislos anschaute. Sie waren gegen die Nordseite vors Dorf gekommen. An der Straße lag eine Art Meierhof: ein schmuckes Wohnhaus, Stall, Scheune, alles sauber und neu umzäunt. Wie eine appetitliche Speise auf dem Teller lag das kleine Gut in der Ebene. Unter dem Haus stand ein junges Mädchen, auf den Lippen ein Kinderlächeln. Als Specht sich von Arnold verabschiedet hatte, schlug sie den gelben Schal fester um Brust und Schultern und ging dem Lehrer entgegen. Viertes Kapitel Es war Nachmittag; Arnold saß am Fluß und schaute ruhig nach der Angelschnur, die sich in weitem Bogen zum Wasser senkte. Er hatte das Hemd über der Brust geöffnet; es war ungewöhnlich schwül geworden. Nicht das kleinste Fischlein wollte sich verbeißen; den schwarzen Fluß kräuselte keine Welle. Der Himmel hatte sich umzogen; über den schlesischen Wäldern lag ein Wetter. Salscha, vom Dorf herkommend, blieb neben Arnold stehen und fragte ihn, was er mit dem Fleischer Uravar gehabt habe, der schimpfe wie ein Teufel auf ihn. Arnold brummte etwas vor sich hin. Weshalb er sich da hineinmische, fuhr das Mädchen fort, dem Juden werde er ja doch nicht zu seinem Recht verhelfen können. »So? warum denn nicht?« fuhr Arnold auf. Na, die Juden seien eben keine rechten Menschen, sie behexten das Vieh und zu Ostern schlachten sie Christenkinder. »Dumme Gans,« murmelte Arnold verächtlich. »Der Jud ist arm, hat neun Kinder zu Haus und wenn er zu Gericht geht, wird er auch sein Recht bekommen.« »Natürlich, als ob das Recht bei den Gerichten so billig wäre!« höhnte Salscha. Arnold zuckte die Achseln und schwieg. Salscha setzte sich auf einen Stein neben Arnold, die Knie unter den Röcken weit voneinander, die Augen nicht von ihm wendend. Weit und breit war kein Mensch zu sehen; eine Viertelstunde der Liebe schien erwünscht. Aber endlich merkte sie die Kälte Arnolds. Mit bösem Blick schielte sie nach der Angel, stand auf und ging. Lange noch hörte Arnold ihr gleichmäßiges und erzürntes Trällern über die Wiesen klingen. Arnold schnellte die Angel aus dem Wasser und machte sich auf den Heimweg, da der Regen nahte. Über Podolin wetterleuchtete es. Er schulterte die Rute und schritt fest über den dürren Ackerboden. Frau Ansorge saß bleich in der Mitte des Zimmers, als er eintrat, denn sie fürchtete Gewitter, besonders die des Herbstes. Aber die Wolken verzogen sich wieder. Arnold erzählte, daß ihn der Lehrer in Podolin angesprochen und ihm mit allerlei wunderlichen Ausdrücken von dem Leben in der Stadt vorgeschwärmt habe. Frau Ansorge runzelte finster die Stirn. »Der Windbeutel«, sagte sie; »er soll seine frischgebackene Weisheit für sich behalten.« Sie stellte sich ans Fenster und blickte gegen den Himmel, wo ein Regenbogen stand. »Komm einmal her, Arnold,« sagte sie. Arnold trat an ihre Seite. »Siehst du den Regenbogen? Jetzt steht er schön und groß vor dir. Kommst du zwischen Gassen und Häuser, so bleibt nicht mehr viel von ihm übrig. Und so viel deine Augen davon verlieren, so viel Glück und Ruhe verlierst du selber. Und die Stadt, das ist nichts andres als eine Unmenge von Gassen und Häusern. Sie verwirren dich nur, die Windbeutel, sie sind leer wie gedroschenes Stroh.« Fünftes Kapitel Hankas, die neuen Bewohner von Podolin, hatten Besuch. Der Bruder von Agnes Hanka, Alexander, war aus Wien gekommen. Er wollte nur drei Tage bleiben; Erbschaftsangelegenheiten waren zu besprechen. Auch wegen Beate kam er, die seine Schutzbefohlene war. Agnes hatte sie einst auf seinen Wunsch zu sich genommen. Vor Jahren hatte er die arme Waise den Händen böswilliger Verwandten entrissen, der Familie seines Gutsinspektors in Böhmen. Alexander Hanka, den alle Welt für die Vernunft und Hausbackenheit selber hielt, hatte damals phantastische Pläne gefaßt. Ein Ideal schwebte ihm vor: ein von der Gesellschaft losgelöstes Weib, innerlich frei und kräftig, unverblendet und natürlich, das er für sich, für ein von der Gesellschaft losgelöstes Leben auferziehen wollte. Seitdem waren acht Jahre verflossen, und er sah auf sein ehemaliges leichtgläubiges Ich etwas gelangweilt herab. Beate selbst fand diese gleichmütige Gesinnung sehr bequem. Wer nicht dankbar zu sein braucht, ist wenigstens ehrlich; sie schätzte den Beschützer, denn sie wußte, was sie an ihm hatte, und war zutraulich gegen ihn. Als Doktor Hanka in Podolin ankam, stand die Sonne schon tief im Westen. Harzgeruch würzte die Luft, Bauern gingen vorbei und grüßten. Am Rain weideten Kühe und blickten mit Ruhe und Mißbilligung auf den städtischen Ankömmling. Agnes und Beate waren nicht zu Hause. Hanka erfuhr, daß seine Schwester beim Pfarrer, Beate man wisse nicht wo sei. Damit gab er sich zufrieden, setzte sich auf die Bank vor dem Haus, rauchte, schlug die überaus langen Beine übereinander und wartete. Die Stille und der große Himmel, dessen Anblick in solchem Umfang ihm ungewöhnlich war, ließen ihn seine anfängliche Verdrießlichkeit über den Landausflug vergessen. Während er noch in Nachdenken versunken war, es fing schon an zu dämmern, klang ein überraschtes Ach an seine Ohren. Beate stand hinter ihm und mit ihr war Maxim Specht gekommen. Beate, indem sie eine ungeschickte Tanzstundenhöflichkeit annahm, machte die beiden Männer miteinander bekannt. Der Lehrer und Beate sahen belustigt und aufgeräumt aus. Mit offenbarem Vergnügen an seinem Talent, Erlebtes wiederzugeben, erzählte Specht, daß sie auf der Lomnitzer Straße Arnold Ansorge begegnet seien und sich sehr gut dabei unterhalten hätten. »Er fragte, ob ich schon einen Liebhaber hätte,« platzte Beate lachend heraus. »Nicht was er sagt, ist so amüsant,« erklärte Specht, »sondern wie er zuhört, wie er verwundert ist, wie er jedes Wort bedenkt. Er ist nicht dumm.« »Wer ist Arnold Ansorge?« fragte Hanka kühl, dem die Art Spechts nicht sympathisch war. Indes kam auch Agnes Hanka. Bruder und Schwester begrüßten einander herzlich, Alexander mit der ihm eigenen Gravität und spöttischen Zurückhaltung, Agnes mit einem Ausdruck unbegrenzter Hochachtung vor dem Bruder. Da sie schwerhörig war, redete sie wenig, aus Furcht, mißzuverstehen und aus noch größerer Furcht, denjenigen allzusehr zu bemühen, mit dem sie sich unterhielt. Alle vier gingen ins Haus. Specht verabschiedete sich bald. Sein Taktgefühl sagte ihm, daß er überflüssig, und seine Empfindlichkeit, daß Hanka nicht zufrieden sei mit der Anwesenheit eines Fremden. Als Specht gegangen und Agnes in der Küche beschäftigt war, erkundigte sich Hanka bei Beate nach dem Lehrer. Beate blickte den umherstolzierenden Frager mit damenhafter Nachlässigkeit an. Sie hatte die Hände über den Knien verschränkt, saß vorgebeugt und trippelte leise mit den Fußspitzen. Sie begann von Specht zu schwärmen, der arm sei, aber nach ihrer Überzeugung es zu etwas Großem bringen würde. Nur die Not habe ihn hierher verschlagen, bald wolle er die Schulmeisterei an den Nagel hängen. »Er ist ein Sozialist,« fuhr sie flüsternd fort, »aber das sag' ich dir nur im Vertrauen, es soll Geheimnis bleiben.« Hanka blieb mit gespreizten Beinen vor ihr stehen, wiegte sich in den Hüften, schmunzelte gutmütig und um seinen vollen, weichen Mund zuckte die Ironie wie in kleinen Schlänglein. Sogar in den Bewegungen seines langen, hagern Körpers drückte sich Wohlwollen und Spott aus. Zum erstenmal heute sah er Beate voll und deutlich an; sie gefiel ihm, besonders behagten ihm die schmalen, schwarzen Linien der Brauen über den perlmutterglänzenden Augen. Darauf erblickte er sein eigenes Bild, denn hinter dem dunklen Kopf des Mädchens hing der Spiegel. Nie glaubte er Häßlicheres gesehen zu haben; eine dicke, lange Nase, eine niedere Stirn; ein blasses Mephistogesicht. Bestürzt wandte er sich ab. »Wir haben uns ja schon zwei Jahre lang nicht gesehen,« sagte er. »Wie geht's dir denn, Beate? Einmal schrieb mir Agnes, du hättest dich fortgestohlen, um zu tanzen. Wie verhält sich das?« Seine vor Fülle vibrierende Stimme mit den tiefen O-Lauten erregte Beates Lachlust. »Es macht mir jetzt gar keine Freude mehr zu tanzen,« log sie und kettete gleich eine zweite Lüge bequem an: »ich lese nämlich sehr viel.« »Hm--m, Herrn Spechts Einfluß,« sagte Hanka mit hölzerner Würde. Zugleich sah er im Geist den jungen Lehrer mit dem gutrasierten Gesicht und dem flinken Benehmen. Die Fenster waren offen, die kühle Herbstluft strich herein, die Lampe brannte freundlich, und altvertraute Bilder schauten von der Wand. Beate nahm fleißig tuend einen Strickstrumpf und Agnes steckte den vom Herdfeuer erhitzten Kopf durch die Türspalte, um zu erfahren, ob Alexander auch den richtigen Hunger habe. Hanka stellte allerlei Betrachtungen über das Landleben an, rauchte schweigend seine Zigarette und sandte bisweilen einen kurzen Blick nach Beate. Agnes trug zu essen auf, wie für eine Soldaten-Kompanie. Dabei entschuldigte sie sich, daß sie dies oder jenes nicht habe bekommen können. Beate reichte Hanka eine Schüssel um die andere, so daß er sich in eine Art Betäubung hineinaß. Er schob die Lippen vor, machte eine Schnauze, drehte den Hals wie eine Ente im Wasser und sagte, es tue ihm leid, daß er morgen schon wieder abreisen müsse. Beate wiederholte es lauter für Agnes und diese sah ihn vorwurfsvoll an. Das junge Mädchen ging bald schlafen, und die Geschwister hatten eine ernsthafte Unterredung. Mitten darin verlor sich Hankas Geist in die Breite und spielte mit den lichten Gestalten eines Traumzustandes. Oben am Haus öffnete sich ein Fenster. Beates Stimme sang ein Lied, das sie von den Tschechinnen gelernt hatte. #Kudy, kudy, vede cesticka Pro mého Jenicka ...# Der Liebste ist zwar in die Ferne gegangen, bedeutet es, um sich eine Reiche zu suchen, aber das kann nicht hindern, ihn noch weiter zu lieben. Sechstes Kapitel Da in der Nacht leichter Frost eingetreten war, umhüllte Arnold am Morgen die Fruchtstöcke für den Winter mit Stroh. Salscha half ihm, trug das Stroh aus der Scheune und legte es in lange Bündel. Sie war mürrisch und traurig und suchte Arnold durch Gleichgültigkeit aufmerksam zu machen. Er stand auf der Leiter, und während er den Arm hinunterstreckte, um ein Bündel zu ergreifen, begegnete er Salschas Blicken. Die Polin wurde blaß, zog die Lippen von den Zähnen zurück und stieß einen leisen Pfiff aus. Eine Sekunde lang stand sie noch schweigend, dann kehrte sie um, ging ins Haus, trat entschlossenen Schrittes vor Frau Ansorge hin mit der Miene eines Menschen, der endlich einmal viel zu sagen hat. Frau Ansorge legte die Stickerei auf den Schoß und lächelte Salscha entgegen. Dadurch wurde das Mädchen um alle Fassung gebracht, sie hielt den nackten Arm vor die Augen und fing an zu schluchzen. Das Lächeln auf Frau Ansorges Lippen nahm nacheinander jeden Ausdruck der Frauenhaftigkeit an: Mitleid, Spott, Ratlosigkeit und leichte Geringschätzung; dahinter gleich einem feinen Schimmer die Freude über den, der solche starke Kränkung zufügen konnte. Sie stand auf, räumte ihre Arbeit beiseite, legte beide Hände auf die Schulter der Magd und sagte: »Das vergeht schon, Salscha. Gott hat tausend andere für dich erschaffen. Sei nur stille jetzt, heut ist Kirmes, ich schenk' dir einen neuen Unterrock.« Arnold war von der Leiter gestiegen. Gleichmütig stieß er mit dem Fuß das Stroh aus dem Weg und wandte sich zum Gartentor, da er dort einen Mann stehen sah, der ein junges Mädchen an der Hand führte. Als er näher kam, erkannte er Elasser, den Hausierer. Ängstlich und demütig entblößte der Jude das kahle Haupt und fragte Arnold, ob er Zeugenschaft vor Gericht ablegen wolle gegen Uravar. Trotz seiner Ehrerbietung war er kurz, trotz der süßen Freundlichkeit war in seinen Mienen zu lesen, daß es für den Gebetenen keinen Ausweg gab, als zuzusagen, wenn es so weit kam. Arnold dachte nicht an anderes. Er blickte das Mädchen an, das Elasser mit sich führte, und der Gegensatz, in dem die winzige Gestalt und die frühreifen Züge standen, erschreckte ihn fast. »Sag dem Herrn Dank, Jutta,« murmelte Elasser und schüttelte den Arm des Mädchens. Die Kleine betrachtete Arnold mit einem prüfenden und furchtsamen Seitenblick. Sie war dreizehn bis vierzehn Jahre alt und mit ihren etwas schwärmerischen Augen schien sie wie ermüdet von den Lasten der Generationen, die gleichsam das natürliche Wachstum ihrer Gestalt verhindert hatten. Am Nachmittag ging Arnold ins Dorf. Gassen und Platz waren vom Kirchweihdunst erfüllt. Aus der ganzen Umgegend waren die Bauern zusammengeströmt. Geschrei und Musik waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Die Wirtsstuben konnten ihre Gäste nicht fassen, die überall im Flur und auf der Gasse hockten, auf Fässern, Blöcken, Ballen und Balken, schrien, spielten, handelten und Lieder johlten. Die Drehorgeln quietschten, die Heringbrater schrien und Kinder schlüpften wie Eidechsen um die Beine der Erwachsenen. Aus der geöffneten Kirchentür strömte der Weihrauch in den Heringsgestank, und mit bunten Fähnchen und schläfrigem Gesang kam eine Prozession heraus, die sich im Gedränge kaum vorwärts schieben konnte. Einige in der Nähe bekreuzten sich, knixten und stürzten wieder in den Trubel. Dabei wurde es Abend. Die Menge staute sich immer mehr. Arnold wurde in den Flur des »goldenen Stern« gedrückt, wo Tanzmusik erklang. Ein Mann schrie verzweifelt, seine farbigen Ballons waren in die Luft geflogen. Fünf Mägde, Arm in Arm wie Soldaten, schwenkten aus dem Tor und sangen lachend ein Lied. Hinter ihnen stand plötzlich Maxim Specht und winkte Arnold lächelnd zu. Er wollte folgen, aber ein Verkäufer von Zaubertränken versammelte die Zecher um sich, und der Durchgang war versperrt. Als er neben sich blickte, sah er auch den jüdischen Hausierer. Seine traurige Gestalt, das unbewegt demütige Gesicht und die nüchtern und gefaßt prüfenden Augen wirkten so befremdlich in dem Haufen, daß Arnold ihn fragte, was er da suche. Elasser gab mechanisch Auskunft, als wenn er bisher mit niemandem hätte über etwas sprechen können, was ihn sehr zu bedrücken schien. Seine Tochter Jutta sei vom Hause weg, erzählte er mit einer fast geschäftlichen Freundlichkeit. Seit er vom Hof des gnädigen Herrn Ansorge zurückgekommen, sei sie verschwunden. Am Sonntag helfe sie manchmal beim Wirt Gläser spülen, aber sie sei nicht da. Wunderlich genug, daß Arnold auf einmal Sorge um das gesuchte Mädchen empfand, als ob er sich hier an Menschliches klammern müsse, wo er nur betrunkene Tiere sah. Er wurde nachdenklich und sah diese winzige Jutta irgendwo im Wald verirrt. Er wollte fragen, aber Elasser war schon fortgedrängt und Arnold befand sich neben der Saaltüre, dicht neben Specht und Beate. Specht faßte ihn sofort unter und fragte vertraulich, wie es gehe. Verlegen zuckte Arnold die Achseln, denn er fand keinen Tonfall gegenüber dieser unerwarteten Liebenswürdigkeit. Neugierig sah er auf die Füße der Tanzenden, denn die plumpen, gespreizten, lächerlichen und wilden Bewegungen reizten immer seine Schaulust. Oben auf einer Estrade hockten wie Kobolde die Musikanten, durch den Dunst halb verwischt. Beate wandte sich erhitzt mit derselben unerklärlichen Vertraulichkeit, aber mit einem geheimnisvoll tückischen Glanz in den Augen zu Arnold und fragte, ob er denn nie beim Jahrmarkt gewesen sei, weil er so erstaunt starre. Auch die Schnelligkeit und falsche Heiterkeit, mit der sie redete, hatten etwas Unerklärliches. »O ja,« antwortete Arnold gelassen, »aber ich habe es vergessen.« In der Tat, für ihn war ein Jahr eine unübersehbare Spanne Zeit. Beate tanzte mit einem Bauernburschen von riesenhaftem Wuchs davon. Der heiße Saal mit seinen trüben Lichtern glich einer kleinen Hölle. Bald schien es Arnold, als drehten sich die Wände statt der Menschen. Er stand am Schanktisch, konnte weder vor- noch rückwärts, blickte zwischen Köpfen hinweg, über zuckende Schultern in den Dampf. Die Wirtin stellte Bier vor ihn hin; er hatte Durst, zahlte und trank. Er sah Beate vorbeifliegen, und ihre Röcke wehten. Der Bauer schien sie zu tragen, und seine großen Stiefel polterten vernehmbar vor allen. Dann standen auf einmal wieder sie und der Lehrer dicht vor ihm. Beide sahen ihn nicht. Specht hatte das Mädchen am Oberarm gefaßt und knirschte etwas durch die Zähne. Seine Unterlippe bewegte sich leidenschaftlich. Beate antwortete ihm mit einem langen Blick, der zugleich nachlässig, verliebt, unentschieden und von äußerster Wildheit war. Ihre Haare klebten an der Stirn, ihre Halsader pochte, ihre Ohren waren purpurrot, das Gesicht blaß. Zwei betrunkene Bauern, die tschechisch lallten, verdeckten gleich darauf die beiden für Arnolds Blicke. Er drängte sich zur Türe durch. Er war schon im Freien, als er eine Stimme hinter sich vernahm. Es war Specht, der seinen Arm abermals in den Arnolds schob und höflich bat, mitgehen zu dürfen. Arnold wußte nichts zu entgegnen. Die Welt ist für jedermanns Füße, dachte er. Er hörte den Lehrer keuchen von der Anstrengung des Nachlaufens. »Bleiben wir doch noch zusammen,« bat Specht wiederum. »Ich möchte nicht gern allein sein. Es ist erst sieben Uhr und wir könnten ganz gut noch einen Spaziergang machen.« Arnold nickte, halb neugierig, halb gleichgültig. Bald hatten sie den Lärm hinter sich. Trotz der Dunkelheit war der Weg deutlich, denn der Viertelsmond stand im Westen. Der Frieden der Felder schien vertausendfacht durch das nun verklungene Marktgetöse. Siebentes Kapitel »Elende Bauern,« sagte Specht, nachdem sie eine Weile lang schweigend gegangen waren. »An einem einzigen Sonntag werfen sie fort, was sie einen ganzen Sommer lang zusammengescharrt haben.« Er redete in Wut und Haß und warf irgend eine Anklage, die mit seinen Gefühlen gar nichts zu schaffen hatte, irgendwohin. Arnold schwieg. »Und was ist das überhaupt für ein Leben!« fuhr Specht mit einer verzweifelten Bewegung seines ganzen Körpers fort. »Wer bin ich hier? Was soll ich hier? Lauter Bauern, lauter Dummköpfe! Kein Mensch, mit dem man ein richtiges Gespräch führen kann. Pfui Teufel.« Er ärgert sich, weil sein Mädchen mit einem andern getanzt hat, dachte Arnold, was macht er solches Wesen davon. »Ich wundre mich nur, daß Sie's hier aushalten,« sagte Specht, »Sie sind doch auch schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Das ist doch keine Existenz für Sie. Sie müssen hinaus in die Welt. Man braucht Männer heutzutage.« »Mir ist ganz wohl hier,« gab Arnold ruhig zur Antwort. Das Dorf war längst verschwunden, sie schritten schweigend am Waldrand entlang. Die Wiesen glänzten silbern, Mondnebel erfüllten die Luft. Dicht vor ihnen tauchten die Mauern des Felizianerinnen-Klosters auf; über dem hohen Tor glänzte ein Kreuz. »Wir sind sehr weit,« sagte Specht bedenklich. Mit verborgener Bewunderung heftete er den Blick auf Arnold, der ihm gegenüberstand, die Füße in schreitender Stellung, das Gesicht mit einem Ausdruck des Lauschens emporgewandt, das braune Haar aus der Stirn gestrichen. Die etwas lange, gerade, aber breitrückige Nase verlieh dem Gesicht einen durchaus reifen Charakter. Der Lehrer riß einen Zweig ab und zerbog ihn. Seine Haltung war sinnend und schwermütig. Ihm war, als sei sein Gemüt gereinigt worden, und er hörte mit ganz anderm Ohr das Rauschen, welches der Wind in den Baumkronen verursachte. Seine Qualen rückten auf ein anderes Ufer, vor ihm floß ein Strom der Einsamkeit. Sie gingen ein Stück weiter bis zum Fuße der Klostermauer. Dort setzte sich Specht auf eine Steinbank und erzählte von seiner Tätigkeit als Lehrer, von seinen Wünschen und Träumen, von seinem sozialen Ideal, das ihn anderswo hinweise als in mährische Einöden. Er erzählte von seiner Bibliothek, von seinen mit Studien verbrachten Nächten und deutete dumpf und schamvoll sein kümmerliches Auskommen an. Sein Ton war einfach, wenn auch durch die Nacht etwas gedrückt. Ihm war, als müsse er diesem Menschen beichten, und er vergaß die jüngeren Jahre Arnolds. Leicht erzeugt ohnedies eine solche Stunde festere Brücken zwischen Männern, als etwa ein Beisammensitzen im Sonnenschein. Freilich nicht bei Arnold, den keine innere Enge trieb, sich mitzuteilen. Aber da es für ihn nichts Längstbekanntes gab, kein alltägliches Schicksal, lauschte er dem Lehrer mit Interesse. Endlich erhob sich Specht und meinte, es sei doch Zeit, nach Hause zu gehn. Während des Heimwanderns brachte er noch vielerlei vor, denn er hatte einen regen, lebendigen Geist, und mit Unrast suchte er Beziehungen und wünschte Sympathien. Achtes Kapitel Am andern Morgen, als Arnold und Frau Ansorge beim Frühstück waren, kam Ursula und erzählte, die Felizianerinnen hätten die Tochter des Juden Elasser zu sich ins Kloster gebracht. »Vierzehn Stunden haben die Leute nicht gewußt wo ihr Kind ist,« sagte sie. »Erst heut Nacht haben sie es durch einen Zufall erfahren.« »Und was ist dann geschehen?« fragte Arnold. »Der Jud ist mit dem Gendarmerie-Wachtmeister Wittek ins Kloster gegangen. Man hat sie aber nicht hineingelassen.« »Eine wunderbare Geschichte,« bemerkte Frau Ansorge spöttisch. Arnold erinnerte sich seiner gestrigen Begegnung mit dem Hausierer und an dessen beklommenes Wesen. »Man kann doch nicht ohne weiteres ein Mädchen rauben,« sagte er verwundert. »Wahrscheinlich soll das Judenkind getauft werden,« antwortete Ursula. Der Bäcker aus Podolin, der gleich darauf kam, bestätigte das Vorgefallene. »Ich versteh das nicht,« sagte Arnold in wachsender Verwunderung zu seiner Mutter. »Können die vom Kloster ein Kind einfach stehlen?« Frau Ansorge zuckte die Achseln. »Man kann es doch nicht taufen, wenn die Eltern nicht wollen.« »Vielleicht will das Mädchen selber. Wenn es vierzehn Jahre alt ist, braucht man die Einwilligung der Eltern nicht.« »Wenn es aber nicht will? Dann müssen Sie es wieder entlassen, wie?« Frau Ansorge zuckte abermals die Achseln. »Was gehen uns die fremden Leute an,« entgegnete sie gleichgültig. Gegen Mittag machte sich Arnold auf den Weg nach dem Dorf. Auf dem Hauptplatz blieb er eine Weile unschlüssig stehen. Dann, fast wider Willen trat er in den Ullmannschen Schnapsladen an der Ecke. Bauern, Knechte, Tagelöhner, Unterstandslose, ja sogar ein paar Weiber saßen dort und machten Lärm. Arnold ließ sich ein Glas Tschai geben. Ein alter, dicker, gichtiger Bauer, der weithin nach Schnaps roch und dessen Mund verzogen war, als hätte er Zitronensaft auf der Zunge, sagte, jetzt sei die Zeit gekommen, und endlich werde dem Juden der Garaus gemacht. Getauft oder verbrannt, schrie ein Bursche, dem die bloße Brust durch das zerrissene Hemd schien. Der Ladenbesitzer, selber ein Jude, mit einem Bart, der dünn und kranzartig um das ganze Gesicht lief, lachte mit weit aufgerissenem Mund. Eine pockennarbige Bäuerin behauptete, der Papst und der Erzbischof hätten den Felizianerinnen strenge befohlen, alle Judenkinder zu taufen. Arnold fragte den geleckt und hungrig aussehenden Geschäftsgehilfen nach der Wohnung Elassers und verließ dann den Laden. Podolin, aus einer langgestreckten Reihe niedriger Häuser bestehend, hatte nur eine einzige Seitengasse und dort, dicht am Flußufer, wohnte Elasser. Die abschüssige Gasse war fast ungangbar durch Misthaufen, Kotpfützen, Schottergestein und umhergackerndes Geflügel. Von den Mauern des Elasserschen Häuschens war der größte Teil der Mörtelbekleidung abgefallen. Arnold ging durch die offene Haustüre in ein gleichfalls offenes Zimmer zur Rechten, wo sich ihm ein ebenso wunderbarer als trauriger Anblick bot. Neuntes Kapitel Samuel Elasser hockte zusammengekauert, die Knie fast bis zur Brust emporgezogen, im Winkel eines schmutzigen Kanapees. Er hatte mit beiden Händen das Gesicht so vollständig bedeckt, daß darunter nur der braune Bart hervorquoll. Auf dem Kopf trug er ein altes, hintübergeschobenes Seidenkäppchen mit einer Quaste. Um ihn herum standen wie in einem abgemessenen Halbkreis sechs Kinder und blickten regungslos auf die kauernde Gestalt ihres Vaters. Eines von zwei Jahren kroch halb spielend, halb winselnd über die Dielen und ein Neugeborenes lag eingehüllt in bunte Lappen, die wiederum durch einen grünen Gürtel zusammengehalten waren, auf einer breiten Bank neben dem Ofen. Die Frau stand vor dem Fenstersims und bewegte betend die Lippen und den Oberkörper. Außer dem Gelalle des kleinen Halbnackten war kaum ein deutlicher Laut vernehmbar. Auf dem Tisch standen acht blecherne Kaffeetassen, an einem Strick vom Ofen zur Wand hingen rote Windeln zum Trocknen und der Türe gegenüber nahm ein uralter Schrank den fünften Teil des Raumes ein. Nachdem Arnold einige Minuten ruhig auf der Schwelle geblieben war, trat er ins Zimmer. Sogleich drängten sich die sechs Kinder in einen Knäuel zusammen. Elasser ließ die Hände vom Gesicht fallen und blickte den Fremdling mit glasigen Blicken an. Arnold war etwas verdutzt über die gepreßte Trauer und düstere Niedergeschlagenheit, die hier herrschten. Er forschte unter den Gesichtern der Kinder und als er das ihm bekannte der kleinen Jutta nicht erblickte, fragte er: »Ist sie noch nicht zurück aus dem Kloster?« Die Frau drehte sich um und heftete aus ihren hervorquellenden, ermüdeten Augen einen ungewissen und furchtsamen Blick auf Arnold. »Weiß der Herr nicht, daß unsere Jutta geschleppt worden ist mit Gewalt ins Nonnenkloster?« rief sie mit einer überscharfen Stimme. Ihre Züge, obwohl alt und häßlich, entbehrten nicht des Reizes, den das Leiden in jeder Form zu erteilen vermag. Arnold blickte die Frau aufmerksam an. »Ja ja,« erwiderte er, »aber das ist doch gegen das Recht.« »Sehn Sie nur an,« fuhr die magere Jüdin fort und hob sibyllenhaft den Kopf, »wie es bestellt ist mit dem Recht. Für die armen Leute gibt's kein Recht, für arme Juden gibt's gar kein Recht. Und mit was kann ich dienen? Mit wem hab ich das Vergnügen?« »Es ist der gnädige Herr Ansorge,« klärte Elasser auf, mit einer Geberde, die ebensowohl für ehrfürchtig als für kummervoll gelten konnte. »Der Herr kommt nicht in schlechte Absichten, Mutter. Erinnern Sie sich, gnädiger Herr, wie ich meine Jutta hab gesucht Sonntag? Wir haben gewartet und gewartet und wer nicht gekommen is, war unsere Jutta. Und der ganze Abend ist geflossen un endlich gegen elf is gekommen der Gehilf vom Uravar und klopft da draußen und meint, wir sollen doch einmal nachfragen im Kloster. Und ich denk mir noch und denk mir noch, 's ist wahr, sie kann sein gegangen mit die Bänderchen zu den Nonnen, denn sie ist allein hausieren gegangen, und solche Sachen sind schon bereits vorgekommen, und der Gehilfe, der 's Fleisch bringt ins Kloster, kann sie dort gesehn haben. Gnädiger Herr meine Tochter ist eine gute Jüdin, warum soll sie bei den Nonnen geblieben sein? Und es war Mitternacht, bin ich noch gegangen und der Herr Wachtmeister, ein freundlicher Herr, ist mit mir gegangen ins Kloster. Und wir verlangen die Oberin zu sprechen, aber die Schwester Pförtnerin sagt, wir sollen kommen in der Früh und meine Jutta wäre da. Und der Herr Wachtmeister sagt, warten wir bis in der Früh. Gut. Sie können sich denken, daß wir kein Aug zugemacht haben die ganze Nacht, und in der Früh um sechs bin ich abermals wieder gegangen mit dem Herrn Wachtmeister und verlang zu sprechen die Oberin. Un sie kommt und ich verlang zu haben mein Kind. Und gnädiger Herr, glauben Se mir, mein Herz is still gestanden, sie sagt, ich soll kommen in fünf Tagen, bis sich das Mädchen besser gewöhnt haben wird an die neue Umgebung.« Elasser wand sich, als ob ihn die Eingeweide brennten. »Un so bin ich fortgegangen,« schloß er und atmete tief. »Und der Wachtmeister?« fragte Arnold, dessen Gesicht sich verfärbt hatte. »Der Herr Wachtmeister is ein freundlicher Herr, aber er hat gesagt, leider, es ist vorläufig nichts zu machen. Man muß warten. So wart ich.« Der Säugling auf der Ofenbank erwachte und begann ein dünnes Geheul, bis die Mutter hinging und ihm ein in Honig getauchtes, kugelartiges Leinwandstück in den Mund steckte. Auch das auf dem Boden kriechende Kind fing an zu weinen. Die Frau blickte gleichgültig herab, gab ihm mit dem Bein einen leichten Stoß, und als es platt auf der Erde lag, rollte sie es mit dem Fuß gleich einem Fäßchen hin und her. Das Kind lachte, während die Mutter leise summte und mit der Hand den Säugling wieder in Schlaf schüttelte. Elasser erhob sich, nachdem er lange vor sich hingebrütet hatte und blickte Arnold ohne jede Schüchternheit mit funkelnden Augen an. »Was soll ich tun, lieber Herr,« sagte er dumpf und sein demütiger Tonfall wirkte sonderbar im Gegensatz zu seinem Aussehen. »Kann ich mir helfen, sagen Sie selber? Wenn sie sagt, ich soll kommen in einem Jahr, kann ich mir helfen? Und wenn ich keine Nacht mehr schließ ein Auge, kann ich mir helfen, lieber Herr?« Er ging auf und ab. Arnold verfolgte ihn mit den Blicken. Er begriff nicht, begriff nichts. Diese Verzweiflung schien ihm unverständlich. »Papa,« rief jetzt der älteste Knabe mit finsterer Entschlossenheit, »hör auf zu reden, bitt dich, vor dem Christen.« »Keine Ruh will ich haben, keine ruhige Stunde, bis sie mir nicht mein Kind gegeben haben!« rief Elasser mit scheuer Leidenschaftlichkeit. »Und wenn ich bis Wien zum Herrn Kaiser gehen muß, un wenn ich hungern un dürsten muß.« »Und sollen Weib und Kinder gleichfalls hungern?« fragte die Frau mit streng zusammengezogenen Brauen. »Schämen Sie sich doch,« sagte Arnold laut und blickte verdrießlich von einem zum andern, »gibt es denn kein Gericht? Jeder Richter muß Ihnen das Kind zurückgeben, sobald es das Gesetz verlangt.« Draußen wurden Schritte laut und drei jüdische Männer betraten den Raum, wobei sie Gebete murmelten. Arnold ging. Er war kaum bis zur Ecke des Hauptplatzes gelangt, als ihm Specht begegnete. Der Lehrer schien die größte Eile zu haben, blieb aber doch bei Arnold stehen, fing von der Klostergeschichte an und meinte, es sei sonderbar, daß sie beide gerade gestern Abend vor dem Kloster geweilt hätten. »Und was sagen Sie zu alledem? Klingt es nicht fabelhaft, daß dergleichen noch vorkommt?« Leise und geheimnisvoll fügte er hinzu: »Ich berichte alles an eine Wiener Zeitung. Übrigens könnten wir eine halbe Stunde miteinander plaudern; kommen Sie mit ins Wirtshaus.« Arnold folgte zögernd, betrat das dumpfe und dunkle Gemach, nahm schweigend neben Specht Platz und nickte, als der Wirt ein Glas Bier vor ihn hinstellte. Niemand war hier außer den beiden. Ein kleiner Rattenpinscher lag neben Specht auf der Bank, erhob den Kopf, knurrte und schlief bald weiter. Specht schien lange innerlich zu kämpfen, endlich sagte er: »Heute ist es mir schlimm ergangen; heute hab' ich was Schlimmes erfahren. Hören Sie nur ... Vielleicht bereu' ich einmal, daß ich schwatzhaft war, aber der Teufel kann ewig schweigen.« Arnold horchte hoch auf und schaute erwartungsvoll auf den Mund des Lehrers. »Sie kennen doch Beate?« Arnold wandte den Kopf ab und nickte gleichgültig. Specht legte seine Hand auf Arnolds Schulter und sagte beschwörend und schmerzlich: »Ich übertreibe nicht, mein Lieber, aber wenn es eine verkörperte Ruchlosigkeit gibt, ist es diese siebzehnjährige Hexe. Was ich gelitten habe! Doch es ist vorbei; anderes liegt vor mir.« Er bedeckte die Stirn mit der Hand; seine Lippen zitterten und in seinen Augen lag schon jetzt Reue über seine Mitteilsamkeit. Seine Miene wurde plötzlich kalt, und das Gesellschaftliche in seinem Wesen trat mit auffallender Schärfe hervor, als er sagte: »Ich hoffe, Sie können schweigen. Wir dürfen die Frauen nicht einmal ins Gerede bringen, während sie uns ungestraft zum Wahnsinn treiben.« Er lächelte und zupfte an seinem schmalen, blonden Schnurrbart. Arnold, der für solche Schmerzen keinerlei Verständnis besaß, hatte zerstreut zugehört. Jenes unbedeutende Frauenzimmer erschien ihm keines Wortes wert. Er schämte sich für Specht. Über eine Viertelstunde saßen sie schweigend beisammen. Der Wirt hatte die Lampe angezündet. Endlich fragte Arnold, indem er den Kopf ein wenig vorstreckte und das Kinn mit zwei Fingern der linken Hand drückte: »Wann wird man denn befehlen, das Mädchen frei zu lassen?« »Welches Mädchen?« entgegnete Specht aufschreckend. »Die Elasser meinen Sie? Ich weiß nicht.« Specht fühlte sich beleidigt, daß Arnold einer so fernen Angelegenheit mehr entgegenbrachte als seiner, Maxim Spechts, persönlich nahen. »Wer, glauben Sie denn, daß hier befehlen wird?« fragte er ironisch. »Das Gericht, denk ich,« entgegnete Arnold und wandte sich dem Lehrer völlig zu. »Sie ahnen offenbar nicht, um welche Mächte es sich hier handelt?« Specht lächelte boshaft vor sich hin, als ob er mit diesen Mächten im Bunde sei. Mit lachendem Mund und höchst erstauntem Ausdruck sagte Arnold: »Es handelt sich um ein Unrecht.« Specht meckerte. »Unrecht hin oder her. Leben wir denn im Paradies? Findet denn jedes Unrecht einen Richter? Und wenn es schon einen Richter findet, findet es dann auch Gerechtigkeit?« »Das ist mir zu dumm, was Sie da schwätzen, Sie wollen mich wohl zum Narren halten,« erwiderte Arnold, erhob sich mit blitzenden Augen und schob den Tisch mit dem Oberschenkel von der Bank weg. Der Hund fuhr aus dem Schlaf empor und bellte wütend. Bestürzt blickte der Lehrer Arnold an, der schweigend sein Geld auf den Tisch legte und die Wirtsstube verließ. Specht seufzte. Er schloß grübelnd die Augen. Bald machte auch er sich auf den Weg, schlenderte die finstere Dorfstraße entlang und kam bis zum Hankaschen Zaun. Er lehnte sich an das Gartentor und begann melancholisch zu pfeifen, scheinbar ohne Absicht und nur in sich selbst versinkend. Seltsame Menschen gibt es, dachte er, indem er weiterpfiff, mit Beziehung auf Arnold. Was ficht ihn an? Für ihn ist das Leben ein warmer Pfannkuchen; er braucht sich nur hinsetzen, um zu essen. Will er Rechenschaft haben über die Unbescholtenheit der Henne, von der die Eier kommen? Im Haus wurde ein Fenster geöffnet und eine helle Stimme rief: »Specht! Herr Specht! Kommen Sie doch herein! Was stehen Sie denn und pfeifen!« Specht folgte der Einladung. Beate und Agnes saßen bei Tisch und schienen soeben mit dem Abendessen fertig geworden zu sein. Beate blickte Specht hochmütig und höhnisch an. Specht verbeugte sich, lächelte flüchtig, nahm Platz und fragte höflich nach Agnes Hankas Befinden. Freundlich und eilfertig bot ihm Agnes von den Überresten der Mahlzeit und obwohl er hungrig war, schüttelte Specht den Kopf und deutete scherzhaft auf seine Magengegend. Beate hatte nicht aufgehört den Lehrer fest anzublicken. Sie spielte mit einem Zeitungsblatt und sagte plötzlich vor sich hin, ohne Furcht, daß sie von der halbtauben Agnes gehört werden könne: »Wenn du nicht vernünftig bist --« ... mit einer kategorischen und deutungsvollen Bewegung riß sie das Blatt mitten entzwei. »Erlauben Sie, ich nehme mir doch ein Stückchen Käse,« rief Specht, zu Agnes gewandt, die ihm erfreut Butter, Brot, die Weinflasche und den Wurstteller hinschob. Sie klagte dem Lehrer, daß sie Sorge um ihren Bruder Alexander habe; sie fürchte für seine Gesundheit, er sehe so schlecht aus. Übrigens habe er heute in einem Brief versprochen, gegen Weihnachten längere Zeit in Podolin zuzubringen. Specht fragte, was Alexander Hanka eigentlich treibe. Agnes besann sich, ob es nicht doch vielleicht etwas gab, das Hanka »trieb«. »Nichts,« erwiderte sie endlich scheu. Der Lehrer lächelte sarkastisch. »Er lebt von seinem Geld,« sagte Beate stirnrunzelnd. »Er ist reich genug. Ist das vielleicht nicht erlaubt?« »Es ist leider nicht nur erlaubt, es wird gern gesehen,« antwortete Specht. Agnes gab dem Lehrer ihres Bruders Brief zu lesen. Es war, als suche sie über etwas Beunruhigendes in Hankas Leben Aufschluß und Trost, naiv dem Fremdesten vertrauend. Specht betrachtete zerstreut die ungefügen Schriftzeichen; unter dem Tisch suchte er Beates Hand zu ergreifen. Zehntes Kapitel Frau Ansorge erhielt aus Wien die Nachricht, daß ihr Bruder Borromeo sich wieder verheiratet habe. Die Photographie der neuen Schwägerin zeigte eine üppige Gestalt mit regelmäßigen Zügen, die einen herrischen und kalten Ausdruck hatten. »Friedrich tut nichts Gutes in seinem Schwabenalter,« sagte Frau Ansorge zu Arnold, der das Bild der schönen Frau mit Vergnügen betrachtete. An demselben Morgen schickte Maxim Specht einen Brief und eine Zeitung. Die Zeitung enthielt Spechts Bericht über den Raub der Jutta Elasser. Arnold las, und es wirkte erstaunlich auf ihn, nicht gerade wie eine Lüge, sondern wie Schiefheit, wie Backenaufblasen. Aus dem Nahen und Wahren war etwas Fernes, Gespreiztes und Lärmendes geworden. Der Brief lautete: »Wenn es Ihnen paßt, holen Sie mich morgen früh um sieben Uhr ab. Der Polizeihauptmann hat mit der Elasserschen Angelegenheit einen Kommissar beauftragt, der ein guter Bekannter von mir ist. Er erlaubt mir und Ihnen dabei zu sein, wenn Elasser im Kloster seine Tochter zu sehen bekommt. Davon darf man die Entscheidung erwarten, denn es ist nicht einzusehen, wie sie ihm dann noch das Kind verweigern wollen, was doch zweifellos geschehen wird. Der Zweck ist, die Sache hinzuziehen, bis Jutta das religionsmündige Alter von vierzehn Jahren erreicht haben wird. Dann wird dem Samuel Elasser die väterliche Gewalt durch die Vormundschaftsbehörde abgesprochen und der Taufe steht kein Hindernis im Wege; denn über das, was das Mädchen selbst will oder nicht will, wird ja die Öffentlichkeit getäuscht. Also nicht ich bin dumm oder boshaft, lieber Freund, sondern die Ereignisse sind es. Und dumm bin ich vielleicht nur deshalb, weil ich mich darum kümmere und die Welt, gemein wie sie ist, ändern möchte. Das ist nicht nur Dummheit, sondern Irrsinn. Bleiben Sie gut Ihrem Specht.« Arnold hatte das Gefühl eines Hinterhaltes. Er las den Brief nicht nur, sondern er studierte ihn, drehte ihn um und um und zerstampfte ihn schließlich mit den Stiefeln. Den ganzen Tag über vermochte er nichts Rechtes anzufangen. In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er kam von einer langen Landstraße an eine hohe Gartenmauer. Vor der Mauer standen zwei Pferde einander gegenüber, ein kleines und ein großes Pferd. Beide Tiere sahen aus, als ob sie mit Grünspan überzogen wären. An Hals, Kopf, Rücken und Bauch trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben, aus der Haut hervorragten, als ob es nur künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten. Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift trug: diese Pferde können sprechen. Nachdem er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer; das größere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken ergriffen, daß er in der größten Eile über die Landstraße Reißaus nahm. Als er aufwachte und den Traum überlegte, kam er ihm überaus albern vor; dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame Straße, die schwermütige Miene des grünen Gauls, der sich anschickte zu sprechen, das alles trug etwas Unvergeßliches in sich. Punkt sieben Uhr stellte sich Arnold bei Maxim Specht ein. Es war noch halb dunkel, als sie sich auf den Weg machten. Arnold verzehrte sein Frühstück unterwegs. Specht war schweigsam. Vor dem Klostertor warteten sie. Als die ersten Wolken vom Frührot glühend wurden, traf der Kommissar mit einem Gendarmen ein. Ein wenig davon entfernt gingen Elasser und der Rabbiner aus Lomnitz. Der Kommissar zog die Glocke. Die Schwester Pförtnerin öffnete, deutete gegen eine schmale Türe zur Linken und hinkte auf einer Krücke davon. Als die Tür geöffnet war, wurde ein langer Gang sichtbar, an dessen Ende ein Windlicht brannte, welches nur mühsam die Finsternis verringerte. Darnach kam ein weiter, flurartiger Raum. Auf einem Schemel hockte schlaftrunken eine Laienschwester und zeigte stumm auf die zur Linken befindliche Glastür. Die Männer betraten ein saalartiges Gemach, dessen Decke durch ein gekreuztes Tonnengewölbe gebildet wurde. Auf einer langen Bank standen zwei dreiarmige silberne Leuchter, darüber hing ein ehernes Kreuz mit dem Heiland. An der hinteren Wand öffnete sich ein dunkles Loch, vor welchem sich ein aus weißen Stäben bestehendes Gitter befand. Elasser und der Rabbiner standen schweigend abseits; sie starrten vor sich nieder. Nach einigen langen Minuten, während welcher Arnold seine Uhr in der Tasche ticken hörte, knarrte eine zweite Tür in der Ecke und vier Nonnen traten herein. Elasser reckte den Kopf auf -- Arnold gedachte seines Traumpferds, welches sprechen wollte -- und blickte nach der Tür, die sich indes wieder schloß, ohne daß seine Tochter eingetreten wäre. Plötzlich war das finstere, vergitterte Loch durch eine Kerzenflamme erleuchtet. Eine Gestalt bewegte sich vorbei, eine andere folgte. Die erste kehrte zurück, streckte die Arme aus, als wolle sie einen schweren Gegenstand ans Licht ziehen. Darauf wurde das Öffnen einer knarrenden Türe hörbar, und in demselben Augenblick begann ein Weinen und Schluchzen, das um so schauerlicher wirkte, als es wie durch das Fallen einer Wand mit einem Male hervorgebrochen schien. Die Arme regten sich geschäftiger, noch ein paar Arme und ein Kopf schienen Beistand zu leisten, aber das nicht zu beschwichtigende Weinen und Schluchzen erfüllte nach wie vor anschwellend den Raum. Die Kerze wurde ausgelöscht; das Gitter wurde wieder finster, die knarrende Türe ließ sich von neuem hören; Füße scharrten wie auf sandbestreuten Brettern, und mit einem Schlag war es wieder still. Elasser war einen Schritt vorwärts gegangen. Der ganze Mann zitterte und seine Stirn glänzte von Schweiß. Ein gurgelndes Geräusch kam von seinen Lippen. Er schwenkte die Arme hin und her; der Rabbiner und der Gendarm mußten ihn bei den Schultern zurückhalten. Als es hinter dem Gitter finster und ruhig wurde, war auch er wieder still. Einige Minuten lang hörte man das leise Aufprasseln der Kerzenflammen auf der Bank. Die frommen Schwestern zeigten eine durch Gewohnheit und Übung erlernte und befestigte Gleichgültigkeit. Ihr inneres Leben schien sich zu einem verheimlichten Lauschen gesammelt zu haben, wovon allein die Bewegung der Augenlider Zeugnis ablegte. Specht stand mit bleichem Gesicht. Arnold betrachtete auch ihn; sämtliche Gestalten erschienen im trüben Zwielicht wie Phantome. Es war kaum zu unterscheiden, ob sie schliefen oder wachten. Jetzt öffnete sich zum zweitenmal die seitliche Tür und die Oberin trat ein. Specht, der Kommissar und der Gendarm verbeugten sich ehrerbietig. Die Oberin streifte die Männer mit einem eisigen Seitenblick und richtete die Augen befremdet und fragend auf Arnold, der sich nicht rührte, nicht grüßte und mit verhängten Augen auf das eherne Christuskreuz sah. Indessen wandte sich die Dame ab, trat mit festem Schritt auf den Kommissar zu und sagte: »Herr Elasser kann leider seine Tochter nicht sehen. Das Mädchen ist krank.« Elasser hob blitzschnell beide Hände, zog sie rasch gegen sein Herz und schien reden zu wollen. Ja, er schien gewaltsam bemüht, die ränkevolle Finsternis, die er um sich gewahren mußte, wenigstens durch Worte zu zerstören; der Polizei-Kommissar nahm seine Partei, bemerkte schüchtern, die Mutter des Kindes liege schwer darnieder und wünsche die Tochter vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Durch diese List gedachte er das Herz der Oberin zu rühren. »Sie wird sie im Himmel wiedersehen,« antwortete die Oberin mit feierlich erhobener Hand und mit langsamer, zu peinvollem Lauschen zwingender Stimme. Dann winkte sie den Nonnen zu und verließ an ihrer Spitze den Raum. Arnold, als wären seine Sinne für andere Wahrnehmungen getrübt, starrte gegen den Boden; das rasche, allseitige Getrappel auf den Steinfliesen schien ihn zu fesseln. Auch er wandte sich schließlich, um fortzugehen. Elasser stieß einen Seufzer aus, der Arnold noch lange in Erinnerung haften blieb, ordnete den feiertäglichen Rock, der sich verschoben hatte und sagte mit seinem kummervollen, diesmal aber von Entschlüssen durchwühlten Gesicht nichts als: »So wahr ein Gott lebt --!« Der Kommissar und Maxim Specht gingen dem Dorfe zu. Plötzlich verabschiedete sich Specht von seinem Begleiter, schaute sich nach Arnold um und wartete, bis er herankam. Elftes Kapitel Arnold ergriff Spechts Arm und drückte ihn so fest, daß der Lehrer sich zusammennehmen mußte, um seinen Schmerz zu verbeißen. »Nicht so stürmisch,« sagte er mit schwachem Lächeln. Arnold atmete tief auf, dann wandte er den Blick von Spechts unschlüssigem, aber ernstem Gesicht ab, ließ ihn langsam über die Landschaft gleiten, und um seinen Mund zuckte es. Er schüttelte heftig und kurz den Kopf, und ohne den Lehrer zu grüßen, ging er mit raschen Schritten querfeldein. Der Wind sauste ihm entgegen, bald schien die Sonne, bald verging sie wieder, dann strömte auf einmal Regen, vom Sturm zu Wirbeln gepeitscht und gedreht, und von neuem brach kalt und fahl die Sonne durch. Stumm und weit dehnten sich Äcker und Wiesen. Arnold war unzufrieden mit sich selbst; diese Empfindung beirrte ihn. Wozu dies Streunen? dachte er. Er fing an, seiner Zweifel sich zu schämen, und langsam erhellte sich seine Stirn. Denn daß Elasser um sein offenbares klares Recht gebracht werden könne, erschien ihm so unmöglich, wie daß der Sonnenball für immer verschwinden sollte, weil eine Wolke darüber zog. Die nächsten Tage verflossen ihm wie in einem unbewußten Horchen. Natürlich machte der Raub des Judenmädchens viel Aufsehen im Lande. Arnold wagte nicht, irgend jemand nach dem Verlauf der Dinge zu fragen, denn er ahnte wohl, daß da mehr Feindseligkeit und Parteileidenschaft im Spiel war, als es zuerst den Anschein gehabt. Da schickte ihm Specht zum zweitenmal die Zeitung zu, an welche er berichtete und Arnold las: »Neuestes aus Podolin. Samuel Elasser, unterstützt durch die Hilfe und getragen von der gemeinsamen Angst und Entrüstung seiner Stammesgenossen, hat seiner Sache endlich einen Rechtsbeistand gewählt, den Hof- und Gerichtsadvokaten #Dr.# Steinbacher in Krakau. Unter Berufung auf den § 145 des allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches wurde eine Eingabe an die Polizeibehörde berichtet. Dieser Paragraph erklärt deutlich, daß die Eltern berechtigt sind, vermißte Kinder aufzusuchen, entwichene zurückzufordern und flüchtige durch Unterstützung der Obrigkeit zurückzubringen. Der Polizeidirektor lehnte jedoch jede Vermittlung mit folgenden Worten ab: »Was? ich soll ein Mädchen aus einem Kloster herausnehmen?« In der tiefsten Besorgnis über das Wohlbefinden seiner Tochter, da ihm die Oberin doch Angst eingeflößt, verlangte Samuel Elasser die Untersuchung des Gesundheitszustandes. Nach langen vergeblichen Bemühungen und langen Beratungen wurden ein Gerichtsarzt und der Universitätsprofessor #Dr.# Woering in das Kloster gesandt. Beide Ärzte stimmten darin überein und sagten aus, daß Jutta Elasser vollkommen gesund sei. Nun erfolgten dringendere Vorstellungen des Vaters. Ein Polizeibeamter wurde beauftragt, in aller Form des Gesetzes vom Kloster wenigstens die Vorführung des Mädchens zu verlangen. Die Oberin antwortete dem Beamten: »In sieben Tagen wird sie ihr Vater sehen.« Der Beamte mußte sich damit begnügen, diesen Bescheid stillschweigend zu Protokoll zu bringen. Samuel Elasser fand sich am festgesetzten Tage bei der Polizeibehörde ein. Da überreichte man ihm eine schriftliche Meldung der Schwester Wirtschafterin, wonach Jutta Elasser zwei Tage vorher aus dem Kloster entflohen sei. Dies der nackte Bericht. Man muß nur darüber erstaunen, daß die Schwester Wirtschafterin den Ausdruck »entflohen« wählte. Entflohen? Wohin? Wohin, wenn nicht zu den Eltern? Warum gebrauchte die Schwester Wirtschafterin nicht den klareren und wahreren Ausdruck: entführt --? Denn das Mädchen wurde inzwischen schon im Kloster Lagiewniki bei Podgorze gesehen.« Stumm reichte Arnold seiner Mutter das Blatt und bohrte die Zähne in die Lippe, während sie las, Frau Ansorge schüttelte den Kopf, als sie fertig war und sagte: »So ist eben die Welt; so sind die Menschen.« Arnold machte ihr Sorge. Sein Benehmen zeigte so viel Überlegenheit und bewußten Eigenwillen, so viel Selbsterleben, so viel Hinaustasten und geheimnisvolles Erzittern alles dessen, was eben nur in einem Mann erzittern kann, daß sie nicht mehr aus noch ein wußte; sie litt unter seinem veränderten Gang, seiner beherrschteren Miene, seinem nach innen prüfenden Blick und erkannte plötzlich Kräfte seines Verstandes, seines raschen Auges, seiner Entflammbarkeit, die sie früher mit ihrer Furcht kaum berührt hatte. Wohl nahm sie bald wahr, daß er sich in einem seltsamen Zustand der Erwartung befand, aber außer einigen blitzhaften Einblicken blieb ihr alles ein Rätsel. Sie fand ihre Beobachtungsgabe verschärft, verzehnfacht; sie überzeugte sich, daß ihn nichts Trübes erfüllte, nichts Lebenfeindliches, im Gegenteil; doppelter Grund zur Sorge. Eine Stunde später ging Arnold ins Dorf, bog in die bekannte Seitengasse und betrat das Elassersche Haus. Dort schien sich nichts verändert zu haben; der Säugling lag noch auf der Ofenbank, die Windeln hingen noch auf Stricken. Von den übrigen Kindern und Elasser selbst war nichts zu sehen. Die Frau lag auf dem alten Sofa und blickte ruhig gegen die rauchschwarze Decke. Als Arnold eintrat, erhob sie sich, und ihr Gesicht bekam einen verbissenen und boshaften Ausdruck. »Wo ist Herr Elasser?« fragte Arnold sanft. »Wo wird er sein!« erwiderte die Frau und lehnte sich mürrisch gegen den Sofawinkel. »Was haben Sie für Nachrichten über Jutta?« fragte Arnold, der Widerwillen empfand gegen die Jüdin und ihre unordentliche Behausung. Die Frau schwieg. »Ich habe gehört, daß sie in Podgorze ist,« fuhr Arnold ruhig fort. »Warum nicht?« erwiderte die Frau höhnisch und zuckte die Achseln. Plötzlich sprang sie auf, schritt hastig quer durch die Stube auf Arnold los und rief: »Wollen Sie mich zum Besten haben, mein Herr?« Sie blickte Arnold an, als sehe sie in ihm eine Person von unergründlicher Falschheit. »Wissen Sie was, gnädiger Herr? ich will einmal sagen und Sie sind ehrlich. Was kommen Sie dann von mir zu erfahren, was die Spatzen pfeifen auf allen Dächern? Ja! in Podgorze ist Jutta, zwei Nonnen haben sie in der Nacht herausgebracht aus dem Kloster im Wagen. Und Elasser ist gegangen nach Podgorze und die Gendarmerie dorten hat erwiesen, daß Jutta war im Kloster. Aber sie haben gesagt, sie hätten keinen Auftrag einzugreifen. Und Elasser ist gegangen zum Bezirkshauptmann von Podgorze und der Bezirkshauptmann ist gegangen zum Herrn Grafen Statthalter und wie er zurückgekommen ist, war unsere Jutta verschwunden aus Podgorze. Und Elasser ist gegangen ins Kloster nach Binczice und ins Kloster nach Morawice und ins Kloster nach Wolajustowska und nach Wielowics und überall ist Jutta gewesen und überall ist sie wieder fortgebracht worden und überall hat die Behörde verweigert den schuldigen Beistand, und kaum war der neue Aufenthalt von unserm Kind bekannt, so war sie auch schon wo anders. Und bloß in Kenty hat der Herr Bürgermeister geleistet Beistand und ist vorgestern verhaftet worden wegen Hausfriedensbruch. So, mein Herr! Wollen Sie noch mehr wissen?« Mit funkelnden Augen sah ihn das Weib an und lachte, ohne daß sich ihr Mund öffnete. Was antwortest du, Schuldiger? schien ihr Blick zu fragen. Arnold senkte den Kopf und verließ langsam das Zimmer und das Haus. Zwölftes Kapitel Die ganze Ebene lag im tiefen Schnee. Es war sogar mühselig, nach Podolin zu kommen, aber da Maxim Specht Arnold durch einen kleinen Burschen hatte zum Besuch bitten lassen, folgte er der Aufforderung, trotzdem es schon weit im Nachmittag war. Als er in der Wohnung des Lehrers ankam, war es schon dunkel. Specht saß lesend am Tisch, und in einer Teekanne vor ihm summte das Wasser. Das Stübchen war gemütlich; der Lehrer trug einen großväterischen Schlafrock und rauchte aus einer langen Pfeife. Die Tabakswolken zogen langsam durch das Zimmerchen, nur über der Lampe wurden sie in schnellen Wirbeln emporgerissen. Als Neuigkeit erzählte Specht, seine Schreiberei habe in der hauptstädtischen Redaktion solchen Beifall gewonnen, daß man ihm eine Stellung bei dem Blatt angetragen habe. Er werde auch nicht säumen; noch vor Weihnachten gehe er nach Wien, obwohl sein neues Amt erst im Januar beginne. Aber da sei viel zu ordnen und er könne es vor Ungeduld in Podolin nicht mehr aushalten. »Ich freue mich ja wahnsinnig, lieber Freund! Endlich! Wenn Sie wüßten, was in mir alles brodelt, was da drinnen steckt! Nicht genug Hände hat man dort, und hier sind zwei bald zu viel. Endlich werd' ich atmen können!« Arnold nickte. Niemals war ihm der Lehrer so sympathisch gewesen, niemals auch hatte er so leicht das Wesen eines andern begriffen. Atmen können! Er betrachtete das Gesicht des Lehrers, das in peinlicher Sauberkeit gehaltene Stübchen, die Bücher an den Wänden und auf dem Tisch. Maxim Specht, an das wortkarge Gehaben des Kumpans längst gewöhnt, war der Gelegenheit froh, sich ausschwatzen zu können. Er schenkte Tee ein; Arnold lehnte sich auf dem Sessel zurück und starrte in die Luft. Auch in ihm meldete sich höheres Leben. Das durch Gewohnheit nahe trat zurück, und der Horizont wurde beglüht von einem noch verborgenen Feuer. »Sie müssen mir ein wenig auf Beate achten,« sagte Specht, in Freudigkeit vor sich hinbrütend, und ohne seine Worte sonderlich zu wägen. »Zwar ist alles aus zwischen uns, aber was man geliebt hat, soll man bewahren. Vielleicht gehen Sie hie und da zu Hankas. Zu Ihnen hab ich ein, ich möchte sagen übersinnliches Vertrauen. Jaja,« seufzte er, schlürfte behaglich aus der Tasse und blickte nicht ohne Empfindsamkeit in die Rauchwölkchen, »so geht die Liebe hin und das Leben ergreift uns.« Arnold griff nach einem der Bücher im Regal. Es war ein Band von Gibbons Geschichte, welche den Untergang des Römerreichs schildert. »Sie hat jetzt ein Verhältnis mit dem Bauernknecht auf dem Randomirschen Gut,« fuhr Maxim Specht halb für sich fort, als vermöchte er sich von diesem Gegenstand nicht zu trennen. »Traurig genug. Mir tut nur der arme Hanka leid. Er hat sich ihrer angenommen und glaubt nun, eine unverdorbene Blume zu besitzen, ein unschuldiges Kind. Zum Lachen!« Arnold bat, Specht möge ihm die Geschichtsbücher auf einige Tage borgen. Vor der Abreise solle er sie wieder haben. Das plötzliche Interesse für die Historie war kaum mehr als Selbsttäuschung; ein Versuch, sich von seinem Innern ab- und an ein Äußeres, Weltliches zu wenden. Er hatte nach Schriften solcher Art früher nie gefragt. Die Vergangenheit der Erde und ihrer Völker war zwar bei ihm nicht Lernfutter gewesen, um abgelegene Höhlen des Gedächtnisses zu stopfen, aber nie war auch Lebendiges daraus hervorgegangen. Wie er nun zu Hause sich in diese Darstellung des Falls einer Nation vertiefte, gewahrte sein frischer Geist mit einem unermeßlichen Erstaunen, wie die Führung der menschlichen Angelegenheiten stets weit über den persönlichen Willen hinausgerückt wird. Dadurch erschien ihm zunächst alles als ein bodenloses Märchen. Zorn und Gleichgültigkeit wechselten in seinem Innern. Voll edlen Sträubens las er trotzdem Seite für Seite, brachte jedem Ereignis eine Fülle von Miterleben entgegen und lachte nicht selten spöttisch und verächtlich, da manches ganz anders auslief, als er es abgeschätzt hatte. Wie ebensoviele Käfer, die dumm in der dunklen Rinne laufen, statt den glatten, sonnenbeschienenen Weg zu wählen, kamen ihm die Handelnden vor und die Leidenden wie Mücken, die stumpf und trunken ins kleine Netz sich verstricken, während rundum die Luft voll Freiheit ist. Seltsam war seine Anteilnahme, seltsam, wie er von dem längstentschwundenen Treiben längstvermoderter Geschlechter für die Gegenwart Besitz ergriff, wie er über Schicksalsmächte rücklebend verfügte, mit brennendem Kopf den Zusammenhang verlor und in wirrem Trotz sich anmaßte, an Stelle eines jeden dieser Helden und Unhelden frei über das Kommende bestimmen zu können. Indem das in Zeit und Raum Entlegenste wie Nächste von seiner Phantasie verschmolz, stieß er die neuen Bilder bald voll Haß von sich und kehrte bald leidenschaftlich suchend danach zurück. Aber gleichwie in dünstevoller Atmosphäre sich ein vielfarbiger Ring um jede Flamme bildet, so waren jene Bewegungen nicht das eigentlich ihn Erfüllende, sondern nur Ausstrahlungen. Er las, geriet in Zwiespalt und Betrachtung, raffte sich auf, bekämpfte, ordnete, überblickte, aber alles das hatte mit seiner Lektüre gar nichts mehr zu tun. Um seiner Bedrängnis einigermaßen Herr zu werden, begann er wieder viel draußen herumzuwandern. Dabei kam er eines Nachmittags zu einer kleinen entlegenen Bauernschenke in der Nähe der sogenannten Polen-Mühle. Er hielt Einkehr und ließ sich ein Glas Wein geben. Zufällig fiel sein Blick in ein von einer Talgkerze erhelltes Seitenzimmerchen und dort sah er Beate, dicht und zärtlich an den hünenhaften Knecht geschmiegt, mit dem sie auf dem Jahrmarkt getanzt hatte. Arnold achtete nicht sonderlich darauf. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Es war der »Mährische Landbote«. Gleichgültig las er, bis sein Blick auf eine telegraphische Meldung fiel, des Inhalts, daß der Jude Elasser beim Justizminister zur Audienz vorgelassen sei. Mehr stand nicht darüber, aber dies befriedigte Arnold so vollkommen, daß er munter pfeifend seinen Weg fortsetzte. Vor dem Postamt auf dem Hauptplatz gewahrte er Specht. »Wie geht es Ihnen?« fragte der Lehrer mit so übertrieben liebevollem Tonfall, daß Arnold ihn befremdet und mißtrauisch anblickte. »Elasser ist beim Justizminister, -- wissen Sie schon?« sagte Arnold. Wie er so dastand, ein wenig vorgebeugt, mit listig spähendem Blick, das erregte Maxim Spechts Lachlust, und er erwiderte: »Spaß. Schon längst gewesen.« »Nun, und ist Jutta schon frei?« fragte Arnold. »Frei? Meinen Sie wirklich frei?« Specht lachte, aufs äußerste belustigt. Da er aber bemerkte, wie sich in Arnolds Gesicht wieder jener Zorn sammelte, dessen Äußerung er fürchtete, sagte er schnell: »Der Minister hat sich sehr gut benommen, o ja. Er hat dem armen Vater auf die Schulter geklopft, das tut ein Minister in solchen Fällen stets, und hat ihn mit den Worten entlassen: Fahren Sie ruhig nach Hause; das Kind wird Ihnen zurückgegeben werden.« Arnold nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Den Spott in dem Bericht des Lehrers begriff er nicht. »Sie scheinen ganz einverstanden zu sein,« fuhr Specht munter fort, »aber nun weiter. Der Minister beauftragt den Staatsanwalt, beim Landgericht die Strafanzeige wegen Entführung zu erstatten. Er verlangt ferner, daß ein gerichtlicher Auslieferungsbefehl geschrieben und dem Kloster zugestellt wird. Und was, meinen Sie, geschieht darauf? Die Ratskammer des Landgerichts lehnt diese Anträge einfach und rundweg ab.« »Das wissen Sie doch noch nicht,« versetzte Arnold unwillig. Er mißverstand Spechts lebendige Wiedererzählung, durch welche die Zeitwörter in der Gegenwartsform erschienen. Maxim Spechts Mienen wurden feierlich. »Was für ein Unglück für Sie, lieber Freund, daß Sie so jung und unerfahren sind!« rief er aus und schlug die Hände zusammen. »Allerdings hätte ich es vorher nicht wissen können, denn so weit kann sich der frechste Pessimismus nicht versteigen. Aber es ist geschehen, ist schon geschehen.« Arnold schwieg. Er schaute den Lehrer studierend an, als mangle ihm in diesem Augenblick das Zutrauen in dessen Worte. Besinnend zur Erde blickend, schüttelte er den Kopf. »Und noch etwas, lieber Freund, das ist noch nicht alles,« fuhr Specht mit leiser Stimme fort und zog Arnold ein wenig von den Häusern weg. »Der Advokat Elassers wollte die Akten sehen, in denen dieser Beschluß stand. Das erlaubt das Gesetz. Man sieht aus den Akten die Begründung des Urteils. Denn schließlich sollte doch jedermann wissen dürfen, warum die Ratskammer das Verlangen des Justizministers abschlägt. Und auch das ist nun verweigert worden, auch das.« Specht suchte erregt in seiner Tasche, nahm einen Zettel heraus, entfaltete ihn und sagte: »Ich habe mir von dem Dekret eine Abschrift genommen. Hören Sie.« Arnold trat dicht neben Specht, so daß er beim dürftigen Schein einer Öllaterne mitlesen konnte, was Specht murmelnd vorlas. »An den Landesadvokaten #Dr.# Steinbacher. Ohne die Frage zu entscheiden, ob Samuel Elasser in dieser Angelegenheit als Privatbeteiligter anzusehen sei --« »Was heißt das?« unterbrach Arnold. »Das? Das ist ein Schnörkel, den niemand auf Gottes Welt verantworten kann. Es ist nämlich nicht entschieden, heißt das, ob es den Elasser etwas angeht, wenn ihm sein Kind gestohlen wird. Also weiter ... anzusehen sei, wird die Einsichtnahme in die Akten betreffs der Sache Jutta Elasser verweigert, weil wichtige Gründe dem im Wege stehen. Das Landesgericht in Strafsachen.« Specht faltete seinen Zettel wieder zusammen. »Wichtige Gründe?« fragte Arnold, der immer noch nicht völlig glauben wollte und keiner Lüge auf den Grund zu kommen fähig war. Fassungslos schaute er dem Lehrer ins Gesicht und allmählich begriff er selbst, daß diese wichtigen Gründe in den zwei Worten bestanden, die sie vorgeben sollten. »Nun spüren Sie den Atem unserer Welt,« sagte Specht mit tiefer Bitterkeit. »Heute war ein Herr von Gröden bei mir, Gerichtsadjunkt in Lomnitz. Er sollte sich im Auftrag der Regierung über die Stimmung unterrichten, die unter den Gutsbesitzern für oder gegen diese ganze Geschichte herrscht. Ich habe ihm ein Licht aufgesteckt, ich habe unter anderm auch von Ihnen gesprochen. Aber glauben Sie denn, daß das etwas nützen wird? Nicht einen Pfifferling. Die großen Herren tun, was Sie wollen und der kleine Jud mag sehen, wie er zu seinem Recht kommt. Wir beide werden es nicht erleben.« Arnold hörte das alles nicht. Er stand und schien zu überlegen, welchen Weg er zu nehmen habe, um nicht einem furchtbaren Gespenst in die Arme zu laufen, das aus der Nacht emporstieg. Langsam und ohne Gruß entfernte er sich von Specht. Er hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt, so holte ihn der Lehrer ein. »Ich sage Ihnen Adieu, ich reise morgen früh,« sagte Specht. »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten,« fügte er mit unsicherer Stimme hinzu, und zog ein braunes Kuvert aus der Manteltasche. »Wollen Sie zu Hankas gehen und dies Beate geben? Nur ihr selbst und wenn niemand sonst dabei ist --? Wollen Sie das? Und grüßen Sie Agnes Hanka noch besonders von mir.« Arnold nickte und nahm das Ding in Empfang. »Und nun, Liebster, leben Sie wohl,« sagte Specht, indem er Arnold die Hand gab. »Sollte Sie das Geschick einmal dorthin führen, dann wissen Sie, wo Sie einen Freund haben. Leben Sie wohl, Arnold. Von Ihnen scheide ich am schwersten.« Schnell wandte er sich ab und ging. Als Arnold nach Hause kam, entfiel dem offenen Kuvert der Inhalt. Es war die Photographie Beates; auf dem Bilde stand: Zur Erinnerung an den herrlichen 7. Oktober. Obwohl von ländlicher Unvollkommenheit, war das Porträt doch ähnlich; das Gesicht über dem nackten Hals und den halbentblößten Schultern hatte einen unschuldigen und süßen Ausdruck. Wie Sterne unter dunklen Torbogen, traten die Augen unter den Linien der Brauen hervor. Arnold konnte eine Empfindung der Geringschätzung nicht unterdrücken, welche Maxim Specht galt, dem so rachsüchtig offenen Kuvert und der Wichtigkeit, die der Lehrer all diesem beimaß. Seine angstvollen und heißen Gedanken waren ganz wo anders, und er bemerkte gar nicht, daß die Mutter, schweigsam und bleich auf dem niedrigen Sofa liegend, dumpf vor sich hinstöhnte. Elasser Dreizehntes Kapitel Alexander Hanka hatte große Spielverluste erlitten. Als er eines Sonntags mit Entschlossenheit an eine Berechnung ging, erschrak er vor der Schmälerung, welche sein Vermögen erlitten hatte und vor dem Zeugnis, das sich wider ihn selbst und die verbrachte Zeit erhob. Damit verband sich die Galerie tausendmal gesehener Gesichter, tausendmal passierter Gassen und Plätze, tausendmal berührter Gegenstände, tausendmal gesprochener gleichgültiger Worte, tausendmal gedachter, kraftloser Gedanken. Jede Nacht, wenn er sich entkleidete, träumte er von einem zu fassenden Entschluß; irgend ein Geschehnis winkte in weiter Ferne. Am andern Tag rollte er wieder auf den blanken Schienen der Gewohnheit durch dieselben Stationen wie am Tag vorher. Unwillkürlich begannen seine Gedanken sich zu erheben und flatterten aus der Stadt wie Schmetterlinge, die ihre Raupenhülle verlassen. Die Einsamkeit einer Wüste dünkte ihm erträglich gegenüber der Einsamkeit in dem Häusermeer. Im Geiste sah er sich wieder in dem mährischen Örtchen, und sein Herz schuf sich Landschaften von eigenwilliger Art: langgestreckte Hügel, mit Nadelwald bestanden; ein trauriger glatter Fluß, der zu müde schien, um zu fließen; zwischen dunklen Wiesen eine lange, schmale Landstraße wie ein gelbes Band; tiefe, stille Gräben, mit Heckenrosen angefüllt; nüchterne, schattenlose, geräuschlose Dörfer. Er erinnerte sich freilich, daß es längst Winter war, auch dort draußen. Dennoch behaupteten jene Bilder ihren Reiz, als hätte seine Ahnung sie unter der Schneedecke zu verschönen vermocht. So reiste er, ohne Agnes zu benachrichtigen, denn er liebte nicht Mienen, die zum Empfang vorbereitet waren. Unzufriedenheit bemächtigte sich seiner während der Fahrt. Ihm schien, eine innere Macht wolle ihn warnen oder zurückhalten. Die fremden Gesichter um ihn her, welche Langeweile, Neugierde und Sattgegessenheit verrieten, erbitterten ihn. Ein kleiner Mensch mit einer seltsam zugestutzten Kakadufrisur sprach unablässig über die Mehlbörse. Niemand hörte zu, niemand antwortete, so daß seine Reden dem lästigen Gesummse einer Biene glich. Voller Verdruß suchte sich Hanka durch die Betrachtung der schneeblauen Landschaft zu zerstreuen, dann zog er schon gelesene Briefe aus der Tasche und las sie wieder. Einer belustigte ihn, der in dem neckisch-empfindsamen Ton der großen Welt gehalten war, eigentlich keinen Inhalt hatte, aber vieles bestocherte wie mit einer Nadel. Hanka schmunzelte und sah seine Freundin leibhaftig vor sich stehen, die zierliche, kleine, ruhelose Natalie. Agnes wurde bleich, als die lange Gestalt ihres Bruders unter der Küchentüre auftauchte. Mit zitterndem Arm griff sie nach der Lampe, um zu sehen, ob er es denn wirklich sei. Hanka lachte, riß seine schwarzen, stumpfblickigen Augen auf und starrte mit komischer Schwärmerei den Apfelkuchen an, der neben dem Herde lag. Jetzt lachte auch Agnes, als sie ihn so fand, wie sie wünschte und mit seiner Ankunft nicht den Gedanken eines Unheils zu verbinden brauchte. Auch Beate kam; Hanka war betroffen durch ihren Anblick. Sie war blaß; ihre Bewegungen waren verhaltener, wenn sich auch in einem Achselzucken oder einem Lachen wie sonst ein bäurischer Zug zeigte. Aber in wenigen Wochen schien sie gereift und abgeschliffen. Ihr Lächeln war prüfend, ihre Art, sich umzudrehen, den Kopf zu erheben, mit einem Ruck eine lauschende Stellung anzunehmen, war, obwohl rasch und temperamentvoll, so doch frauenhaft. Sie hatte etwas Besonderes angenommen, so kam es Hanka vor; eine Prägung, die sie von allen andern auf den ersten Blick unterschied. Er blieb den Abend über schweigsam, doch galt es schon nach der ersten Stunde für ausgemacht, daß er einige Wochen bleiben würde. Er brauche Ruhe, sagte er. Agnes freute sich auf ihre schüchterne Weise in sich hinein; Hanka wurde aufmerksam durch Beates eigentümliches Benehmen. Sie erhob sich oftmals vom Tisch und ging auf und ab, suchte ihr Gesicht zu verbergen, sich den Anschein einer Gleichgültigen zu geben, doch zitterte sie vor Unruhe und Ungeduld. Bisher war sie allabendlich um diese Stunde entwischt. Agnes ging sonst früh zu Bett und die Mahlzeit war kurz. Nun sollte sie warten; auf dem Herd wurde noch gekocht und bis gegessen war, mochte es spät werden. Sie wollte nicht unvorsichtig sein und ging umher, Wut und Haß im Innern, brennend vor Begierde, einen Plan nach dem andern erwägend und im Geist durch Schnee und Kälte zur Scheune des Randomirschen Gutes eilend. Klugheit und Rücksicht entschwanden mit dem Vorschreiten der Stunde; langsam verließ sie das Zimmer, als könne sie auch ebensogut bleiben und ein verwilderter Ausdruck trat in ihrem Gesicht hervor, als sie draußen hastig Kapuze und Mantel umlegte. Sie lief an den Ort der Zusammenkunft, um Aufschub zu erbitten, durch eine flüchtige Liebkosung Sicherheit zu geben, denn Furcht bewegte sie noch mehr als Liebe. Hanka war ihre Abwesenheit nicht unerwünscht. Argwohn lag weit von ihm; eher vermutete er etwas für Beate Günstiges und für ihn selbst Angenehmes. Im Grunde sah er das, was er aus ihr hatte machen wollen, nicht das, was sie geworden war durch sein geringes Hinzutun. Er gedachte sich ihr gegenüber wie ein Vater, wenn nicht wie ein Großvater zu betragen, ihn täuschte die dörfliche Ruhe und trübte sein sonst so vorsichtiges Urteil. Er hatte das Bedürfnis, mit Agnes von Beate zu sprechen. So dehnte er sich behaglich auf dem Sofa aus, (er war so lang, daß seine Beine von den Waden an außerhalb des Möbels in freier Luft schwebten) und bat Agnes, sich neben ihn zu setzen. Agnes bekannte, sie wisse eigentlich nichts über Beate. So gütig auch ihre Äußerungen waren, und so sehr sie in Ton und Wort jede Richterlichkeit ablehnte, aus allem war doch deutlich, daß sie und das junge Mädchen niemals aneinander warm geworden waren. Nichts Böses war Agnes bekannt, aber auch nichts, was ihr weiches und mit Nachsicht verschwenderisches Herz gefangen hätte. Mit froher Bereitwilligkeit hatte sie damals Alexanders Willen getan, und das Mädchen bei sich aufgenommen, selbst gefesselt und entzückt durch eine so zukunftsvolle Handlung. In Frieden hatte sie mit Beate gelebt, doch nicht in jener Freundschaft, die oft so glühend zwischen Frauen entsteht, deren gemeinsame Wünsche sich in einem dritten Wesen vereinigen. Es war, als sei das Kind aus einer fremden, stolzen Rasse, zur Sklavin geworden, aber unbeugsam in der Seele und im Verborgenen auf einstige Befreiung und Macht hoffend. Ihre Vergnügungslust sei nicht zu bändigen, sagte Agnes, oft scheine sie still und ein wenig tückisch, oft ausgelassen und fast roh; auch lüge sie gern. Aber bei alledem ließe sich gut mit ihr hausen; sie füge sich schnell und wer weiß, vielleicht rumore nur die düstere Kindheit noch in ihr. Zu spät vielleicht sei sie in das Licht des Lebens getreten, als daß man die Dunkelheit, aus der sie gekommen, vergessen dürfe. Alexander Hanka lauschte und freute sich einer Offenheit, die ihm Agnes und, wunderlich, auch Beate näher brachte. Er war weniger für das Tugendhafte, als für das, was Charakter gibt, und er konnte in der Verletzung üblicher Moralsätze etwas Lebenförderndes sehen. Und wie die sanfte Stimme seiner Schwester über alles hinweghuschte, das Eckige glättend, das Übel begütigend, erschien ihm Beate geschmückt mit den Zeichen der Persönlichkeit; ihr herbes Gebahren nahm er hin; er beschloß, es an Verständnis nicht fehlen zu lassen. Als der Tisch gedeckt war, begann Agnes das junge Mädchen zu vermissen. Sie fragte die Magd, aber da trat Beate schon ein, mit derselben nachlässigen Langsamkeit, mit der sie gegangen war und mit einer Miene, als hätte sie ein Taschentuch im Nebenzimmer geholt. Hanka verbrachte die Hälfte der Nacht mit unruhvollen Gedanken. Zärtliche Regungen lagen ihm fern. Aber es war, als ob zukünftige Tage ihn lockten, und so verkroch er sich in Betrachtungen. Früh am Morgen machte er sich schon zu einem Spaziergang auf, denn er wollte einsam sein; nicht um zu beschließen, sondern um Erwägungen und Entschlüssen zu entgehen, die zu Hause blieben, wo Beate war. Agnes war auf den Wochenmarkt nach Podolin gegangen. Beate saß allein im Zimmer und vertrieb sich die Zeit, indem sie mit einer Schablone Stickmuster auf Linnen malte. Da klopfte es an der Türe und Arnold trat ein. Er grüßte, nahm unbefangen ihr gegenüber Platz und als er sich überzeugt hatte, daß sie allein sei, übergab er ihr das Kuvert mit der Photographie, wie er es von Specht empfangen. Sie nahm es, starrte schweigend auf das Bild, blickte Arnold an und verzog finster und verächtlich Brauen und Mund. Dann stand sie auf, zerriß ihr Porträt und warf die Stücke in den Ofen, vor den sie sich nun mit gespreizten Beinen stellte und unverschämten Tones fragte: »Sind Sie vielleicht deshalb gekommen?« Arnold bejahte. »Zu viel Umstände,« spottete Beate. »Ich finde auch, daß er zu viel Umstände mit Ihnen macht,« entgegnete Arnold trocken. Beate trat zwei Schritte vor, erblaßte und ihr Blick irrte furchtsam von Tür zu Tür. Sie bekam Angst vor der Ruhe und Sicherheit ihres Gastes und wußte sich nicht zu erklären, warum er immer noch blieb. Sie legte den Arm über die Augen und stellte sich, als ob sie weinen wollte. Arnold sagte endlich: »Kommt Frau Hanka bald? Ich soll sie von Maxim Specht grüßen. Er hat nicht Zeit gehabt zu einem Besuch.« Arnold faßte sehr wörtlich auf, was ihm bestellt war. Aus diesen Worten und aus dem harmlosen, fragenden Blick, der sie begleitete, sah Beate, wie überflüssig ihre Befürchtungen seien. Ihr Selbstgefühl wuchs wieder; sie lachte spöttisch, wandte sich um, das Zimmer zu verlassen und sagte unter der Schwelle: »Auf Wiedersehen.« Damit schlug sie die Türe zu. Arnold wartete nicht gerade, weil ihm der Auftrag zum Gruß so wichtig erschienen wäre; aber er vergaß nach wenigen Minuten, daß er sich in einem fremden Haus befand. Das plötzliche Alleinsein ließ unveränderliche Gedanken aufs neue emporstürmen. Außerdem begann die drückende Stimmung des eigenen Zuhause von ihm zu weichen. Er hatte zusammen mit dem Doktor das Haus verlassen, der allerlei bedenkliche Redensarten über Frau Ansorges Krankheit gemacht hatte. Während er noch versunken war, trat Alexander Hanka mit seinem ausholenden Schritt herein, nach seiner Gewohnheit spannweit die Tür öffnend. Er machte große Augen, als er einen unbekannten Menschen im Zimmer erblickte. Er verbeugte sich in seiner steifen Art und nannte seinen Namen, bemerkte aber zugleich, daß diese gesellschaftliche Form hier nicht angebracht war. Arnold sah verwundert zu ihm empor, denn ein so langer und magerer Mensch war ihm noch nicht vorgekommen. Hanka, nicht weniger verwundert, fing an zu lachen, geriet jedoch in Verlegenheit, als er den Fremden ohne Verlegenheit sah. Arnold erhob sich, und als er das fragende, fast zu einer fragenden Grimasse verzogene Gesicht Hankas ansah, begriff er, daß es sich um seinen Namen handelte, nannte ihn also und fügte hinzu, daß er eine Bestellung von dem Lehrer Specht auszurichten habe, der gestern abgereist sei. Hanka erinnerte sich an Arnolds Namen wohl. So gleichgültig er damals auf Beates und Spechts Erzählung gelauscht hatte, etwas war in seinem Bewußtsein geblieben. Hanka hatte Vergnügen an diesem offenen, derben, gebräunten Gesicht, an der kräftigen, trockenen Stirn, die unbeweglich zwischen klar-grauen Augen und braunen glatten Haaren lag, an der gutgebauten Gestalt, die nichts von Verfettung und Krankhaftigkeit zeigte. Vierzehntes Kapitel Hanka fragte, und Arnold gab förmlich gehorsam Antworten. Hanka befremdete ihn. Sein natürlicher Scharfblick erfaßte sofort die merkwürdige Mischung von Gutmütigkeit und Trauer, von Ironie und Langeweile in dessen Wesen. »Welche Beschäftigung haben Sie denn?« fragte er. »Keine,« versetzte Hanka, »ich tue nichts.« »Gar nichts?« »Ich betrachte.« Hanka hatte seinen Stock in der Hand behalten und klopfte damit, weit vorgebeugt sitzend, auf den Boden. »Haben Sie denn nichts gelernt?« fragte Arnold erstaunt. Hanka lachte laut. »O ja«, antwortete er. »Ich habe die Juristerei erlernt, aber eben deshalb mach ich keinen Gebrauch davon.« Diese Antwort gab Arnold sehr zu denken. Aber ehe er etwas dagegensagen konnte, kam Agnes ins Zimmer. Arnold richtete seinen Auftrag aus und schickte sich an zu gehen. Agnes war erfreut, ihn zu sehen und dankbar für den Gruß des Lehrers. »Ein reizender Mann,« sagte sie von Specht. »Vielleicht kommen Sie, Herr Ansorge, nun recht oft zu uns.« Sie sprach laut, schüttelte die Hand Arnolds und ihre Augen strahlten mild. Arnold fühlte das beunruhigte Wesen von sich weichen und Sympathie strömte auf ihn ein. Beate, die nach Agnes gekommen war, schnitt eine Fratze; als sie aber Hankas Blick auf sich ruhen fühlte, betrachtete sie Arnold mit wohlwollendem Lächeln. Arnold verabschiedete sich. Zuhause angekommen, fand er auf dem Tisch ein katholisches Flugblatt über den Raub der Jüdin. Darin wurden öffentliche Ideale und der Name Gottes angerufen, aber die Wahrheit stand dabei und steckte die Hände in die Taschen. Arnold überlief es heiß und kalt. Seine Zuversicht begann zu schwinden. Darüber vergaß er die Mutter, wie er denn ihre Krankheit nicht ernst nahm, und keine Furcht deswegen empfand, hauptsächlich, weil Frau Ansorge ohne Äußerung eines Schmerzes lag. Doch in der Nacht erwachte Arnold durch ein fortgesetztes tiefes Aufstöhnen. Mit Schrecken entdeckte er, von welchem Mund die Laute kamen. Da war es mit der Ruhe aus. Er bat den Doktor um Aufschluß. Es sei mit den Nieren nicht in Ordnung, erwiderte der Mann unsicher und er halte es für gut, einen Spezialisten kommen zu lassen. Arnold ging mit sich zu Rate, schrieb und telegraphierte zugleich dem Oheim Borromeo, damit das Notwendige rasch geschehe. Als er die Depesche aufgegeben hatte, schritt er langsam den Hauptplatz hinunter, bis dahin, wo die Straße gegen die Elassersche Wohnung abbog. Zu jeder Zeit des Tages und der Nacht, in jedem Augenblick des Besinnens sah er dort Menschen um ihr Recht kämpfen, und sein ganzes Wesen lechzte nach Entscheidung. An der Ecke des Platzes stand Uravar. Trotz der Kälte waren seine Ärmel hoch aufgestreift. Mit bedeutsamem Grinsen starrte er Arnold an und verfolgte ihn mit den stets wie in Trunkenheit glänzenden Augen. In dem Häuschen des Juden herrschte vollkommene Stille. Die Tür nach dem Wohnzimmer war geschlossen. Arnold pochte, aber niemand antwortete. Er drückte auf die Klinke, öffnete, spähte durch den Spalt und sah einen Knaben an dem runden Tisch sitzen, den Kopf zwischen den Händen, in ein Buch vertieft. Er trat ein, der Knabe, (der etwa dreizehn Jahre alt war, nach Jutta das älteste Kind) blickte erschrocken empor, erkannte wohl Arnold von früher, getraute aber nicht, sich zu rühren. Arnold fragte, ob niemand zu Hause sei und blieb an der Türe stehen, um den Knaben nicht einzuschüchtern. Niemand, erwiderte der Bursche und die Augen in dem blatternarbigen Gesicht zeigten Trotz. Der Vater sei in der Stadt, fuhr er auf eine weitere Frage mit langsamem Tonfall fort, die Mutter gehe in Geschäften über Land, die andern Kinder seien beim Rabbiner in Lomnitz. »Wie heißt du?« fragte Arnold. Moses, war die Antwort. Arnold näherte sich dem Tisch, blickte flüchtig in das Buch und nahm dem Knaben gegenüber auf einem Holzschemel Platz. »Und Jutta?« fragte er mit heiserer Stimme, »wird sie denn nicht wiederkommen?« »Der Herr fragt --!« erwiderte Moses ironisch und mit dem Bestreben, ein gutes Deutsch zu sprechen. »Wiederkommen! Eher wird Wachs zu Eisen.« Arnold schaute den Knaben verblüfft an. Sonderbar war es ihm zumute, er fühlte sich schuldig. Langsam stand er auf und trat zum Fenster. Er hörte ein vielfältiges Gemurmel von draußen, öffnete den winzigen Flügel und sah oben an der Ecke zwanzig bis dreißig Menschen beisammenstehen. Gleichgültig schloß er das Fenster wieder und blickte nachdenklich auf den Knaben, der böse vor sich hinstarrte. Als er aus dem Haus trat, erblickte er am oberen Ausgang der Gasse noch immer die Ansammlung von Menschen; es schienen mehr als vorher zu sein, auch Weiber und Kinder hatten sich hinzugesellt und ein verworrener Lärm herrschte. In der kurzen Gasse selber stand keiner, sondern diese war förmlich abgesperrt. In breiter Reihe warteten die Leute. Je näher Arnold kam, je mehr Gesichter wandten sich ihm durch gemeinsame Aufmerksamkeit zu und endlich öffnete sich eine schmale Gasse, damit er hindurchgehen könne. Aber das sah mehr einer feindlichen Handlung als einer Höflichkeit ähnlich. Uravar stand in der Mitte eines Haufens gleich der Feder einer Uhr, welche, kaum wahrnehmbar, dennoch die Bewegung regelt. Arnold war weit entfernt, zu denken, daß diese Zusammenrottung ihm gelten könne. Schweigen legte sich um die Masse. Blöde, neugierige, tückische Gesichter stierten ihn an, und unwillkürlich blieb Arnold stehen. Vor ihm öffnete sich eine Art Bucht, in deren Mitte er den neuen Pfarrer gewahrte. Der geistliche Herr hatte die Arme verschränkt und den Kopf steif emporgerichtet. Es war ein mächtiger Kopf, groß wie der eines Ochsen, mit an der Seite abstehenden Haaren. Die grünen Pupillen hinter der Brille flackerten komisch aufgeregt. In dem Augenblick erhob sich eine dünne, scharfe Stimme gegen Arnold: »Judenknecht!« und das Gemurmel fing wieder an, dunkler und gährender. Mit stummem Zorn blickte Arnold um sich, furchtlos forschte er nach dem Rufer und in seiner Nähe kuschten die Murmler. Ruhig setzte er dann seinen Weg fort, aber er fühlte sich stärker und als ein Schauer durchrann ihn die Vorahnung von Kampf. Frau Ansorge verbrachte eine schlimme Nacht. Arnold, der um neun Uhr das Lager aufgesucht hatte, fuhr um Mitternacht aus dem Schlaf und wachte bis zum Morgen an Ursulas Seite. Die Kranke sprach nicht; wenn sie die Augen aufschlug, lächelte sie gezwungen; dann kamen Stunden, in denen sie unaufhörlich stöhnte und sich auf der niedrigen Matratze wälzte. Ursula murmelte Gebete aus einem Buch, Arnold saß mit gesenktem Kopf, die Augen bald gegen das Licht, bald gegen die Finsternis gewandt. Gegen zehn Uhr morgens kam der Doktor, um den Arzt aus Wien zu erwarten, der mit dem Frühschnellzug eintreffen mußte. Von der Station aus war noch ein tüchtiges Stück Weg, aber schon kurz nach elf kam eine Landkutsche mit zwei Insassen angefahren. Arnold trat in den Hof, die Herren zu begrüßen. Den Bruder der Mutter erkannte er sofort, obwohl er ihn seit den Kinderjahren nicht gesehen hatte. Borromeo reichte seinem Neffen die Hand, betrachtete ihn mit einem kühl-kritischen Blick, stellte den Arzt vor, einen eleganten, noch jungen Mann und alle drei gingen zum Krankenbett. Frau Ansorge hatte kaum ihren Bruder und den Fremden erblickt, so schien es, als schüttle sie Fieber und Fieberbilder mit gewaltiger Anstrengung von sich ab. Ihre Erinnerung erhielt hundert Brücken. Als sie Friedrich zum letztenmal gesehen hatte, war all ihr früheres Leben und Fühlen ins Herz getroffen worden. Die dazwischenliegenden Jahre stürzten zusammen, und die Schmerzen in denen sie jetzt gefangen war, verbanden sich mit jenen halbvergessenen. Die Begrüßung war kurz und ohne Worte. Doktor Borromeo winkte Arnold und Ursula, das Zimmer zu verlassen. Die beiden Ärzte blieben allein. Arnold führte seinen Oheim in ein wenig benutztes Zimmer hinter der Küche. Da standen uralte Möbel, auf welchen die Zeit gleich einem Gespenst lag. Borromeo hüllte sich frierend in seinen Pelz und schritt mit wiegendem, müdem Gang auf und ab. Dieselbe Müdigkeit drückte sich in seinen Gebärden wie in seinem Mienenspiel aus, sie lag in den hingeworfenen Worten, die er sprach, in seinem Lächeln, in seiner Stimme. Kinn und Mund waren durch einen schwarzen Bart verdeckt, der förmlich steifgebügelt aussah und eine ungemein sorgfältige Pflege verriet. Die obere Hälfte des Gesichtes zeigte frauenhaft weiche Linien. »Was hast du eigentlich für deine Zukunft vor, Arnold?« fragte er, in seiner Wanderung innehaltend, mit einem langsamen und sinnenden Tonfall. Arnold war überrascht und schaute zaudernd vor sich hin. Aus einem unklaren Grund empfand er ein ebenso unklares Mitgefühl mit dem Mann. »Ich weiß nicht. Ich will leben«, sagte er trocken. Borromeo fuhr mit der flachen Hand behutsam an seinem Bart herab, kaum die Haare berührend, als fürchtete er sie zu zerzausen. »Und hältst du das für so leicht?« erwiderte er sanft und traurig. Arnold lachte. »Ist es denn schwer?« fragte er verwundert. »Hast du denn so schlechte Erfahrungen gemacht?« Er saß rittlings auf einem Stuhl und drückte das Kinn auf die Lehne. »Ich glaube, es ist nicht möglich, andere zu machen«, antwortete Borromeo mit einem Lächeln, welches ein vernichtendes Erbarmen mit dem Frager zeigte. Arnold wurde aus diesem wunderlichen Wesen durchaus nicht klug. Borromeo zeigte eine Einfachheit, die bis zur Hölzernheit ging, und eine ängstliche Sucht, unauffällig zu sein. Die Gesichtszüge des etwa Fünfundvierzigjährigen hatten einen greisenhaft stillen Ausdruck, die Augen starrten, als könnten sie in der Luft beobachten, was in der Seele selbst vorging. Trotzdem war bisweilen ein Aufleuchten im Blick, als gäbe es über gewisse tröstliche Dinge keinen Zweifel. Fünfzehntes Kapitel Die Ärzte ließen wenig Hoffnung; die Dauer des Leidens war nicht abzusehen. So reiste Borromeo wieder ab, denn ihn riefen Geschäfte. Arnold gab das Versprechen, ihm sofort zu schreiben, wenn es schlechter gehen sollte. Außerdem wurde der Landarzt von dem jungen Spezialisten genau unterrichtet, wann eine Operation stattfinden könne; dann erst werde er wiederkommen. Frau Ansorge ahnte, was ihr bevorstand. Ihre ganze Kraft nahm sie vor Arnold zusammen. Nicht um ihn zu schonen, verbarg sie ihre Schmerzen und nicht um als Heldin in seinen Augen zu gewinnen, sondern weil sie sich vor seinem Urteil fürchtete. So völlig hatte das Verhältnis eine Umkehrung erfahren, daß sie, die Unterwerferin und Lehrerin, nun schülerhaft von dem Bilde abhing, das sie im Innern des Sohnes von sich selbst geschaffen hatte, daß sie sein Mitleid mit Recht scheute und mit einer ungeheuren Überwindung ihr Bewußtsein abzog von ihren körperlichen Qualen. Nicht den träumerischen Weichling wollte sie, der im Mitgefühl erst seine Neigung entdeckt. Das gesunde Herz ist hart, sagte sie sich. So litt sie in sich hinein, um den Himmel seiner Zukunft rein zu wissen und sich darin zu bewahren als eine Art von kühler Göttin. Mit Borromeo hatte sie wegen des Besitzstandes gesprochen. Da das Kapital unberührt lag und die Zinsen stets wieder dazugeschlagen worden waren, weil die kleine Ökonomie sich allmählich selbst erhalten hatte, war Arnold Herr eines ganz beträchtlichen Vermögens. Man gab ihm einen Überblick und sprach mit ihm über die Anlage des Geldes, aber er schien sich nicht sonderlich dafür zu interessieren. Er wurde von Tag zu Tag schweigsamer und in sich gekehrter. Wenn er ins Dorf kam, bemerkte er feindselige Gesichter, einen unentschlossenen, abwartenden Haß. Was ist los? dachte er; wohin ich sehe, alle nehmen für das Unrecht Partei. Warum? warum nicht für das Recht? Eines Nachmittags ging er aus und marschierte lange Zeit am Flußufer hin und her. Das Wetter schien sich zu verändern. Regen wich der Kälte. Träg und dick rollte das Wasser des Flusses hin, rotgelb von Sand und Schlamm. Naßkalte Windstöße schlugen dem Wanderer in Gesicht und Nacken, und als er sich endlich entschloß nach Podolin zu gehen, war er bis über die Knie mit Kot bespritzt. Auf dem Platz des Dorfes standen einige Leute in Gruppen und disputierten eifrig. An den Häuserecken waren riesenhafte Plakate angeklebt; Weiber und Kinder buchstabierten daran herum und schrien durcheinander. Es war von einer Wahlversammlung die Rede. Das Glück des Volkes, das Ende der Armut wurde prophezeit, und als Quelle alles Unheils wurden die Juden genannt. Aus der Kirche kam eine Prozession und füllte beim Schulhaus die Mitte der Straße. Als Arnold zur Seite wich, entstand hinter ihm ein drohendes Raunen, das sich vom schreienden Gebeteleiern jäh unterschied. Er drehte sich um und erblickte Elasser, der von der Lomnitzer Straße hereingekommen war, den schweren Hausierpack auf dem Rücken. Ein Schlossergeselle namens Pavlicek eilte sofort auf den Juden los und schleuderte mit einer kurzen Armbewegung den Schlapphut vom Kopfe des Wehrlosen, und der Hut flog im weiten Bogen auf die Schwelle eines Haustors. Das zornige Murmeln nahm einen beifälligen Charakter an. Elasser blieb stehen, machte mit den Lippen eine fletschende Bewegung, blickte scheu auf dem Boden umher, als erwarte er, daß der Hut von selbst wieder zu ihm käme, da er doch keine Hand frei hatte, ihn zu holen. Er schickte sich an, seinen Pack auf die Erde zu stellen und lächelte dabei sklavisch, wie um den Umstehern zu zeigen, daß er eigentlich nichts übelnehme, sondern daß es nur beschwerlich für ihn sei. Arnolds Gesicht errötete und seine Augen verdunkelten sich vor Verachtung. Das Maß der Unbill schien ihm über und über gefüllt. Er warf den Kopf zurück, stieß einen gurgelnden Schrei aus, wie wenn in der nächsten Sekunde alles in ihm zur Besinnungslosigkeit zusammenstürzen würde und rieb die Zähne aneinander, indem er die Lippen nach oben und nach unten entfernte. Der Schneider Wittek, ein Deutscher, stand in seiner Nähe und glotzte. Arnold wollte auf ihn zu, um ihn mitten in den Haufen der andern zu schleudern. Ein wenig Schaum trat vor seinen Mund, aber plötzlich war es, als ob sich ein überirdischer Mittler vor ihm erhöbe, dessen unsichtbarer Mund weise und stolz zum bessern rief. Liegt denn das Recht in deiner Stärke? schien eine Stimme zu fragen. Triffst du das wahre Unrecht mit den Schlägen deiner Faust? Sei anders als sie! überzeuge sie! Überrascht und finster waren die Leute vor ihm zurückgewichen. Er wandte sich ab, ging bis zum Haustor über die Straße, hob den davongeflogenen Hut auf und setzte ihn dem Elasser auf den Kopf. Dabei begegnete er dem geschlagenen Blick des Juden, der sich wieder mit demselben knechtischen Lächeln an die Zuschauer wandte und sich dann langsam entfernte. Auch Arnold ging. Kaum war er ein paar Schritte weiter gelangt, als ihm ein apfelgroßer Stein über die Schulter am Ohr vorbeiflog. Verwundert kehrte er sich um, denn es wunderte ihn, daß einer dies wagte. Ein alter Mann senkte die schon erhobene Hand, die einen zweiten Stein hielt. Die Dämmerung war eingebrochen und nahm rasch zu. Arnold blieb stehen und dachte nach. Fast mechanisch schritt er dann in die Gasse hinein, wo Elasser wohnte. Er trat an das Fenster des Erdgeschosses und warf einen Blick in die niedrige Stube. Die Kinder hockten aufmerksam um den Tisch. Frau Elasser und ein fremder kleiner Mann standen betend vor einem andern, weißgedeckten Tischchen, auf welchem auch Kerzen brannten. Der eben eintretende Elasser ließ seinen Pack sinken und die Betenden gingen auf ihn zu. Auch die Kinder erhoben sich von ihren Plätzen, und der Knabe, mit welchem Arnold schon Bekanntschaft geschlossen hatte, sagte etwas mit lauter Stimme, aber die Worte blieben unverständlich. Der Fremde, dessen Gesicht zutraulich und nachsichtig aussah, nickte. Er war etwa siebzig Jahre alt, war bartlos und hatte einen fast belustigend kleinen Kopf. Arnold legte die Hand vor die Augen. Er befand sich jetzt wie auf einem Ruhepunkt über den Geschehnissen. Es war, als ob sich die Bilder greifbar in die Finsternis zwischen Hand und Auge zwängten. Er sah Jutta, widerrechtlich leidend und diese dort im Haus, widerrechtlich zögernd, feig aller Vernunft zum Spott. Ging der Spruch auf so langsamen Füßen? Wo war der, dessen Amt es war, Gerechtigkeit zu üben? Geschah deshalb nicht, was hätte geschehen können, weil niemand die Hand erhob und den Mund öffnete? Warum saßen sie dort in ihren Zimmern und duckten sich, ließen Unrecht an sich herabrinnen wie Wasser? Hatten sie denn vergessen? Ihm brannte jede Stunde ein tieferes Mahnzeichen ein, er konnte nicht vergessen. Oder gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit? dachte er schaudernd. Ist das alles Unsinn oder Einbildung? Er lehnte den Kopf zurück und schaute empor, um ein Stück des Himmels und seiner Sterne zu suchen. Denn es war indessen Nacht geworden. Der Mond stieg zwischen den Häusern herauf. Dann blickte er, sich vorsichtig am Rand des Fensters haltend, von neuem in das Zimmer. Elasser saß an dem kleinen, gedeckten Tisch, während die andern an dem runden Tisch das Abendessen nahmen. Arnold sah, daß der Fremde einige Male hinüberging, aber Elasser, den Bart in der Faust zerknüllend, schüttelte stets den Kopf. Die Frau saß starr und in sich gekehrt. Als die Kinder sich in die anstoßende Kammer zur Nachtruhe begeben hatten, legte sie den Säugling an ihre magere Brust und schaute düster sinnend ins Licht der Lampe. Zwischen dem fremden Mann und Elasser entstand ein Wortwechsel, und murmelnde Laute drangen zu Arnolds Ohr; aber der Fremde reichte bald darauf der Frau die Hand und wollte sich auch von Elasser verabschieden, dieser schickte sich jedoch an, den Gast zu begleiten. Die Haustüre kreischte und die zwei Männer traten auf die Schwelle. Beide machten eine Gebärde des Schreckens, als sie an der Mauer, wunderlich dunkel inmitten eines vom Mond gebildeten Lichtdreiecks einen Menschen stehen sahen. Arnold ging auf die beiden zu und fragte sogleich: »Was ist also geschehen? Kommt Jutta zurück?« Ein langes Schweigen entstand. Elasser blickte Arnold verwundert und immer mehr verwundert ins Gesicht. Endlich sagte er zu seinem Begleiter, dessen Züge die Gewohnheit des Wohlwollens und der Milde verrieten: »Das ist der Herr von Ansorge, ders so gut meint mit uns.« Der Alte ließ sein Köpfchen hin und her pendeln, das trotz seiner Kleinheit den Schultern eine zu schwere Last war. »Wie steht es also?« fragte Arnold ungeduldig. »Es steht schlecht,« sagte Elasser. »Keine Hand bewegt sich. Es werden Erhebungen angestellt, heißts, und mich haben sie herumgehetzt wie einen Hund, und ich soll warten. Nun, ich wart, wir warten lang genug, is es gefällig? In vier Wochen wird Jutta vierzehn Jahr alt und dann ist keine Hoffnung mehr.« »Es ist in der Schrift geschrieben,« mahnte der Fremde, »man soll das Unrecht sich ergießen lassen ganz.« »Eine schöne Schrift!« rief Arnold empört. »Wartet ihr darauf, bis man euch den Kopf abschlägt?« Elasser machte eine weitausholende Bewegung mit den Armen. »Herr,« antwortete er, »Sie kommen mir wahrlich vor wie jener Jud, der nicht hat lernen wollen Deutsch, weil er hat geglaubt, die ganze Welt ist jüdisch. Die Welt ist nicht jüdisch, gnädiger Herr. Das Recht ist für Sie und nicht für uns.« Langsam waren die drei gegen das Flußufer gegangen. Arnold stieß mit dem Fuß einen Stein ins Wasser und heftig bewegt sagte er: »Aber wie könnt ihr ruhig dastehen, Leute, und schwätzen, immer schwätzen! Es ist ja die niederträchtigste Teufelei, wenn ihr euch nicht rührt um eure Sachen. Mein Recht ist euer Recht, und euer Recht ist Kaisers Recht. Da ist nicht daran zu tifteln. Die Gerechtigkeit ist für alle.« »Der Herr ist in einem großen Irrtum,« erwiderte Elasser finster. »Das Recht ist da; auch die Richter sind da; gleichfalls die Bücher, worein alles steht geschrieben. Aber die Gerechtigkeit? Die ist nicht da.« Verächtlich spuckte Arnold auf die Erde und entgegnete mit äußerster Feindseligkeit: »Lügner und Faulenzer seid ihr.« Der fremde alte Mann stand mit gesenktem Kopf. Die Weltanschauung der Geduld, die ihm Nieren und Hirn geformt hatte, geriet plötzlich in einen geheimnisvollen Aufruhr. In seinen langen Lebensjahren hatte er genug gesehen an Vergewaltigung des Rechts, an blutigen Wunden, welche die Unschuld trug, an tyrannischem Übereinkommen der Mächtigen, um in einem eingebildeten Rächer den letzten Trost zu finden. Nun ging ein Blitz über ihm nieder und zündete in seiner Brust, deren Empfindungen schon versteinert schienen. Nicht Arnolds Worte hatten das vermocht. Was waren ihm Worte! Auch das Unglück des ihm blutsverwandten Elasser nicht, obwohl dies böswillige Hinziehen, dies tückische Verbergen, dieser eingestandene Raub, dies Schauspiel öffentlicher Schmach und Feigheit auch Gleichgültige erregt hatte. Das Neue kam von Arnold her. Berauschend strömte der wilde Idealismus auf ihn ein, befeuerte ihn, und er gedachte seiner eigenen unerfüllten Jugend. »Ja, Samuel,« sagte er mit veränderter Stimme, »du mußt deine Pflicht erfüllen. Wir wollen vor den Kaiser hintreten. Gern will ich das Geld, was du brauchst, hergeben, denn es ist zum guten Zweck. Es ist uns schon gesagt worden, daß wir können eine Audienz bekommen und Seine Majestät wird uns anhören.« »Er wird richten,« sagte Arnold befriedigt. »Ich will nicht sagen, er wird,« antwortete der Alte mit feinem Lächeln, »aber es kann sein. Reisen wir also nach Wien, Samuel.« Elasser starrte bewegt vor sich hin. Während die beiden Alten sich noch beredeten, kniete Arnold am Flußufer nieder, nahm die Mütze ab, legte die Binde beiseite, die seinen Hals umschloß, stülpte die Ärmel bis an die Ellenbogen auf und wusch sich das Gesicht mit dem eiskalten Wasser. Darauf wurde ihm wohl und kühl. Sechzehntes Kapitel Die nachgesuchte, durch einflußreiche Personen unterstützte Audienz des Juden Elasser beim Monarchen wurde genehmigt. Eine jener Zeitungen, welche die öffentliche Meinung beherrschen, schrieb, daß die Angelegenheit, welche solange das Staunen und die Beunruhigung aller Redlichdenkenden verursacht habe, nun endlich vor eine Instanz gelangt sei, bei der es kein Zaudern und keinen Umweg gebe. Von den Einzelheiten der Audienz wurde wenig bekannt. Der Monarch geruhte, die ihm überreichte Bittschrift aufmerksam durchzulesen und richtete dann an den unglücklichen Vater, der schluchzend vor ihm kniete, die verheißungsvollen Worte: »Ich werde neue Weisungen an die Behörden geben, damit sie ihre Pflicht und Schuldigkeit tun.« In der Tat wurden schon zwei Stunden nach der Audienz Befehle solcher Art erlassen. Aber Tag auf Tag verging ohne Botschaft und Erfolg. Als Elasser erfuhr, daß Jutta im Kloster bei Tarnobrzeg gesehen worden sei, wandte er sich telegraphisch an den Bezirksrichter, doch dieser wies ihn an denselben Staatsanwalt, der schon früher jeden Antrag abgelehnt hatte. Elasser ging zum Ministerpräsidenten, welcher auf seine Bitte um Schutz erwiderte: »Sie verdienen es, das gebührt Ihnen.« Es geschah nichts. Elasser wandte sich an den Justizminister und erhielt die Versicherung, daß von der Statthalterei alles aufgeboten werden würde, um den Aufenthaltsort des Mädchens zu ermitteln. Es solle alles aufgeboten werden, um dem Vater seine Tochter vor dem 10. Februar wiederzugeben, an welchem Tag sie das religionsmündige Alter erreicht haben würde. Elasser wartete. Das Leutebereden, In-Vorzimmern-Hocken, Bitten, Sichverbeugen, Erklären nahm kein Ende. Man schüttelte den Kopf, gab Ratschläge, war bedenklich, zerstreut, ergriffen, beschäftigt, ängstlich oder von frecher Deutlichkeit. Die Zeit ging hin. Ein anderer Skandal erweckte die Aufmerksamkeit der Menge. Elasser sagte sich, Jutta sei tot. Ihn zog es nach Hause. Er hatte sich müdgegangen, müdgeredet, müdgebettelt, müdgehofft. Am letzten Tage faßte er sich noch einmal zu einem letzten Gang zusammen; es gelang ihm, den Minister für Galizien zu ungewohnter Stunde zu sprechen. In drangvoll verhaltener Wildheit stellte er eine letzte Frage, um dann für immer zu erschlaffen. Die würdige alte Exzellenz, menschlich erschüttert, verlor den öffentlichen Tonfall und sagte die denkwürdigen Worte »An den Mauern des Klosters hat unsre Macht ein Ende.« Das war am 5. Februar. Mitte Januar gelangte die Kunde von dem gnädigen Versprechen des Kaisers nach Podolin und zu Arnold. Er hatte etwas andres kaum erwartet. Seit dem Gespräch mit Elasser hatte eine gleichmäßige Ruhe und Zuversicht von ihm Besitz genommen. Als er die Nachricht vernommen hatte, kam ein ungestümer Drang nach körperlicher Tätigkeit über Arnold. Er nahm Besen und Schaufel zur Hand, ging in den Hof und begann, einen Weg in den fußhohen Schnee zu schaufeln. Eine Stunde lang arbeitete er, ohne auszusetzen. Die Luft war rein und es war sehr kalt. Arnold, in Schweiß gebadet, blickte empor, als am Zaun eine herrische Baßstimme erschallte. Den Schirm aufgespannt, von den hohen Stulpenstiefeln den Schnee stampfend, stand der Pfarrer dort. Arnold trat näher. Der geistliche Herr fragte nach Frau Ansorge. »Die Mutter ist krank,« erwiderte Arnold etwas verwundert. Desto mehr Grund für den Seelsorger, sie zu besuchen, war die herrische Antwort. Arnold überlegte und schritt dann dem Pfarrer voran. Frau Ansorge wandte den Eintretenden langsam das Gesicht zu. Der Geistliche nahm Platz, schaute die Kranke fest an, erkundigte sich nach ihrem Befinden, und als Frau Ansorge zur Erwiderung gleichgültig und unbestimmt die Lider senkte, befeuchtete er die Lippen mit der Zunge und sagte: »Warum kommt der junge Ansorge weder in die Kirche noch zur Beichte? Haben Sie Ihren Sohn nicht in der Furcht und Anbetung des dreieinigen Gottes erzogen? Ich warte schon lange auf ihn, aber er macht mein Harren zuschanden. Böse Umtriebe stecken in ihm, mit den Gottlosen ist er im Bund. Darum bin ich hier und frage: haben Sie Ihre Pflicht als Mutter erfüllt, liebe Frau?« Nachdem er diese Worte in psalmodierendem Tonfall gesprochen, schwieg der Pfarrer und beleckte wieder die Lippen. Er hielt jeden möglichen Einwand für zermalmt, und mit Zufriedenheit betrachtete er seine auf den Knien liegenden gefalteten Hände. Frau Ansorge hob den Kopf mit großer Mühe etwas empor und erwiderte mit ihrer von Krankheit gebrochenen Stimme: »Bemühen Sie sich nicht, Hochwürden. Wir brauchen keinen Vermittler zwischen uns und dem Himmel.« Erschrocken schnellte der Geistliche von seinem Stuhl auf. Frau Ansorge seufzte. Mit glanzlosen Augen blickte sie umher. Es war, als gehorche der Mund nicht mehr. Sie erhob abwehrend den Arm, wie um den Pfarrer zu verhindern, daß er sich bloßstelle. Der geistliche Herr empfand etwas wie Furcht. Jetzt klopfte es an der Türe; der Doktor trat ein und begrüßte den Pfarrer mit jener Höflichkeit und halben Kollegialität, die eine wohltätige Gewöhnlichkeitsluft verbreitete. Der Geistliche murmelte ein paar Worte und verließ unruhigen Gesichts das Zimmer. Ursula stellte sich neben den Doktor an das Bett. Arnold beobachtete vom Fenster aus, daß die Kranke schneller und vernehmlicher atmete als sonst. Der Doktor flüsterte Ursula etwas zu, worauf diese hinausging und nach einigen Minuten einen mit Eis gefüllten Kübel zurückbrachte. Dann kam der Doktor zu Arnold, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, jetzt sei die Zeit zu einem operativen Eingriff gekommen. Arnold rüstete sich, um auf das Telegraphenamt zu gehen, aber der Doktor meinte, das werde er selbst übernehmen. Arnold schickte sich nun an, Friedrich Borromeo zu benachrichtigen; es drängte ihn hinaus, schon allein deshalb, um nach seiner Art im Vorwärtsschreiten Herr der Besorgnisse zu werden. Als er über den Marktplatz des Dorfes ging, sah er Beate aus der Kirche kommen; sie schaute unbeweglich vor sich hin und ihr Gesicht war weiß unter der Pelzkappe, vielleicht vom Widerschein des Schnees. Arnold widmete ihr nur flüchtige Aufmerksamkeit; eine Sekunde lang erschienen ihm der Pfarrer, die Kirche und Beate zusammen im Bunde zu stehn gegen das Leben der Mutter. Die grob voraussagende Miene des Doktors hatte seine Verachtung erregt und ihn zugleich vorbereitet. Er war nicht geschaffen, in der Dämmerung zu hoffen und zu fürchten; um ihn mußte es licht, das Drohende mußte beleuchtet sein. Das Schicksal der Mutter lag viel greifbarer vor ihm als das Schicksal Elassers und seiner Tochter, bis zu dem Augenblick, wo er von dem Versprechen des Kaisers Kunde erhalten hatte. Wie es auch mit der Mutter gehen mochte, dies nahe Unglück war begrenzt; es konnte mit einem Worte bezeichnet werden, mit zweien: Krankheit, Tod. So rücksichtslos trotz wachsender Angst vermochte er seinem Gefühle Klarheit abzupressen über das, was ihn selbst betraf, was sein eigenes und seines Eigentums Schicksal war. Dort aber hatte er nichts gefunden als eine unaussprechliche Bedrängnis. Der Grund war ihm verborgen. Ein gleichgültiger Jude, seine gleichgültige Tochter, ein gleichgültiges Kloster, ein fremdes Leiden, umflutet von einem Gewirr fremder Stimmen, was hatte ihn dabei gequält? Als er zu Hause ankam, war Frau Ansorge nicht mehr bei Bewußtsein. Siebzehntes Kapitel Der Wiener Professor (samt einem Assistenten) und Friedrich Borromeo trafen auch diesmal zusammen ein. Die Operation wurde eine Stunde darauf vorgenommen. Arnold und sein Oheim befanden sich in demselben Zimmer wie neulich, jedoch in vollkommenem Schweigen. Wieder hatte sich Doktor Borromeo in seinen Pelz gehüllt, wieder schritt er mit seinem wiegenden, müden Gang auf und ab. Ein eigenes, morsches, bitteres, geduldiges Lächeln verzog bisweilen seinen Mund. Draußen war das ärgste Wetter, Sturm und Schneetreiben. Arnold konnte nicht anders, als beständig den leise knarrenden, uhrenhaft regelmäßigen Tritten Borromeos zu lauschen. Ohne daß er es recht wußte, wirkte die Gegenwart dieses Mannes lähmend auf ihn. Nun erschien der Assistent unter der Türe. Er trocknete mit einem Tuch die Hände; die weiße Schürze war mit Blut bespritzt. Sein Gesicht zeigte die Helligkeit eines siegreichen Kämpfers, als er sagte: »Alles steht gut.« Arnold ging dem jungen Mann entgegen und drückte seine noch feuchte Hand. Auch der Professor kam zum Vorschein und begnügte sich, mit emporgezogenen Brauen seine Befriedigung bemerkbar zu machen. Ursula, deren Gesicht noch in Tränen gebadet war, hantierte übereifrig umher. Knechte und Mägde standen im Flur und der Wind sauste durch die Spalten der geschlossenen Türe. Arnold fühlte sich unheimlich. Auf einmal wußte er, als er die flüsternden Stimmen der fremden Männer vernahm, daß die Mutter sterben müsse. Er wollte in das Krankenzimmer, doch dies wurde ihm verwehrt. So verließ er das Haus, trieb sich zwei Stunden lang im Sturm umher, und ein nagender Schmerz ergriff ihn, während er an die Ärzte und an Borromeo wie an Gespenster dachte. Er stieß einen Schrei aus und rannte gegen den Hof zurück, bisweilen einknickend im Schnee, später seine tiefen Fußstapfen von vorhin benutzend. Er stürzte in das Zimmer der Kranken, trat ans Bett, umschlang sie mit den Armen und lachte halb triumphierend, halb vorwurfsvoll, als er sie lebend, wachend erblickte, freilich weiß wie die Leinwand, auf der sie ruhte. Frau Ansorge, erstaunt und müde, legte beide Hände auf seinen Kopf. Sein Ungestüm gab ihr zu denken. Der Abend rückte schon heran, und das Wetter hatte sich ein wenig gebessert, da erschien Alexander Hanka. Er war förmlich versteckt in seinem Winterpelz, aber trotzdem war es zu verwundern, daß Hanka an solchem Tag eine Wanderung über die kaum gangbaren Straßen gewagt, um sich nach Frau Ansorges Befinden zu erkundigen. Er war auch frischer und belebter als sonst, schon in der Art, wie er Arnold die Hand reichte. Doktor Borromeo trat zu ihnen in das abseits liegende Zimmer. Es erwies sich, daß Hanka und Borromeo schon irgendwo einmal Bekanntschaft geschlossen hatten, und es blieb nur zu ergründen, wo. Arnold erstaunte, wie zwei anscheinend so ernste Männer sich spielerisch an ein Erraten und Suchen begaben, oberflächliche Erinnerungen betasteten und dabei nicht das mindeste von Belang zu sagen wußten. Am seltsamsten war das beziehungs- und ortlose dieser in gleichmäßigem Ton geführten Unterhaltung; vergessen war Frau Ansorge, vergessen das Haus und die Schatten, die es bedeckten, vergessen schließlich der, zu dem gesprochen wurde und jeder von beiden schien sich selber, sich allein dumpf und mechanisch anzureden. Arnold war schließlich froh, daß er mit Hanka allein blieb, da sein Oheim sich zur Wiederabreise vorbereiten mußte. Auch der Professor reiste; der Assistent blieb noch einen Tag, um eine schon gemietete Pflegerin aus Wien abzuwarten. »Wie geht es Ihnen also?« fragte Hanka mit seiner tiefen Stimme, als er Arnold gegenübersaß. Er schlug ein Bein lässig über das andere und strich mit der Hand über das Knie. In seinen Augen lag etwas, das diese inhaltslose Frage vergessen machte. »Hoffentlich ist Frau Ansorge bald wieder gesund. Es soll ja nun Aussicht sein, wie?« Arnold nickte. Was für ein Mensch, dachte er; ihn verwunderten die Worte Hankas, aber dennoch zog ihn irgend etwas an. Hanka seinerseits streifte den jungen Mann mit einem forschenden Blick und senkte dann rasch den Kopf. »Wollen Sie nicht einmal zu mir herüberkommen, wenn Sie sich langweilen?« fragte er mit offenbarer Anstrengung, ein überbrückendes Wort zu finden. »Wenn ich mich langweile?« fragte Arnold. »Warum soll ich mich langweilen?« Er saß vorgebeugt, warf aber mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und schaute Hanka nachdenklich an. »Beneidenswerter,« murmelte Hanka und suchte nach einem andern Gesprächsstoff. »Was macht Herr Specht?« fragte er zögernd. »Hören Sie von ihm?« Arnold schwieg. Für ihn war der Name Specht schon etwas Fernes und Unwirkliches. »Er soll sich sehr mit diesem jüdischen Mädchenraub befaßt haben,« fuhr Hanka fort, von Arnolds Schweigen sonderbar berührt. »Aber was ist nun aus der Geschichte eigentlich geworden? Diese unglückliche Affäre macht ihre Verteidiger und ihre Ankläger zuschanden.« »Der Kaiser hat entschieden«, antwortete Arnold mit einer leichten Beunruhigung, die wie ein Hauch über seine Mienen zog. »Von einer Entscheidung weiß ich nichts«, bemerkte Hanka kopfschüttelnd. »Was könnte der Kaiser auch hier entscheiden. Ich weiß ja nicht, möglich ist alles.« Arnold lächelte besserwissend und erhob sich. Hankas Gesicht war ermüdet. Es war, als hätte Nüchternheit seinen vorher so frischen Blick gebrochen. Er verabschiedete sich kälter und fremder, als er gekommen war. Am Abend saß Arnold neben der Matratze der Mutter. Sie dachte an die Liebkosung, die er ihr vor Stunden erwiesen hatte und beantwortete sie jetzt im Geist. Während Ursula am Lagerende ihren Strumpf strickte und der junge Assistent lesend bei der Lampe saß, schaute sie Arnold mit unverwandten Blicken an. In ihren Adern fühlte sie den Tod, aber ihm suchte sie, als wohne eine übermächtige Kraft der Beeinflussung in ihr, den Glauben zu geben, daß neues Leben für sie anbreche. Und Arnold, auch er kannte den Pfad, auf dem sie hoffnungslos schritt, und in seinem Gesicht war die Lüge der Hoffnung. So saßen sie beisammen und täuschten sich. Die fremde Pflegerin war gekommen, hatte ihre Anweisungen erhalten, und der Assistenzarzt war abgereist. Arnold ging zu Elassers. Die Frau zeigte ihm einen mit kaum leserlichen Buchstaben hingeschmierten Brief, den Jutta aus dem Kloster Tarnobrzeg geschrieben. Es war ihr gelungen, das Papier einer Händlerin zuzustecken und diese hatte ihn gebracht. Der Brief war ein Notschrei. Von Elasser hörte man nichts. Als Arnold nach Hause kam und sich ans Bett der Mutter begab, verlangte sie, man solle das Fenster öffnen, und sie blickte nun schräg hinauf gegen den von flockigen Wolkengebilden bedeckten Tauwetterhimmel. Heute war es, als schlösse sie sich stärker als seit vielen Jahren an das Leben an, als sei die Luft um sie her verdünnt und sie vermöchte weit hinter sich in einem wunderbaren Kranz von Ursache und Wirkung den Lauf ihrer Tage zu verfolgen. Deshalb strahlten ihre Züge plötzlich Güte aus, und Arnold schien sich aufgefordert zu reden. Aber was sollte er sagen? Ich nehme teil an einem fremden Schicksal? Irgend etwas hat mich mit hundert Krallen ergriffen, wovon ich nicht Rechenschaft zu geben vermag? Wie hätte er dies zu sagen vermocht? Wie hätte er seine Unruhe zu schildern vermocht, seine Bangnis um irgendwelche Nachricht, um Klarheit, sein immer wieder erstickter Zorn, sein grüblerisches Horchen? Plötzlich ergriff die Mutter seine Hand, als habe sie seine wachsende Drangsal verstanden. »Es gibt ein Wort in der Bibel, das mußt du dir merken, Arnold,« sagte sie. Es heißt: »Wer reiner Hände ist, mehrt die Kraft.« Die Kranke wandte sich ab. Auf ihren Augenwimpern lag Todesschatten. Als die Pflegerin das Fenster leise schloß, seufzte sie tief. Achtzehntes Kapitel Am nächsten Morgen, die Luft war voller Taudünste und der Wind wehte von Süden, trat Arnold pfeifend auf den Hof. Da sah er am Zaun die Gestalt Elassers. Arnold erschrak. Langsam ging er näher. Elasser berührte den Schlapphut, machte einen halb widerwilligen, halb gewohnheitsmäßigen Knix und indem er auf seinen Huckepack deutete, fragte er: »Braucht die Frau Mutter nichts?« »Schon zurück, Elasser?« fragte Arnold mit stockendem Herzen dagegen. Der Jude nickte. »Heut in der Nacht«, sagte er. Sein Blick wurde finster und er blies, um sie zu erwärmen, in die eine freie Hand. »Und Jutta?« fragte Arnold von neuem, als vermöchte dies eine Wort alle übrigen zu ersetzen. Elasser zuckte die Achseln. »Sie haben mir gesagt, der Herr Minister hat mir gesagt, wollen Sie wissen, was? Er hat mir gesagt, so wahr Gott lebt, der mir mein Leben verbittert, er hat gesagt: An den Mauern des Klosters hat unsere Macht ein Ende. Das hat er zu mir gesagt, Herr.« Mit Besorgnis und Furcht sah Elasser auf Arnold, der leichenblaß geworden war; der Mund war geöffnet, die Nase war ganz weiß, die Lippen zitterten, in den Mundwickeln war Feuchtigkeit. Der Jude duckte den Kopf und wollte sich zum Gehen wenden. Arnold trat neben ihn hin, wodurch er ihn aufhielt. Er legte die Hand schwer auf die Schulter des Hausierers und wiederholte nun mit einer unbeschreiblichen Langsamkeit und einem entstellenden Gesichtsausdruck: »An den Mauern des Klosters -- hat es ein Ende?« Elasser vermochte nichts zu erwidern. »Das ist gesagt worden?« fuhr Arnold in derselben versteinerten Weise fort. Indessen fühlte er es in sich zittern und schaudern, sein Herz schien brennend und sein Kopf kalt; auch vor den Augen lag Kälte. »Jaja,« nickte Elasser. Er war betrübt, aber auch kühl und willenlos. Ohne den Hausierer weiter zu beachten, wandte sich Arnold ab. Seine Schritte wurden schneller, dann wieder langsamer, dann wieder schneller. Ohne zu wissen wie, erreichte er den Wald, warf sich auf den nassen Boden und legte Stirn und Augen auf die flache Hand. In der Fülle des unerträglichen, schmerzlichen Zorns biß er die Zähne ins Moos; Tannennadeln gerieten ihm an den Gaumen, und sein Zahnfleisch blutete. Ihm war bitter auf der Zunge, im Gehirn, im Hals, in den Augen, im Herzen. Ja sogar die Muskeln seiner Arme krampften sich zusammen vor Bitterkeit. Er stand wieder auf und wanderte fast laufend weiter. Sein Anzug, sein Gesicht waren mit Kot und Schnee bedeckt. Ist es möglich? dachte er und empfand wieder das schreckliche Zittern. Er sah Gesichter vor sich, die er noch nie gesehen. Sie hatten einen ernsten, grämlichen, harten und gleichgültigen Ausdruck. Gleichgültig war ihnen das, was geschah und ihre trüben Augen sahen leblos aus wie Muscheln. Ein Bach floß über den Weg. Auch im Wasser wimmelten Gesichter, ja, Vorgänge voll Bosheit. Er kam zu einem Bauernhof, es war weit weg von Podolin. Während er aus dem Gehölz trat, sah er, wie ein Knecht eine weiße Katze beim Schwanz hielt und heftig mit einem Prügel auf das Tier einhieb. Schon zeigte sich Blut. Arnold lachte atemlos; er sprang hinüber (der Straßengraben lag dazwischen), packte den Knecht bei den Hüften, warf ihn nieder, schlug mit der Faust in das bärtige Gesicht und schüttelte den Mann voll Raserei, bis ein tiefes Aufatmen seine Brust von einem schweren Druck frei machte. Der Knecht brüllte, aber niemand eilte ihm zu Hilfe, der Hof lag verödet. »Still«, sagte Arnold, indem er den Mann bei den Haaren ergriff. Er ließ ab. Der Knecht erhob sich langsam auf ein Knie; er machte eine Bewegung der Wut, aber dann blieb er tückisch gebückt an seinem Platz. Arnold entfernte sich, ohne daß der Gezüchtigte sich rührte. Er konnte nicht verweilen. In seinen Füßen steckte Ungeduld; seine Schläfen waren heiß wie von Weingenuß. Eile, eile, schienen die Steine zu rufen. Eile! mahnten die Wolken. Eile! sauste der Wind. Frech kam ihm sein Zögern vor, denn er erschien sich beleidigt, maßlos übervorteilt. Alle schienen zu leiden, die unsichtbar ihm nahelegten, zu eilen. Ach welch ein Zorn ergriff ihn immer wieder mit neuer Gewalt! Wenn er stillstand, um aufzuatmen, war es schon ein Frevel, und jede Pore seiner Haut war zum selbständig hörenden Ohr geworden. Ist es eine Welt? dachte er; wo leb' ich denn? was geschieht denn? Ist es erlaubt? Und neuerdings riefen die Steine, das Wasser, die Luft, die Wolken: eile! Er fürchtete zu spät zu kommen. Der Erste, dem er sagen würde, was vorgefallen, mußte ja niederfallen, von Schande erdrückt und Zähneknirschen mußte seinen Mund für jede Speise verschließen. Sieh doch an, was geschehen ist, wollte er ihm erzählen. Aber dessen bedurfte es gar nicht, wozu erzählen? Ein Hinweis, ein Satz und es war genug. Keiner würde seine Stimme ruhen lassen, ein Geschrei würde kommen, alle würden schreien: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! sonst ist es nicht möglich zu leben. Arnold, würde die Mutter sagen, geh' hin und ruhe nicht, denn sie können sonst nicht leben. Alle hatten geschlafen wie er selbst; in ihren Gesichtern lag der Schlummer: Hanka, der Pfarrer, Specht, Beate, Ursula, Borromeo, die Knechte, die Podolinschen Leute. Er war froh, seinen Arm zu fühlen, seine Kräfte zu spüren, seine Jugend und die Genugtuung, den Schlaf von sich entfernt zu haben. Dann werden sie herankommen und lächeln und sie werden sagen; weshalb hast du nicht früher, Arnold Ansorge, dich eingefunden? Nun will ich wachsam sein, erwiderte er ihnen und begann zu lächeln, indem sein Gesicht sich mit Röte bedeckte. Und er lächelte den ganzen Weg nach Hause und als er ins Zimmer trat, sah er Ursula weinend an der Türe stehen, auch die Pflegerin weinte, und oben am Lager der Mutter stand unbeweglich der Pfarrer. Arnold ging langsam näher. Sie ist tot, dachte er; weder Schrecken, noch Trauer ergriff ihn. Lächelnd faßte er die Hand der Gestorbenen mit einem Ausdruck des Versprechens, einem Ausdruck der Ruhe. Als Ursula ihn ansah, schrie sie laut auf und lief aus dem Zimmer. »Sie ist tot,« sagte der geistliche Herr mit scharfer Stimme. Arnold nickte lächelnd zu ihm auf. Der Pfarrer wich zurück, steckte sein Buch in die Tasche, murmelte vor sich hin, sah sich murmelnd um und verließ das Zimmer. Die Pflegerin riß mit eiligen Gebärden ihren Mantel von der Wand und folgte dem Pfarrer. Als es still um Arnold war, begann wieder das formlose Wallen in seiner Seele. Er wanderte in dem engen Zimmer auf und ab. Türe und Fenster waren weit geöffnet, keine Menschenseele war nah, alle hatten sich entfernt und geflüchtet wie vor einem bösen Geist. Die Dämmerung war schon gekommen; der Himmel, reingefegt von Wolken, färbte sich langsam vom aufsteigenden Mond. Die Lüfte und Winde ruhten. Eine Magd, dieselbe die im Flur gestanden war und geweint hatte, schlich am Fenster vorbei, während die Gärtnersfrau und Ursula von fern lauschten. Als die Spionin Arnold mit sich selber sprechen hörte, glaubte sie, er führe eine Unterhaltung mit der Toten und schwindelnd vor Schrecken lief sie davon. Ursula hatte schon am Morgen dem Doktor Borromeo Nachricht gegeben; Arnolds Ausbleiben hatte sie zu selbständiger Handlung getrieben, jede Stunde erwartete sie Erlösung von ihrer Angst. Neunzehntes Kapitel Der Mond beschien den Leichnam, der schon seit dem Mittag gewaschen und hergerichtet war. Ursula und die Pflegerin saßen im Gärtnerhaus; auch die Pflegerin wartete auf die Ankunft Borromeos und auf ihre Entlohnung. Spät abends nahm Ursula vier Kerzen, die sie im Dorf gekauft, überschritt Garten und Hof, trat ins Sterbezimmer und sah Arnold am Fenster sitzen, zwanglos angelehnt, die Arme leicht über die Brust verschränkt. Ursula schaffte vier Leuchter herbei, und bald brannten die Kerzen an den vier Enden des Lagers. Arnold sah ruhig zu und ließ sie gewähren, auch dann, als sie, auf einem Schemel hockend, sich anschickte, die Nacht bei der Herrin zu verbringen. Nach kurzer Zeit begann sie indes zu schlafen. Viele Stunden waren vorbei, es mochte gegen vier Uhr morgens sein, als das Rädergerassel eines Wagens laut wurde. Ursula erwachte, sprang empor, ein Gebet flüsternd, und als sie fertig war, trat Friedrich Borromeo ein. Zum drittenmal seit wenig Monaten; er war schon vorbereitet auf den Anblick einer Toten. Trotzdem, als er am Bett der Schwester stand, schluchzte er trocken vor sich hin. Arnold, den die Dunkelheit ohnedies verborgen hatte, verließ zartsinnig das Zimmer. Der Mond stand tief und gelbrot am Himmel. Nebel zogen über die Ebene. Nicht lange vermochte er draußen zu bleiben. Er ging zu Ursula, die in der Küche Kaffee kochte und bat, ihm im Lauf des Vormittags seine Wäsche und was sonst zur Reise und langen Abwesenheit nötig, zu richten und einzupacken. Vor Erstaunen vermochte sich die Alte nicht zu rühren. Borromeo folgte Arnold alsbald. Er reichte ihm die Hand und wandte dann in geheimnisvoller Verlegenheit und Ablenkung die Augen wie Arnold gegen das flackernde Herdfeuer. Das Schweigen wurde durch Ursula unterbrochen. Auf Arnold zugehend, fragte sie heftig: »Zum Begräbnis wirst du doch bleiben? Packen, was soll das heißen? Wo hinaus denn so geschwind?« Borromeo hörte betroffen zu. Nach einer Pause fragte er sanft: »Meint sie dich, Arnold? Willst du denn fort?« Mit einer beredten und lebhaften Gebärde sagte Arnold: »Ja. Ich will fort. Muß fort. Bald, sobald wie möglich. Gleich nach dem Begräbnis. Man muß einen Verwalter mieten.« »Willst du mir das nicht erklären?« fragte Borromeo matt. Beide Männer gingen in die anstoßende Kammer. Borromeo schritt voran und trug das Petroleumlämpchen. Wieder hatte ihn jene düstere Verlegenheit erfaßt. »Zuerst will ich wissen, wie viel Geld ich besitze, dann das andere«, begann Arnold. Borromeo senkte die Augen. Seine Stirn bedeckte sich mit Unmut. »Du hast ungefähr siebenhundertsiebzigtausend Gulden in sehr guten Wertpapieren,« entgegnete er kalt. »Die Verzinsung ist nicht übermäßig hoch, aber die Anlage ist sicher. Ich darf dich vielleicht darauf aufmerksam machen,« fuhr er mit bureaukratischer Gelassenheit fort, »daß ich bis zu deinem vierundzwanzigsten Lebensjahr dein Vormund bin und nach unsern Gesetzen ist es mir nicht nur gestattet, sondern ich bin auch verpflichtet, deine Schritte zu überwachen und dein Vermögen zu verwalten.« Arnolds Gesicht wurde dunkelrot. »Kannst du mich abhalten zu tun, was ich muß?« fragte er. Wie unerquicklich, dachte Borromeo. Er glaubte sich auf Kampf gefaßt machen zu sollen. Das erbitterte ihn. »Was hast du vor?« fragte er gedehnt und widerwillig. »Die Sache ist die,« begann Arnold. »Elasser, der Jude, bekommt seine Tochter nicht. Sie haben sie ins Kloster gesteckt, das wirst du wissen. Er hat alles mögliche schon versucht und kann nicht zu seinem Recht kommen. Das ist doch schändlich. Ich hätte nie geglaubt, daß so etwas Schändliches passieren kann. Wie geht das zu, ein unschuldiges Mädchen wird den Eltern geraubt, Kloster hin oder her, Raub ist Raub, und der Staat, das Land, der Kaiser, die Minister, keiner will etwas dagegen tun! Der Kaiser selbst hat es ja versprochen, und doch, es geschieht nichts. Kann man denn leben ohne Gerechtigkeit? Kannst _du_ leben ohne Gerechtigkeit? Deswegen will ich also zunächst nach Wien. Ich hab' hier keine Ruhe mehr. Hier weiß man ja nichts, hier erfährt man nichts. Ich will einmal sehen, wie das zugeht bei euch. Ich werde den Kerlen schon Beine machen. Der Jude soll sein Kind wieder haben oder mich soll der Teufel holen.« Mit wachsendem Erstaunen hatte Borromeo zugehört. Eine Art Rührung erfaßte ihn, die aber gleich wieder verdrängt wurde von einem dumpfen Mißtrauen gegen diesen »Idealismus«, wie er es innerlich nannte, und den gläubig hinzunehmen, sich gleichsam alle Erfahrungen seines Lebens sträubten. Gründe gegen dieses kindliche Unterfangen waren natürlich leicht zu finden. Aber Borromeo schämte sich plötzlich seiner Gründe. »Lassen wir es heute,« sagte er, winkte mit der Hand ab und ging hinaus. Kaum war der Morgen angebrochen, als sich Arnold auf den Weg zur Elasserschen Wohnung machte. Nicht mehr mit Bedrücktheit und einem Gefühl leerer Erwartung wie früher trat er in den wohlbekannten Flur. Geschrei und Gekeife schallte ihm in die Ohren. Mitten im Zimmer standen Elasser, die Frau und ein Bauer. Der älteste Knabe zog sich gleichmütig für die Schule an, und Elasser und sein Weib zankten unermüdlich auf den Bauer ein, der ein Stück Leinwand nicht mit dem verlangten Preis bezahlen wollte. Der Bauer fluchte und lachte. Elasser war höhnisch, kratzte sich in den Haaren, befühlte den Stoff und rang die Hände. Arnold stand im Schatten vor der Schwelle. Niemand achtete auf ihn. Nachdem er eine Weile zugehört, wandte er sich nachdenklich ab, um zu gehen. Eines der kleinen, halbangezogenen Mädchen huschte an ihm vorbei zum Hauseingang und stieß dort einen Schrei aus, als ein grauer Metzgerhund vom Ufer herauftrabte und mit hängender Zunge und düster glotzenden Augen vor dem Kind stehen blieb, das zusammenschauderte und sich nicht mehr rührte. In einer wunderbaren Regung hob Arnold das Mädchen auf den Arm. Er legte ihm mit einem Ausdruck der Beteuerung die Hand auf die Stirn. Dann verjagte er den Hund und setzte seinen Weg fort. Zwanzigstes Kapitel Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche hatte Alexander Hanka seine Reise verschoben. Er sagte sich mit Befriedigung, daß ihn das Landleben, die Stille und Gleichmäßigkeit der Tage festhalte. Aber hätte ein Geist wie der seine, ewig nach den leeren Aufregungen der Gesellschaft lechzend und sie zugleich verachtend, dies früher ertragen? sich früher so sorglos zwischen diesen nichtssagenden Beschäftigungen, diesen ereignislosen Wintertagen eingebettet? Bisweilen schüttelte er über sich selbst den Kopf, aber wie jemand, der ein sonst mißachtetes Gut nun mit Leidenschaft umklammert. Agnes war glücklich. Beate hatte sich mit der neuen Gesellschaft zurechtgefunden und wenn auch Hanka in ihren Augen eine komische Figur war, versagte ihr eingeborener Spürsinn ihm nicht die Titel eines gescheiten Menschen und aufrichtigen Freundes. Auch war sie zahm gestimmt, seit der junge Bauer einer andern das Herz zugewandt hatte. Fruchtlos war sie hinübergegangen, hatte geweint, gedroht, gerast. Das alles ging förmlich im Dunkel vor sich, abgewandt vor den Augen, die sie liebevoll verfolgten. Endlich schämte sie sich, zuerst aus Verzweiflung und weil sie anders sich nicht helfen konnte, um sich selbst noch zu achten; dann war es die wirkliche Scham, die ins Fleisch schnitt und das Blut vergiftete. Sie wälzte sich auf dem Boden ihrer Kammer und heulte in sich hinein. Dann kam sie wieder herab ins Wohnzimmer, blaß und lächelnd, saß neben Hanka, spielte ein harmloses Kartenspiel mit ihm, wärmte sich an seiner Nachsicht, schmiedete dabei ihre schlauen Pläne, schien sanfter, ergebener, mitteilsamer und launenloser als früher. Von seinen Freunden in der Stadt hörte Hanka wenig. Außerhalb ihres Kreises lebend, war er gleich dem Spieler, der den Einsatz versäumt hat. Nur Natalie Osterburg schrieb ihm. Neugierde verschlang sie, alles zu wissen, was mit dem Fall Elasser zusammenhing. In den Gesellschaften spreche man von nichts anderm, und er solle doch umgehend schreiben, wie diese berühmte Jutta aussehe, wie sie sich benehme, sich kleide, welche Farbe ihre Augen hätten und so weiter. So geschwind wie möglich müsse sie das wissen, schon um den Neid zu genießen, mit dem dann ihre geheimnisvolle Wissenschaft beehrt werden würde. Da er, Hanka, an der Quelle der Ereignisse sitze, brauche er sich ja nur zu bücken und aufzuheben, was ihr so kostbar sei. Im übrigen möchte er nicht mehr lange mit der Rückreise zögern, da sie frische Ananas aus Hamburg erhalten habe. Natalie, wie sie leibt und lebt, dachte Hanka amüsiert, ohne sich im geringsten zu beeilen, seiner reizenden Freundin zu antworten. Mit Lesen, Spazierengehen, Essen und Schlafen verbrachte er die Zeit, und all dies hatte in seinen Augen einen Anstrich von Stumpfsinn und von Philosophie. Er trug sich mit der Absicht, eine Schrift über die Einsamkeit zu verfassen, aber er verzichtete bald darauf. Ein guter Gedanke ist kurz und reicht für drei Zeilen, sagte er sich; ihn breit zu quetschen wie einen Kuchenteig, ist weder ehrenhaft noch unterhaltend. Er empfand Widerwillen und Furcht vor der Arbeit. In ihm war ein starker, klarer Strom von Erkenntnis, aber ein trübes, dünnes Flüßchen von Tatkraft. Seine Gewohnheiten konnten ihm zugleich verhaßt und unentbehrlich sein, und der halb unfreiwillige Aufenthalt in Podolin, weit entfernt, ihm die Segnungen der Stille, Sammlung und Abgeschiedenheit zu bringen, hatte etwas Zerstörendes für ihn. Seine nach Ablenkung hungrigen Blicke sahen sich auf ein schwankendes Bild gewiesen, auf dem sie mit jedem Tag fester ruhten. Er dachte an Beate, an nichts anderes als an Beate. Drei Wege gibt es, sinnierte er; entweder ich gehe fort und lasse mich nicht wieder sehen; oder sie wird meine Geliebte; oder ich heirate sie. Das erste habe ich schon einmal erfolglos versucht; schon damals hatte mich der Teufel beim Frack. Das zweite ist ja für mich ganz angenehm. Doch mit der Ahnungslosigkeit ein Geschäft machen, gehört nicht gerade zu den sympathischen Dingen. Allerdings, ein natürlicher Geist wird sich in das natürlichste Verhältnis zu finden wissen, aber hab' ich darum mit vierundzwanzig Jahren Vorsehung gespielt, um mich jetzt selbst zu verlassen wie jemand, der ein erworbenes Vermögen plötzlich zum Fenster hinauswirft? Ich kann sie gegen Armut schützen, allein was ist mit Geld gegen den bösen Willen der Gesellschaft auszurichten? Bleibt also das Schlimmste von allen, sie zu heiraten. Eine Promesse auf Sicherheit, systematischer Freiheitsraub, gewohnheitsmäßiges Beisammensein und Langeweile zu zweien. Das Gepäck des Lebens wächst wie im Sommer bei der Eisenbahn; nach dem Jahr der Liebe kommen die Jahre der Pflichten. Es ist wie mit den Schaumtörtchen in der Konditorei; je besser sie sind, je sicherer verderben sie den Magen. Und gesetzt den Fall, ich hätte Nachkommenschaft zu erwarten. Habe ich die Talente eines Erziehers, die Geduld eines Lehrers, die Eigenschaften eines Vorbilds? Ich habe kein Verständnis für Kinder und wäre ein erbärmlicher Vater. Dem veralteten Institut der Ehe neue Glorie zu verschaffen, ist mir also jedenfalls versagt. Wie ist es aber sonst beschaffen, mit der Liebe etwa? Liebt Beate mich? Ein Gedanke von hervorragender Komik. Ich sie? Seit mich auf dem Gymnasium meine Mietsfrau in Begeisterung versetzte, weiß ich von solchen reflektorischen Nervenreizen nichts mehr. Summa: wie man es auch betrachtet, nichts Haltbares bleibt; Spinnefäden, die durch die Sonne ziehen. Damit beendigte Alexander Hanka seine ernsthaften Überlegungen. Aber das Zimmer und das Haus waren ihm zu eng geworden und er begab sich ins Freie, trotzdem schon finstere Nacht angebrochen war. Er vermochte kaum den Weg zu erkennen, der ihn von den Feldern schied. Der Himmel, kaum wahrnehmbar, glich einem tiefverdunkelten Milchglas, und die übrige Welt lag schwarz wie Kohle. Um es in seinem Innern hell werden zu lassen, dazu war Hanka die äußere Nacht sehr willkommen. Aber wie ehrlich er sich auch bemühte, Klarheit fand sich nicht. Am andern Morgen trat er mit einem militärisch ausholenden Schritt vor Agnes hin, als er sie allein sah. »Was würdest du sagen,« fing er ohne Umstände an, den Mund ihrem Ohr nahe, »wenn ich Beate heiraten würde?« In großer Bestürzung riß Agnes die blauen Augen auf. Hanka saugte verlegen und krampfhaft an seiner Zigarre, sah sich spähend um, riß plötzlich ein leeres Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb in hastigen Zügen: »Du mußt gestehen, daß es nicht übermäßig vernünftig wäre. Heiraten ist in jedem Falle eine Dummheit, zugegeben, aber ich habe mich wenigstens auf diese Dummheit gut vorbereitet. Ad zwei: für mich ist die Ehe etwas wie eine Heilkur. Ich bin nicht verliebt, was ja an sich ziemlich traurig, aber für das ganze Unternehmen von Vorteil ist. Was mich besonders anzieht, kannst du dir denken.« Agnes las langsam mit, indem sie ihre Schulter an den linken Arm Hankas lehnte. »Nun?« fragte sie, naiv und ergeben zu ihm emporblickend, als seine Hand zögerte. Er zuckte die Achseln und knüllte das Blatt zusammen. »Du mußt es selber am besten wissen, Alexander,« sagte Agnes, indem auf einmal ihre Augen feucht wurden. Sie senkte verwirrt die Lider und machte sich nachdenklich an ihre häuslichen Arbeiten. Hanka nahm, unzufrieden mit sich, ein Buch, um zu lesen. Es ist unmöglich, sich jemand zum Freund oder zur Gattin zu züchten, dachte er und spuckte verächtlich durchs Fenster in den Garten, den die Sonne durchflutete; aber erst die Ereignisse charakterisieren eine Handlung, und ich will mich nicht selbst verraten, weil es mir einmal geglückt war, Idealist zu sein. Als Beate ins Zimmer trat, schritt er ein paarmal auf und ab, dann wandte er sich plötzlich mit einer erzwungen pfiffigen und überlegenen Miene zu ihr. »Was würdest du sagen, Beate,« begann er mit derselben hölzernen Phrase, mit der er Agnes angeredet und in einer enorm tiefen Stimmlage, »was würdest du sagen, wenn ich dir einen Heiratsantrag machen würde?« Er sah verärgert aus und Runzeln erschienen auf seiner Stirn. Und da Beate unbeweglich vor sich hinsah und endlich mit langsamen Schritten das Zimmer verließ, sank er in ein tiefes Nachdenken und pfiff leise, ohne die Blicke vom Boden zu erheben. Es mochte eine Stunde später sein, als ihm das junge Mädchen am Hauseingang begegnete. Sie erhob im Vorbeigehen den Kopf und sagte mit listigem Lächeln: »Ja.« Hanka durcheilte klopfenden Herzens den Garten. Die Nachricht von Frau Ansorges Tod war schon am Morgen zu Hankas gelangt. Alexander Hanka hatte sich gegen den üblichen Teilnahmsbesuch erklärt. Am folgenden Tag war das Begräbnis und dorthin beschloß Hanka zu gehen. Der Kirchhof lag hoch auf dem Hügel. Trotz des klaren Nachmittag-Himmels herrschte ein sturmartiger Wind. Die Gräber waren noch mit Schneeresten bestreut, die wie Blumen durch Zweig und Erde lugten. Hanka hielt sich abseits. Mit einer Mischung von Staunen und Ungläubigkeit beobachtete er Arnold, der neben dem Grab stand und mit einer wunderlichen Ruhe in das viereckige Loch blickte, als der Sarg hinabgelassen wurde. Alle sahen auf ihn, selbst der Pfarrer stotterte in seiner formelhaften Rede, brach plötzlich erregt ab und entfernte sich. Ursula weinte, aber lauter klang der Schrei einer Krähe, die über die Köpfe flog. Borromeos bleiches Gesicht über dem dunklen Bart wurde noch bleicher. Auch er hatte die Augen auf Arnold gerichtet, jedoch ohne Unwillen, ohne Vorwurf. Zu Hause betrieb Hanka seine Vorbereitungen zur Reise, denn nun galt es, die Zeit zu nutzen. Er hätte sich an diesem Abend eine leichtere Stimmung gewünscht. Früh am Morgen fuhr der Wagen vor, der ihn zur Station bringen sollte. Nach anderthalb Stunden stand er auf dem Bahnhof und sah Doktor Borromeo und Arnold, beide reisefertig, beide gleich ihm den Zug erwartend. Hanka grüßte mit der ihm eigenen ernsten Verbindlichkeit, näherte sich aber nicht, sondern schritt in der holzgedeckten Halle auf und ab. Es war ein wunderschöner Tag; die Luft war still, die Erde hauchte feuchten Duft aus. Weithin schimmerten die Gleise in der Sonne und verloren sich in den graublauen Waldzügen der Ebene. Natalie Einundzwanzigstes Kapitel Borromeo hatte Arnold in seinem Hause Wohnung angeboten, er hatte erklärt, daß der obere Halbstock völlig leer stehe und daß Arnold über drei Zimmer ungestört verfügen könne. Arnold hatte eingewilligt. Schweigend und unablässig beriet Borromeo mit sich selbst. Arnolds Nähe erregte ihn und spannte ihn ab. Der Anblick dieser gesammelten Züge, dieses festen und frischen Blicks machte ihn furchtsam und wortkarg. Längst entherzigt, längst hohl gesogen, kämpfte Borromeo einen beständigen stillen Kampf mit den Affekten anderer Menschen. Am Nachmittag kamen sie in Wien an und fuhren im offenen Wagen vom Bahnhof weg. Als Arnold zum erstenmal die Straßen der Stadt gewahrte und die Flut der Getöse in seine Ohren drang, wurde er ganz bestürzt. Schreien, Johlen, Schimpfen, Befehlen erschallte. Es klopfte, knallte, polterte, rasselte und dröhnte; Wagen fuhren, Karren knatterten, Glöckchen klimperten; es zischte, stampfte, ächzte, heulte, hämmerte und knisterte. Menschen liefen, die heftig mit den Armen schlenkerten; andere, denen Schweiß auf der Haut glänzte; andere, deren Gesichtsmuskeln krampfhaft verzerrt waren; andere, die wie im Wahnsinn stierten und weder rechts noch links schauten; andere, die in vornehmen Kutschen lehnten und deren Mienen förmlich gelähmt waren; andere, die lachten und schwatzten, indem sie doch einen schmerzhaften und angestrengten Zug behielten. Die Luft war dick von Staub. Die langen Reihen gleichmäßiger Häuser zeigten zahllose Fenster; anders sah hier der Himmel aus, anders die Wolken, anders schien die Sonne. An den Mauern hingen buntfarbige Fetzen, worauf in der seltsamsten Weise Seifen, Weine, Eßwaren, Zeitungen, Möbel, Konzerte, Kleider, Heilmittel und Kunstwerke angepriesen wurden. Hunde liefen unruhvoll herum, Soldaten marschierten stumpfsinnig, Bier-, Speisen- und Ladengerüche zogen aus den Häusern, krüppelhafte Bäumchen erhoben sich hinter prachtvollen Gittern, alles war in Bewegung, in Hast, als ob es hier keinen Schlaf, keine Nacht, keine Ruhe, kein Besinnen gäbe. Bald war das Borromeosche Haus erreicht. Es war ein altes Gebäude, das in einer engen, finstern, gewundenen Gasse der innern Stadt lag. Ein Diener kam, um das Reisegepäck in Empfang zu nehmen. Borromeo führte Arnold sogleich in das obere Stockwerk, das ihm zur Wohnung dienen sollte. Die Zimmer waren hoch und still. Borromeo erklärte, daß in früheren Jahren der Bruder seiner verstorbenen Frau hier gewohnt, ein Mann, der sich in den Studentenjahren durch Trinken und Weiber ruiniert habe. Inmitten seines knappen Berichts brach Borromeo ab und wandte den Blick langsam zur Tür, durch welche seine Frau eintrat. Sie war von geradezu fürstlicher Erscheinung. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen, um die ein entgegenkommendes und gleichsam strahlendes Lächeln lag, waren brennend rot. Fast von demselben Rot waren die Haare, die in der reichsten Fülle zu einer Krone frisiert waren. Jeder Schritt der Frau war mit einem Rauschen verbunden, welches für Arnold etwas außerordentlich Rätselhaftes hatte. Mit einem neugierigen und staunenden Gesicht wandte er sich der Dame zu und er verspürte einen beunruhigenden Wohlgeruch im Zimmer. »Pardon, meine Herren, ich dachte nicht zu stören«, sagte Frau Borromeo. »Das ist also der Neffe«, fuhr sie fort, trat rauschend näher, streckte Arnold die Hand entgegen und lächelte: sorglos, mütterlich, voll Teilnahme, etwas spöttisch, -- alles zu gleicher Zeit mit einer unbeschreiblichen Mischung von Belebtheit und Ruhe. Indem sie eintrat, so schien es, hatte sie alles zu ihrem Eigentum gemacht, die Wände, die Möbel, das Licht, die Luft und die beiden Männer. Arnold vergaß, ihre Hand zu ergreifen. Sie lachte, schüttelte den Kopf und fragte Borromeo, ob er zum Tee komme. Als er verneinte, erwiderte sie, er möge ihr Arnold überlassen, der doch von der Reise ausgehungert sein werde. »Ich warte schon mit Ungeduld auf Sie -- oder auf dich«, sagte sie zu Arnold. »Ich war auf eine Art von Waldmenschen gefaßt und bin es noch. Natürlich im edelsten Sinn. Aber damit wollen wir jetzt keine Zeit verlieren. Hier laß ich unterdes alles instand setzen; ich habe ja erst heute früh erfahren -- Kommen Sie, ... komm, Arnold.« All das wurde mit vollendeter Betonung gesprochen, mit einem Wechsel des Ausdrucks, dem sich jedes Wort anschmiegte wie dem Körper ein musterhaft gefertigtes Kleid. Arnold folgte der Hausfrau in den Korridor, dann ein Stockwerk tiefer und trat hinter ihr in ein großes, lichtes Zimmer. An einem mit Tassen, Gläsern, Silbergeschirr, Blumen und Eßwaren bedeckten Tisch saßen plaudernd drei Personen, ein junges Mädchen, welches von Frau Borromeo als Petra König vorgestellt wurde, ein alter Herr mit einem kropfartig verdickten Hals, Baron Drusius, und ein junger, blonder, blasser Mann namens Hyrtl, der durch eine fast puppenhafte Sorgfalt seines Anzugs auffiel. Dieser Mann blickte sofort wie geblendet auf Arnolds graue Joppe, auf seinen altmodischen Kragen, auf seine schweren, großen Stiefel und ein humoristisches Lächeln umzuckte die farblosen Lippen. »Nun haben wir unsern Waldmenschen glücklich hier«, sagte Frau Borromeo, indem sie spöttisch lächelte, als belustigte sie die Verwunderung ihrer Gäste. »Ich erzählte Ihnen ja von ihm«, wandte sie sich zu Hyrtl. Baron Drusius knackte mit den Fingern und fragte mit einer Teilnahme, die Arnold unerklärlich war: »Sie sind Landwirt?« »Bis jetzt war er Landwirt«, fiel Anna Borromeo ein. Hyrtl, der den Ankömmling für dumm und blöde hielt, starrte Arnold mit einer Miene an, die immer humorvoller wurde. Seine Lippen zuckten von verhaltenem Witz. Er bemühte sich vergeblich, zu ergründen, weshalb Anna Borromeo den merkwürdigen Menschen in ihren Salon geführt und gab schließlich ihrer Sucht nach Überraschungen die Schuld. »Sie sind wohl geschäftlich in der Stadt?« fragte der unermüdliche Drusius wieder, der Frau Borromeo einen Gefallen zu erweisen glaubte, wenn er sich mit dem stummen Gast beschäftigte. »Seine Mutter ist gestorben«, bemerkte Anna Borromeo abermals an Arnolds Stelle. Es war, als fürchte sie Arnolds Antwort. Sie schenkte Petra König Tee ein, und eine senkrechte Falte zeigte sich zwischen ihren Brauen. »Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester Natalie?« fragte sie das junge Mädchen. »Gut«, entgegnete Fräulein Petra mit verdecktem Blick und mit jenem nachsichtigen Spott, der nur in ihrem Gesicht lag, wenn von Natalie gesprochen wurde. »Ein ganz köstliches Weibchen«, meinte Drusius und schnalzte mit der Zunge. »Ein Rokoko-Figürchen, ein Sprühgeist. Für dieses Frauchen könnte ich eine Heldentat verrichten.« Hyrtl sah gelangweilt aus. Seine Augen ruhten schwermütig-messend auf Anna Borromeo. »Wie stehen die Montan-Papiere?« fragte ihn Frau Anna lächelnd und tippte mit der Fingerspitze eine Brotkrume von ihrem Kleid. »Schlecht«, antwortete Hyrtl. »Wir können uns auf einen großen Börsenkrach gefaßt machen.« Er legte den Knöchel des einen Beines auf das Knie des andern, schob die Hose ein wenig hinauf, so daß über den Lackstiefeln ein Stück des violett-seidenen Strumpfes sichtbar wurde, zog mit leichter Gebärde eine goldene Zigarettendose aus der Tasche und fragte mit Höflichkeit die Wirtin, ob er rauchen dürfe. Er blickte dabei Frau Borromeo tief und traurig in die Augen, so daß Arnold sehr erstaunt war, als er die Worte vernahm, die diesen Blick begleiteten. Zugleich sah er, daß Petra Königs Blicke auf ihn selbst gerichtet waren, daß sie die Augen, die einen wärmeren, ruhigeren Glanz angenommen hatten, erschreckt wieder abwandte und mit leerem Lächeln nach einer Bäckerei auf der silbernen Schale griff. Arnold musterte das Zimmer, die Tapeten, die Teppiche, die Bilder und hörte mehr und mehr erstaunt der schnell von einem Gegenstand zum andern schweifenden Unterhaltung zu. Als er den Tee, dem er sehr viel Milch zugegossen, ausgetrunken hatte, erhob er sich, stellte seinen Stuhl nahe vor den Tisch, dankte und fügte hinzu: »Jetzt will ich mich waschen.« Damit verließ er den Salon mit unbefangenem Gesicht. Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emerich Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften. Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren Lachkrampf, aus dem er schließlich die Beteuerung hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten. Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. Zweiundzwanzigstes Kapitel Arnold suchte die ihm zugewiesenen Zimmer auf. Im Vorraum seiner Wohnung stand der Diener und sagte, er erwarte die Befehle des jungen Herrn. »Was für Befehle?« fragte Arnold und blieb stehen. Der Diener lächelte und blickte Arnold aufmerksam an. »Gehn Sie nur«, sagte Arnold und wartete, bis der Mann die Türe geschlossen hatte. Welch ein sonderbarer Aufenthalt, dachte er, als er durch die Zimmer ging und die kostbaren Tapeten besah, die schweren Vorhänge, die Bilder, Vasen, Teppiche, Möbel und Bücher. Er riß das Fenster auf, und es wurde ein wenig heller und frischer. Die Gasse war eng. Er schaute hinab und erstaunte über die Höhe, erstaunte über die Nähe der gegenüberliegenden Häuser und ihre endlosen Reihen von Fenstern, die alle geschlossen waren. Er schaute empor und sah nur ein geringes Stück des abendlich verdämmernden Himmels. Ein Flug Vögel zog mit Kreischen geschwind über die Dächer. Während dieser Beobachtungen spürte er großen Hunger. Er überlegte nicht lange, nahm den Hut, verließ seine Wohnung, eilte auf die Straße und suchte das nächste Wirtshaus. Bald fand er eine kleine Kutscherkneipe, bestellte Wein, Wurst und Käse und aß mit Appetit. Viele Männer saßen in dem raucherfüllten Raum, schimpften, politisierten, schrien, lachten und spielten. Als Arnold satt war, bezahlte er und ging. Er beschloß, einen Spaziergang durch die Straßen zu unternehmen, aber vorsichtig, wie er war, kehrte er zuerst zurück und prägte genau die Gasse und das Borromeosche Haus seinem Gedächtnis ein. Kaum hatte er dies stille Seitental verlassen, als er im Nu in einen eilenden Menschenstrom geriet. Die Abend-Dunkelheit wurde durch das blendende Licht aus den hohen, weißen Lampen gänzlich zerstreut. Aus allen Läden, aus jedem Fenster der schönen Paläste drang Licht, und die Nacht über den Dächern war wie eine feste Decke. Als Arnold sich inmitten der unabsehbaren, beständig sich erneuernden Menge befand, glaubte er zuerst, das Geräusch, das zu ihm floß, sei ein gleichmäßiges, ängstliches Raunen. Denn es war nicht laut und nicht leise; es war weder Reden noch Schreien. Oft klang es wie minutenlang hintereinander ausgehauchte tiefe Seufzer, oft wie fernes Gelächter; nichts hielt Stand, alles rauschte gleich einem schwerflüssigen Wasser dahin. Arnold ging dicht an der Seite der Häuser und kam nur langsam vorwärts. Er ermüdete nicht, Gesichter zu betrachten; er wurde nicht satt, den Ausdruck der Augen zu erhaschen. Einer blickte vorsichtig und spähend vor sich hin, einer redete gereizt, einer ging müde. Jeder schien eine Maske zu tragen und zwischen unsichtbaren Wänden zu gehen. Verwirrt, ratlos, wie in einem Rausch, blickte Arnold vor sich hin. Seine Stimme erschien ihm klein, seine Schritte zu kurz, seine Arme machtlos, seine Verstellungen kindlich. Er sah Menschen, Menschen, immer neue Menschen. Doch kein Gesicht war festzuhalten, alle Gesichter verschwammen im Nebel. Ungewöhnlich erregt verließ er die taghellen Straßen und kam in spärlicher beleuchtete, in welchen sein eigener Schatten matt mit dem Dunkel zusammenfloß, und immer wieder auftauchte, wenn er unter der gelben Flamme einer Gaslampe vorüberging. Er dachte nicht mehr an Zweck und Ursache des Weges; mit umfangenen Augen und sonderbar gelähmten Gedanken ging er dahin. Was er sah, schien ihm unglaubhaft, unbegründet und widersinnig. Warum stand Haus an Haus so enggepreßt, daß jedem einzelnen der Atem zu fehlen schien? An der Ecke blieb Arnold stehen und blickte erstaunt die unbewegliche Reihe der Laternen entlang. Ihn lockte es, das Ende kennen zu lernen, und ohne den Gedanken an Rückkehr folgte er der Flucht jeder Gasse und Straße und glaubte bei jedem neuen Anfang, nun müsse sich bald der Wald öffnen oder das Wiesenland dehnen. Aber jedesmal wurde diese Erwartung zerstört und sein Erstaunen wurde größer und dumpfer, insbesondere durch die Wahrnehmung, daß die endlosen Häusermassen ihn nicht nur in der Richtung seines Weges begleiteten, sondern auch nach allen Seiten hin ausströmten. Er betrachtete die Aushängeschilder von Krämern, Wirtshäusern und den zahllosen Geschäften, in denen er zufriedene und glückliche Menschen vermutete, getäuscht durch den Lichterglanz und die Buntheit der Auslagen. Er blieb vor den erleuchteten Fenstern der Kaffeehäuser stehen und blickte ratlos hinein, da ihm ihr Inneres wie zu einem Feste geschmückt vorkam. Er sah mächtige Gebäude, die einem unbekannten feierlichen Zweck dienen mußten, Kirchen, deren eherne Tore geschlossen waren, und von deren Türmen dennoch Glockengeläute erklang. Überall hatte er den Eindruck der Ruhe, der Ordnung und der Gerechtigkeit und hundertmal schüttelte er über sich selbst den Kopf und war unzufrieden, ohne zu wissen warum. Noch nie hatte er solch ein Gefühl lustloser Ermüdung gespürt. Doch er setzte seinen Weg fort und kam in eine öde Vorstadt mit ausgestorbenen Gassen. Hier wurden die Häuser niedriger und der Himmel schien infolgedessen näher. In den erdgeschössigen Wohnungen sah er Familien beim Abendessen sitzen, aus den Kneipen drang Lärm und Geschrei, Dirnen gingen vorüber und lächelten ihm zu; jeder einzelne Laut und jedes Bild erzeugte in Arnold die betäubende Empfindung der Vielfältigkeit und der unübersehbaren Weite. Mit Bitterkeit, ja fast mit Angst fühlte er seinen gänzlichen Mangel an Erfahrung. Er glaubte sich verachten zu müssen. Herrgott, sagte er zu sich selbst, das kann übel enden, und plötzlich drehte er sich um und trat mit stürmischem Wesen die Rückkehr an, auf welcher er einige begegnende Personen höflich und zaghaft nach dem Weg befragte. Nach stundenlangem Gehen fand er sich endlich zurecht und kam gegen zehn Uhr nach Haus. Der Diener begleitete ihn in sein Zimmer, zündete die Lampen an und fragte, ob nichts zu besorgen sei. Arnold schüttelte den Kopf. Er sah seinen Reisekoffer vor sich stehen und ohne einen der prächtigen Stühle rings zu benutzen, setzte er sich rittlings darauf und versuchte nachzudenken. Es war ihm, als hielte er sein Herz in der Hand, drehe es hin und her, aber es war stumm. Plötzlich sah er viele Wege; jeder führte dorthin, wo man mühelos Gerechtigkeit erlangte. War es denn etwas so Großes, diese Gerechtigkeit? so vielen Zorns, so vieler Gedanken wert? Arnold schämte sich und kam sich vor wie jemand, der mit Pferd und Wagen kommt, um eine Maus aufzuladen. Sein Vorhaben erschien ihm leicht und selbstverständlich. Er begann vor sich hinzupfeifen, als es an der Tür pochte; Friedrich Borromeo trat ein. »Guten Abend, Arnold,« sagte er in seiner gemessenen Sprechweise, »hast du dich schon ein wenig zurechtgefunden?« Vorsichtig hob er mit der äußeren Seite der Hand seinen Bart empor und legte den Kopf gegen die Schulter. Arnold trat vor ihn hin. »Zurechtgefunden? Nein, Onkel. Zurechtfinden kann ich mich hier nicht. Also sage mir, was soll ich tun? Wie soll ich's anfangen?« »Ei, ei, so ungestüm,« erwiderte Borromeo. Er gab es endlich auf, seinen Bart zu bestreichen, schritt zum Tisch, setzte sich auf einen der Polstersessel und nahm ein elfenbeinernes Papiermesser, das er lose zwischen den Mittelfingern beider Hände behielt. »Du willst also dieser eingesperrten Jüdin zur Freiheit verhelfen,« sagte er mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Ich verstehe deine Beweggründe. Du bist jung. Du bist begeistert. Du kannst dich noch entrüsten. Schön. Aber was willst du allein ausrichten? Ein Feldherr, der keine Truppen hat, kann keine Schlacht gewinnen. Ich will dich ja nicht von deinem idealen Unternehmen abbringen, ganz im Gegenteil.« »Würde dir auch nichts nützen,« warf Arnold trocken und etwas ungeduldig dazwischen. »Schön. Aber betrachten wir die Sache einmal von einem andern Standpunkt, von einem praktischen sozusagen. Zufällig war es diese Klostergeschichte, die dich in Aufruhr gebracht hat. Es hätten Millionen andere sein können. Nehmen wir nur unser Land, ja nehmen wir nur einmal Galizien. Die Regierung dort ist verrottet. Alle Gewerbe liegen auf den Tod. Die Mitglieder der Geburts- und Geld-Aristokratie verüben die ungeheuerlichsten Diebstähle. Der Wucher blüht wie anderswo im Mittelalter. Die Länderbank ist verkracht, weil ein Fürst und ein Graf sie durch Betrügereien ins Verderben gestürzt haben. Hast du von den Cziriskawer Gruben gehört? Die hungernden Arbeiter mußten zusehen, wie die Aktionäre einander und der Direktor die Aktionäre um Tausende von Gulden bestahlen. Eine Million Notstandsgelder für die in Krankheit und Hunger vegetierenden Bauern werden zurückgehalten; auf den großen Gütern wird der Arbeitslohn in Pappendeckelstücken statt in Geld ausgezahlt. Was ist dagegen deine Klostergefangene? Urteile selbst. Schau dich nur um. Es gibt viel zu tun. Lerne, damit du siehst, wo du anzufangen hast. Du darfst dich nicht verwirren. Ich werde niemals deinem Willen entgegentreten. Ich werde nie fragen, ob das auch gut ist, was du tust, sondern immer annehmen, daß es das beste ist. Ich lasse dir freie Verfügung über dein Vermögen, deine Zeit, deine Person. Aber lerne erst erkennen, wo du Hand anzulegen hast. Wir brauchen Menschen, wir brauchen Männer; aber in dieser Zeit, in diesem heruntergekommenen Land bedarf es nicht nur eines ganzen Menschen, einer großen Leidenschaft, einer reinen Seele, sondern auch eines aufs höchste gebildeten, praktischen Geistes. Erfahrungen braucht es und Kultur. Das ist eben die Probe, Arnold, in der du dich bewähren mußt. Äußerlich mußt du sein wie alle andern, mußt dich kleiden wie sie, mußt ihre Formen und Gebräuche annehmen; aber deine Hand muß sauber bleiben, deine Seele rein. Und trotz alledem mußt du dich durchkämpfen, hinaufkämpfen. Das ist das Problem. Dann wird es dir ein Leichtes sein, eine Jutta Elasser zu befreien. Heute ist es unmöglich für dich wie für jeden andern. Du hättest keine andern Wege als jene Leute selbst, du würdest nirgends eine werktätige Hilfe finden. Und deine Kräfte ins Phantastische hinein verschwenden, das wäre doch sinnlos.« Arnold saß weitvorgebeugt auf seinem Koffer und ein kühler Schauder fuhr ihm über die Haut. Er fühlte Zorn und Rührung. Er begriff und wollte sich dennoch verschließen. Er sah ein, daß das alles seine Richtigkeit hatte und wünschte doch, es nicht gehört zu haben. »Wenn ich mir erlauben darf, dir ein Programm aufzustellen,« fuhr Borromeo fort, »so wäre es dies: fange an, dich über alles mögliche zu unterrichten. Belehre dich. Halte dich an die Bücher und an gescheite Menschen. Bereite dich für ein Amt vor. Eine Regelmäßigkeit wird sich dir bald von selbst ergeben, vielleicht auch der Beistand eines Freundes. Du hast alle Gaben, um zu einem schönen Ziel zu gelangen. Der unerschütterliche Wille besiegt jedes Hindernis. Und um mit zwei Worten noch einmal alles zu sagen: Bleib und werde!« Es war deutlich zu sehen, wie schwer es Borromeo ums Reden wurde, denn er schwieg jetzt mit einem erleichterten und müden Gesicht und ließ den Blick langsam von dem Elfenbeinmesser aufwärts gegen das Licht schweifen. Arnold hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und sein Gesicht verborgen. Was in ihm kämpfte und brauste, das ahnte Borromeo und das liebte er an ihm. Er stand auf, ging hin und legte Arnold die Hand auf die Schulter. »Nun?« fragte er leicht und kurz. Arnold erhob den Blick und schnellte von seinem Sitz empor. Seine Wangen glühten. »Man kann das eine tun und braucht das andre nicht zu lassen«, sagte er. »Man kann beides tun.« »O gewiß, man kann beides tun«, antwortete Borromeo. »Insofern keine Gefahr ist, daß man sich verzettelt. Gewiß. Die Erfahrung wird darin dein bester Lehrmeister sein. Wenigstens sehe ich, daß du nicht verstockt bist. Von den Idealisten ohne Kopf hab ich nie etwas gehalten. Sie schaden mehr als sie nützen. Gute Nacht, Arnold.« Sie gaben einander die Hand. Dreiundzwanzigstes Kapitel Arnold war zu Borromeos Schneider gegangen. Zwei Tage später war er im Besitz von vier modischen Anzügen; das Zubehör an Wäsche war vorher besorgt worden. Zaudernd und umständlich bekleidete sich Arnold mit den neuen Dingen. Verlegen stand er vor dem Spiegel und blickte an seinem Bild herab wie an einem fremden Mann. Aha, redete er sich selbst an, da wärst du also, lieber Bruder, siehst immerhin merkwürdig aus, wie der Gevatter beim Hochzeitsfest. Er verzog das Gesicht und konnte sich lange nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen, obwohl er noch am Morgen zur öffentlichen Bibliothek wollte. Als es überwunden war und er mit ungewohnter Langsamkeit die Treppen hinunter schritt, sah er im Korridor Anna Borromeo mit einer andern Dame plaudernd beisammen stehen. Frau Anna winkte ihm und sagte zugleich zu der Fremden: »Dies ist mein Neffe, Herr Ansorge.« Arnold blieb stehen, Anna Borromeo wies auf die fremde Dame und sagte: »Frau Natalie Osterburg.« Arnold reichte sofort nach seiner Gewohnheit die Hand und verspürte eine andere Hand, deren Winzigkeit ihn verblüffte. Die Frau lachte und schrie vor Schmerz, er möge sie loslassen; Anna Borromeo lächelte. »Also _das_ sind Sie!« sagte Natalie Osterburg, und das neugierige Kindergesichtchen hinter dem schwarzen Schleier blieb Arnold fragend zugewandt. »Petra hat mir von ihm erzählt, aber ich finde, er ist ganz hübsch.« Ein köstliches Aber. Arnold fühlte sich zu der neuen Bekannten hingezogen, weshalb er ohne weiteres sein Kommen versprach, als sie ihn um seinen Besuch bat und Tag und Stunde bezeichnete. Sie sagte noch einiges zu Anna Borromeo, was wie das Geplätscher eines Springbrunnens klang, lachte, fragte mit kindlichem Ernst nach gleichgültigen Dingen, war unglücklich über das drohende Regenwetter, sagte, sie habe die größte Eile nach Hause zu kommen, vergaß es jedoch sogleich und fragte Arnold, ob er reiten könne. »Ich habe Sie mir als eine Art wilden Jäger vorgestellt, denken Sie nur, wie komisch«, meinte sie und lachend beugte sie den Oberkörper vor. Darauf verabschiedete sie sich und Frau Borromeo schien sehr erleichtert, als sie ging; Arnold beobachtete es an dem versteckten Spiel der Augen und ihn verdroß das liebenswürdige Lächeln, das Hinabbeugen über die Treppenbrüstung, das Winken mit der Hand, womit Anna Borromeo ihrem Gast das Geleit gab. Natalie Osterburg war trotz ihrer zweiunddreißig Jahre noch die zierlichste Frau. Sie hatte eine Puppenfigur. Begeisterung und Neugierde waren die zwei Gefühle, von denen sie völlig beherrscht wurde. Sie war lustig, oft auch da, wo niemand es erwartete, und damit brachte sie manches vernünftige Gespräch und manchen ernsthaften Mann aus dem Gleise. Sie war stolz auf ihre kleinen Füße und Hände; sie war eitel, geschwätzig, naschhaft, vergnügungssüchtig, aber sie gewann ihren Tadlern einen Vorsprung ab, indem sie Geständnisse ablegte und sich verspottete. Wenn sie sprach oder ging oder saß oder lachte, dann leuchtete es vor Freude in ihren Augen, daß es möglich war, so sprechen, gehen, sitzen und lachen zu können wie sie. Für die Ausbrüche ihrer Bewunderung, ihrer Überraschung gab es kein zu kostbares Wort und keinen Gesichtsausdruck, der schwärmerisch genug war; in derselben Minute interessiert sie sich »rasend« für einen Klatsch und zappelt vor Ungeduld darüber, daß sie einen Traum, einen Namen, den Titel eines Buches vergessen hat. Sie hat zwei Kinder, Mädchen von zehn und acht Jahren, und sie liebt es mit einem lauten Staunen von ihnen zu erzählen, als sei das Dasein von Kindern etwas sehr Seltenes und als seien ihre Kinder die wunderbarsten auf der Erde. Als Natalie nach Hause kam, fragte sie das Dienstmädchen, wo der gnädige Herr sei. Im Salon, wurde ihr geantwortet. Petra kam auf die Schwester zu und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Natalie schloß erblassend die Augen und legte den Kopf gegen den Nacken. Petra sah sie mitleidig an und wandte sich zu den Kindern, die ihr gefolgt waren und die Mutter mit zärtlich verdrehten Ausdrücken begrüßten. Herr Osterburg war nicht im Salon. Aus dem Schlafgemach nebenan drang ein ungewöhnlicher Lärm. Natalie öffnete mit theatralischer Langsamkeit die Tür und sah ihren Gatten bis zum Nabel nackt. Er war im Begriff, sich zu waschen und rieb den Körper mit einer Heftigkeit, als sei die Haut mit Teer beschmiert; dabei prustete, plätscherte, stöhnte und zischte er wie eine Maschine, die im Wasser versandet ist. Natalie betrachtete ihn mit einem maßlosen Erstaunen und einer zur Hälfte gespielten Verachtung. Herr Osterburg legte verdrießliche und eifervolle Falten in sein Gesicht, während er mit einem Flanelltuch die behaarte Brust trocknete und ächzend den Rücken rieb. »Also so weit sind wir wieder, so fallen deine sichern Geschäfte aus,« sagte Natalie. Osterburg versah eines seiner neuen Frackhemden mit Knöpfen, zog es aber nicht an, sondern legte sich mit nacktem Oberkörper auf die Ottomane. Er hob das Bein ein wenig in die Höhe und betrachtete seinen Lackschuh. Dann tat er einen tiefen Seufzer, warf sich empor, wie von einer Feder geschnellt und sagte düster und verlegen: »Ja, reich sein, reich sein, das ist das einzige.« »Idiot«, murmelte Natalie. Osterburg verfiel in ein starrkrampfähnliches Besinnen und betastete mit sorgenvoller Stirn die fette Gegend seines Magens. Erst als ihn fröstelte, dachte er daran sich anzukleiden. »Ich bin ruiniert«, sagte er dumpf. Dann machte er wilde Augen, streckte die Faust gegen die Decke und schrie. »Meinen heiligsten Schwur, daß ich in drei Wochen eine halbe Million haben werde, oder --« Er deutete mit prophetischem Ausdruck ins Unbestimmte und schwieg wie ein gescholtener Hund, als ihn Natalie gelassen und erwartungsvoll anschaute. Natalie stand auf und eilte mit schnellen Schritten in das Zimmer ihrer Kinder. »Liebste Petra!« rief sie, »komm, ich will zur Mutter.« »Nun?« fragte Petra in ihrer überlegenen Weise. Natalie blickte sie unsicher an und erwiderte zerstreut: »Jaja. Aber du weißt, ich habe die Schneiderin zur Mutter bestellt, damit mein Mann das Kleid nicht sieht. Rasch, sonst wird es zu spät zum Probieren.« Sie küßte etwas summarisch ihre Kinder. Petra stand mit sarkastisch-ergebenem Lächeln abseits. Kaum hatte Osterburg bemerkt, daß er allein sei, so erhob er sich, schüttelte unwillig den Kopf und fletschte die Lippen. Dann verfügte er sich in die Küche und fragte die Köchin, was sie zu essen habe. Schwermütig stand er am Herd und stierte in die Pfanne. Die Köchin zählte ihren Speisezettel an den Fingern ab, und Osterburg schlurfte anscheinend betrübt wieder hinaus. Sein Kopf war nur von einer einzigen Idee erfüllt: Geldquellen zu entdecken, Gold in Strömen aufzufangen um jeden Preis, durch jedes Mittel. Ihm schien, das Geld müsse für ihn auf der Straße liegen und er brauche nur hingehen und sich bücken. Als Natalie und Petra bei ihrer Mutter eintraten, fragte diese, was mit Osterburg vorgegangen sei, er benehme sich so sonderbar. »Er ist der größte Narr, den es gibt, Mama«, versetzte Natalie kalt. »Du hast ihn doch geheiratet, mein Kind«, meinte die alte Dame und ging zu ihrem Stuhl zurück. Eigentlich ging sie nicht, sondern schob sich vorwärts. Der Oberkörper, weit zurückgeneigt, schien nur lose mit den Beinen verbunden, wodurch ihre Bewegungen etwas Automatisches erhielten. Bei jedem Schritt nickte sie mit dem Kopf wie eine Taube. Ihr Gesicht war farblos und hatte etwas von einem Sandstein, der vom Wasser zernagt ist. Sie hatte die Miene einer abgesetzten Königin. Für die plumpeste Schmeichelei empfänglich, war sie zugleich harmlos und boshaft, gebrechlich und zähe, zänkisch und liebevoll. Diese Frau hatte die Rasse verdorben. Sie hatte die schlechte Mischung erzeugt, durch welche die Klarheit und Regelmäßigkeit der Kristalle unmöglich ist. »Glaubst du, Mama, daß hellgrün mich zu blaß macht?« fragte Natalie, die mit Ungeduld auf das Kleid wartete. »Mama, du sollst nicht so viel herumgehen«, mahnte Petra. »Zu meiner Zeit gab es andere Ehen«, sagte Frau König mit rasselnder Stimme. »Da war nichts als Einigkeit, Frieden, Gefälligkeit. Oft sag ich zu Petra ... nicht wahr, Petra --?« ... »Pottgießer hat eine römische Statue aus Spalato angekauft«, wandte sich Natalie an Petra. »Einen Antinous. Es soll ein herrlicher Marmor sein, aus der besten Zeit, sagt die Borromeo.« So redete jede der drei Frauen von etwas anderem, und sie schienen einander trotzdem zu verstehen. Sie waren beweglich wie die Ringe im Wasser, die, um denselben Mittelpunkt entstanden, sich nie berühren können. Vierundzwanzigstes Kapitel Am Sonntag, dem Empfangstag bei Osterburgs, füllten sich schon von fünf Uhr ab die Zimmer mit Besuchern. Herr Martin Osterburg stand bei einer Gruppe junger Leute und prahlte mit dem Sieg eines Rennpferdes, auf welches niemand gewettet hatte, ausgenommen er selbst. Als jemand dies bezweifelte, konnte Martin nur noch zwei Leute zugeben, die ebenfalls auf dieses Pferd gesetzt hätten. Als aber ein anderer Herr behauptete, dieser Sieg sei lange vorher ein öffentliches Geheimnis gewesen, da wurde Osterburg vor Verachtung um fünf Zentimeter länger, und seine grauen, bürstenartig emporstehenden Haare erschienen wie lauter entrüstete Ausrufungszeichen. Gleich darauf aber war er wieder freundlich, begrüßte Emerich Hyrtl und Armin Pottgießer, den von allen gefürchteten Pottgießer. Pottgießer war Börsenmann, Zeitungsbesitzer, Volksfreund, Regierungsfreund und vor allem war er unermeßlich reich. Mit erstauntem Gesicht trat jetzt Arnold Ansorge ein. Dies war die Stunde, die ihm Natalie bestimmt hatte und anstatt Natalies sah er eine Menge unbekannter Menschen. Hinter ihm blieb die Türe geöffnet und eine alte wie ein Fabeltier aufgeputzte Dame, welcher zwei junge Mädchen folgten, schob Arnold beiseite und trat rauschend ein. Natalie gewahrte Arnold. Sehr verlegen ging sie ihm entgegen; sie hatte nicht geglaubt, ihn heute schon bei sich zu sehen. Sie bereute ihre Einladung, denn nach Hyrtls Bericht fürchtete sie eine Art Ungeheuer in Arnold. Sie reichte ihm die Hand und war schüchtern vor lauter Neugierde. Sie bat ihn, ihr zu folgen und führte ihn zu Petra und Hyrtl, die allein in einem Winkel saßen. »Verzeiht,« sagte sie, »hier ist ein Ausnahmsgast.« Arnold setzte sich schweigend nieder. Die Luft war heiß. »Ist hier eine Versammlung, Fräulein?« fragte er, indem er Petra erwartungsvoll anschaute. Das junge Mädchen errötete, lachte, war verwundert und wußte nichts zu antworten. Hyrtl, der wie ein Ballon von Vornehmheit dasaß, verlor den gleichgültig-grämlichen Ausdruck, der in seinen Zügen vorherrschte und sagte liebenswürdig: »Lassen Sie sich nicht beirren. Die Leute sind nur da, weil sie ihre eigene Langeweile vergessen, wenn sie einen andern sich langweilen sehen.« Petra, die durch Arnolds höfliche Aufmerksamkeit, mit der er den Worten Hyrtls lauschte, gerührt wurde, lächelte und ihre Augen nahmen plötzlich im Lampenlicht ein schönes, tiefes Blau an. Ein junger Mann mit gelber Gesichtsfarbe und schwarzen, frechen Augen näherte sich. »Freund Hyrtl sieht heute sehr bedeutungsvoll aus«, sagte er mit offenbarer Geringschätzung. »Bei mir hat jedes Härchen seine Bedeutung«, entgegnete Hyrtl mit unschlüssiger Selbstironie. »Dann müssen Sie aber mit den Jahren viel an Bedeutung eingebüßt haben«, sagte der junge Mann. Hyrtl lachte gutmütig-widerwillig und verzog verächtlich das Gesicht. Beide verachteten einander aufs äußerste. Petra spielte mit ihrer Uhrkette. Was reden sie? dachte Arnold bestürzt. Er blickte Petra an, sah rückwärts in das Zimmer, dann gegen das Fenster und dachte abermals: was reden sie? Natalie kam heran. Sie war rot, belebt, bewegt von Reden, von Hören, von Lächeln. Mit leichter Vertraulichkeit legte sie die Hand auf Arnolds Schulter; er blickte überrascht empor. »Nun was treiben Sie?« fragte sie, mit den Augen zwinkernd. Auf einmal, er wußte nicht, wie es kam, begann er zu erzählen. Vielleicht war es der Trieb, sich aufzuschließen oder fühlte er das Verlangen, seine Anwesenheit zu rechtfertigen. Er berichtete von der Gewalttat, deren Opfer der Jude Elasser geworden und wie alle Mühe vergebens gewesen war, ihm zu seinem Recht zu verhelfen. Deswegen habe er sein Gut verlassen und sei in die Stadt gekommen. Er blickte jeden der drei Zuhörer leuchtend an, als ob er überzeugt sei, daß sie sich gleich ihm selbst für diese Sache entflammen würden. Er war in seiner Weise beredt, und diese Beredsamkeit verschaffte ihm den Respekt jener nichtigen Menschen. »Das ist ja riesig interessant«, rief Natalie aus, als er geendet. »Allerdings eine alte Geschichte, das mit dem Juden«, bemerkte Hyrtl frostig. »An der Geschichte ist freilich nichts Neues,« erwiderte Natalie; »aber daß er sich so dafür ins Zeug legt, ist doch interessant.« »Man müßte etwas dafür tun«, sagte Petra, die sich schämte. »Ich werde mit meinem Freund, dem Minister Schrott sprechen«, entgegnete Hyrtl, indem er auf die Uhr blickte. »Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein«, sagte Arnold warm. »Kommen Sie«, sagte Natalie. Er stand auf und folgte ihr. Er glaubte, sie wollte ihm etwas Wichtiges mitteilen, indessen führte sie ihn zu ihrem Mann und sagte: »Da ist er.« Und als Martin ein dummes Gesicht machte, fügte sie feierlich hinzu: »Herr Ansorge, der Neffe von Borromeo.« Martin schnalzte mit der Zunge, legte seinen Arm sogleich in den Arnolds, steckte ein Kaviarbrot in den Mund und sagte kauend: »Ist es wahr, daß Sie bis jetzt in einer Höhle gelebt haben? Alle Welt erzählt davon.« Arnold sah den Mann überrascht an und wußte nicht, was er aus ihm machen sollte. Er bückte sich, um eine Nadel aufzuheben, die im Teppich blitzte, dann ging er zur Türe, verließ den Raum und suchte draußen seinen Mantel. Im Treppenhaus atmete er tief die kühle Luft ein. Unten im Flur überholte er Emerich Hyrtl, der vor ihm gegangen war und sich nun mit einem gedrehten, mühsam elastischen Schritt gegen die Straße bewegte, wo sein Wagen wartete. Die Figur dieses Mannes war auffallend; es schien, als säße auf künstlichen Beinen ein hölzerner Rumpf. Auch der Kopf schien mit Kunst in die Schultern eingedreht, und der allzukurze Hals verschwand im Pelz des Mantels. In allen Bewegungen, in jedem Blick lag drückende Langeweile und trostlose Ruhe. »Kann ich Sie irgendwohin fahren, Herr Ansorge?« fragte er höflich und wohlwollend. Er schritt zu den Pferden, patschte den Tieren auf die Lenden, und die Eitelkeit eines Knaben zeigte sich auf seinem Gesicht. Arnold verfolgte das Gebaren Hyrtls mit großen Augen. Er empfand plötzlich Neugier, den Mann von innen zu sehen, oder doch ohne Kleider, vielleicht schlafend, jedenfalls aber wenn er sich allein glaubte. »Wie kommen Sie eigentlich zu Osterburgs?« fragte Hyrtl. Er hatte den Wagenschlag geöffnet, stellte einen Fuß auf das Trittbrett und zündete eine Zigarette an. »Es ist eine ganz interessante Familie«, fuhr er fort, ohne sich an Arnolds Schweigen zu kehren. »Das was Sie oben sehen, ist alles Maskerade. Die Leute sind verschuldet vom Boden bis in den Keller. Hinter den Möbeln und Bildern hängen die Pfändungssiegel. Die Stühle, worauf sie sitzen, gehören ihnen nicht. Jede Tasse Tee, die wir oben trinken, ist sozusagen von andrer Leute Geld gekocht. Natalie betrügt ihren Mann und Osterburg betrügt seine Frau. Es ist alles Schwindel, was Sie da sehen, eine Lotterwirtschaft ohnegleichen. Nur Petra, das ist eine famose Person, ein ganz besondres Mädchen. Na, adieu, leben Sie wohl.« Er reichte Arnold die Hand, stieg ein und gab mit eleganter Bewegung dem Kutscher das Zeichen, zu fahren. Arnold war wie vor den Kopf geschlagen. Nach kurzem Überlegen beschloß er, von neuem hinaufzugehen und zu sehen. Seltsam! Er wollte sehen, was dort an den Mauern klebte, womit die Gesichter getüncht waren; er erschien sich in wichtiger Angelegenheit hintergangen und wollte sich nun Wahrheit holen. Er eilte die Stufen empor, läutete, warf seinen Mantel auf einen Berg von andern Mänteln und trat mit suchendem Gesicht in die Gesellschaftsräume. Zwischen Köpfen und Schultern sah er Natalie wie durch eine Mauerspalte. Sie gewahrte ihn und lächelte ihm zu wie einem vertrauten Freund. Sein Gehen und Wiederkommen hatte sie nicht bemerkt. Arnold suchte näher zu ihr zu gelangen, und plötzlich vernahm er ihre Stimme hinter sich. »Denken Sie nur, was ich soeben höre,« sagte sie mit einem vor Erstaunen jauchzenden Lachen zu einer Dame; »Hanka hat sich verheiratet ...« Arnold drehte sich um. Er konnte in ihrem Gesicht nichts gewahren als Jubel, Liebenswürdigkeit und Vergnügen. Nein, der Mensch da drunten muß gelogen haben, dachte er. Fünfundzwanzigstes Kapitel Er wünschte zu wissen, wovon all die Leute sprachen, die sich hier zusammengefunden hatten. Mitteilsam glänzten die Augen, voll Geschäftigkeit öffneten sich die Lippen, um zu schwatzen und zu lachen. Viele Männer waren feist und ansehnlich; andere sahen aus, als hätten sie schreckliche Sorgen. Jemand ergriff Arnold beim Arm. Es war Baron Drusius, der seine Freude ausdrückte, ihn zu sehen. Er führte ihn zu einem jungen Mädchen, das eine Narbe auf der Wange hatte. »Meine Schwester«, sagte der Alte. Sie grüßte flüchtig, lächelte flüchtig und wandte sich zu einem Herrn, der in majestätisch-nachlässiger Haltung dastand und einem Menschen glich, welcher von dem Bewußtsein unendlicher Geistesüberlegenheit erfüllt ist, dies aber in anmaßender Bescheidenheit zu verbergen wünscht. »Das ist der berühmte Bernay, eine Kapazität«, flüsterte Drusius Arnold zu. »Er will einen Staat von freien Menschen gründen, ohne Steuern und ohne Städte. Er hat eine Aktiengesellschaft gewonnen, um einen Landstrich in Amerika anzukaufen ...« Petra trat zu Arnold. Ihre vorgeschobene Oberlippe gab dem verständigen Gesicht einen altjüngferlichen Ausdruck. Sie machte Arnold wieder mit fremden Menschen bekannt. Von neuem das unerklärliche Namennennen, Verbeugen, Händedrücken. Wer sind sie? dachte Arnold; was bedeutet das? Einige waren so freundlich wie gegen jemand, auf den man große Hoffnungen setzt. Arnold grübelte, weshalb sie freundlich seien, ohne daß sie ihn kannten; weshalb sie, zuerst kalt, plötzlich dies überfließende Betragen annahmen, wenn sie sich verbeugt und die Hand gereicht hatten. Sie schienen Geheimnisse zu wissen und oft strahlte es feindselig und angstvoll aus ihren Augen. Aber ihre Worte klangen freundlich und leer. Auf einmal kam Natalie mit Lebhaftigkeit auf ihn zu und sagte: »Sind Sie nicht aus Podolin, Herr Ansorge? Haben Sie da nicht Doktor Hanka kennen gelernt? Anna Borromeo sagte mir, Sie kämen aus Podolin. Sie kennen Hanka? Und kennen Sie auch seine Frau, diese Beate? Ja? Erzählen Sie doch, -- bitte!« Das alles sprudelte Natalie nur so. Sie war ganz außer sich vor Neugierde und biß sich auf die Lippen vor Verdruß, daß sie nicht früher den Einfall gehabt, Arnold zu fragen. Arnold fühlte sich abgestoßen durch das zudringliche Wesen. Nachdem er einige Sekunden überlegend geschwiegen, hob er in jener heitern Weise den Kopf, die ihn sonderbar auszeichnete und sagte: »Herr Hanka hätte ein besseres Frauenzimmer finden können, glaube ich. Die Beate oder wie sie heißt, ist dem Teufel zu schlecht.« Natalie erblaßte, sah sich erschreckt um, legte einen Finger auf den Mund und erwiderte betreten: »Was machen Sie denn, Sie komischer Mensch! Das dürfen Sie doch nicht so offen sagen. Geben Sie nur acht, daß Doktor Hanka nicht so etwas zu Ohren kommt, sonst können Sie sich schöne Unannehmlichkeiten zuziehen. Er hat doch diese Beate seit ihrer Kindheit für sich aufgezogen.« »Es ist aber doch so, wie ich sage«, beharrte Arnold kalt. »Von mir aus mag sie treiben, was sie will, aber ich weiß, was ich weiß.« Natalies Neugier war aufs äußerste gestiegen. Ungeduldig nahm sie Arnolds Arm und führte ihn in ein nebenan gelegenes, kleineres Gemach. Zwei alte Herren saßen am Fenster und unterhielten sich leise; sie erhoben sich nun und gingen hinaus. »Also was wissen Sie? Erzählen Sie! Erzählen Sie!« begann Natalie sogleich. Arnold runzelte die Stirn. »Gar nichts erzähl' ich Ihnen«, antwortete er grob. Natalie sah ihn entsetzt an. Er aber fuhr fort: »Ist es wahr, daß Sie gar kein Geld haben, um die ganze Herrlichkeit zu bezahlen, die Sie da den Leuten vormachen? Ich hab' auch noch ganz andre Dinge gehört, davon will ich aber jetzt nicht reden. Was treiben Sie denn eigentlich? Warum ist denn das so?« Natalies Entsetzen war mitleiderregend. Sie zitterte über den ganzen Körper, trat einen Schritt zurück und flüsterte: »Was fällt Ihnen denn ein? Sind Sie toll geworden, Monsieur?« Ah, Monsieur sagt sie zu mir, dachte Arnold verdrießlich. Als er jedoch ihre hübschen Kinderaugen voll Tränen sah, wurde er gerührt. »Wenn es nicht wahr wäre, würden Sie nicht weinen«, bemerkte er treuherzig. Natalie hätte plötzlich lachen mögen. Sie zog das Taschentuch und verbarg das Gesicht. Sie erstickte beinahe an dem unterdrückten Lachanfall. Dann kam ihr ein Einfall, der ihr in den Ernst zurückverhalf. Er ist reich, dachte sie, man könnte seine Dummheit benutzen. »Sie sind ein sonderbarer Mensch«, sagte sie, das Gesicht erhebend und unter Tränen lächelnd. »Wir müssen ausführlich miteinander reden, wir würden uns sicher verstehen. Kommen Sie doch mal, wenn ich allein bin.« Arnold verabschiedete sich und ging. Er aß bei Borromeos zu Abend. »Wie hast du dir die Zeit vertrieben, Arnold?« fragte Anna Borromeo. Er dachte einige Sekunden lang nach und erwiderte: »Ich will nicht die Zeit vertreiben. Ich will die Zeit halten.« Frau Anna lachte. Borromeo liebkoste seinen Bart. »Er hat ganz recht«, sagte er. »Man sollte diese Redensarten immer beim Schwanz packen und sie nicht lassen, bis sie zertreten sind.« Arnold betrachtete Borromeo und die Frau und lauschte ihrem spärlichen Gespräch. Sie sprachen wie durch eine Wand. Sie sahen einander nie an, ohne daß in ihren Blicken etwas wie Unmut oder Feigheit lag. Noch gestern hätte Arnold das nicht gespürt. Einen Augenblick lang wollte er das rätselhafte Dunkel, das zwischen den zwei Personen herrschte, durch eine ehrliche Frage ergründen. Daß er dies nicht vermochte, daß er einsah, das dürfe nicht geschehen, war die Ursache zu tieferem Nachdenken. Wo er stand, wo er saß, wohin sein Herz sich wandte, überall wuchs ein Anderssein-Müssen aus dem Boden. Sechsundzwanzigstes Kapitel Hankas Verheiratung hatte in aller Stille stattgefunden. Er blieb mit seiner jungen Frau vorläufig in der Stadt und im Herbst wollten sie nach Paris. Beate träumte von Italien wie die kleinen Bürgermädchen, die in der Überlieferung der Hochzeitsreise aufgewachsen sind und sich darin vergnügen, ihr gesellschaftlich anerkanntes Glück spazieren zu führen. Einstweilen gab sie sich in der schönen Wohnung zufrieden, welche Hanka in einer Villa in Döbling eingerichtet hatte. Aber in heimlichen Augenblicken gestand sie sich, daß sie das Leben im abseits gelegenen Häuschen eigentlich kenne, daß sie der Einsamkeit müde sei und daß sie endlich Menschen, Straßen, Bälle und Theater haben wolle. Sie stellte sich trotzdem, als sei Hankas Glück auch das ihre. Sie stellte sich, als läse sie in den Büchern, die er ihr empfahl, als freue sie sich mit den Büsten, Stichen und Kunstdingen, mit denen sein Geschmack und sein Verständnis sie umgeben hatte. Sie stellte sich, als habe sie die Welt vergessen. Hanka befand sich wohl. Er kam sich im stillen wie ein Pudel vor, der in der Sonne liegt und nach Fliegen schnappt, denn er gehörte zu den Leuten, die sich im Glück possierlich finden. Er betrieb historische und nationalökonomische Studien, gedachte seines früheren Lebens mit Abscheu und sah die Zukunft klar. Beates Züge wurden kräftiger und energischer. Ihr Kinn ründete sich und um den bogenförmigen Mund legte sich das Lächeln der Gewißheit. Ihr Körper zeigte meist eine Ruhelosigkeit der Bewegung, die unter beobachtenden Blicken ins Krankhafte ging. Oft war es, als schäme sie sich ihrer Füße, ihrer Hände, ihres Halses, und sinnlich schamvoll wurde ihr Lächeln auf der Straße. Dann redete sie Dinge, unter deren Schutz ein hartnäckiger und boshafter Gedanke zu schlummern schien. Hanka blieb für sie ein großes, ernsthaftes Tier, belustigend in seiner Gravität. Sie glaubte sich ihm überlegen, denn seine Bildung schätzte sie gering und die Art seines Geistes war ihr unbekannt. Unter allen Bekannten, die für Hanka in einem feindlichen Land hausten, suchte er sich doch Natalie als eine Ausnahme heraus. Für sie bewahrte er die Zuneigung eines Großvaters, nach ihrem bunten Geschwätz konnte er sich zuweilen wünschen. Er hatte Beate diesen Besuch versprochen, aber zuerst wollte er allein gehen, die lästigen Fragen allein schlucken. Er fand Natalie und Petra zu Hause. Natalie begrüßte ihn mit erkünstelter Entrüstung. Ihr Gaumen schien von tausend Fragen zu springen. Hanka lehnte sich in den Sessel zurück, schlug schmunzelnd die Beine übereinander und machte ein heiteres und geduldiges Gesicht. Natalie konnte nicht länger an sich halten. »Doktor!« rief sie, »ist das eine Art, sich zu verheiraten? Und ist das eine Art, zu mir zu kommen? Wo ist Ihre Frau?« »Erst muß ich auskundschaften, meine Teure«, erwiderte Hanka humoristisch. »Übrigens freue ich mich, Sie wiederzusehen.« Petra lachte, wie so oft, wenn nichts zu lachen war. Es geschah meist, wenn sie ihre stillen Vorstellungen über das Benehmen eines Menschen bestätigt fand. Das Zimmermädchen trat ein und sagte, ein Herr Ansorge sei da. Natalie nickte überrascht und verlegen und gleich darauf kam Arnold. Hankas Verwunderung war außerordentlich. Er blickte von einem zum andern und das ergötzte Natalie. Sie kam sich wichtig vor und sah nun selbst etwas Geheimnisvolles in Arnolds Besuch. Während sie ihn begrüßte, klärte Petra den erstaunten Hanka auf. Arnold nahm Platz; er war schweigsam und antwortete nur spärlich auf Fragen. Er hatte geglaubt, Natalie allein zu finden und es schien ihm nun, als ob sie überhaupt nie allein sei. Natalie spürte auch so etwas heraus, denn sie war ziemlich kleinlaut geworden. Sie hatte Angst vor diesem Menschen. »Sie haben sich rasch zurechtgefunden«, sagte Hanka zu Arnold. »Ich dachte nicht, Sie schon im Mittelpunkt der Gesellschaft zu finden.« Trotzdem er nun wußte, wie es zugegangen war, hatte Arnolds Anwesenheit für ihn immer noch etwas Unerklärliches. Er war gewohnt, sich Natalie gegenüber in einer unveränderlich trockenen und spaßhaften Weise zu betragen; Natalie hatte sich diese Manier zurechtgelegt und beide konnten stets hinter den Worten, womit sie einander spielerisch betrogen, etwas anderes suchen. Dies reizte heute Hanka nicht. Schließlich schwiegen sie alle drei. Natalie war ratlos. In heller Verzweiflung studierte sie Arnolds Gesicht, fand die Nase zu klein, den Mund häßlich, das Haar zu glatt und lachte endlich vor Zorn und Verlegenheit gerade hinaus. Das ärgerte Arnold. Hanka erhob sich und Arnold entschloß sich, mit ihm zu gehen. Natalie bat ihn, noch zu bleiben, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu sprechen,« sagte sie; »wenn Sie heute keine Zeit haben, kommen Sie nächsten Donnerstag um fünf Uhr.« Er versprach es. Ihre Worte verwunderten ihn immerhin, und er wäre nun am liebsten gleich dageblieben, doch wollte er mit Hanka reden, denn der stille Mann fing an, ihm zu gefallen. »Was machen Sie eigentlich in Wien?« fragte Hanka auf der Straße. Mit wenigen Worten, fast mit denselben, die er neulich gegen Natalie, Petra und Hyrtl gebraucht, setzte Arnold sein Vorhaben auseinander. Hanka machte große Augen. »Um Himmelswillen,« sagte er, »das ist doch eine Donquichoterie.« »Was heißt das?« »Na, wissen Sie, der Junker Don Quichote, der zog aus, um gegen Windmühlen zu kämpfen. Lesen Sie doch die famose Geschichte. Übrigens, ich will Ihnen nicht zu nahe treten.« Er sah Arnold verstohlen von der Seite an und wußte nicht, ob er ihn närrisch oder bewundernswert finden sollte. Arnold verdroß jedoch diese Art zu reden, die ihm nun schon wohlbekannt war, und die ihm etwas Niedriges zu enthalten schien. An der nächsten Straßenecke verabschiedete er sich daher kurz und brüsk. Hanka spazierte nachdenklich nach Hause. Beate lag auf einem Langstuhl und blickte regungslos an die Decke. »Schläfst du, Beate?« fragte Hanka väterlich. Sie verdrehte die Augen und erwiderte, mit den Füßen unter dem Kleid strampelnd: »Ich langweile mich, ich langweile mich.« Hanka schwieg betroffen. Beate erhob sich, reckte gähnend die Arme und hielt sie dann vor sich, wie zu einer nachlässigen Umarmung. Auf den ruhigen Vorschlag Hankas, mit ihm eine Spazierfahrt zu machen, kleidete sie sich um und saß bald darauf mit festlichem Gesicht an seiner Seite im Wagen. Er sollte ihr erzählen, und berichtete von Natalie. Während er umständlich und etwas grübelnd seine Gedanken ausdrückte, verschlang Beate mit den Blicken die Leute der Straße und bemerkte nicht, daß Hanka mit spöttischem Schmunzeln abbrach. Sie ist jung, lebendig und hungrig, sagte er sich, legte ein Bein über das andere und blies den Rauch seiner Zigarre mit der Versöhnlichkeit eines alten Landpfarrers in die frische Frühlingsluft. Beate schmiegte sich näher an ihn, als läge ihr daran, sich dankbar zu erweisen und sann in unergründlicher Schlauheit nach Mitteln, um Versprechungen zu erhalten. Aber was sie begehrte, war formlos, denn sie hatte mehr Wünsche als Gedanken. Alle Wege ihrer Phantasie waren mit Begierden belagert, deren Schatten ihr Gesicht selbst im Schlaf überzogen. Um Beschäftigung zu haben, spann sie Ränke gegen die Dienstboten, schrieb sie Briefe an eingebildete Personen, erzählte sie erfundene Träume, streute sie Verleumdungen über Personen aus, mit denen sie kaum gesprochen hatte. Es kam heraus, daß sie im Gartenhäuschen eine Katze an den Beinen aufgehängt hatte. Hanka machte ihr Vorwürfe. Während er dann ein Buch nahm und zu lesen begann, umarmte sie ihn und biß ihn ins Ohr. Hanka riß die Augen auf, ertappte ihren von Ungeduld, ja von Haß glühenden Blick und starrte sie sprachlos an. Sie wurde finster und nahm eine Moden-Zeitschrift, in der sie wahllos blätterte. Sich ein Bild des Mannes zu entwerfen, mit dem sie lebte, lag ihr fern. Ihr war alles in solcher Nähe, daß ihr Geist nicht zum Schauen, sondern nur zum Betasten kam. Sie wollte Leidenschaften um sich sehen. Hanka freilich fühlte sich als den Herrn. Anders zu leben war ihm nicht möglich. Glücklich sein hieß für ihn, unabhängig sein und jeden Zustand des Behagens mit freiem Urteil abmessen zu können. Da er so nach Sicherheit im Innern strebte, gab er nach außen Verläßlichkeit, eine Eigenschaft, worauf die Unverläßlichsten am meisten bauen und die sie am schnellsten entdecken. In der Nacht konnte Hanka nicht schlafen. Er drehte die elektrische Lampe auf und versuchte zu lesen. Aber die Worte entglitten ihm. Dann stützte er sich auf den Arm und betrachtete Beates Gesicht. Es erschien ihm so fremd in seinem Schlaf, daß er einen leichten Schrecken verspürte. Die krampfhaft verschlossenen Lider ließen die dunkeln Streifen der Wimpern kaum bemerkbar erzittern. Die gewölbte Stirn war feucht, die weißen Schläfen bebten unter dem Lauf des Blutes. Die Lippen bewegten sich in unhörbaren Worten, welche vielleicht den Zügen ihren verschlossenen und rohen Ausdruck gaben. Hanka berührte ihre Schulter, um sie von dem quälenden Schlaf zu befreien. Kaum war sie erwacht und hatte ihn mit einem feuchten Blick angesehen, als sie ihre Arme um ihn preßte und ihren Körper fest an ihn schmiegte. »Ach Alexander,« flüsterte sie mit gebrochener Stimme, »du mußt mir etwas kaufen. Willst du?« Sie wünschte sich eine Perlen-Halskette, die sie bei einem Juwelier gesehen. »Nie wieder will ich etwas, wenn du mir den Schmuck kaufst«, sagte sie. Hanka versprach es. Aber darauf schwieg er bedachtsam. Unzufriedenheit entstand in ihm. Gründe der Leidenschaft konnten ihn nachgiebig stimmen, aber sie sickerten durch bis in seine Vernunft, wo eine ernsthafte Prüfung ihrer harrte. Dennoch schloß er Beate in alle Betrachtungen als das wertvollste Besitztum seines Lebens. Er sah in ihr das reine Kind, das sich ihm aufbewahrt. Daß er selbst es gewesen, der in einer Handlung von dunkler Kraft schon so frühe ihre Zukunft mit der seinen verknüpft, das erschien ihm als ein besonders trostvoller Wink des Schicksals. Siebenundzwanzigstes Kapitel Als Arnold am folgenden Nachmittag in das Speisezimmer trat, waren Hyrtl und Pottgießer bei Anna Borromeo. Kurz darauf wurde Frau Borromeo aus dem Zimmer gerufen. Ein Börsen-Agent war draußen, der sie zu sprechen wünschte. Pottgießer sprach von einer großen Gesellschaft, die demnächst in seinem Hause stattfinden sollte und lud Arnold ein. Anna Borromeo kam zurück. Sie war sehr bleich, sagte aber mit heuchlerischer Lebhaftigkeit: »Ich höre eben, daß es im Parlament morgen eine Interpellation über den Fall Elasser gibt. Das ist doch was für dich, Arnold.« »Ich weiß es«, erwiderte Arnold. »Ich habe den Abgeordneten unseres Bezirks dazu veranlaßt.« Hyrtl und Pottgießer sahen ihn mit sonderbaren Blicken an. »Da können Sie einen netten Skandal erleben«, bemerkte Pottgießer, indem sich sein Gesicht verfinsterte. »Wozu mischen Sie sich eigentlich da hinein?« wandte er sich an Arnold. »Die Juden sollen ihre Geschäfte selber austragen.« »Sie sind doch auch ein Jude,« entgegnete Arnold verwundert und maß ihn von oben bis unten. »Gestern erst hat mir's jemand erzählt, zufällig.« Anna Borromeo war sichtlich erschrocken, Hyrtl spitzte moquant die Lippen. »Ich _war_ ein Jude,« versetzte Pottgießer scharf, »und ich hatte innerlich nie etwas mit Juden gemein. Aber lassen wir das.« Er lachte halb spöttisch, halb verlegen. Hyrtl verabschiedete sich. Da Arnold sich ebenfalls erhoben hatte und in der Nähe der Türe stand, drückte ihm Hyrtl mit befremdlicher Herzlichkeit die Hand und sagte: »Kommen Sie doch einmal auf eine Stunde zu mir. Ich langweile mich so.« Nichts konnte ehrlicher klingen als diese wenigen Worte. Arnold schaute ihn groß an und lächelte freundschaftlich. Er versprach, zu kommen. Er erwartete mit Ungeduld den nächsten Morgen. Als er im Zuhörerraum des Parlaments saß, war es unten noch leer. Langsam füllten sich die Reihen, auch rings um ihn nahmen Leute Platz. Wenn dies anfangs den Schein der Feierlichkeit besessen hatte, sehr verursacht durch die Schönheit des Raums, war es doch nur so lange, bis sich dem Auge viele von den Gestalten hier oben und dort unten besonders darboten. Denn diese Gesichter waren wie von einem Folterinstrument zu dem Ausdruck des Hohns, der Habsucht, der Niedrigkeit, der Geistesertötung, des Übelwollens, der Unwissenheit, der Langeweile und des fanatischen Hasses verzerrt. Indessen begnügte sich Arnold mit dem Bewußtsein, daß sich die Gesetzgeber des Landes hier versammelten und ein Teilchen des Volkes, das seine Richter und Väter kennen zu lernen wünschte; es sei also besser zu hören, als zu sehen und nützlicher zu warten als zu urteilen. Erst muß man sehen und lernen, dachte er, indem er dem Beginn der Verhandlungen lauschte und auf ein erschreckendes Geschrei aufmerksam wurde, wie unter den Streitenden in einem Bauernwirtshaus. Sobald nämlich der Name Elasser gefallen war, erhob sich ein betäubender Lärm, der in Schimpf- und Hohnreden bestand; viele erhoben sich, gestikulierten und brüllten; auch die Leute um Arnold fingen an zu lachen und zu brüllen, stiegen auf die Bänke und schmähten gegen die Juden und dergleichen. Die Parteigänger gaben ihre Sache natürlich nicht auf; auch ihrerseits erprobten sie die Kraft der Lunge. Dann kam einer zu Wort; er redete aber schlecht, stieß mit der Zunge an und ging um die eigentliche Sache feig herum. Niemand kümmerte sich um das, was er sagte. Mitten in seinem hudelnden Gewäsch erhob sich johlendes Gelächter, viele begannen wiederum zu schreien, zu pfeifen, zu zetern und das dauerte mindestens eine Viertelstunde lang, so daß ein richtiges Wort gar nicht mehr herausdrang. Plötzlich läutete der Präsident, verkündigte den Schluß der Debatte, und es wurde von etwas anderm gesprochen. Arnold schaute sich um, als ob er träume. Er hatte Lust, hinunterzuschreien und erhob unwillkürlich die Faust. »Das ist ja heillos, was die da treiben«, sagte er voll Wut zu seinem Nachbar, einem ungeheuerlichen Fettwanst, der ihn höhnisch anstarrte. Er sprang auf, verließ die Tribüne, lief durch Treppen und Gänge hinunter, kam in eine prächtige, mit Säulen geschmückte Halle, wo plötzlich ein junger, gewählt gekleideter Mensch auf ihn zukam und mit gestreckten Händen und dem Ausdruck höchster Überraschung »Arnold!« rief. Arnold blickte empor und erkannte Maxim Specht. Doch seine Sinne waren so sehr von dem Vorgefallenen benommen, daß er leer nachdenkend in das Gesicht des ehemaligen Lehrers starrte. Specht war von dieser Kälte unangenehm berührt, ließ sich aber nichts merken, stellte Fragen über Fragen, schien voll Nachrichten, Neuigkeiten, Neugier, aber auch voll Behagen, Lebenslust und Lebenskenntnis. Arnold teilte ihm auf sein Verlangen mit, wo er wohnte, darauf trennten sie sich. Auf der Straße dachte Arnold nicht mehr an die Begegnung. Er saß zu Hause eine Stunde lang in seinem Zimmer, als ihn Anna Borromeo rufen ließ. Er ging hinunter. Anna lag auf der Ottomane. Sie trug ein weißes, loses Gewand, welches über die Füße hinweg seitlich zur Erde fiel. Den Kopf hatte sie hintübergesenkt und die Augen geschlossen. Langsam öffnete sie die Lider, als Arnold eintrat und winkte ihm mit dem Arm, näher zu kommen. »Du siehst mich in Angst und Sorge, Arnold«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Willst du mir aus einer großen Verlegenheit helfen?« Sie stützte sich auf den Ellbogen, hob sich empor und sah ihn erwartungsvoll an. »Was ist es?« fragte Arnold. Frau Borromeo schob ihre Kleidschleppe gegen sich heran und setzte sich aufrecht mit untergeschlagenen Armen. »Ich brauche nicht allein einen Helfer, sondern auch einen verschwiegenen Helfer«, sagte sie. »Nun das bist du, verschwiegen bist du, du bist ja ein Mann. Warum nimmst du nicht Platz?« Arnold setzte sich auf einen der niedrigen Polstersessel. »Erst muß ich wissen, was es ist«, sagte er kühl. »Ich brauche zehntausend Gulden, heute noch«, sagte die Frau und sah ihm starr in die Augen. »Zehntausend Gulden! Donnerwetter, das ist viel«, rief er aus. »So viel hab ich in meinem ganzen Leben nicht gebraucht.« »Ich habe eine drückende Börsenschuld. Ich habe unglücklich spekuliert. Dein Onkel darf nichts davon erfahren. Ich verlange natürlich kein Geschenk von dir. In drei bis vier Wochen werde ich dir's zurückgeben.« »Ah so!« sagte Arnold. »In gewissem Sinn hast du mein Schicksal in der Hand«, fuhr Anna fort. Sie erhob sich und schritt, immer noch mit verschränkten Armen, auf und ab. Dann blieb sie neben ihm stehen. Er blickte empor und sah das weiße Kinn, den roten Mund und einen feindseligen Blick ihrer Augen. Da erhob er sich, trat zum Tisch, riß ein Blatt aus dem Anweisungsbuch für die Bank, das er in der Tasche trug, nahm die Feder und schrieb. Er reichte Anna Borromeo den Scheck; sie dankte und er ging. In seinem Zimmer angelangt, öffnete er die Fenster, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und schaute nachdenklich in die Luft. Achtundzwanzigstes Kapitel Von den Büchern, mit denen sich Arnold neuerdings beschäftigte, machten die juristischen einen großen Teil aus. Er las sie mit Scharfsinn und Aufmerksamkeit. Aber dabei Wissenschaft zu gewinnen, war nicht leicht und von einer glatten Straße sah er sich bisweilen in eine Wildnis verschlagen. Er erkannte dann stets, daß es gefährlich sei, den Weg fortzusetzen und fing wieder am Anfang an. Damit war eine gewisse Ermüdung verknüpft, und er griff zu etwas Neuem, um nach einer andern Richtung, auf einer andern Bahn alsbald von neuem unberaten im fremdesten Gebiet sich zu finden. Allmählich wurde es ihm schwer, die Ordnung zu bewahren, nach außen und nach innen. Er wußte nicht, ob das Leere wirklich leer sei und das Unverständliche nur ihm allein unverständlich. Nicht selten tauchte er in ein finsteres Wasser hinab, um mit Geringschätzung wahrzunehmen, wie leicht der Schein von Tiefe zu vernichten sei. Aber vergebens suchte er Grenzen zu ziehen. Wie in dunklen Nächten manchmal die Gegend eine schreckliche Weite zu haben scheint und zugleich eine undurchdringliche Abgeschlossenheit, so geschah es hier. Er griff dahin und dorthin; Schwieriges erschien leicht, das Leichte unüberwindlich. Jeden Gedanken an Beistand schloß er vorläufig mit sonderbarem Starrsinn aus; er war der Meinung, daß keine fremde Weisung ihm die Dienste des eigenen Instinktes leisten konnte. Manchmal nahm er zu Dichtungen seine Zuflucht. Aber das Farbig-Täuschende, ja sogar das Bildhafte erregte sein Mißtrauen, auch wo ein Meister schuf. Was mit Kunst zusammenhing, nahm er nicht sehr ernst, schon weil er das Element der Gestaltung nicht zu würdigen vermochte und er den Werken des Geistes naiv ihren unmittelbaren Nutzen abfragte. Er griff nach Zeitungen, um auf solche Art das Wirkliche an sich zu pressen. Torheit, Verbrechen, Wahnsinn und Verzweiflung boten sich nun in kalter Nähe und Trockenheit. Was Geschwätz und Schiefheit war, mußte abgestreift werden. Vom Politischen blieb nur Lüge, Hader und Täuschung; oder Namen: Gott, Vaterland, Kirche, Freiheit, Güterverteilung. Eine Zeitlang irrte Arnold zwischen Phrasen wie ein Gefangener umher. Er wollte das Festeste ergreifen, das ihm erreichbar war, und so kam er zur Zahl und ihrer Wissenschaft. In seinem Sinn schien es heller zu werden. Pforten, denen Licht entstrahlte, öffneten sich, durch eine Formel gesprengt. Wie die Sehne des Bogens nach jeder Spannung in ihre natürliche Lage zurückkehrt, so erschlaffte weder, noch überspannte sich sein Geist bei solcher Arbeit. Aber er überschätzte das Licht; er überschätzte die Klarheit, in welcher die Dinge demjenigen sich zeigen, der seine innere Flamme zur Beleuchtung nach außen verwendet. Es war ein regnerischer Tag; am Abend sollte die Gesellschaft bei Pottgießer sein, zu der Arnold geladen war. Gegen vier Uhr brachte der Diener eine Karte mit dem Namen Maxim Spechts. Specht trat ein, noch eleganter gekleidet als neulich, sorgfältig rasiert und frisiert, lächelnd und liebenswürdig. Er schilderte alsbald das Leben, das er jetzt führte, und mit innerer Unsicherheit versuchte er es, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einen geistigen Einklang zu bringen. Aber wenn jemand einen allzu vollen Becher trägt, kann er nicht gut verbergen, daß seine Hand von der überquellenden Flüssigkeit benetzt worden ist. Arnold war nachdenklich. Er fragte sich umsonst, weshalb Specht gekommen sei; er fragte sich, was aus dem sozialistischen Schullehrer geworden sei, der so großen Jammer mit dem Elend des Volkes empfunden hatte. »Sie scheinen viel zu lesen«, bemerkte Specht, auf die zahlreichen Bücher blickend, die auf dem Tisch lagen. »Übrigens kann ich Ihnen einen Roman empfehlen, den ich jetzt gelesen habe. Ich will Ihnen das Buch leihen. Es ist eine geistreiche Satire auf unsre heutige Gesellschaft.« Arnold schüttelte den Kopf. »Ich brauch' das nicht,« erwiderte er abwehrend. »Das Geistreiche schmeckt mir nicht. Romane les' ich nicht. In den Romanen erbleichen die Leute zu oft.« Specht meckerte. »Köstlich«, sagte er. »Wie geht es Ihnen bei Ihrer Zeitung?« fragte Arnold. »O, ausgezeichnet. Ich habe mir eine angesehene Stellung gemacht. Ich sage Ihnen, Arnold, ich habe Dinge gesehen und Menschen kennen gelernt, von denen ich mir früher in meiner Schullehrerweisheit nichts habe träumen lassen. Es ist doch was Herrliches um so eine Großstadt.« »Ja, das haben Sie immer behauptet.« »Und finden Sie das nicht?« »Es ist mir zu viel, vorläufig. Ich muß mich erst hineinleben.« »Was mich betrifft, so tanze ich von einem Vergnügen ins andere. Kostet aber auch teuflisches Geld; besonders die Weiber. Weiber gibt es hier, Arnold!« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich brauchte nur einen reichen Verwandten oder Freund,« fuhr er fort, »und ich würde es bis zum Minister bringen.« Der Zusammenhang der Argumente entging Arnold. Specht verabschiedete sich mit dem Versprechen, bald wieder zu kommen; er habe was auf dem Herzen, fügte er hastig hinzu. Arnold stand am Fenster und sah ihn auf der Straße in einen eleganten Wagen steigen, der vor dem Haus gewartet hatte. Ei, dachte er, dem muß es gut gehen. Der Diener kam mit einer Anfrage von Doktor Borromeo herauf, ob Arnold am Pottgießerschen Abend teilnehmen würde. Arnold bejahte. Dieser Abend stellte sich ihm nicht als Vergnügen dar, sondern er betrachtete ihn ernsthaft als einen Teil seiner Aufgaben. Als Borromeo Arnolds Antwort erhalten hatte, ging er in das Zimmer seiner Frau. Leise trat er ein, als ginge er auf den Fußspitzen. Anna saß lesend am Fenster. Ein blasses, sommerfleckiges Fräulein kämmte ihr das Haar. Der Doktor stutzte und wollte sich wieder entfernen. »Hast du mir etwas zu sagen, Friedrich?« fragte Frau Borromeo sanft. »Geben Sie acht, Lina, Sie tun mir weh,« wandte sie sich an das Fräulein und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. »Ich wollte dich nur verständigen, Anna, daß es mir unmöglich ist, zu Pottgießer zu gehen,« sagte der Doktor. »Berufspflichten?« spottete Anna Borromeo, ohne den geringsten Verdruß zu zeigen. »Dann wird mir nichts übrig bleiben als ohne dich zu gehen,« fügte sie kalt hinzu. Borromeo zuckte die Achseln und sah einer umhersummenden Biene nach. Er stand wie ein untertäniger Auftragnehmer an der Türe. »Dein Neffe wird mich führen, denke ich,« sagte Anna stirnrunzelnd. Der Doktor bejahte. »Er zeigt überhaupt glänzende Talente zum Gesellschaftsmenschen,« fuhr sie fort. »Ich muß gestehen, daß ich nach deiner Schilderung etwas anderes erwartet habe. Ich habe einen Himmelsstürmer erwartet und sehe nichts als einen stillen, jungen Mann, der sich ganz artig anzupassen versteht.« Das Frisierfräulein war fertig und empfahl sich. Doktor Borromeo begann langsam auf und ab zu gehen und sich den Bart zu streichen. »Ich habe keinerlei Verantwortung dafür übernommen, bis zu welchem Grade du dich an Arnold amüsieren kannst,« sagte er endlich. »Wenn du an ihm nicht mehr findest, als er dir zeigt, so kann es dir gehen wie dem reichen Mann mit Jesus Christus. Wir sind nie erbärmlicher, als wenn wir auf etwas herunterzublicken glauben, was hoch über uns steht.« Anna Borromeo senkte den Kopf. Sie war verständig genug, um einzusehen, daß sie einen falschen Ton angeschlagen habe. Ihr Wesen war anteilvoller, als sie rasch erwiderte: »Ganz gut; nehmen wir an, er ist das, was _du_ in ihm siehst. Warum scheint er dann so dumpf, so erstaunt, so simpel? Wenn so ein Mensch, wie du ihn glaubst, in unsere Kreise versetzt wird, müßte er doch wie Dynamit wirken. Aber es macht den Eindruck, als ob ihn alles kalt ließe. Er lächelt und schaut und schweigt. Er hat sogar gelernt, sich in unserer Manier zu verbeugen. Warum höre ich nichts von ihm, was mir Aufschluß gibt? Warum tut er nichts, was mir imponiert?« Anna Borromeo hatte ihr Gesicht erhoben. Ihre Wangen waren blaß, der Ausdruck ihrer Augen leidenschaftlich und drohend. Sie leugnete, um zu leugnen. Sie haßte, weil sie zu lieben sich fürchtete. »Lassen wir es,« sagte Borromeo verdrießlich und wehrte mit der Hand ab. »Du hast schlechte Gewohnheiten mir gegenüber angenommen,« sagte Anna. »Es ist leicht, ein Thema abzubrechen, das einem über den Kopf wächst.« Friedrich Borromeo blieb vor ihr stehen. »Du hast recht,« begann er sachlich, »aber würde es dich denn bekehren, wenn ich dir sagen würde, worin du irrst? Keine Wahrheit gilt als die erlebte. Ein Charakter von nicht so hoher Bedeutung würde das tun, was du von Arnold erwartest. Er würde um sich werfen, Funken schlagen, sich geberden, fruchtlose Unternehmungen anstellen. Dieser Mensch aber hat die Ruhe, das zu erwarten, was die Natur in ihm erschafft --« Er hielt inne, als er das ungläubige Lächeln Annas bemerkte, schob mit einem wunderlichen Ausdruck seinen Kragen zurecht und verließ das Zimmer. Anna Borromeo läutete dem Zimmermädchen, welches über eine Stunde um sie beschäftigt war. Als sie fertig war und in das Speisezimmer trat, kam auch schon Arnold herab. Der Wagen wartete unten. Das Haus, welches Pottgießer bewohnte, war eine Sehenswürdigkeit. Marmorbelegte Fluren führten zu den Empfangsräumen. Die Säle waren so hochgebaut und luftvoll, daß auch die gedrängteste Versammlung ihnen nichts von ihrer Weite zu rauben schien. Kostbare Kunstgegenstände, Bilder, Statuen, Teppiche, Nippes, Vasen boten sich dem Auge in Fülle. Arnold gewahrte Natalie und begrüßte sie. Sie war in hellgrünem Moireekleid, trug Perlen um den Hals und Diamanten im Haar. Es war bezaubernd, sie lächeln zu sehen, als ob sie sich selbst beneide und bewundere. Während sie an Arnolds Seite ging, grüßte sie die Grüßenden, schelmisch beschämt oder mit kindlichem Triumph. Jeden kannte sie, jedermanns Erlebnisse wußte sie zu erzählen. Da war eine junge Frau, sechs Jahre verheiratet und noch kinderlos. Und warum? Weil sie es für unvornehm gehalten hatte, im ersten Ehejahr ein Kind zu bekommen, wurde der Storch abbestellt. Aber im zweiten Jahr kam auch keines, im dritten und im vierten auch nicht. Großer Familienrat; aber der Storch ist beleidigt und der Sprößling hält es jetzt nicht mehr für vornehm, geboren zu werden. Arnold machte ein dummes Gesicht zu dieser Erzählung. Und dort unter dem Kandelaber stand eine magere Person, -- ist es nicht unappetitlich, so mager zu sein? Ihr Mann hat sich aus einem Fenster gestürzt, weil sein eigener Freund diese Magerkeit appetitlich gefunden. Schlecht ist die Welt, nicht wahr? Dieser rotbärtige und vollbackige Herr hat große Unterschlagungen verübt und nur seine herzlichen Beziehungen zur Gräfin Palansky haben ihn vor dem Kerker geschützt. »Keine von diesen Frauen ist ihrem Manne treu,« flüsterte Natalie, und Vergnügen und Wohlwollen färbte ihr Gesicht. »Sie naschen von jedem Tisch und sind überall gleich satt. Tausend Geschichten kann ich Ihnen erzählen. Es ist sehr hübsch hier, nicht wahr?« So plauderte Natalie. Petra kam den beiden entgegen, und zum zweitenmal versicherte Natalie mit ihrer jauchzenden Kinderstimme, daß sie sich göttlich unterhalte. Petra senkte in ihrer schweigenden Weise den Kopf und als Arnold und Natalie ihr wieder entschwanden, seufzte sie. Ihr Wesen irrte in sich selbst. Sie fand sich nur abgesondert, sie konnte nicht abstoßen; sie genoß mit, wo sie sich schwächlich in die Hoffnung wiegte, vielleicht einmal entbehren zu können, wenn das Bessere zu ihr herabwuchs, so daß sie nur die Lippen öffnen brauchte. Arnold blieb in Natalies Kreis gebannt, saß auch bei Tisch neben ihr. Eine merkwürdige Heiterkeit umfing ihn, die oft nur in dem Vorsatz bestand, die Dinge von der günstigen Seite betrachten zu wollen. Er sah Anna Borromeos Blick auf sich gerichtet und machte die Beobachtung, daß sie vor allen Frauen sich hervorhebe, nicht allein durch Schönheit, sondern auch durch etwas Verschwiegenes, das sich nicht jedem Auge biete. Indessen scherzte er mit Natalie, lachte, fühlte sich über seine Nachdenklichkeit erhoben, strengte sich an, im Harmlosen die versteckte Andeutung zu finden, doch blieb ihm immer das sonderbare Gefühl, mit so vielen Menschen an einem Tisch zu sitzen, lediglich zum Zweck gemeinschaftlichen Essens. Die endlose Reihe der Speisen wunderte ihn, und er besah sich abermals die Leute, die mit einer Kette aneinander gefesselt schienen, welche durch keine Kraftanstrengung zu durchreißen war und deren helles Klirren durch vielfaches Plaudern übertönt werden mußte. Neunundzwanzigstes Kapitel Natalies halb entblößte Brust, ihre entblößten Schultern zogen seinen Blick von ihrem listigen Gesichtchen ab. Oft schlossen sich ihre Augen für eine Sekunde, und sie wiegte den Kopf nach dem Takte der Musik. »Petra ist kopfhängerisch,« sagte sie und zerlegte dabei das Fasanstück auf ihrem Teller. »Soll ich Ihnen etwas anvertrauen?« Doch sofort wandte sie sich zu ihrem linken Nachbar, um auf eine Frage zu antworten. Arnold sah zwischen zwei Blumenbüschen ein sehr schönes Frauengesicht. Er schaute unbeweglich lächelnd hin. Dumpfes Besitzenwollen erwachte in ihm. »Was wollen Sie mir anvertrauen?« fragte er Natalie. Natalie drehte sich wieder zu ihm. »Richtig,« sagte sie leise und mit einer heiteren Wendung des Kopfes. »Petra ist mit Emerich Hyrtl verlobt. Aber schweigen Sie darüber. Es ist nicht alles in Ordnung. Petra ist jedenfalls nicht mit dem Herzen dabei. Wissen Sie, was ich glaube?« sagte sie dann in verändertem Ton. »Ich glaube, daß nicht leicht zwei Menschen so gut geschaffen sind, Freunde zu werden wie wir beide.« Arnold nahm vorsichtig und ungeschickt von dem Eis, welches umhergereicht wurde. Dann erst blickte er Natalie an und legte unbekümmert seine Hand auf ihren Arm. Er erwiderte mit einer Freiheit, die ihm sonst keineswegs eigen war: »Freundschaft muß man sich erwerben.« Natalie zuckte unter seiner Berührung zusammen. Dann lachte sie und antwortete: »Es gehört auch Talent zur Freundschaft. Man muß Opfer bringen können. Welches Opfer könnten Sie mir zum Beispiel bringen?« Und da er etwas verblüfft schwieg, fuhr sie scheinbar ganz treuherzig fort: »Würden Sie mir die Hälfte Ihres Vermögens schenken? Nein? Oder hunderttausend Gulden? Nein? Oder fünftausend? Sie sehen, ich lasse mit mir handeln. Ach,« schloß sie wehleidig, »was hängt alles am Gelde! Wenn Sie ahnten, was ich für Kummer habe, lieber Freund.« Sie wartete umsonst auf seine Antwort. Man muß deutlicher mit ihm sein, dachte sie; er ist einfältig wie eine Köchin. Wahrhaftig, mit ein paar tausend Gulden wäre mir gedient und ich brauchte morgen meinen Schmuck nicht wieder zu versetzen. »Ach, ich bin so froh gelaunt heute,« rief Natalie laut, indem sie sich ein wenig dehnte, »ich könnte die ganze Welt küssen.« Betroffen, mit langsam forschendem Blick schaute Arnold sie an, als wolle er sich jede ihrer Bewegungen einprägen. »Sie sind wie ein Kind,« sagte er. »In der einen Hand haben Sie Spielzeug, in der andern aber ...« »Was?« Natalie war sehr gespannt. Jedes Urteil über sie selbst, auch das vernichtendste, setzte sie in einen Zustand wohliger Aufregung. »Nun, und in der andern?« »Etwas Giftiges.« Man hörte die Stimme des Doktor Bernay: »Gebt uns reinen Boden, Luft, Wald, Acker und wir werden edle Menschen hervorbringen.« Alle erhoben sich. »Der alte Rousseau-Schwindel,« sagte ein Herr mit langen, weißen Haaren. Bernay trat vor den würdigen Herrn; »Rousseau! Was für ein Mißverständnis!« rief er. »Wir wollen die Rasse erneuern. Kein phantastisches Zukunftsideal. Wir wollen Männer. Immer hört man von der Frauenfrage schwatzen. Es ist endlich einmal Zeit, von der Männerfrage zu reden.« Ein verdrießliches Schweigen entstand. Gleichgültig wandte Arnold der Gruppe den Rücken. Seine Gedanken suchten ein Ziel, ein Echo, ein Empor. Von allen Seiten hörte er nichts weiter als Geschwätz. »Haben Sie die Antinous-Statue gesehen, die Pottgießer in Spalato gekauft hat?« hörte er einen jungen Mann zu einem andern jungen Mann sagen. »Fabelhaft? was?« »Halten Sie sie für echt?« antwortete der zweite. »Pottgießer soll bei der Ausgrabung zugegen gewesen sein. Hat sechzehntausend Gulden gekostet, der Spaß.« Osterburg eilte auf Arnold zu. Er hatte gehört, wie Hyrtl von diesem Herrn Ansorge als von einem Elementarereignis gesprochen hatte. Dies wurmte ihn, und er nahm sich vor, dem Elementarereignis »auf den Zahn zu fühlen«, wie er sich ausdrückte, denn was sich nicht unter seine Begriffe von Welt und Leben bringen ließ, das bekläffte er in aller Stille und Hinterlist. Er fragte Arnold aus über Aktien, Kaltwasserkuren, Leberkrankheiten und erzählte schließlich Geschichten eigenen Fabrikats. Je geduldiger Arnold zuhörte, je abenteuerlicher wurden die Vorfälle und je höher stieg er in Osterburgs Achtung. Pottgießer hatte einige Herren zu verschiedenen Kartenspielen verteilt. Im Musikzimmer wurde eine Dame aufgefordert, zu spielen. Arnold stellte sich neben den Flügel, als die ersten Takte ertönten. Zuerst beobachtete er nur die Finger der Spielerin, dann ließ er einen prüfenden, immer mehr erstaunten Blick umherschweifen. Etwas Dämmeriges, Verblasenes ging von der Musik wie von der Spielenden aus. Die ganze willenlose Seele dieser Menschen war es, die aus ihr erklang. Die Geldgeschäfte und Geldgedanken schienen vergessen, ebenso wie die nutzlosen Aufregungen eines eifersüchtigen Beisammenseins. In den Gesichtern der Frauen lag eine süßliche Verlorenheit, um den Mund ein zerstreutes Lächeln, in den Augen schwüle Träumerei und ein ungesunder Glanz. Während die Spielerin nach langem Beifall ein neues Stück begann, verließ Arnold das Musikzimmer. Er überschritt einen gepflasterten Vorraum; in einem Winkel versteckt sah er einen jungen Mann und ein junges Mädchen in friedlichem Gespräch. Er ging weiter und kam alsbald in ein kleines, rondellförmiges Gemach. Hier stand als einzige Zierde die Antinous-Statue. Beim Anblick der Marmorfigur blieb er ergriffen stehen. Im ersten Augenblick glaubte er, ein Geschöpf aus einer Märchenwelt vor sich zu sehen, märchenhaft belebt, in märchenhafter Nacktheit. Aber als er sich überzeugt hatte, daß es ein Stein war, der in feierlicher Unbeweglichkeit vor ihm aufragte, wich sein kühles Befremden. Unwillkürlich ahmte er die heroisch-ruhige Bewegung im linken Arm der Statue nach, die göttlich-kalte und ungerührte Neigung des Hauptes. Der Ausdruck der dicken und leidenschaftlichen Lippen wurde geklärt durch den Blick der Augen, welche alles Seiende mild beschauten und erst das Werk zum Wirkenden werden ließen. Das ist schön, dachte Arnold, das gefällt mir. Er kehrte zur Gesellschaft zurück. Anna Borromeo, die nach Hause wollte, hatte ihn gesucht. Schweigend saß er neben ihr im Wagen. Sie beugte sich vor und drückte beide Hände an die Augen. »Hüte dich vor dieser Natalie,« sagte sie plötzlich. »Es ist kein wahrer Blutstropfen in der Person. Sie spielt mit sich und mit den Menschen.« »Sie ist nicht schlechter als andere,« gab Arnold kühl zurück. »Ihr seid alle so. Ihr spielt nur mit den Menschen.« Frau Borromeo richtete sich auf und sah ihm durch die Dunkelheit forschend ins Gesicht. Dreißigstes Kapitel Maxim Specht hatte die Partei und die Zeitung verlassen, die ihm seinen ersten Wirkungskreis eröffnet hatte. Er war Redakteur eines Blattes geworden, welches von der Regierung unterhalten wurde. Er verdiente durch seine Arbeit etwa zweihundert Gulden im Monat. Er verbrauchte ungefähr fünfhundert. Dabei wurden seine Bedürfnisse mit jeder Woche größer und die Hoffnung, das Schuldennetz zu zerreißen, in welchem er verstrickt war, täglich geringer. Er geriet in schwierige Verhältnisse und war der Sklave einer Genossenschaft von Menschen, in deren Mitte er den Herrn zu spielen dachte. Der Boden schwankte unter ihm. Abenteuerlichkeiten aller Art mußten vorhalten, um ein im Grunde erbärmliches Dasein fortzuführen. Da dachte er an Arnold. Zu gleichen Teilen wollte er der Harmlosigkeit und der Menschlichkeit Arnold Ansorges seinen Vorteil abgewinnen, dieses Arnolds freilich, den er unter dem Verkleinerungsglas sah, das sein jetziges Leben für alle Ereignisse und Gestalten der Vergangenheit bildete. Sein erster Besuch sollte nur als ein Freundschaftszeichen gelten, auch wagte er noch nicht zu bitten. Als er zum zweitenmal kam, hatten ihn die Überlegungen der dazwischen liegenden Tage gestärkt, und er forderte von Arnold mit dringender Herzlichkeit achthundert Gulden als Darlehen. Arnold blickte ihn still und verwundert an. Er goß ein Glas Wasser aus der Karaffe, ohne jedoch zu trinken. Irgend eine Stimme gebot ihm Vorsicht. Specht beobachtete ihn mit hin und her zitternden Augen. »Es ist ein Freundschaftsdienst,« sagte er lächelnd. Arnold nickte. »Ich habe nicht so viel zu Hause,« erwiderte er. »Morgen will ich es Ihnen schicken.« Er betrachtete das Gesicht Spechts und es erschien ihm neu und fremd, völlig verändert gegen früher. Wangen und Kinn waren aufgeschwemmt, breiter, behäbiger, trotzdem die modische Kleidung ungünstige Linien verwischte. Indem er den Lehrer Specht aus Podolin mit dem geschmeidigen, wünschevollen, verstörten, kühlen und trunkenen Mann verglich, der vor ihm saß, suchte er nach den Ursachen einer so unheilvollen Verwandlung. Irgend welche Kräfte schienen zerstört in Specht; er war wie ein Mensch, der wider seine Absicht an einem Tanz teilnimmt, teilnehmen muß, und der mit allen Zeichen der Hitze, der Benommenheit, der Atemlosigkeit eigentlich nicht weiß, was mit ihm vorgeht. Specht lud ihn ein, mit ins Theater zu gehen, er habe zwei Sitze von der Zeitung; Arnold nahm das Anerbieten an. Er war vor einem Monat zum erstenmal bei einem Shakespeareschen Stück gewesen und hatte einen tiefen Eindruck gewonnen. Es wurde ein neues Stück aufgeführt, welches in andern Städten schon großen Beifall erlangt hatte. Specht saß als überlegener Mann da. Die zwei ersten Akte waren vorüber, und brausendes Händeklatschen begann. »Ein glänzendes Stück«, sagte Specht befriedigt, erhob sich und grüßte einige Personen mit einem Winken seiner Hand. Dann forderte er Arnold auf, ihn zu begleiten, und sie schritten draußen im teppichbelegten Wandelgang auf und ab. »Wie gefällt es Ihnen?« fragte Specht etwas gönnerhaft. »Ich finde es vollkommen sinnlos,« erwiderte Arnold. »Sind Sie toll?« rief Maxim Specht verdutzt. »Muß er sich denn verlieben? Warum verliebt er sich, wenn er dadurch zugrunde geht?« fuhr Arnold unbeirrt fort. »Oder vielmehr, warum geht er durch Verlieben zugrunde? Kein Mann geht dadurch zugrunde, das ist nicht wahr, ist lauter verlogenes Zeug.« »Aber begreifen Sie denn nicht,« entgegnete Specht ironisch und nachsichtig, »der Verfasser will zeigen, wie ein Mann gerade durch eine ideale Liebe zugrunde gehen muß, wenn einmal das Innere seiner Seele krank oder angefault ist.« »Gewiß versteh ich das,« sagte Arnold ruhig. »Aber an einem solchen Schwachkopf war doch nichts mehr zu verderben. Und heißt denn das zugrunde gehen, wenn man sein Geld verliert?« Spechts Gesicht wurde immer länger. Der Mann ist gar nicht so dumm, schien er sagen zu wollen. Beide schickten sich an, auf ihre Plätze zurückzukehren, als Beate und Hanka aus einer Logentüre traten und die vier, einander betrachtend, sich gegenüberstanden. Beate verlor nur eine Sekunde lang die Fassung, dann reichte sie gleich Hanka den jungen Männern die Hand. Specht ließ kein Auge von ihr. Sie trug ein Kleid, welches wie von tausend Schuppen fischhaft schillerte und das Schultern, Arme und die Wölbung der Brüste freiließ. Gelangweilt vorbeischleichende Männer hefteten den frech-studierenden Blick auf sie, die sich dessen zu freuen schien, denn ihre Augen liefen unruhig funkelnd von Wand zu Wand, von Gesicht zu Gesicht. »Mich langweilt dieses schlechte Stück,« sagte Hanka humoristisch gelaunt. Er hatte sich auf Beates Wunsch den Schnurrbart rasieren lassen und sah nun aus halb wie Napoleon, halb wie ein Jesuitenpater. »Wir müssen uns sputen, es fängt an,« drängte Beate. »Weißt du was, Alexander,« rief sie plötzlich, »wir wollen vor unserer Abreise noch einen Podoliner Abend geben. Specht und Herr Ansorge sollen bei uns essen ...« »Sehr gut; aber Sie können auch sonst einmal zu einem Plauderstündchen kommen,« sagte Hanka zu Arnold, dessen Hand er in der seinen hielt. Arnold nickte. Er fühlte auf einmal eine große Zuneigung zu Hanka. Die Leute waren im dunkeln Theater wie in einer Höhle verschwunden. Specht blickte auf die Tür, durch die Beate gegangen war. »Haben Sie die Schultern gesehen?« murmelte er Arnold zu; »und das Gesicht? Sie sieht aus wie eine Prinzessin.« Noch ein letzter Gast kam aus einem der Außenräume, Hyrtl. Specht stellte sich vor, und es wurde ausgemacht, daß alle drei nach dem Theater bei Hyrtl zu Abend essen sollten. Einunddreißigstes Kapitel Seitdem Hyrtl den eigentlichen Beweggrund von Arnolds Aufenthalt in der Stadt kannte und ihm die Erzählung Arnolds von Anna Borromeo wenn auch widerwillig, so doch ohne Entstellung, bestätigt worden war, hatte er nicht nur Respekt vor dem jungen Menschen (er achtete und bewunderte das Vortreffliche wie ein Leser von Kriegsgeschichten den Feldherrn, welcher Schlachten gewinnt), sondern er benutzte auch jeden Anlaß, Arnold vor andern zu erheben, und was er wußte, andern mitzuteilen, verschönt durch edle Einzelheiten, welche seine eigene Phantasie geboren hatte. Hyrtl schmückte sich mit den besten Eigenschaften seiner Freunde, indem er sie anerkannte, und er liebte seine Freunde leidenschaftlich, das will sagen, alle Menschen, die ihm Gesellschaft leisteten. Als der Diener die Tür von Hyrtls Wohnung öffnete, sprang ein kleiner gelber Hund zur Begrüßung heraus. Die Ausstattung der Zimmer zeigte alle Arten und Größen von Sofas und gepolsterten Sesseln. Auf Glastischen standen in roten, grünen, blauen und gelben Fläschchen Essenzen und Wohlgerüche, auf dem Schreibtisch lagen in gewählter Ordentlichkeit Siegel, Uhren, Brieftaschen, Anhängsel, Ringe, Dosen, Ketten und aus allen Ecken und von jeder Wand starrten Photographien von Herren und Damen mit liebevollen Unterschriften. Dem Bücherkasten gegenüber stand eine kleine, uralte Zimmerorgel. In Hyrtls blassen Zügen zitterte schon jetzt die Angst, daß die Gäste ihn zu früh verlassen könnten, denn wie sehr fürchtete er die einsamen Stunden der Nacht! Durch diese Furcht wurde er witzig; etwas Berückendes und Liebenswertes trat aus seinem Wesen hervor, je mehr die Stunde vorrückte. Hilfsbedürftig klammerte er sich an jedes Lächeln seiner Gäste. Specht setzte sich an die Orgel und trat den Windbalg. Aus seinen Schulmeistertagen war er noch mit einigen Griffen vertraut, und er spielte eine choralähnliche Folge von Akkorden. Hyrtl lobte sein Spiel, dann wandte er sich zu Arnold und sagte: »Ich möchte Sie nächstens mit einer Freundin von mir bekannt machen, einer russischen Studentin.« »Aus welchem Grund?« »Ihr beide würdet wunderbar zusammenpassen. Es macht mir manchmal Freude, Menschen zueinander zu führen, Schicksale zu erzeugen.« »Die reine Alchimisterei,« spottete Specht. »Nein wirklich,« beharrte Hyrtl, »Verena Hoffmann würde Ihnen gefallen.« »Verena Hoffmann?« rief Specht. »Die kenn' ich ja. Lebt die nicht mit einem gewissen Tetzner?« »Ja. Aber es ist ein ganz einwandfreies Verhältnis.« Specht lachte. »Hat sie's Ihnen schriftlich gegeben? Einwandfrei! Was heißt denn das? Soll übrigens sehr reich sein, dieser Tetzner.« »Jawohl. Es ist ein reicher Gutsbesitzer, der Nihilist geworden ist. Wenn Sie erlauben, Herr Ansorge, werd' ich Sie morgen mit dem Wagen abholen und wir fahren zu Verena.« Arnold nickte. »Gehen Sie schon?« fragte Hyrtl traurig, da die jungen Leute Anstalt machten, aufzubrechen, und indem er Arnold die Hand reichte, fügte er hinzu: »Alleinsein ist bitter. Lieber einen Raubmörder zur Gesellschaft haben als allein sein.« »Warum arbeiten Sie nicht?« fragte Arnold hart. Hyrtl zuckte die Achseln. »Ich kann nichts,« antwortete er. »Ich war Kaufmann, aber ich hätte ebensogut Strümpfe stopfen können. Ich würde ja nur irgend einem Berufenen den Platz wegnehmen, wozu? Mein Vater hat mir genug hinterlassen, daß ich die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, in Gemütsruhe erledige.« »Was heißt das?« »Das heißt, daß ich sehr krank bin. Mein Herz ist kaput.« Als seine Gäste gegangen waren, gab sich Hyrtl eine Zeitlang seinen trostlosen Betrachtungen hin. Dann versuchte er zu lesen. Die Buchstaben tanzten. Wie albern und schrecklich das Gedichtete der Dichter in den einen Ruf zusammenklang: wir können dir nicht helfen. Er griff zu medizinischen Werken, zu philosophischen Schriften, zu alphabetischen Lexika, zu alten Zeitungen; schließlich öffnete er ein Fach seines Schreibtischs, nahm ein schwarzes Heft heraus und schrieb. Es war eine Art Tagebuch, das die oberflächlichen Dienste eines Spiegels verrichtete und einen Widerklang der eitlen, leeren, ärmlichen und empfindsamen Dinge bildete, die sich im Kopf dieses Menschen wie eine Schar von Insekten herumtrieben. Doch Hyrtl prahlte mit diesem Heft vor seinen Freunden und hielt es geheim. Das Schloß, hinter dem es lag, zeigte dreifachen Verschluß und gab zuletzt erst dem Druck einer verborgenen Feder nach. Hyrtls Gesicht war müd und welk geworden. Er kleidete sich aus, wälzte sich noch lange unter der himmelblauen Atlasdecke umher, und erst als das Tageslicht auf die Dielen fiel, sank er in Schlaf. Verena Zweiunddreißigstes Kapitel Am folgenden Tag war Arnold mit Hyrtl wirklich in die Wohnung Verena Hoffmanns gefahren. Das Fräulein hatte sie ziemlich kühl empfangen und Arnold merkte gleich, daß es mit der Freundschaft, deren sich Hyrtl gerühmt, nicht so recht stimmte. Er selbst verhielt sich schweigsam und beobachtend. Nach einer Viertelstunde gingen sie wieder. Durch einen scheinbar unerklärlichen Anstoß begann Arnold sich plötzlich abzuschließen. Er folgte keiner Einladung mehr und war unzugänglich für jeden Besucher. Er nahm auch an den Mahlzeiten bei Borromeos nicht mehr teil, sondern versorgte sich entweder zu Hause mit Schinken und Wurst oder suchte irgend eine nahegelegene billige Wirtschaft auf. Trotz des Alleinseins wimmelte es um ihn her von Bildern und Gesichtern, die seinen Geist in unaufhörliche Beschäftigung versetzten und den Stunden der Arbeit die Leichtigkeit raubten. Wohin mit all der Mühe? dachte er bisweilen in Zweifeln, die wie schwarze Vögel am Horizont flogen, -- wohin? zu welchem Ufer, du Segler? Er arbeitete, ohne die Anerkennung eines Freundes zu genießen. Eine Stimme klang in seinem Ohr, die ihm diese Anerkennung zu versprechen schien und deren Widerhall nicht erlöschen wollte. Eines Nachmittags entschloß er sich plötzlich, Verena Hoffmann aufzusuchen. Als er vor der Wohnungstür stand, zögerte er eine Weile, bevor er auf den elektrischen Knopf drückte. Als es läutete, hatte er das Gefühl, über seine Zukunft entschieden zu haben. Verena selbst öffnete. Sie war sichtlich verwundert, ihn zu sehen, hieß ihn jedoch eintreten. Er kam in ein ziemlich großes Zimmer; es schien ihm, als sähe er es zum erstenmal. Überall lagen Bücher umher, an den Wänden, auf dem Tisch, auf Bett und Stühlen und auf dem Boden. In einem Winkel stand ein menschliches Skelett, in einem anderen Winkel ein kleiner Sparherd, auf welchem Wasser kochte. Daneben befand sich eine Art Anricht, worauf ein Hohlspiegel stand, ein Mikroskop, eine Retorte, Flaschen, zwei Krautköpfe und ein Laib Brot. Arnold betrachtete all dieses mit Verwunderung und mußte schließlich lächeln. Das junge Mädchen schaute halb gespannt, halb verdrießlich in sein Gesicht, das auf sie einen Eindruck von Vierschrötigkeit und Hausbackenheit machte. »Womit kann ich dienen?« fragte sie mit einer hellen deutlichen Stimme und etwas ausländischer Betonung. »Erinnern Sie sich nicht, ich war ja mit Herrn Hyrtl neulich bei Ihnen,« antwortete Arnold unbefangen. »Ich heiße Ansorge, Arnold Ansorge.« Verena machte große Augen. Der seltsame Besucher fing an, sie zu belustigen. Sie forderte ihn durch eine Geberde auf, Platz zu nehmen und setzte sich ebenfalls. »Ich dachte mir gleich,« begann Arnold zutraulich, »daß Sie fragen würden, warum ich käme und daß ich nicht antworten könnte. Ich will einen Vorschlag machen. Denken Sie doch, daß wir schon lange bekannt wären und daß Sie mich heute erwartet hätten.« Das junge Mädchen wendete mechanisch die Blätter eines Buches um, das auf dem Tisch lag. »Wenn ich Ihnen jetzt antworten würde, wie Sie es wünschen,« sagte sie, ohne den Kopf zu bewegen, der zu dem offenen Buch geneigt war, »dann würde ich Sie belügen. Ich weiß nicht, was Sie gerade hierher treibt; vielleicht ein Straßeninteresse. Ich habe wenig Zeit, sehen Sie, und ich will wenig Zeit haben. Nur was mir nützt, kann ich in mein Leben aufnehmen.« Arnolds Gesicht rötete sich. »Da führen Sie aber ein trauriges Leben,« entgegnete er schnell. Verena Hoffmann zuckte die Achseln und machte eine unbestimmte Geberde gegen die überall verstreuten Bücher. Sie schien nicht aufgelegt, sich in Erörterungen einzulassen. Langsam, mit wiegendem, gedankenvollem Schritt ging sie hinter dem Tisch auf und ab, berührte zerstreut einige Gegenstände mit der Hand und schielte bisweilen mit Erstaunen auf den Besucher, der keine Anstalten machte, sich zu entfernen. »Was studieren Sie eigentlich?« fragte Arnold. »Medizin.« »Medizin,« wiederholte er. »Ja, das ist etwas Festes, danach kann man greifen.« Er machte eine Bewegung, als nähme er die ganze Medizin in die Hand. »Da gibt es Arbeit,« fuhr er fort, »man weiß, wo man anfangen und aufhören soll. Es hat einen Sinn und einen Zweck.« Als sie ihn so nachdenklich sprechen sah, änderte sich der Ausdruck von Verenas Gesicht. »Das allein genügt nicht,« antwortete sie mit Wärme. »Die Arbeit genügt nicht und das Ziel genügt nicht. Was ist Arbeit ohne innere Freude und Ziel ohne Persönlichkeit! Darum handelt sich's.« Das Geräusch eines auf den Steinfließen der Treppe Schlürfenden wurde hörbar, erst entfernt, dann ein Scharren und Aussetzen, vermischt mit Seufzen und Schnauben, dann klopfte es draußen und Verena ging, um zu öffnen. Ein wunderlich aussehender Mann trat ein. Verena stellte vor: »Herr Tetzner, Herr Ansorge.« Tetzner trug eine blaue Brille, einen Schlapphut, einen Wettermantel und außerordentlich große Stiefel. Unter dem Arm hatte er einen dicken Folianten. Sein Gesicht war schwammig und aufgedunsen; die Lippen schwollen förmlich aus dem Bart heraus, der in der Dämmerbeleuchtung schier eine kanariengelbe Farbe zeigte. Verena sagte leise ein paar russische Worte. Tetzner blickte Arnold an und lachte gutmütig. Fragend schaute Arnold von einem zum andern. Verena reichte ihm die Hand und sagte mit freundlich-ernstem Lächeln: »Ich hoffe, Sie wiederzusehen.« In ihren Augen lag auf einmal etwas Kameradschaftliches. Dreiunddreißigstes Kapitel Von nun an ging Arnold mit ganz anderm Sinn an eine Tätigkeit, deren bloße Grenzen zu bestimmen er bisher mit bedenklicher Leidenschaft bemüht gewesen war. Er begriff endlich, daß die Fülle ihn verwirrt, die Vielfältigkeit zerstreut hatte, und er beschloß, dem nächsten, praktisch ausnutzbaren Ziel zuzusteuern. Es war, als ob Wolken aus seinem Gehirn fortgeblasen seien. Er verschaffte sich ein genaues Verzeichnis der Fächer, deren Kenntnis zur Abiturialprüfung erfordert wurde. Nicht so leicht wurde es ihm zu erfahren, bis zu welchem Grade diese Kenntnisse reichen mußten. In der Universität wies man ihn da- und dorthin. Schließlich nahm er einen Wagen und fuhr in die Wohnung eines Professors der Jurisprudenz, den er hatte nennen hören. Der Mann war mürrisch und kalt. Doch Arnolds bestimmtes Auftreten und Fragen schüchterten ihn ein; er gab Auskunft wie ein aus dem Schlaf geweckter Schüler. Arnold notierte; seine heitere Liebenswürdigkeit verwunderte endlich den Gelehrten und nahm ihn für den Besucher ein. Er glaubte den Eifrigen warnen zu sollen: dies Brot mache keinen fett, der Andrang sei groß und die Brüste der Alma mater seien schlaff geworden. Arnold verstand den Schmälenden nicht. »Ich bin nicht hungrig,« sagte er kurz, dankte und entfernte sich. Er suchte nun einen Studenten, mit dessen Hilfe er Lateinisch und Griechisch treiben konnte; von beiden Sprachen waren nur Anfangsregeln in seinem Kopf. Er folgte dem Rat des Professors und hinterlegte seine Adresse beim Pedell der Universität. Am nächsten Morgen schon ging es treppauf, treppab im Borromeoschen Haus. Junge Männer mit leidenden und düstern Gesichtern kamen. Sie trugen meist eine angenommene Demut zur Schau, eine Unterwürfigkeit, die schlecht zu den Vorstellungen Arnolds paßte. Was aber viel entmutigender und schrecklicher auf ihn wirkte, war die große Menge dieser nahrungslosen Studenten. Im Korridor, wo oft zehn oder fünfzehn auf einmal warteten, hatte der Diener Mühe, ihre Eifersucht und Vordringlichkeit zu zähmen. Jeder wollte der erste sein, und nicht durch seine Person oder sein Wesen glaubte er den andern verdrängen zu können, sondern durch die größere Niedrigkeit des Preises seiner Dienste. Von Einem zum Nächsten wurde Arnold unentschlossener. Manches Gesicht war ihm sympathisch, da stieß ihn wieder ein gewisser dunkler Schmerz darin ab. Blutlos und kraftlos tauchten ihre Züge vor ihm auf, redeten nicht, sondern lispelten und verschwanden wieder troglodytisch-fahl. Arnold fragte oft nach ihren Lebensumständen, ihrer Heimat, ihren Absichten, aber jeder betrachtete sein Geschäft als abgetan, sobald seine Erwartungen durch ein Interesse getäuscht wurden, das ihm frivol erschien. »Ich bin nicht da, um Sozialpolitik zu treiben,« meinte einer höhnisch, »dafür bleibt mir Zeit, wenn andere bei der Tafel sitzen.« Arnold schwieg, überlegte, dann sagte er, daß er eben jemand suche, der darauf Antwort zu geben verstünde, »und das muß ihm ebenso natürlich sein, wie mir, zu fragen.« Der Student entfernte sich mit einem kurzen Auflachen, und Arnold, der keinen mit leeren Versprechungen hingehalten, wollte nun auch die übrigen nicht mehr sehen. Seiner Natur widerstrebte es, sich in ein ungesundes Mitleid einzubohren und betrübende Verhältnisse entweder als etwas Unabwendbares hinzunehmen oder durch unreife Handlungen noch mehr zu verwirren. Ihm war es klar geworden, daß eine geregelte Tätigkeit, die auf Taten zielt, mehr ist als eine verfrühte Tat. Er beschloß sich an Verena zu wenden, welche ihm vielleicht eine geeignete Person empfehlen konnte. Zu seiner Arbeit hatte er nun die schönste Muße; Frau Anna war auf dem Land, Borromeo war in Prozeßangelegenheiten nach Ungarn gefahren. Der Sommer und Sonnenschein zog Arnold nicht ab. Tag und Nacht waren seine Fenster offen, und er begnügte sich mit dem kleinen Himmelsstück zwischen den Dächern und mit den kurzen Vogelschreien, die über die Straße hallten. Verena Hoffmann antwortete ihm unverzüglich, sie wisse einen geeigneten Menschen und werde ihn bald schicken. Sie sei indessen wieder mit Herrn Hyrtl zusammen gewesen, fügte sie hinzu; »er erzählte mir, da die Rede darauf kam, Interessantes von Ihnen. Er scheint in bezug auf seine Freunde ein sehr ruhmrednerischer Mann zu sein, aber dennoch möchte ich Sie bald wiedersehen. Ein Punkt vor allem gibt mir zu denken. Sollte es Geschwätz sein, so hätte ich den Mann unterschätzt, der so etwas für ein kurzes Gespräch erfindet.« Die Schrift war fein und rundlich, genau wie Verenas Hals und Hände. Was bedeutet das? dachte Arnold. Was will sie wissen? und was könnte Hyrtl von mir wissen? Er hatte kaum Zeit, den Brief auszulesen, da hinter dem meldenden Diener ziemlich aufgeregt Specht ins Zimmer trat. Ohne seinen Hut abzunehmen, warf er sich in einen Sessel, spannte die Knie zwischen seine Arme und das vorgehaltene Spazierstöckchen und sagte, indem er die kleinen, unruhigen Augen aufriß: »Gott sei Dank, daß Sie zu Hause sind. Ich wäre verzweifelt, wenn ich Sie nicht angetroffen hätte. Sie müssen mir helfen, lieber Freund. Ich habe gestern abend an Hyrtl vierhundert Gulden auf Ehrenwort verloren. Wir haben Macao gespielt, ich, Hyrtl, ein gewisser Herr Osterburg und noch ein Herr. Es ging ziemlich hoch. Bis heute abend muß ich -- Sie begreifen, Arnold, -- meine Ehre --« Er stotterte, denn Arnolds verwundertes und verletztes Gesicht ließ ihn nicht das Beste hoffen. Arnold schüttelte den Kopf. »Nein, lieber Specht,« sagte er, »nein.« Maxim Specht nahm langsam den Hut vom Kopf, griff nach seinem seidenen Taschentuch und wischte die feuchte, runde Stirn. »Sie wollen grausam sein, Liebster,« flüsterte er mit gezwungenem Lächeln und einem Versuch, liebenswürdig-beredt zu erscheinen, »aber man straft sich selbst, wenn man seine Freunde verläßt. Sie sind reich genug, um dieses Sümmchen durch die Finger zu blasen, ich aber --,« er wollte nach der Uhr sehen, zog aber die Hand zurück -- »wenn ich bis Abend nicht zahle, kann mir nur noch eine Pistole kaufen.« Er schob den Zeigefinger hinter den Kragen und fuhr damit um den Hals. »Das sind nichtswürdige Dinge, die Sie da vorbringen,« antwortete Arnold. »Es ist so wenig Verstand darin, daß ich gar nicht anfangen mag, Ihnen Widerspruch zu halten. Wenn man spielt, kann man doch nicht mehr verspielen, als man hat. Das wäre nicht ehrenhaft und könnte keine Ehrenschuld sein. Ich, lieber Specht, das sage ich Ihnen, will nicht Geld an Ihre Stiefelsohlen hängen, damit es auf der Straße liegt. Ich glaube nämlich, mit Geld muß man Edles beginnen, damit es edel wird.« »Ach Liebster, machen Sie doch nicht in meiner kleinen Misere den Reformator,« klagte Specht mit einer müden Kopfbewegung, während seine Augen halb gehässig, halb verzweifelt blitzten. »Ich muß nun doch für das Geschehene einstehen. Theorien sind gut für das Kommende. Sie sollen mir nichts schenken. Ich lasse mir nichts schenken. Warten Sie nur, bis meine Zeit anbricht; ich habe Wurzel gefaßt, ich werde auch Früchte tragen.« Arnold schämte sich für Specht, denn sein praktischer Sinn nahm diese Reden mit Verachtung auf. Ein spöttisches Lächeln lag um Spechts Lippen, offenbar nur durch den Wunsch erzeugt, nicht allzu klein zu werden und nicht gar zu mürbe zu erscheinen. »Gut,« sagte Arnold endlich mit einer freundlichen, jedoch nachdenklichen Miene, »ich darf Sie nicht belehren, und wenn Sie auf mich rechnen, muß ich vielleicht die Rechnung anerkennen. Gut, ich will Ihnen also das Geld geben.« Spechts Gesicht wurde erst glühend rot, dann blaß. »Sind Sie nicht ein wenig ungerecht gegen mich?« fragte er mit einem fast sichtbaren Aufatmen der Erleichterung. »Hätten wir nicht Grund und Fähigkeit genug, uns gegenseitig anzuschließen, statt uns abzuwetzen? Wo Süßigkeit sein sollte, ist immer Schärfe.« Aufstehend und sich verabschiedend, fügte er hinzu: »Wir beide sind übermorgen abend bei Hankas eingeladen. Hankas reisen noch in dieser Woche ab. Ich hoffe, wir werden uns draußen sehen.« Arnold machte sich wieder an die Arbeit. Er ging bald zu Bett und stand in der frühesten Frühe auf. Auch dieser Tag ging mit Arbeit hin. Eine wunderbare Unermüdlichkeit war in ihm entstanden, denn wer täglich frische Klarheit über das Notwendige erwirbt, muß täglich über seine frischen Kräfte verfügen. Am Abend trieb ihn die Begierde nach guter Luft aus dem Haus. Kaum war er um die nächste Straßenecke gebogen, so sah er vor sich eine große Ansammlung von Wagen, die sich gestaut hatten, da der Weg durch ein umgestürztes Frachtfuhrwerk gesperrt war. Plötzlich gewahrte er in einem der eleganten Fiaker Beate Hanka. Ihr lachendes Gesicht war von der Abendröte beschienen, und ihre mutwillige Hand hatte den Vorhang des Wagens zurückgeschoben. Mit aufgeregter Neugier spähte sie nach dem Hindernis, und Arnold war sehr überrascht, als er an ihrer Seite nicht Hanka, sondern Maxim Specht gewahrte. Er hatte nicht Zeit, näher hinzuschauen, denn schnell fiel der Vorhang wieder über das Fenster. Vierunddreißigstes Kapitel Indem Arnold weiterging, fiel ihm dieses Zusammentreffen schwer aufs Herz. Ihm wäre es durchaus nicht auffallend erschienen, Specht und Beate so vertraut beisammen zu sehen, hätte er nicht gewußt, wie die beiden auseinandergegangen waren. Es beschlich ihn etwas Dunkles, und er mußte stehen bleiben, um seine Überlegungen zu sammeln. Hankas trockene und gerade Art wurde ihm gegenwärtig, ebenso wie Beates schlüpfriges Wesen. Er fand sich aufs wunderlichste für eine Sache verantwortlich, die ihn mit Ahnungen von Trug und Geheimnis beschäftigte; mit schmerzlichem Zorn dachte er an Hanka, wenn er in ihm einen Mann sehen sollte, in dessen Leben keine Wahrheit floß. Wie er sich auch stellen mochte, nichts konnte ihn seiner Unruhe entreißen. Die Furcht des Irrtums ließ ihm seinen Zweifel ungeheuerlich erscheinen, und er beschloß irgendwie zu handeln. Als er nach Hause kam, fand er einen Brief von Natalie, worin sie ihn bat, er möge gleich zu ihr kommen, sie wünsche ihn dringend zu sprechen. Er ging hin. Natalie war aufs eifrigste mit dem Packen von Koffern beschäftigt. »Wir ziehen morgen aufs Land,« sagte sie und sah sich mit lachender Verzweiflung nach einem Stuhl um; überall lagen Kleider und Wäsche. »Es ist schon ein wenig spät im Jahr, aber ich freu' mich riesig auf Wälder, Wiesen und Luft. Petra ist heut bei Mama. Mama ist krank, wird aber jedenfalls reisen, denk' ich. Werden Sie uns nicht besuchen im Gebirg? Das wäre märchenhaft. Hier, setzen Sie sich auf den Hutkoffer. Die Kinder sind schon zu Bett. Denken Sie nur, was Helenchen heute zu ihrem Vater sagte. Papa, sagte sie, ich kann gar nicht begreifen, daß du dich bei Mama langweilst. Wie finden Sie das? Herrlich, nicht? Nun, wenn die Väter so klug wären wie ihre Kinder, würden sie keine haben.« Arnold nahm Platz und fragte Natalie, weshalb sie ihn gerufen. Natalie erblaßte, griff sich an die Stirn und murmelte: »Ach so! richtig!« Dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter und fragte mit tragischer Betonung: »Sind Sie ein Freund? Sind Sie ein wahrer Freund?« Arnold blickte sie mißtrauisch an und schwieg. Auf einmal begann sie zu schluchzen. Arnold rührte sich nicht. Eine schöne Geschichte, dachte er und runzelte die Stirn. »Nein, ich kann nicht, ich kann nicht,« stöhnte Natalie, schlug die Hand vor das Gesicht und schielte durch die gespreizten Finger nach Arnold. »Also was ist denn los?« fuhr Arnold ärgerlich heraus. »Ich kann nicht,« wiederholte Natalie mit herzbrechendem Ton, fuhr aber sogleich fort: »Es handelt sich um eine Bürgschaft, lieber Freund. Mein Mann hat wieder einmal eine kolossale Dummheit gemacht. Wir sollen morgen dreitausend Gulden bezahlen und haben nicht hundert im Haus. Nächste Woche erwartet Osterburg große Summen aus Amerika. Helfen Sie mir. Ich will es Ihnen ewig danken. Ich schwöre Ihnen beim Leben meiner Kinder, daß Sie alles zurückerhalten sollen. Zeigen Sie mir, daß ich einen Menschen in Ihnen gefunden habe. Ich bin ja so unglücklich!« Und sie schluchzte weiter. Herrgott, dachte Arnold, für die Leute ist man ja der reine Geldsack. Er war nicht im mindesten ergriffen, im Gegenteil, alles das erschien ihm sinnlos und widerwärtig. »Ich werde Ihnen morgen früh eine Anweisung schicken,« sagte er kalt. »Aber schwören Sie nicht solche dumme Schwüre.« Es fehlte nicht viel, und Natalie hätte ihn umarmt. Sie hatte eigentlich nicht daran geglaubt und vergoß nun echte Tränen. Dennoch bereute sie, daß sie nicht um tausend Gulden mehr verlangt hatte. Ihre verworrenen und überschwenglichen Danksagungen waren Arnold unbequem. »Hören Sie einmal zu, Frau Natalie,« unterbrach er sie, »warum glauben Sie eigentlich, daß zwischen Hanka und Beate keine Ehrlichkeit besteht?« Natalie starrte ihm erstaunt ins Gesicht, dann schlug sie die Hände zusammen und setzte sich ihm gegenüber auf einen aufgerollten Teppich. »Ich?« erwiderte sie halb bestürzt, halb belustigt, »ich hätte so etwas gesagt? Wann denn?« »Sie haben es gesagt,« beharrte Arnold. »Wie ich das erstemal bei Ihnen war und wir von der Verheiratung Hankas gesprochen haben --« »Ach so! Das meinen Sie! Warum? was ist denn geschehen?« »Ich möchte nicht mehr darüber sagen,« antwortete Arnold. »Aber weil wir so darüber sprechen und denken, gerade so und nicht anders und weil wahrscheinlich auch andere Menschen glauben, daß der Doktor Hanka nicht weiß, wie es die Beate seinerzeit in Podolin getrieben hat, so fragt es sich, ob man dem Mann nicht reinen Wein einschenken muß.« Natalies Stirn legte sich in bedächtige Falten und mit niedergeschlagenen Augen drehte sie ihren Ring am Finger rundum. »Ich verstehe nicht,« sagte sie aufgeregt. »Was wissen Sie denn? Erzählen Sie doch.« »Erzählt wird nichts. Ich frage nur: soll man dem Doktor Hanka sagen, mit deiner Frau steht es so und so, du scheinst nichts davon zu wissen --« »Was für verdrehte Ideen!« rief Natalie aus. »Und wenn er Sie dann vor die Tür setzt? Was dann? Wer sagt Ihnen denn, daß er nichts weiß?« »Das ist klar. Weil die Beate nicht so wäre wie sie ist, wenn er was wüßte. Und weil sie überhaupt ein Lügenbeutel ist.« »Aber das alles ist mir ja riesig interessant,« flüsterte Natalie und sah Arnold mit naivem Entsetzen an. »Machen Sie nur keine Dummheiten, ich bitte Sie. Glauben Sie denn, daß die Welt auf Wahrheit gestellt ist? Das ist ja Unsinn. Wenn das wäre, müßten wir ja allesamt ins Gefängnis oder Gott weiß wohin wandern.« In diesem Augenblick kam Osterburg, erhitzt und wichtig, wie von großen Erlebnissen strahlend. Mit einer Mischung von Vertraulichkeit und Leutseligkeit schüttelte er Arnolds Hand und sagte sofort, als ob er sich seit Wochen mit diesem Plan beschäftigt hätte: »Herr Ansorge, Sie müssen heiraten. Ich habe ein wunderbares Mädchen für Sie, ohne Spaß, mein Ehrenwort. Nicht reich, nicht arm, aber was man so sagt, intelligent. Unter uns, eine famose Person. Grundsätze, Ideale, wie das heute so üblich ist.« Breitbeinig stand er da, sah verständnisinnig aus, schmatzte mit den Lippen und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu. Natalie sah ihn voll Schrecken und Staunen an. »Das einzige Hindernis wäre,« fuhr er fort, »daß sie eine Jüdin ist. Aber Sie sind ja sozusagen ein aufgeklärter Geist.« Er ging mit großartigen Schritten herum und fuchtelte mit den Armen. »Was geht uns überhaupt diese Geschichte an, die da vor zweitausend Jahren passiert sein soll? Wir sind alle Menschen, alle sind wir Brüder. Wenn wir auch Christen sind, Gott ist der Herr. Mein Ehrenwort, das ist meine Meinung, Herr Ansorge.« Diese letzten Worte schrie er beinahe zum Fenster hinaus. »Bist du betrunken?« fragte Natalie mit eisiger Ruhe. Osterburg wurde plötzlich kleinlaut. »Ach, ach,« seufzte er, »früher war ich so geistreich; erst seit zwei Jahren bin ich so stupid geworden.« Arnold verabschiedete sich. In diesem Hause umfing ihn stets eine Luft von seltsamer Wesenlosigkeit, ein Gewebe abenteuerlicher und zweckloser Reden, ein grundloses Auf und Ab von Lachen und Trauer, von Eifer und Leerheit, von Wichtigkeit und Bodenlosigkeit. Am nächsten Tag fand sich der junge Mann ein, den Verena zu schicken versprochen hatte. Er hieß Wolmut und war ein zarter Mensch von bürschchenhaftem Ansehen, mit rosigem Kindergesicht und ernsten, klugen Augen. Seine Redeweise hatte etwas Nüchtern-Belehrendes, sein Betragen war gewandt und kühl, aber Arnold spürte sofort, daß dies der ihm notwendige Helfer sei. Was er vor allem aus dem kleinen blonden Mann dunkel herausfand, war eine gewisse Ehrlichkeit und Zartheit; er fühlte die Gegenwart einer tüchtigen und klaren Natur. So sah er sich mit Vergnügen am Eingang einer arbeitsreichen Epoche, und als von Hankas eine schriftliche Ermahnung kam, er möge den heutigen Abend nicht vergessen, da war für ihn beschlossen, nicht hinzugehen. Wozu das Trübe suchen? dachte er; im schlammigen Wasser steckt kein Fisch. Als er sich nachmittags hinsetzte, um durch eine Karte sein Nichtkommen zu melden, ward es jedoch anders. Mit seinen groben Federzügen schrieb er Anrede und Anfangsworte und legte langsam den Halter auf den Tisch zurück. Ernst und fragend tauchte Alexander Hankas Gesicht vor ihm empor. Es war ein heißer Tag, Arnold wurde gelähmt durch die brütende, staubige Stadthitze. Die Sonne leuchtete nicht, sondern glomm in einem Dunstnest. Nach Tisch ging Arnold aus, aber auf der Straße war es noch übler als im Zimmer, und er wollte schon umkehren, da zog es ihn plötzlich nach einer ganz andern Richtung, und er beschloß, Verena Hoffmann aufzusuchen. Er läutete einige Male an der Tür und niemand rührte sich drinnen. Als er sich enttäuscht zur Treppe wandte, kam Verena von unten herauf. Am Fuß der letzten Stiege gewahrte sie ihn schon, blieb einen Augenblick stehen und lächelte empor. Sie trug ein weißes Leinwandkleid mit schwarzem Band um den Hals und um die Taille. Sie reichte ihm die Hand, deren festen Druck er fest erwiderte, dann schloß sie auf, ging voran, warf ohne sonderliche Verlegenheit eine Wolldecke über das noch ungemachte Bett, brachte Streuzucker und eine Art Sodawasser bei und beide nahmen an einem Tisch beim Fenster Platz. Von hier war ein weiter Blick in die Nachbarhöfe und Verena sagte, indem sie hinausdeutete: »Zweihundertfünfzig Fenster.« Arnold nickte. »Auf wie viele Menschen kommt da ein Fenster?« erwiderte er. Verena sagte, sie freue sich, daß er gekommen sei. »Was hat Ihnen denn Hyrtl eigentlich von mir erzählt?« fragte Arnold neugierig. »Es ist die Geschichte mit dem Judenmädchen. Ist es wahr, war das wirklich der Anlaß für Sie, Ihre Heimat zu verlassen?« »Ja, das ist wahr,« murmelte er. »Aber ich habe bis jetzt nichts erreicht, gar nichts. Es ist schändlich.« »Kennen Sie das Mädchen näher?« »Die Jutta Elasser? Ich habe sie einmal im Leben gesehen. Ein häßliches kleines Ding.« Verena sah ihn aufmerksam an. Es schien als ob diese Antwort erst ein tieferes Interesse für ihn erweckt hätte. Doch sprach sie nicht weiter von der Sache und dafür war Arnold ihr dankbar. Sie saßen nun mindestens eine Viertelstunde schweigend beisammen. Arnold staunte vor sich hin. Eine wunderbare Bewegung war in seiner Brust, und er hatte das Gefühl, als überströmten ihn Wohlgerüche. »Ist Wolmut zu Ihnen gekommen?« fragte Verena endlich. »Ja, er ist gekommen.« »Finden Sie ihn sympathisch?« »Sehr sympathisch.« »Er ist einer der nützlichsten Menschen, die ich kenne; er wird es sicher noch sehr weit bringen, das heißt, soweit man es in diesem korrumpierten Land eben bringen kann.« »Weit bringen, das heißt, ein großes Amt bekommen?« »Ja, ungefähr.« »So weit werd' ich's wohl nie bringen.« »Kaum. Idealisten bringen es nicht zu hohen Ämtern.« »Idealisten? Das ist ein dummes Wort. Ich bin doch kein Schiller.« Verena lachte. »Aber die Idealisten können es noch weiter bringen als zu hohen Ämtern.« »Ach, dann bin ich versöhnt.« »Ja, aber es gibt Gefahren.« »Gefahren?« »Die Idealisten dürfen sich nicht verpflichten. Sie dürfen keine anspruchsvollen Freundschaften haben.« »Wieso? Sie meinen, daß man sparsam mit seinem Herzen sein muß.« »Vielleicht. Oder doch, daß man das Herz nicht verschwenden soll.« »Das scheint mir aber unmoralisch. Meiner Ansicht nach kann das Herz nicht arm werden, soviel es auch gibt.« »Glauben Sie? Da sind Sie aber sehr auf dem Holzweg. Das Herz kann sich nämlich auch irren und sogar verirren. Und wenn es sich einmal verirrt hat, dann wird es aufgebraucht.« »Na na, und wenn? Dazu sind wir ja da. Man kann doch nicht eine Rechenmaschine in die Brust hineinstellen.« »Aber wenn einer ein Ziel hat, dann muß er sein Herz bewahren, sonst ist er nichts wert.« Plötzlich erhob sich Verena und sagte: »Ich muß gehen. Ich muß zu Tetzner.« »Wie stehen Sie eigentlich zu Herrn Tetzner?« fragte Arnold rasch. Sie stutzte, runzelte die Stirn, antwortete aber nicht. Kaum hatten sie auf der Straße ein paar Schritte gemacht, als Tetzners Kopf an einem ebenerdigen Fenster sichtbar wurde. »Wo steckst du, Verena?« rief er; »nimm doch den Herrn mit herein. Junger Freund, hier gibt es die seltensten Schnäpse der Welt und vieles andere, was sich sonst nur auf der Tafel des Großkhans der Bucharei findet. Kommen Sie.« Arnold blickte hinauf und machte eine Grimasse. »Man hat schon wo anders für mich gesorgt,« entgegnete er lachend, »aber vielleicht heben Sie mir etwas auf.« »Bravo,« rief Tetzner und klatschte in die Hände. Verena warf einen teilnehmenden, tiefen Blick auf Arnold, dessen Heiterkeit ihr sehr gefiel. Fast ungestüm streckte sie ihm die Hand hin, als er ging. Fünfunddreißigstes Kapitel In dem Zimmer, welches gegen den Garten hinausging, saß Hanka am Klavier und spielte eine Haydnsche Sonate. Beate saß in der Ecke des mäßig großen, noch von der untergehenden Sonne beleuchteten Raumes, blätterte in einem Photographiealbum und gähnte von Zeit zu Zeit. »Diese Einladung war ganz unnötig,« sagte sie in der Pause zwischen einem Andante und einem Allegro, »besonders da Specht nicht kommt. Was tun wir denn mit Ansorge allein und was geht er uns an? Dazu ist er noch unhöflich und läßt auf sich warten.« Hanka wandte sich langsam mit dem Drehstuhl um. Er blickte auf die Uhr, schmatzte mit den Lippen und erwiderte: »Wir wollten doch die beiden Podoliner einmal beisammen haben, vielmehr du wolltest es. Daß dein Freund Specht absagen würde, konnte man ja nicht vermuten. Übrigens interessiert mich Ansorge viel mehr.« Beate pendelte ungeduldig mit den Füßen. »Mich langweilt er,« sagte sie. »Ich langweile mich überhaupt. Wenn wir nur schon fort wären. Wie lang ist es noch bis morgen früh! Ich will jeden Tag wo anders sein, und du, du schläfst bei Tag und Nacht.« Und zwischen einem Lächeln und einem Zähneknirschen fuhr sie fort: »Hast du denn die Fahrkarten bestellt?« Mit dem ihm eigenen, schlenkernden Schritt spazierte Hanka über die Breitseite des Zimmers. Er antwortete nichts. Seit einer Reihe von Tagen war er von unnennbaren, wechselnden Empfindungen bewegt. Mit der Kraft seines ganzen Wesens hing er an Beate, doch erspähte er fortwährend Auflehnung in ihrem Innern. Für eine Person wie Hanka ist die Äußerung einer Empfindung nicht das Mittel, um Glauben an sie zu erwecken; für ihn war es wichtig, den Weg einer scheinbaren Trockenheit einschlagen zu können. Wer dies, ihn verstehend, ermöglichte, konnte ihn ganz besitzen. Es war ihm unwidersprechlich geworden, daß Beate nicht sah, was sie hätte sehen, nicht fühlte, was sie hätte fühlen müssen, daß ihre immerwährende Beweglichkeit nichts anderes war als eine Flucht vor ihm. Verdruß machte oft die Ruhe seines Nachdenkens düster. Die Anziehungskraft wächst mit dem Quadrat der Entfernungen, pflegte er sich ironisch zu sagen, und mit seiner pedantischen Gründlichkeit wünschte er genau zu erkennen, durch welche Eigenschaften ihm Beate so unentbehrlich geworden. Doch hier machten seine Gedanken Halt, und in einer Zärtlichkeit, wie sie nur sein von allen Seiten verschlossenes Herz kannte, erblickte er immer wieder das kräftige und kapriziöse Kind der Natur in ihr, dem sein eigener, schwachgewordener Wille sich mit ebenbürtiger Laune unterwerfen mußte. »Trabst schon wieder herum wie ein Bär,« sagte Beate, sprang aber gleichzeitig auf, da es geläutet hatte. Bald darauf trat Arnold ein und wurde von Hanka mit herzlichem Händedruck, von Beate mit etwas ungeschickter Kälte begrüßt. Alle drei setzten sich sogleich zu Tisch. Draußen hatte sich der Himmel verfinstert, und Gewitterwind wehte durch den Garten. Hanka erhob sich wieder, drehte die elektrischen Flammen auf und fragte Arnold, weshalb er so spät komme. »Zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts zu essen bekommen,« sagte Beate ärgerlich. Arnold entschuldigte sich nicht. »Ich habe bis zuletzt gezögert, ob ich kommen soll,« sagte er. »Das ist nicht höflich, Frau Beate, aber es hat seinen Grund.« Beate stutzte. »Er hat immer Gründe,« erwiderte sie bissig. »Als alte Bekannte seid ihr zu spitz,« bemerkte Hanka gutmütig. Er freute sich eigentlich, daß Arnold Ansorge ihm nun gegenüber saß, es erschien ihm fast wichtig, diesen Menschen zu sehen und zu beobachten. Aus solchem Holz schnitzt man Freunde, dachte er. Unter dem heranrollenden Donner begannen sie zu essen. Beate legte aber bald Messer und Gabel hin, und ihr Gesicht veränderte sich zusehends vor Angst. »Ja, mit den Gewittern,« meinte Hanka stirnrunzelnd. »Für eine Frau, die auf dem Land aufgewachsen ist, ist das beschämend.« Ein außerordentlicher Blitz ließ die Lichter des Zimmers erblassen. Nach dem langen Donner erhob sich Beate und murmelte verstört vor sich hin. Auch Hanka stand auf. Er faßte Beate bei den Händen und suchte sie zu beruhigen. Ein zweiter Blitzstrahl erzeugte ein krampfhaftes Zittern in ihrem Körper. Voll Heftigkeit stieß sie Hanka von sich; mit einem hexenartigen Ausdruck schrie sie in den Donner hinein: »Ich will nicht, ich will euch nicht,« und lief aus dem Zimmer. Hanka folgte ihr sogleich. Nach einer Weile kam er zurück, rief das Stubenmädchen, und Arnold fand sich abermals allein an dem gedeckten Tisch. Er nahm weniger Anteil an diesem Auftritt, als es in seinem interessevollen Wesen lag. Was von Beate kam, glitt ihm vorüber und mischte sich so wenig mit seinem Geist wie Öl mit dem Wasser. Vielleicht aber war das Spiel der Elemente draußen für ihn anziehender und ergreifender als die selbstsüchtige Bangnis einer kleinen Seele. Er trat langsam an das Gartenfenster, und beim Schein der Blitze fühlte er sich aufgefordert, Wahrheit in dies Haus zu tragen. Und das Benehmen Beates, anstatt ihn mitleidig zu stimmen, machte ihm ihre ganze Person geradezu verdächtig. Unbefangen und fast humoristisch aufgelegt, kam Hanka zurück. »Sie hat sich in Betttücher eingehüllt und die Ohren verstopft,« sagte er. »Ich habe ihr versprechen müssen, daß Sie bald gehen werden. Haben Sie je etwas mit ihr gehabt? Es ist mir unbegreiflich. Kommen Sie, lieber Freund, essen wir weiter. Ich freue mich, daß Sie da sind und werde Sie nicht so geschwind wieder loslassen.« »Frau Beate fürchtet vielleicht, mich mit Ihnen allein zu lassen,« erwiderte Arnold ruhig und folgte Hanka zum Tisch. »Warum? Warum fürchten? Sie wollte ja selbst, daß Sie einmal bei uns wären.« Vergnügt und voll Appetit legte sich Hanka Fleisch und Gemüse auf den Teller. »Das kann ich mir erklären,« sagte Arnold. »Vielleicht wollte sie es nur darum, um zu sehen, wie sie sich gegen mich verhalten muß.« »Ei, was Sie für ein Psycholog geworden sind! Allerdings, was Sie da sagen, hat etwas für sich. Gerade die Frauen wollen oft das Verhaßte nahe haben. Darin steckt ein kindlicher Instinkt, sich zu schützen. Aber es ist lächerlich, wenn Sie das bei Beate annehmen. Beate ist viel zu naiv dazu.« Arnold schwieg. Unschlüssigkeit überkam ihn. Und er spürte nun aus Hankas Worten deutlich eine vollständige Ahnungslosigkeit. Dies erregte in ihm einen stummen Zorn gegen das lügnerische Weib. »Es berührt uns doch, ich möchte sagen ästhetisch, wenn Frauen sich vor dem Gewitter fürchten,« fuhr Hanka angeregt zu plaudern fort. »In einer Frau liegt etwas ebenso Elementares wie in einer elektrischen Wolke, und fast möchte man glauben, daß die Natur sich einen Spaß daraus macht, ihre latenten Instinkte gegeneinander platzen zu lassen. Dergleichen ist für mich eher angenehm als verstimmend.« Ein bläulicher Blitz fuhr durch den Raum, schnitt Hankas Rede ab und vom fast gleichzeitigen Donnerkrach zitterten die Wände und rasselten die Teller. »Warum ist eigentlich Specht nicht gekommen?« fragte Arnold, indem er gegen das Fenster sah, an welches der Regen gepeitscht wurde. »Er erzählte mir zuerst, daß er hier sein würde. Es fällt mir nur deshalb auf, weil ich ihn gestern mit Frau Beate in einem verschlossenen Wagen sah.« Hanka schaute rasch empor und machte ein sehr erstauntes Gesicht. »So?« fragte er kurz. Er erinnerte sich plötzlich, daß ihm die Stunden lang und ungewöhnlich erschienen waren, die Beate gestern bei der Schneiderin zugebracht haben wollte. Er schüttelte den Kopf und sagte mit einem unsichern und wohlwollenden Lächeln: »Darin täuschen Sie sich vielleicht.« »Ich täusche mich nicht,« erwiderte Arnold, »obwohl die Vorhänge des Wagens nur einen Augenblick zurückgeschoben wurden.« Hanka hörte auf zu essen. Warum erzählte sie mir davon nichts? dachte er, wie um sich noch einmal gewaltsam zu betrügen. Er lehnte sich in den Stuhl zurück, öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder, ohne gesprochen zu haben. Zu beiden Seiten der Nasenflügel trat eine seltsame gelbliche Blässe hervor. »Ich dachte mir, Sie wüßten um alles was zwischen Specht und Ihrer Frau war,« fuhr Arnold mit unerbittlichem Ernst fort. Er hatte den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt und schaute Hanka unverrückt an. »Beide waren in Podolin wie Mann und Frau, bei Tag und bei Nacht. Das weiß ich und würde es Ihnen nicht sagen, wenn ich's nicht wüßte. Darum hören Sie alles auf einmal, damit ich Sie nicht quäle. Nach Specht hatte sie ein Verhältnis mit dem Oberknecht auf dem Randomirschen Gut, das heißt, im Anfang betrog sie den einen mit dem andern, bis der Knecht sie durch Schläge gehorsam machte. Davon wußten die Mägde bei uns jeden Tag zu erzählen. Mir hat von jeher eine Stimme gesagt, daß Sie dabei im Finstern sind, denn Sie sahen eine andere Beate, hätten vielleicht nicht einmal die gewollt, die es ehrlich gestanden hätte. So trieb es mich also her, wie schwer es auch ist; ich denke mir, die einen leben von Lüge, die andern von Wahrheit, die beiden muß man voneinander halten. Das ist alles.« Während dieser Worte hatten die gelblichen Flecke auf Hankas Gesicht beständig zugenommen. Auch er sah unverrückt in das Gesicht seines Gegenübers; und allmählich verlor er das Bewußtsein davon, daß da ein Mensch sitze; er gewahrte nur einen weißlichen Kreis; ihm war, als sei es der Mond, der vom Himmel heruntergeglitten war, um zu sprechen. Jedoch er hörte, hörte. Er verspürte einen ungeheuren, verschlungenen Schmerz im Kopf, und als Arnold geendigt hatte, glitt ein dünnes, geistloses Lächeln über seine Lippen. Arnold schwieg und Hanka schwieg, und so saßen sie lange schweigend, während das Gewitter sich verlor. Endlich rückte Hanka seinen Stuhl, beugte sich vor, als mache er ein Kompliment und sagte mit heiserer Stimme und richterlicher Schärfe, wobei er die schwarzen Augen weit aufriß: »Beweise --?« Arnold erwiderte nichts; er heftete stumm seine Blicke in diejenigen Hankas. Es war ein überlegener, strenger und vornehmer Ausdruck in seinen Augen wie in seinem Gesicht und Hanka beugte sich wieder zurück, als ob er sein Wort vergessen haben wolle. Er legte eine Hand glatt auf den Kopf, Farbe kehrte in seine Wangen zurück und verschwand wieder daraus. Er gab einen unbestimmten kurzen Laut von sich, stand auf und wie zum Zeichen seiner Fassung zündete er langsam eine Zigarre an. Darauf ging er schweigend mit großen Schritten auf und ab. Auch Arnold verließ seinen Platz. »Adieu, Doktor Hanka,« sagte er; »Freund oder Feind; wie Sie mich nennen wollen, das steht bei Ihnen.« Hanka kehrte ihm den Rücken, verschränkte die Arme und blickte gegen die Fenster. Doch als Arnold sich zur Tür wandte, schritt er ihm nach, sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an und reichte ihm die feuchte kalte Hand. Sechsunddreißigstes Kapitel Hanka setzte seinen Spaziergang durch das Zimmer fort. Er dachte nun weder an sich selbst, noch an Beate, sondern er richtete seine Gedanken zunächst auf die Person Arnolds. Er vergegenwärtigte sich den Arnold, den er in Podolin kennen gelernt und hielt den dawider, der heute zu ihm gesprochen. Er warf gleichsam ein Senkblei aus, um die Tiefe des Vertrauens zu diesem Mann zu ermessen. Das Lot sank weit. Er mußte einen Verstand anerkennen, der die Aufrichtigkeit über alles liebte. Und schließlich mußte er sich gestehen, daß dieser Mensch von Sympathie geführt wurde, um ihn, Hanka, sehen zu lehren. Folglich war ich blind, dachte Hanka. Gewaltsam suchte er ein haßartiges Gefühl von Kälte gegen Arnold von sich abzuwehren. Wie er sich auch stellen mochte, er konnte noch nicht glauben. Es erschien ihm einen Augenblick lang phantastisch, sich einem Zweifel an Beate zu ergeben. Was führt ihn her? dachte er trüb und trotzig. Mitleid? Dann wäre selbst seine Wahrheit nicht wahr. Wie konnte er annehmen, daß zwischen uns kein gegenseitiges Wissen bestand? Hankas Eigenliebe begann sich zu bäumen. Vielleicht wurde er selbst verschmäht und spielt den Verräter, grübelte er voll Verzweiflung, doch ein Schauer fuhr ihm über die Haut, als ob ihn Ekel berührt hätte. Hundert Erwägungen verbrannten sein Gehirn, durch hundert Kunstgriffe suchte er das Gesicht des Anklägers zu entstellen, immer schüttelte er den Kopf und kehrte zu sich selbst zurück: war ich also blind! Und abermals ging er auf und ab. Er stellte um sich her lauter Beates mit allen ihren Gesichtern, ihren Geberden, ließ all ihre Worte nachklingen, die ihm erinnerlich waren, begann an ihrem Schweigen zu studieren, und endlich schien es ihm, als ob von einzelnen dieser Bilder eine Maskenhaut abfiele, und er sah Lieblosigkeit, in kindisches Gewand verhüllt, Verlogenheit unter tausendfach täuschendem Lächeln. Was soll ich tun? entfuhr es ihm endlich und ihm war, als müsse er sich auf den Boden legen, um Jahre lang nur darüber nachzudenken. Erst jetzt dachte er daran, daß er ja zu Beate gehen könne und daß dann alles entschieden sein müsse. Mit grausamer Logik überzeugte er sich, daß er diese Entscheidung nur verschieben wolle. Ist es denn schließlich so schlimm? murmelte er. Ein Weib weniger für mich, gut. Das Vergehen ist gering von ihrer Seite, da sie doch nicht die ist, die ich glaubte. Man darf die Einfachheit der Sachlage nicht verwickeln. Betrug oder Nichtbetrug, das ist schließlich Angelegenheit des Geschmacks und der Reinlichkeit. Für mich handelt es sich um mehr. Einen Weg, der nicht da ist, kann man nicht gehen, mit jemand, der nicht existiert, kann ich nicht zusammenleben. Er zündete eine Kerze an, verließ das Zimmer, ging durch einen Salon, in welchem die Sessel schon mit staubschützenden Überzügen versehen waren und betrat das Schlafgemach. Beate lag im Schlafrock auf dem Bett und schlief. Er zögerte, stellte dann die Kerze vorsätzlich geräuschvoll auf ein Marmortischchen und Beate schreckte empor. »Hast du ihn fortgeschickt?« fragte sie schlaftrunken. »Lösch doch die Kerze aus, Alexander, sonst verbrennt der Vorhang«, fuhr sie munter werdend fort. »Es ist ja Licht genug, siehst du denn das nicht?« Da er nicht antwortete, sondern auf- und abzugehen begann, verfolgte sie ihn mit ungeduldigen Blicken. »Du könntest jetzt zu Bett gehen«, sagte sie verdrießlich. »Wir müssen ausschlafen, ich muß morgen früh noch meine Handtasche packen.« »Die magst du wohl packen«, entgegnete Hanka mit Ruhe. »Du kannst auch reisen, wenn es dir gefällt, aber es wird ohne mich sein.« Beate riß erstaunt die Augen auf. »Ja, bist du denn toll?« schrie sie endlich, starrte wieder und lachte darauf laut. Sie hob sich empor, brachte die Füße auf die Erde und indem sie auf dem Rand des Bettes sitzen blieb, zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck von Angst, Sorge und Haß. Es schien, als ob Hanka von alledem nichts sähe. Er begann in gleichmütigem Tonfall wieder zu sprechen. »Ich frage dich nicht, in welchem Verhältnis du zu Maxim Specht stehst; weder was dich veranlaßt, im Wagen geheimnisvoll mit ihm durch die Stadt zu fahren, noch was zwischen euch schon in Podolin vorgegangen ist. Ich frage auch nicht, was es mit dem Knecht beim Grafen Randomir auf sich hatte. Ich will nur wissen, was du mir jetzt zu sagen hast, da dir bekannt ist, daß ich alles weiß.« Beates Gesicht war erdfahl geworden. Ihr Rücken krümmte sich, und ihr Kopf sank ein wenig herab. Langsam öffneten sich die Lippen und ließen die fest zusammengepreßten Zähne sehen. Es schien, als ob sie gleichzeitig lachen und schreien wolle. Ihre Finger bewegten sich, ihre Zehen rührten sich in den dünnen Strümpfen, ihre Knie drückten sich gegeneinander, ihre Arme zuckten, dann stand sie jählings auf und sagte mit grenzenloser Verachtung: »Der Hund also! der Schwätzer! der gemeine Denunziant!« Mit einer blitzartigen Bewegung nahm sie das Umhangtuch, das auf dem Bett lag, schlug es um den Kopf, ging auf Strümpfen stolz zur Tür und schlug sie knallend hinter sich zu. Ein verblasenes Lächeln glitt über Hankas Mund. Er blieb stehen und drückte die Augen zu, als wollte er sagen: Genug, übergenug. Doch keine Minute war verflossen, als Beate wieder zurückkam. Sie weinte; sie setzte sich auf einen Stuhl und drückte die Hände vor die Augen. »Es liegt nun an dir«, sagte Hanka, »dein Leben in Zukunft so gut wie möglich einzurichten. Ein öffentlicher Skandal widerstrebt mir ganz und gar. Es ist also gut, wenn du in aller Stille die Stadt verläßt. Ich lasse dir Zeit, ich will für einige Wochen weg, damit kein Aufsehen entsteht. Was ich dir zu einer anständigen Lebensführung materiell biete, werde ich morgen schriftlich feststellen lassen. Hast du noch etwas zu sagen?« Als Beate merkte, daß es so bitterer Ernst war, ging eine neue Veränderung mit ihr vor. »Ich bin unschuldig, Alexander!« rief sie aus, »sie haben mich verführt, bei Gott. Sie haben mich unglücklich gemacht.« Sie fiel vor dem Bett auf die Knie und legte ihr Gesicht in die Kissen. »Das mag wahr sein«, sagte Hanka freundlich, der vor dem Spiegel stand und so nach ihr hinschaute. Beate erhob rasch den Kopf und in ihrem Gesicht war ein naiv hoffender Ausdruck. Hanka lächelte schmerzlich. Er begriff, daß seine Sprache nicht zu den Ohren dieser Frau dringen konnte, daß seine Welt in andern Sphären rollte, daß sein Blut anders beschaffen war und daß Beate dies nicht einmal zu ahnen vermochte. »Richte dich nach dem, was ich gesagt habe«, bemerkte er kühl und wandte sich zum Gehen. Als er den Raum schon verlassen hatte, hörte er Beates aufschreiendes Lachen. Er kehrte in das Eßzimmer zurück, setzte sich ans Klavier, schlug irgend ein Notenheft auf und präludierte. Aber es war, als ob sich zwischen ihm und dem Instrument eine Wand befinde; die Töne blieben dumpf und fern. Er stand auf, öffnete die Fenster und die Glastür, die in den Garten führte. Er ging hinaus. Von Bäumen und Sträuchern tropfte das Regenwasser, und über den Beeten lag schwärzestes Dunkel. Am weißlichgrauen Himmel schoben sich Wolken hin, und das Gewitter leuchtete noch in der Ferne. Ich war ein andrer Mensch, als jene Blitze noch auf der andern Seite des Horizonts standen, dachte Hanka; zwischen zwei Windstößen hat sich das Schicksal gewandt. Er verfolgte die geschlungenen Gartenwege, und das unveränderliche Tropfen des Wassers klang ihm wie die Hämmer des Klaviers, das an diesem Abend nicht hatte tönen wollen. Es war spät, als er wieder in das Zimmer zurückkehrte, das er nach allen Seiten abschloß. Er nahm in einer Ecke Platz und griff zu einem Buch, zu einem zweiten und dritten. Hanka hatte ein Gefühl der Müdigkeit und Schwere, als ob er zwei Nächte durchzecht hätte. Er streckte sich im Sessel aus, und in seinem Kopfe begann ein hohles Denken, welches in einen hohlen Schlummer überging, als die Blätter im Garten von der Morgenröte zu erglühen anfingen. Siebenunddreißigstes Kapitel Nachdem Arnold Hankas Haus verlassen hatte, stand er eine Weile unschlüssig vor dem Tor. Dann schritt er die unbekannte Gasse entlang, kehrte aber wieder zurück. Schweigend standen die Villen und Landhäuser zu beiden Seiten der Straße, und sein Ohr vernahm keinen andern Laut als den des Regens. Er gelangte vor eine Bank, die unter dem Schutze eines alten Kastanienbaumes leidlich trocken geblieben war und setzte sich nieder. Der letzte Blick und Händedruck Alexander Hankas wollten ihm nicht aus dem Kopf. Arnold fühlte wohl, daß darin mehr und anderes enthalten war als die dankbare Quittung für einen wohlgemeinten Dienst, anderes jedenfalls, als was Arnold erwartet hatte. Er hatte erwartet, daß ein Mann, der behäbig im Finstern gesessen, sich überrascht, tätig und entschlossen dem Licht zuwenden würde, das ihm ein Freund ins Haus getragen. Statt dessen, das verrieten ihm Empfindung und Beobachtung, hatte er einen Gedemütigten hinter sich gelassen. Arnold hatte geglaubt, eine Wahrheitsschuld abzutragen, und er hatte ein Gericht abgehalten. Hankas Blick war deutlich: du hast gerichtet, aber wer hat dich gerufen? War dies nun die Schwäche Hankas oder war es die menschliche Schwäche oder war es Arnolds Irrtum? Ist es Hankas Schwäche, dachte Arnold, dann beruht sein Glück darauf, nicht zu sehen, wie das meine, sehen zu wollen. Und so wenig ich die Macht habe, ihm mein Gehirn und mein Auge zu geben, so wenig steht bei mir das Recht, ihm meine Wahrheit aufzureden. Hier ist kein Ausweg, obwohl ich sehe, daß jedes Ding, gutes Ding und böses Ding zwei Seiten hat. War es eine menschliche Schwäche, dann kann es ja auch meine Schwäche sein, und es wird für mich um so vielmal schwerer, Recht zu haben, als es außer mir noch Menschen gibt. Was Hanka besitzt, das ist sein Eigentum: Kleid, Haus und Weib. Ich nehme an, Hanka käme zu mir und sagte: deines Vaters Geld, von dem du zehrst, ist durch List, fremden Schweiß und fremde Not zusammengehäuft. Ich müßte es prüfen und richtig finden und müßte von mir werfen, was ich durch Lüge besitze, weil ich doch behauptet habe, daß jeder seine Lüge von sich werfen soll. Aber wie ist es mit Beate? Vielleicht war es der beste Weg, den sie erkannt hat, zu schweigen? Vielleicht war es ihre Kraft, _nicht_ zu bekennen, und sie liebte Hanka am besten, wenn sie sein Nichtwissen liebte? Vielleicht war hier die Lüge das Bessere. Lüge, das ist doch nur ein Wort. Aber wie? wenn er es auf rohe und niederträchtige Art erfahren hätte? ist ein Wille, der etwas vollbringt, nicht ebenso gut wie das Ungefähr? und gilt es darum nicht als Wahrheit, weil ich es gewollt? Und wenn Lüge nur ein Wort ist, bald so, bald so zu nehmen, dann ist ja auch Ungerechtigkeit nur ein Wort. Wenn man eine Wahrheit nicht schaffen kann, dann kann man ja auch eine Gerechtigkeit nicht schaffen. Vielleicht ist es irgendwo bestimmt, daß die Jüdin ins Kloster kam, vielleicht hat das irgendwo sein Gutes, nur weiß ichs nicht. Aber das wäre ja eine verzweifelte, eine höchst verzweifelte Geschichte, wenn der Mensch nicht mehr imstande ist, zu wissen, was er soll und darf. Sehr verwirrt erhob sich unser Held und ging wie in einem trübseligen Rausch nach Hause. Achtunddreißigstes Kapitel Ende August kehrte Anna Borromeo vom Landaufenthalt zurück. Sie machte sofort Besuche, empfing Besuche, abonnierte für Konzerte und Theater und bereitete sich auf das gewohnte Herbst- und Winterleben vor. Stöße von Romanen kamen von der Buchhandlung und vom Leihgeschäft und keiner konnte sie länger als einen Vormittag festhalten. Sie jagte hierhin und dorthin, klagte über Schlaflosigkeit, schien bald entkräftet, bald überreizt, bald geschwätzig und bald allzu still. Arnold verfolgte aufmerksam ihr Treiben, und ihn beklemmte es, sie und den Oheim in einem so engen und ewigen Verhältnis zu denken, als welches ihm die Ehe erschien. Friedrich Borromeo war tief in sich gekehrt. Nichts kam der Müdigkeit und Gelassenheit gleich, mit welcher er Messer und Gabel führte, die Speisen auf seinen Teller legte, nichts der Appetitlosigkeit, mit der er aß oder ein Gespräch zu einem vorläufigen Endpunkt schleppte. Es verdroß und kränkte Arnold, dies zu beobachten. Noch brannte in ihm der Wunsch, sich um Menschen zu bemühen. Als er an einem Morgen mit Borromeo allein beim Frühstück saß, begann er offen: »Könntest du mir nicht sagen, was dich so niederdrückt? Muß denn alles so sein, wie es ist?« Borromeo zog die Brauen langsam empor. Seine beiden Augensterne rollten erlöschend in die Winkel. »Du fragst wie ein Jüngling«, sagte er, »aber ich kann dir nicht antworten wie ein Mann. Lassen wir das. Auch die Sterbenden haben ein #nil nisi bene#.« Als sie sich voneinander trennten, war Borromeos Händedruck voll Wärme. Nichts konnte deutlicher ausdrücken, wie zufrieden er mit ihm war und wie sehr er ihm vertraute. Mit seinem jungen Lehrer Wolmut hatte Arnold ein gutes Verständnis erreicht. Er erkannte sofort dessen glückliche und gesunde Veranlagung, allen Kräften seines Wesens gleichmäßig zur Entwicklung zu verhelfen und beobachtete ihn so scharf, als ob er durch die fremde Natur seine eigene ohne weiteres vervollkommnen könne. Völlig das Kind eines wissenschaftlichen Zeitalters, gehörte Wolmut zu jenen Menschen, welche sich eine Weltanschauung aufbauen, um damit das Leben zu kommandieren. Seine kleinsten Geschäfte verrichtete er mit unermüdlichem Eifer und strenger Gewissenhaftigkeit, und seine Armut trug er mit selbstverständlichem Stolz. Er liebte um jeden Preis zu lernen und suchte stets zu helfen. Sein klares Urteil befähigte ihn, jede schadhafte Stelle in der Lebensführung des Andern sofort zu übersehen. Die neugierige Frage tauchte in Arnold auf, wie sich Wolmut gegenüber Elasser und der Gewalttat des Klosters benommen hätte. Seit jener Nacht, die unter dem Kastanienbaum in Regen verflossen war, hatte er nicht aufgehört, sich zur Rechenschaft zu ziehen, mit sich und der Welt zu hadern. Allmählich war sein leidenschaftliches Wollen einem dumpfen Zwiespalt gewichen. Er glich einem Mann, der kampf- und rechtbegeistert vom Schlachtfeld reitet, um Verstärkungen gegen den Feind zu holen; er eilt anfangs und seine Botschaft benimmt ihm noch den Atem. Dann wird seine Stirne kühler. Er beginnt Gefallen an der Landschaft zu finden, läßt allmählich das Pferd im Tritt gehen und an geschützter Stelle grasen; aus der Nacht wird Morgen, aus dem Morgen Mittag. Der drängende Ruf, der seine Schritte beflügelt hatte, verklingt, die schreckensbleichen Gesichter, die ihre flehenden Blicke dem Abgesandten in die Seele bohrten, entrücken unter dem Horizont, und aus dem Geschehenen wird sozusagen eine Vorstellung. Dazu war Arnold in den letzten Tagen sehr bemüht gewesen, eine ihm neue Weichheit der Stimmung abzuschütteln von der er kaum wußte, woher sie kam. Er stellte also eine Frage an Wolmut, die harmlos schien. Er gedachte zu ersehen, welches Echo die Podoliner Ereignisse in einem so Fern-, doch wahrhaft Mit-Lebenden gefunden hätten. »Soviel ich weiß, steht die Geschichte auf dem alten Fleck«, erwiderte der Student. »Ich hörte, die Regierung habe jemand zum Papst gesandt, aber dadurch wird nichts geändert werden. Wenn die Justiz ihre unmittelbaren Handhaben verloren hat, ist für den Einzelnen keine Möglichkeit mehr, sich zu widersetzen. Der Rechtsbegriff wird nicht erzwungen und gemacht, sondern bildet sich wie die Sprache.« Arnold sah ziemlich betroffen vor sich nieder. »Das hört sich gut an«, erwiderte er schroff, »so lange, bis Sie selber dabei den Hieb bekommen. Wollen Sie verzichten, an dem Unrecht teilzunehmen, das nicht an Ihnen selbst ausgeübt wird?« Wolmut lächelte. »Das müßte man auch. Es handelt sich nur um eine Ausschaltung unzweckmäßiger Triebe. Was soll platonische Teilnahme? Sich selbst in Betrieb setzen, eine Maschine sein, die möglichst viel Räder in Bewegung setzt, mit der Feuerung haushalten und bei der größten Arbeitsleistung den kleinsten Kräfteverbrauch erzielen, ist das nicht Teilnahme genug?« Der kleine, schmale, hübsche Mensch mit dem rosenroten Gesicht sprach ruhig und überlegen, mit einer Verhaltenheit, als wolle er Meinung und Gebahren sogleich in Einklang bringen. »Das ist wahr, weil es wahr sein kann«, gab Arnold gereizt zurück. »Ich will nicht sagen, daß ich anders denke, aber wenn ich gar nicht denke, wird alles anders.« »Gefühl zerstört«, behauptete Wolmut mit seiner unerschütterlichen Lehrsamkeit. »Ziehen Sie Ihren Kreis; verbieten Sie Ihrer Fußspitze, ihn auch nur um einen Millimeter zu überschreiten. Glück ist Positivität. Die Welt ändern wollen heißt, sich selbst vernichten.« Arnolds Gesicht rötete sich. »Das ist Streberweisheit«, rief er zornig aus. »Das Judenmädchen ist also nur deshalb nicht zu retten, damit wir, ich und Sie, glücklich werden?« Wolmut zuckte die Achseln. »Warum denn nicht? Jede Kultur schleppt noch einen Rest von Finsternis hinter sich her, der von selbst kleiner wird wie ein Schatten, je höher die Sonne steigt. Ich predige nicht Apathie oder banalen Egoismus. Aber jeder Mensch muß unbedingt seine Handlungen nach dem Maß seiner Hilfskräfte modeln. Ebenso wie er zu jeder Minute sich darüber klar sein muß, daß nichts in seinem eigenen Charakter ihn überraschen und daß kein Vorfall der Welt ihn verführen kann, die Arme statt des Kopfes oder das Herz statt der Füße zu gebrauchen.« Arnold hatte das Gefühl, als ob ein schädlicher Doppelgänger auf ihn zugetreten wäre, um die Gedanken der Entschuldigung und entfremdeten Kälte, die er gehegt, in ein System zu pressen. Dieser feste und ehrliche Mensch, weit entfernt, ihn zu überzeugen, verdunkelte ihn nur vor sich selbst und vermehrte seine Unsicherheit. Er klagte im stillen seine Jugend und erste Erziehung an, die ihm vorenthalten hätten, wozu andere so mühelos und planvoll kämen: Sichbescheiden. Darüber erhob sich die Gestalt der Mutter, und mit einem Gemisch von Schrecken und Scham kehrte er wieder zu jener weichen Stimmung und Verstimmung zurück, aus deren Wolken sich das Gesicht Verenas erhob. Aber nicht mit Innigkeit stand er vor der Erscheinung, sondern mit Trotz und Wachsamkeit, als ob sich neuerdings eine Sache der Gewalt und der unbefugten Eingriffe zu entscheiden habe. Eines nachmittags machte er sich auf, um Verena zu besuchen. Er fand in ihrem Zimmer eine kleine Gesellschaft fremder und halbfremder Menschen beim Tee, unter ihnen Wolmut und Tetzner. Verena war zurückhaltend wie sonst, doch heiterer. Tetzner saß schweigsam beim Fenster, und Wolmut setzte seine Ansicht über Askese auseinander. Verena stand auf und trat zu Arnold. »Ich habe für morgen Abend zwei Billette zum Konzert«, sagte sie freundlich. »Vielleicht kommen Sie mit?« Arnold lächelte ohne zu antworten. Verena war etwas verwundert; dann preßte sie die Lippen zusammen, erblaßte und warf einen flüchtigen Blick auf Tetzner, der schweigend und abgekehrt saß. Hierauf sahen sie sich zum erstenmal von solcher Nähe in die Augen, Arnold mit großem, etwas knabenhaftem Blick, Verena mit einem zugleich bösen und flehenden Ausdruck. »Kommen Sie nur«, wiederholte sie schließlich mit der vorigen Freundlichkeit, »man spielt Beethoven.« Am nächsten Abend holte er sie gegen sieben Uhr ab, und sie fuhren zum Konzertsaal. Wunderbare Klänge hörte Arnold in diesen Stunden. Er sah eine Säule langsam und zart bis in den höchsten Himmel wachsen, und oben erst sprühten die erdgeborenen Blitze. Es war, als würden ihm zwei neue Ohren aufgerissen, und er lauschte mit einem Zustimmen seines tiefsten Herzens. Aus einer hastigen Äußerung entnahm Verena, daß er ganz und gar nicht zerflossen war. Das hatte sie wohl erwartet, allein sein bestimmtes und heiteres Wesen erfüllte sie mit seltsamer Furcht. Als es aus war, gingen sie lange schweigend auf der Straße nebeneinander. »Ich habe Hunger«, sagte Arnold endlich. »Wollen wir nicht in das Gasthaus da?« Er deutete auf die erleuchteten Fenster eines vornehmen Restaurants. Verena schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin keine Millionärin«, sagte sie. »Überdies habe ich Tetzner versprochen, nach Haus zu kommen.« Sie gingen weiter. »Ich lebe nämlich von Tetzners Geld«, sagte sie auf einmal mit veränderter Stimme. Arnold hatte Mühe, einer rätselhaften Freude Herr zu werden, die ihn von der Stirn bis zu den Sohlen einhüllte. »Aber ich will nicht sprechen,« fuhr Verena fort. »Wozu auch. Man kann doch nichts aus sich herausbringen. Ich bin auch kaum mehr fähig, mich zu verständigen. Ach, das Leben, das elende Leben!« »Das elende Leben? Nein, das schöne Leben«, versetzte Arnold. »Das schöne, herrliche, gute glückliche Leben! Jeden Tag bin ich froh, daß ich lebe.« Bei diesem unerwarteten Ausbruch sah ihm Verena mit einem forschenden und ergebenen Blick in die Augen. Sie waren im Haus. Verena zündete eine Kerze an und ging gedankenvoll voraus, den Arm mit der Kerze hochhaltend und Arnolds Gegenwart lebhaft und dankbar fühlend. Oben angelangt, klopfte sie dreimal an die Türe und sah mit dem breiten schwarzen Hut, dem langen glatten Mantel und dem vorgebeugten Kopf, der von dem Licht magisch bestrahlt wurde, wie eine Zauberin aus. Tetzner kochte Wasser zum Tee. Als der Tee fertig war, nahm er sein Buch und setzte sich abseits. Verena legte Brot, Butter und kaltes Fleisch auf einige Teller. Ihre niedere Stirn leuchtete über den blauen stillen Augen wie ein weißes Blatt. Während sie aß, nahm sie ein Stückchen Kreide und zeichnete auf der Tischplatte herum, dabei lächelnd und verstohlen einigemal nach Arnold schielend. Er beugte sich über die Ecke und erkannte verwundert sein übertriebenes Profil: ein rundes, ausladendes Kinn, dessen Linie gegen den Mund abenteuerlich weit einbog und so mit dem vorstehenden Lippenpaar einen wahren Hafen bildete, eine griechisch kurze Oberlippe, das Stück eines kümmerlichen Schnurrbarts, eine lange, gerade und unbescheiden in die Luft stechende Nase und über der ungewölbten Stirn anständig und gleichmäßig gestrichenes Haar. Arnold nahm nun seinerseits die Kreide und begann damit, Verenas Frisur zu zeichnen. Mit diesem schwierigen Stück verging aber so geraume Zeit, daß Verena belustigt ausrief: »Sehen Sie, auch dazu braucht es Talent.« Tetzner hatte die Brille abgenommen und sie auf das offene Buch gelegt. Mit großen, weit offenen Augen blickte er herüber. »Was liest du?« fragte Verena. »Ein Buch über die Liebe«, antwortete Tetzner. Arnold blickte Verena an. Es gibt Augenblicke, wo ein einziges Wort genügt, um die Seele zu entflammen. Sein berücktes Herz sammelte sich plötzlich zu aller Sehnsucht und Leidenschaft, deren es fähig war. »Wenn ich so das Leben überblicke«, fuhr Tetzner versonnen plaudernd fort, und sein Blick richtete sich düster gegen die Wand, »so ist nichts als Irrtum. Was man hat und rechtmäßig in sich trägt, wird verschleudert, und das Schlechte, das trügerisch glänzt, kauft man um teuren Preis. Auch die Liebe ist eigentlich ein Irrtum, und sie trübt das Bild der Welt.« Gegen den Ofen gelehnt, flüsterte Verena nervös: »Was soll das ewige Reden! Ich bin satt von Worten. Ich bin überdrüssig, alles zu wissen, was ich empfinde und empfinden soll.« Tetzner ging auf und ab und seufzte. »So lange es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht über Liebe reden, das ist richtig«, sagte er in seiner wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme: »Wenn er bei einer Hochzeit ist, Da sollt ihr sehen, wie er frißt; Was er nicht frißt, das steckt er ein, Das arme Dorfschulmeisterlein. Wenn er einmal gestorben ist, Legt man ihn sicher auf den Mist. Ach wer setzt einen Leichenstein Dem armen Dorfschulmeisterlein.« Dann warf er den Wettermantel um, nahm den Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne irgend Abschied genommen zu haben. Bald hörte man ihn die Außentüre zuschlagen. Die Stirn an die Scheibe gedrückt, stand Verena am Fenster. »Es ist finster draußen«, murmelte sie mit erzwungener Gelassenheit. Als sie sich umdrehte und Arnold gewahrte, entfärbte sich ihr Gesicht. Er ging auf sie zu und packte mit Heftigkeit ihre Hände. Sie schwieg, atmete jedoch wie eine Gehetzte. Er drückte ihre Hände nur um so fester, als umschlösse er alles, was er im Leben an sich reißen wollen. Vergeblich war sie bemüht, sich ihm zu entwinden. »Sind Sie denn glücklich, Verena?« fragte Arnold endlich flüsternd, im innigsten Ton, mit einem Ausdruck von Treuherzigkeit und Selbstanerbietung. Ihr Gesicht wurde kalt, verschlossen und todesruhig, und er gab ihre Hände frei. Während sie sich an den Tisch setzte und den Kopf in die Hand stützte, stand Arnold ratlos, wie niemals durchwühlt, gekränkt und geängstigt. »Sie müssen jetzt gehen, Arnold«, sagte Verena plötzlich weich. Mit der Lampe leuchtete sie ihm in den dunklen Flur und wartete, weit über das Geländer gebeugt, bis er unten war. Dort blieb er noch einmal stehen und schaute nun in Wirklichkeit zu ihr empor, wie er es sonst in seinen Gedanken zu tun pflegte. So begegneten sich ihre Augen durch eine nächtige Ferne, einander grüßend, doch ohne Versprechen, ohne Begehren. Neununddreißigstes Kapitel Eine andere Sprache redeten jetzt die Stunden für Arnold, andere Laute hatte der Tag, andere Strahlen das Licht. Sein zurückliegendes Leben erschien ihm als ein einziger Schritt vom Nichts in eine süße, gesammelte Welt. Jetzt erst glaubte er, sehen zu können; sein eigenes Spiegelbild kam ihm näher und wesensvoller vor. Er war mit allen Sinnen bei der Arbeit, aber zur selben Zeit konnte er sich mit ganzer Seele an einem verlorenen Punkt seiner Träume finden. Nichts löste sich in Weichheit auf, keine Ader seines Körpers wurde schlaff, aber alles, was er unternahm, hatte einen bestrickenden Reiz von allgemeiner Liebe und Erkenntnis des Besseren. Jede Schwierigkeit versank unter der Wucht günstiger Notwendigkeiten; die Gefahren tauchten schon von ferne in die Flut des Glückes. Abends war er mit Verena beisammen; sie trafen einander täglich und gingen, wenn das Wetter es erlaubte, stundenlang in den Straßen spazieren. Sonst saßen sie im Zimmer oder in einem kleinen Vorstadtkaffeehaus. Verena war es, die den Aufenthalt bestimmte, die Zeit begrenzte. Sie war es, welche die Schranken zog, und Arnold, der gehorsam davor stehen blieb. Sie erstaunte, wie er unter der Berührung ihres Blickes weicher, wärmer, empfindlicher zu werden schien. Allmählich erschütterte es sie sogar, dies zu sehen. Sie fürchtete für ihn, denn je schärfer der Stahl, je tiefer die Scharte, dachte sie. Sie fürchtete auch für sich; sie hatte nicht geglaubt, einen solchen Menschen ohne Anstrengung zu gewinnen. Nach allen Seiten suchte sie zu entweichen, um immer stärker und glühender den Hauch seiner Nähe zu spüren. Sie sah sich verfallen. Ihre Gespräche bedeckten gleichmäßig Tiefen und Untiefen des Beisammenseins. Verena wartete stets ab, was von ihr gefordert wurde, und da es wenig genug war, so konnte sie sich großmütig erweisen und dort schenken, wo sie nur ein bescheidenes Verlangen zu übertreffen brauchte. Ihre eingeschränkte Lebensweise machte Arnold mehr und mehr stutzig; es betrübte und beleidigte ihn, sie in einer Lage zu wissen, die von der seinigen so sehr verschieden war. Einmal kam er zu ihr; Tetzner stand mit gekrümmtem Rücken und gebeugtem Kopf nahe der Tür. Als Arnold Verena begrüßt hatte und sich nach ihm umschaute, war er schon verschwunden. Verena blieb einsilbig und abgekehrt. Erst am Abend sagte sie: »Nun ist es entschieden. Ich bin frei.« Erst nach sorgenvoller Überlegung verstand Arnold, was sie meinte. »Wovon wollen Sie leben?« fragte er. Sie zuckte die Achseln. »Man verhungert nur an seinem Unvermögen«, entgegnete sie. Sie wandte sich ab, seufzte lächelnd und breitete in ihrer sinnlich-müden Weise die Arme aus. »Ich werde Stunden geben, Schreibarbeiten machen, Holz hacken, was sich bietet. Übrigens bin ich nicht ganz entblößt.« In ungreifbarer Betrübnis verbrachte Arnold die nächsten Tage. Eine Verachtung alles Glänzenden, Reichen, Geputzten erfaßte ihn; er selbst in seiner Unbekümmertheit und Sattheit erschien sich verwerflich. Aber eines Morgens erwachte er, förmlich erhitzt von einem wie im Traum gefaßten Entschluß. Er machte sich auf den Weg zu Verena. Sie war nicht zu Hause; auf der Straße auf und ab gehend, wartete er anderthalb Stunden. Sie kam. Morgendlich hell, freudig bewegt, ihn zu sehen, den Widerglanz ihrer Tätigkeit und ihrer Besonnenheit in den weichen Gesichtszügen und in der robusten Gestalt, reif und anziehend wie selten. Sogleich begann Arnold. »Ich bin ein Esel, Verena; wie schlecht müssen Sie von mir denken. Ich habe einen Sack voll Geld und wenn ich nur ein Loch hineinschneide, rollt es aufs Pflaster. Sie brauchen nur nehmen, Verena, und nicht einmal das, Sie brauchen nur darauf zu treten und alles gehört Ihnen.« Kalt und stolz sah ihn Verena an. »Das hieße einen Strick mit einem Messer vertauschen«, antwortete sie schroff und ließ ihn vor dem Haus stehen. Nicht imstande, ihr zu folgen, blieb Arnold wie geschlagen auf der Schwelle. Mit schleichenden Schritten ging er endlich langsam heim. Gegen Abend empfing er einen wunderlichen Brief von Verena. Mit einem fast widerwilligen Anschmiegen ließ sie dunkle Leiden vor ihn hinströmen, malte Schatten, deren Körper er nicht zu sehen vermochte. Zum erstenmal tönte ihr Wesen in einer weiblichen Klage vor ihm; getröstet und aufatmend machte er sich das tote Papier zum Freund und erblickte in ihm einen Anker, der das ratlos schweifende Schifflein seiner Gefühle auf festem Grunde hielt. Aber die wunderliche Scham über seinen Besitz wollte ihn nicht verlassen. Er faßte plötzlich den Plan zu einer Art von Wohltätigkeitsinstitut. Dies erschien ihm wie ein Opfer für Verena. Wolmut, der diesen Einfall zuerst verwarf, war ihm schließlich behilflich, da er doch wenigstens etwas Zweckmäßiges getan wissen wollte. Das Gerücht trug den Namen des Helfers rasch genug herum. Bald füllte sich das Vorzimmer von Arnolds Wohnung täglich mit den buntesten Figuren: Frauen und Greise, Jünglinge, Familienväter, Kinder; Kranke, Vorsteher von Vereinen, Unternehmer von Sammlungen, verarmte Kaufleute und Handwerker, mittellose Schauspieler, Beamte, Adlige, Arbeiter, alle warteten auf ihre Viertelstunde und zogen befriedigt oder enttäuscht, jeder nach seiner Veranlagung wieder davon. Es kam so weit, daß sich Leute einfanden, welche durchaus nicht nach Geld trachteten, sondern nur in einer schwierigen Lebensverwickelung Rat einholen wollten, zum Beispiel, wenn sie amtliche Scherereien hatten, in Heirats- und Erbschaftsangelegenheiten, ja sogar in Fragen ihres Berufs. Oft gab es Stoff zum Lachen, oft seltsame Einblicke in das Treiben der Leute, und aus mancher geheimnisvollen Not sprach das Leiden und der Irrtum von Geschlechtern. Und wie wenn die schlaffe Haut von einem zu Tod verwundeten Tier sich löst, so daß das in Krämpfen zuckende Muskelwerk ans Licht tritt, so konnte Arnold in das kranke Fleisch des Landes und der Gesellschaft blicken. Unduldung und Willkür, gelassenes Hinnehmen der Rechtlosigkeit, grausamstes Ränkespiel und hartnäckiges Strebertum, -- aus ebensovielen Wunden rieselte die Lebenskraft des Staates. Aber Arnold litt nicht so sehr darunter, als er sich glauben machen wollte, daß er litt. Es war, als ob Leidenschaft ein Gitter um ihn gewoben hätte. Wohl sah er Pfeile fliegen und Getroffene niederstürzen, aber ihn beschlich eine frevelhafte Sicherheit. Wolmut, wie ein uneigennütziger und gewandter Minister, behandelte jeden Fall mit trockener Sachlichkeit und stand in dem kleinen Tatengewebe aufmerksam da, vielleicht mit Wissen die größere Rolle einstudierend, die er der Welt einst vorzuspielen gedachte. Arnold lernte von ihm, sich auf das Einfache und Zweckdienliche zu beschränken, alles Gebauschte und Überflüssige zu vermeiden. Auch äußerlich lebte er so einfach und mit so ängstlicher Sparsamkeit, daß er zum Spott seiner näheren Umgebung wurde. Anna Borromeo beobachtete sein Tun mit Verdruß und Entrüstung. Sie hatte jetzt selten Gelegenheit, ihn zu sehen, aber wenn sie ihm begegnete, erbleichte sie vor Zorn. Sie beklagte sich bei ihrem Gatten lebhaft über das Gesindel, welches nun täglich Flur und Treppen stürme. »Gut«, erwiderte der Doktor mit niedergeschlagenen Augen, »ich werde Arnold ersuchen, vor dem Haustor Fräcke und seidene Kleider austeilen zu lassen. Dann kannst du die Herrschaften getrost auch bei dir empfangen.« »Du hast recht«, gab Anna zurück; »und wir beide werden bei ihm um ein Versorgungsstübchen in Podolin betteln.« Man meldete Besuch, den Baron Valescott, einen jungen Leutnant, der seit kurzem zu Anna Borromeos eifrigen Verehrern gehörte. Borromeo begegnete Arnold im Stiegenhaus. »Willst du mich ein Stück begleiten?« fragte er in seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art. Arnold erklärte sich bereit; er war auf dem Wege, Natalie Osterburg zu besuchen. Sie hatte ihm geschrieben, einen langen Brief mit hundert Entschuldigungen, er möge nicht böse sein, sie werde auf Ehrenwort das geliehene Geld am ersten Januar zurückerstatten, er solle sie doch besuchen und damit zeigen, daß er ihr noch freundlich gesinnt sei. Sie gingen ein Stück Wegs, ohne daß Borromeo, was ihn beschäftigte, in Worte zu fassen vermochte. Er war redensmüde; immer schwerer wurde es für ihn, sich mit der realen Teilnahme des Lebenden vor ein Geschehnis zu stellen, da all und jedes Ding für ihn in ein unermeßliches Meer der Nutzlosigkeit floß. Trotzdem sagte er schließlich mit einem Anflug von kränklicher Ironie: »Du ziehst das lebhafte Mißfallen der besseren Kreise auf dich. Die besseren Kreise wollen nicht, daß man ihre Privilegien, die sie ja freilich nicht ausüben, zu wörtlich nimmt. Du solltest dir ein Sammetpolster kaufen und darauf sitzenbleiben. Tust du es nicht, so werden die besseren Kreise dafür sorgen, daß dein bisheriger Sitz mit Nadeln gepolstert wird. Du siehst, es ist kein schöner Kampf, man kann ihn nicht auf ehrliche Weise führen. Stecknadelschlacht ist es.« Er reichte Arnold die Hand und zog schwermütig die Brauen empor. Arnold sah ihm sinnend nach. Bei Osterburgs wurde er in das große Wohnzimmer geführt. Im Ofen brannte Feuer. Es war eine ordentliche Versammlung da: Petra, die alte Frau König, Natalie, ihr Mann, ihre beiden Kinder und Hyrtl. Als Arnold eintrat, herrschte die größte Stille, und er gewahrte mit Erstaunen, daß alle Sieben in der gleichen Weise beschäftigt waren. Frau König legte Patiencen mit zierlichen Elfenbeinkärtchen, dasselbe tat Natalie; Petra spielte mit Herrn Osterburg Beziques. Selbst die beiden Kinder beschäftigten sich mit einem Kartenspiel und Hyrtl legte die sogenannte kleine Patience. So saßen sie seit Stunden, nicht nur an diesem Tag, sondern jeden Tag, den Gott gab. Bisweilen fing Frau König an zu schmälen, dann sagte Natalie Pst und vertiefte sich wieder. Hierauf entspann sich unter den Kindern ein bedeutender Kriegslärm und der würdige Vater brachte sie durch einen Zornanfall zur Ruhe, der genügt hätte, um eine Schar von Landsknechten einzuschüchtern. Auch er versank danach wieder im Spiel wie ein Frosch, der flüchtig das Wasser verlassen hat, nur um ein Donnerwetter am Himmel zu bequaken. Natalie begrüßte Arnold etwas verlegen. Alle hörten auf zu spielen außer Frau König, die dem jungen Mann so vertraulich zulächelte, als ob sie nichts Lieberes als ihn kenne. »Gleich bin ich fertig«, sagte sie mit heiserer Stimme und deutete mit einer übertriebenen Rokokohöflichkeit auf einen leeren Stuhl an ihrer Seite. Osterburg gähnte, befühlte seine Lenden und warf sich mit gelangweiltem Gesicht auf eine Ottomane, wo er einstweilen wie ein Gestorbener liegen blieb. Die beiden Kinder, gestachelt durch die Anwesenheit eines Fremden, brachen wechselsweise in ein völlig unbegründetes Gelächter aus, als ob es an sich verdienstvoll und der Aufmerksamkeit wert wäre, zu lachen. Mit verurteilendem Gesicht blickte Petra ins Leere. »Denken Sie nur, ich schlafe nicht mehr«, klagte Natalie. »Seit vielen Nächten kann ich kein Auge mehr schließen.« Osterburg bewegte sich. »Seit ich dich kenne, meine Liebe, hast du noch nie geschlafen«, rief er verdrossen und gereizt. Zu gewissen Zeiten reizte ihn der harmloseste Laut. Jemand gebrauchte das Wort Kunst und er begann unbestimmt ins Blaue zu schimpfen. Besonders auf neuere Malerei war er schlecht zu sprechen und Richard Wagner war aus unerfindlichen Gründen sein Todfeind. »Wissen Sie, daß ich krank bin?« sagte er jetzt, das Haupt matt nach Arnold drehend. »Ich habe Psorias.« Er hatte irgendwo den Fachausdruck für einen unbedeutenden Ausschlag gefunden und war sehr stolz darauf. Natalie zog Arnold, der bisher kein Wort gesprochen hatte, in eine Ecke und nahm auf einem niedrigen Sesselchen neben ihm Platz. In atemloser Erregung sagte sie: »Wissen Sie denn schon? Ich hab' es erst vor einer Woche erfahren --, wissen Sie es?« »Was?« Arnold war verdutzt. »Ich möchte Ihnen gern etwas mitteilen, Herr Ansorge«, ließ sich Osterburg wieder vernehmen, »aber geben Sie mir das Ehrenwort, daß Sie Silbe für Silbe glauben wollen?« »Er braucht einen Maulkorb«, murmelte Hyrtl, der müde und verstimmt aussah. Natalie klatschte in die Hände. »Petra!« rief sie triumphierend über das ganze Zimmer, »er weiß noch nichts. Also Sie wissen wirklich noch nichts? Seien Sie aufrichtig.« »Wenn du so schreist, liebes Kind«, fiel die alte Dame mahnend ein, »kann ich unmöglich nachdenken. Ich habe kein Aß mehr, ...« Mit verglasten Augen starrte sie auf die soldatisch regelmäßigen Kartenreihen. »Hanka hat seine Frau weggejagt«, begann Natalie mit Feierlichkeit und sah, die Wirkung erwartend, Arnold gespannt an. Da die Unbeweglichkeit dieser Züge sie enttäuschte, fuhr sie mit berechneter Steigerung fort: »Hanka ist verreist und niemand weiß wohin. Beate hat ein Verhältnis mit Pottgießer, Ihr Freund, Maxim Specht, hat die beiden miteinander bekannt gemacht. Alle Welt spricht davon, jetzt erst, obwohl die Geschichte schon Monate alt ist. Nun? was sagen Sie dazu? Ist das nicht entsetzlich? Aber so reden Sie doch etwas --« Jetzt erhob sich Petra, schaute tief aufatmend und verzweifelt gegen die Decke des Zimmers und ging schweigend hinaus. Sie kam nach kurzer Zeit mit einem Buch zurück und ihre Züge zeigten ein ehernes Lächeln. Wenn sie ein Wort sprach, war es von der gewähltesten Natürlichkeit, denn sie glaubte sich von andern ebenso unaufhörlich beobachtet wie von sich selbst. Natalie war unzufrieden mit Arnold. Er war weder überrascht, noch dankbar, weder erschreckt, noch anteilvoll. »Sie sind ein Stock«, sagte sie ärgerlich. Hyrtl und Arnold gingen zusammen. Hyrtl sagte, er glaube im Ernst, daß sein Herz nicht mehr lange gehorchen werde. Kühl hörte Arnold darüber hinweg. Vierzigstes Kapitel Durch Schneegestöber und hochliegenden Schnee ging Verena von der Universität nach Hause. In der Nachbarschaft versorgte sie sich für den Mittag mit Schinken und Brot und erstieg nachdenklich die Treppen zu ihrer Wohnung: mit jeder einzelnen wurde ihr Herz schwerer und vergaß die schneeweiße Fröhlichkeit der Straßen. Oben wollte sie Tee kochen, fand aber, daß kein Spiritus mehr da sei. In Hut und Mantel kauerte sie vor den Ofen hin und legte Späne hinein, um aus der Glut noch einmal frisches Feuer zu gewinnen, dann stellte sie sich ans Fenster und ihr Blick schweifte ernsthaft über die zahllosen schneeberahmten Fenster der Höfe, hinter denen bisweilen ein umrißloses fremdes Gesicht auftauchte. Als es im Zimmer warm zu werden begann, nahm sie die Flasche, und, die Treppen hinuntergehend, hatte sie abermals das Gefühl, als nähere sie sich einem Schauplatz der Heiterkeit; in der Tat glich die Straße einem blendend weißen Saal, in welchem die Flocken einen schwerelosen Tanz aufführten. Oben angelangt, setzte sie sich, anstatt Tee zu bereiten, vor das Knochengerüst, stützte den Arm auf die Lehne des Holzstuhls, den Kopf in die Hand und blickte unter halbgeschlossenen Lidern schräg auf den dürren Schädel. Wunderliche Anwandlungen, mit diesem Ding ein Gespräch anzuknüpfen, unterdrückte sie, ja sie erblickte sich selbst, losgelöst von Fleisch, Blut und Empfindung, doch immer noch Zwischenglied, beinernes Abstraktum. Eine seltsame Zärtlichkeit erschütterte sie von oben bis unten und bald darauf, als ob ihr Organismus von Kämpfen ermüdet sei, hatte sie Schlafbedürfnis. Sie legte sich auf das Bett und schlief ein, um nach einer Viertelstunde von dem Geräusch eines Eintretenden zu erwachen. Es war Arnold; erschreckt fragte sie, wie er hereingekommen sei. Seine Erklärung, daß die Außentüre nur angelehnt gewesen sei, nahm sie mit einem nachdenklichen und süßen Lächeln auf, in welchem noch ein Traum zitterte. Sie erhob sich, reichte ihm die Hand und strich die braunen Haare aus der Stirn. Über Arnold legte sich eine Erstarrung. Er glaubte glücklich zu sein oder doch die Nähe des Glücks zu ahnen. Das Bild eines märchenhaften Sommers stieg vor ihm auf; nackte Menschen wanderten zwischen Blumen und buntem Laub. Nie hatte er Verena so gesehen, still und von gleichsam animalischer Zutraulichkeit. Er ergriff ihre Hände, um zu sehen, ob sie es auch wirklich sei, er preßte ihre Hand an die Lippen und drückte die Zähne in die Haut, so daß zwei Halbkreise von blutunterlaufenen Strichen entstanden. Sie seufzte schmerzlich und drängte von ihm weg; er flüsterte, ungewiß lächelnd. Sein Gesicht war feucht und er breitete die Arme aus -- nach nichts. Er folgte ihr nun, umschloß sie bei den Schultern und küßte sie. Ihre erstickten Bewegungen, sich zu befreien, glichen den Zuckungen eines betäubten Tieres. Der beschwörende Ausdruck und Glanz ihrer Augen erlosch langsam. Ihre beiden offenen Hände lagen zuerst wie zwei tote Körper auf seinem Haupt und glitten dann bis zum Nacken herab, um endlich schlaff mit den Armen völlig zu sinken. Arnold ließ sie nicht. Ihr tränennasses Gesicht sah er nicht. Er fragte nicht mehr, ob sie mit Freude gewähre, er sah nicht ihre Lebensangst; als sie nachgiebig geworden war, unfähig, einen vergangenen oder zukünftigen Augenblick zu bedenken, als alle gesprochenen Worte plötzlich leichter schienen wie die Luft, erfüllte Verena ein Verlangen, dessen räuberische Wildheit für sie etwas Elementares hatte. Am Abend ging sie noch mit ihm fort. Allein im Zimmer zu bleiben, erschien ihr auf einmal unmöglich. Ihr Anschmiegen an ihn hatte etwas Furchtsames. Sie war überaus schweigsam; ihre Lippen waren wie versiegelt vor Erstaunen und Ratlosigkeit. Was ihr körperlich zurückgeblieben, war ein alle Glieder umgürtender Schmerz; und im Gemüt lag Nüchternheit, Selbsthaß und Erschöpfung. Noch gestern über den gewöhnlichen Dingen und Menschen der Straße schreitend, kam sie sich heute mit ihnen vermählt vor, jedenfalls vereinigt, verurteilt, ihr Eigenleben zu verlassen und an den tausend endlosen Geschäften der zum Tode strebenden Menschheit teilzunehmen. Der Lärm und die Unrast der unzähligen enggedrängten Häuser strömte auf sie ein. Die Stadt, wie eine dampfende Maschine mit glühendem Bauch, Dampf und Feuer ausspeiend, lebendige Leiber in ihren Fäusten zerquetschend, erhob sich aus der beunruhigten Erde, deren unsichtbarer Mund um Gnade bat. Sie ging ohne Festigkeit und spürte zwischen ihren Füßen und ihrem Leibe keinerlei Zusammenhang. Sie wußte kein Mittel, sich vor ihrem aufstürmenden Innern zu verschließen, als den Schlaf, aber sie mochte sich noch nicht von Arnold trennen. Seine Gegenwart erschien ihr notwendig; an ihm aufblickend glaubte sie ihn viel größer als sonst, und sie spürte etwas wie bange Erwartung vor seinem Urteil und seinem heiteren Blick. Arnold begleitete Verena wieder zurück. Die kalte, stille Luft hatte sie beide erfrischt. Vor dem Tor blieben sie noch eine Weile plaudernd stehen; aber es war, als ob jeder nur aus Gefälligkeit gegen den anderen rede, da das Reden der inneren Stimme vorlaut zu werden begann. Verena suchte den Abschied von einer Minute zur andern zu verschieben. Ihr Gesicht war gerötet; einmal legte sie den Kopf auf die rückwärts gekreuzten Hände, wodurch die atmende Bewegung der Brust etwas Friedliches und Erstaunliches erhielt. Dann sagte sie gute Nacht und reichte ihm den Mund zum Kuß. Lange sah sie ihm nach, wie er sicher und fest dahinschritt und wie sich frohe Laune und frohe Leichtigkeit des Herzens in seinen Bewegungen ausdrückte. Ihr war es einsam. Arnold dagegen war in der Tat voll Zufriedenheit. Er ging so aufrecht, als wäre ihm der Befehl über eine Armee übertragen worden, lächelte bisweilen verschmitzt und gemütlich in sich hinein, und als er nach Hause gekommen war, legte er sich sogleich ins Bett und schlief fest bis zum Morgen. Die Sonne schien ins Fenster, als er beim Frühstück saß. Der Diener kam und meldete eine Dame. Es war Verena. Sie trat ein; ihr Gesicht war von einer eigentümlich strahlenden Blässe. Sie nahm mit den Bewegungen eines Gastes Platz. Mit weiten Augen, die keinem Aufenthalt begegnen wollten, schaute sie umher und sagte: »Ich wollte dich nur sehen, Arnold. Wie hast du geschlafen? Wie geht es dir?« »Gut, sehr gut, Verena«, antwortete Arnold glücklich und mit erwachendem Stolz darüber, sie zu besitzen. Aber er sah an ihrem Wesen, daß sie wieder »gedacht« hatte, wie er es innerlich nannte und suchte seine sich regende Scheu durch eine etwas heuchlerische Freimütigkeit zu bemänteln. Verena legte den Kopf zurück und sah ihn an. Ihre Handschuhe fielen zu Boden und Arnold bückte sich danach. Dann standen sie einander gegenüber. »Du sollst wissen, Arnold«, begann Verena und wühlte mit den runden Fingern im Pelzbesatz ihrer Winterjacke, »daß ich mich keiner Täuschung hingebe. Ich habe die ganze Nacht dazu benutzt, um über uns beide klar zu werden. Denn das Nebeneinandergehen genügt nicht, man muß doch auch wissen, wohin man geht.« »Warum, Verena«, unterbrach sie Arnold mit leisem Unwillen und mit Furcht vor dem, was sie sagen würde, »warum immer das zerpflücken, was schön ist und was von selber entstanden ist? Es ist genug, über das Schlechte zu grübeln, und warum brauchst du ein Wohin? Die Erde ist rund und man geht immer nur im Kreis.« »Das ist doch eine etwas oberflächliche Wahrheit«, entgegnete Verena, erstaunt über das Bestimmte und Fertige seiner Meinung. Eine Sekunde später, und sie wurde traurig, denn sie erkannte, daß er ihr entweichen wollte. »Du bist zu schwermütig, Verena«, sagte er mit begütigender Kritik, vergeblich nach dem Grund ihres ahnungsvollen Schweigens suchend. Verena erhob schnell den Kopf. »Darin hast du recht!« rief sie aus. »Begreifst du es nun?« »Ich begreife nichts«, entgegnete er mit stockender Stimme. »Ich weiß zu viel von mir. Leider«, sagte Verena. »Denke doch nach, Arnold, du fliegst umher in der Luft. Ich bin ein im Erdreich verfallenes Etwas. Meine Wurzeln sind abgestorben, während du noch in blühenden Geschlechtern stehst. Und hauptsächlich wenn man so in der Tiefe lebt, ist alles dunkel oder wie du sagst, schwermütig. Nicht Einzelschwermut, weil es mir vielleicht schlecht ergangen ist, und es ist mir herzhaft schlecht ergangen, oder weil ich zu wenig Zeit zum Spazierengehen habe, sondern die Schwermut unseres ganzen Lebens, unseres Siechtums, unserer falschen Kultur. Ich bin kraftlos und durch Kraftlosigkeit bin ich die deine geworden. Deshalb hab' ich gefragt, wohin es gehen soll, denn du müßtest mich auf deinem Weg nicht nur schleppen, sondern sogar heruntersteigen, um mich zu schleppen. Also lebe und rette dich.« Sie stand vor ihm und sah ihn an. Sein ganzes Innere wurde bewegt und umfaßt von diesem zauberhaften Blick ehrlicher Bedrängnis. Aber er zweifelte, ob er derjenige war, den sie in ihm erblickte, und dies machte ihn zu feig, ihr zu widersprechen, statt dessen nahm er sie in die Arme und küßte sie. Dann gingen sie zusammen fort. Jetzt waren sie meist in Verenas stiller Wohnung. Tetzner hatte nach und nach aufgehört, ihre Gesellschaft zu suchen. Einmal trat er ein, die Hände in den Manteltaschen, scheinbar gut gelaunt. Aber bald wurde es klar, daß seine Aufgeräumtheit nur eine Larve war. Er legte die Hand vor den Kopf, als fürchte er, seine Stirn könne zusammenbrechen. Seine wulstigen Lippen lagen wie zwei Fäuste aufeinander und mit dem runden, fahlen Bart und dem blinden Ausdruck der Augen sah er aus wie ein Bildnis des alten Homer. Ohne zu sprechen, entfernte er sich wieder, seine aufpatschenden Schritte fast furchtsam dämpfend. Verdunkelung des Gemüts kam über ihn. Vier Tage danach, es war am Abend, zur Haussperrstunde, trieb es ihn wieder zu Verena hinauf. Der Portier, der ihm das Tor öffnete, sagte mit böswillig-wissendem Lächeln, der junge Herr sei oben bei dem Fräulein. Während Tetzner die Stiegen emporkeuchte, hatte er Mühe, nicht aufzuheulen. Er klopfte an der Türe in der Weise, wie er es mit Verena seit je verabredet hatte, aber alles blieb still. Traurig lehnte er sich im Finstern an die Mauer. Er wagte es nicht, noch einmal zu klopfen. Er wollte auch nicht fortgehen, um dem Hausmeister nicht wieder Anlaß zu bösem Grinsen zu geben. Aber er hörte nun trippelnde Schritte in dem Flur drinnen; er glaubte sogar, einen hauchenden Atem zu vernehmen. Es schien, als ob eine schuldige Person an die Türe schliche. Dieses Bild auf Verena angewandt, erschien ihm plötzlich so toll und widerwärtig, daß er laut auflachte. »Tetzner, sind Sie es?« ertönte die Stimme Verenas hinter der Türe. »Ich«, erwiderte Tetzner, und es wurde geöffnet. Es war warm und hell im Zimmer. Vor der Lampe lag ein aufgeschlagenes Buch. Tetzner schob die blaue Brille auf die Stirn und blickte Arnold zuerst wie einen fremdartigen Gegenstand zerstreut an, dann zogen sich die Muskeln des Gesichts zu einem nachtwandlerischen Lächeln auseinander. Etwas Angstvolles, Zärtliches und Geistreiches tauchte in seinem Gesicht auf, als er sagte: »Wollen wir nicht fröhlich sein, Tee trinken, über die Zukunft plaudern? Na, Verena --? Wie --?« Mit geschlossenen Augen lächelte er und hing seinen Mantel an die Wand. Verena blickte nachdenklich gegen das Fenster. Arnold war unruhig und unwillig. Er begehrte mit Verena allein zu sein und hatte große Mühe, nicht merken zu lassen, wie verdrießlich ihm Tetzners Anwesenheit war, der nun in dem großen Sessel Platz nahm, die Beine ausstreckte und beide Hände auf den Kopf legte. »Sind Sie müde, Tetzner?« fragte Verena verlegen und mitleidig. »Ja, mein Seelchen«, antwortete er. »Nicht Fußmüdigkeit, sondern Herz-, Herzmüdigkeit.« Arnold brütete in sich hinein. Ohne Sympathie, ohne Milde der Wahrnehmung, wünschte er nichts anderes, als daß Tetzner fortgehe, und da er sich nicht verstellen konnte, merkte Verena, was ihn bedrückte und auch sie begann dasselbe zu wünschen. Sie sah, daß Tetzner litt, sie fragte ihn und er gab Auskunft, ein wenig verstört durch die hämmernden Schmerzen im Kopf. Verena erschrak und sie bemühte sich um den Freund, legte ihm ein nasses Tuch über die Schläfen, zählte die Pulsschläge und blickte grübelnd zu Arnold hinüber, der keine Teilnahme zeigte, der ungeregt und unberührt nur seiner egoistischen Sehnsucht nachhing. Eine bittere Betrübtheit umfing Verenas Herz. Wach auf, Arnold! hätte sie rufen mögen. Verschließ dich nicht, vergiß dich nicht! umfange die Welt! Sie kam sich selbst auf einmal sündhaft vor, denn das wollte sie nicht: von einer Seele Besitz ergreifen, die sich in ungenügender Begierde selbst zerstört. Als sie so neben Tetzner stand, besorgt und versonnen, konnte sich Arnold nicht länger bezähmen. Er stand auf, ergriff Verena bei den Schultern und küßte die sich ehrlich Sträubende ungestüm und lachend auf die Wange. Das hatte Verena nicht erwartet. Einundvierzigstes Kapitel Wenn Arnold zu Verena kam, vereinigten sich unbewußt alle seine Kräfte dahin, sie willfährig zu machen. Worin sie sich unterordnete, das lockte ihn nicht mehr. Sie glaubte seinem Temperament zu erliegen, doch es entstand keine Glückesgewißheit für sie. Sie suchte den Mangel in sich selbst. Warum kann ich nicht gedankenlos sein? klagte sie in ihrem Innern. Oftmals legte sich Ernüchterung wie ein grauer Mantel um sie. Dies Treiben war es nicht, was sie gehofft: von Kreuzweg zu Kreuzweg eilen, ratlos warten und fragen. Nie schwieg ihr Verstand, nie war ihr Urteil still, und sie wußte, daß es hätte sein müssen, so wie im Traum Uhr und Glocke ihren Sinn verlieren. In der letzten Karnevalswoche ging sie in Arnolds Begleitung zu einem Ball der Studentinnen. Arnold tanzte nicht, aber es machte ihm Vergnügen, als Außenstehender das rhythmische Gewühl zu beobachten, und er freute sich, Verena zu führen. Die Beziehung zwischen beiden war kein Geheimnis, sollte es auch nicht sein; im engen Kreis der Freunde fand Verena eine wohltuende Unbefangenheit. Aber dennoch gestand sie Arnold offen, daß sie nicht sobald wieder in eine Gesellschaft gehen werde, und er gab ihr recht. Gerade die Gutmütigsten und Nachsichtigsten hatten sie durch Neugierde und Zudringlichkeit verletzt. Aber nach wenigen Tagen überredete Emerich Hyrtl, der in einem Hotel eine Art Hausball veranstaltete, Arnold, mit Verena zu kommen. Hyrtl ergriff gern die Gelegenheit, eine moderne Gesinnung an den Tag zu legen, und noch viel größeren Spaß bereitete es ihm, seine bürgerlich gesinnte Umgebung vor den Kopf zu stoßen. Verena weigerte sich. Schweigsam und verletzt setzte sich Arnold in eine Ecke. Sie suchte ihn vergeblich zu besänftigen, vergeblich zu überzeugen. Als er sich anschickte zu gehen und ihr, eigensinnig, die Hand nicht reichte, willigte sie ein. Er schloß sie in die Arme, hob sie empor, erdrückte sie beinahe, jauchzte, küßte sie, gab ihr kindische Kosenamen, preßte ihre Hände. Hingerissen, verzieh sie ihm im Stillen. Doch was mochte ihn bewegen? Unter den übrigen Ballbesuchern trafen sie auch Petra König, und Arnold machte sie mit Verena bekannt. Sie blieb beständig um Verena. Ihr treuherziger Bildungshunger glaubte dabei einen Brocken zu erhaschen. Aber sie suchte auch hervortreten zu lassen, wie viel freier und selbständiger sie dachte, als die andern und betonte mit jedem Lächeln, wie unbekannt die Prüderie der Gesellschaft ihrem Wesen sei. Verena war überlegen genug, es humoristisch zu nehmen, aber nie war ihr so öde und faul zumute gewesen. Auf dem Heimweg, sie gingen zu Fuß, machte Verena halb bittere, halb ironische Andeutungen über Petras anschmiegende Jüngferlichkeit. »Petra ist so«, antwortete Arnold bedächtig. »Immer sucht sie sich das Beste aus, was man reden und tun muß, aber es bleibt ihr fremd.« »Du weißt sehr gut zu urteilen«, meinte Verena mit abgewandtem Gesicht. »Petra ist nicht übel«, fuhr Arnold fort. »Sie ist vielleicht nur durch gute Bücher verdorben.« »Gewiß«, bestätigte Verena. »Sie verwechselt das, was sie bewundert, mit dem, was sie vermag. Dadurch wird sie gekünstelt. Aber was hab ich dabei zu schaffen? Weshalb soll ich mich stundenlang preisgeben? Warum willst du mich hinüberziehn auf den Markt, wenn ich Ruhe will? Dort hat man nur ein kurzes Leben. Aber ich begreife doch«, sagte sie mit veränderter Stimme, zu einer Vorstellung überspringend, die sie betrübte, »daß selbst die freiesten Mädchen sich die Ehe wünschen. Es ist traurig, daß die Menschen eine Sittlichkeit erfunden haben, mit der sie das Schöne herunterziehen können.« »Wäre es dir angenehm, mit mir verheiratet zu sein, Verena?« fragte Arnold und beugte sich lächelnd zu ihr. Verena biß sich auf die Lippen. Mit kurzem Seitenblick streifte sie sein Gesicht. Sie mußte an jenen Tag zurückdenken, an dem er ihr sein Geld angeboten hatte. Arnold schwieg etwas betreten. Als sie am Haustor angelangt waren, wollte sich Verena verabschieden, doch er hielt ihre Hand fest. »Heute laß mich allein, Arnold«, bat sie. Ihre Augen waren von Müdigkeit dunkler. Trotzig wich Arnold nicht von der Stelle. Verena runzelte die Stirn und seufzte; ihre geöffneten und in die Höhe gerichteten Augen gaben dem Gesicht einen bitteren Ausdruck. »Mein Liebster«, sagte sie mit wunderbarer Sanftmut, »prüfe dich genau, ob du nicht widerstehen kannst.« Arnold lachte. »Immer betrachten und zerpflücken!« rief er. »Kannst du denn noch zwischen Freude und Nichtfreude unterscheiden?« »Es gibt nur Leiden, denn nur Leiden sind wahrnehmbar«, entgegnete Verena leise. »Das andere sind Ruhepausen. Ich will nur noch nicht jedes Leiden als ein Symbol hinnehmen, das ist alles. Sonst müßte ich eben aufhören, zu überlegen.« Ohne sie ganz zu verstehen, machte Arnold eine ungeduldige Bewegung. Er stand und pfiff leise. Zwischen ihnen fielen Wassertropfen vom Dach herab. Die Straße entlang plätscherte und sickerte es vom tauenden Schnee. Verena war es, als ob ihr Herz und ihre Adern in einer arktischen Kälte zusammenschrumpften. Lautlos brachen die noch ungesprochenen Worte in ihrem Innern entzwei. Mit langsamer Bewegung des Armes drückte sie auf den Knopf der Hausglocke, im Stillen erwartend, daß Arnold nun doch mit hinaufgehen würde. Sie selbst wünschte es, da sie nicht eine ganze Nacht lang durch Mißverständnis und böses Sinnen von ihm getrennt bleiben wollte. Aber der Teufel war in ihm. Als der Hausmeister drinnen den Schlüssel ins Schloß steckte, wünschte Arnold gute Nacht, verbeugte sich in lustiger Ehrerbietung und ging. Verena konnte nicht schlafen. Lange Stunden wanderte sie in ihrem Zimmer herum. Was vorher still und fern in ihr gewühlt, durchbrach nun furchtbar die Hüllen und entlockte ihr Frage über Frage, vor denen feig zurückzuprallen nicht in ihrem Wesen lag. Wenn es zwischen ihr und Arnold nicht so geworden war, wie sie gewollt, so hatte es auch niemals so werden können. Die Natur selbst rief dann ihr vorbestimmtes Nein in die zukunftlosen Freuden. Sie wollte nicht warten, bis Arnold sich selbst vergessen hatte. Sie wünschte vorher von ihm zu gehn, unterzutauchen in die Flut, an deren Ufer für ihn die Erinnerung begann. Nur so kann ich ihn erleichtern, dachte Verena; nur so kann ich ihn sich selbst zurückgeben und mich zugleich für ihn bewahren. Einmal würde es doch kommen, daß er mich vom Weg stieße und dann säß ich da wie ein Bettelweib, während ich jetzt noch ein Stück von ihm mitnehmen kann, für immer. Ich weiß, was ich weiß; das Wort Ende besteht aus vier Buchstaben, und wenn man es auch zehnmal schreibt, werden doch nicht fünf daraus. Nach dem letzten Kuß kommt kein allerletzter. Angekleidet legte sie sich aufs Bett und schlief allmählich ein. Aber schon um sechs Uhr wachte sie auf, konnte keinen Schlummer mehr finden und war doch müde, unfähig zu überlegen, welche Arbeit sie an diesem Tage erwarte, der nach ersten Frühnebeln einen blauen Himmel über die Stadt spannte. Die Sonne trieb Verena empor. Sie entkleidete sich, goß kaltes Wasser über sich herab, daß ihre Haare troffen, dann zog sie sich mit so schwermütiger Langsamkeit an, als könne sie das gefürchtete Vorrücken der Stunden dadurch hemmen. Sie wollte sich eben bereit machen, in die Klinik zu gehen, als Arnold kam. Zum erstenmal war er so früh bei Verena. »Ich war niederträchtig gestern, verzeih«, sagte er sofort und nahm ihre Hand. »Und heute, Verena, darfst du nicht fleißig sein, heute wollen wir hinaus --« Er stockte, als er ihr unschlüssiges und müdes Gesicht sah, »-- hinaus aufs Land.« »Ich kann nicht einen ganzen Tag verlieren«, antwortete Verena; »ein wichtiges Examen steht bevor ...« Hin und her gehend, verstimmt und erregt durch ihre Weigerung, sagte Arnold: »Ich will aber, daß du mitgehst, Verena. Du sollst nicht etwas anderes wollen als ich.« »Ich habe schon gesagt, daß ich nicht gehe«, entgegnete Verena leise, indem sie nach ihrer Weise die Brauen erhob und den einen Mundwinkel verzog. Arnolds Gesicht wurde rot. »Du mußt!« rief er mit Heftigkeit und schlug dabei in die Hände. Aber der Anblick Verenas ließ ihn sofort bereuen, was er getan. Ihr plötzliches, unwillkürliches Händefalten, das bestürzte und klagevolle Abwenden ihres Gesichts und die gewaltsam emporsteigende Entschlossenheit, die sich in ihrem schräg zur Erde gerichteten Blick kundgab, erschreckten ihn. »Ich lebe nicht nur in der Liebe«, sagte endlich Verena mit einer seufzend sich hebenden Stimme, »und das ist vielleicht meine Schuld. Du aber, Arnold, bist in Gefahr, dich ganz in Liebe zu verlieren, und das ist schlecht ...« »Ich weiß nicht, daß du mich liebst«, erwiderte Arnold trotzig und schüchtern zugleich, »ich habe keine Beweise.« Er setzte sich auf den Kohlenkasten und, den Kopf zwischen den Händen, starrte er zu Boden. In tiefstem Erstaunen verharrte Verena eine lange Minute hindurch regungslos. Dann zuckte ihr Mund, und ihre Züge strahlten plötzlich von herrlichem inneren Licht. Sie ging hin, legte Arnold den Arm um den Nacken und suchte, wobei sie sich tief niederbeugen mußte, seinen Blick mit ihrem zu vereinen. »Nun geh«, flüsterte sie endlich. »Heute wollen wir uns nicht mehr sehen.« Sie küßte ihn, erhob sich, deckte die Hand über die Augen und wandte sich ab. Sie weinte, doch gelang es ihr vollkommen, dies zu verbergen, wenn auch das innerliche Schluchzen ihren Mund fast sprengen wollte. Auch Arnold stand auf. »Gut, auf morgen also, Verena«, sagte er mit brennendem Schamgefühl. Hier ist irgend ein Mißverständnis, dachte er, als er die Treppe hinabschritt. Sehnsucht ergriff ihn plötzlich, und er wußte nicht recht, war es Sehnsucht nach Verena, oder nach etwas in ihm selbst, das er verloren geben mußte. Im untern Stockwerk hing ein kleiner Spiegel neben einer Türe. Er blieb davor stehen, betrachtete sich aufmerksam und lächelte zerstreut. Zu Hause machte er sich über seine Bücher und Hefte her, aber es gelang nichts. Die Gedanken blieben wie faule Spaziergänger unterwegs liegen. Er besuchte, wie er es jetzt bisweilen mit erwachendem Verständnis zu tun pflegte, eine Gemälde-Galerie. Meist blieb er vor den landschaftlichen Darstellungen stehen. Heute, da die ersten Boten des Frühlings durch die Gassen zogen, betrachtete er auf den Bildern braune Bäume mit machtvollen Kronen, stille Teiche, verglimmende Abendhimmel, helle Herden und weitgestreckte Ackergründe. Es schien, als ob die Zeit auf dem Flecke bleiben wolle. Endlich wurde es Abend, endlich Nacht. Arnold begriff seine Ungeduld und sein Bangen nicht. Am andern Morgen kam Wolmut zur bestimmten Stunde. Er reichte Arnold einen verschlossenen Brief und sagte, ruhig und sachlich wie immer: »Ich soll Sie vielmals grüßen. Verena Hoffmann ist abgereist.« Arnold starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Was --?« fragte er, und die weißen Blätter auf dem Tisch schienen auf einmal rot zu werden. Hastig riß er den Brief auf und las: »Mein Liebster, ich sage dir Lebewohl. Mühe dich nicht, mich zu finden oder mir zu folgen, es wäre umsonst. Wenn du das Warum spürst, wirst du mich nicht anklagen, wenn nicht, dann würde uns dies doch allzubald auseinander reißen. Ich werfe weg, um nicht zu verlieren. Lebe wohl! Tetzner begleitet mich.« Arnold nahm Mantel und Hut, stürzte fort, warf sich unten in einen Wagen, nachdem er mit heiserer Stimme dem Kutscher Verenas Adresse zugerufen hatte. Zorn, Schrecken, Reue, Scham machten ihn fast besinnungslos. Die Wohnung Verenas war leer. Schnell hatte sie's vollbracht. Er lief wieder herab, ging zwei Häuser weiter, -- auch Tetzner war auf und davon, und jetzt erst glaubte es Arnold, da seine Augen ihn überzeugt hatten. Er stand vor dem Haus, als wisse er nicht, wohin er sich wenden solle. Welch ein Mißverständnis ist dies? fragte er sich verstört. Noch immer vermochte er nichts zu sehen als ein Mißverständnis, wie jemand, der eine Mauer nicht gewahrt, weil er die Hand vor die Augen hält. Alexander Hanka Zweiundvierzigstes Kapitel Mitte März legte Arnold die Prüfungen mit Erfolg ab. Es war ihm nur ein Spiel. Er entschied sich für das juristische und philosophische Fach. An einem stürmischen Frühlingstag entrichtete er an der Universität die festgesetzten Gebühren und begleitete dann Wolmut vom Ring bis weit hinaus in die Vorstadt. »Sie haben keine bestimmte Idee von der Richtung, die Sie in den nächsten Jahren nehmen wollen?« fragte Wolmut zum wiederholten Mal. »Vergessen Sie nicht, daß Sie viel älter sind, als die Burschen, die mit Ihnen äußerlich jetzt auf demselben Punkt stehen.« »Ich mache kein Programm«, erwiderte Arnold lebhaft. »Damit geht jede Unbefangenheit verloren. Ich will zugreifen und alles packen, was zu mir kommt. Später kann ich dann mein Gebiet begrenzen.« »Sehr gut; und wollen Sie jetzt gleich zu arbeiten anfangen?« »Das weiß ich nicht.« »Sie scheinen ein wenig zerstreut, oder vielleicht auch zu sehr in einen gewissen Gedanken verbohrt«, bemerkte Wolmut freundschaftlich. Sie gingen an einem Garten vorbei. Die Kronen der Bäume bogen sich im Wind. Der Sturm entführte Arnold den Hut, wirbelte ihn über den Zaun, und Arnold mußte am Tor des Gartens läuten und ziemlich lange barhaupt stehen, ehe er wieder in den Besitz seiner Kopfbedeckung gelangte. Als er durch die stillen Gartenwege wieder gegen die Straße schritt, hatte er die Empfindung einer schönen, jedoch dunklen Erinnerung. Plötzlich stand es in ihm fest, daß er nach Podolin gehn werde. Zu Hause angekommen, zog er den ländlichen Holzkoffer aus dem Winkel, aber es zeigte sich, daß dieses ehrwürdige Stück zu klein und zu häßlich war. Er ging daher von neuem aus und kaufte einen großen Lederkoffer und eine Handtasche. Er packte bis zum Nachmittag, und erst als er fertig war, bemerkte er mit Verwunderung, daß er sich wie zu einer langen Abwesenheit gerüstet habe. Nachdem er die Stunde der Reise festgesetzt hatte, wollte er bei Borromeos Abschied nehmen. Man sagte ihm, der Doktor sei im Salon. Er durchschritt die Reihe der Zimmer und als er einen roten Türvorhang beiseite schob, sah er unvermutet Frau Anna und den Leutnant Valescott vor sich. Die Beiden saßen an einem schmalen Teetisch einander gegenüber und drehten das Gesicht gespannt mit einem Ausdruck verdrießlicher Abwehr nach ihm zurück. Arnold entschuldigte sich, trat vollends in das Gemach und sagte, weshalb er käme. Da sein Benehmen unbefangen war, wurde Anna Borromeo freundlich. Valescott schien geärgert. Er erhob sich alsbald, reichte Frau Anna die Hand, verbeugte sich vor Arnold mit widerwilliger Höflichkeit und verschwand. Nach einer langen Pause sagte Anna Borromeo: »Valescott ist eine warme, tiefe, ehrenhafte Natur.« Mit beiden Händen und gespreizten Fingern schob sie die kupferfarbene Haarkrone zurecht, lächelte Arnold mütterlich zu, stemmte dann beide zur Faust geballten Hände tief in ihren Schoß, und starrte auf den Boden. »Was tust du jetzt in Podolin?« fragte sie, aus ihrem Brüten aufschreckend. »Es ist noch kalt draußen. Hast du aufgehört zu arbeiten und machst dir Ferien? Ich möchte auch einmal wissen, wie es ist, Ferien zu haben.« Unangenehm berührt von ihrem Ton wie von dem, was sie sagte, entgegnete Arnold, die Ferientage einer vornehmen Dame begännen wahrscheinlich erst im Himmel. Anna Borromeos Lippen verzogen sich hochmütig. Sie beugte sich vor, legte eine Hand auf die Arnolds, und ihre Augen sahen smaragdgrün aus, als sie erwiderte: »Kannst du mit meinem Herzen fühlen? Nein. Es gibt nur einen einzigen Augenblick, auf den ich mich täglich freue, nämlich der, wenn ich nachts das Licht auslösche.« Arnold zuckte die Achseln und sagte, er müsse eilen. Als er gehen wollte, kam Borromeo. Anna erzählte ihm von Arnolds Vorhaben. Er stutzte und schüttelte den Kopf, dann fragte er Arnold, wann er reisen wolle. Jetzt, in einer Stunde. »Dann werde ich dich zum Bahnhof begleiten, wenn es dir recht ist.« »Gewiß.« Arnold übergab sein Gepäck einem Wagen, während er selbst mit dem Oheim zu Fuß ging. »Wie lange willst du bleiben?« fragte Borromeo. »Und warum fährst du eigentlich? Zieht es dich hin oder hast du einen bestimmten Zweck? Es ist eine schlechte Jahreszeit.« Das leise, sammetartige Wesen dieses Mannes ließ alle Anzeichen äußeren Mitlebens vermissen. Doch lag in seinem Gehaben ein so scheues, scheinbar ganz bewußtloses Anschmiegen an die Person Arnolds, daß dieser ganz verwundert darüber war. Bis kurz vor der Abfahrt des Zuges blieb Borromeo ziemlich schweigsam; in den letzten Minuten wurde er auf einmal gesprächig und gab Ratschläge und Meinungen in betreff der Bewirtschaftung in Podolin. Der Zug setzte sich in Bewegung und Borromeo wartete, bis die Bahnhofshalle leer war. Das stürmische Wetter war unverändert geblieben, als Arnold im dämmernden Morgen von der Station nach Podolin fuhr. Der Wagen ächzte im Straßenkot und auf dem Schottergestein; die Felder lagen wüst und der Nebel verhüllte die Wälder. Ursula war nicht wenig verblüfft über die Ankunft des jungen Herrn. Der böhmische Verwalter, der seit dem Sommer angestellt war, stand mit entblößtem Kopf am Gartentor. Sein rotes Gesicht war zum Ausdruck sklavischer Ehrerbietung erstarrt. Ursula wollte Rechnungen vorlegen und die brieflichen Berichte des Verwalters ergänzen, aber Arnold bedeutete ihr, daß er vorläufig damit nichts zu tun haben wolle. »Sie sind größer und schöner geworden«, meinte Ursula und bewunderte seine Kleidung, seinen veränderten Gang, -- nichts entging ihrer harmlosen Beobachtung. Ihr Benehmen aber verwandelte sich nach der ersten Stunde. Am Anfang suchte sie den alten Ton spielerisch-polternder Befehlshaberei wieder anzunehmen, aber sie merkte bald, daß er darauf nicht einging. Mit diesem Augenblick sah sie einen fernen, kalten Herrn in Arnold und fand sich fremd. Sie umgab ihn mit einer Wolke von Respekt, welche alle lebendige Erinnerung mürrisch verhüllte. Nur kurze Zeit ruhte Arnold von der Fahrt. Aus wohlbekannter Tasse nahm er das Frühstück ein; alles mutete ihn neuartig und klein an. Die Stube war eng, kahl und düster. Die Fenster waren winzig wie Schießscharten, Möbel und Geräte von unbequemer Dürftigkeit. Arnold lächelte in sich hinein wie ein alter Mann, der an seine Jugend denkt. Als er durch den Vorgarten schritt, um hinüber nach Podolin zu gehen, dachte er darüber nach, wie er es nehmen würde, wenn er hierzubleiben gezwungen wäre. Er schüttelte eine solche Vorstellung eilig von sich ab. Dreiundvierzigstes Kapitel Dennoch zitterte beim Gehen über die Wiesen ein Hauch jener gewaltigen Bewegung nach, die ihn einst von dieser Ebene fortgetrieben, wie das Lüftchen, das sich von einem entfernten Orkan in stillere Regionen verirrt hat. Er freute sich des weiten Himmels, dessen Wolken einem dünnen Blau zu weichen begannen, er blieb träumend am Ufer des schwärzlichen Flusses stehen und ergötzte sich am Kreischen der Krähen. Gibt es angenehmere Töne, dachte er beim Weiterwandern, als das leise Glucksen des Wassers in den Wiesen? Die neugierigen Blicke der Podoliner erregten seine Heiterkeit. Er war überrascht, jedes Häuschen noch auf seinem Fleck zu finden, blickte lächelnd von Torweg zu Torweg und schritt über den Platz hinauf gegen den Kirchhof. Der Fleischer Uravar stand unter der Tür seines Ladens, als ob er sich all die Zeit hindurch nicht von dort gerührt hätte. Die Kreuzspinne lag noch immer auf der Lauer. Arnold blieb stehen und nickte freundlich; es war ihm, als hätte er stets freundliche Beziehungen zu dem Mann unterhalten. Uravar glotzte und machte ein ehrerbietiges Kompliment. Still lag der Kirchhof; die Holzkreuze waren von Wind und Wetter schief, verdorrt und zerbrochen. Von hier aus war der weiteste Ausblick über die Ebene, die erst in großer Ferne bergige Formen annahm und sich glatt wie eine ungeheure Bucht hindehnte. Das Grab der Frau Ansorge lag auf einem Vorsprung des festungsartig erhobenen und begrenzten Raums. Ein einfacher Stein schmückte den Hügel. Arnold lehnte sich mit dem Rücken an die niedere Mauer-Einfassung und suchte die Gestalt der Toten erstehen zu lassen. Aber es mischte sich zu viel Erlebtes hinein; buntes Schweifen ergriff den Sinn und trübe nur, kaum den Rand des Grabes überschreitend, wurde ein edler Umriß sichtbar. Arnold hatte das nicht erwartet; er hatte nicht geglaubt, daß er sich so allein hier finden würde. Als er sich gegen den Ausgang wandte, gewahrte er, ganz in einem Winkel zwischen Kirche und Mauer gedrückt, einen regenverwaschenen, kleinen Grabstein, in dem die verblaßte Photographie eines schönen, stolzblickenden Mannes eingelassen und durch ein Stück Glas verdeckt war. Auf der Fläche des Steins stand: Fumagalli, Zirkusreiter aus Mailand. #Mal fa chi tanta fè obblia.# Arnold schmunzelte. Wie mochte Herr Fumagalli nach Podolin geraten sein? Nie früher hatte er den alten Stein mit dem süßlich-hübschen Bildnis bemerkt. Mühsam entzifferte er den Sinn der italienischen Worte: schlecht für den, der so viel Treue vergißt. Eine wunderliche Traurigkeit ergriff ihn; Treue, dies schien wirklich das Wesentliche allen Lebens und den Zusammenhalt alles Guten zu bedeuten, und als ob er sich gegen einen Selbstvorwurf schützen wolle, rief er mit seiner inneren Stimme den Namen Verenas. Auf dem Rückweg begleitete ihn ihr verschöntes Bild und als er zu Hause war, empfand er Sehnsucht nach ihr und fragte sich tausendmal, warum sie gegangen. Es erschien ihm zweifellos, daß er sie in der Stadt wieder sehen würde, und die Einsamkeit, in die er sich versetzt hatte, kam ihm wie eine freiwillige Selbstprüfung vor. Im Hof wartete ein junges Bauernweib. Sogleich eilte sie auf Arnold zu und ihren Lippen entquoll eine unverständliche Flut von Worten. Erst allmählich vermochte Arnold herauszubringen, worum es sich handle. Die junge Person war das Weib des Häuslers Kubu, der früher Eisenbahnbediensteter gewesen war und seit fünf Jahren die Wirtschaft seines Vaters übernommen hatte. Wegen eines Steuerrückstandes von achtundsechzig Gulden waren ihm ein paar junger Ochsen gepfändet worden und heute hatte er die Mitteilung erhalten, daß die beiden Tiere versteigert werden müßten, falls er die Steuer nicht bar bezahle. Um dieses Geld bettelte das Weib und schwor bei der Mutter Gottes, daß sie es zur Ernte richtig zurückzahlen wolle. Arnold, allzusehr mit seinem innern Zustand beschäftigt, zwar weich gestimmt, doch nur für sich selbst, wies das Weib ab, dessen lärmendes Getue ihm nicht angenehm war. Sie stand noch eine Weile mit finsterem, zur Erde gekehrtem Gesicht und Arnold ging ins Haus. Als er am nächsten Morgen seinen Spaziergang nach Podolin machte, um Briefe auf die Post zu tragen, sah er vor einem der ersten Bauernhöfe eine Menge Leute stehen, deren Mienen leidenschaftliche Aufregung verrieten. Hinter dem Zaun des Hofes standen sechs Gendarmen. Arnold wollte einen der Bauern befragen, aber ein dicker Mann mit goldener Brille trat auf ihn zu, fragte kurzatmig, ob er Herr Ansorge sei und ob das Weib des Kubu gestern bei ihm gewesen sei, um Geld zu borgen. Er selbst sei der Bahn-Expeditor und habe früher den Kubu unter sich gehabt, der ein ordentlicher Mensch wäre. »Ist dies das Anwesen des Kubu?« fragte Arnold dagegen. Der Expeditor erzählte, daß um zwölf Uhr der Steuer-Exekutor aus Sobielska beim Kubu in Begleitung zweier Gendarmen erschienen war. Kubu sperrte den Stall zu und sagte der Kommission, daß er die Ochsen nicht übergeben werde. Er habe acht Jahre lang die Steuern ordnungsgemäß bezahlt, gegenwärtig sei er aber infolge der Mißernte des vorigen Jahres nicht imstande zu zahlen. Er bot Haus und Hof als Pfand an und fügte hinzu: ohne das Vieh bin ich ein toter Mann. Die Frau versprach, sie werde das Geld von ihrem Paten ausleihen und beide baten mit erhobenen Händen um Fristung. Es war jedoch vergeblich. Der Exekutor entschied: entweder bezahlen oder die Ochsen her! Kubu schrie: ich gebe sie nicht her; lieber geh ich gleich zugrunde, als daß ich später mit meiner Familie zugrund gehe. Das ganze Dorf war zusammengelaufen und nahm eine drohende Haltung ein. Man schickte nach Sobielska um weitere Gendarmen und wartete, bis diese kamen. Sie wendeten sich gegen Kubu, um ihn zu fesseln. Es gelang nicht. Ein Gendarm zog nun den Säbel. Die Frau warf sich ihm entgegen und flehte: nicht auf den Kopf! Sie fing den Schlag auf, der dem Kubu zugedacht war und wurde an der Hand so verletzt, daß ein Finger nur noch an der Haut hing. Dann stellten sich alle Gendarmen zwei Meter von Kubu entfernt auf und riefen ihm zu: sie würden schießen, wenn er sich nicht ergebe. Als Kubu seine Frau bluten sah, sprang er in den Stall, ergriff eine Heugabel und schrie: die Ochsen können nur über meine Leiche geführt werden. Die Frau entriß ihm die Heugabel, stellte sich vor ihn und deckte ihn gegen die auf ihn stürmenden Gendarmen. Endlich gelang es den Männern, die Frau von dem Häusler wegzuziehen und ihn zu fesseln. Der Exekutor band die gepfändeten Ochsen los und ließ sie mit vier Gendarmen forttreiben. Während Arnold alles das vernahm, wurde er so bleich, daß der Expeditor fragte, ob er sich krank fühle. Arnold zog seine Brieftasche aus dem Rock, zählte siebzig Gulden ab, überreichte sie dem Expeditor und sagte: »Geben Sie das dem Steuerbeamten; ich zahle es für den Häusler. Zwei Gulden bekomm ich zurück.« Der gutherzige Expeditor schien sehr erfreut und drückte Arnold bewegt die Hand. Auch unter den Podolinern verbreitete sich die Kunde von der Freigebigkeit des jungen Gutsherrn. Mehrere drängten sich an ihn und riefen ihm anerkennende Worte zu. Arnold mußte an einen andern Tag zurückdenken; damals hatte er ihnen sein ganzes Wesen opfern wollen, und sie hatten Steine nach ihm geschleudert; heute jauchzten sie ihm für verspätete siebzig Gulden zu. Er fing an, diese begriff- und urteilslose Rotte bitter zu hassen. Aber er betrog sich mit diesem Gefühl. Sein träger gewordenes Herz empfand Schmerzen der Scham, die es dem Verstand nicht mitteilte und nicht mitteilen konnte. Auf dem einsamen Weg, der zum Wald hinüberführte, blieb Arnold stehen und murmelte mit einem Ausdruck des Erstaunens und der unheimlichen Erleuchtung: »sollte es möglich sein?« Er stellte sich vor einen Baum und blickte starr auf die Rinde. Denn plötzlich begann er den wahren Grund von Verenas Flucht zu ahnen. Er wanderte noch ein paar Schritte bis an den Waldrand und setzte sich auf einen gefällten Baumstamm. Ja, er begriff. Nicht länger erschien ihm als ein Mißverständnis, was so deutlich das Gesicht eines Schicksals zeigte. Aber allmählich suchte er doch, sich zu verteidigen. Das Tiefere, Ernsteste, das ihm einen Augenblick furchtbar zugeleuchtet, machte verschwommenen Hoffnungen Platz und die Waldeinsamkeit rührte ihn, weil ihn sein Kummer rührte. Kein Laut unterbrach die Stille. Weiß, breit, sanft ansteigend, krümmte sich die Landstraße hügelwärts hinan und bohrte sich wie aus eigener Kraft durch das Dickicht der Stämme und des niederen Buschwerks. Arnold empfand ein Verlangen nach Trost, Ruhe und Gedankenlosigkeit. Am folgenden Tag regnete es, auch den zweiten Tag. Arnold stellte sich zu Ursula in die Küche und sagte gähnend: »Was soll man anfangen bei solchem Wetter!« »Erzählen Sie mir doch. Wie gefällt Ihnen das Leben in der Stadt?« fragte die Alte. »Ja, das ist etwas für sich, Ursula. Davon wird man nie fertig. Es ist ein Höllenkreisel. Da heißt es Augen auf. Jeder Tag bringt was Neues. Hier weiß man nie ob es Morgen, Mittag oder Abend ist. Aber dort, zwischen Suppe und Mehlspeise wird die Welt anders, und wer stillsitzen möchte, der muß tanzen und springen.« »Aber wenn es regnet, wird's dort auch naß. Das ist kein Unterschied«, sagte Ursula. Arnold machte ein listiges Gesicht. »Wenn es regnet oder schneit«, sagte er, »merkt man es gar nicht in der Stadt, denn alle Straßen und Plätze haben Glasdächer und Öfen. Es ist immer warm und trocken.« Ursula erwiderte verdrießlich und unsicher: »Einem alten Weib kann man erzählen, daß der Leineweber die Kartoffeln macht.« Arnold trat unter die Haustür. Ein verzweifeltes Wetter, dachte er und würzte diese einförmige Betrachtung mit einem humoristischen Seufzer. Er entschloß sich, trotz des Regens nach Podolin zu gehen. Als er bis auf den Hauptplatz gekommen war, mußte er in einem Flur Schutz suchen, denn ein wahrer Wolkenbruch machte das Weitergehn unmöglich. Eine krumme Gestalt, mit schwarzem Lederpack auf dem Rücken, flüchtete gleichfalls herein, stützte das Paket auf den Mauerabsatz und wischte das nasse Gesicht und den triefenden Bart ab. Arnold erkannte Elasser. Der Jude streckte ihm die Hand entgegen, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, als er ihn erkannt hatte. »Ei gnädiger Herr!« sagte er. »Gleich hab ich mir gedenkt, es ist doch ein bekanntes Gesicht. Sind Sie wieder hier jetzt? Un wo waren Sie die Zeit über?« »Ja, ich bin hier«, antwortete Arnold lau und verlegen. »Wie geht es Ihnen?« »No, es laßt sich leben. Man muß sich eben dazuhalten. Mit der Peitsche muß man's treiben.« Er lachte. Arnold schwieg und blickte gespannt in den dicken Regen. Er hätte gern den geschützten Platz verlassen, denn ihn störte der muffige Geruch, der von dem Juden ausging wie von fauler Erde. Eine Frage lag Arnold auf der Zunge, aber es war ihm nicht möglich zu fragen. Ihm war, als stehe ein Gläubiger vor ihm, der es aus Zartgefühl unterließ, ihn zu mahnen, und er sagte sich: ich werde ihn bald bezahlen, früher als er denkt. Endlich verdünnte sich das Strömen des Wassers. Arnold nickte dem Hausierer zu und kehrte eilig nach Hause zurück. Vierundvierzigstes Kapitel Der folgende Tag war ein strahlender Frühlingstag. Der Himmel hatte die Erde noch einer gründlichen Waschung unterzogen, bevor er ihr das Frühlingskleid über die noch frierenden Schultern zog. Arnolds Laune besserte sich; seine Wanderlust erwachte, und er schritt viele Stunden lang auf bekannten und neuen Wegen. Wenn er irgendwo rastete oder in einem Dorf bei Milch und Käse seinen Hunger stillte, zog er ein Buch aus der Tasche, denn er konnte nicht lange Zeit hindurch müßig sitzen oder liegen. Manchmal bemächtigte sich Ungeduld seiner Sinne. Die Einsamkeit der Felder wurde ihm dann drückend und nichtssagend. Lästig erschienen ihm die Bilder der Landschaft, die sanften, schattenvollen Täler, die sich nicht tiefer senkten, als ein Teller unter seinen Rand, die schmutzigen Bauernhöfe, das dürftige Gras der Wiesen, der unbequeme Ostwind, die neugierigen Kinder in den Dörfern. Unruhe flammte in ihm auf. Am Palmsonntag kehrte er durch Podolin nach Hause zurück. Noch hatte er nicht den Hauptplatz erreicht, als jemand mit tiefer Stimme seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah Alexander Hanka auf sich zukommen. »Ich habe erst gestern gehört, daß Sie hier sind, und zwar durch den Briefträger«, sagte Hanka und drückte Arnolds Hand mit Herzlichkeit und Freude. Er schien größer, denn seine Gestalt war noch hagerer geworden, sein Gesicht länger und farbloser; die schwarzen Augen hatten einen Ausdruck vollkommenen Ernstes. Arnolds Freude, Hanka wiederzusehen, war nicht ganz frei von Befangenheit. »Wo kommen Sie her?« fragte er. »Wo waren Sie solange?« »Ich war in Rom, Sizilien und Tunis«, berichtete Hanka, »und jetzt bin ich hier, weil meine Schwester erkrankt ist.« »So? Was fehlt ihr denn?« Hanka zuckte die Achseln. »Die Nerven, das Blut.« »Bleiben Sie lange hier?« fragte er. »Ist es Ihnen nicht langweilig?« Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich langweile mich nie«, antwortete er. »Das ist ein großes Wort«, meinte Hanka und nickte nachdenklich. »Was mich betrifft, ich langweile mich in hervorragendem Maße.« Die breite Behäbigkeit, mit der Hanka das O aus den Eingeweiden heraufbrummte, machte Arnold lachen. »Jetzt darf man doch nicht mehr klagen«, sagte er. »Schauen Sie sich doch um: Frühling!« »Seit drei Monaten habe ich Frühling und bin den blühenden Mandeln von Syrakus bis Florenz nachgereist. Auch das bekommt man satt.« Mit verschwiegener und ehrlicher Bewunderung blickte Hanka Arnold an. Hier sah er quellend und in Blüte, was in ihm selber eine Wüste war. Hier vermutete er naiven Überschwang der Kräfte und die Fruchtbarkeit eines unbefangenen Geistes. Während seines langen Alleinseins hatte sich das Bild Arnolds in seinem Innern erhoben, und ihm hatte er sich im Stillen zugewandt als der Verkörperung alles dessen, was seiner Natur niemals auch nur aus der Ferne hatte winken dürfen. Ihm jetzt gegenüberstehend, sah er in sich selbst eine Gefahr für Arnold und er beschloß, ihn zu meiden. »Wollen wir nicht abends öfter zusammenkommen?« fragte Arnold. »Die Abende sind sehr lang.« Er zuckte zusammen, da er gerade dieses nicht hatte sagen wollen; auch Hanka wurde ein wenig stutzig. Indessen es war geschehen. Errötend wandte er sich an Hanka und sagte, mit freundlichem Tadel auf dessen Zigarette blickend: »Nie sieht man Sie ohne das Zeug. Weshalb rauchen Sie? Vergiften Ihr Blut. Das gefällt mir nicht. Verzeihen Sie.« Hanka lächelte gelassen. »Ich komme vielleicht morgen zu Ihnen«, sagte er stehen bleibend und sich verabschiedend. Die Gesunden glauben, dem Kranken sei das Bett angenehm, dachte Hanka, als er allein war und sich dem Zaun des Vorgärtchens näherte. Er öffnete die Gattertüre und sah neben dem Weg einen sterbenden Vogel liegen. Betroffen bückte er sich und hob ihn auf. Das kleine Herz schlug langsam unter dem erkaltenden Federkleid, die Flügel waren schlaff ausgebreitet, die gelben Beinchen waren starr. Hanka schaffte Stroh herbei und legte das kranke Wesen in die Küche dicht neben den Ofen. Der gelbe, mit der Erde beschmutzte Schnabel wetzte sich mechanisch am Eisenfuß des Herdes, dann kam der Tod. Die kleinen schwarzen Perl-Augen, soeben noch von der unbegreiflichen Bewegung erfüllt, welche Leben heißt, glänzten nun mineralisch leer. Hanka ging an das Lager der Schwester. Abgezehrt und hilflos wie sie lag, erinnerte sie ihn an den Vogel, den er im Garten aufgelesen. Er unterhielt sich mit ihr, erzählte Reisegeschichten und machte sie lachen. Agnes wußte das Notwendigste über ihres Bruder schnell vergangene Ehe. Es waren darüber nicht drei Sätze gewechselt worden, und Agnes war nicht so überrascht, als Hanka wohl glauben mochte. Sie sah ihn verändert, in einer Weise, die kaum mit Worten zu bezeichnen war. Dies ist Beates Werk, glaubte sie kurzsichtig und gefühlvoll. Hanka war es im Grunde gleichgültig, wofür man ihn nahm. Der Sturm kann darüber erhaben sein, daß ihn taube Ohren für das Summen einer Fliege halten. »Jahrelang war kein solch wunderbarer Tag«, sagte Agnes, sich aufstützend. In dem milden, mattblauen Himmel sah sie die knospenden Zweige der Bäume schwimmen. Als Hanka fragte, ob er ihr vorlesen solle, nickte sie beglückt. Ihr Lieblingsschriftsteller war Jean Paul; sie hatte nie etwas anderes gelesen. Früher hatte Hanka die ihm altmodisch erscheinende Neigung verspottet, denn er vermochte unter dem faltenvollen Gewand dieser Sprache keinen Leib zu finden. Jetzt aber hatte er eine bessere Ansicht darüber gewonnen. Er entnahm der Bändereihe ein Buch, das die Kranke bezeichnet hatte, setzte sich hin und las mit sehr lauter Stimme, damit Agnes ihn gut hören könne. Bald kam er zu einer Stelle, die sein vorauseilendes Auge überblickt hatte. Er schwieg und las für sich: Sobald wir anfangen zu leben, drückt das Schicksal aus der Ewigkeit den Pfeil des Todes ab. Er fliegt so lange, als wir atmen und wenn er ankommt, hören wir auf. O stürben wir doch auch so alt und lebenssatt wie dieser Greis, sagen dann diejenigen, deren Pfeile noch fliegen. Mit erschrecktem Stirnrunzeln ließ Hanka das Buch sinken. Er entschuldigte sich bei Agnes, stand auf und ging in den Garten. Ihn quälte die Einsamkeit. Er sehnte sich nach dem Anblick vieler Menschen, nach ihrem Geschwätz und nach Spiel. Der weite Himmel drückte auf ihn nieder. Mit gesenktem Kopf beobachtete er jetzt, wie viele Tausende von schwarzen Ameisen über einen Regenwurm hergefallen waren, ihn zerbissen und in geteilten Haufen die roten Stücke fortzerrten. Voll Ekel wandte er sich ab. Er nahm Mantel und Hut, um Arnold aufzusuchen und fand ihn im Garten auf und ab gehend, wie er selbst vorhin getan. Sie setzten sich auf eine Bank und plauderten. Der Garten und besonders seine parkartige Fortsetzung sahen verwildert aus; geknickte dürre Zweige lagen umher und ein Teppich feuchter, brauner Blätter leuchtete in der Sonne. Die Spatzen lärmten und auf den Feldern schritt schon der pflügende Bauer. Das Beisammensein der beiden Männer trug den Ausdruck gegenseitiger, natürlicher Achtung. Arnold sprach von der Landwirtschaft und erwähnte, daß er sich die Zeit her um nichts gekümmert habe; er finde nicht die Ruhe, es treibe ihn zu großen Geschäften, die ein Wagnis und Einsetzen verlangten, denn wenn man nur dasitze und sein inneres Kräftevermögen in sich selber verzehre, käme man bald zur Schwäche. Darum sei es ihm zweifellos, daß das Leben auf dem Lande für junge Menschen, wenn nicht gefährlich, doch sehr einschränkend sei. Arnold redete mit einer ganz kleinen Überspannung des Temperaments; dies entging Hanka nicht nur, sondern er hatte auch seine Freude daran. Er trat aus sich heraus, und das Weben seiner Gedanken wurde weniger beklommen. Arnold meinte, daß ein solches Wagen und Opfern, wie er es auffasse, mit Geldgeschäften nichts zu tun habe. Hanka stimmte ihm bei, denn obwohl er gegenwärtig sein ganzes Vermögen in Börsen-Unternehmungen stehen habe, empfinde er keine Tätigkeit, sondern fühle sich faul und gleichmütig. Es entstand ein kurzes Schweigen, bis Arnold ohne Übergang die Geschichte mit dem Häusler Kubu berichtete. Hanka sagte: »Solange es nur gute Menschen gibt, die mit den Unglücklichen fühlen, ist nichts gewonnen für die Welt. Mit den Glücklichen zu fühlen, dazu müßte man die Menschen erziehen.« Sie verabredeten für den nächsten Morgen einen Ausflug, aber da Hanka zu träg war, um zu gehen, wollte er im Ort eine Kutsche auftreiben. Zur bestimmten Stunde kam das Gefährt zur Stelle, mit zwei dicken Gäulen bespannt. Langsam ging es über die Heerstraße; der Tag war noch schöner als der gestrige. Nach einer Stunde nahm sie der Wald auf. Frisch geschälte Baumstämme lagen quer über dem Graben und glänzten in der Sonne wie Goldbarren. Die Straße war schmal. Hinter ihnen fuhr im scharfen Trab ein Bauernwagen heran. Vier verwegen aussehende Burschen hockten auf den Leitern; einer schwang die Peitsche, deren Knallen den ganzen Wald mit Getöse erfüllte, die andern, mit schiefsitzenden Kappen, schrien drohend und lachend drauflos. Das Fuhrwerk kam näher, auch die Kutsche rollte schneller. Die Kerle warfen die Arme und brüllten; ihre beiden Pferde hatten Schaum am Maul, als nähmen sie an der Erregung teil. Arnold riß dem Kutscher die Zügel aus der Hand; lachend trieb er die dicken Gäule vorwärts, und sie jagten nun auch ihrerseits wild dahin. Die Bauern blieben scharf hinterher; Hanka blickte den nachstürmenden Pferden in die rötlich lohenden Augen. Seine Gleichmütigkeit schwand unter einer grausigen Vorstellung, und er dachte an den Mann jenes Gedichts, der im Brunnen hängt, Tod unter und Tod über sich erblickt. Endlich kam eine Schenke und da hielt die Bauernkarre still. Arnold und Hanka kehrten auf einem näheren Weg gegen Podolin zurück. Eine eigentümliche Verachtung begann in Hanka zu wirken. Er verachtete das Ding, welches ihm das Herz auffraß. Im Schweigen liegt oft die aufdringlichste Mitteilung. Das erfuhr Arnold bald. Seine Lebensstimmung wurde durch das beeinflußt, was Hanka schweigend in sich verschloß. Er trieb wieder mathematische Studien. Er spielte und es ist im Grund, dasselbe, ob man mit Zahlen oder mit Karten spielt. Über all dem, wolkengleich, spannte sich etwas trist die Sehnsucht nach Verena. Bisweilen senkte sie sich nieder wie Regen und erfüllte seine Brust mit Traurigkeit. Er suchte das Rätsel ihrer Person zu ergründen und wollte ihr beikommen wie den algebraischen Formeln. Er langweilte sich. Mitten in die Stille und Einsamkeit kam ein Brief Anna Borromeos. Sie schrieb an Arnold, daß sie für sein langes Ausbleiben keine andere Ursache vermuten könne, als daß ihn ihr Haus abgestoßen und ihre Person verscheucht habe. »Aber lieber Neffe und Freund, wir können dich, so scheint es, weniger entbehren als du uns. Wir zerbrechen uns den von zahllosen Geschäften ermüdeten Kopf, indessen du boshaft hinter deinem Dorfofen sitzest. Mein Gatte quält sich mit der Befürchtung, daß du unsere Gastfreundschaft mangelhaft gefunden haben könnest, und auch mich drängt es, dir eine bessere Idee von Anna Borromeo zu geben, als du jetzt in deine Heimat getragen. Für die Schlechtesten gibt man sich aus und dem, den man umschließen sollte, dem sperrt man sich zu. Komm bald. Deine A. B.« Arnold war Anna Borromeo fast dankbar für dieses Schreiben, durch welches sein Schwanken beendigt und der Entschluß der Abreise bewirkt wurde. Er freute sich auf die Stadt, und gleich teilte er Hanka seinen Vorsatz mit. Fünfundvierzigstes Kapitel Da es mit Agnes besser ging, wollte Hanka ebenfalls in die Stadt zurückkehren und Arnold war es angenehm, Gesellschaft zu haben. Am letzten Abend raffte er sich auf und unternahm endlich eine Durchsicht der Rechnungen und Berichte, welche ihm der Verwalter vorlegte. Es vergingen Stunden damit. Der Inspektor schien es darauf anzulegen, ihn zu verwirren, aber Arnold zeigte ihm, daß es nicht leicht war, ihn zu übertölpeln. Er sollte sich darüber entscheiden, ob er ein Stück Acker an die Gemeinde verkaufen wollte, die es zum Bau einer Lokalbahn haben wollte, jedoch einen Spottpreis anschlug. Ungeduldig verschob Arnold den Bescheid, wodurch freilich nichts gewonnen war. Der Wagen mit Hanka kam; winkend und nickend fuhr Arnold gegen die Straße hinaus. Ursula ließ ein weißes Handtuch flattern, das noch lange zu sehen war. »Ich bin froh, nun geht's wieder an die Arbeit«, sagte Arnold. »Weshalb sind Sie so schlecht gelaunt?« Hanka streckte die Beine aus und sein Kopf wackelte verdrießlich auf dem Hals. »Es geht mir schief«, antwortete er. »Die Montanpapiere sind um zehn Perzent zurückgegangen.« »Was werden Sie tun?« »Ich muß verkaufen.« »Und dann?« »Dann steht mir ein großes Unglück bevor, -- Arbeit.« Arnold lachte. »Schade«, meinte er, »Sie sind zum Müßiggang geboren.« Wohltätig wurde Arnold von dem Gewirr und dem Lärm berührt, als sie am Nachmittag in der Stadt eintrafen. Am Bahnhof trennte er sich von Hanka. Die Wärme des Lebens strömte ihm aus den Straßen entgegen. Hier war es nicht von Belang, ob die Sonne schien oder nicht, ob es regnete oder nicht. In seinem Zimmer angelangt, entlohnte Arnold die Leute mit dem Gepäck, und während dem trat Anna Borromeo unter die Türe. Mit großer Freude streckte sie ihm beide Hände entgegen und Arnold war sehr überrascht, in ihr eine so schöne Frau zu sehen, denn für sein Auge war sie bisher nur die Gattin Borromeos gewesen. Sie erzählte ihm Neuigkeiten, und obwohl sie beide nie in so vertraulicher Weise geplaudert hatten, schien es Arnold doch natürlich zu sein und entsprach seiner gehobenen Stimmung. Anna war erstaunt darüber, daß er auch ihre halbgesprochenen Sätze im Stillen zu ergänzen wußte, und daß er jenes andeutungsreiche Wesen begriff, welches zwischen Menschen von gleicher Kultur und gleichen Gewohnheiten entsteht. Später las Arnold die Briefe, die für ihn eingetroffen waren. Zuerst nahm er Stück um Stück in die Hand, jedoch er fand nicht, was zu finden er gehofft hatte. Es waren meist Bettelbriefe und Einladungen. Ein Schreiben Wolmuts war dabei, der ihn benachrichtigte, daß er in die Statthalterei nach Graz berufen worden sei, und daß ihm wahrscheinlich bald eine weitere Beförderung in Aussicht stehe. Arnold war nicht sehr zufrieden damit; ihm war, als habe ein guter Geist das Haus verlassen. Geschäftig räumte Arnold alle Bücher aus den Regalen, rief den Diener, damit die Bände abgestaubt würden, und ordnete alles mit peinlicher Sorgfalt nach Größe, Gattung und Aussehen wieder ein. Die Schreibereien legte er Blatt auf Blatt zusammen und spannte das Gleichartige zwischen Drähte. Er ließ die Fenster waschen, die Dielen fegen, die Teppiche klopfen, begab sich auf die Jagd nach Tintenflecken, Spinneweben, Flöhen und setzte alles im Haus in Bewegung. Als einige Tage vergangen waren, suchte er Hanka auf. In der Villa wurde ihm gesagt, Hanka wohne in einem Hotel in der Stadt. Verwundert fuhr er hin und fand ihn in trübseliger Laune. Hanka gestand ihm, daß er den größten Teil seines Vermögens an der Börse verloren habe. Die Unterhaltung schleppte sich einsilbig weiter. Plötzlich begann Arnold von Verena zu erzählen. Die Ereignisse verschoben sich sonderbar in seinem Mund; gefärbt durch selbstsüchtiges Leiden, wirkten sie romantisch und verzwickt. Schon die Befürchtung, ein Liebesabenteuerchen wie hundert andere zu erzählen, verwischte den natürlichen und so ruhigen Lauf der Begebenheit. Hanka wurde nicht klug aus der Geschichte. Er äußerte sanfte Zweifel an der gepriesenen Verena, und mehr als den Verlust seines Vermögens betrauerte er plötzlich Arnolds übertriebene Beredsamkeit. Arnold fühlte es. In ziemlicher Erregung begann er von neuem, Verenas seltene Natur begreiflich zu machen; aber stets überhebt man sich, wenn man loben muß, was man liebt, und Hanka wurde immer mißtrauischer und betrübter. So sehr er Äußerungen des Temperaments achtete, so sehr schreckte ihn erhitzte Empfindung ab. Aber er begab sich des Nachdenkens darüber und begnügte sich mit der Feststellung der Tatsache. Er ging an den Ereignissen vorüber wie man im Flur eines Hotels an den Zimmern vorbeigeht, in denen man nicht wohnt. Aber da sein alles voraussehender und stets auf das Schlimmste vorbereiteter Geist von Schrecken erfüllt war durch die Erwartung der Millionen Wirkungen aus einer einzigen Ursache, so wurde all sein Handeln eigentlich durch ein alles umgürtendes Verantwortlichkeitsgefühl erdrosselt. Hanka dachte an die Worte Marc Aurels: Schändlich ist es, wenn deine Seele ermüdet, ohne daß dein Leib müde ist; und grübelte mit dem heiligen Augustinus: Woher diese Unnatur? und warum? Der Geist gebietet dem Körper, und der Körper gehorcht; der Geist gebietet sich selbst und findet Widerstand. Hankas einzige Zuflucht bildete das Glücksspiel. Er verbrauchte alle Kräfte seines Gemüts gegen die aufreibenden Erregungen am Kartentisch. Hier sah er alles im kleinen vollendet, was sonst seinen rechnenden Geist mit finsterm Beharren erfüllte, das Ungefähr, das vernunftlos-notwendige, seit Ewigkeit im Weltraum lauernde Ungefähr, welches als Zufall, mit einer Narrenkappe versehen, oder als Schicksal, das Antlitz eines Gottes tragend, den kleinen und großen Gerichtshof für die Lebendigen bildet. Aber betrübte Spieler können nicht gewinnen. Er hatte das Gefühl, als werfe er das Geld ins Wasser. In wenigen Wochen verlor er gegen fünftausend Gulden. Als die Summe voll war und sich der Weg deutlich zum Abgrund hinunterbog, erhob er sich mit der ihm eigenen Kaltblütigkeit und sagte: »Genug, ich werde keine Karte mehr berühren.« Als ob er nun die Mauer zerstört hätte, die ihn von Arnold trennte, war sein erster Gedanke, den Freund aufzusuchen. Die Zimmer, in die er trat, sahen aus wie ein Platz nach dem Jahrmarkt. Kisten, Koffer, Bücher, Betten lagen durcheinander; Arnold hantierte mit rotem Kopf auf einer Leiter, der Diener war mit Packen beschäftigt. »Hollah!« rief Arnold herab, »Sie kommen gerade recht. Bei mir gibt es Arbeit, wie Sie sehen.« »Ich sehe wenigstens, daß Sie beschäftigt sind«, erwiderte Hanka etwas verdrießlich. »Ich ziehe nämlich aus«, erklärte Arnold, sprang mit einem Satz auf den Boden und rollte eifrig einen Strick über die Hand. »Hier ist mir alles zu klein. Ich habe eine neue Wohnung gemietet mit hohen Zimmern. Man muß atmen können.« »Da bin ich also überflüssig«, meinte Hanka; »ich dachte, wir könnten eine kleine Spazierfahrt unternehmen.« »Sehr gut!« rief Arnold, wandte sich zum Diener und gebot ihm, einen Wagen zu besorgen. »Ich habe schon zu viel Staub geschluckt«, sagte er und bahnte sich einen Weg zu Hanka, dem er nun mit strahlendem Lächeln die Hand drückte. »Ich finde eigentlich keinen Grund, weshalb Sie das stille Haus hier verlassen«, sagte Hanka kopfschüttelnd. »Es ist mir eben zu still«, erwiderte Arnold. »Alles ist alt und krumm hier im Haus. Wenn man ordentlich auftritt, krachen die Bretter im Boden. Es wird zu früh dunkel, es kommt keine rechte Sonne herein. Das ist nichts für mich. Dort, Sie werden sehen, der reinste Palast. Und etwas hab ich gekauft, Hanka! Da werden Ihnen die Augen vor Erstaunen herausfallen.« Er lachte, auch Hanka lächelte. »Man kommt nicht zur Besinnung«, sagte Arnold, als sie im Wagen saßen, der die Richtung gegen den Prater nahm. »Und wie schön es heute ist, wie gut die Luft. Das Leben ist eine sehr angenehme Erfindung.« »So?« erwiderte Hanka ernsthaft und blickte bedächtig in den vollkommen blauen Himmel. »Und Sie, schwarzer Kater, schnurren immer noch über schlechtes Wetter?« »Ich schnurre«, gab Hanka zurück, »obwohl es mir dabei nicht so wohl ist, wie es die Beschäftigung des Schnurrens mit sich bringen sollte.« Der Kutscher ließ die Pferde laufen, und das leichte Fuhrwerk sauste geschwind die breite Allee hinab und mit gleicher Geschwindigkeit flogen zurückkommende Wagen an ihnen vorbei. Wunderschöne Frauengesichter tauchten auf und Arnolds Mund öffnete sich begehrlich. Unersättlich im Wunsch, ließ er die Augen über die Massen hingleiten, welche sich auf den Fußwegen drängten, und ihm war, als sei er es, der ihre Herzen schneller schlagen lassen könnte. Keiner weiß vom andern, jeder birgt in sich die größte Fülle der Bitterkeit, des Lebensüberdrusses und der Armut, und Arnold hat die Macht, all ihre Fähigkeit auf ein Ziel zu richten, tätig nach außen werden zu lassen, was zerstörend im Innern wirkte, aber er rast an ihnen vorbei zu andern Sternen. Sie fuhren zurück gegen die Stadt. Arnold lud Hanka zum Tee ein. »Anna Borromeo hat mich längst gebeten, Sie zu ihr zu führen. Sie vermutet in Ihnen einen Philosophen.« Die Pferde gingen im Schritt, Dampf entstieg ihren Lenden, gleichwie auch von den Straßen der schwüle Dampf der Arbeit emporstieg. »Ah, Besuche und noch dazu Damen«, sagte Arnold im Vorzimmer der Borromeoschen Wohnung. Sie traten ein. Baron Valescott war da, dessen Mutter und zwei seiner Schwestern. Arnold stellte Hanka vor und wurde selbst mit den fremden Damen bekannt gemacht. Sechsundvierzigstes Kapitel Es wurde über ein Blumenfest gesprochen, das im Belvederegarten stattfinden und wozu der Kaiser und der ganze Hof kommen sollte. Der Leutnant Valescott hatte zu der Gelegenheit ein Festspiel mit lebenden Bildern gemacht und forderte Arnold auf, dabei mitzuwirken. »Es ist auch beschlossen worden, daß du dem Komitee beitrittst«, sagte Anna Borromeo. »Beschlossen worden?« »Ja, wir werden Sie einfach zu unserm Gefangenen machen«, sagte die Baronin. »Aber hauptsächlich sollen Sie mitspielen«, fügte Valescott hinzu. »Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht«, erwiderte Arnold verlegen. »Das ist überflüssig. Es genügt, daß Sie gut gewachsen sind. Sie sollen nur Figur machen.« »Also ungefähr das Beschwerlichste, was es gibt«, meinte Hanka trocken. Alle lachten, ausgenommen die ältere der Baronessen, deren kluges und etwas verdrossenes Gesicht sich bloß für einen Augenblick erhellte. »Ich glaube sogar, Sie müßten den Narziß geben«, fuhr Valescott eifrig fort. »Das Spiel behandelt nämlich die Sache vom Narziß in etwas modernisierter Form, ins Barock übersetzt. Kommen Sie doch dieser Tage zu mir, wir wollen darüber sprechen. Sie haben wirklich nichts weiter zu tun als eine Pose anzunehmen. Die Verse werden von einem Schauspieler gesprochen.« »Was sagen Sie dazu, Hanka?« fragte Arnold lachend. Hanka zuckte die Achseln. Plötzlich stand er auf und verabschiedete sich. Er wurde mit Kälte entlassen. »So schweigsam zu sein, das ist unbescheiden«, sagte Anna Borromeo, als er fort war. Arnold verabredete mit Valescott den Tag, an dem er kommen wollte. Gegen Abend schritt er seiner neuen Wohnung zu. Das Pflaster war rot vom Sonnenuntergang, auch der Staub in der Luft schimmerte farbig. Auf einmal blieb er stehen und starrte erschrocken einem Manne nach, der soeben an ihm vorübergegangen war; einen langen Bart und trübe, fast erloschene Augen hatte Arnold gewahrt; er glaubte, Elasser sei es gewesen. Rasch folgte er dem Menschen, konnte ihn aber nicht mehr einholen. Er blickte in die Hausgänge, schaute durch die Glastüren in die Läden, vergeblich. Nachdenklich blieb er im Menschengewühl stehen. Und plötzlich sah er die Erscheinung, zurückkehrend, zum zweitenmal, -- es war nicht Elasser; eine Ähnlichkeit hatte Arnold genarrt. Er setzte seinen Weg fort und erwog im Stillen einen Plan. Er suchte das nächste Postamt auf, schrieb eine Anweisung auf hundert Gulden und sandte sie an den Hausierer Elasser in Podolin. Er atmete auf, als er wieder die Straße betrat. Am nächsten Abend kam Hanka zu Arnold. In den saalartigen Zimmern waren überall noch Leute beschäftigt. Kostbare Gegenstände lagen umher wie im Laden eines Trödlers. »Sie treffen Anstalten, das Geschäft zu vergrößern«, meinte Hanka und machte einen Riesenschritt über eine flache Kiste. Arnold führte ihn durch ein halbdunkles Zimmer in einen vollständig finstern Raum und sagte: »Passen Sie auf.« Er drehte den Knopf dreier elektrischer Lampen auf und es entstand blendende Helle. In der Mitte des Gemachs stand auf breitem Postament der marmorne Antinous. »Wo haben Sie das Ding her?« fragte Hanka nach einigem Stillschweigen. »Es hat dem reichen Pottgießer gehört.« »Richtig, auch den hat der Krach zerschmettert. Sie haben es gekauft? Eine wertvolle Sache.« »Wie gefällt es Ihnen, Hanka?« fragte Arnold fast schüchtern. »Ganz gut. Sehr schön, -- vorausgesetzt, daß Sie keine Tendenz damit verbinden.« »Was soll das heißen?« »Ich meine, etwa Griechentum, Schönheit und so weiter.« Hanka ging mit seinem sonderbar stampfenden Schritt umher, hatte die Hände fest auf die Hüftknochen gestemmt und so schien alles an ihm in einer Art Bewegung, ausgenommen die Augen, die in eine eingebildete Tiefe starrten und zwei Ebenholzkugeln glichen. »Und wenn ichs täte --?« erwiderte Arnold. »Ich weiß nichts davon, aber wenn ichs täte --?« Hanka blieb stehen. »Es wäre nicht weiter schlimm«, sagte er. »Ich meine nur, damit haben wir nichts zu tun. Das ist alles Schwindel. Wir müssen unsere Ideale viel niedriger hängen. Es ist für uns schon Ideal genug, ein anständiger Mensch zu sein. Übrigens«, fügte er hinzu, mit einer eklen Mundbewegung, als ob seine Worte ihm bitter geschmeckt hätten, »wollen Sie wirklich ein lebendes Bild machen --, dort?« »Ich denke nein«, entgegnete Arnold. Hanka fing an zu rauchen und zu schweigen. Arnold stand am Fenster, und blickte auf die Statue. Hanka ging und Arnold blieb allein vor der marmornen Figur, aber wenn sie ihm gleich in Hankas Gegenwart belebt erschienen war, so erblickte er jetzt nichts anderes als den gemeißelten Stein darin. Er lauschte gegen die Straßen. Ein leises, unveränderliches Kochen, Surren und Zittern drang zu seinem Ohr und durchbrach die täuschende Stille. Dort war Leben, ewiges Wach-Sein. Ein unersättlicher Hunger erfüllte Arnolds Brust. Ohne Zögern hätte er all das Unbekannte an sich reißen mögen, anstatt hier zu sitzen und zu warten. Nicht Glück, nicht Befriedigung, nicht Ausfüllung der Stunden, nicht Freundschaft, nicht Wissenschaft war es, wonach dies Unersättliche Verlangen trug. Kein Wort konnte es benennen, kein Gedanke es umfassen. Es glich einem aufgesperrten Rachen, für den die Millionen eines Goldbergwerks nur ein verächtlicher Bissen, die Umarmung der Psyche kaum ein Tröpfchen Erquickung bedeutet hätte. Im Schmerz der Willensanstrengung oder im Rausch der Ahnung umhergetrieben, schien es ihm, als ob sein blindes Begehren die Welt ausfülle. Was ihn ehedem hatte erglühen lassen, erschien ihm nichtig, was er ehemals begehrt, bettelhaft. Zahllose Wünsche waren beschäftigt, ihm ein reizendes Wandelpanorama der Welt zu malen, dessen entzückter Betrachtung er sich hingab. Doch so oft der Sturm sich legte, woher kam es, daß aus irgend einer Ecke ein lauerndes Ungeheuer kroch, wie eine Spinne, deren feine Fäden das Herz umspannen und es kalt und lustlos machten? Am Tag darauf hatte Arnold mit Borromeo wegen der veränderten Anlage eines Kapitalsteiles zu reden. Er hatte Lust zu kühnen Unternehmungen; was er anpackte, ging den glücklichsten Weg. In der Kanzlei traf er den Oheim nicht. So wartete er bis zum Abend und ging dann in die Wohnung. Als er angepocht hatte und eintrat, standen Borromeo und Anna einander gegenüber. Beide waren blaß. »Verzeiht«, sagte Arnold und reichte die Hand. Frau Anna sah ihn mit einem durchbohrenden Blick ihrer glühendblauen Augen an, Borromeo lächelte dünn und leer. »Habt ihr zu sprechen?« fragte Anna Borromeo. Mit einem trägen Nicken gegen Arnold verließ sie das Zimmer. Arnold nahm eine Zigarette von der Schale und setzte sie mit nachdenklichen Geberden in Brand. Borromeo konnte zu dem Vorhaben Arnolds nicht seinen Segen geben. Mit halbgeschlossenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf ging er langsam auf und ab. Bisweilen hob er mit dem Handrücken den Bart unter dem Kinn empor und zog die fahlen Lippen zwischen die Zähne. Dann blieb er stehen, lauschte, öffnete die Türe, durch welche Anna gegangen war, und finster lag der große Raum des Empfangszimmers vor ihm. Dann ging er zur zweiten Türe, die er gleichfalls öffnete, aber nach kurzem Hinausstarren wieder schloß. Die Augen emporschlagend, mit regungslos hängenden Armen, im festgeschlossenen langen Gehrock stand er vor Arnold. »Du hast mir noch nichts von Podolin erzählt«, sagte er. Er hatte etwas ganz anderes unterdrückt, das ihm zu sagen näher lag. »Es hat sich nichts verändert«, antwortete Arnold. »Der Verwalter scheint mir nicht zuverlässig, Ursula wird alt. Ich möchte das Ganze losschlagen. Es ist ein Stein am Hals.« Borromeo starrte auf den Tisch, auf welchem Spielkarten verstreut lagen. Er nahm einen Pack in die Hand und zog einen König heraus, den er düster betrachtete. »Was denkst du dazu?« fragte Arnold. Borromeo schüttelte sanft den Kopf. »Ich kann nicht raten«, sagte er leise. »Ich bedürfte selbst des Rates. Warum willst du deine Heimat verkaufen?« Arnold blickte ihn aufmerksam an. Ein innerer Unwille erhob sich in ihm gegen die eisige Trauer dieses Mannes. »Ich bedürfte selbst des Rates«, wiederholte Borromeo. Erschrocken zuckte Arnold zusammen; doppelt erschrocken, als er den verehrenden, klaren, gläubigen Blick des Oheims auf sich ruhen fühlte. Er vermochte nichts zu sagen, doch war es ihm eine Sekunde lang zumute wie damals, als er in Verenas Hause in den Spiegel geschaut, um zu sehen ob sein Bild auch wirklich darin sei. Siebenundvierzigstes Kapitel Arnold träumte, er stehe auf einem gläsernen Feld und bei jedem Schritt, den er zu machen versuchte, rutschte er in eine glatte Furche zurück. Über diesen Bemühungen erwachte er und verspürte Kopfschmerzen. Er konnte nicht mehr einschlafen, machte Licht, nahm ein Buch und las. Während des Lesens faßte er den Plan, in der neuen Wohnung alle Bekannten und Freunde an einem Abend zu versammeln. Er beschäftigte sich mit der Zusammenstellung köstlicher Speisen und seine Phantasie schmückte im voraus die Räume. Antinous sollte eine Rosenguirlande über der Schulter tragen. Dann dachte er an Arbeit; es schien ihm lockend, viel zu wissen und durch Wissen zu herrschen. In der Tat ging er am Morgen zur Universität, um eine Vorlesung zu hören, schrieb fleißig mit und zwang seine widerspenstigen Gedanken in den Kreis des Gegenstandes. Zum Mittagessen ging er nicht nach Hause, obwohl er dort für sich hatte kochen lassen, sondern in ein Restaurant, welches in der Nähe der Oper lag. Es war ein sehr vornehmes und teures Haus, aber Arnold hatte Lust bekommen, gute und seltene Dinge zu essen. Solche Antriebe lagen für ihn in der Luft. Es machte ihm Vergnügen, einen Kellner zu beobachten, der vor ihm zusammenknickte wie ein Messerchen. Als er am Tisch saß, gewahrte er gegenüber an der entgegengesetzten Wand Maxim Specht und Beate. Specht grüßte mit einem nachlässigen kalten Neigen seines Kopfes. Zwei Diamantringe funkelten an seiner Hand, und eine erbsengroße Perle steckte in seiner Kravatte. Beate trug ein hellgrünes Tuchkleid in englischer Machart. Ihr Gesicht war außerordentlich bleich, müde, langgezogen und hatte den Ausdruck einer maskenhaften, kalten Anständigkeit. Als Arnold grüßte, lachte sie ihm einfach ins Gesicht. Specht schien innerlich zu kämpfen; er flüsterte mit Beate, nach einer Weile kam er herüber und drückte Arnold die Hand. Er zeigte eine boshafte Förmlichkeit in seinem Benehmen. »Es scheint Ihnen gut zu gehen?« sagte Arnold. Seine Miene suchte jede überflüssige Annäherung im voraus abzuweisen. »Ich bin jetzt Redakteur des Adelsblattes«, erzählte Specht und nahm mit einer leichten Verbeugung Platz. »Auch Sie haben viel Erfolg, wie ich höre«, fuhr er fort und legte den Kopf leicht fragend gegen die eine Schulter. »Sie haben vorteilhaft in bulgarischer Rente spekuliert, erzählt man sich.« Arnold legte seine Forelle auseinander und schabte das weiße Fleisch sorgsam von den Gräten. Er lächelte. »Übrigens muß ich Ihnen etwas mitteilen«, sagte Maxim Specht plötzlich in heiterer Belebtheit, »und es ist gut, daß ich Sie treffe. Eine ganz unheimliche Parallelgeschichte, wie Sie bald sehen werden. Ich hatte mich mit einer kleinen Schauspielergesellschaft verabredet. Wir wollten nach dem Theater im Stephanskeller essen und hatten ein separiertes Zimmerchen bestellt. Ich telephoniere am Nachmittag, und der Oberkellner nennt mir die Nummer des Zimmers. Das Theater ist aus, ich gehe hin, der Kellner, der mich sehr gut kennt, läßt mich vorbeigehen, und ich höre schon von weitem unsere Gesellschaft lärmen. Da passiert mir das Unglück, ich muß die Nummer des Zimmers vergessen haben, daß ich nun eine falsche Türe öffne und sehe, wen glauben Sie? Den jungen Baron Valescott und --« »Nicht weiter Specht!« rief Arnold herrisch und legte die Gabel auf den Tisch. Specht senkte die hochgewölbten Lider und sagte: »Namen sind verpönt, Sie haben Recht. Aber Sie verstehen mich hoffentlich. Ich sah später noch dieselbe Dame, dicht vermummt, in einem undurchsichtigen Schleier, es war Mitternacht, als sie gingen. Baron Valescott hatte sich beim Kellner erkundigt und war sehr aufgebracht über den dummen Irrtum, der mir passiert war. Ich dachte mir nur, Sie könnten hier ebenso erfolgreich den Wahrheitsmann machen wie damals Hanka gegenüber. Die Wahrheit ist eine sehr schöne Sache, besonders wenn man für sie einsteht ... Teufel, ich verplaudere mich, leben Sie wohl, auf Wiedersehn.« Arnold reichte ihm nicht die Hand. Er hatte die Eßlust eingebüßt, zahlte und ging. Zorn gegen Specht erfüllte ihn, Unschlüssigkeit, Trauer, allgemeine Tatensehnsucht, aber es dauerte nicht lange, so senkte sich ein wohltätiger Schleier über das unharmonische Wogen der Gefühle. Es war vier Uhr und er entschloß sich, zu Valescott zu gehen. Das Haus, welches die Familie bewohnte, lag im Mittelpunkt der Stadt und war einer jener alten verwitterten Paläste, deren ursprüngliche Majestät, in eine enge, finstere, wurmartig gekrümmte Gasse verdrängt, sich ganz in Melancholie verwandelt hat. Das Zimmer, in welches Arnold geführt wurde, war sehr hoch, hatte rot tapezierte Wände und eine stuckverkleidete Decke, von der ein altmodischer, kostbarer Kronleuchter herabhing. Der Diener kam zurück und sagte, der Herr Baron müsse jeden Augenblick zurückkommen, er habe hinterlassen, Herr Ansorge möge bestimmt auf ihn warten. Arnold nickte. Er stand am Fenster und blickte ruhig auf die einsame Gasse hinab. Während er bemüht war, einem bestimmten Gedanken Einlaß in sein Gehirn zu verwehren, ertönte ein Klavier im Nebenraum und ein wiegender Gesang, sehr gedämpft durch die geschlossene Türe und die dicke Portiere. Arnold ging zur Tür und lauschte. Es war eine Mädchenstimme, welche die Tanzweise begleitete. Lächelnd schob er die Portiere beiseite, drückte auf die Klinke, öffnete behutsam und steckte den Kopf vorsichtig in die Spalte. Die ältere Valescott saß am Klavier und spielte mit einer müden, doch rhythmisch schaukelnden Bewegung des Körpers. Das brünette Haar, im griechischen Knoten lose gesteckt, hing tief über den Nacken und gab der Gestalt von rückwärts etwas Nachlässig-Verträumtes. Die andere Schwester und noch ein sehr junges Mädchen tanzten auf dem Teppich in der Mitte des Zimmers. Sie hielten einander zag bei den Händen. Die ältere der beiden war im Straßenkleid; die jüngste trug ein Kostüm, kurzes lila Röckchen, zu den Knieen reichend, violette Strümpfe und seidene Schuhe von der gleichen Farbe. Das braune Haar war mit violetten Stiefmütterchen bekränzt, und in der Hand trug sie einen Strohkorb, dicht gefüllt mit denselben Blumen. Diese erblickte zuerst Arnolds Kopf in der Türe. Sie schrie und lief davon. Die Spielerin erhob sich erschreckt, aber bald lachte sie mit der zweiten Schwester im Verein. »Kommen Sie nur ganz, da Sie doch einmal eingebrochen sind«, sagte die mittlere, welche die gewandteste war. Die Älteste blieb still mit rückwärts verschränkten Armen am Flügel stehen. In ihrem Gesicht lag Sinnlichkeit und Selbstsucht, aber ohne Frohsinn. Sie schien weder leichtsinnig noch ernst. Ihre schlanke Gestalt machte den Eindruck der Gesundheit, die aber durch irgendwelche einander entgegenwirkenden Kräfte gestört wurde. Ein seltsames Gemisch von Haltlosigkeit und dumpfem Eigensinn war an ihr auffallend. Arnold drückte beiden die Hand und sagte: »Nun weiß ich noch nicht einmal Ihre Namen.« »Raten Sie«, sagte die Älteste fast streng. Er riet, -- stellte sich ein wenig verschmitzt und verzweifelt, bis die Mädchen ihm zu Hilfe kamen. Felicia hieß die älteste, Dora die zweite und die jüngste, die eben fortgelaufen war, Anastasia. »Sind Sie denn allein zu Hause?« fragte Arnold. »Mama und Franz wurden zu Tante Rochlitz gerufen«, antwortete Dora. »Jedenfalls müssen Sie auf Franz warten. Es ist sonst nicht üblich, auf diese Art Herrenbesuche zu empfangen«, -- sie lachte, -- »aber bei Ihnen wollen wir eine Ausnahme machen.« Felicia, die sich wieder ans Klavier gesetzt hatte, schlug leise einen Mollakkord an. »Sind Sie eigentlich schon lange in Wien?« fragte Dora, indem sie Platz nahm. »Erzählen Sie uns doch etwas. Wir hören gern Geschichten.« »Geschichten weiß ich nicht«, erwiderte Arnold. »Dann erzählen Sie Wahrheiten oder Lügen oder Träume.« Dora lachte. »Es ist sehr schwer, nicht zu lügen, wenn man Träume erzählt«, sagte Arnold. Er stockte, schwieg und sah geradeaus. Ein sinnendes und sogar ein wenig schwärmerisches Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Das gerade schien die Mädchen wunderbar zu berühren. Dora blickte voll ernster Aufmerksamkeit in sein Gesicht. Felicia hatte ein paarmal kurz über die Schulter zurückgeschaut, nun legte sie die Hände in den Schoß und lauschte. »Ich erinnere mich«, begann Arnold, »einst hatte ich einen sonderbaren Traum. Es waren zwei Pferde da ... grüne Pferde. Auf einer Mauer stand geschrieben: diese Pferde können sprechen. Eine Glocke hing über der Mauer und sobald die Glocke tönte, machte das eine Pferd sein Maul auf und sagte: wer reiner Hände ist, mehrt die Kraft. Ich fürchtete mich, mir grauste und ich lief davon. Aber damals verachtete ich Träume.« »Wo waren Sie denn da?« fragte Dora. »In Podolin. Dort ist meine Heimat. Es ist ein schmuckloses Land, eine Ebene, Wald, ein Hügel, ein schmutziger Fluß. Aber wenn ich zurückdenke --! Einmal, ich war siebzehn Jahre alt, passiert folgendes. Ich liege im Wald, weitab vom Weg in der Nähe der wilden Kapelle, wie sie genannt wird. Ein ganz altes Weiberl kommt, schaut sich um, sieht mich aber nicht und gräbt etwas in den Boden. Ich denke nichts dabei, niemals dacht ich über etwas nach. Ein paar Tage später heißt es, der Waldhofbäuerin ist die Mutter Gottes im Traum erschienen und hat ihr angezeigt, daß bei der wilden Kapelle ein wundertätiger Rosenkranz vergraben ist. Am Sonntag strömen Tausende aus allen Dörfern hinaus, die bucklige alte Bäuerin voraus. Ein schreckliches Gedränge entsteht bei der Kapelle, die Alte betet, dann gräbt sie und gräbt mit bloßen Fingern die Erde, die tausend Männer, Weiber und Kinder knieen hin, weinen, beten und schluchzen und graben ebenfalls mit den Händen in den Boden, als meine Alte ihren gefundenen Rosenkranz in die Luft hält. Hunderte fallen über sie her, reißen ihr die Kleider vom Leib, denn sie ist jetzt eine Heilige, und jedes will seine Reliquie haben. Die rohesten Bauern küssen sie, heulen und sind zerknirscht. So ein Land ist das mit solchen Menschen.« Die Mädchen schwiegen. Felicia hatte sich umgewandt, in vorgebeugter Haltung blickte sie anscheinend ruhig zu Boden. »Mademoiselle Dora!« rief eine krähende Stimme vom Flur. Dora erhob sich. »Die Französin«, sagte sie geringschätzig und ging hinaus. Arnold blickte Felicia an. Er trat vor sie hin und fragte: »Warum spielen Sie nicht?« »Was lieben Sie?« entgegnete das junge Mädchen, indem es ihn mit prüfenden Augen ansah und die linke Hand rückwärts auf den Haarknoten legte. Auf einmal hatte Arnold sein Gesicht herabgebeugt, und sie küßten einander hastig wie Verbrecher. Arnold blickte trüb vor sich hin. Achtundvierzigstes Kapitel Valescott und die Baronin traten mit Dora ins Zimmer. Der Leutnant zog Arnold sogleich beiseite und fragte ihn, wozu er sich entschlossen habe. Als Arnold seine Einwilligung gab, zu spielen, drückte er ihm die Hand. Der Diener kam mit zwei Karten auf einem Bronzeteller. Die Baronin sagte, sie lasse bitten. Dann forderte sie mit anmutiger Handbewegung Arnold auf, ihr in das Empfangszimmer zu folgen. Dort begrüßte sie die beiden Besucher, einen Herrn von Gröden und den alten Baron Drusius. Der Tisch zum Tee war gedeckt. Die beiden jungen Mädchen saßen nebeneinander. Drusius knackte wie immer mit seinen Fingern. Dora starrte wie verzaubert auf seinen riesigen Kehlkopfapfel, der sich beim Sprechen auf und abbewegte. Herr von Gröden, der etwas beleibt war, ein dickes, rundes Gesicht und freundliche, höflich-aufmerksame Augen hatte, wandte sich zuvorkommend an Arnold. »Herr Ansorge, -- wenn ich recht verstanden habe --?« sagte er. »Haben Sie Verwandte dort oben in Mähren in ... Podolin?« »Nein, aber ich selbst bin dort zu Hause«, erwiderte Arnold. Herr von Gröden räusperte sich. »Ich war drei Jahre lang Gerichtsadjunkt in der Nähe, in Lomnitz, Sie werden das Nest kennen.« »Ja, es ist ein altes Dorf«, erwiderte Arnold. »Gott verzeih mir«, fuhr der junge, behagliche Mann mit einem Aufschlagen seiner Augen fort, »es war eine schreckliche Zeit. Nichts als Bauern und Juden und langweilige Kommissionen. Sagen Sie, Herr Ansorge, Sie erinnern sich doch an die Affäre mit dem Juden Elasser --? Sind Sie es vielleicht selbst, der damals, wie soll ich sagen, so starken Anteil daran genommen hat? Sind Sie es selbst?« »Jawohl«, erwiderte Arnold. »Das ist mir ein Rätsel«, fuhr Herr von Gröden mit aufrichtigem Erstaunen fort. »Es ist ja schon ziemlich lange her, ich erinnere mich nicht mehr genau, ein Lehrer dort namens ... namens ...« »Specht?« »Ganz recht! Specht! Dieser Specht hatte mir von Ihnen erzählt.« Alle blickten auf Arnold. »Warum ist Ihnen das ein Rätsel?« entgegnete Arnold, der sich ein wenig verfärbt hatte. »Es handelte sich doch um öffentlichen Raub --?« Er heftete den Blick streng und erwartungsvoll auf den jungen Mann. »Ja, ja, ja! ganz gewiß, natürlich«, sagte Herr von Gröden bereitwillig, »aber immerhin, das verrottete jüdische Gesindel muß ein wenig gepeitscht werden. Sie müssen mir doch zugeben, daß diese Leute nicht unserer differenzierten Empfindung zugänglich sind. Das Mädchen wird es im Kloster tausendmal besser haben, als in dem Stall, in dem sie aufgewachsen ist. Der ganze Lärm, den man deshalb aufgeschlagen hat, war doch nur eine verabredete Komödie. Sie müssen doch zugeben --« »Ich gebe nichts zu«, unterbrach ihn Arnold. »Wie können Sie so sprechen, Sie, ein Jurist, ein Diener der Regierung? Als ich zum erstenmal davon hörte, ich glaubte zu sterben vor Scham. Ich sollte das gewiß nicht sagen, denn solche Worte sind eben Worte. Aber wie können Sie es entschuldigen? Kein Mensch darf das wagen, der selbst darauf angewiesen ist, daß man gerecht gegen ihn ist. Denken Sie doch nach. Alles beiseite gelassen, Jude und Kloster, Ihre Verachtung, oder Ihre Bequemlichkeit zu urteilen, so bleibt doch eine so ungeheure Versündigung übrig, daß kein Gedanke sich daran gewöhnen kann. Ich konnte damals nichts davon begreifen, die ganze Welt brach zusammen wie unter einem furchtbaren Fußtritt. Man raubt ein Kind, man will es zwingen, die Religion zu verlassen, die mit ihm geboren ist, was für eine Religion, das ist doch gleichgültig, und nichts geschieht, keine Gerechtigkeit gibt es, das Recht wird böswillig erstickt. Und Sie reden von Komödie!« Arnold hatte den Kopf erhoben, und der Ernst seiner Worte war mit dem Gefühl der Erleichterung verbunden, welche ihm dieser Ausbruch verschaffte. Drusius klopfte ihm auf die Schulter. »Wacker«, sagte er, »ein wackeres Wort. Ich hab es immer gesagt, der hat Fleisch und Blut. Redet wie der Teufel!« Er lachte, und dies Lachen wirkte befreiend auf die unbehagliche Stimmung der Baronin. Sie reichte Arnold die Hand über den Tisch und sagte mit verbindlichem Lächeln: »Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen.« Herr von Gröden antwortete nicht; nach einiger Zeit erhob er sich und nahm ziemlich verstimmt Abschied. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte die Baronin zu ihren Töchtern, »die Oper beginnt um halb sieben. Herrn Ansorge macht es vielleicht Vergnügen, mit in unsere Loge zu kommen --?« Arnold verbeugte sich dankend, und sagte, es würde zu spät werden, bis er sich umgekleidet hätte. Aber der Leutnant drängte ihn und erbot sich, ihn zu begleiten. Valescott plauderte auf dem Weg durch die Straßen von allem möglichen. Er war äußerlich von sehr angenehmer Wirkung, hübsch, außerordentlich gepflegt und besaß eine angeborene Liebenswürdigkeit. Schließlich erzählte er Weibergeschichten. »Am liebsten hab ich mit verheirateten Frauen zu tun«, sagte er kühl und wissenschaftlich, »es ist oft gefährlich, gewiß, aber in den meisten Fällen bequem. Sie werden ja die Erfahrung selbst gemacht haben. Der Aufwand an Gefühl steht in einem vollkommen richtigen Verhältnis zu dem, was an Gefühl verlangt wird.« Arnold berührte die Schamlosigkeit dieses Geständnisses erstaunlich. Er blieb plötzlich stehen, als ob er etwas erwidern wollte. Er dachte an das heutige Gespräch mit Specht und den Rücken hinab rieselte etwas wie ein kalter Wassertropfen. Aber er schwieg. Es war noch nicht lang genug her, daß er eine entrüstete Rede vom Stapel gelassen hatte. Er hatte Eindruck damit gemacht. Jemand hatte ihm auf die Schulter geklopft und hatte gesagt: ein wackeres Wort. Entrüstung, Zorn, Empörung -- kleine Aderlässe für das überströmende Herz. Er schwieg, er schwieg. Man konnte nicht schon wieder, man konnte nicht zweimal hintereinander den Moralisten machen. Man wäre lächerlich erschienen, und nur nicht lächerlich werden, alles nur das nicht. Aber Arnold war aufrichtig betrübt. Er zog mit großer Eile seinen Frack an, um keine Zeit zu verlieren, aber er war so betrübt, daß er falsche Knöpfe in das Hemd steckte und sich trotz des Eilens noch zwei Minuten lang niedersetzte, um nachzudenken. Gegen das Ende des ersten Aktes kamen sie in die Oper. Als Arnold seine Blicke über die Reihe der geschmückten Damen schweifen ließ, die an den Brüstungen der Logen saßen, empfand er wieder jenes berauschende Machtgefühl eines Menschen, der zu besitzen erhoffen kann, was immer sein frechster Traum umspannt. Er lernte Leute kennen, welche kamen, um die Baronin während der Pausen zu besuchen. Er bemerkte wohl, daß er Eindruck machte. Er mühte sich, herauszufinden, welche Eigenschaften es denn eigentlich seien, durch die er eroberte. Um nicht zu verlieren, was ihm einmal gehörte, beobachtete er sich und hielt sich fest im Zaum. Daß er sich gegen Felicia hatte hinreißen lassen, bereute er, denn er fand es unwürdig, mit einer lebendigen Seele zu spielen. Aber sie, sonderbar, auch sie zog sich zurück und das ärgerte ihn. Er hatte ihr imponiert durch seine Heiterkeit und eine gewisse liebenswürdige Vertieftheit, die sie nie zuvor an irgend einem Mann bemerkt. Aber ihr Herz war ohne Halt. Arnold trank von seinem Becher. Die Tage erwiesen sich als zu kurz, die Nächte ebenfalls. Wie reich erschien ihm das Leben! Er geriet in Bestürzung, wenn er überlegte, wie wenig auch bei der günstigsten Fügung von diesem Reichtum für ihn abfallen konnte. Gegen Ende der Woche schrieb ihm Borromeo wegen der schwebenden Kapitalsangelegenheit. Er bat Arnold in sein Bureau. Arnold verschob es zwei Tage lang, dann nahm er einen Wagen und fuhr hin. Durch einen düstern Flur kam er in ein großes, gewölbeartiges Zimmer mit plumpen Möbeln und hohen Regalen, in denen die Bücherreihen pedantisch geordnet standen. Unbefangen setzte sich Arnold in einen lederbezogenen Sessel, Borromeo gegenüber, dessen Bart heute besonders steifgebügelt schien, während die Lippen fahl wie Sand waren. Arnold fühlte seine Stärke, seinen Frohsinn, sein Vertrauen in dem finsteren Gewölbe doppelt. Da geschah das Grausige, daß nach den ersten Worten, die Arnold geredet, ein heftiger Donnerschlag ertönte. Arnold hatte nichts von einem Gewitter am Himmel gesehen, in Sekunden mußte sich das Wetter geballt haben. Er hörte Spechts Worte wie ein Echo des Donners in seinem Innern: »Eine unheimliche Parallelgeschichte, wie Sie bald sehen werden ...« Auch damals war ein Gewitter, als ich zu Hanka kam, dachte Arnold. »Sechs Prozent ist ja eine sehr hohe Verzinsung«, sagte Borromeo, nachdem er flüchtig gegen das Fenster geschaut und dem Verrollen des Donners nachgelauscht hatte, »aber bedenke, was du dabei riskierst. Ich habe mich erkundigt, -- man zuckt die Achseln.« Arnold nahm sich zusammen, fest zusammen, wie selten zuvor. Soll ich reden? dachte er und wußte doch schon, daß er nicht reden würde. Er blickte auf den schwarzen Bart Borromeos und erwiderte: »Die Konjunktur ist aber günstig. Das Unternehmen hat jetzt gute Aussichten. Das übrige ist Sache des Glücks.« Damit war der Betrug entschieden. Die Elemente hatten keine Macht mehr über Arnold. Neunundvierzigstes Kapitel Kaum hatte Natalie Osterburg von der Veranstaltung des großen Blumenfestes gehört, als sie, von einer schwindelnden Aufregung ergriffen, alles Denkbare unternahm, um eine Rolle dabei spielen zu dürfen. Es gelang ihr, der Fürstin-Protektorin vorgestellt zu werden, ein paar leutselige Worte zu erwischen und beglückt eilte sie nach Hause. Sie sollte zusammen mit zwei adligen Damen ein Verkaufszelt für Zuckerwaren erhalten. Noch die Türe in der Hand, rief sie atemlos: »Petra, denk dir --!« Und sie erzählte. Aber Petra zeigte sich nicht besonders gerührt von den Erfolgen der Schwester. Sie hielt Natalie vor, daß es unrecht sei, bei der täglich schlimmer werdenden Krankheit der Mutter an Vergnügungen zu denken. Petra hatte Pflichtgefühl. Natalie hatte kein Pflichtgefühl. Sie war von allen Wärmegraden abhängig, welche die Luft der Gesellschaft erzeugt. Ihre Ehe, ihre Kinder, ihr Haushalt, alles war für sie eine niedliche, bald unterhaltende, bald langweilige Spielerei. Ihre Sinne waren jetzt nur auf das Blumenfest gerichtet. Für nichts anderes hatte sie Teilnahme. Sie war nur besorgt, ob das Wetter schön bleiben werde, und jeden, bis zum Bäckerjungen und zur Milchfrau ersuchte sie um ausführliche Meinung darüber. Sie bezog das ganze Weltall auf das Gelingen ihrer Wünsche. So rückte der Tag heran. Die Schneiderin kam um elf Uhr morgens und sofort begann Natalie sich anzukleiden. Es war ein Empirekleid aus blauer Seide, kunstvoll mit Veilchen bestickt. Es floß wie Paradieseshauch um die zarten Glieder Natalies. Um zwölf Uhr kam die Friseurin. Sorgsam zusammengesteckte Veilchen wurden in das dunkle Haar verwoben. Um den Hals legte Natalie eine goldene Kette, an welcher über der Brust ein rundes Medaillon mit einem schönen Edelstein befestigt war. Dann die langen Handschuhe, deren Zuknöpfen eine Viertelstunde dauerte, und so, blauseidene Schuhe und blauseidene Strümpfe an den Füßen, trat Natalie in das Krankenzimmer der Mutter, wo ihr Mann und Petra mit Kartenspielen beschäftigt waren. Frau König lag im Bette und trank Sauerstoff aus einem großen Ballon, welchen die Wärterin hielt. Sie ließ beim Eintritt Natalies das Saugrohr sinken und ihr Gesicht wurde durch ein zärtliches Lächeln nicht verschönt, sondern entstellt. »Natalie, mein Kind, du gehst zum Vergnügen. Recht hast du«, sagte sie, und ihre Stimme glich einem rauhen Krächzen. »Auch ich war vergnügt in deinem Alter. Und du, Petra, mein Kind, wirst zu Hause bleiben bei deiner armen Mutter? Recht so. Sie ist ein philosophisches Kind, meine Petra. Sie war immer überlegt und taktvoll.« »Sprich nicht so viel, Mama«, sagte Petra stirnrunzelnd. Natalie stand beschämt und ärgerlich da wie ein Sänger, der bemerkt, daß er vor tauben Ohren singt. »Glaubst du, daß das Kleid zu tief ausgeschnitten ist?« fragte sie ihren Mann. »Meine liebe Natalie«, erwiderte Osterburg rauflustig, »ich habe andere Sorgen, das kannst du mir glauben. Ich weiß nicht, ob irgend ein Mensch in der Welt je solche Schmerzen gelitten hat wie ich --« Er rieb sein Knie. »Du bist eine leichtsinnige Frau«, fuhr er wütend fort, »ich traue mich nicht eine Zigarre zu kaufen und du --« Alle starrten ihn entsetzt an. Er schwieg zerknirscht, beobachtete einen Augenblick die Wärterin und begann plötzlich französisch zu reden, wobei jedoch das Wort #alors# die Hauptrolle spielte; mehr war kaum zu verstehen. Frau König verfolgte mit stillem Haß dies Gespräch. Sie glaubte weder an ihre Krankheit noch glaubte sie, daß sie je würde sterben müssen. Daß sie so liegen mußte und Sauerstoff atmen, schrieb sie einem Zusammenwirken boshafter Umstände zu, und sie haßte die eigenen Kinder, wenn sie ihr allzudeutlich zeigten, was es heißt, mitzuleben. Es gab nur einen Menschen, dem sie Vertrauen entgegenbrachte, das war der Arzt. Wenn sie sich in seiner Gunst festsetzte, so glaubte sie den Tod machtlos. Krampfhaft klammerte sie sich an das Leben wie sie es verstand: daß man in der Frühe gemütlich Kaffee trank, dann die Klatschereien hörte, mit Behagen beim Mittagstisch saß, nachmittags in die Geschäfte oder in den Prater fuhr, abends wohlgelaunt im Kreis der Familie sich unterhielt, um dann zehn Stunden fest und tief zu schlafen, zwei Gläser mit Wasser auf dem Nachttisch. So hätte sie es gern ein paar tausend Jahre lang getrieben. Mit klopfendem Herzen setzte sich Natalie in den Wagen und gelangte noch zu früher Stunde in den festlich geschmückten Park des Belvedere-Schlosses. Befangen blickte sie umher. Sie sah nicht den blauen Himmel, nicht das grüne Laub, nicht die Blumenkränze, die sich von Baum zu Baum spannten, nicht die Wasserkünste, die langen Reihen der Verkaufszelte, die neugierigen Menschen; ihr war alles ein unbefriedigender Spiegel für ihre eigene geschmückte Person, und sie lächelte, lächelte wie im Schlaf, wußte kaum, daß sie ging, wo sie stand, was sie sprach und was zu ihr gesprochen wurde. Ihr kleines Herz war leicht und lustig, und nicht mehr sah daraus das gefesselte Seelchen wie durch Gitterfenster in die Welt. So hätte es auch Natalie gern tausend Jahre lang gehabt. Sie trank braunen, eisgekühlten, süßen Kaffee und weißschaumige Torte, beantwortete mit demselben inhaltlosen, seligen Lächeln die Fragen eines jungen Adeligen, der wie ein Backfisch aussah und eigentlich auch nichts anderes war. Sie verkaufte eine Nichtigkeit und erhielt eine Banknote dafür. Anna Borromeo kam, um Natalie zu begrüßen. Sie hatte eine Glückslotterie zusammen mit zwei Hofschauspielerinnen. Sie trug ein Kleid, weiß wie Jasmin, mit schweren, griechischen Falten, über den Hüften durch einen kostbaren mit fünf Smaragden besteckten Gürtel zusammengehalten. Das rotgoldne, kronengleiche Haar gab der Gestalt etwas Königliches, das durch das bleiche Gesicht und den bleichen, unter bläulichen Blutgefäßen vibrierenden Hals verstärkt wurde. »Wo ist Herr Ansorge?« fragte Natalie und ihr neugieriges Kindergesicht drehte sich mit einem Ausdruck der Verzagtheit und des Neides der schöneren Frau zu. Anna Borromeo deutete auf einen Seitenweg, wo Arnold im Gespräch mit den Valescotts stand. Er verbeugte sich aus der Ferne vor Natalie. Gequält musterte Natalie die beiden Valescottschen Damen, deren einfache Kleidung sie mit Besorgnis erfüllte. Arnold kam herüber und sagte: »Sie sind schön, Frau Natalie«, und diese Worte genügten, sie zur Zufriedenheit und Menschenliebe zu stimmen. Sie versuchte auch nicht, etwas dagegen einzuwenden, sondern wurde rot bis zu den Schultern herab. Bald war ihr rosenbekränztes Verkaufszelt dicht umdrängt. Gräfinnen, Fürstinnen kamen, mit Natalie ein freundliches Wort, einen Gruß zu tauschen, ein Erzherzog blieb stehen und ließ sich die anmutige Dame vorstellen, junge Kavaliere näherten sich dienstbeflissen. Sie sprühte von Geist; die Triumphe betäubten ihr Herz. Sie kam sich vor wie eine fremde Prinzessin, die, lange verkannt, endlich die ihr gebührenden Ehren empfängt. Drei Musikkapellen spielten, auf drei Plätze des Gartens verteilt. Sich auf den Zehen wiegend, lauschte Natalie entzückt einem Walzer, als sie unter dem Menschenstrom, der sich heranwälzte, ihren Mann bemerkte, dessen Augen hastig unter den Zeltdächern umherblickten. Dieser düstere, unheilvolle Blick ihres Gatten berührte wie ein eisiger Anhauch Natalies Stirn und Wangen. Sie hatte vollständig vergessen, daß sie mit diesem Menschen verheiratet war, und ihn gerade jetzt zu sehen, war ihr wie ein Peitschenschlag. Als Osterburg sie gewahrt und sich zu ihr durchgedrängt hatte, sagte er: »Natalie, komm nach Hause, deine Mutter ...« Natalie seufzte leise und schwer. Ihr war, als würde sie plötzlich blind vor Schrecken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie rührte sich nicht von der Stelle. »Du mußt kommen«, drängte Osterburg, während er zu gleicher Zeit neugierig und begehrlich um sich blickte. »Die Mutter hat einen furchtbaren Anfall ...« »Es ist sicher nicht ärger als sonst«, erwiderte Natalie vorwurfsvoll. »Nur noch bis der Kaiser kommt, laß mich hier.« Osterburg hätte sehr gern eingewilligt, denn er fing an, mit dem festlichen Treiben sich zu befreunden und zu vergessen, was ihn hergeführt. Aber Natalies erwachtes Gewissen rief. Mit zitternden Händen warf sie ihren Umhang um die Schultern. In ihrem verwirrten Herzen zürnte sie der Mutter. Eifrig begegnete ihnen Arnold auf einem der Wiesenwege, die schneller zum Ausgang führten. »Wohin? wohin?« rief er. Natalie schluchzte wie ein Kind. Arnold schaute Natalie bestürzt nach. Dann bahnte er sich durch die immer dichter werdende Volksmenge einen Weg zum Zelt der Valescottschen Damen, welche Lose feilboten, und zwar kam auf alle Lose nur ein einziger Treffer, eine goldene Chrysantheme. »Was zahlt man für ein Los?« fragte Arnold, vor das Zelt tretend. »Das steht bei Ihnen«, erwiderte Dora. Er warf fünf Gulden auf das Brett und zog lachend. Es war nichts. Zum zweiten und dritten Mal, ohne Erfolg. Er entnahm einen Hundertguldenschein der Brieftasche und wählte dafür zwanzig Lose. Von allen Seiten kamen Neugierige und stellten sich hastig drängend in engem Halbkreis auf. Hinter den Zelten wurden die Damen des Festes und mehrere Herren sichtbar. Anna Borromeo verlor keine Bewegung Arnolds aus den Augen. »Ich habe kein Geld mehr«, sagte Arnold und blickte sich um. »Aber Kredit, so viel Sie wollen!« rief Dora. Er nahm lachend zwei Hände voll Lose und schrieb einen Schuldzettel über fünfhundert Gulden. »Bravo Narziß!« rief Valescott, der ebenfalls zwischen die Zelte getreten war; die Damen klatschten in die Hände, und einige waren ihm behülflich, die Röllchen zu öffnen. Die Leute drängten sich näher. Arnold griff nach beiden noch gefüllten Schalen, schwenkte sie in den Armen und warf den leicht fliegenden Inhalt über die Köpfe der Leute hinweg. Unzählige Hände streckten sich aus, und in beängstigender Kreiselbewegung drehte sich die ganze Masse um sich selbst. Mitten in das tolle Wesen erschallte der Ruf: »Der Kaiser! Der Kaiser!« Die Musikkapellen traten zusammen und spielten die Hymne, Soldaten schoben die Menge auseinander, und es bildete sich eine Gasse, durch welche von fern der Kaiser herangeschritten kam. Ein Schauer fuhr Arnold durch den Körper. Wie in einem früheren Dasein sah er sich selbst, mit törichten Erwartungen auf die damals so ferne Gestalt des Monarchen blickend. Nun stand der Fürst kaum fünf Schritte weit, nickte lächelnd und ging vorüber, durch das schweigende Volk. Es wurde Abend. Auf der Balustrade am oberen Ende des Gartens war Feuerwerk. Die Buden wurden geschlossen, und die vornehme Welt versammelte sich im Schloß, um die Tänze und lebenden Bilder zu sehen. Arnold stand unter den Bäumen und blickte still in den Lichterglanz des Gartens. Hier war es dunkel, und er wollte ein wenig zu sich selbst kommen. Aus der Ferne kam das alberne Klappern der Musik und das Geschrei der Menschen, des »Volkes«, wie Baronin Valescott bedeutsam sagte. Arnold zuckte zusammen. Zwei Arme hatten ihn von rückwärts umfaßt, und eine Stimme flüsterte: »Schon lange, schon lange lieb ich dich.« Als er sich umwandte, ließen ihn die Arme los, ein weißes Kleid rauschte durch das Laub, die Gestalt wandte sich noch einmal um und an einem goldenen Gürtel blitzten Smaragde im Schein einiger verirrter Lichtstrahlen. Arnold senkte den Kopf und blieb gedankenlos lächelnd stehen. Wohl ahnte er, wer ihn umfangen hatte, doch er erstickte das Nachdenken. Denn sonst hätte er niederstürzen müssen ins Gras, um Gott zu bitten, daß er ihn flüchten lasse oder die Seele in einen stärkeren Körper presse. Er hob seine Augen eine Sekunde lang demütig zum Himmel. Fünfzigstes Kapitel Die Tage schlichen gleichmäßig vorüber. Arnold machte viele Besuche, aber selten vermochte ihn ein Gespräch zu fesseln. Ein paarmal suchte er Hyrtl auf, der ihn liebte und ihn auf jede Weise an sich zu binden suchte, aber der kränkliche Mann erregte seinen Widerwillen. Er nahm an den Zusammenkünften einer Anzahl von Schauspielern und sonstigen Theaterleuten teil, trieb sich nächtelang umher und machte sich die unwahre Lustigkeit dieser Menschen zu eigen. Er übte wie jeder Kritik an jedem und urteilte schlecht über den, dem er soeben vertraut. Seine tieferen menschlichen Eigenschaften, seine Entschiedenheit, die witzige und lebhafte Art, durch die er im Sprechen selbst das Gewöhnliche zu adeln schien, verschafften ihm Ansehen und er wurde für eine ursprüngliche Natur erklärt. Aber auf dem Gipfel seiner Erfolge schüttelte er diese Anhänger von sich ab und kehrte auf die reinlichere Schwelle der guten Gesellschaft zurück. Er wollte unterbrochene Arbeiten vollenden, aber sein Herz war unruhig wie eine Maus in der Falle. Wünsche traten an die Stelle der Pläne. Leere Verabredungen trieben ihn auf, er folgte ihnen gehorsam, ging hin, war gesprächig, unternehmungslustig, teilnehmend und sorglos. Aber die Not wurde größer; er machte Reisepläne und verwarf sie wieder in der Befürchtung, Wichtiges zu versäumen. Die Welt lockte ihn, sobald er die Augen schloß; offenen Auges stieß sie ihn ab. In seinem Innern entstanden Zänkereien wie unter den Parteien eines Hauses. Ungesammelt begann der Tag, ungesammelt endigte er. Jede Kraft erwies sich nun als verderblich, auch die der Selbstbeherrschung, denn sie nötigte zur Heuchelei. Mitten in einer Nacht erhob sich Arnold aus dem Bett und begann den Aufenthalt in diesen Räumen widerwärtig zu finden. Er beschloß Hanka aufzusuchen, den er seit Wochen nicht gesehen hatte. Kaum war es Tag geworden, so führte er seinen Vorsatz aus. Im Hotel erhielt er die Auskunft, daß Hanka nicht mehr dort wohne, sondern ein Logis im dritten Bezirk bezogen habe. Er nahm einen Wagen und fuhr hin. Die Köchin sagte, der Herr Doktor schlafe noch. »Wecken Sie ihn nur auf«, erwiderte Arnold, »es ist elf Uhr. Sagen Sie ihm, ein Freund sei da.« Hanka räkelte sich im Bette, als Arnold eintrat, und fragte: »Nun, mein Teurer, was führt Sie zu mir?« »Ich wollte mich nur überzeugen, ob Sie noch am Leben sind«, antwortete Arnold und nahm neben dem Bett Platz. »Weshalb machen Sie sich unsichtbar? Warum sind Sie nicht zu mir gekommen?« Hanka richtete sich ein wenig empor und stützte den Kopf auf den Arm. »Es ist kein gutes Zeichen für Ihr geistiges Wohlbefinden, daß Sie gerade mich suchen«, sagte er. »Unsinn«, versetzte Arnold. »Stehen Sie auf und reden wir vernünftig.« Hanka lachte, sprang aus dem Bett, streichelte mit kläglichem Gesicht seine dünnen Beine und fuhr schlotternd in die Unterhosen. »Was treiben Sie?« orgelte seine tiefe Stimme. »Haben Sie noch immer so großen Lebensappetit?« Arnold deutete auf ein Ölbildnis an der Wand und fragte: »Wer ist das?« Hanka wusch sich und entgegnete prustend: »Das ist ein Mann, der früher oder später wahnsinnig werden wird.« »Und deshalb hängt sein Bild hier?« »Jawohl. Für den Einbeinigen ist es eine Erquickung, jemand zu sehen, der gar keine Beine hat. Darauf beruht alle wahre Zufriedenheit.« Sie gingen zusammen zum Essen, saßen im Kaffeehaus, blieben den Abend über beieinander und trennten sich erst in der Nacht. Hanka sah wohl, daß Arnold gleichsam als Bittsteller zu ihm komme. Er bittet mich um meine Zeit, dachte Hanka, und wirklich, mit diesem Gegenstand kann ich verschwenderisch sein, aber je mehr ich ihm davon geben kann, je ärmer wird er daran werden; ein sonderbares Rechenexempel. Hanka wollte allein gehen. In jeder Beziehung zwischen Menschen sah er das Ende voraus und fürchtete es. Er sah das liebevollste Gesicht zu Haß und Würdelosigkeit verzerrt, und die Schönheit atmete ihm schon Fäulnis entgegen. Ihm hätte es gedient, in einer wandellosen Welt zu leben, in welcher das Wasser nicht die Erde höhlt und nicht der Freund einst zum Verleumder werden wird. Er lebte in allem was verdarb, was sich zum Tod neigte und an den Gesetzen der Veränderung teilnahm. Er sah das Wasser schon als Wolke, die Wolke als Regen. Keine Bewegung, kein Lächeln, kein Entschluß, der nicht den Lauf der Schicksale unterbrechen und verwandeln, keine Speise, kein Trunk, kein Härchen des Körpers, welches nicht auf seine besondere Weise das Ende bringen konnte. Seine Logik war grausam, sein Scharfblick unbestechlich und sein Wissen profund. Dem grenzenlosen Schweifen unreifer Empirie setzte er die Formel entgegen, und zu anderer Zeit stieß er alles Lehrwerk wie morsche Hölzer beiseite und trat in den lichten Raum der Anschauung und der Idee. Arnold kämpfte hier vergebens um Freundschaft. Er begann Hanka dunkel zu hassen. Er verlegte sich auf den leeren Widerspruch, auf eine scheinbare Verachtung von Hankas enger Sachlichkeit, und wie furchtbar war es ihm in manchem Augenblick zumut, wenn er ahnen mußte, daß er um etwas ganz anderes stritt, als was er vorgab. Er beneidete Hanka um die ruhige Überlegenheit, und mit formloser und zaghafter Begierde suchte er nach Mitteln des Sieges, irgendwelchen Sieges, um jeden Preis; er fürchtete sich vor der stummen Kritik in Hanka, wie er sich vor sich selbst, vor der Welt, vor der Vergangenheit und vor der Zukunft fürchtet. Eines Tages sah er bei Hanka in der Ecke des Schreibtisches eine kleine Pappendeckel-Tafel, auf welcher in Hankas Schrift die Worte standen: »#Precaria salus:# ich durchschritt die Pforten des Todes, ich betrat die Schwelle der Proserpina, und nachdem ich durch alle Elemente gefahren, kehrte ich zurück. In der Mitte der Nacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten Schein.« Arnold las es und fragte ironisch: »Was ist das für ein Geschwätz? Schämen Sie sich nicht, solche Dunkelmeierei zu treiben?« Er nahm den Pappendeckel und ließ ihn geringschätzig fallen. Hanka erwiderte ebenso bedächtig wie nachsichtig: »Das ist ein Spruch aus den Isis-Mysterien, mein Teurer.« Nicht die Antwort oder der Ton bewirkte eine Veränderung in Arnold, so daß er schweigend zum Fenster trat. Nur Hankas Blick hatte ihn getroffen, groß, fragend, sehr erstaunt: was kann dich berechtigen, in mein Leben einzugreifen? nicht zu billigen, was ich denke --? fliehst du vielleicht aus dir, wunderlicher Mensch, und willst dich in einer fremden Wohnung niederlassen? Als Arnold nach Hause kam, fand er einen Brief von Hyrtl. »Vergessen? gänzlich vergessen?« schrieb Hyrtl. »Vor einigen Tagen dachte ich wieder an Sie, und nun kann ich Sie nicht wieder loswerden. Kommen Sie doch! Ich darf nicht ausgehen. Kommen Sie heute Abend. Ich bin gänzlich verlassen, sitze zu Hause und bin übel dran. Das beste Backwerk Europas laß ich für Sie herrichten, und wenn Sie nicht reden wollen, können Sie bei mir auch schweigen. Nur kommen sollen Sie. Ich habe seit Monaten keinen wirklichen Menschen gesehen und bin allein. Bald wird es mit mir zu Ende gehen. Ihr Hyrtl.« Gleichgültig warf Arnold das Schreiben beiseite. Dies weibliche Werben erregte seinen Abscheu. Er versuchte zu lesen, warf aber bald das Buch wieder weg, nahm Hut und Stock und ging ins Kaffeehaus. Doch auch hier hielt es ihn nicht lange. Die Straße lockte ihn. Langsam schlenderte er durch die Dämmerung, kehrte aber bald nach Hause zurück, denn zum Abendessen erwartete er Hanka. Oben auf der Treppe stand der eine Diener und murmelte mit zerknirschtem Gesicht: »Gnädiger Herr, es ist etwas passiert.« Arnold sah ihn von oben bis unten an; der junge Mensch ging voraus und öffnete die Türe zu dem Raum, worin der Antinous sich befand. Die Statue lag auf der Erde; der Kopf war gegen das Fenster gerollt und der linke Arm, ebenfalls abgebrochen, lag mit seiner schönen Geberde neben dem Leib. Es erwies sich, daß die beiden Diener während seiner Abwesenheit sich in jenem Zimmer mit Raufen vergnügt hatten. Sie waren an die Statue gestoßen und mitsamt der Figur zu Falle gekommen. Arnold sagte den zwei Leuten den Dienst auf und setzte sich dann traurig vor die Trümmer. Als Hanka kam, hoben sie zusammen den Rumpf empor und untersuchten die Bruchstellen. Hanka sagte, das Unglück sei nicht groß, es lasse sich mit geringen Kosten wieder gutmachen, aber ihn belustigte Arnolds Niedergeschlagenheit. »Seit wann lieben Sie denn die toten Dinge so sehr?« fragte er etwas ungeduldig. Einundfünfzigstes Kapitel Sie gingen in das Speisezimmer. Während des Essens erzählte Hanka, daß ihm der Verkauf seines Hauses, seiner Wertgegenstände, die Vereinfachung seiner Lebensweise nicht viel genützt habe. Er habe noch Schuldverpflichtungen im Betrag von fünfzehntausend Gulden. Außerdem stehe noch die Zahlung an seine frühere Gattin aus, und da dürfe er nicht lange zögern, schaltete er bitter ein, wo die Moralität eine Geldfrage sei. Er schrecke davor zurück, sich an seine Schwester Agnes zu wenden, die sich auf dem Wege der Genesung befinde und durch die leiseste Andeutung seines Ruins in ihrer schwachen Natur erschüttert werden könne. Arnold hörte mit halbem Ohr zu. Nach einem neuen Gesprächsstoff suchend, erinnerte er sich an Hyrtls Brief und gab ihn Hanka. Der las ihn zweimal, betrachtete das Papier von allen Seiten und fragte endlich: »Weshalb sind Sie nicht zu ihm gegangen?« Arnold zuckte die Achseln. »Der Mann lügt«, sagte er kalt. »Nicht der Tat nach, sondern dem Gefühl nach.« »So lügt man nicht«, antwortete Hanka kopfschüttelnd. »In früherer Zeit bin ich oft mit Hyrtl beisammen gewesen, meist durch Natalie Osterburg. Er ist ein gutmütiger Mensch.« »Hyrtl freut sich seiner Wehleidigkeit«, sagte Arnold lebhaft, »er würde mit Vergnügen sterben, wenn er den Eindruck seines Todes erleben könnte.« Hanka schmunzelte, schaute aber Arnold ziemlich überrascht ins Gesicht. »Sie sind ja ein Psycholog«, erwiderte er. »Aber das ist eigentlich nicht die rechte Art. Ich meine, diese Art, ein Urteil zu bilden und einen Menschen für alle Zeiten abzufertigen. Nein, das ist nicht gut.« Arnold wollte etwas entgegnen, doch es läutete draußen, und darnach kam der Diener und meldete Herrn Hyrtl. Arnold und Hanka sahen einander an. Mit steifen Schrittchen trat Hyrtl ein. Er reichte beiden die Hand und setzte sich. »Kinder, wenn ihr wüßtet, was es heißt, allein zu sein!« sagte er mit einem Seufzer, welchem er etwas Scherzhaftes beizumischen versuchte. »Man sieht Gesichter in der Luft, die Wände schrumpfen zusammen, das Zimmer wird bodenlos.« Hyrtls Augen lagen tief und irrten angstvoll in den Höhlen, und auf der Stirne brach beständig Schweiß hervor, den er mit dem Taschentuch von Zeit zu Zeit abwischte. Hanka hörte nicht auf, ihn zu betrachten; bisweilen warf er einen hastigen Seitenblick auf Arnold, der schweigend den Rauch einer Zigarre in dünnen Kegeln emporblies. »Und wie geht es Ihnen also, mein Liebster?« wandte sich Hyrtl an Arnold und in seinem Blick glühte ehrliche Freundschaft, rührende Hingebung. Er sah in Arnold das Leben, die Gesundheit, die Kraft, und es war ihm dabei zumut wie dem Sklaven, der einen Adler in der blauen Luft schweben sieht. »Gut, sehr gut«, antwortete Arnold trocken. »Und Sie, Sie sind krank wie immer. Raffen Sie sich doch auf! Warum rauchen Sie, wenn es Ihnen schädlich ist? Welche Widersprüche!« Hyrtl wiegte den Kopf, als ob ihm kein Ratschlag mehr nützen könne. »Jetzt ist mir wieder wohl«, sagte er. »Ich habe meinen Arzt betrogen und bin ausgegangen. Wenn ich liebe Menschen sehe, gehts mir gut. Nun, was wollen Sie, ich bin ein Schwächling. Und Sie, Doktor«, wandte er sich an Hanka, »was treiben Sie? Hanka ist ein ehrenhafter Mensch«, bemerkte er nach seiner Gewohnheit, einen Anwesenden rücksichtslos ins Gesicht zu loben. »Wenn das Wort ehrenhaft nicht da wäre, für Hanka müßte man es erfinden.« Errötend, wirklich errötend, legte Hanka ein Bein über das andere. Hyrtl und Arnold lachten, und Hyrtl so sehr, daß ihm Tränen in die Augen traten. Dann erhob er sich, legte einen Arm zärtlich um Arnolds Nacken und tätschelte dessen Wange. »Erinnern Sie sich an unsere hübschen Abende?« fragte er. »Erinnern Sie sich an den Hausball? Verena! Welch eine Schönheit! Wo ist sie? wo ist Verena?« »Sie sind wieder einmal kindisch«, sagte Arnold mit einem fast drohenden Blick und schob Hyrtl von sich weg. »Ich sehne mich nach einem Stück Wald«, sagte Hyrtl umhergehend, »und ich möchte für mein Leben gern mit euch beiden morgen Mittag über Land fahren. Mein Wagen steht zur Verfügung, wir essen draußen in aller Gemütlichkeit, wollen Sie? Sagen Sie doch ja, Arnold, seien Sie nicht so finster ...!« Arnold schüttelte den Kopf und Hyrtl wurde traurig. Er nahm wieder Platz und plauderte in melancholischer Selbstvergessenheit. »Ich wäre gern mit Ihnen nach Dornbach gefahren, Arnold. Da draußen ist noch ein Spielplatz, auf dem ich als Kind fast täglich herumtrieb. Ich erinnere mich, ich hatte ein weißes Lamm, dem ich einmal die Augen herausbrach, denn es interessierte mich riesig, was hinter den Augen steckte. Aber es waren natürlich nur Sägespäne da, wie bei manchem unserer wackeren Mitbürger.« Er lachte. »Und meine erste Liebe hab ich da erlebt, -- ach! Sie war ein Bäckertöchterlein, vier Jahre alt. Einst glaubte ich mich von ihr vernachlässigt und sagte zu ihr: Sophie, heut muß ich sterben. Darauf lachte sie verächtlich und gab mir zur Antwort: Menschen sterben nicht, du Dummkopf.« »Na, fahren wir doch mit ihm hinaus«, sagte Hanka gutmütig. »Ja, tun Sie es!« rief Hyrtl. »Tun Sies, Arnold! Wenn Sie wüßten wie gern ich Sie habe! Sie sind so eine Art Ideal für mich. Wenn ich wieder anfangen dürfte zu leben, möcht ich so sein wie Sie.« Endlich ließ sich Arnold bewegen und Hyrtl ging zufrieden fort, von Hanka begleitet. Gegen elf Uhr am andern Morgen kamen Arnold und Hanka fast gleichzeitig in Hyrtls Wohnung. Der Diener trat ihnen im Flur entgegen und flüsterte: »Der gnädige Herr schläft noch.« Arnold war entrüstet. Die Tür des Schlafzimmers weit öffnend, rief er: »Auf! auf! Langschläfer! der schönste Tag!« Hyrtl lag mit friedlichem Lächeln im Bett und rührte sich nicht. Der Diener stand mißbilligend unter der Türe, näherte sich langsam, beugte sich über das Bett und ergriff die Hand des Schläfers. Plötzlich rief er schluchzend: »Der gnädige Herr!« und fiel neben dem Bett auf die Knie. Hanka hielt sich an den Messingknöpfen der beiden Bettpfosten fest. Sein Gesicht war grünlich bleich geworden. Arnold schrie: »Laufen Sie zum Arzt!« Der weinende Mensch erhob sich schnell und folgte dem Befehl. Schweigend setzte sich Hanka in eine Ecke. Nach einer Viertelstunde kam der Arzt. Das Ergebnis seiner Untersuchung war, daß der Tod schon vor Stunden eingetreten sein müsse, ein Herzschlag während des Schlafes. Fremde Leute traten ein, die einen Ausdruck komischer Finsternis in ihr Gesicht gelegt hatten, als ob sie versprochen hätten, eine Stunde lang nicht zu lachen. Arnold und Hanka verständigten sich durch ein Zeichen und gingen. Keiner von ihnen vermochte den andern anzureden. Arnold fürchtete Hankas Gesicht, Hankas Gedanken; er fürchtete ebenso sehr, daß Hanka ihn jetzt allein lassen könnte. Plötzlich blieb er stehen und sagte: »Hören Sie Hanka, ich habe mir das überlegt, was Sie mir gestern erzählt haben. Sie sind in einer mißlichen Lage und ich kann Ihnen leicht die fünfzehntausend Gulden leihen, die Sie brauchen.« Hanka blieb ebenfalls stehen und starrte gerade aus. Aha, dachte er betrübt, bestechen willst du mich, mein Urteil willst du bestechen. »Ich danke Ihnen«, sagte er kalt, »ich brauche es nicht.« Noch gestern und er hätte das Geld angenommen. Sein Herz wünschte sich in dieser Sekunde weit weg. Ihm war, als hätte ihn eine gespensterhafte Hand ins Gesicht geschlagen. Mit traurigen, verächtlichen Augen blickte er vor sich hin und stieß sein leer gewordenes Schifflein gleichgültig ins Meer. Er mochte nicht so von Arnold gehen, wie er innerlich schon von ihm gegangen, darum blieben sie noch ein paar Stunden beieinander. Es kommt gar nicht darauf an, eine schlechte oder eine lobenswerte Handlung zu begehen, dachte Hanka, nur muß der Sinn, aus dem sie geflossen, unwandelbar sein. Er hatte nicht Willenskraft genug, dies Arnold zu sagen. Gegen Abend gingen sie noch einmal hin, um den toten Hyrtl aufzusuchen. Die Außentüre stand offen. Kränze lagen im Flur. Sie wollten in das Sterbezimmer treten, als Hanka stehen blieb und seine Hand auf Arnolds Schulter legte, um ihn gleichfalls aufmerksam zu machen. Durch die angelehnte Tür sahen sie, wie der Diener, allein mit dem Toten, sich mit natürlicher Verehrung über die Leiche beugte und die Hand des Herrn küßte. Leise kehrte Hanka um, und Arnold folgte ihm mechanisch. »Gute Nacht«, sagte Hanka, als sie draußen waren. »Sehen Sie, nicht einmal so viel war er uns wie der Kreatur, die er bezahlt hat.« Hanka ging nach Hause. Borromeo Zweiundfünfzigstes Kapitel Beide Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Gesicht derart zwischen den Armen vergraben, daß die Hände sich über dem Kopf verschränkten, saß Anna Borromeo in ihrem Schlafzimmer, noch mitten in der Unordnung des Morgens. Heute war sie dreißig Jahre alt, und ihre Trauer galt nicht etwa einer unnütz hingebrachten Vergangenheit, sondern der Aussicht auf eine gleichgültige Zukunft. Ihre Vergangenheit! Es schien ihr nicht der Mühe wert, darüber nachzudenken. Es war nichts Außerordentliches in ihrem Leben. Sie erinnerte sich, daß sie als Kind sich nie gleich andern Kindern von einem Tag auf den folgenden hatte freuen können. Auch wenn sie an einem Ereignis mit Erwartung hing, so wußte sie doch genau, wie weit die Wirklichkeit hinter dem Bild ihrer Phantasie zurückbleiben würde. Sie hatte Borromeo geheiratet an einem Zeitpunkt ihres Lebens, an dem kein Traum mehr in ihr war. Ihr war alles so wohlbekannt wie dem Schauspieler das Ende des Stücks. Sie trat ihrem Gatten nicht mit Sympathie entgegen. Sie sah es ihm an, am ersten Tage durchschaute sie diesen Mann der wenigen Worte, daß sie ihm nichts zu geben hatte, was er brauchen konnte. Und er, er konnte ihr nur eines geben, was sie brauchen konnte, ein sicheres Auskommen. Sie holte den Handspiegel und betrachtete düster ihr Gesicht. Nur von dem größeren oder geringeren Glanz ihrer Augen, der frischen Feuchtigkeit der Lippen und dem goldenen Glanz der Wangenhärchen machte sie ihre Teilnahme an den Dingen des Lebens abhängig, -- ohne es zu wissen, denn sie hielt sich für eine faustisch-unzufriedene Natur. Schließlich raffte sie sich auf und ging in die Küche. Kaum hatte sie ihr Zimmer verlassen, als ihr Gesicht sich veränderte wie das einer Amtsperson, welche in eine Versammlung tritt. Sie gab die nötigen Anweisungen für den Tag und als sie über den Korridor zurückging, kam Borromeo nach Hause. Sie folgte ihm und fragte, ob er vom Gericht oder von der Kanzlei komme. Borromeo schüttelte den Kopf. Anna sagte mit liebloser Kälte: »Wo in aller Welt bist du zu finden, wenn man nach dir schickt? Um sechs Uhr früh hast du schon das Haus verlassen und niemand weiß, wohin du gehst. Ich hätte notwendig hundertfünfzig Gulden für die Schneiderin gebraucht ...« Borromeo lachte; das heißt, dies Lachen bestand darin, daß er die Lippen und die Mundwinkel auseinanderzog und die Zungenspitze zwischen die Zähne legte. Er entnahm seiner Brieftasche den verlangten Betrag, legte die Noten eine nach der andern auf den Tisch und strich sie mit der flachen Hand glatt. Anna Borromeo sah dieser Beschäftigung verwundert zu. Dann senkte sie den Kopf. »Seit Tagen verschwindest du in der geheimnisvollsten Weise, Friedrich«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Hast du etwas vor?« Borromeo blickte in die Luft und seine Brauen zogen sich zusammen. »Ich habe etwas vor«, antwortete er, mit dem Zeigefinger seine Worte skandierend. Frau Anna stutzte. Sie sah ihrem Mann ins Gesicht und sagte rasch: »Valescotts lassen dich grüßen. Ich war gestern nachmittag dort.« Mit einem Lächeln näherte sich Borromeo der Frau, legte die Hand fast liebevoll auf ihre Haare und bog den Kopf sachte zurück. Ihre Blicke begegneten einander. Anna erhob sich und sagte rauh und erschreckt: »Du bist sonderbar.« Borromeo zuckte die Achseln und begann den Bart mit beiden Händen zu liebkosen. »Was ist eigentlich mit Arnold?« fragte er umhergehend. »Er meidet uns. Findest du nicht, daß er uns meidet?« »Ach, -- er macht es wie tausend andere, er lebt sich aus«, warf Frau Anna gleichgültig hin. »Es ist nicht nötig, für ihn besorgt zu sein«, sagte Borromeo. »Was ein richtiges Waldtier ist, findet immer wieder zur Tränke.« »Du hast eine halsstarrige Manier, dich über Arnold zu täuschen«, entgegnete Anna Borromeo ruhig. Borromeo legte die eine Hand auf die Brust und lächelte beinahe träumerisch vor sich hin. »Du hast heute Geburtstag, nicht wahr, Anna?« fragte er endlich. »Ich glaube, man darf einander ruhig beglückwünschen, wenn man wieder ein Jahr hinter sich hat. Zugleich möchte ich dir etwas mitteilen. Ich gehe mit dem Plan um, meine Praxis aufzugeben.« »Dann tust du etwas der Form nach, was du in der Tat schon lange hinter dir hast,« antwortete die Frau mit ersticktem Zorn. »Ja. Ich bin es müde, die Klopffechtereien einer sogenannten Justiz zu erdulden. Ich bin es müde. Es ist noch nicht lange her, daß ich zu einer wirklichen Einsicht gelangt bin, aber an demselben Tag, wo es geschah, war ich auch fertig. Und mir graut jetzt vor allem, was ich in früherer Zeit ohne diese Einsicht unternommen und ausgeführt habe. Deshalb kann ich nicht länger mittun. Denn unser Leben läuft immer darauf hinaus, daß wir unsere Handlungen von Anfang an mit Konsequenz festhalten, und wer immer schlecht gehandelt hat, darf nicht auf einmal das Gute wollen, sonst geht er zugrunde.« »Ich glaube, Friedrich, du solltest einmal mit einem Arzt sprechen«, sagte Anna Borromeo ernst und geringschätzig. Sie zuckte die Achseln, als Borromeo schwieg und verließ das Zimmer. Drüben in ihrem eigenen Gemach wartete die Friseurin und Anna unterhielt sich mit ihr von den neuen Ereignissen in der Gesellschaft. Als dies beendet war, machte sie sich daran, Einladungskarten für den Samstagabend zu schreiben. Auch an Arnold richtete sie eine Karte, zerriß sie aber wieder, nahm statt dessen ein Briefblatt zur Hand und schrieb: »Mein Lieber, dürfen wir dich für den dreizehnten abends erwarten? Borromeo kränkt sich wieder einmal über dein Fernbleiben, ich aber finde es natürlich. Ich finde es natürlich, das hindert aber nicht, daß ich oft mit Scham an dich denke. Hättest du nicht vergessen, so würde ich dich beschwören: vergiß. Offenbar gehst du darauf aus, alles was du bist und vorstellst, zu spielen, sonst hättest du mich am selben Abend erdolcht. Ernst und Wahrheit spielt man leider nicht, ohne daß es sich an denen rächt, die daran glauben.« Sie stand auf, warf sich in die Ecke des Sofas und weinte, indem sie das Taschentuch fest vor das Gesicht drückte. Sie weinte aus Wut, aus innerer Leere, aus Entschlußlosigkeit, weinte darüber, daß ihre Hand solche Worte schrieb, an die sie nicht glaubte und vor denen sie bestürzt und feige stand, wenn sie gleich selbständigen Wesen ihr auf dem Briefpapier ins Gesicht lachten. Sie trocknete die Augen und ohne ihr Schreiben noch einmal zu überblicken, zerriß sie es in hundert Fetzen und schrieb eine Karte wie an alle andern Eingeladenen. Nur schrieb sie die Worte dazu: ich bin heute nachmittag allein zu Hause und langweile mich. Dies schickte sie sofort und mit Eilpost ab. Mittags blieb sie in ihrem Zimmer unter dem Vorgeben, sie fühle sich nicht wohl. Dann versuchte sie zu schlafen, nahm aber einen italienischen Roman und las. Arnold kam. Sein Gesicht war schmal geworden. Die Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck. Anna fragte, warum er so lange nicht gekommen sei. Er zuckte die Achseln. »Verkehrst du noch mit deinem schweigsamen Philosophen?« »Mit Hanka? Nein. Der lebt auf einem Dorf in Steiermark. Wir haben uns zuletzt bei Hyrtls Begräbnis gesehen.« »Ach ja, Hyrtl, das arme Kerlchen. Man glaubte ihm seine Krankheit nie.« »Er war ein guter Freund.« »Ein guter Freund, ja, aber kein Freund. Wie lebst du, Arnold?« »Schlecht.« »Du solltest Karriere machen.« »Wozu? Es lockt mich nicht.« »Du solltest reich sein.« »Ich habe genug.« »Genug? Für dich vielleicht. Reichtum ist etwas anderes. Wieviel hast du denn? Ein paarmal hunderttausend Gulden. Lappalie. Reich sein heißt alles Häßliche, Armselige, Störende im Umkreis von zehn Meilen entfernen. Reich sein heißt, der Phantasie so viel zu geben, daß sie den Tod vergißt. Ich sehne mich nach Reichtum.« »Mir scheint, du sehnst dich nach vielem.« »Weil ich nichts besitze.« »Weil du nichts halten kannst.« »Ich habe zu viel Sorgen und zu wenig Freuden.« »Liebst du denn nicht deinen Mann?« Anna Borromeo hatte diese Frage nicht erwartet. Sie erbleichte. War sie es? dachte Arnold schaudernd; gibt es mehrere solche Gürtel mit Smaragden wie sie einen trug, damals ...? Sie erriet vielleicht Arnolds Gedanken, denn sie sah ihn flehentlich an. »Hast du schon wieder Schulden?« fragte er plötzlich in strengem Ton. Sie schwieg. »Sprich doch!« »Glaubst du, ich rechne auf dich?« versetzte sie kalt. »Ihr seid ja lauter Krämer.« Sie brach in Schluchzen aus. Arnold hatte Mitleid. Er blickte sie bewegt an. Auf einmal erschienen ihm ihre vor das Gesicht geschlagenen Hände als das Schönste, Zarteste, was er je gesehen. Er ergriff ihre eine Hand, zog sie weg von der Wange und drückte sanft seine Lippen darauf. Anna erhob sich. Endlich hatte ihr unbefriedigtes Herz irgendwo einen Widerhall gefunden. Ein wenig später verließ Arnold das Haus. In dem dunklen Bedürfnis nach freier Luft, nach Baum und Wiese, begab er sich zur nächsten Stadtbahnstation und nahm eine Karte nach einer der Wiener Waldstationen. Die Bahn, die auf einem langen Viadukte über Gumpendorf emporführte, gelangte zu einer Biegung und weit hingedehnt, im graublauen Dämmerlicht, lag die Stadt vor Arnold. Rauch und Staub verwischten die Horizontlinie und manche fahle Lampe in einem Haus glich täuschend einem Stern. Unzählbare Schlöte ragten empor, bleich leuchtend von einem unsichtbaren Licht. Häusermauern über Häusermauern, angegraut von Asche, Zeit und Elend, so dicht mit Fenstern besetzt wie ein Wespennest mit Löchern, Höfe, in denen schwarze Menschen krabbelnd sich bewegten und Dach neben Dach bis in den Himmel hinein. Hier wohnten sie, einer im Atem des andern, unter dem graublauen, nach Kohle und Schweiß riechenden Mantel des Abends, die Millionen. Reich sein, reich sein, dachte Arnold. Dreiundfünfzigstes Kapitel Zwei Tage später, als Arnold über den Graben ging, winkte ihm plötzlich jemand mit Lebhaftigkeit zu und rief seinen Namen. Es war Wolmut. Schlank, fein, freundlich, rotbäckig wie immer, eilte er auf Arnold zu und hätte ihn beinahe umarmt. Arnold freute sich, und war fast ungehalten, als Wolmut ihm mitteilte, er bleibe nur wenige Tage in der Stadt. Er wolle aber gern den Mittag und den Nachmittag mit Arnold verbringen. Mit ihm habe sich inzwischen mancherlei ereignet. Er habe seine national-ökonomische Broschüre herausgegeben und sich Freunde damit gemacht. Auch stehe seine Beförderung auf der Statthalterei bevor. Wolmuts weiße Stirn leuchtete von Hoffnungen. Nicht wenig überrascht war Wolmut, als er in Arnolds prächtige Wohnung geführt wurde. Aber er ließ nichts verlauten. Er dachte sich sein Teil. »Was haben Sie gearbeitet? was haben Sie fertig gebracht?« fragte er. »Ich habe wenig gearbeitet, ich habe nur gelebt«, antwortete Arnold. »Auch nicht das Schlechteste. Man nennt das Sichausleben, wie? Haben Sie sich ausgelebt?« »Ein böses Wort, lieber Freund.« »Es klingt ein bißchen verdächtig, Sie haben recht.« »Wie bringen Sie es eigentlich fertig, Wolmut, alles beiseite zu schieben, was Ihnen nicht dienlich ist? Sie haben offenbar die Gabe, Hindernisse schon von weitem zu erkennen und ihnen auszuweichen.« »Ausweichen? Nein. Ich gehe auf alles schnurstracks zu. Allerdings halte ich mich meistens an das Nützliche.« »Sie sind eine harmonische Natur.« »Damit wollen Sie sich trösten, mein Lieber, indem Sie mir zu verstehen geben, daß Sie zu viel Phantasie haben, um harmonisch zu sein. Das sind nur Worte. Jeder Mensch hat seine inneren Kapitalien. Wer nicht damit zu wirtschaften versteht, muß Bankerott machen. Jeder Mensch kann einmal, wie soll ich sagen, das große Los seiner Existenz ziehen. Aber man muß aufmerken, man muß der Geisterstimme lauschen können. Diesen Augenblick verschlafen aber die meisten, sie vergessen ihr Stichwort und das nennen sie dann vom Schicksal verfolgt sein. Es gibt keine Abhilfe von außen, denn nichts kann das Verbrechen ungeschehen machen, das jeder einzelne an sich selbst begeht. Man muß Ehrfurcht vor sich selber haben. Man darf nicht mit dem eigenen Körper umspringen wie mit einem gekauften Gerät, und mit der eigenen Seele auch nicht. Um die Kraft, die ich in mir zugrunde richte, wird die Menschheit ärmer. Außer mir ist kein Schicksal, nur ich selbst kann mich vernichten.« Der Diener trat ein und flüsterte Arnold etwas zu. Er ging hinaus, über den Korridor in das Empfangszimmer, wo Anna Borromeo saß und ihm ruhig entgegenlächelte. »Ich wollte doch einmal sehen, wo du residierst,« sagte sie, und ihre Stimme klang ein wenig heiser. Arnold bat, sie möge ihn noch eine kurze Weile entschuldigen, er müsse einen Freund fortschicken. Sie nickte und schlug ein Landschaftenalbum auf, während Arnold zu Wolmut zurückging und ihm freimütig erklärte, daß sie nicht länger beisammenbleiben könnten. Auch wenn hier Anlaß gewesen wäre, Wolmut gehörte nicht zu den Verletzlichen. Sein Verkehr mit Menschen bestand ja in einer geradezu programmmäßigen Ehrlichkeit. Als die beiden Freunde sich voneinander verabschiedet hatten und Arnold zurückkam, fand er Anna nicht mehr in dem großen Raum. Sie hatte die Türe zu dem anschließenden Bibliothekszimmerchen geöffnet und saß dort in der Ecke eines Divans, den Oberleib zurückgebeugt, den Kopf mit regungslos starrenden Augen auf der Armlehne. Arnold blieb schweigend stehen. »Wieviel Uhr ist es?« fragte Anna, ohne sich zu rühren. »Dreiviertelfünf«, antwortete Arnold. Sein Gesicht war ernst geworden, hatte aber jede Unbefangenheit verloren. »Dann bleibt mir noch eine Stunde«, sagte Anna und richtete sich langsam auf. »Komm einmal, Arnold, sieh dir diesen Ring an.« Arnold nahm den Ring aus ihrer Hand. Er drehte ihn hin und her und meinte endlich: »Was ist daran zu sehen? Ein gewöhnlicher Ring.« »Wenn du ihn trägst, wirst du Macht über mich haben«, entgegnete sie. Arnold warf ihr einen hastigen Blick zu, betrachtete wieder den Ring, lächelte mechanisch und gab ihr den Ring zurück. »Macht über dich heißt Ohnmacht über mich«, sagte er. »Manchmal ist mir, als wären wir für einander geboren«, sagte Anna leise. Mit stockender Stimme entgegnete Arnold: »Du bist mit dem Bruder meiner Mutter verheiratet.« »Das ist wahr«, sagte Anna ruhig »aber ich bin dreißig Jahre alt und habe kein Kind.« »Ich will dir nur gestehen«, fuhr sie fort, und ihre Stimme nahm einen gleichgültigen Klang an, »daß ich mich eine Zeitlang mit Valescott abgegeben habe, ohne daß es zu etwas Ernstem hätte kommen können. Er ist blind und stumm und weiß nur von Abenteuern. Eines Tages vergaß er seine Rolle und ich jagte ihn davon. Es war gefährlich. Aber für alles, was ich tue, stehe ich ein mit allem was ich bin.« Arnold schritt auf und ab, die Hände mit festaneinander geklammerten Fingern auf dem Rücken. Plötzlich blieb er stehen und sagte mit erloschenem Blick: »Wozu muß ich das wissen? Oder --« er trat zwei Schritte vor Anna hin und erhob den Kopf, »oder ist es dir bekannt, daß ich es schon vorher wußte?« Anna war erstaunt. Sie stützte den Kopf in die Hand und nach einer Weile sagte sie: »Das war unappetitlich, also reden wir von etwas anderm.« Arnold hörte es nicht. Der Klang ihrer Stimme berückte ihn. Ihn verlangte nach grund- und bodenloser Leidenschaft wie den Eingesperrten nach Freiheit. Er suchte sich in einer seltsamen Weise zu prüfen; indem er vor Anna auf und abging, verglich er die Empfindung, die er in ihrer unmittelbaren Nähe hatte, mit derjenigen am entgegengesetzten Teil des Zimmers. Furcht und Begehrlichkeit ergriffen Arnold. Eine unergründliche Falschheit und der Hochmut der Schwäche bemächtigten sich seiner und indem er stehen blieb, sagte er: »Ich kann nicht glücklich sein in der Lüge. Ja, Anna, ich sehe wohl, daß wir uns etwas andres sein könnten, als wir uns jetzt sind. Aber ich kann nicht leben in der Lüge. Das ist es.« Anna lächelte mit einem halb verträumten, halb mitfühlenden Ausdruck. »Nehmen wir also an, es geschieht nach deinem Wunsch?« fragte sie. »Nehmen wir an, es geschieht mit Wahrheit?« Zwischen Trauer und Gewissenslast wie zwischen zwei hohen Felsen stehend, erwiderte Arnold ohne Festigkeit: »Das .... wäre undenkbar.« »Undenkbar?« fragte sie mit rätselhafter Miene. »Ich kann es denken. Und du, du kannst es fühlen. Es ist lauter Feigheit. Die sublimste Feigheit, die nennt man Moral.« Arnold schwieg. »Ich muß fort«, sagte sie aufstehend. »Höre, Arnold«, fügte sie lebhaft hinzu, »ich bin morgen abend ganz allein. Friedrich fährt nach Preßburg. Willst du mir Gesellschaft leisten?« »Morgen abend --?« Arnold zögerte, als besinne er sich, ob nicht andere Verabredungen ihn verpflichteten. Dann versprach er zu kommen. Anna reichte ihm die Hand und ging. Arnold wanderte beunruhigt, ja, in seinem Tiefsten beständig zitternd, durch die Zimmer. Vierundfünfzigstes Kapitel Um fünf Uhr morgens erwachte Friedrich Borromeo nach kaum zweistündigem Schlaf. Er griff nach den Streichhölzern und machte Licht. Er wußte, daß es vergeblich war, auf das Wiedereinschlafen zu warten, darum erhob er sich, als die ersten Morgenlaute von der Straße heraufdrangen. Langsam wusch er sich und kleidete sich an, und um sechs Uhr war er fertig. Doch wohin mit all der Zeit, wohin? Neunzehn oder zwanzig Stunden lagen vor ihm, bis er sich wieder auskleiden konnte, um wieder das Bett aufzusuchen wie gestern. Jede dieser Stunden forderte ihn zu einer Art von Zweikampf heraus, und am Abend bemächtigte sich seiner von all dem Indieluft-Kämpfen eine so grenzenlose Erschöpfung, daß er sich vor dem Wiederaufwachen nach spärlichem Schlaf fürchtete. Er fürchtete die Geräusche, durch die sich der Tag ankündigt, und das Licht, das der Sonne vorauseilt scheute er ebenso, wie ihm die Finsternis Grauen erregte. Er liebte weder das Leben, noch wollte er den Tod, sondern es war, als ob er einen Schlupfwinkel zwischen den beiden ausspüren wolle, fern von Gedanken, Erinnerungen, Erwartungen und Gefühlen der Verantwortlichkeit, gleichsam in den ruhenden Mittelpunkt des ewigbeweglichen Kreises verkrochen. Er hätte selbst nicht zu sagen vermocht, durch welche Einwirkungen allmählich dieser sonderbare Zustand von Fäulnis in seinem Körper und Gemüt entstanden und angewachsen war. Lustlosigkeit war es, die das Wesen seiner Worte und seiner Handlungen gebildet hatte von jeher. Er hatte keine Freude an der Welt und keine Freude an den Menschen und keine Freude an sich selbst. Nur einen einzigen Menschen gab es, an dem er mit fatalistischer Zuneigung hing, und das war Arnold. Die Straßen lagen schon in goldner Frühsonne, als Borromeo das Haus verließ. Er ging in ein Kaffeehaus, frühstückte, las die Morgenblätter, zahlte und machte sich auf den Weg zur Kanzlei. Er war der erste dort; in seinem Arbeitsraum war der Diener noch mit Kehren beschäftigt, und der Staub lief in den Sonnenstrahlen wie eine Sammetbrücke durch den Raum. Unruhig schritt Borromeo umher. Die Schreiber kamen mit verschlafenen Gesichtern; einer brachte ihm den Gerichtsakt, den er für die Verhandlung in Preßburg nötig hatte. Er nahm Hut und Mantel und fuhr zum Bahnhof. Er setzte sich in ein leeres Abteil und gab dem Schaffner ein Geldstück, damit er ihn allein lasse. Der Zug setzte sich in Bewegung, und Borromeo schloß die Augen. Plötzlich aber erwachte in ihm ein tiefer Widerwille gegen das Ziel seiner Fahrt. Er wollte nicht reden, nicht hören, nicht angestrengt nach Antwort sinnen, nicht lächeln, fragen, nicken und sich verbeugen, wollte nicht jene gleichgültigen, altbackenen, gefrorenen, mühseligen Redensarten über die Zunge wälzen, durch die allein eine Verständigung zwischen den Menschen möglich ist. Als die nächste Haltestation erreicht war, verließ er den Wagen, nahm seine Aktenmappe unter den Arm und spazierte in den Wald, welcher unmittelbar hinter dem kleinen Bahnhof begann. Aber nicht lange setzte er den Weg fort. Die Einsamkeit und Stille flößten ihm so große Furcht ein, daß die Haut über seiner Brust sich spannte und in ein konvulsivisches Zittern geriet. Er wagte auch nicht, sogleich wieder umzukehren, sondern setzte sich auf einen Baumstamm. Was ist mit mir? dachte er, mir graut vor dem Getümmel der Straßen und mir graut vor der Ruhe des Waldes. Er nahm sein Messer und schabte geduldig die dicke Rinde von dem Stamm, auf dem er saß bis das gelbe feuchte Fleisch zum Vorschein kam. Dann seufzte er, erhob sich, wanderte zur Station zurück und schickte ein Entschuldigungs-Telegramm dorthin, wo er vergeblich erwartet wurde. Mit dem nächsten Zug, der erst am späten Nachmittag kam, fuhr er wieder in die Stadt. Er wollte nicht in die Kanzlei, denn auch dort erwarteten ihn vielleicht Fragen; er wollte nicht nach Hause. So setzte er sich denn wieder in ein Kaffeelokal, nur daß er jetzt statt der Morgenblätter die Abendblätter las. Und als er dieser Beschäftigung überdrüssig war, lehnte er sich zurück und starrte in die Luft. Viertelstunde auf Viertelstunde verging. Er empfand Hunger und bestellte ein Butterbrot. Der Raum wurde leer; es war schon halb zehn, als er sich entschloß, aufzubrechen. Wieder nahm er seine Aktentasche unter den Arm und schritt durch die verödenden Straßen. Ohne daß ihn jemand hörte, weil er niemand zu stören wünschte, erreichte er sein Schlafzimmer. Er wollte die Hände und das Gesicht waschen, doch waren die Krüge auf dem Waschtisch leer. Man hatte ihn für diese Nacht nicht zurückerwartet. Er drückte auf den Knopf der Glocke, welche in die Küche führte, aber niemand kam. Er wartete und lauschte und zündete endlich eine Kerze an, um selbst nachzusehen, denn da es noch nicht zehn Uhr war, mußten die Mädchen oder der Diener noch wach sein. In der Küche war alles finster; hat sie Anna aus dem Haus geschickt? dachte er, und ist sie selber fort? Er öffnete die Türe des Salons, auch hier war es finster, aber durch die Spalten der nächsten Tür drang ein Lichtschimmer. Er hielt die Kerze vor, ging über den Teppich, und als er die Hand auf die Klinke legte, vernahm er Murmeln und Flüstern. Leise öffnete er, denn die Anspruchslosigkeit seines Benehmens war so übertrieben, daß er kaum die Türen weit genug für seinen Körper zu öffnen wagte. Er sah zuerst nur ein Stück der dunklen Portiere, mit der in jenem Zimmer die Türe verhängt war, dann erst konnte er einen Teil des Zimmers selbst überblicken. Kaum war dies geschehen, als sich sein Mund im größten Entsetzen weit auseinanderzog. Er ließ die Klinke los; er wagte die Türe nicht wieder zu schließen, sie hatten nichts gehört drinnen und konnten nicht sehen, daß die Türe hinter der Portiere offen stand. Im Korridor entfiel die Kerze seiner Hand, und er tastete sich an der Mauer weiter bis zu seinem Zimmer, wo die Gaslampe brannte. Mit einem dünnen, wimmernden Geräusch, das sich fortwährend seinen Lippen entpreßte, warf sich Borromeo auf das Sofa, mit dem Bauch zu unterst. Fünfundfünfzigstes Kapitel Als Anna am Morgen erfuhr, daß ihr Mann schon den vorherigen Abend zurückgekehrt sei, ging sie hinüber und klopfte an seine Türe. Es wurde nicht geantwortet. Im Glauben, er schlafe noch, entfernte sie sich leise, vollendete ihren Anzug und ging aus. Gegen Mittag kam sie nach Hause und das Stubenmädchen sagte ihr, der gnädige Herr habe noch nicht das Zimmer verlassen und gehe beständig auf und ab; sie habe nicht gewagt, das Zimmer in Ordnung zu bringen. Ohne Hut und Umhang abzunehmen und ohne etwas zu erwidern, schritt Anna den Korridor entlang und trat in das Zimmer Borromeos. Sie erblickte mit Erstaunen das unberührte Bett. Borromeo stand, ihr den Rücken zuwendend, am Fenster und drehte sich, als er ihre Schritte hörte, mit bleierner Langsamkeit um. Sie erschrak so vor seinem Aussehen, daß sie einen Schrei ausstieß. »Bist du nicht wohl, Friedrich?« fragte sie mit schwerer Zunge. Borromeo antwortete nicht. Er schaute an ihr vorüber und seine Lider fielen ein paarmal zu und hoben sich wieder wie bei den künstlichen Augen einer Wachsfigur. »Friedrich!« rief jetzt Anna Borromeo laut und in Angst. »Es ist nichts, Anna,« sagte er nun mit leiser, schleppender Stimme; »es ist nichts, beruhige dich nur.« »Hast du denn nicht geschlafen?« Er zuckte die Achseln und packte plötzlich den Bart mit beiden vollen Händen. Anna wich mechanisch zurück, als er auf sie zukam. Aber er schritt an ihr vorbei, kehrte um und ging wieder zum Fenster. Scheu und besinnend blickte Anna zu Boden, dann eilte sie hinaus, klingelte und schickte zum Hausarzt, der schon nach einer halben Stunde kam. Anna wartete auf seinen Bescheid. »Gnädige Frau«, sagte der Arzt, als er Borromeos Zimmer verlassen hatte, »unser Freund scheint sehr verändert; um das zu konstatieren haben Sie mich aber wahrscheinlich nicht gebraucht. Die Sache ist die, daß er mich nicht einmal seine Hand ergreifen ließ. Er hat mich weggeschickt.« »Ich danke Ihnen, Doktor«, erwiderte Anna Borromeo freundlich. »Ich selbst begreife nichts davon. Noch gestern war er in der besten Verfassung ...« Der Arzt zuckte die Achseln. »Vielleicht eine geschäftliche Katastrophe --, obwohl er für solche Dinge doch immer ziemlich unempfindlich war. Sein Aussehen macht mich bedenklich. Es sieht verteufelt einer Gemütsstörung ähnlich. Warten wir jedenfalls noch die nächsten vierundzwanzig Stunden ab.« Das Gespräch mit einem Fremden hatte Anna ein wenig beruhigt. Sie setzte sich zu Tisch, nahm einige Bissen und verließ bald darauf das Haus, um zu Arnold zu fahren. Er war ausgegangen; sie wartete. Eine Stunde verfloß. Sie läutete dem Diener und bat um ein Glas Wasser. Noch eine halbe Stunde schlich hin, dann kam Arnold. Er trat ein, noch im Mantel, den Hut im schlaff herabhängenden Arm haltend. Sein Gesicht, das nun das vollkommene Oval des geistig leidenden Menschen zeigte, sah gequält aus. »Ich habe dich warten lassen? Wie lang bist du schon hier?« fragte er hastig. Er setzte sich neben sie und ergriff mit gütiger und liebenswürdiger Bewegung ihre beiden Hände. »Laß nur, Arnold,« antwortete sie, entzog ihm die eine Hand, packte ihn beim Kinn und hob den Kopf ein wenig empor. Er lächelte, wobei er auf ihren Hals sah. »Da fällt mir etwas ein«, sagte er »ich will dir etwas geben.« Er eilte aus dem Zimmer. Während ihres kurzen Alleinseins hatte Anna Borromeo einen erschreckenden Gedanken. Sie legte beide Hände an die Stirn und dachte nach. Ungewißheit war ihr das verhaßteste aller Gefühle, deshalb beschloß sie, noch heute ihrem Zweifel ein Ende zu machen. Aber in ihrem sonst undurchdringlichen Gesicht hatte sich während der kleinen Weile so viel begeben, daß Arnold, als er zurückkam, sie stumm fragend anblickte. Er brachte eine kleine Schachtel, in welcher ein altertümlicher Schmuck auf schwarzem Sammet lag. Es war ein Blumensträußchen; die Stengel, frei gebunden, bestanden aus Gold, die Blütenkelche wurden durch fein gearbeitete farbige Edelsteine dargestellt. »Dies ist noch von meiner Mutter«, sagte Arnold, »und du sollst es haben.« Anna betrachtete es, ohne daß sie sich eines wunderlichen Schauers erwehren konnte, der langsam ihren Rücken hinabrieselte. »Und du glaubst, ich soll es tragen?« fragte sie. »Das geht auf keinen Fall.« Sie heftete die stahlblauen Augen ohne Leidenschaft auf Arnold, dessen Stirn sich verfinsterte. »Was sollen wir also tun«, sagte er wie zu sich selbst und warf einen schüchternen Blick zum Himmel. »O, ich könnte es ausdenken, Arnold, daß du ihm die ganze Wahrheit sagen würdest. So tief dürfen wir doch nicht sinken, daß uns Mitleid oder Angst oder Furcht daran verhindert. Oder haben wir uns nur ein kleines Vergnügen außerhalb des Erlaubten verschafft? Besinne dich nur, Arnold, und versuche, etwas anderes zu tun, als das was ich von dir erwarte und was du dir schuldig bist. Und ob nach dem ersten Satz, den du ihm gesagt hast, ich nicht ruhig diese hübsche Brosche werde tragen können.« Sie nahm das Schmuckstück zwischen die Fingerspitzen und drückte die Lippen darauf. Und diese Worte sagte Anna Borromeo, um zu probieren, das war es. Nicht glaubte sie daran, daß Arnold vor Borromeo mit einem Bekenntnis hintreten würde, aber sie wollte sehen, was daraus werden würde, wenn die Stunde gekommen war. Für jetzt hatte sie nur eines im Sinn: zu erfahren, ob Friedrich Borromeo etwas ahnte oder wußte und ob das unberührte Bett der heutigen Nacht auf dies Wissen Bezug habe. Arnold schämte sich und gab ihr recht. Aber er erbleichte, wenn er das Bevorstehende im Bild zu sehen versuchte, und hatte das Gefühl, als verbreitete sich Blässe über Zunge und Gaumen ins Innere des Körpers. »Ich denke daran,« sagte er umhergehend, »ob Borromeo nicht in Podolin leben will. Ihn wird es locken, allein zu sein und Ruhe zu haben.« Sie gingen zusammen fort. Indem Arnold an Annas Seite durch die Straßen ging, schnitt er sich mit wilder Entschlossenheit von allem Vergangenen ab und nahm sich vor, nur die Gegenwart zu leben, den Augenblick zu nutzen, und was feindlich dagegen aufstand zu vernichten. Daran klammerte er sich, um sein Herz mit einem Anschein von Recht verhärten zu können. »Ist der Herr zu Hause?« fragte Anna Borromeo sogleich, als ihnen das Mädchen geöffnet hatte, und die Antwort lautete bejahend. »Gut,« fuhr Anna fort, indem sie Schleier, Hut und Jacke abnahm, »wir wollen in einer Viertelstunde zu Abend essen. Benachrichtigen Sie den Herrn, daß ich auf ihn warte, ich allein, verstehen Sie? Niemand ist sonst zugegen.« Sie traten in das Speisezimmer. »Was heißt das?« fragte Arnold. »Warum soll er nicht wissen, daß ich da bin?« Anna Borromeo ging nahe zu Arnold heran und erwiderte, indem sie aufmerksam die Nägel ihrer Hand betrachtete: »Er ist gestern abend gekommen, ohne daß wir ihn gehört haben, und ich fürchte --« Arnold machte einen Ruck mit dem ganzen Körper. Dann schlug er plötzlich die Hände zusammen und wandte sich ab. Anna blickte ihn strenge an. Das Mädchen trat ein und berichtete: »Der gnädige Herr hat mir nicht geantwortet.« »Nehmen wir also einstweilen Platz, Arnold,« sagte Anna in gesellschaftlichem Ton. Kaum saßen sie, so öffnete sich die Türe und Borromeo erschien auf der Schwelle. Und kaum hatte er Arnold am Tisch erblickt, als sein Gesicht die weiße Farbe verlor und sich rötete. Niemand hatte das je zuvor an ihm beobachtet. Mit schlaffem, blinzelndem Blick sah er Arnold an, dann trat er wieder zurück, schloß geräuschlos die Türe und Anna und Arnold waren wieder allein. Sie schwiegen lange. »Deine Idee mit Podolin ist sehr gut,« sagte endlich Anna Borromeo mit eigentümlichem Lächeln, »so könnte es doch nicht weitergehen. Er hat ohnehin schon lange aufgehört unter Menschen zu leben. Für ihn ist es das beste und für uns ist es das ruhigste und einfachste.« Arnold antwortete nicht. »Ich will nicht damit zögern, ich werde sogleich mit ihm sprechen.« »Ja, tu es nur,« sagte Arnold dumpf, und seine Augen loderten in jener lügnerischen Entschlossenheit, die ihn überfallen hatte. Anna erhob sich und ging. Als sie auf den Korridor trat, hörte sie sonderbare Laute. Der vordere Teil des Flurs war erleuchtet; um zu Borromeos Zimmer zu gelangen, mußte sie, schon im Halbdunkel, um eine Ecke biegen. Aber hier sah sie auf einmal Borromeo. Er stand regungslos und murmelte vor sich hin. »Friedrich! Friedrich!« rief Anna erschrocken. Er setzte zur Antwort sein Gemurmel fort, aus dem sich schließlich die hörbaren Worte rangen: »Ich kann nicht weiter, es ist finster.« Anna schluckte ihren Schrecken hinab, ging zurück, zündete eine Kerze an, wobei sie es vermied, einen der Dienstleute aufmerksam zu machen, und leuchtete dann ihrem Mann voraus. Es war kalt in Borromeos Zimmer. Er nahm einen rotkarrierten Schal und hüllte ihn um seine Schultern. Anna stellte die Kerze auf den Tisch nieder und blickte eine Weile sinnend in die Flamme. »Es ist nun geschehen, Friedrich,« sagte sie dann. »Es hat auch geschehen müssen, -- aus vielen Gründen. Doch du mußt dir selbst und uns das Überflüssige und Quälende ersparen. Ich schlage dir vor, die nächsten Jahre still auf dem Land zu verbringen. Deine Nerven sind zerstört, und so wird es in jeder Beziehung gut für dich sein.« Borromeo stand, an die Tür gelehnt, fröstelnd, regungslos. »Ich kann nicht auf dem Land leben,« sagte er. »Und in der Stadt fühlst du dich keineswegs wohl,« sagte Anna liebenswürdig tadelnd. »Also wo willst du denn leben? Im Nichts?« »Im Nichts. Ganz recht. Im Nichts,« flüsterte Borromeo. »Willst du den Skandal?« fuhr die Frau ernster fort. »Willst du, daß ich gehe?« »Ich will nicht einsam draußen leben in der Natur, Anna. Das macht mich kaput,« sagte Borromeo auf einmal erregt, völlig gegen seine sonstige Art. Er zitterte am ganzen Körper. »Also willst du reisen, Friedrich?« fragte Anna liebevoll. Er schüttelte müde den Kopf. »Höre mich,« begann Anna wieder. »Wie wäre es, wenn du nach Podolin gingest und dort --. Man würde dir die beste Pflege verschaffen ...« Sie verstummte. Borromeo schaute seine Frau groß und kalt an und erwiderte langsam: »Podolin? Ich?« Er trat zum Tisch und stützte beide Arme auf die Platte. »Eher gleich verdorren,« murmelte er vor sich hin. Anna Borromeo war verwundert. »Arnold will es,« sagte sie, »er selbst macht dir das Anerbieten und hält es für gut.« Da fingen Borromeos Augen zu glühen an und sein Gesicht überzog sich abermals mit Röte. »Arnold?« fragte er und nickte dazu krampfhaft mit dem Kopf. »Will --? Das ist nicht wahr! Das will Arnold nicht! Das ist eine Lüge ... eine Lüge ist es.« Er hatte den Arm ausgestreckt und deutete mit dem sich bewegenden Zeigefinger ins Leere, als ob er die Lüge mit Augen sehe. Sein ganzes Wesen war unheimlich verwandelt. Ängstlich haschte Anna nach seiner Hand. Borromeo schloß einige Sekunden die Augen, atmete tief und sein Gesicht erhielt wieder die frühere fahle Färbung. »Es ist nicht Lüge,« sagte Anna fast schüchtern. Sie ahnte nicht, was in diesem Augenblick in dem Manne vorging. »Nun gut,« sagte Borromeo mit grüblerischem und traurigem Ausdruck. »Podolin, -- das ist schlimm, schlimm für mich. Aus vielen Gründen, wie du dich ausgedrückt hast. Aber,« er erhob nun wieder seine Stimme, die dann nicht laut klang, aber unendlichen Zorn und Kummer in sich zu verhalten schien, »aber wenn Arnold vor mich hertritt und mir sagt: dies, Onkel Borromeo, will ich, dies halte ich für gut, nun, dann ... dann will ich nach Podolin.« Anna senkte den Kopf, dachte noch eine Weile nach und verließ stumm das Zimmer. Sechsundfünfzigstes Kapitel »Er will es nicht, Arnold. Er sträubt sich dagegen wie gegen Feuer,« sagte Anna Borromeo, als sie in das Speisezimmer zurückkam. »Er war so erregt, wie ich ihn nie sah. Ich glaube, es wäre schlecht für ihn, nach Podolin zu gehen.« Arnold war verwundert. »Es muß ja nicht sein,« antwortete er. »Wenn Arnold vor mich hintritt und sagt, ich will es, gut dann will ich gehn, sagt er. Das sind seine Worte.« Anna legte sich ermüdet auf das Sofa. Arnold verstummte. Die Vorstellung, daß Borromeo wissen könnte, was ihn mit Anna verband, versetzte ihn plötzlich in die größte Angst. Am nächsten Tag erzählte Anna, daß Borromeo dem Diener befohlen habe, sein Bett in dem Zimmer aufzustellen, welches an sein eigenes stieß. Er irrte durch die Räume im Haus, ging in das obere Stockwerk, stellte sich zu den Dienstboten, ohne etwas zu reden. Die Leute begannen sich vor ihm zu fürchten. Bei Nacht öffnete er das Fenster und spähte die Gasse hinauf und hinunter. So ging es bis zum Ende der Woche. Sein Benehmen war stets sanft und still. Und als am Montag Anna in ihrem Salon Besuche empfing, stellte sich plötzlich auch Borromeo ein, blickte jedem einzelnen mit besinnendem Ausdruck ins Gesicht, setzte sich in die Nähe des Ofens und schien aufmerksam den Gesprächen zu folgen. Wenn ihn selber jemand ansprach, nickte er oder schüttelte den Kopf. Er blieb sitzen, bis der letzte gegangen war und bis Arnold kam. Nun schritt Borromeo ruhig hinaus, wanderte eine Weile im Flur auf und ab, bis er zusammenschreckte, sich umsah, Hut und Mantel nahm und auf die Straße ging. Annas Gemüt verdunkelte sich langsam unter dem ihr unerklärlichen Blick Borromeos. Seine Nähe ließ sie erstarren, sein nicht zu brechendes Schweigen erfüllte sie mit Grauen. Sie getraute sich kaum mehr, das Haus zu verlassen, und wenn sie mit Arnold allein war, gerieten beide unwillkürlich in den Flüsterton. Das ertrug Arnold nicht. So geduckt zu stehen und auf das Ungefähre zu warten, folterte seinen Stolz und vernichtete seine sanfteren Empfindungen. Gelüst auf Gelüst siedete in seinem Herzen empor, und er suchte Anna dorthin zu ziehen, von wo er selbst sie vorher zurückgehalten hatte. Aber sie schien wie gelähmt. Finde einen Rat! sprachen ihre Augen. Er wollte nicht erkennen, was er hätte tun sollen, und er vermochte es nicht mehr. Da dachte er wieder an jenen ersten Ausweg: Podolin! Und er gelangte zu dem Schluß, daß es ja nur auf ihn selbst ankam, daß Borromeo die Entscheidung von ihm selbst abhängig gemacht hatte. Er brauchte nur zu reden. Als ob gemeinschaftliche Qual sie beide in diesem Punkt erfülle, teilte er Anna ruhig mit, was er für das beste halte. Sie stimmte ihm nicht zu, riet aber auch nicht ab; sie schwieg. So kam der Abend. Borromeo, hieß es, sei soeben heimgekehrt. Arnold ging hinüber, pochte an die Türe und trat ein. Borromeo saß am Tisch vor der Lampe. Er erblickte Arnold, und es war, als ob eine lang zurückgehaltene, gewaltige Angst in seinem Gesicht nun offen zur Schau trete. Arnold suchte sich durch den Anblick der im Zimmer verstreuten Gegenstände zu sammeln. Dann begann er. »Es ist besser für dich, dort einsam zu sein, als hier,« sagte er unter anderm. »Podolin ist ja gewissermaßen ein Familiensitz für uns geworden. Nichts wird dir zur Behaglichkeit fehlen, und es wird nicht lange dauern, bis du dich von deinem unerklärlichen Leiden erholt hast. Podolin ist gesund für das Gemüt.« Arnold konnte nicht anders, er mußte seinen Blick in denjenigen Borromeos tauchen; er versuchte nicht einmal, ihn abzuwenden. Und nicht vergaß er diesen Blick, der durch Traum, Schlaf und Wachen seine gleiche Gewalt behielt. Jetzt erst nahm er wahr, daß Borromeo alles wußte. Aber das ließ ihn fast gleichgültig gegenüber dem einen Wort, das aus Borromeos Augen unsichtbar auf ihn zuströmte: Ungerechter! Borromeo stand etwas schwerfällig auf und sagte kurzangebunden: »Gut, ich gehe. Verlaß das Zimmer, Arnold.« Als Arnold draußen war, stellte sich Borromeo aufrechter Haltung ans Fenster und weinte. Aber er schämte sich seiner Tränen selbst vor der Nacht und hätte gern seinen Kopf in die Erde gebohrt. Eine Stunde verging. Der Diener brachte das Essen. Borromeo gewahrte es nicht. Bis Mitternacht stand er fast unbeweglich. Dann setzte er sich vor den Schreibtisch, und sein Kopf sank auf die Brust. Bald begann er zu träumen. Er sah sich auf einer kleinen kahlen Insel vollkommen allein; das Meer ringsum bewegte sich nicht, sondern war still wie Blei. Darüber erwachte er, aber das Entsetzen blieb. Er fürchtete sich vor Podolin wie ein Kind vor dem Gang in die Finsternis. Aber Arnold wollte es, und nicht aus Unterordnung oder Einsicht fügte sich Borromeo, sondern um Arnold zu beweisen, wie sehr er im Unrecht handle, denn Borromeo fühlte, was bevorstand. Damit hatte er auch abgeschlossen mit allem, was ihn an das Leben knüpfte. Der Diener Christian, ein anhänglicher Mensch, der schon elf Jahre im Hause war, sollte Borromeo begleiten und bei ihm bleiben. Er packte Wäsche und Kleider in den Koffer und mittags um zwei Uhr sollten sie zum Bahnhof fahren. Borromeo lag auf dem Bett und stierte in die Luft. Sein Blick schien sich nicht vom nächsten Umkreis seines Körpers entfernen zu können. Oft seufzte er tief und lang. Anna kam, gab dem Diener Aufträge, forderte von ihm täglichen Bericht, dann stand sie stumm vor Borromeo, der sich langsam erhob und an ihr vorbeiging. Der Diener nahm den Koffer, Borromeo folgte in gebeugter Haltung, blickte nicht vorwärts, nicht seitwärts, sondern nur einwärts wie ein fast Erblindeter. Anna zitterte über die ganze Haut, als sie ihm nachblickte. Sie sperrte Borromeos Zimmer zu und steckte den Schlüssel in ihre Tasche. Eine halbe Stunde später kam Arnold. Er hatte noch gestern telegraphische Anweisung für die Aufnahme in Podolin getroffen und den dortigen jungen Arzt, der alte war verstorben, mit einem Wagen auf die Station bestellt. Das teilte er Anna Borromeo mit, aber sie nahm es kühl auf. Schweigend saß er bei ihr, bis sich ein trüber Zorn in ihm angesammelt hatte. Er packte mit beiden Händen ihren Kopf, bog ihn zu sich heran und fragte durch die Zähne, indem er seine aufgerissenen Augen vor ihre halbgeschlossenen hielt: »Sieht denn die Erfüllung anders aus als der Wunsch?« Und Anna entgegnete flüsternd: »Ja.« Da erhob sich Arnold, lachte und ging. Gern hätte ihn Anna zurückgerufen, aber sie konnte nicht. Ihre Neugierde hatte nichts mehr zu erwarten. Freiheit und Geheimnislosigkeit war das, was sie am wenigsten ersehnte. Sie versank in eine öde Trauer. Sie trauerte darüber, daß sie sich von Arnold ihre Schulden hatte bezahlen lassen, und vieles erschien ihr nur noch gemein und häßlich, was vor der Erfüllung abenteuerlich gewesen war. Zu rasch hatte sich alles erfüllt, zu viel hatte er gegeben; zu viel und zu wenig, denn von ihm selbst besaß sie nichts. Sie verwünschte ihr Leben. In der Kanzlei und unter den Bekannten wurde erzählt, Borromeo sei zur Erholung für einige Wochen nach dem mährischen Landgut seines Neffen gereist. Aber auch andere Gerüchte tauchten auf und züngelten umher, die auf Anna Borromeo Bezug hatten. Sie spürte es, denn Leute wie sie, die nur durch die Luft dieser besonderen Welt ihr besonderes Leben führen, erleiden eine Art Tod, wenn sie sich nicht mehr ebenbürtig geachtet wissen. Seltsam, von der Stunde an, wo Borromeo aus dem Hause gegangen, waren Anna und Arnold wie voneinander abgeschnitten. Ruhelosigkeit und Zerfahrenheit herrschten in Arnolds Verrichtungen. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß alles außerhalb Liegende seine Wichtigkeit eingebüßt hatte. Und doch, wenn er zu dem Punkte kam, wo es hätte hell werden können, so blieb er stehen und begann zu träumen. Er verlor Appetit und Schlaf, er verlor die Teilnahme an den Menschen, die ihn bewundert und geliebt hatten. Er verlangte Rechenschaft von sich, aber bei der ersten Erwiderung, die seine Vernunft oder sein Herz gab, schauderte er zurück. Er hatte kein Maß für den Lauf der Tage, er achtete die Zeit nicht mehr. Eingefangen und verstrickt erschien er sich, verschlungen von etwas Ungeheurem. Er spürte die Erschütterung eines Sturmes, aber nicht er selbst litt darunter, sondern ein von ihm abgelöstes Wesen, das im leeren Raume umhertrieb wie ein Fahrzeug ohne Ruder und Mast. Kaffeehaus, Theater, Spiel, Gesellschaft, alles zog ihn an und stieß ihn, kaum genossen, wieder ab. Er konnte nicht begreifen, was denn eigentlich mit ihm geschehen sei, und er hegte fieberhafte Wünsche, wünschte eine neue Erde zu finden, einen andern schweifenden Stern, um dort von neuem zu beginnen, was hier so widernatürlich sich in Unheil und Mißgeschick gebohrt hatte. Beständig glaubte er, glühende Luft zu atmen und eine wunderliche Scheu erfüllte ihn, zu denken und zu schauen. Oft saß er allein und starrte, wie ein Schiffbrüchiger aufs Wasser starrt, das immer ruhiger zu werden droht und sich weigert, selbst den Balken weiterzutreiben, an den er sich hält. Eines Abends gegen die Dämmerstunde, es ging schon tief in den Herbst hinein, suchte er Anna Borromeo auf. Sie zeigte ihm die Berichte Christians und des Arztes aus Podolin. Beide hatten sich einander zu verhehlen gesucht, was dort vorging, aber das letzte Schreiben des treuen Dieners lautete wie folgt: »Gnädige Frau, der gnädige Herr sieht jetzt immer Gesichter in der Luft. Er glaubt, jemand will ihn totschlagen. Er will auch keine Speise nehmen, der gnädige Herr, weil er glaubt, jemand will ihn vergiften. Er sagt, er hört Stimmen, und der Doktor von Podolin sagt, der gnädige Herr verliert den Verstand. Er sagt auch, der gnädige Herr, er will ans Gericht gehen, um sein Recht zu erhalten.« Anna Borromeo las vor. Arnold hatte die Lehne eines Stuhles gepackt, sie gegen die Knie gedrückt, so fest, daß die Lehne plötzlich am Sitz entzweibrach. Mit einem sonderbaren Laut sprang er auf, trat ans Fenster, erblickte aber nichts als den Nebel, der sich bläulich-weiß wie Milch an die Scheiben drückte. Dann murmelte er einen Gruß, warf draußen in aller Hast den Mantel um und ging. Ihm brannte das Gesicht, der Hals, die Brust und die Füße. Er lief durch die Straßen, als ob Leben und Tod von der Schnelligkeit seines Schrittes abhänge, um plötzlich stehen zu bleiben und mit zusammengeballten Händen und verzweiflungsvoll aufgerissenen Augen wie ein dem Fieberbett Entlaufener um sich zu blicken, an eine Hauswand gelehnt, in den Nebel tastend, als ob er ein Gebilde seiner Phantasie wäre. Da sah er gegenüber auf der andern Seite der Straße die geöffneten Türen einer Kirche. Ein feierliches rötliches Dunkel dehnte sich in dem leeren Raum. Er ging hinüber, betrat die Kirche, sank in einer finstern Ecke auf die Knie und betete, betete hastig, aufblicklos, glaubenslos, mit verschlossener, stürmischer, stürmisch einen Abgrund hinunterrollender Seele. Siebenundfünfzigstes Kapitel Er kam auf die Straße und sah nichts; er sah nicht einmal die Straße, viel weniger die Menschen. Er taumelte mehr, als daß er ging; er flüsterte, seufzte und machte mit den Armen trunkene Bewegungen. »Ja ja,« rief er stehen bleibend und den Arm in die Höhe streckend, einem alten Mann nach, der stillzufrieden an ihm vorbeigegangen war, »ja ja.« Der Alte drehte sich um, stutzte und lachte. Zu Hause machte er in allen Zimmern Licht. An den elektrischen Flammen war ihm nicht genug, er zündete auch noch Kerzen an. Es war ihm kalt, wie wenn er aus der Ofenwärme eines Zimmers auf ein Eisfeld getreten wäre. Kein Gegenstand vermochte den Blick seiner Augen zu fesseln; eine gerechte und furchtbare Macht rollte plötzlich den Faden seines Lebens nach rückwärts ab und zwang Arnold, sich umzuwenden und der Gewalt zu folgen. Die ersten Stunden der Nacht vergingen in einer vollkommenen Besinnungslosigkeit. Er eilte unaufhörlich durch die Flucht der Zimmer. Völlig erschöpft warf er sich endlich auf ein Sofa. Dennoch nahte Bild auf Bild, quälend wie die Träume an der Grenze des Erwachens. Er legte den Kopf zwischen die Hände und schlief ein, gerade als der erste Tagesstrahl die Finsternis draußen durchbohrte. Er träumte, er säße auf einem armseligen Leiterwagen, welcher durch Schnee und Regen nach Podolin fuhr. Ein fürchterlicher Blitz erleuchtete das Dunkel und Arnold sah, daß er gegen Borromeo die Peitsche schwang. Denn kein Pferd war vorgespannt, sondern Borromeo zog das knirschende Gefährt durch den tiefen Schlamm und Morast, und beim Aufflammen des Blitzes gewahrte Arnold die angespannte Nackenhaut und den müde gesenkten Kopf. Plötzlich aber wandte sich Borromeo, schritt auf Arnold zu und wollte reden, da erwachte Arnold von der Berührung des Dieners, der seinem Herrn gefällig zu sein glaubte, wenn er ihn aus so unbequemer Schlafgelegenheit half. Er ging ins Badezimmer, ließ einen kalten Wasserstrahl über den Kopf laufen, trocknete und kämmte sich und verließ das Haus. Langsam schritt er durch den unbeweglichen Morgennebel. Nach einer halben Stunde stand er vor dem Haus, wo einst Verena gewohnt hatte. Eine Stimme erhob sich aus der Ferne, rief, rief ... Arnold konnte nicht verstehen. War es Verenas Stimme? Fremd war ihm Verena. Wie dunkel lagen die Wege! Valescott begegnete ihm. »Wie sehen Sie aus, lieber Freund!« rief der Leutnant. »Ihnen ist nicht wohl, wie? Soll ich einen Wagen besorgen? den Arzt benachrichtigen?« Nichts von alledem. Arnold entzog sich dem Besorgten. Jedes menschliche Gesicht flößte ihm Furcht ein, denn in jedem sah er verwandelt sein eigenes, aller guten Triebe beraubt, leer, dünkelhaft und lügnerisch. Ohne daß ein Vorsatz seine Schritte gelenkt hätte, befand er sich plötzlich vor dem Nordbahnhof. In der Halle studierte er den Zugsplan und sah, daß er in einer Stunde nach Podolin fahren konnte. Er kaufte ein Billett, setzte sich im Wartesaal in einen dunkeln Winkel, und so, ohne Reisegepäck, in wüster, geschlagener Dumpfheit, bestieg er auch den Zug. Achtundfünfzigstes Kapitel Der Nebel bedeckte das Land und schien die Bewegung und das Klappern der Räder zu dämpfen. Schwarze Bäume streckten mit verzweifelter Gebärde ihre Äste in den Qualm. Mitten auf freier Strecke mußte der Zug halten, und die Bediensteten liefen rufend hin und wieder. Arnold stieg aus und ging langsam neben einem Acker zur Maschine, vor welcher der Leichnam eines Pferdes hingestreckt lag. Geschäftig, aber untätig standen die Leute beisammen. Arnold wandte sich ab; der Kopf des toten Tieres erinnerte ihn an sein Traumpferd. Angst und Ahnung ließen seine Züge zusammenschrumpfen wie den Schwamm eine Faust. Das Zeichen zur Weiterfahrt wurde gegeben. Arnold setzte sich wieder in seine Ecke, Minute auf Minute rollte hörbar an seinem Ohr vorbei und mischte sich mit den Millionen der schon verflossenen. Leicht glaubte Arnold diejenige herausklauben zu können, während welcher er auf so rätselhafte Weise sich selbst verloren hatte. Aber alle sahen einander gleich; stumm wie Holzscheite schwammen sie auf dem glatten Strom der Zeit ins Ewige hinaus. Die Station kam, in der Arnold den Zug verließ. Weit und breit war kein Wagen zu haben. Er mußte zu Fuß nach Podolin. Der Boden war hart, wenn auch nicht gefroren. Von oben schien Gott gegen die Erde zu blasen, worauf das Nebelwerk widerwillig verflog. Wie in die Tiefe eines Trichters blickte ein Stück hellblauen Himmels herab. Leer und still dehnte sich das Land. Auch vor Arnolds Schritten wich der Nebel zurück, bis er sich allmählich gegen den Horizont drängte. Die Sonne beschien ihn bräunlich golden und nur den Fluß entlang türmte er sich noch wie eine fabelhafte Bergkette. Es war drei Uhr nachmittags, als er durch eine Biegung des Wegs rechts den Hügel von Podolin gewahrte. Er ging links gegen den Ansorge-Hof; auf dem hölzernen Steg, der über den Fluß führte, blieb er stehen und schaute ins Wasser. Jetzt erst dachte er daran, wen das heimatliche Haus drüben beherbergte, und eine finstere Verzagtheit ergriff von ihm Besitz. Morastig und faul wie das Wasser unten erschien ihm sein Inneres, und er lehnte sich mit einer Inbrunst an das schwache Holzgeländer des Stegs, als fürchte er, selbst das dunkle Abbild seines Ichs zu verlieren, welches der Wasserspiegel zurückgab und welches ihm doch wenigstens seine eigenen Züge, seine Augen, seinen Mund, seine Arme zeigte. Er ging weiter und trat ins Haus, als Ursula gerade mit mehlweißen Händen aus der Küche kam. Freude schien die Alte über sein Kommen nicht zu empfinden. Die Luft im Hause war verändert. Ursula, die hier ihre eigentliche Heimat gefunden hatte, fühlte sich nun unbehaglich. In dem schmalen Flur ging Arnold auf und ab; Ursula beobachtete ihn traurig und etwas erstaunt. Sie fragte, wo er sein Reisegepäck habe, doch er antwortete nicht. Er könne nur in der Hinterstube wohnen, fuhr sie betrübt fort, die drei andern Zimmer hätten der Herr Onkel und Christian inne. Arnold stellte sich auf die Schwelle zur Küchentüre und lehnte die eine Schläfe gegen den Pfosten, während Ursula hantierte und dabei erzählte. Sie buk einen Obstkuchen für Borromeo; nur dies esse er bisweilen, sonst verweigere er fast alle Nahrung. Er sei sehr ruhig, nur in der Nacht fange er oft an zu phantasieren, aber niemand könne etwas davon begreifen. Es dürfe nie finster sein, er fürchte sich vor der Finsternis. Bevor er sich niederlege, schliche er zehnmal zu den Türen, um zu sehen, ob sie fest verschlossen seien. Oft lasse ihm dieser Gedanke auch im Schlaf keine Ruhe, und Christian müsse dann mit der Kerze in alle Winkel leuchten. »Der hiesige Doktor behauptet,« fuhr Ursula fort, »daß die Einsamkeit an allem schuld ist und daß jetzt nichts mehr zu machen ist. Er ist unheilbar. Jede Woche läuft uns auch eins vom Gesinde davon. Sie sind abergläubisch und ängstigen sich vor dem guten Herrn wie vor dem Teufel.« Arnold ging wieder in den Flur zurück. Er trat an die Türe von Borromeos Zimmer und legte die Hand auf die Klinke. Er wagte nicht einzutreten, ihm schwindelte. Unsicheren Schrittes ging er auf den Hof und sah vom Zaun aus gegen die Fenster. Dann eilte er in den Park. Er atmete schwer. Plötzlich aber stand er still und klammerte den einen Arm um eine Föhre. Mit aller Gewalt sammelte er sich zu einem Entschluß. Seine Stirn und Blicke waren gesenkt, als er zum Haus zurückging. Ohne weiteres Zaudern öffnete er die Tür zum Zimmer des Oheims. Borromeo saß einige Schritte vom Fenster entfernt und schaute, eine steinerne Unbeweglichkeit in allen Gliedern und selbst im Gesicht, gegen die Landschaft hinaus. Sein Bart war vollständig grau geworden. Der ziemlich kahle und seltsam abgeplattete Kopf mit der niedrigen Stirn hatte etwas von einem aufgesetzten Wachsmodell. Die Hände waren gelb und schmutzig. Sehr langsam wandte Borromeo den Kopf gegen die Türe. Das Geräusch des Eintretenden war längst verklungen, aber es schien, als brauchten die Laute zehnfache Zeit, um zu seinem Ohr zu gelangen. Er blickte Arnold ins Gesicht. Sein Blick schien nicht sehen, sondern nur tasten zu können. Er fletschte die Lippen und lächelte endlich, wobei Geifer in den Bart rann. Schrecklich hob und spannte sich Arnolds Brust. »Onkel Borromeo, kennst du mich nicht?« fragte er endlich. »Hä --?« machte Borromeo. Es war ein empfindungsloser Laut, von einer Bewegung des Mißtrauens begleitet. Auf einmal sagte er, indem er beide Hände zur Höhe des Halses erhob: »Zurückgesetzt ... sie lauern ... man muß vo--orsichtig sein ... Sie sperren einen sonst ins Kloster ...« Arnold, als ob er einen Faustschlag auf den Hinterkopf erhalten hätte, wankte und streckte den Arm aus. Borromeo verdrehte ängstlich die Augen und wollte sich erheben. Da nahm sich Arnold zusammen und verließ den Raum. Neunundfünfzigstes Kapitel Draußen überfiel ihn eine betäubende Schlafsucht. Er taumelte in das Zimmer, das Ursula inzwischen notdürftig für ihn hergerichtet hatte, warf sich auf die nackte Matratze und schlief ein. Nach Mitternacht erwachte er, erhob sich, suchte Licht zu machen, fand aber weder Streichhölzer, noch Kerze. Er tastete sich, nachdem er den Mantel umgeworfen hatte, in den Flur, fand aber die Haustüre versperrt. Er überlegte, ob er Ursula wecken solle; er lehnte die Stirn an die kalte Mauer, und feurige Gebilde erschienen vor seinen ungewissen Augen. In seinem Innern war eine ahnungsvolle Stille eingetreten. Wenige Minuten, und er kehrte zurück und stieg durch das Fenster in den Hof, zog vor dem frostigen Anhauch der Nacht den Mantel fest über der Brust zusammen, und bald hatte er das Haus weit im Rücken. Das Land lag dumpf und schwarz. Wie er so ging, schien es, als suche er auf dem Boden etwas, das ihm gehörte. Mit feuchten Augen blickte er in das Dunkel und rief plötzlich aus: »Bezahlen! das ist das große Wort, bezahlen!« Auf einer hügeligen Erhebung des Bodens blieb er stehen. Fern, hinter dem fernsten Waldrand glühte der schwarze Himmel rot. Ein Brand schien dort zu wüten, aber der runde, abgegrenzte Feuerfleck sah mehr wie das geöffnete Tor zu einer unbekannten Welt aus. Arnold spürte, wie eine geistergleiche Hand Trübes und Ungleiches aus seinem Innern entfernte und wie das ungeduldig pochende Herz sich ausdehnte und freier zu schlagen begann. Bezahlen, dachte er, das ist es. Nicht darum handelt es sich, von neuem hinauszugehen und zu probieren, ob das Schlechte nicht wiederkommt. Nicht darf man sich betrügen und glauben, ein neues Leben ist da, wenn man nur das alte vergessen kann. Und wie sehr ich vergessen kann, das hat sich gezeigt. Wenn ich das Gute und Große vergessen konnte, um wie viel eher werde ich das Schlechte und Gemeine vergessen. Leicht ist es, sich selber zu betrügen und zu glauben, du bist besser geworden, nur weil du gesehen hast, wie schlecht das Schlechte ist. Habe ich nicht erfüllt, wozu ich mich ausersehen hatte, so ist auf ewig verloren, was mir bestimmt war. Es ist unrechtmäßig, glücklich werden zu wollen, wenn man schlecht gelebt hat. Ich darf mich nicht schleppen mit dem Vergangenen und ich darf es nicht hinter mich werfen, -- was muß ich also tun, damit Gerechtigkeit entsteht? Mechanisch streckte er die Arme aus, und es war ihm, als könne ihn die Erde nicht länger tragen. Schauer auf Schauer überflutete ihn. Undeutlich und fieberhaft zuerst, dann, indem die Wölbung seiner Brust und seiner Stirne sich furchtbar spannten, erst Gedanke, dann Gefühl, dann zusammenrauschend und -stürzend, erhob sich eine Stimme wie der Flügelschlag eines heranschwebenden Vogels: Nur wenn du nicht mehr bist, wird auch dein Übel nicht mehr sein; erst aus der sühnenden Tat erwacht das Bessere wieder! Er sank zu Boden. Seine Finger bohrten sich in den Sand, Wange und Kinn wurden von einem Strauch geritzt, Krämpfe durchzuckten seinen Körper. Wann hat es begonnen? grübelte er; an welchem Tag, zu welcher Stunde? Langsam hat mich ein Ungeheuer umschlungen, und seine Kunst war es, mich müde und faul zu machen. Eingeschläfert hat es mein Herz und dann entzwei gerissen. Bezahlen mußt du, Arnold, bezahlen! Als er sich erhob, wuchs wie neugeboren auch sein ganzes Wesen empor, gesammelt, friedlich und fest. Er war sich selber dankbar, und als ob er in einer dazwischenliegenden, dunklen Zeitspanne nur mit einem kleinen Teil seiner Sinne gelebt hätte, _fühlte_ er sich jetzt, fühlte er klar und leicht den menschlichen Sieg über die ungefähren, blind niederreißenden Schicksalsmächte. Der östliche Himmel kam ins Glühen. Mit einem seltsam kühlen und heiteren Lächeln setzte Arnold seinen Weg fort. Er verfolgte gespannt das Auseinanderfließen der flammenden Cirruswölkchen und wie der Himmel mit jeder Minute klarer und strahlender wurde, als hätte ihn eine verborgene Quelle mit Bläue übergossen. Die Luft war frisch und dünstelos. Als Arnold nach Podolin kam, war es schon ziemlich weit im Vormittag, aber die Häuser sahen aus, als lägen sie noch im Schlaf. Bei der Werkstatt eines Mechanikers blieb Arnold stehen und betrachtete die ausgehängten Flinten und Hirschfänger. Die Werkstatt lag einige Treppen tiefer als die Straße. Arnold ging hinunter und verlangte einen Revolver. Er wählte eine billige und gewöhnliche Waffe, bezahlte den geringen Preis und empfahl sich freundlich. Er schritt den Hügel hinan, kam wieder in die freie Landschaft und sah plötzlich hinter dem Zaun ihres Gärtchens Agnes Hanka. Sie schüttelte Zwetschgen von den Bäumen und sah gesund aus. Kaum hatte sie Arnold erkannt, als sie freudig winkend zum Pförtchen schritt und ihm schüchtern lächelnd die Hand reichte. »Ich weiß, daß Sie mit Alexander befreundet sind,« sagte sie, »da sind Sie also auch mein Freund.« Arnold errötete. Er begriff in diesem Augenblick, was ihn und Hanka auseinandergerissen hatte. Kopfschüttelnd antwortete er: »Hanka und ich sind Freunde gewesen; wir sind es nicht mehr durch meine Schuld.« Agnes lächelte, wie Frauen über Männerumtriebe zu lächeln pflegen. Sie nahm es nicht recht ernst. Indem sie offen in Arnolds frisches und von innen strahlendes Gesicht blickte, welches keine Übernächtigkeit zeigte, lud sie ihn zu einem Butterbrot und einem Glas Wein ins Haus. Sie wünschte stets zu geben; da dies für sie am leichtesten und unverfänglichsten war, machte sie ihre Speisekammer zu einem Vorzimmer ihres Herzens. Arnold hatte Hunger und nahm die Einladung an. Alsbald setzte Agnes Brot, Schinken, Butter, Honig und eingemachte Früchte vor ihn hin, rückte einen Stuhl an die andere Seite des Tisches und sah gerührt und dankbar dem eifrig Essenden zu, denn sie hatte seit langer Zeit keinen Gast mehr in ihrem Hause gehabt. Arnold erzählte mit Vorsicht von Hanka, denn er erinnerte sich, daß er gewisse Geheimnisse vor Agnes nicht preisgeben dürfe. Als er genug gegessen, getrunken und erzählt hatte, erhob er sich, reichte der lieben Wirtin die Hand und ging. In ziemlich weitem Bogen führte sein Weg gegen den Ansorge-Hof. Als er das Haus betrat, erfuhr er von Ursula, daß um sieben Uhr morgens ein Arzt und ein Wärter angekommen seien und schon zwei Stunden später seien Borromeo und Christian mit jenen beiden wieder abgereist. Arnold zuckte zusammen, als er dies vernahm, wie wenn sich längstvergessenes Unheil wieder vor seinem inneren Blick entfalte; aber dies war nur ein letztes Gedenken. Ruhig wanderte er eine Zeit über im Hof auf und ab. Dann trat er von neuem ins Haus, suchte einen Bogen reinen Papiers aus der Lade, wo dergleichen verwahrt wurde, setzte sich nicht ohne Umständlichkeit an einen Tisch und schrieb: »Der Ansorge-Hof fällt nach meinem Tode mit allem beweglichen und unbeweglichen Gut an unsere alte Dienerin Ursula Kämmerer. Mein in ungarischen Staatspapieren auf der Depositenbank liegendes Barvermögen im Betrage von achtmalhundertvierzigtausend Gulden laut Kontokorrent vom 1. Juli #a. c.# vermache ich meinem Freunde, dem Statthaltereibeamten Ludwig Wolmut, zurzeit in Graz. Er soll es auf eine solche Weise verwenden, die dem in unsern gemeinschaftlichen Gesprächen oft aufgestellten Ideal angemessen ist. Ich vertraue ihm. Bei klarem Bewußtsein meiner selbst und in gerechter Selbstbestimmung habe ich dies niedergeschrieben zu Podolin in Mähren, am 27. Oktober. Arnold Ansorge.« Sechzigstes Kapitel Es war zwei Uhr nachmittags, als Arnold das Haus verließ. Er ging ein Stück am Fluß entlang, bis er zu einem verwahrlosten Hüttchen kam. Am Ufer hockten ein Mann und ein Weib und flickten Netze. Im Wasser lag ein kleines Boot. Arnold bat die Leute um das Fahrzeug; er wolle nur bis zum Wald hinunter rudern. Zugleich gab er dem Mann ein Guldenstück und stieg ein. Stehend, mit der Stange stieß er das Boot flußabwärts, wobei er lange Ruhepausen machte, um den strahlenden Himmel oder sein dunkleres Abbild im dunklen Wasser zu betrachten. Es schien ihm, als gleite er zwischen zwei Himmeln dahin. An einer ziemlich einsamen Stelle, wo der Wald an beiden Ufern dicht zum Wasser trat, legte Arnold an und kettete das Boot an einen Stamm. Seine Blicke fielen auf das hellgrüne Moos, den Blätterteppich, die glitzernden Gräserspitzen, das Mückengewimmel in der weißlichen Luft, durch gelbe und goldene Sonnenstrahlen schießend. Er horchte auf das feine Sausen des Windes hoch in den Kronen, auf vielfältige, schläfrige, halberstorbene Laute, Zweigeknacken, Blätterrascheln, das Flattern kleiner Vögel. Die meisten Sträucher waren schon kahl; auf einem kleinen Wiesenstück standen Hunderte violetter Herbstzeitlosen. In der Tiefe des Forstes ertönte Hundegekläff, dann ebenso fern das Knallen einer Peitsche. Bisweilen stieg ein Hauch wie Nebel zwischen den Stämmen empor. Die Sonne war am Sinken. Rötlich zitterten die Tannennadeln in der Luft. Der Himmelsausschnitt, den eine Lichtung wahrnehmen ließ, veränderte sein sattes Tiefblau ins Grünlich-Violette. Arnold legte sich auf eine Schicht von braunem Nadelwerk. Mit der Hand haschte er nach den Fäden des Altweibersommers, die ihn umschwebten. Vertieft blickte er dann auf einen Ameisenzug neben seiner Schulter, und er fühlte sich klein wie eine Grille und betrachtete liebend diese Welt der Ameisen und den Wald der Gräser von unten und innen. Seine Züge wurden noch ruhiger als bisher, aber auch ernster. Er rückte ein wenig hinauf, um sich bequem an den dicken Stamm der Föhre lehnen zu können, die von allen ringsum am höchsten ragte, als erste das Abendrot an ihrer Spitze auffing und im Osten zugleich den Mond begrüßte. Arnold pflückte einen Grashalm und zog ihn lächelnd durch den Mund, so daß die tauige Feuchtigkeit seine Lippen erfrischte. Dann öffnete er den Rock und das Hemd, zog den Revolver aus der Tasche und drückte die Laufmündung fest gegen die linke Brust. _Ende_ Von _Jakob Wassermann_ ist im gleichen Verlag erschienen: Die Geschichte der jungen Renate Fuchs. Roman. 9. Auflage. Die Juden von Zirndorf. Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Der niegeküßte Mund. Hilperich. Novellistische Studien. Alexander in Babylon. Roman. Dritte Auflage. Die Schwestern. Drei Novellen. Dritte Auflage. Bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart: Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens. Roman. 6. Aufl. Von _Jakob Wassermann_ ist im gleichen Verlage erschienen: Die Juden von Zirndorf Roman. Neubearbeitete Ausgabe Geh. M. 4.--, geb. M. 5.-- Der Verfasser der »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, Jakob Wassermann, hat seinen vor zehn Jahren erschienenen Roman »Die Juden von Zirndorf« in einer neubearbeiteten Ausgabe herausgegeben, der die Kürzungen trefflich zustatten gekommen sind. Ein merkwürdiger Roman, diese »Juden von Zirndorf«. Kaum je hat ein jüdischer Poet seinen Glaubensgenossen und über das Judentum der Gegenwart überhaupt schärfere und zutreffendere Dinge gesagt, als Wassermann in diesem Buche. Die besten Eigenschaften des jüdischen Volkes erscheinen in ihm selbst verkörpert, vor allem der kritisch-skeptische Sinn, der auch sich selbst nicht schont. Mit diesem verbindet sich auch bei Wassermann eine starke, jedoch mehr mystisch als sinnlich glühende Phantasie, der namentlich in dem phantastischen »Vorspiel« des Romans, welches eine mit dem Erscheinen des merkwürdigen Messias Sabbatai Zewi verknüpfte Judenverfolgung im siebzehnten Jahrhundert behandelt, eine glänzende poetische Leistung gelungen ist. Dieses Vorspiel bildet den Grundakkord zu der in unseren Tagen spielenden Geschichte der »Juden von Zirndorf«, in denen ein begabter Jüngling Agathon, in dem das edelste Judentum verkörpert ist, die von einem brutalen Christen erduldete Schmach durch einen Mord an seinem Peiniger rächt. Dennoch beweist der Dichter sowohl in der reichen Fülle feingezeichneter Charaktere als im Gange der Handlung die vollkommenste Objektivität. (Neue Zürcher Zeitung) Dieser Roman ist das vielleicht noch immer bedeutendste Buch Wassermanns. Schon sein Gegenstand, die Judenfrage, in einer tiefen und nachspürenden Weise dargestellt, reizt das aktuelle Interesse. Dabei ist der Verfasser, selbst ein Jude, voll klarer Einsicht in die Dinge und steht, soweit das überhaupt möglich ist, über ihnen. Das Buch gehört nach Form und Inhalt zu den bedeutendsten Erscheinungen in der deutschen Literatur der letzten Jahre. (Arbeiterzeitung, Wien) Die Geschichte der jungen Renate Fuchs Roman. Neunte Auflage. Geh. M. 6.--, geb. M. 7.50 Jedes große, befreiende Buch muß ein Buch der Erlösung und der Wiedergeburt sein. Dies ist ein Buch von der Erlösung der Frauen, »die alten sinnlichen Vorurteilen zu mißtrauen beginnen, die ihr Schicksal, ihr Frauenschicksal erleben und nicht länger leibeigen sein wollen«. -- Seit dem »Grünen Heinrich« Kellers ist in deutscher Sprache kein so interessanter und tiefsinniger Roman erschienen. (Die Zukunft) Ernsthafte Kritiker werden nach sorgfältiger Registrierung aller Stimmungen und aller Gedankentiefen, nach angestrengtem Studium aller Formfeinheiten und aller Seelenanalysen auf Eid und Gewissen versichern dürfen, daß es sich bei dem Buch Jakob Wassermanns wirklich um ein bedeutendes dichterisches Werk handle, um ein Werk, von dem jedes Kapitel ein vollgültiger Beweis intimster Empfindung und feinster Erkenntnis der menschlichen Natur sei. (Berliner Tageblatt) Ein subjektives Entzücken ist es eigentlich, das an dieses Buch fesselt. Ein subjektiver, männlich empfundener Frauenroman -- damit kann man das Buch literarisch kennzeichnen. Ich halte es für ein Ereignis. Bei Wassermanns Darstellungskunst im einzelnen kann ich nicht lange verweilen. Seiner Art von psychologischer Dialektik widersteht man nicht: sie rührt ans Feinste und oft an kaum mehr Sagbares. Seine Erfindung im kleinen, im Zusammenhänge-Schaffen und Verweben von Motiven ist für den mitstrebenden Arbeitsgenossen bewundernswert. Und seine Sprache, das eigentlich Schönste und Phantasievollste an ihm, wächst aus schlichtesten Einzelheiten zu wundervollen Wirkungen. Durch den deutschen Naturalismus und andere Errungenschaften ist im Lande unserer Kunst nun jahrelang gesät worden, Wassermanns Roman ist reiche Ernte. (Die Zeit, Wien) Der niegeküßte Mund -- Hilperich Novellistische Studien. Geh. M. 2.--, geb. M. 3.-- In diesen Novellen hat die Wassermannsche Erzählungskunst eine mehr als respektable Höhe erreicht. Es sind belletristische Kunstwerke von einer so feinen und sicheren Arbeit, wie wir ihrer in der heutigen deutschen Literatur nicht viele besitzen. Was sie vornehmlich auszeichnet, ist ihre gute Haltung im Sinne der epischen Kleinkunst. Wie hier alles in den Verhältnissen abgewogen ist, wie anmutig und doch streng die Linie fließt, wie der Zierat sich verteilt, Licht und Schatten sich verhalten, Ausführung und Andeutung zueinander stehen -- alles das verrät einen in Deutschland sehr seltenen Kunstverstand und ungemein viel Talent. In dieser Hinsicht wären nur wenig Aussetzungen zu machen, so wenige, daß man sie verschweigen darf und erklären: der künstlerisch Genießende, der Kenner, wird hier sein volles Genügen finden. (Die Zeit, Wien) Alexander in Babylon Roman. Dritte Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50 Nichts als der reale Gang der geschichtlichen Ereignisse von Alexanders Rückkehr aus Indien bis zu seinem vorzeitigen Tode wird uns erzählt, dies freilich in farbigreicher kulturhistorischer Ausmalung und mit ebenso kühner als intensiver Psychologie. So ist dieses Buch weit mehr ein Prosaepos als ein Roman, und es bietet weit mehr eine faszinierende Ausdeutung der Geschichte als etwa eine Spannungserzeugung durch pragmatische Verwicklungen. Auf jeden Fall aber ist es ein Kunstwerk, sowohl durch die Geschlossenheit seiner Komposition wie durch seine kaum genug zu preisende sprachliche Behandlung. Es gehört zu unsern schönsten deutschen Prosabüchern. Manche Kapitel verdienten in den Schulen gelesen zu werden. Auf solche Weise wird Geschichte lebendig gemacht und beseelt. (Neue Freie Presse, Wien) Wassermann hat mit dieser Krankheitsgeschichte eines Riesengeistes ein Kunstwerk geschaffen, das weit hinausragt über die meisten historischen Romane alten Stiles. (Kreuzzeitung, Berlin) ... Daß man sich ja nicht durch die Erinnerung an die ägyptischen Romane von Ebers oder an die Völkerwanderungsromane von Felix Dahn abschrecken lasse, diesen »Alexander in Babylon« zu lesen. Hier gibt es keine in Griechen oder Perser verkleidete deutsche Leutnants; man braucht nur, wenn man es nicht ohnehin spürt, in Plutarchs »Alexander« nachzulesen, um alsobald zu begreifen, daß Wassermann die antike Welt gleichsam in seine Seele hineingeglüht hat, etwa so, wie es in neuerer Zeit der Dichter Hugo von Hofmannsthal in seinem Drama »Elektra« tat. (Berner Bund, Bern) »Nach Babylon!« Der bloße Name versetzte die Söldner in Entzücken. Der weiß nichts von irdischer Glückseligkeit, hieß es unter ihnen, der nichts von Babylon weiß. Und auch uns versetzt der Name dieser großen Stadt in Entzücken, erinnern wir uns ihrer nach dem Lesen dieses Buches, so intensiv, so herrlich, so betörend ist uns Babel, für das das Neue Testament nicht genug verächtliche Ausdrücke finden konnte, geschildert worden. Babylon -- das ist das Leitmotiv dieses Buches, die goldene, unermeßlich große, an Freuden nie auszuschöpfende. Und oft scheint es sogar, als ob auch Alexander nur ihretwegen geschaffen sei. Aber es lag dazu doch eine zwingendere Notwendigkeit vor. Wassermann wollte sich auseinandersetzen mit einer solchen herrlichen, die Zeiten überdauernden Persönlichkeit. Und wie er's getan, das ist bewunderungswürdig. (Neue Hamburger Zeitung) ... So muß Alexander der Große, der Bezwinger des Orients, gewesen sein, so muß er, als der Traum der Weltherrschaft ihn packte und er sich götterhoch über die Mitmenschen erhoben dünkte, Menschenverachtung und brütende Einsamkeit umfangen, und ihm auch die geraubt haben, die er liebte und denen er vertrauen wollte. So, wie Wassermann mit dem Pinsel eines echten Künstlers malt, muß die Glut des Orients gebrannt haben; so muß die Farbenpracht Indiens und die Größe Babylons, die berückende Schönheit der Frauen Persiens und Indiens, die Idee, die Welt den mazedonischen Waffen zu Füßen zu legen, auf die Männer, die Alexander umgaben und mit ihm zogen, eingewirkt haben ... Manche Schilderungen erheben sich zu erschütternder Kraft, man hört die Herzen gegen die Rippen pochen, die Leidenschaften wüten und emporzüngeln und steht starr und von Grauen überwältigt vor dem unerbittlichen Walten eines scheinbar finsteren Verhängnisses. (Düna-Zeitung, Riga) Die Schwestern Drei Novellen. Dritte Auflage. Geh. M. 2.--, geb. M. 3.-- In den zehn Jahren, die nunmehr seit dem ersten Auftreten Jakob Wassermanns verflossen sind, ist keinerlei Wandlung in der Art seines künstlerischen Schaffens, seiner künstlerischen Anschauungen vor sich gegangen. Dieses stete Sichgleichbleiben in der Auffassung von Menschen und Dingen, Belebtem und Unbelebtem verrät, daß die melancholisch-düstere, manchmal seltsame und bizarre Art, in der dieser Dichter das Leben vergangener wie heutiger Zeit geistig sieht und wiedergibt, echt, nicht anempfunden und verlogen ist. Pseudokünstler lieben es aus gutem Grunde, Masken zu tragen, die ihr wahres Antlitz verbergen sollen; unwillkürlich aber fällt zuweilen die Larve und offenbart die uninteressanten Züge eines vermummten Bluffers. Wer aber wie Jakob Wassermann in so mannigfachen Schöpfungen, in Wesentlichem wie Unwesentlichem, Großem wie Kleinem stets sich gleich geblieben ist, gibt wohl das wahre Abbild seines Denkens und Dichtens, nicht ein geputztes und geschminktes. So stammt also das Verschleierte und Nebulose, das Rätselhafte und Versteckte, das Überreizte und Nervöse, das vielen Figuren seines künstlerischen Schaffens so sehr eignet, aus Wassermanns tiefinnerer Natur selbst, und steht in voller Harmonie mit jener seltsamen Art und Weise, in der er sich individuell mit Menschen und Menschenwerk alter und neuer Zeit psychisch abfindet. Alter Zeit, der die exotischen Naturen seiner Novellen »Schwestern« und des Vorspiels der »Juden von Zirndorf« angehören, neuer Zeit, in der die »Juden von Zirndorf« selbst und die Fortsetzung dieses Romanes, die »Geschichte der jungen Renate Fuchs« spielen. Die sonderbaren Erlebnisse der »Schwestern« zu erzählen, die fremdartig anmutenden Frauen Johanna, Sara und Clarissa kritisch zu analysieren, sei ängstlich und mit Absicht vermieden: solch Unterfangen hieße mit plumper Hand eingreifen in ein wundersames Spiel von Phantasie und Wirklichkeit, wie's nur ein Meister dunkler Künste zu dichten vermag. Aber angemerkt sei, daß auch in diesem neuen Werke die seelische Eigenart Wassermanns, die zehn Jahre vorher schon im Erstlingswerke des Jugendlichen, den »Juden von Zirndorf«, so deutlich fühlbar ward, in unverminderter Stärke in Erscheinung tritt; daß nach wie vor unerschöpft geblieben ist die Gabe, in unserer schweren deutschen Sprache auch die geheimsten Regungen der schwermütigen und gepeinigten Seele wiederzugeben, und die Gabe, mit feinem, mit feinstem Striche die phantastische Silhouette flüchtig vorüberhuschender, eilig wieder auftauchender Menschen festzuhalten. (Allgemeine Zeitung, München) Die Heldinnen dieser Novellen gehören zu jenen glücklichen, unglücklichen Geschöpfen, die ein Traum, ein Aberglaube, eine Sehnsucht, ein Wahn den Dingen dieser Welt entfremdet und zu neuem, wunderlichem Dasein gerufen hat. Arme Kranke sind es, aber Wassermann sucht aus dieser Krankheit die tiefsten Geheimnisse des Lebens herauszulesen. Glänzen uns hier nicht Schönheiten entgegen, die wir sonst an unserem Lebenswege vergeblich suchen? Öffnet sich hier nicht dem Blick ein neues Leben, viel wahrhaftiger, viel lebenswerter als das, an dem wir tragen? Was ist nun Wirklichkeit, was ist nun Traum? Eine holde Schwärmerei ist das Buch, in den Tönen lieblicher Inbrunst gegeben, ein holder Traum, von siegesstarken Sehnsüchten und Ahnungen durchzuckt. Man liest es, um es nicht mehr zu vergessen. (Hannoverscher Kurier) Der Vortrag dieser Geschichten ist stilistisch meisterhaft, in der Schilderung des Tatsächlichen von der Einfachheit der altitalienischen Novellen, dabei hin und wieder blitzend von seltsam geschliffenen Wortprägungen spezifisch Wassermannscher Art. Nur einem kabbalistischen Grübelsinn, einer so heißen Phantasie wie der dieses deutschen Orientalen konnte es gelingen, die Verrücktheiten der kastilischen Isabella so tief poetisch märchenhaft zu durchleuchten und aus den zwei phantastisch konstruierten Kriminalfällen das Rauschen geheimnisvoller seelischer Unterströmungen so hervortönen zu lassen. -- Das historische Vorspiel der »Juden von Zirndorf«, »Alexander in Babylon« und diese drei Novellen bezeichnen für mich bisher die Höhepunkte im Schaffen Jakob Wassermanns. (Ernst von Wolzogen im Literarischen Echo) Diese Geschichten, die etwas Legendäres an sich haben, sind erfüllt von einem unheimlichen unterirdischen Klingen, etwas Grauenhaftes webt in ihnen, das uns bannt, und wir spüren Fäden aus fernen Welten, die wir ahnen, aber nicht kennen. Die Novellen sind vorgetragen in einem ruhigen, kühlen, klaren, ganz und gar sachlichen Stil, der dabei etwas Preziöses an sich hat und der das leidenschaftliche Brausen absichtlich verbirgt. Es sind absichtlich stilisierte Novellen, aber das Leben ist nicht etwa erstarrt in ihnen, es ist nur gebändigt; der Autor steht über dem, was er berichtet; nicht so sehr sein Herz spricht als vielmehr sein künstlerisches Bewußtsein. Diese drei Frauengestalten stehen wie ein paar alte, goldtonige Gemälde vor uns. (Rheinisch-Westfälische Zeitung, Essen) [Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der dritten und vierten, vom Autor neubearbeiteten Auflage erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. S. 082: [Komma entfernt] als fürchtete er sie zu zerzausen., S. 090: tyranischem Übereinkommen -> tyrannischem S. 102: [evtl.: »Mundwinkeln«] in den Mundwickeln war Feuchtigkeit. S. 125: [Anführungszeichen ergänzt] »Wir können uns auf einen großen S. 126: [vereinheitlicht] darauf lächelte auch Emmerich Hyrtl -> Emerich S. 131: kann kein Schlacht gewinnen -> keine S. 144: Hals verschwand im Pelz der Mantels -> des Mantels S. 148: [Anführungszeichen ergänzt] ist dem Teufel zu schlecht.« S. 215: einen Salon, in welchen die Sessel -> welchem S. 226: zwei Billete zum Konzert -> Billette S. 237: [Punk ergänzt] und darauf sitzenbleiben. S. 255: [Anführungszeichen ergänzt] daß du mich liebst«, S. 286: die Augen vor Erstauen herausfallen -> Erstaunen S. 295: [Anführungszeichen] eine Schulter.« Sie haben -> Schulter. »Sie S. 323: es war ihn dabei zumut -> ihm S. 324: plauderte im melancholischer Selbstvergessenheit -> in S. 337: »Glaubst du, ich rechne auf dich«? -> dich?« S. 339: Ich wolle doch einmal sehen -> wollte Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen wurden folgendermaßen ersezt: Sperrung: _gesperrter Text_ Antiquaschrift: #Antiquatext# ] [Transcriber's Note: This ebook has been prepared from scans of a third and fourth edition copy, newly revised by the author. The table below lists all corrections applied to the original text. p. 082: [removed extra comma] als fürchtete er sie zu zerzausen., p. 090: tyranischem Übereinkommen -> tyrannischem p. 102: [possibly: "Mundwinkeln"] in den Mundwickeln war Feuchtigkeit. p. 125: [added quote] »Wir können uns auf einen großen p. 126: [normalized] darauf lächelte auch Emmerich Hyrtl -> Emerich p. 131: kann kein Schlacht gewinnen -> keine p. 144: Hals verschwand im Pelz der Mantels -> des Mantels p. 148: [added quote] ist dem Teufel zu schlecht.« p. 215: einen Salon, in welchen die Sessel -> welchem p. 226: zwei Billete zum Konzert -> Billette p. 237: [added period] und darauf sitzenbleiben. p. 255: [added quote] daß du mich liebst«, p. 286: die Augen vor Erstauen herausfallen -> Erstaunen p. 295: [fixed quote] eine Schulter.« Sie haben -> Schulter. »Sie p. 323: es war ihn dabei zumut -> ihm p. 324: plauderte im melancholischer Selbstvergessenheit -> in p. 337: »Glaubst du, ich rechne auf dich«? -> dich?« p. 339: Ich wolle doch einmal sehen -> wollte The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been replaced by: Spaced-out: _spaced out text_ Antiqua: #text in Antiqua font# ] *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MOLOCH *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for an eBook, except by following the terms of the trademark license, including paying royalties for use of the Project Gutenberg trademark. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the trademark license is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports, performances and research. Project Gutenberg eBooks may be modified and printed and given away—you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the trademark license, especially commercial redistribution. START: FULL LICENSE THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK To protect the Project Gutenberg™ mission of promoting the free distribution of electronic works, by using or distributing this work (or any other work associated in any way with the phrase “Project Gutenberg”), you agree to comply with all the terms of the Full Project Gutenberg™ License available with this file or online at www.gutenberg.org/license. Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg™ electronic works 1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg™ electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg™ electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg™ electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. “Project Gutenberg” is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg™ electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg™ electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg™ electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation (“the Foundation” or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg™ electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is unprotected by copyright law in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope that you will support the Project Gutenberg™ mission of promoting free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg™ works in compliance with the terms of this agreement for keeping the Project Gutenberg™ name associated with the work. You can easily comply with the terms of this agreement by keeping this work in the same format with its attached full Project Gutenberg™ License when you share it without charge with others. 1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in a constant state of change. If you are outside the United States, check the laws of your country in addition to the terms of this agreement before downloading, copying, displaying, performing, distributing or creating derivative works based on this work or any other Project Gutenberg™ work. The Foundation makes no representations concerning the copyright status of any work in any country other than the United States. 1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg: 1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate access to, the full Project Gutenberg™ License must appear prominently whenever any copy of a Project Gutenberg™ work (any work on which the phrase “Project Gutenberg” appears, or with which the phrase “Project Gutenberg” is associated) is accessed, displayed, performed, viewed, copied or distributed: This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. 1.E.2. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not contain a notice indicating that it is posted with permission of the copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in the United States without paying any fees or charges. If you are redistributing or providing access to a work with the phrase “Project Gutenberg” associated with or appearing on the work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg™ trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.3. If an individual Project Gutenberg™ electronic work is posted with the permission of the copyright holder, your use and distribution must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked to the Project Gutenberg™ License for all works posted with the permission of the copyright holder found at the beginning of this work. 1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg™ License terms from this work, or any files containing a part of this work or any other work associated with Project Gutenberg™. 1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this electronic work, or any part of this electronic work, without prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with active links or immediate access to the full terms of the Project Gutenberg™ License. 1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary, compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any word processing or hypertext form. However, if you provide access to or distribute copies of a Project Gutenberg™ work in a format other than “Plain Vanilla ASCII” or other format used in the official version posted on the official Project Gutenberg™ website (www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon request, of the work in its original “Plain Vanilla ASCII” or other form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg™ License as specified in paragraph 1.E.1. 1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying, performing, copying or distributing any Project Gutenberg™ works unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9. 1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing access to or distributing Project Gutenberg™ electronic works provided that: • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has agreed to donate royalties under this paragraph to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid within 60 days following each date on which you prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty payments should be clearly marked as such and sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation.” • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™ License. You must require such a user to return or destroy all copies of the works possessed in a physical medium and discontinue all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™ works. • You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the electronic work is discovered and reported to you within 90 days of receipt of the work. • You comply with all other terms of this agreement for free distribution of Project Gutenberg™ works. 1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg™ electronic work or group of works on different terms than are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing from the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the manager of the Project Gutenberg™ trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below. 1.F. 1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread works not protected by U.S. copyright law in creating the Project Gutenberg™ collection. Despite these efforts, Project Gutenberg™ electronic works, and the medium on which they may be stored, may contain “Defects,” such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by your equipment. 1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the “Right of Replacement or Refund” described in paragraph 1.F.3, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project Gutenberg™ trademark, and any other party distributing a Project Gutenberg™ electronic work under this agreement, disclaim all liability to you for damages, costs and expenses, including legal fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH DAMAGE. 1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a written explanation to the person you received the work from. If you received the work on a physical medium, you must return the medium with your written explanation. The person or entity that provided you with the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a refund. If you received the work electronically, the person or entity providing it to you may choose to give you a second opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy is also defective, you may demand a refund in writing without further opportunities to fix the problem. 1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth in paragraph 1.F.3, this work is provided to you ‘AS-IS’, WITH NO OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE. 1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any provision of this agreement shall not void the remaining provisions. 1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone providing copies of Project Gutenberg™ electronic works in accordance with this agreement, and any volunteers associated with the production, promotion and distribution of Project Gutenberg™ electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg™ work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg™ work, and (c) any Defect you cause. Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™ Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate. While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate. Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our website which has the main PG search facility: www.gutenberg.org. This website includes information about Project Gutenberg™, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.