The Project Gutenberg eBook of Der schmale Weg zum Glück

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Title: Der schmale Weg zum Glück

Author: Paul Ernst

Release date: June 12, 2015 [eBook #49199]
Most recently updated: October 24, 2024

Language: German

Credits: Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SCHMALE WEG ZUM GLÜCK ***

Paul Ernst / Der schmale Weg zum Glück

Der schmale Weg
zum Glück

Roman
von
Paul Ernst

Einmalige Ausgabe für die
Deutsche Hausbücherei
Hamburg

Der Roman ist einzeln nur in der Originalausgabe des Verlages Georg Müller Aktiengesellschaft München zu haben / Die Hausbüchereiausgabe wurde gedruckt bei der Hanseatischen Verlagsanstalt A.-G., Hamburg 30 und Wandsbek / Printed in Germany / Copyright 1921 by Georg Müller Verlag A.-G., München

Erstes Buch

Es war in den ersten Wintertagen, wo um sieben Uhr schon Dunkelheit in den Stuben ist. Die Großmutter saß still in ihrem Lehnstuhl am Ofen und träumte im Halbschlummer von ganz alten Zeiten, als sie ein junges Mädchen war und einen ungeschickten Freier auslachte. Pollux lag auf der Seite vor dem warmen Ofen und schnarchte plötzlich, wachte davon auf, klopfte mit dem Schwanz auf die Dielen und legte sich wieder um. Ganz laut tickte die Wanduhr, wie sie es am Tage nicht wagt. Der kleine Hans saß mäuschenstill unter dem Tisch und stellte sich vor, dieser Tisch sei eine Stube, die von allen Seiten verschlossen wäre, und da säße er in der Mitte, und dann müßte nichts weiter auf der Welt sein wie diese Stube.

Dorrel ging in den Stall, und die Laterne warf schnell einen Schein über die Decke und dann die Wand entlang über die Spitzen der Rehgeweihe und über die Gewehrläufe. Dann hörte man, wie der Melkeimer klirrte und wie sie mit der Kuh zankte, die Elsbeth hieß, und zuletzt hörte man das Melken.

Die Tür ging auf, und die Mutter trat mit der Lampe herein. Die Großmutter nahm schnell ihr Strickzeug in die Höhe und sagte, daß sie gar nichts mehr habe sehen können, denn sie wollte es nicht Wort haben, daß sie geschlafen. Dann deckte die Mutter mit dem leinenen Tischtuch, das aus selbstgesponnenem Flachs gewebt war und in der Mitte eine Naht hatte, und der kleine Hans unter dem Tisch saß jetzt viel heimlicher, sah auf die raschen Füße der Mutter und betrachtete, wie der Rock sich bewegte. Und so klapperten die Teller, braune, irdene Teller, und die Schüssel mit dem Haferbrei wurde auf den Tisch gesetzt; sie war auch ein irdenes Geschirr und war inwendig das Vaterunser mit Grün und Rot hineingeschrieben, dann kamen die blanken zinnernen Löffel und die Messer und Gabeln mit Hirschhorngriff, und ein Stück Schinken und ein Schinkenbrett für jeden, nur nicht für den kleinen Hans, denn dem wurde sein Teil zugeschnitten, und er kriegte es in ganz kleinen Würfeln, aber die Großen aßen ihren Teil in Streifen.

Die Uhr hob aus zum Schlagen, und der kleine Hans kroch unterm Tisch hervor, um die Zeiger zu betrachten, wie sie zitterten während des Schlagens. Da waren mit einem Male laute und schnelle Schritte des Vaters vor dem Haus; Pollux sprang auf und stellte sich winselnd vor die Tür, der Vater kam eilig herein und langte nach der Schrotflinte; Pollux sprang an ihm hoch; die Mutter warf sich ihm entgegen und rief: „Bleib, bleib, ich habe eine Ahnung, sie bringen dich tot nach Hause!“ Er aber schob sie von sich, pfiff dem Hund und ging wieder eilig hinaus; seine Wange blutete stark von einem langen Riß. Die Mutter warf sich laut weinend auf einen Stuhl, der kleine Hans trat vor sie, legte ihr die Händchen in den Schoß und blickte zu ihr auf. Die Großmutter aber in der Ecke mit ihrer alten Stimme sprach tadelnde Worte und erzählte, wie ihr selbst vor vierzig Jahren die Arbeiter ihren Mann auf zwei jungen Tannen tot nach Hause gebracht, mitten durch die Brust geschossen, aber sie habe nicht geweint, obwohl sie ein junges Weib gewesen damals und erst ein halbes Jahr verheiratet, und Hansens Vater sei nach ihres Mannes Tode geboren; denn wer in seiner Pflicht stirbt, der hat einen guten Tod, und Gott verläßt nicht seine Hinterbliebenen; und wenn ein Förster sein richtiges Geld kriege, so müsse er auch sein Leben einsetzen gegen die Wilddiebe. Da weinte die Mutter noch stärker, der kleine Hans aber faßte ihren Arm und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, denn er wollte sie trösten.

Zuletzt wischte sie sich die Tränen von den Backen, damit die Magd nichts merken sollte von ihren Sorgen, und ging in die Milchkammer, die Milch in Satten zu tun, indessen Dorrel der Kuh Futter aufsteckte. Und wie beide ihre Arbeit beendet, kamen sie zurück in die Stube, und alle setzten sich an den Tisch zum Abendbrot; nur des Vaters Platz blieb leer, und die Mutter sah nicht hin nach der Stelle, denn sie hatte Furcht, die Tränen möchten ihr wieder in die Augen steigen. Jedem tat sie auf seinen Teller von dem Haferbrei und auf sein Brettchen ein Stück Schinken; dann betete sie mit lauter Stimme das Tischgebet.

Der Mond war draußen aufgegangen über den schwarzen Tannen, und es schien heller durch die Spitzen der dick beschlagenen Fensterscheiben. Dorrel sprach davon, daß in der Nacht ein scharfer Frost kommen werde; die andern schwiegen; plötzlich sagte Hans mit seiner hellen Stimme: „Die Großmutter hat doch recht, wenn ich das Geld nehme, so muß ich auch alles dafür tun, sonst darf ich das Geld nicht nehmen.“ Aber niemand antwortete auf seine Rede, bloß die Magd verwies ihm, er solle nicht sprechen, wenn die Erwachsenen unter sich Dinge zu ordnen hätten. Dann beredete sie mit der Mutter, was am andern Tag getan werden mußte.

Nach dem Essen räumte die Mutter das gebrauchte Geschirr ab; nur das Gedeck für den Vater ließ sie liegen, hob ihm auch in der Ofenröhre seinen Haferbrei auf. Dann war Hans wieder allein mit der Großmutter in der Stube.

Da hatte sich die Katze hereingeschlichen, ging leise vor den Ofen, putzte sich mit Sorgfalt, und dann setzte sie sich mit rechter Behaglichkeit, schloß die Augen halb und spann; Hans lag vor ihr auf der Erde und sah ihr ins Gesicht, so daß sie verlegen wurde; er hätte gern gewußt, wie sie das Spinnen machte. Dann betrachtete er die beiden großen Bilder über dem Sofa; das waren der Beerdigungszug des Jägers und der Beerdigungszug des Fischers. Dem Sarg des Jägers folgten alle Tiere auf der Erde, der Hirsch, das Reh, die Sau, der Fuchs, und alle Vögel, und ein kleines Eichhörnchen; und bei dem Fischer folgten die Fische, denn es floß da ein Wasser. Er dachte sich immer, wie das sein müßte, wenn er auch ein Tier wäre und folgte da mit in dem Bilde; man sah recht tief in einen schönen und saubern Wald hinein, in dem mußte es sich ganz gut lustwandeln lassen, und die Bäume waren ganz andrer Art, wie man sie sonst sah. Allgemach kam der Sandmann, und er rieb sich die Augen. Da ging er zur Großmutter, die sich die Lampe ganz nahe gerückt hatte und ihr Strickzeug ganz dicht vors Gesicht hielt, und bettelte, daß sie ihm die Geschichte von der weißen Schlange erzählen sollte.

Da erzählte die Großmutter, wie ein Vorfahr der Grafen, denen die Wälder hier gehörten, ein Prasser und Schlemmer gewesen sei und ein böser Mann; der habe einen guten und frommen Diener gehabt, der ihn oftmals zum Bessern ermahnt, aber niemals zur Umkehr habe bewegen können. Eines Tages habe der Diener dem Grafen eine verdeckte Schüssel müssen auf sein verschlossenes Zimmer bringen, und wie er, von besonderer Neugierde bewegt (das zwar nicht ehrbar von ihm gewesen), die Schüssel aufgedeckt habe, sei eine gekochte weiße Schlange darin gelegen, in viele Stücke zerschnitten. Da habe er sich nicht mehr bezwingen können und sei ihm gewesen, als werde ihm befohlen, daß er eins der Stückchen heimlich habe nehmen müssen. Der Graf aber habe alles andere gegessen und nichts gemerkt. Wie nun der Diener am Fenster steht und in den Schloßgraben hinuntersieht, schwimmen da zwei weiße Enten, und er merkt, daß er ihre Sprache versteht, und sie erzählen sich, daß das Schloß noch diese Nacht untergehen soll; der Herr aber stand auch am Fenster und lachte. Daraus merkte der treue Diener, daß der Graf etwas Falsches verstanden hatte für seine Sünden, verfiel rasch auf eine List und sprach, er habe sich eine lustige Jagd ausgedacht für diesen Abend; nämlich alles Schloßgesinde solle mit Fackeln kommen, und der Herr mit seinem einzigen Töchterchen, denn seine Gemahlin war schon seit langem verstorben, solle auch kommen, und dann wollten sie Krebse fangen in einem Waldbach, den er wisse, weil es jetzt Zeit sei zum Krebsen. Dies gefiel dem Grafen und wurde so gemacht. Und wie alle aus dem Schloß gezogen waren und sich erlustigten und fröhlich waren, kamen Blitze und Donnerschläge und ein Erdbeben, und das Schloß versank, und an der Stelle ist jetzt die Elsgrube. Da wurde der Graf ganz blaß und ging in sich und ging in ein Kloster; vorher aber verheiratete er seine Tochter mit dem frommen Diener und gab dem sein ganzes Gut, und von dem stammen in männlicher Reihenfolge die jetzigen Grafen ab, wiewohl der Name nicht gewechselt und noch der alte ist.

Unter dem Erzählen war Hans fast eingeschlafen. Jetzt kam die Mutter, um ihn zu Bett zu bringen. In der schrägen Dachkammer, unter den kalkverputzten Ziegeln zog er sich aus, dann faltete er die Hände und betete mit der Mutter zusammen sein Kindergebet:

Abends, wenn ich schlafen geh,

Vierzehn Engel bei mir stehn,

Zwei zu meiner Rechten,

Zwei zu meiner Linken,

Zwei zu meinen Häupten,

Zwei zu meinen Füßen,

Zwei, die mich decken,

Zwei, die mich wecken,

Zwei, die mich weisen

In das himmlische Paradeischen.

Dann schlief er ein, und der Mond zog langsam weiter hinauf über den stillen Wald; die Kuh klirrte einmal mit ihrer Kette und brüllte leise und behaglich, und dann legte sie sich schwer nieder zum Wiederkäuen; kein Geräusch war im Haus wie zuweilen ein Klappern mit dem Geschirr aus der Küche, wo Dorrel abwusch.

Wie die Mutter wieder in die Stube trat, hatte die Großmutter den Kopf auf den Tisch gelegt und schluchzte, daß das Licht der Lampe sich bewegte durch die Erschütterung. Die Mutter setzte sich still ans Fenster; und so warteten die beiden Frauen in der Nacht, ob sie vielleicht einen Schuß hörten. Lange warteten sie so allein; denn Dorrel kam nicht in die Stube, wie sonst immer nach der Abendarbeit, sondern sie tat, als habe sie heute mehr in der Küche zu verrichten wie gewöhnlich; sie wußte, daß die beiden Frauen in Sorge saßen und wollte sie schonen; sie selbst aber dachte immer hin und her: ‚Was soll mit dem Kind werden, die Mutter kann den Jungen nicht erziehen, der braucht einen Vater‘; und über ihrer nassen Planenschürze faltete sie ihre schwieligen Hände zu einem wortlosen Gebet für ihren Herrn. Es mochte gegen Mitternacht sein, da hörte man den schweren Tritt des Vaters vor dem Hause. Die Mutter eilte, die Haustür aufzuschließen. Er trat ein, bot die Zeit, hängte die Flinte an die Wand und setzte sich an den Tisch. Sie brachte ihm das Essen; der Hund ging still zu seinem Lager, denn nur in Abwesenheit seines Herrn wagte er vor dem Ofen zu liegen, drehte sich im Kreis, legte sich und schlief scheinbar ein, indem er doch aufmerksam das Gespräch verfolgte.

Es war ein Schreiben von der gräflichen Güterverwaltung gekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß der Bocksklee abgetrieben werden solle. Der Förster wurde tief erregt und sprang auf. Er hatte immer verlangt, daß der Bocksklee ungestört bliebe, weil er den Westwind abfing und dadurch ein großes Gebiet vor Windbruch schützte. Aber der Herr hatte Geld nötig, und da war es ihm gleichgültig, was geschehen mochte.

Der Graf war ein sehr freundlicher und liebenswürdiger Herr; er gab dem Förster die Hand und sagte zu ihm: „Guten Tag, mein lieber Werther“; er fragte nach seiner Frau und dem Jungen und lobte ihn wegen seines Eifers. Aber der Förster hatte keine Achtung vor ihm, weil er leichtfertig war in Worten und Werken und sein Gut vertat, anstatt zu sparen und zu wirtschaften. Deshalb wollte er den kleinen Hans später auch nicht in Herrendienst geben, wiewohl ihm das Herz blutete, wenn er dachte, daß sein Junge einmal nicht das grüne Tuch tragen sollte, in dem Großvater und Urgroßvater stolz gewesen waren; aber er sollte einmal ein freier Mann werden, daß er seinem Gewissen folgen durfte und nicht gehorsamen mußte, wenn ihm unkluge Befehle gegeben wurden; deshalb wollte er ihn studieren lassen, denn er dachte, ein Studierter brauche niemandem zu dienen und könne immer tun, was recht ist. Abends, wenn er einmal ein Halbstündchen Zeit hatte, nahm er das Kind zuweilen auf den Schoß und sprach mit ihm, daß er fleißig sein müsse und lernen, dann müsse er einmal nicht mit krummem Rücken dastehen in der Welt, sondern könne seinen geraden Weg gehen als ein aufrechter Mann. Der Graf war nicht böse, aber er hatte keine langen Gedanken. Auf der Jagd war er so einfach wie einer von seinen Leuten; aber wenn er in der Stadt lebte, so hätte er sich geschämt, wenn er es nicht andern hätte gleich tun sollen, die reicher waren wie er. Einmal hatte er im Försterhause eingesprochen und mit der Frau Werther geredet über Haushalt, Wirtschaft und Kindererziehung; da schienen seine Meinungen so verständig und ordentlich, daß die Frau sich immer noch wunderte, wie so ein Herr solche Einsichten haben konnte in Dinge, die ihm doch ganz fern lagen; aber in seinem Hause bekümmerte er sich nicht um Einteilung, Ordnung und Einrichtung. Er nahm nur aus den Kassen das Geld, das er brauchte, ohne sich zu überlegen, ob er Einnahmen verzehrte oder Vermögen. Seine Kinder wuchsen auf, ohne daß er sich klar machte, zu welchem Ende und unter welchen Einflüssen, denn auch seine Frau hatte keine Hausgedanken. Deshalb trieben sich die beiden Söhne am liebsten in den Ställen und Küchen herum und lernten wenig trotz teurer Hofmeister; und die Tochter, die einen besonderen Trieb zum Lernen hatte und ganz unpassende Lehrer bekam, wie sie eben für ein ganz gewöhnliches Mädchen geeignet gewesen wären, suchte verstohlen in der vernachlässigten Bibliothek Bücher für sich und bat den alten Pfarrer, bis er sie im Lateinischen unterrichtete. Einmal nahmen ihr die Brüder heimlich ihre lateinischen Bücher fort und bauten sie auf ihrem Platz am Kaffeetisch auf; da hörte der Vater zuerst von ihren Studien, schüttelte den Kopf und sagte, daß ihm ihre Wege nicht gefielen. Sie preßte die Lippen zusammen und fuhr fort in ihrer Weise, und bekümmerte sich niemand darum. Es ging dem Grafen, wie es heute vielen reichen und vornehmen Leuten geht; er hatte weder Amt noch Dienst, sorgte nicht für seine Angelegenheiten, noch für seine Familie, fand kaum einmal ein wirkliches Vergnügen, und doch hatte er nie Zeit; sein Leben zerfloß ihm zwischen den Fingern, wie wenn ein Kind eine Handvoll Sand vom Boden hebt.

Die Söhne kamen schon frühzeitig auf schlimme Wege. Da war ein Bursche im Stall, an den hingen sich die Jungen, der war ein tüchtiger Knecht; machte seine Arbeit sauber und ordentlich und hielt sein Geschirr gut, aber war ein Schürzenjäger; durch den lernten sie frühzeitig viel, und weil ihnen das Gegengewicht der harten Arbeit wie sauren und einfachen Pflicht fehlte, so wurde das Unkraut in ihrer Seele üppiger, wie es bei dem Verführer gewesen, der später ein ordentliches Weib kriegte, das ihn gehörig in die Kandare nahm und zu einem braven Manne machte. Noch ärger war es, daß die Knechte zum Scherz ihnen von ihrem Branntwein gaben und lachten, wenn sich die Jungen schüttelten nach dem Trunk und doch wieder von neuem begehrten; und wie sich einmal die Leute untereinander rühmten, welcher den schärfsten Schnaps getrunken habe, und allerhand beizende Mittel erzählten, gestoßenen Pfeffer, Schwefelsäure, die den Branntwein perlen macht, und Tabaksbrühe, krähten die Jungen auch dazwischen und verredeten sich, daß ihnen das Schärfste das Wohlschmeckendste sei, tranken auch von dem gepfefferten Branntwein. Endlich fand sich ein uralter Mann, der früher Taglöhner gewesen war und nun aus Gnaden auf dem Hofe erhalten wurde, wofür er die Gänse hüten mußte, der war schon in jungen Jahren ein schlechter und liederlicher Bursche, und nun, in seinem Hochalter, verwirrten sich ihm vollständig alle Begriffe von gut und böse, daß er in seinen Begierden schlimmer wurde wie das Vieh, nämlich nicht bloß schamlos, sondern rühmerisch und frech. Wohl suchten die ehrbaren und ordentlichen Leute unter dem Gesinde dem Übel Einhalt zu tun, indem sie den Böswilligen verboten und die Jungen zu sich ziehen wollten; aber wo keine Zucht ist, da gewinnen die Schlechten und Liederlichen die Oberhand, auch wenn sie in der Minderzahl sind, und ungezogene Jugend geht lieber zu der übeln Seite, wo geprahlt und geschmeichelt wird, wie zu ruhigen und sittsamen Menschen und bescheidenen und strengen Worten; denn nicht das Laster ist verführend, das ja meistens mehr mit Unbehagen und Schmerz verbunden ist wie mit Freude und Wollust, sondern die lasterhafte Gesellschaft verführt durch freche und unbotmäßige Reden, übertreibende und lügnerische Erzählungen und falsche Scham.

Viele Leute sehen auf ein Haus wie des Grafen; und kaum eine geringe Kleinigkeit kann in ihm geschehen, die nicht in einem großen Kreise besprochen würde und weite Wirkung ausübte; das Wesen der Vornehmen wird genau erkannt und beurteilt, und mancher Taglöhner wußte von Art und Schlag des Grafen, seiner Gemahlin und seiner Söhne mehr wie er selbst. In unserer Zeit ist die Gesellschaft bis in ihre letzten Tiefen aufgerüttelt, und alle alten Bande sind gesprengt, die bewirkten, daß es ein Unten und Oben gibt. Manche Menschen meinen, daß dieser Zustände Ende eine völlige Gleichheit aller Menschen sein werde; wer aber genau zusieht, der wird merken, daß diese allgemeine Ungebundenheit im Gegenteil eine neue und tiefere Scheidung der Gesellschaft bewirkt, indem die Tüchtigen sich zu den Tüchtigen scharen und die Schlechten zu den Schlechten; viele sinken so und viele steigen; viele der Gestiegenen sinken wieder, denn sie können sich nicht oben halten; manche aber bleiben oben, und auch einer gesunkenen Familie gelingt es wieder, zu steigen, wenn sie sich doch als tüchtig erweist. In solchem Vorgang übt der Anblick einer Familie wie des Grafen eine außerordentliche Wirkung, denn die Schlechten werden bestärkt im Leichtsinn oder in aufrührerischer Gesinnung, die Guten aber werden desto trotziger und stolzer; und bei beiden wird der Freiheitssinn gemehrt, bei den einen der Sinn für die Freiheit der Zuchtlosigkeit, die sie und ihre Kinder in das wohlverdiente und notwendige Verderben treibt; bei den andern der Sinn für die Freiheit der Zucht und Ehre, die sie tüchtig machen, sich zuoberst zu setzen in die verlassenen Stühle; denn nachdem sie gelernt, in Ehre zu gehorchen, vermögen sie auch in Ehre zu befehlen.

Der Förster hatte seinen Abscheu vor der Wirtschaft auf dem Schlosse immer mehr vertieft. Zwar durfte er seinem Herrn nichts sagen von seiner Meinung; aber wenn die beiden zusammenkamen, so äußerte sich in ihrem Wesen dennoch deutlich ihre wahre Beziehung, die seelische, die wichtiger ist wie die äußerliche der zufälligen Verhältnisse. Der Förster war ehrerbietig, aber wortkarg, und schritt als ein großer, magerer Mann in weiter und fester Gangart, der Graf, der klein und durch sein fröhliches Leben fett war, ging flüchtiger und schneller, indem er ein wenig zurückblieb, und sprach oft Sätze, mit denen er seinen Förster zum Lächeln bringen wollte. Der Förster behielt wohl, was sein Herr sagte, aber er bezog sich später nie wieder auf seine Worte, wenn sie nichts Dienstliches betrafen; der Graf aber erinnerte den Förster oft an frühere Aussprüche. Doch je liebenswürdiger der Graf war, desto bitterer wurden des Försters Gedanken, denn er gedachte des alten Herrn, der ein rauher und fester Mann gewesen war, der von jedem seine gebührende Ehrenbezeigung verlangte; der hatte ihm einmal ein Trinkgeld gegeben, als er noch Jägerbursche war, und dazu gesagt: „Bleib ein ordentlicher Kerl“; wie er tot war und aufgebahrt lag, war er in Uniform und hatte den Helm auf dem Kopf; aber wie sie ihn einsargten, mußten sie ihm den Helm unter den Arm geben, das hatte er so angeordnet vor seinem Ende. Dann mußte er auch immer den Bocksklee bedenken; das war ein Vorwerk gewesen mit schlechtem Boden, das sein Urgroßvater aufgeforstet hatte, und von seiner Hand war noch der Plan da, wie es mit dem Umtrieb gehalten werden sollte, des Windbruches wegen; und wenn er sich die viele Mühe und Sorge, die durchwachten Nächte und arbeitsreichen Tage vorstellte, die seine Vorfahren verbracht hatten, bis der Wald so stolz und wertvoll war, so kam ihm der Groll bis an die Kehle und hinderte ihn zu sprechen. Keinen Stand gibt es, der so mit der Arbeit der Vergangenheit zusammenhängt und so mit der Hoffnung auf die Zukunft verwachsen ist wie der Försterstand; denn was ein Förster erntet, das haben die Toten gepflanzt, deren Gräber längst eingesunken sind auf dem Kirchhof; und was er pflanzt, das wird man ernten, wenn die Söhne seiner Urenkel als Männer im grünen Rock durch den Wald gehen. Deshalb ist etwas Adeliges in einem rechten Förster, denn er weiß, daß der Mensch nicht ein haltloses Gesindlein ist, das morgen lebt mit dem Taglohn von heute und sich dick tut mit seinem Elend und lumpigen Verdienst, sondern der Mensch lebt durch die Liebe der Vorfahren in Pflicht für die Nachkommen, nicht von seinem Verdienst, sondern nach seinem Gewissen.

Ein Kind, das in solchen Lebensumständen aufwächst, bekommt etwas Besonderes mit. Es lernt früh die Beziehung seines eignen Lebens als eines fast zufälligen zu Vergangenheit und Zukunft seines Geschlechtes; aber doch nicht in der Form des harten Erwerbsinns und des Stolzes auf den Besitz, wie im Bauernstand, sondern in der Form des Gefühls für reine Ehre und strenge Pflicht; denn nicht für sich und seine Kinder pflegt der Förster sein Gut, sondern für andere.

Kein Mensch weiß, wie sich das Wesen eines Kindes bildet und wie Erbschaft und Einfluß einander bestimmen. Ganz kleine Kinder haben in viel höherem Maße wie Erwachsene die Fähigkeit, aus Miene und Haltung zu erfahren, was in einem andern ist; und in viel höherem Maße haben sie auch den Trieb, nachzuahmen, Äußerliches wie Innerliches. Kaum hatte der kleine Hans gehen können, da legte er schon die Hände über den Rücken und ging ernsthaft in der Stube auf und ab mit steifen Schultern, wie sein Vater tat am Sonntagnachmittag, sagte er sein Nein oder sein Ja mit derselben Betonung wie der Vater; und da seine gesamte Umgebung dieselbe war, in der sein Vater und Großvater aufgewachsen waren, so nahmen alle seine angeborenen Triebe dieselbe Richtung, wie sie bei Vater und Großvater genommen hatten, und seine Art wurde noch stärker, wie die seiner Vorfahren gewesen.

Und was erzog ihn alles. Da erwachte er des Morgens, und sein Hauch war sichtbar in der kalten Luft unter dem kalkverputzten Ziegeldach, und die kleinen Fensterscheiben waren dick gefroren. Und unten in der Stube saß er dann am Fenster, sah, wie die Schneeflocken niedertanzten und sich sanft auf Zweige legten und auf Bretter und auf den Erdboden, der mit kleinen Steinchen bedeckt gewesen; aber wenn die großen Flocken ans Fenster wehten, so vergingen sie schnell, indem sie niederglitten. An manchen Tagen, wenn es nicht schneite und sehr kalt war, taute auch in der Stube das Fenster nicht ab; dann hauchte er an die Scheibe und schmolz sich ein rundes Loch zum Ausschauen; im Augenblick war es wieder mit einer dünnen Eishaut bedeckt, die war aber nicht weiß. Im Walde war ein Krachen, Tönen und Donnern; und der Wald stand doch ruhig und unbewegt mit seinen schneebedeckten Zweigen in der hellen Sonne. Wenn die Kälte so groß war, so wurde das Herz leicht und lustig und verlangte nach Gefahren; dann dachte er an den letzten Luchs, den sein Großvater hier geschossen, und seine Fäuste ballten sich; und an die Franzosenzeit dachte er, wie da das ganze Dorf in den Wald gezogen war, und er schämte sich, daß alle solche Furcht gehabt hatten. Denn wer recht hat und Gott fürchtet, der muß ausharren, wie im Buch der Makkabäer erzählt ist von den sieben Brüdern und ihrer Mutter; wie die Mörder sechs zu Tode gemartert hatten, da sprach der letzte, der noch ein Kind war: „Worauf harrt ihr? Gedenket nur nicht, daß ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein will“, und ließ sich auch martern, trotzdem er noch klein war.

Abends las die Großmutter oft lange vor aus der alten Bibel, deren Blätter braun geworden waren durch die Finger so vieler Vorfahren, die jetzt lange vergessen lagen in ihren rasenbedeckten Gräbern; aus den Geschichtsbüchern im Alten Testament las sie und aus den Evangelien und der Offenbarung Johannis, von dem himmlischen Jerusalem und von der Schale des Zorns, von den vier Reitern und von dem Tier, das über den Gewässern sitzt. Wenn Hans dann mit ihr sprach über das Gelesene, so wunderten sich beide über die Verstocktheit der Juden und freuten sich, daß wir die Offenbarung haben, und daß unser Herr Jesus für uns gestorben ist, an den wir glauben müssen, und können nicht irren. Und wir sehen alle Tage, daß der Gerechte siegt und der Ungerechte vergeht; denn wenn auch ein schlechter Mensch scheinbares Glück hat, so verrinnt das doch bald, wie es Klaus Hörgen geschah, der aus der Fremde heimkam mit einem großen Vermögen, sich ein Haus kaufte und nichts mehr tat; was geschieht? Nach ein paar Jahren wurde ihm sein Haus wieder verkauft, und kam in Schimpf und Schande. Daß es aber einem guten Menschen schlecht ginge, das ist noch nie geschehen; es müßte denn sein wie bei der frommen Genoveva, weil der Herr sie prüfen wollte und ein Beispiel geben für andre.

Im Sommer streifte der kleine Hans viele Stunden lang allein im Wald. Da lagen die Tannennadeln glatt und ungestört auf dem Boden, und die hohen Stämme standen regungslos; nur wenn er zuweilen auf dem Rücken lag und in die Wipfel schaute in der tiefen Stille, spürte er ein leises Wiegen der Stämme und wie die spitzenbehangenen Äste sich kreuzten, hoch oben. Das war eine andre Welt, hoch oben; wenn man ein andres Wesen wäre, ein Vogel oder ein Eichhörnchen, so lebte man da, hüpfte von Ast zu Ast, und alles, was unten ist, sähe ganz klein aus und ginge einen nichts an. In die Stille kam plötzlich das Klopfen oder das Hämmern eines Spechtes, ganz von weitem, oder ein unmerklich leises Geräusch von einer kleinen Meise mit blitzenden Augen. Und Moos war da, das drängte sich dicht, und eine Art sah aus wie ein Tannenwald im kleinen, der Berg und Tal überzieht und alles rund macht. Ameisen auf einem solchen Moosberge kamen sich wohl vor wie wir im Hochwald; vor Gott aber waren wir gleich den Ameisen und ein Wald von vielen Meilen wie ein Häufchen Moos. Das war wunderbar, wenn man auf der anderen Seite die Würdigkeit der Menschen bedachte, denn alle unsre Gedanken kannte ja Gott; dieses war auch der Grund, weshalb wir um ein reines Herz beten, weil wir uns nicht gern schämen, wenn Gott in uns hineinsieht. Einmal hatte Hans gemerkt, wie Gott in ihn hineinsah, aber da hatte er gerade ein reines Herz, und das machte ihn sehr froh, und es war ihm, als müßte es sich innerlich ganz ausbreiten vor Gott, wie ein Buch mit der ersten Seite aufgeschlagen hingelegt wird; er war im Walde und in einer sehr großen Stille.

Wir haben seltene Augenblicke im Leben, wo uns unser inneres Wesen symbolisch gezeigt wird, wie wir ja auch im Traum, statt Begriffe zu denken, Symbole sehen. In einem solchen Augenblick, da er zudem auf der äußersten Spitze seines Lebens stand und sich in solcher Schicksalsstunde für immer nach links wenden mußte oder nach rechts, hatte er in seinem späteren Leben einmal ein schnell vorüberhuschendes Schattenbild eines hohen und ernsten Tannenwaldes, und sein Gefühl war wie Glockenklang. Da entschied er sich nach der rechten Seite; und dann wurde ihm klar, daß der Wald ein treuer Lehrer seiner Jugend gewesen war; und er wußte genau, daß er ein andrer Mensch geworden wäre, wenn er unter Buchen oder Eichen aufgewachsen, statt unter Tannen.

Ein treuer Lehrer war ihm auch Dorrel, das Dienstmädchen. Er war bei ihr im Stall, wo das trübe Licht in der großen alten Laterne brannte, und Dorrel melkte, gleichmäßig und in langen Zügen, indes die Kuh behaglich ihr Kleeheu aus der Krippe zupfte; ein ganz besonderer Ton war in dem Melken, der nach Ordnung, Ehrbarkeit und Fleiß klang; auch die Kuh steht bei einer faulen und hochmütigen Melkerin nicht so ruhig und behaglich, denn das liebe Vieh merkt wohl den Unterschied im Wesen der Menschen und benimmt sich danach.

Dorrel hatte eine besondere Kunst; sie konnte Schutzkrausen aus buntem Papier für Talglichter machen; die schnitt sie zuerst mit der Schere zurecht, und dann drehte sie mit der Schürze sie so, daß sie schöne Falten bekamen. Wenn sie dem kleinen Hans etwas ganz besonders Gutes antun wollte, so versprach sie ihm, daß sie ihm eine solche Krause machen wolle, und dann freute er sich sehr. Sehr oft nahm sie ihn mit, wenn sie aufs Feld ging, und besonders wenn sie im Herbst aus der Elsgrube Kartoffeln holte. Da zog sie den Schubkarren aus der Scheune, legte den Sack auf und ließ dann den kleinen Hans sich setzen; der saß da mit geknickten Beinen und sah glücklich in Dorrels rotes, strahlendes Gesicht, die den Sielen über die Schulter geworfen hatte und rüstig den Karren vor sich hinschob. Denn auch für sie war es eine große Freude, wenn sie Kartoffeln herausholte. Während sie schob, gab sie ihm Rätsel auf, alte Rätsel, die sie selbst als Kind von ihrer Großmutter gelernt:

Es ging ein Männchen über die Brücke,

Es hatt’ ein Körbchen auf dem Rücken;

Hatte drinne Sich sich,

Hatte drinne Stich stich,

Hatte drinne Weißgewaschen,

Ohne Seif’ und ohne Wasser.

Das wußte Hans natürlich nicht, was das war, nämlich: Spiegel, Nadeln und Eier. Sehr merkwürdig war das. Auch das war ein schweres Rätsel:

Der König von Ägypten,

Der hatt’ ein Ding, das wippte,

Er konnt’ es nicht verkaufen,

Er mußt’ es selber brauchen.

Das war nämlich seine Zunge.

Und in der Elsgrube war in der Mitte ein rundes Wasser, das war ohne Grund. Vor vielen Jahren hatten die Leute einmal drei Heuseile aneinandergeknüpft und unten einen schweren Stein angebunden und den hinabgelassen, aber sie konnten keinen Boden finden. Hier hatte früher das Schloß des Grafen gestanden, das untergegangen war, als der treue Diener von der weißen Schlange gegessen; jetzt aber lagen hier die Äcker, die zum Forsthaus gehörten.

Dorrel machte dem kleinen Hans eine Schleuder, indem sie eine schwibbe Rute von einer Weide abschnitt und die vorn zuspitzte. Auf die Spitze steckte Hans die Kartoffeläpfel und schleuderte sie in die Luft; so hoch flogen sie, daß er sie beinahe nicht mehr sehen konnte. Ein anderer hätte gedacht, sie flögen in den Himmel, aber Hans wußte aus seinem Lesebuch, daß der Himmel unendlich hoch über uns ist, denn es gab Sterne, deren Licht brauchte viele tausend Jahre, ehe es zu uns kam, so hoch standen die; und der Himmel mußte doch natürlich noch höher sein; aber das glaubte Dorrel ihm nicht, denn die meinte, es würde viel Unsinn gedruckt, und man müßte nicht alles glauben, was in den Büchern steht.

Während er spielte, machte Dorrel Kartoffeln aus; und fast über jeden Busch freute sie sich, daß er so viele Knollen hatte, und meinte immer, das sei doch ein sichtbares Zeichen von Gottes Güte, daß man eine einzige Kartoffel steckt, und nachher sind so viele da; wenn sie einen besonders großen Busch fand, so rief sie den kleinen Hans, und dann suchten sie zusammen die Knollen aus der Erde und zählten sie. Bei jedem Busch war sie immer von neuem gespannt, und Hans stand dann wohl neben ihr, und sie rieten vorher, wieviel Knollen der wohl hätte; dabei behauptete Hans dann etwa, er müsse hundert haben oder zweihundert, und wollte nicht glauben, daß das gar nicht möglich war; wenn er dann ärgerlich wurde, so gab sie ihm ein neues Rätsel auf:

Ule, Ule,

Er saß bei mir auf dem Stuhle,

Er winkte mir, ich wehrte mich,

Er winkte mir so süße,

Daß ich vergaß die Augen und die Füße.

Da mußte Hans wieder betteln, denn er wußte nicht, was das war und war doch recht neugierig. Dorrel aber ließ ihn lange zappeln, bis sie ihm zuletzt sagte: das ist der Schlaf.

Die fromme und treue Magd sprach nur aus ihrem braven und rechten Gemüt. Sie wußte, daß es nicht gut ist für ein Kind, wenn man ihm Zeit läßt, ärgerlich und ungezogen zu werden, auch wenn man es alsdann straft, sondern es ist besser, wenn man seine Gedanken ablenkt durch etwas Neues, daß es seinen Ärger vergißt; denn leicht hinterläßt ein häßliches Benehmen Spuren in der Seele eines jungen Kindes.

 

Der kleine Hans wachte an einem Morgen auf, weil die Vögel auf den Ziegeln gerade über seinem Bett ein großes Klabastern und Schreien anstellten. Ein Stückchen Kalk vom Verputz war ihm auf die Bettdecke gefallen. Die Morgensonne schien durch das Fenster, und die Blüten des Spalierapfels waren aufgebrochen. Ein vollbesetzter Zweig zog sich schräg vor den Scheiben hin. Hans dachte, wenn die alle ansetzten, dann würde es eine Menge Äpfel geben, und sehr bequem waren sie vom Fenster aus zu pflücken. Indessen aber lag er in seinem warmen Bett und hielt die Augen behaglich geschlossen. Auf dem Dach waren jetzt auch Tauben, das hörte man am Gurren und an dem Trippeln. Die warteten, daß Hans in die Haustür trat und ihnen das Futter streute; sie kannten ihn ganz genau und ließen sich nicht irre machen, wenn ein andrer kam und sie anführen wollte. Von den Äpfeln konnte er übrigens im Herbst, wenn sie reif waren, immer jeden Abend einen mit ins Bett nehmen; dann zog er die Decke über die Ohren und aß ihn heimlich für sich. Die Sorte war auch gut.

Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe: ganz geschwind kniff er die Augen zu, aber sein Gesicht lachte. Die Mutter trat ein, warf ihm ein Kissen aufs Gesicht, faßte ihn darunter und hielt ihn fest; dazu sang sie:

Hab’ ein Vögelchen gefangen

Im Federbett,

Hab’s in’n Arm ’nein genommen,

Hab’s lieb gehätt!

Hans strampelte und lachte, die Mutter aber hob ihn aus dem Bett, schwenkte ihn und sang:

Quibus, quabus,

Die Enten gehen barfuß,

Die Gäns’ haben keine Schuh,

Was sagen denn die lieben Hühner dazu?

Dann küßte sie ihn recht herzlich, und er wischte sich den Mund ab und rutschte aus ihrem Arme auf die Erde. Ob er heute den Tauben wohl Erbsen streuen durfte? Aber es war ein ganz besonderer Tag. Die Mutter kriegte ihn vor und wusch ihn außergewöhnlich gründlich, daß er mit den Zähnen klapperte über das nasse Wasser und ganz blankgescheuerte Backen bekam. Dann kämmte sie ihm das Haar glatt, das ihm sonst borstig und hell in die Höhe stand; erst bearbeitete sie es mit Wasser, nachher mit Pomade.

Hans fragte mit großer Neugierde, was denn heute geschehen werde; aber die Mutter lachte nur und antwortete ihm nicht. Sie holte den guten Anzug aus dem Schrank, und auch seinen Kragen und die Manschetten kriegte er; die waren zwar recht ausgewaschen, und einem verwöhnten Stadtkind wären sie nicht mehr ganz anständig erschienen, für Hans aber waren sie eitel Prunk und Herrlichkeit. Und wie er nun so fein angezogen war, ermahnte ihn die Mutter, daß er sich fromm in die Stube setzen sollte und ein Buch vornehmen, damit er den guten Anzug schonte und sich nicht unordentlich machte. Da holte er seine Lesebücher zusammen: den Preußischen Kinderfreund, drei Bände Spinnstube und die Bibel, und begann für sich zu lesen; denn eigentlich war ihm das Lesen doch das Liebste, und vollends, wenn der Vater nicht da war, der immer wollte, daß er etwas Nützliches studierte; die Mutter aber meinte, es sei alles nützlich und gut, was in seinen Büchern stand. So las er im Kinderfreund seine Lieblingsgeschichten von der gnädigen Frau von Paretz, und das Gedicht: Als Kaiser Friedrich lobesam ins heil’ge Land gezogen kam (bei dem er immer meinte, lobesam müsse mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden, weil es doch der Nachname Kaiser Friedrichs sei); und in der Spinnstube las er die Geschichte von Wittington und seiner Katze, der dreimal Bürgermeister von London wurde, welche Stadt anderthalb Meilen lang und fast eine Meile breit ist, achttausendeinhundertundeinundneunzig Straßen hat, hundert freie Plätze von großer Ausdehnung, zweimalhundertundfünfzigtausend Häuser, und zwei Millionen Einwohner. Das war einmal eine Stadt!

Zuletzt sagte die Mutter dem Hans, was bevorstand, denn der Herr Graf mit seiner Gemahlin und den Kindern wollten eine Lustfahrt durch den Wald machen und dabei im Forsthause einsprechen. Denn es waren noch nicht die Zeiten, die im vorigen Kapitel geschildert sind, und die bösen Zustände im gräflichen Hause wurden noch nicht äußerlich bemerkt.

Da kam der erste Wagen, der von stolzen Pferden gezogen wurde, welche die Beine tänzelnd hoben und den Kopf hochhielten; nachher, wie sie standen, spielten sie mutwillig mit dem Gebiß; man sah es ihnen wohl an, daß sie in Herrendienst waren und in Wohlleben. Der Kutscher trug eine sehr stolze Livree und saß hochmütig auf dem Bock, als gehe ihn die ganze Welt nichts an; und die Frau Gräfin mit der kleinen Komtesse lehnten im Wagen und sahen gar nicht so stolz aus wie der Kutscher und lächelten beide freundlich, indem die Mutter den Schlag aufmachte. Hans hörte, wie die Frau Gräfin immer lobte und sagte: „Schön, sehr schön, ausgezeichnet, liebe Frau Werther.“ Er mußte eine Verbeugung machen, die ihm die Mutter vorher eingeübt hatte, und war sehr verlegen; am liebsten wäre er ganz weit weg gewesen.

Da die Frau Gräfin ihm auftrug, daß er der kleinen Komtesse alles zeigen sollte, was zu sehen wäre, so faßte er die bei der Hand und ging mit ihr aus der Stube; sie war wohl ein Jahr jünger wie er, aber er war fest entschlossen, sie mit „Sie“ anzureden; solange es ging, wollte er sich indessen um die Anrede drücken, weil er doch nicht wußte, ob es nicht komisch war, wenn er „Sie“ sagte. Sie sprach zuerst und erzählte, daß sie ihr weißes Kleid nicht schmutzig machen dürfe. Sie hatte ein weißes Kleid, das war ganz aus Spitzen, wie aus Luft, und in der Mitte war ein blauseidenes Band. Er wußte nicht recht, was er antworten sollte, da fielen ihm seine Manschetten ein, die zog er von den Händen und zeigte sie ihr; das war ihr sehr merkwürdig, und sie sagte, daß bei ihren Brüdern die Manschetten aus einem Stück seien mit den Hemden, aber so, wie er es habe, sei es gewiß viel vernünftiger, weil man sich dann nicht so schrecklich viel umzuziehen brauche.

Nun führte er sie in den Stall, die Treppe hinauf, zum Heuboden. Hier hatte er im Heu sich einen langen Gang gegraben, und am Ende hatte er eine Höhle, deren Decke war mit Brettern gestützt, daß sie nicht einstürzte. Eigentlich war das eine Höhle der alten Deutschen, aber man konnte hier auch Mann und Frau spielen, dann war die Höhle der Raum, wo die Frau blieb und Mittagessen kochte, oder flickte, und der Mann kam nach Hause aus dem Wald. Die Komtesse war einverstanden, daß sie so spielen wollten. Deshalb kroch er erst in den Gang hinein, und wie er hinten in der Höhle saß, rief er ihr, daß sie nachkommen sollte, damit er ihr das Innere zeigte, das war freilich ganz dunkel. Sie kroch auch ganz tapfer nach, wie sie aber in der Mitte des Ganges steckte, hielt sie plötzlich still und fing ganz jämmerlich an zu weinen, weil sie mit einem Male Angst kriegte. Er tröstete sie und sagte, die Mädchen hätten immer Angst, und sie solle nur weiter kriechen, dann käme sie zu ihm; aber sie weinte immer lauter und rief nach ihrer Mama. Da kroch er zurück, und sie schob sich auch rückwärts aus dem Gange, und wie sie draußen standen, sahen sie recht unordentlich aus und waren voller Heu. Dann wurde beschlossen, sie sollte den Mann vor dem Hause erwarten, denn es müßte Sommer sein, und in der Stube müßte es heiß sein. Deshalb ging er fort, die Treppe hinunter, aber mit dem Kopf durfte er nicht verschwinden, sonst wollte sie wieder weinen, dann kam er wieder, trampelte laut mit den Füßen, rief: „Kusch, Pollux!“ und sagte: „Guten Tag Frau, was macht der Junge?“ Sie antwortete: „Er ist artig gewesen, darum muß er auch einen Kuß kriegen.“ Diese Antwort brachte ihn aus dem Konzept, weil sie ihm ungewohnt war, deshalb fragte er weiter: „Hast du auch was Gutes gekocht?“ — „Nein,“ sagte sie, „ich habe in der ‚Semaine des Enfants‘ gelesen.“ Nun wußte er wieder nicht weiter, deshalb sagte er: „Ach, das ist ein dummes Spiel, wenn du nicht so eine Heulliese wärst, so könnten wir jetzt durch die Heuluke durchklettern in die Kuhkrippe.“ Da versprach sie ihm, daß sie auch ganz gewiß nicht wieder weinen wollte, und dann machte er die Heuluke auf, sie legten sich auf den Boden und sahen, wie unten die Kuh in die Höhe guckte, mit den Lippen bettelte und durch die Nasenlöcher pustete. Das war so komisch, daß sie lachen mußte. Hans zeigte ihr, wie man sich durch die Luke in die Krippe niederlassen konnte; die Kuh pustete neugierig und leckte mit der Zunge ihn an, weil sie dachte, er sei ein Heubündel; das war noch komischer wie das andre; aber mit in die Krippe steigen mochte die Komtesse doch nicht.

Unten bei der Kuh waren Hansens Kaninchen. Die wollte die kleine Komtesse gern sehen. Sie gingen hinunter, und die Komtesse bewunderte den langen, kleinen Gang an der Wand, der aus Brettern gezimmert war, und das Schlupfloch, das ein Arbeiter schön blau und rot bemalt hatte. Hans fing ein ganz weißes Kaninchen und reichte es ihr an den Ohren hin; es hielt ganz still, wie sie streichelte, und plötzlich fing es stark an zu zappeln, daß sie zuerst erschrak; nachher mußte sie aber selber lachen über ihre Furcht, wie sie die niedlichen roten Augen sah. Dann nahm Hans das Brett am Ende des Laufganges weg, wo das Nest war; da lagen sechs kleine Kaninchen bei ihrer Mutter, die waren ganz zahm und ließen sich auf die Hand nehmen, und ihre Mutter machte ein Männchen und schnupperte nach oben. Über das alles war sie so entzückt, daß Hans zuletzt strahlte vor Stolz und Freude; und nachdem er sich lange überlegt, ob er wohl nicht Zanke bekäme von der Mutter, wenn er ihr ein Geschenk anböte, fragte er, ob sie ein Pärchen haben wolle. Da war sie ganz glücklich, und mit immer neuem Vergnügen suchte sie sich zwei von den kleinen Tieren aus, nahm sie in ihr Kleid und sprang zu ihrer Mutter in der Stube. Die sagte mehrmals, die Tiere seien sehr schön, aber als das Kind sie bat, ob es sie mitnehmen dürfe, antwortete sie, daß es doch zu Hause keinen Raum hätte, wo es sie lassen könne; und die Kleine, die schon wußte, daß auch noch eine leichtere Ablehnung endgültig war, gab dem Hans mit Tränen in den Augen und ohne Worte die Tierchen wieder zurück und setzte sich dann still ans Fenster. Die Frau Gräfin sagte dann, sie sei wohl recht wild gewesen, und sie müsse jetzt artig sein, ihre Brüder würden bald kommen. Hans stand da mit den beiden kleinen Kaninchen, eins in jeder Hand, und wußte nicht, wo er hingehen sollte; in seiner Verlegenheit bot er sie der Komtesse noch einmal stumm an; die schüttelte das Köpfchen und sah durchs Fenster. Seine Mutter stand auf, öffnete die Tür, schob ihn hinaus und sagte ihm, er solle die Kaninchen wieder in den Stall bringen; das tat er auch; und weil er nicht recht wußte, wie er wieder in die Stube gehen solle, so blieb er draußen unter der Toreinfahrt, steckte die Hand in die Hosentaschen und pfiff mit erkünsteltem Gleichmut ein Lied. Ganz wohl war ihm nicht, denn er hatte wohl gesehen, wie die Frau Gräfin böse geworden war, nur daß sie es nicht so zeigte, wie seine Mutter es pflegte.

Nach einer Weile aber kam die kleine Komtesse wieder heraus, trat neben ihn hin und sagte: „Ich danke dir auch schön, und du mußt nicht böse sein; wenn wir einen Raum hätten für die Kaninchen, so hätte ich sie nehmen dürfen.“ Dann zog sie ein Albumbildchen hervor, das stellte Dornröschen dar, wie der Prinz es gerade wachküßt, das schenkte sie ihm. Er steckte das Bild gleichmütig in die Tasche. Sie sagte dazu: „Ich hätte es gerne selber behalten, unser Küchenmädchen hat es mir geschenkt, aber dir will ich es geben.“

Indem sie noch so sprachen, fuhr ein andrer Wagen vor, in dem saß der Graf und die beiden Jungen, die ungefähr in dem Alter waren wie Hans; und auch der Förster saß im Wagen. Der Vater sprang schnell heraus und war der Herrschaft behilflich beim Aussteigen. Der Herr Graf faßte die kleine Komtesse beim Zöpfchen, sie warf sich ihm in die Arme und hätte wohl gern noch einmal gebeten wegen der Kaninchen, wenn sie gewagt hätte.

Nun trat die Frau Gräfin aus dem Haus und gab der Försterin freundlich die Hand. Die kleine Komtesse umfaßte ihren Rock und bat: der kleine Hans soll mitfahren. Sie bat so herzlich, daß die Frau Gräfin fragte, ob die Eltern das erlaubten; die sagten natürlich ja, die Mutter zupfte Hans noch einmal zurechte, und dann stiegen alle ein. Die Kinder durften in dem einen Wagen für sich bleiben, nachdem sie dem Kutscher auf die Seele gebunden waren, der Graf war mit seiner Gemahlin in dem andern, und nun ging die Fahrt fort in den Wald.

Dem Hans war sehr befangen zumute, denn er hatte das Gefühl, daß er ganz anders saß und sich bewegte und sprach wie die jungen Grafen; die sahen so aus, als dachten sie gar nicht an ihre Bewegungen, und er meinte, daß sie wohl heimlich über ihn lachen möchten. Das Mädchen erzählte von den Kaninchen, und wie reizend die gewesen seien; da sprachen die beiden Brüder geringschätzig und meinten, Kaninchen seien gar nichts Besonderes, und wenn sie nur wollten, so könnten sie Hunderte haben; und wie die Kleine erzählte, daß sie die beiden geschenkten Jungen nicht hatte mitnehmen dürfen, da lachten sie und sagten, sie verstehe das nicht, wie man seinen Willen erreiche; da müsse man so lange heulen, bis einem erlaubt werde, was man wolle. Hans kriegte runde Augen über diese Ansichten und sagte zwar nichts; die Brüder aber merkten wohl, daß ihm ihre Reden unrecht vorkamen, deshalb machten sie sich gefaßt, ihren Spaß mit ihm zu treiben, denn sie hielten ihn für einen Duckmäuser.

Sie sagten nicht „Vater“ und „Mutter“, sondern „der Alte“ und „die Alte“, und rühmten, welche Taten sie mit ihrer Schnappschleuder begingen, wie sie da den Bauern die Fensterscheiben entzweischossen, ohne daß jemand merkte, von wem der Schuß kam. Noch nahmen sie scheinbar keine Notiz von Hans, weil sie keine rechte Anknüpfung hatten, aber sie knufften sich heimlich, um sich auf ihn aufmerksam zu machen, wie er dasaß mit seinen hellen Augen in dem blankgescheuerten Gesicht. Wie ihre Schwester von den Manschetten erzählte, prusteten sie los mit Lachen und sagten, das seien Sparröllchen, wie sie Herr Müller trägt, der Hofmeister; gestern hatten sie gehört, wie ihre Mutter zum Vater gesagt hatte, Herr Müller mit seinen Sparröllchen sei doch zu unterirdisch.

Hans wurde feuerrot und schämte sich sehr und hätte fast angefangen zu weinen; aber er bezwang sich noch. Der älteste von den Brüdern fragte ihn: „Kannst du auch schon reiten? Wir haben jeder einen Pony, auf dem lernen wir reiten, ich darf schon allein.“ Hans schüttelte den Kopf; dann erzählte er, daß ihre Elsbeth einmal wochenlang jeden Tag zweiundzwanzig Liter Milch gegeben habe. Da prusteten die Brüder wieder los, das kleine Mädchen aber sagte zu ihm: „Du mußt dich nicht ärgern über sie, das sind dumme Jungen.“ Ihm aber war, als ob sie im Einverständnis sei mit den beiden, die ihn auslachten, und das kränkte ihn am meisten; aber er wußte nicht, was er antworten sollte.

Indessen erzählten die andern weiter, wie sie schon geraucht hatten und sich Geld borgten von den Leuten; und wie den einen der Vater einmal zur Rede gestellt, hätte er einfach alles abgestritten, und der Vater hätte gelacht und gesagt, er könne sich gut herauslügen, aber er, der Vater, merke doch die Wahrheit; aber getan hätte er ihm nichts. Dann fragten sie Hans, ob sein Vater seiner Mutter auch zuweilen etwas vorlog. Er schüttelte mit dem Kopf. Sie antworteten, er sei noch zu dumm, da merke er das nicht. Da kam ihm plötzlich ein neues Gefühl in die Bewunderung der Ruhmredigkeit der andern, die Stimmung von Zuhause und der Stolz, den er gegenüber den Tagelöhnerkindern hatte, und er sagte: „So einen Vater wie ich hat auch keiner.“ Der älteste von den beiden antwortete überlegen: „Das denkt man immer, solange man noch klein ist.“ Dann fragten sie, ob sein Vater ihn schlug, und Hans erzählte, daß er eine Peitsche hatte mit neun Riemen, das war die neunschwänzige Katze, mit der kriegte er, wenn er ungezogen gewesen war. Da kam ihm wieder vor, als sei bei ihm zu Hause alles dumm, und er selbst sei ganz dumm, und die beiden erschienen ihm wieder hoffnungslos überlegen. Die Wagen fuhren zu einer Waldblöße, die war von allen Seiten eingeschlossen durch die hohen Tannen, und war der Boden etwas abhängig und mit braunem Gras bedeckt von vorigem Jahr; schon kamen die ersten grünen Grasspitzen aber hervor, und die Primeln blühten. Auf dem untern Teil hatten sich einige Birken angesiedelt, die etwa mannshoch waren; über denen schwebte eben ein hellgrüner Hauch. Aber an der trockensten und sonnigsten Stelle lag ein großer flacher Stein. Auf diesem deckten die Leute, denn die Herrschaften wollten im Freien vespern. Die Kinder durften im Walde spielen. Hans war aus Schüchternheit ungeschickt; weil er bei dem kleinen Mädchen die einzige Zuneigung verspürte, so hielt er sich immer zu dieser, wiewohl er dadurch das Spiel oft störte. So versteckten sie sich hinter den Bäumen, und es war in seiner Nähe kein starker Baum, und er blieb hinter einem ganz dünnen stehen, obwohl er selbst wußte, daß ihn die andern gleich sehen mußten. Wie er selbst suchen sollte, war er zu schüchtern, die Jungen zu fangen, die er fand, und ließ sie entkommen, wiewohl er sich heftig ärgerte über diese Schüchternheit; hinter dem kleinen Mädchen dagegen lief er sehr eifrig her. Über alles dieses wurden die Jungen ärgerlich und zankten mit ihm; er aber lächelte bloß entschuldigend und konnte sich nicht verteidigen, und die beiden kamen zu dem Schluß, er sei dumm. Daß er sich immer an ihre Schwester heftete, merkten sie bald, und da verspotteten sie diese, sie habe einen Verehrer bekommen, der Dumme sei in sie verliebt. Darüber wurde die ärgerlich und war kurz gegen Hans; und wie der, obgleich er das merkte, doch nicht abließ von seiner Art, sagte sie ihm endlich ganz grob, er solle sie in Ruhe lassen, er sei dumm. Da stand er traurig für sich allein da und sah zu, wie die andern spielten, und mußte mit aller Gewalt die Tränen zurückhalten. Mit einem Male aber kam es über ihn, nämlich plötzlich, bei einer ganz geringen Gelegenheit, als es ihm schien, der ältere Bruder sehe spöttisch nach ihm hin, da lief er wütend auf den zu, packte ihn bei den Haaren und schlug kräftig auf ihn ein; der jüngere Bruder eilte herbei und griff Hans an, aber der ließ sich nicht irre machen: fühlte wohl gar nichts von seinem Angreifer. Endlich kamen die Kutscher und trennten die drei.

Wie sie vor die Herrschaften gebracht waren, klagten die Brüder mit geläufigen Worten über Hans, der habe das Spiel schon von Anfang an gestört, dann sei er brummig zur Seite geblieben, und endlich habe er ohne Grund sie überfallen. Hans stand niedergeschlagen da, denn das war alles richtig, was die sagten, und er wußte selbst nicht, weshalb er plötzlich so wütend geworden war. Der Herr Graf sagte zu seinen Söhnen, sie würden gewiß schuld haben, aber wenn sie denn nun einmal keinen Frieden untereinander halten könnten, so solle der Försterjunge nach Hause gehen. Nun dachte Hans, daß er sich wohl erst bedanken müsse; aber das konnte er nicht; deshalb drehte er sich um und ging langsam einige Schritte; und wie er dachte, daß er weit genug sei, lief er aus Leibeskräften, bis er atemlos nach Hause kam.

Hier fand er nur die Großmutter vor; er ging zu ihr in die Stube und weinte in ihren Schoß.

Wie der Vater nach Hause zurückkehrte, wußte er schon von dem Geschehenen, rief den kleinen Hans zu sich und fragte ihn. Der antwortete, daß alle sehr artig gewesen seien und besonders die kleine Komtesse, aber ihn habe plötzlich eine Wut gepackt, er wußte nicht woher, daß er habe den einen schlagen müssen. Mehr konnte er nicht sagen, und keine weitere Vorhaltung nutzte etwas. Endlich fragte ihn der Vater, ob er wisse, daß er sehr ungezogen gewesen sei und Hiebe verdient habe. Da sagte er ja, holte auch die neunschwänzige Katze herbei. Wie ihn der Vater schlug, bezwang er sich zuerst und muckste nicht, nachher aber weinte er doch, denn die Katze tat sehr weh.

Am Abend setzte er sich in der Dunkelheit ans Fenster; der Vater saß still in der Sofaecke. Da stand er leise auf, ging zu seinem Vater, stieg dem auf den Schoß und weinte an seiner Brust. Der Vater dachte, er müsse ihn trösten der Schläge wegen und sagte, er sei doch ungezogen gewesen, und einem Vater tue das selbst weh, wenn er seinen Jungen schlagen müsse, und das wisse er doch selbst, daß er die Schläge verdient habe. Da nickte Hans und sagte: „Das ist es nicht, das hat manchmal schon weher getan.“ Wie ihn der Vater nun weiter fragte, faßte er sich zuletzt ein Herz und sprach: „Nicht wahr, du lügst doch nicht?“ Hierüber wurde der Vater ganz erstaunt, antwortete, daß er allerdings nicht lüge und fragte dann, wie Hans auf solche Gedanken komme. Hans schluchzte von neuem und erzählte endlich, was die beiden Jungen auf der Fahrt und nachher gesprochen hatten. Der Vater wurde recht nachdenklich und begütigte ihn, indem er ihm sagte, daß die jungen Grafen vorlaute Jungen seien, die überall zuhörten, auch wo es ihnen verboten sei, und nun in ihrer Dummheit allerhand falsche Meinungen ausheckten. Damit gab sich Hans am Ende zufrieden, hörte allmählich auf zu weinen und schlief zuletzt auf seines Vaters Schoße ein. —

 

Der Großmutter war es den Winter hindurch schlecht gegangen; sie klagte über ihre Beine, daß die sie nicht mehr recht tragen wollten und fürchtete sich vor Zug; abends ging sie früher zu Bett wie sonst, und am andern Morgen erzählte sie, daß sie nicht habe schlafen können. Dafür geschah es, daß sie am Tage unversehens einschlief, wenn sie in ihrem Lehnstuhl am Ofen saß und strickte; das Strickzeug sank ihr in den Schoß, und sie wachte auch durch lautes Geräusch nicht auf. Man mußte aber tun, als ob keiner etwas merkte hiervon, sonst wurde sie böse; wenn sie die Augen wieder aufschlug, so sah sie sich um, ob jemand sie beobachtete, und dann nahm sie ihr Strickzeug vor das Gesicht.

Gegen den Frühling kam der Tischler, der die Fenster in Ordnung bringen sollte, denn deren unterer Riegel war faul geworden, und das Wasser lief auf die Fensterbank. Mit dem sprach die Großmutter über Särge, fragte, was die verschiedenen Arten kosteten, und wunderte sich, daß alles so teuer geworden war, und erkundigte sich genau nach der Haltbarkeit. Es zeigte sich, daß bei Särgen sehr viel Betrug unterlief, denn die Handwerker hatten keine Furcht vor Gott und keine Scham und glaubten, bei einem Begräbnis müßten sie mehr verdienen wie bei andern Arbeiten.

Als die Kraft der Sonne zunahm, stand sie oft am Fenster und sah, wie der Schnee in sich zusammensank, und dann kam Tauwind und Regenwetter, und in den Schlittenspuren auf der Landstraße schoß das Wasser bergab. Jetzt sagte die Großmutter oft: „Nun schlagen die Bäume bald aus“; sie dachte aber bei sich, wenn die Bäume ausschlügen, so würde sie sterben; auch sagte sie: „Die Schneeglöckchen erlebe ich noch.“ Das sprach sie alles für sich hin, wenn sie allein in der Stube war oder nur der kleine Hans auf seinem Fußbänkchen still saß. Einmal faltete sie die Hände und sagte: „Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“

Wie sie noch Kind war, hatten ihre Eltern sie in eine Sterbekasse eingekauft, und achtzig Jahre lang hatte sie ihre Pfennige gesteuert. Jetzt las sie viel in dem alten, abgegriffenen Quittungsbuch, in dem vorn die Satzungen der Kasse abgedruckt standen und hinten auf leeren Blättern so viele Jahre hindurch der Empfang des Beitrags bescheinigt wurde; sie las und rechnete für sich alle Kosten und Ausgaben zusammen.

Ein schöner Frühlingstag kam. Das Stubenfenster stand lange auf, und eine Frühlingsluft drang herein, eine frische und sonnenscheindurchtränkte. Draußen war es schon ganz trocken, und die kleinen Vögel machten allerhand Zwitschern, Pfeifen und Tirilieren; die Großmutter saß lange am Fenster und hatte diesmal gar keine Furcht vor der Erkältung. Dann sprach sie mit der Mutter wegen des Grabes ihres toten Mannes, das um diese Jahreszeit besorgt werden mußte, und endlich sagte sie, daß sie sich jetzt zu schwach fühle, um noch aufzubleiben; sie wolle sich legen; aber auf ihrer Kammer sei es ihr zu einsam; ihr Bett solle hier in der Stube aufgeschlagen werden, in der Ecke, wo ihr Lehnstuhl gestanden.

Die Mutter verspürte wohl, was sie meinte, und daß sie wußte, sie werde von diesem Lager nicht wieder aufstehen; so antwortete sie, daß heute abend, wenn der Mann zu Hause sei, alles so gemacht werden solle, wie die Großmutter es wünsche.

Das geschah auch, und nun war die Großmutter unten in der Stube im Bett; sie hatte viele Kopfkissen im Rücken, so daß sie halb saß; deshalb vermochte sie auch noch zu stricken wie früher. Wenn der Vater abends nach Hause kam, ging er erst zu ihr, gab ihr die Hand und sprach ein paar Worte. Es war, als sei sie jetzt viel wichtiger geworden wie vorher; die Mutter fragte sie um manches, davon sie ihr sonst nichts mitgeteilt, und recht oft erhielt sie ein besonderes Leckerbißlein, das die andern nicht bekamen.

Einmal rief die Großmutter die Mutter zu sich ans Bett. Die kam und fragte, was sei. Da sagte die Großmutter nach einer Pause: „Ich wollte dir nur sagen, daß du immer gut zu mir gewesen bist, so sind nicht alle jungen Frauen. Ich bin gewiß manchmal wunderlich gewesen, aber ich habe es immer gut gemeint.“ Da sah Hans, wie seiner Mutter die Tränen kamen, daß sie die Schürze vor die Augen nahm und schnell fortging.

Dem kleinen Hans erzählte die Großmutter jetzt viel; und wiewohl er gern draußen war und mit dem schmelzenden Schnee spielte, Flüsse leiten und Dämme bauen, daß sich große Teiche bilden, und dann wieder Kanäle graben und Wasserfälle machen, so blieb er doch viel lieber in der Stube bei der Großmutter und hörte ihre Erzählungen aus der alten Zeit.

Sie sprach aber von ihrem Vaterhaus, das schilderte sie ganz genau von außen und innen und zählte die Stuben und Fenster und Türen, und die Öfen beschrieb sie, und die Treppe und die Haustür; und alles wurde prächtig und märchenhaft in ihrer Erinnerung. Dann sprach sie von der Wiese, und wie sie alle ins Heu gingen mit großen Hauben aus Kattun, und vom Garten erzählte sie und von den Obstbäumen; da war ein Apfelbaum, der trug Borsdorfer, solche Äpfel gab es nicht mehr; und von Kirschen hatten ihre Eltern alle Sorten, und im Herbst, wenn die Abende länger wurden, dann holten sie immer eine große Schüssel Pflaumen vom Boden, die wurde auf den Tisch gesetzt. Der Urgroßvater war Silberbote gewesen, das war ein Bergmann, auf den man besondere Stücke hielt, der mußte zweimal in der Woche das ausgebrachte Barrensilber zur Münze bringen. Da ging er denn abends zum Herrn Bergrat, der packte die Barren in einen Tornister, den versiegelte er; dann kam er wieder nach Hause und verschloß den Tornister in seinem Koffer und nahm den Schlüssel in die Tasche; denn früh am andren Morgen um drei Uhr mußte er sich auf den Weg machen und acht Stunden weit gehen durch den dicken Wald: zur Winterzeit war oftmals der Weg verschneit und keine Trappe Bahn; dazu war damals der Wald noch gefährlich wegen der Wölfe, und in der Franzosenzeit gab es auch Räuber. Deshalb holte der Vater die Bibel und das Gesangbuch aus dem Schapp und las vor, ein Stück aus den Evangelien, von dem Mann, der unter die Räuber fiel, oder ein andres, dann knieten alle nieder und beteten zum lieben Gott, daß er ihn beschützen möge, und am Ende sangen sie ein frommes Lied. Wenn die Kinder dann am andern Morgen aufwachten, so war der Vater schon lange auf dem Wege; und erst am Abend um neun kam er wieder mit dem leeren Felleisen und der Quittung, das mußte ein Kind beides gleich zum Herrn Bergrat bringen. Wenn es aber um die Zeit war, daß der Vater heimkehren mußte, so harrten alle in Angst, und oftmals gingen sie ihm entgegen, weil sie Furcht hatten, es möchte ihm etwas geschehen sein. Aber Gott hat ihn immer behütet, und er hat ein hohes Alter erreicht.

In diese Erzählungen mischte die Großmutter Mahnworte und fromme Reden, indem sie begann: „Und wenn ich tot bin, so vergiß nicht, was ich dir jetzt sage.“ Sie erzählte aber, sie habe gefunden, daß in heutiger Zeit die Menschen mehr Angst hätten um ihr tägliches Brot wie früher und sich viele Sorge machten um Irdisches. Als sie ein Kind gewesen, haben die Menschen andre Gedanken gehabt; indessen sei es möglich, daß die Ursache der Sorgen in dem beschlossen sei, daß die Menschen heute nicht mehr so ordentlich und gut seien wie früher. Es sagt aber der Psalmist: „Ich bin jung gewesen und alt geworden und habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen.“ Diesen Satz gab sie dem kleinen Hans ganz besonders und schärfte ihn dem Kinde vielmals ein und fügte hinzu: „Strebet zuerst nach dem Reiche Gottes, so wird euch dieses alles zufallen“, und sagte nochmals: „Hieran denke, wenn ich tot bin, und vergiß nicht meine Worte.“

Weiter erzählte sie von ihrem Großvater, den sie noch gekannt als einen eisgrauen kleinen Mann, der schon ganz in die Erde gewachsen war. Der war weit in der Fremde herumgekommen als ein Bergmann, in Ungarn und Böhmen, aber dann wieder in die Heimat gekehrt mit seinem Ersparten und hatte das Haus gekauft und die Wiesen. Der las viel in einem alten Buche, das hieß die „Insel Felsenburg“, darin waren Lebensbeschreibungen von allerhand Menschen und merkwürdige Schicksale, Reisen und Schiffbrüche, bis alle endlich zusammenwohnten auf einer einsamen Insel im Meer, wo sie in Ehrbarkeit und Sitte lebten, sich freiten und Kinder kriegten und die Insel bevölkerten. Sie, die Großmutter, hatte er am liebsten, die damals noch ein kleines Mädchen war und zu seinen Füßen saß auf dem Fußbänklein, „gerade wie du, mein lieber Hans. So vergehen die Jahre, und die Menschen werden groß, und die Alten sterben, und junge kommen auf, und ist mir, als sei es gestern gewesen, daß ich aufhorchte, wie er mir erzählte von den Silbergruben in Ungarn und von den großen Meerschiffen. Und ist zu denken, daß auch mein Großvater dereinst als kleines Kind aufgeschaut hat zu seinem Ahn, und geht die Reihe der Geschlechter fort durch die Jahrhunderte, und auch du, mein liebes Kind, wirst einst Kinder haben, und Enkel werden zu deinen Füßen sitzen und du wirst denken: ‚War es nicht gestern, daß ich hörte, wie die Großmutter mir erzählte?‘ Aber dann werde ich schon lange in der Erde liegen neben deinem Großvater, der so jung hat sterben müssen, daß er deinen Vater nicht mehr gesehen hat, und habe ich an fünfzig Jahre die Stelle betrachtet, wo ich einstens neben ihm liegen werde.“

Der kleine Hans saß still und horchte auf der Großmutter Worte. Noch verstand er nicht, was sie meinte, denn ein Kind kennt nur den Tag und ist wie ein Schmetterling in der Sonne, der nichts weiß von gestern und morgen; aber er verschloß ihre Reden treu in seiner Seele, und später haben die ihn getröstet und beschützt, als er keinen Trost von Menschen hatte und keinen Schutz. Auch sagte die Großmutter: „Du bist zwar noch ein Kind, aber du sollst doch schon jetzt wissen, was du sonst später erfahren hättest, denn du bist ja mein Blut und meines lieben Mannes. Deshalb will ich dir erzählen, wie ich und dein Großvater uns lieb gewonnen haben; denn auch du wirst einmal ein Mädchen lieb gewinnen und heiraten.“

Die alte Großmutter, die jetzt mit ihren achtzig Jahren strack in ihrem Bette saß, mit schneeweißem und glattem Scheitel, die Augen nach vorwärts gerichtet in ein neues Land, war einst ein junges Mädchen gewesen, hochgewachsen und schlank wie ein Tannenbaum, mit gelbem Ringelhaar und lustigen blauen Augen. Da sie so schön war und ihre Eltern eingesessene Leute, die ein Stück vor sich gebracht hatten, so fehlte es ihr nicht an Bewerbern. Nach der Art der jungen und unerfahrenen Dinger, die nicht wissen, wie das Leben ein gar schweres Wesen ist, erschien ihr das als ein Scherz und Spiel und vermeinte, sie dürfe stolz sein auf solche Menge der Freier, und äußerte den Stolz in allerhand Mutwillen, den sie mit ihnen trieb aus Gedankenlosigkeit; denn sie hatte noch nicht erfahren, was Liebe ist. Ganz besonders war ihr aber zugetan der junge Jägerbursche, der später ihr Mann werden sollte, der war ihr indessen zu ernsthaft, wiewohl ihre Eltern es gern sahen, daß er sich um sie bewarb. An einem Abend ging er mit ihr zusammen einen Weg nach dem Dorfe zu, und wie sie auf der Anhöhe standen und unter sich die Lichter blinken sahen, sprach er zu ihr, daß er sie lieb habe, und wenn sie wolle, so werde er sie heimführen als seine Frau und sie lieben und ehren, wenn sie ihn lieben und ihm gehorsamen wolle; aber er sei noch nicht angestellt, und es sei recht möglich, daß sie ein paar Jahre warten müßte, bis sie heiraten könnten.

Auf dieses erwiderte sie schnippig, denn sein ernster Ton hatte sie verdrossen, und daß er sprach von Gehorsamen. Sie sagte aber, daß sie einen Mann nicht nehmen möge, der schwarzhaarig sei, sondern sie wolle einen Blonden; und zudem begehrten sie so viele zur Frau, daß sie nicht nötig habe, zehn Jahre zu warten als Braut, sondern wenn sie wolle, so könne sie schon übers Jahr heiraten. Da sagte er, sie spreche wie ein unverständiges Kind, und vielleicht sei sie auch noch zu jung, um schon eine rechte Meinung in solcher ernsten Sache zu haben. Aber ihre leichte Art habe ihn sehr gekränkt, und deshalb bitte er, sie wolle denken, seine Worte seien ungesprochen. Aber wenn er sie nicht zur Frau bekommen könne, weil sie ja nicht wolle und auch er ein so gedankenloses Wesen nicht in sein Haus führen möge, so solle sie doch immer auf ihn rechnen, weil er sie trotz allem lieb habe, denn die Liebe kehrt sich nicht an die Vernunft, ja sie streitet mit ihr. Es sei aber sehr möglich, daß sie später einmal seine Hilfe irgendwie gebrauchen könne; und auch einen Groll wollten sie nicht auf einander behalten. Dieses stieß ihr wieder an die Krone, so daß sie noch törichter antwortete und ihn gänzlich von sich abwies.

„Aber merke dir, mein liebes Kind,“ sprach sie von ihrem Bett zu dem kleinen Hans, der vor ihr saß, „wir Frauen sind andern Wesens wie die Männer; und wenn du nicht vergißt, was ich dir jetzt erzähle, so sparst du dir später viel Herzeleid und Kummer. Vorher habe ich deinen Großvater nicht lieb gehabt, aber wie ich ihm so leichtfertig antwortete, und er war ernst und streng, aber zugleich doch gut zu mir, da kam plötzlich die Liebe zu ihm in mein Herz. Nur daß mich die Schamhaftigkeit hinderte, ihm davon zu sagen; ja es war, als triebe es mich, ihn jetzt gerade zu kränken. Das merke dir, denn wir Frauen sind ein schwaches Geschlecht, und die Männer sind stärker als wir, und gerader.“

So geschah es, daß sie einen andern Bewerber offenkundig bevorzugte, einen Bergmann, der lustig die Zither zu schlagen verstand und Lieder dazu sang und fröhliche Streiche anzustellen wußte. Mit dem lachte sie viel, und es war ihr lieb, wie sie sah, daß der andre finster wurde, wenn er sie mit ihm erblickte. Und einmal ging sie denselben Weg mit diesem, den sie vorher mit dem andern gegangen, und sprachen ähnliche Gespräche zusammen, und kamen an dieselbe Stelle auf der Höhe, wo das Dorf unter ihnen lag mit seinen hellen Fenstern. Da fragte er sie, ob sie ihn lieb haben wollte, und zugleich umfaßte er sie und wollte sie küssen. Wie sie aber seinen Arm verspürte, tat sie einen Schrei und lief fort, hinab ins Dorf und kam unten an in großer Angst, wiewohl sie nicht kindisch war und schon einmal sich mit einem andern herzhaft abgeküßt hatte, welches jedoch gewesen war, ehe der Jägerbursche mit ihr gesprochen.

Von der Zeit an war sie verändert und wurde ernster, tanzte nicht und lachte nicht mehr mit den jungen Leuten, und kamen wohl mehrere Freier, aber sie wies alle ab. So ging es drei oder vier Jahre. Da begann sich Hansens Großvater wieder langsam an sie zu machen; er besuchte ihre Eltern am Sonntagnachmittag, spielte mit ihren jüngeren Geschwistern und sprach mit ihr selbst viel. Von seinen damaligen Worten redeten sie nicht wieder, aber sie wußten beide, auch ohne daß sie es sich sagten, daß sie jetzt verlobt seien, und daß sie warten wollten mit dem Heiraten, bis er eine Anstellung habe. „Und siehst du,“ sprach die Großmutter zu dem Enkel, „das danke ich deinem Großvater noch heute, daß er nie wieder von dem Früheren gesprochen hat, obwohl er hätte über mich triumphieren können, denn ich hätte schweigen müssen, wenn er gespottet. Aber dein Großvater war ein Mann, wie er sein muß, er war hart und ernst, aber er war auch mild und gut. Dein Vater ist auch so geworden, und du mußt dir Mühe geben, daß du ihnen nachschlägst.“ Da sagte Hans: „Ja, Großmutter, das will ich.“

Und die Großmutter mit ihren Augen, die schon über das Grab hinaus suchten, schwieg eine lange Weile; sie dachte an ihren Mann, den sie nur wenige Wochen gehabt und über ein halb Jahrhundert betrauert hatte, und daß sie ihn bald wiedersehen werde; das machte ihr eine sonderbare Freude und heftiges Heimweh.

In Hans war eine wunderliche Ernsthaftigkeit, und in sein Wesen kam eine größere Reife durch diese Gespräche, wie seinem Alter gewöhnlich ist; in aller sonstigen Erfahrung aber blieb er kindlich und unwissend, und wurde seine Erziehung gerade entgegengesetzt, wie die Erziehung heute gewöhnlich ist, da die Kinder viel Fremdes sehen und manches Neue erfahren, früh Furcht und Achtung verlieren und gewitzt werden; dabei aber in ihr Wesen keinen Ernst bekommen und oft noch im wesentlichen kindisch bleiben, wenn sie schon Männer sein sollten.

In der Küche saß Dorrel, Kartoffeln schälend, mit einem bekümmerten Antlitz. Hans setzte sich ihr gegenüber. Wie sie ihn ansah, stand sie auf, stellte ihre Schüssel ab und rumorte mit den Herdringen. Sie wollte aber verbergen, daß sie weinte. Hans fragte: „Weshalb weinst du?“ Da antwortete Dorrel nach langem Zögern und vielem Drängen, sie weine um die Großmutter, daß die nun im Sterben liege.

Hans wiegte den Kopf, dann sagte er: „Darüber muß man nicht weinen. Wir müssen alle sterben, und das wissen wir. Die Großmutter aber ist eine alte Frau, die in ihre Jahre gekommen ist; sie hat keine Sorge hinter sich, sondern weiß, daß sie meine Eltern in guter Ordnung verläßt; dazu leidet sie keinerlei Schmerzen, sondern ihr Leben lischt aus wie ein Licht. Deshalb hat sie selbst auch nicht Kummer über ihren Tod, vielmehr freut sie sich, weil sie jetzt wieder mit dem Großvater zusammenkommt.“ Dorrel hörte diesen Worten mit großer Verwunderung zu und bekam eine sonderliche neue Achtung vor Hans, die sie bis dahin noch nicht gespürt. Deshalb sagte sie nach einer Weile: „Wenn du es so nimmst, so hast du recht, aber ich weine um meinetwillen, denn sie ist mir immer eine gute Frau gewesen, und ich habe sie lieb.“

Hiernach war Hans wieder eine Weile nachdenklich, dann sprach er: „Ich habe sie auch lieb, aber ich bin nicht traurig und will auch nicht weinen.“

Dorrel mußte auf den Boden gehen, um Räucherware zum Abendbrot aus der Rauchkammer zu holen. Sie bedachte sich, wie sie es machen sollte, daß sie nicht allein war. Endlich befahl sie dem kleinen Hans, daß der die Laterne tragen mußte; sie ging hinter ihm her mit Furcht. Als sie oben waren, merkte Hans, daß sie Angst hatte; und weil er nicht wußte, welches der Grund sein konnte, fragte er sie. Sie sagte ihm, sie fürchte sich, weil ein Sterbendes im Hause sei. Da wurde er wieder nachdenklich und schüttelte endlich den Kopf über sie, aber er sagte nichts mehr. Indessen hatte er von nun an das Gefühl verloren, daß Dorrel als eine Erwachsene über ihm stehe, und empfand sie nur noch als eine Gleichgestellte, ja als eine solche, die er unter Umständen beschützen dürfe; und Dorrel ging ohne Klarheit auf dieses veränderte Verhältnis ein. Ihm selbst war auch nicht bewußt, worin der letzte Grund lag, nämlich daß Dorrel in Dumpfheit und unwissender Furcht befangen war und nur nach Trieben lebte, die sie nicht verstand: er selbst aber lebte schon zu einem Teil in Helligkeit und klarem Denken und Prüfen.

Eine Zeit der Dumpfheit und unwissenden Furcht kam für ihn später, als in der Großstadt das Fremde und Neue auf ihn einstürmte, das er nicht fassen und verarbeiten konnte; und wie es gerade schien, daß er in diesem Meer der Finsternis versinken müsse, da sollte ihm von der armen Magd ein helles Licht kommen, das ihm das Ufer wies und den Berg, darauf er zu neuer Helligkeit emporsteigen konnte.

Der Großmutter Zustand wurde immer schlechter; sie schlief des Nachts sehr unruhig und hatte Atembeschwerden. Daß jemand bei ihr wachte, wollte sie nicht; aber die Mutter schlich des Nachts mehrmals leise die Treppe hinunter und horchte an der Stubentür. Der kleine Hans brachte ihr die ersten Schneeglöckchen an ihr Bett; die sah sie lange mit glänzenden Augen an, dann stellte sie die Blümchen in ihr Wasserglas, das neben ihr stand. „Nun geht es bald zu Ende,“ sagte sie zur Mutter, „und für euch ist das auch eine Erlösung.“

In den letzten Tagen sagte der Förster, er wolle nachts auf dem Sofa schlafen, damit jemand bei ihr sei. Aber sie erwiderte, er müsse früh aufstehen und in seinen Dienst gehen, da müsse er ordentlich ruhen, und die Mutter solle bei ihr bleiben, wenn sie es nötig finde; freilich sei sie eine alte Frau, deren Zeit abgelaufen sei, und halte es nicht für richtig, daß so großer Umstand um sie gemacht werde.

So brachte die Mutter abends ihre Betten herunter. Und in einer Nacht richtete sich die Ahne plötzlich strack auf und rief: „Anna, wie ist mir denn?“ Dann begriff sie, daß das der Tod war, der zu ihr kam. Da sagte sie: „Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Die Mutter war zu ihr geeilt und hielt sie aufrecht; wie die Ahne diese Worte gesprochen, fühlte sie plötzlich, daß der Körper ihr schwer wurde in den Armen. Leise legte sie die Gestorbene zurück auf das Kissen, drückte ihr die Augen zu und faltete ihr die Hände über der Brust.

Dann war viel Laufen und Besorgen, wie das bei Sterbefällen so ist. Der Tischler kam wegen des Sarges, und allerhand Umstände mußten gemacht werden.

Die Gestorbene lag still und ernst da. Sie war sehr schön geworden im Tode; ein freies, offenes und stolzes Gesicht hatte sie wie eine Fürstin, und nichts Kleinliches oder Furchtsames war da zu sehen. Denn der Tod gibt jedem Menschen die Würde, die ihm gebührt; wenn die Muskeln erschlaffen, die unserm Gesicht den zufälligen Ausdruck verursachen, den es zwischen den Menschen hat, so treten die Knochen und Sehnen hervor, die seine Grundlage bilden; wer ein Bettler war, sieht dann aus wie ein Bettler, und habe er im Leben auch eine königliche Figur gehabt, und ein tüchtiger und freier Mensch bekommt ein stolzes und vornehmes Aussehen. Da zeigt es sich, daß alles äußere Geschick nur Zufall ist, unsre Figur und unser Wandeln unter den Menschen ein täuschender Schein; und unser wahres Leben, das wir in der unbekannten wahren Welt geführt, gibt hier ein sonderliches Zeichen von sich.

Wie der Tischler mit seinem Gesellen den Sarg gebracht hatte, legte der Vater mit dem Meister die Tote hinein und setzte ihr den vertrockneten Myrtenkranz auf und tat ihr den Brautschleier um, den sie vor fünfzig Jahren getragen und sorgsam aufbewahrt hatte; denn so wollte sie vor ihrem lieben Mann erscheinen, an den sie ein halbes Jahrhundert gedacht hatte, jeden Tag; und für dieses Andenken hatte sie ihren Sohn erzogen, bis er ein stattlicher Mann geworden, und dann den Enkel, der zwar nach seinem äußeren Wesen in ihre eigne Art schlug, nach seinem Innern aber ein Werther war. Wie das geschehen war, bekamen der Tischler und sein Geselle ein Frühstück, nach alter Sitte, aßen und tranken mit Bescheidenheit und lobten das Essen. Hierüber empfand Hans einen heftigen Haß gegen sie, in der Art wie damals gegen den jungen Grafen, und hätte sich auf sie stürzen mögen.

Ein Junge von den Holzarbeitern, die unweit des Forsthauses wohnten, war in Hansens Alter, und deshalb hatte der manches mit ihm gemein, wiewohl keine eigentliche Freundschaft zwischen den beiden bestand. Den fragte er, ob er solche Gefühle auch habe; denn seinen Vater zu befragen, wagte er nicht, aus einer gewissen Scheu vor dem Erwachsenen. Der grinste und schüttelte den Kopf, und wußte nicht, was Hans meinte. Nach längerem Überlegen kam er auf die Vorstellung, daß er auf diese Geständnisse und Fragen hin ihn hänseln könne. Aber wie er mit solcher Absicht anfing, trat ihm Hans gleich mit geballter Faust entgegen, und wiewohl der Junge viel stärker war wie Hans, wurde er da doch in Angst versetzt und entschuldigte sich, er habe nichts sagen wollen. Hans ärgerte sich und drehte ihm den Rücken.

Der Junge lief ihm nach und liebedienerte. Er sprach von einem Vogelnest, das er gefunden und für Hans aufgehoben habe; Hans erwiderte, daß er das Nest in Ruhe lassen solle. Dann wies er ihm eine Hand voll Murmeln, die er ihm schenken wollte; aber Hans schlug alles aus und ging weg.

Er hatte aber eine Sehnsucht danach, recht fröhlich zu sein, obwohl doch seine Großmutter gestorben war, die er sehr lieb gehabt; und weil er niemand fand, mit dem er hätte fröhlich sein können, so ging er traurig, niedergeschlagen und gereizt umher.

Wenn wir das Leben eines Menschen betrachten, soweit es betrachtenswert ist, also seine Bildung, so kann es uns einmal so scheinen, als stelle es eine zusammenhanglose Reihe von Zufällen dar; in andrer Geistesverfassung erblicken wir in demselben Leben ganz deutlich eine planmäßige Führung durch Gott; und wiederum mögen wir einen unbeirrbaren Trieb sehen, der diesen Einzelnen durch die wirre Umwelt mit untrüglicher Sicherheit vorwärtsstieß, daß er durch diese Kraft sich das aneignete, das andre zur Seite ließ; endlich ist sogar eine bewußte Gestaltung des Lebens durch diesen Willen des betreffenden Menschen zu finden. Wer hätte nicht, wenn er über die Schicksale von Menschen nachdachte, schon diese merkwürdige Entdeckung gemacht, daß man von derselben Sache als derselbe Mensch vier so ganz verschiedene Meinungen haben kann!

Ein solches inneres Erlebnis, wie der Haß gegen manche Menschen und das unbestimmte Gefühl gegen den andern Jungen, ist gewiß sehr wichtig für die Bildung. Aber wie soll man es deuten? Es ist wohl am besten, die Deutung ganz zu lassen.

Zur Schule ging Hans ins Dorf, etwa eine Viertelstunde den Berg hinunter. Ein Wässerlein rann aus dem Walde hinab auf dem Grunde eines langen und schmalen Tales; an diesem entlang waren die Häuser gebaut, und die Felder zogen sich in schmalen Streifen zu beiden Seiten den Berg in die Höhe. Sehr beschwerlich war das Pflügen auf diesen abhängigen Feldern, und am schwersten war es, den Dung hinaufzuschaffen; deshalb sahen die Leute alle verarbeitet aus und waren auch arm, aber sie hatten einen unverdrossenen Mut. In der Jugend lebte damals ein unruhiger Geist, denn die, welche gedient hatten und das leichte Leben draußen gesehen, litt es nicht mehr zu Hause; dadurch kam viel Unfriede in die Familien, weil die Alten nichts von der Fremde hielten und wollten, daß die Jungen zu Hause blieben.

Kirche, Pfarrhaus und Schulhaus waren eben solche hölzernen und unscheinbaren Gebäudlein wie die Bauernhäuser; nur daß in der Pfarre alle Fenster mit Blumenstöcken besetzt standen und vor der Schule sich ein schmales Gärtchen mit blühenden Stauden und Sträuchern hinzog. Der Lehrer war ein alter hagerer Mann mit rasiertem Gesicht und mit straffem weißem Haar und leuchtenden Augen, und hatte eine aufrechte Haltung. Wenn er auf dem Katheder saß in seinem schwarzen Rock vor der weißgetünchten Wand, so sah Hans einen Heiligenschein um seinen Kopf glänzen, von welchem Gesicht er jedoch zu niemand sprach. Am schönsten war die Schule in den dämmerigen Winterstunden, wenn biblische Geschichte erzählt wurde, solche, wie der Engel des Herrn zu Abraham kam und zu seinem Weibe Sara. Und sprach Abraham: „Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so gehe nicht vor deinem Knechte über. Man soll Euch ein wenig Wasser bringen und Eure Füße waschen; und lehnet Euch unter den Baum.“ Und eilte in die Hütte zu Sara und sprach: „Eile und menge drei Maß Semmelmehl, knete und backe Kuchen“, und lief zu den Rindern und holete ein zart gut Kalb und gab es dem Knaben; der eilete und bereitete es zu. Und er trug auf Butter und Milch, und von dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor, und traten sie unter den Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: „Wo ist dein Weib Sara?“ Er antwortete: „Drinnen in der Hütte.“ Da sprach er: „Ich will wieder zu dir kommen, so ich lebe, siehe, so soll Sara, dein Weib, einen Sohn haben.“ Das hörete Sara hinter ihm, hinter der Tür der Hütte. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohlbetagt, also, daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darum lachte sie bei sich selbst. Da sprach der Herr zu Abraham: „Warum lacht die Sara, und spricht: ‚Meinst du, daß es wahr sei, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin?‘ Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen, so ich lebe, so soll Sara einen Sohn haben.“ Da leugnete Sara und sprach: „Ich habe nicht gelacht“, denn sie fürchtete sich. Er aber sprach: „Es ist nicht also, denn du hast gelacht.“

Bei solchen Geschichten hörten alle still zu, wie der Lehrer erzählte, und keines rührte sich, und die Dämmerung nahm zu in der Schulstube. Hans wußte alle diese Geschichten auswendig, Wort für Wort, weil er so viel in der Bibel las, und darüber lobte ihn der Lehrer oft. Auch im Lesen und Schreiben war er der Erste, nur im Rechnen ging es bei ihm immer schlecht, und in der Erdkunde.

In des Lehrers Garten stand ein Bienenhaus mit vielen Kasten voll Bienen, zu denen hatte Hans eine besondere Liebe. Wenn er die Erlaubnis bekam, so setzte er die Mütze auf, damit nicht ein Bienchen, sich in seinem Haar verwirrend, böse würde, und hockte auf die Erde nieder neben den Fluglöchern und sah zu, wie die Bienen eilig herauskamen aus dem Dunkeln und an den Rand des Flugbrettes liefen und sich in die Lüfte ließen, und wie die beladenen Arbeiterinnen zurückkehrten und schwer auf dem Brettchen niederflogen und langsam in den Stock zurückgingen, Honig und Blütenstaub dort abzulegen. Wenn ein rechter Arbeitstag war und die Sonne schien warm, und vom Grasgarten her duftete der Klee, so war ein wunderbares Gesumm in der Luft, dann hätte er stundenlang zuhören mögen; voll mit fleißigen Bienen waren die Flugbrettchen besetzt, und die Wachtposten untersuchten eine jede, ehe sie in den Stock durfte, und ein Lichtstrahl fiel in das Dunkel des Kastens, in dem war gleichfalls ein Summen und Tosen von fleißiger Arbeit. So saß Hans neben den Fluglöchern, und mit unbestimmten Träumereien dachte er an das Fliegen in der funkelnden und blitzenden Luft und stellte sich vor, wie es sein müßte, wenn er selbst so klein wäre und so flöge, wie unendlich groß und weit ihm dann alles erschiene, und wie die ganze Welt anders wäre; und ein sonderliches Behagen überkam ihn durch Sonnenschein, Bienensummen und Kleeduft.

Der Lehrer hatte ein Buch, darin waren alle Tiere abgebildet. Da war der Löwe, der Tiger, der Affe, und dann die Meerungeheuer, der Hammerfisch, der Sägefisch, der Walfisch; da war gezeichnet, wie die Menschen in einem kleinen Boot zu dem Walfisch heranrudern und die Harpune auf ihn schleudern; das war grausig anzusehen, wenn man dieses kleine Boot verglich mit dem ungeheuren Walfisch. Ach, so weit war die Welt, so weit! Unter den Bergen dehnte sich das flache Land hin mit großen Städten, Flüsse zogen, und das weite Meer war da und Inseln und andre Erdteile; hier aber war ein enges Tal, auf dessen Grund ein Wässerlein plätscherte, in dem wohnten Menschen; und er selbst, Hans Werther, wohnte oben, im Wald; aber noch höhere Berge gab es, über seines Vaters Hause, von denen man weit sehen konnte; das Forsthaus aber stand inmitten der Tannen und hatte keinen Ausblick.

Die Stunden beim Pastor hatte Hans gemeinsam mit Karl Gleichen, des Pastors Schwestersohn, den der alte Mann zu sich genommen.

Karl Gleichens Eltern waren schon lange tot, nach einem traurigen und schmerzenreichen Leben.

Der Pastor hatte mit einer Schwester zusammengewohnt, die war dreißig Jahre jünger wie er, welcher der älteste von den Geschwistern gewesen, und ein wahres Nesthäkchen, das geboren wurde, als zwei der Geschwister schon verlobt waren. Von allen der ganzen Familie wurde sie verhätschelt und verzogen, und sie hatte auch eine schwache Gesundheit; am meisten aber liebte sie der Älteste, der sie auch zu sich nahm, wie die Eltern starben, da sie eben aus den Kinderjahren gewachsen; er erzog sie völlig, wie er es verstand, als ein guter, wunderlicher und unbeweibter Mann, und sie befahl ihm und führte seine Wirtschaft. Ein reizendes Mädchen war sie gewesen, immer fröhlich und zwitschernd, wie Milch und Blut war ihr Gesicht, und die schwere Last ihres Haares leuchtete gelb wie reifer Roggen. Und am besten stand ihr, daß sie so ein verzogenes Kind war, dem alles immer nach Wunsch gegangen, und sie wußte das auch, daß ihr das stand, und daß die Leute sich über sie freuten. Dazu hatte sie seltene Gaben in ihrem zierlichen Körperchen, das so recht war wie eine wehende Flocke; zu Weihnachten und zu den Geburtstagen dichtete sie niedliche und zarte Verschen, welche sie die kleinen Kinder im Dorf lehrte, daß sie bei einer gemeinsamen Aufführung sie im Pfarrhause aufzusagen wußten; einmal hatte sie zwei ganz Kleine als Lämmer verkleidet, die nur mit ihren Schwänzchen wackelten, weil sie noch nichts sagen konnten. Nun wohnte im Nachbarstädtchen eine Predigerswitwe, ein beständig klagendes und sich sorgendes armes Mütterchen. Die hatte einen einzigen Sohn, der ungeraten war und schon auf der Schule nicht hatte guttun wollen, sondern entlaufen war, und hatte sich als Schiffsjunge annehmen lassen. Wie es ihm aber auf der See nicht schmecken wollte, so war er bald in abgerissenem Zustand zu seiner Mutter zurückgekommen, und da gab sie ihn nach vielen Ratschlägen in ein Bankgeschäft zur Lehre, aber nach einem halben Jahre mußte sie einen großen Schaden vergüten, den der Junge angerichtet hatte, und erhielt den dazu wieder zurück. Nach diesem trieb sich der eine Weile in dem Städtchen herum, dann war er plötzlich verschwunden; und am Ende, nach Jahren, kriegte die Mutter einen Brief von ihm aus Amerika, daß er in einer großen Stadt als Kaufmann lebe und zu guten Verhältnissen gekommen sei; dann kam er selbst auch zum Besuch seiner Mutter, als ein hochgewachsener Mann mit blondem Kinnbart, der einen grauen Zylinder trug. Er sah nicht gerade wohlhabend aus, aber auch nicht armselig, und wenn er zwar wohl viel log und aufschnitt, so glaubten die Leute doch, daß er sich gebessert habe und zu derjenigen Ehrbarkeit gekommen sei, die einem Solchen erreichbar werde. Es stellte sich auch heraus, daß er drüben Soldat gewesen war und in einem Indianergefecht einen Schuß durch die Hand bekommen hatte, wofür er jeden Monat eine Pension bezog. Wie es sich mit seinen eigentlichen Geschäften verhielt, wurde nicht recht klar, indem er erklärte, die Verhältnisse seien drüben anders, und sein Geschäftszweig, der eine Art Vertretung auswärtiger Häuser sei, könne nur Jemandem erklärt werden, der wie er in der Welt herumgekommen sei und nicht immer zu Hause gesessen habe.

Dieser Mann lernte des Pfarrers Schwester, die Friederike hieß, bei einem winterlichen Tanzvergnügen in der kleinen Stadt kennen und faßte gleich eine heftige Zuneigung zu dem Mädchen; und da er selbst auch etwas ganz Absonderliches war, und vornehmlich weil er einen bösen Ruf hatte, so erwiderte diese die Zuneigung in kurzer Zeit und ohne daß er viele Mühe aufwenden mußte. Dem guten Pastor wurde wohl hinterbracht, daß die Zwei Heimlichkeiten miteinander hatten; aber der lachte bloß und sagte, die Friederike sei ein Kind, und er kenne sie besser wie alle andern. Indessen ließ den Amerikaner sein böses Blut nichts auf ordentlichem Wege betreiben, und deshalb ging er nicht zum Bruder, wie es sich gehörte, ihm seine Pläne und Verhältnisse mitzuteilen, sondern er beredete die kleine Friederike, daß sie mit ihm heimlich entfloh, bis sie beide nach Hamburg kamen; und wie sie inzwischen Besinnung erlangte, so schrieb sie von da einen traurigen Brief an den Pastor, bat ihn um Verzeihung für das Leid, das sie ihm zugefügt, und gab als einzige Entschuldigung an, wie er ihr die Flucht vorgeschlagen habe, da sei es ihr gewesen, als ob sie ihm folgen müsse, und über nichts habe sie mehr nachdenken können, was solche Flucht denn bedeute und nach sich ziehe. Der gute Bruder reiste gleich und traf die beiden auch in der großen Stadt, wie sie auf ihr Schiff warteten. Da hatte er mit dem Amerikaner eine Unterredung, wie es nun mit ihm und Friederike werden solle; und zeigte sich, daß der Mensch gar nichts hatte, wovon er selbst und seine künftige Frau leben konnten, denn er war als ein Habenichts auf dem Zwischendeck nach Deutschland zurückgekommen, und jetzt lebte er von dem, was er von seiner Mutter mitgenommen, die ihm hatte sein geringes Erbteil auszahlen müssen. Er entschuldigte sich aber, indem er sagte, nachdem ihn das Schicksal als einen armen Menschen in die Welt geworfen, dürfte ihm doch niemand Vorwürfe machen, wenn er wenigstens Liebe begehre, auf die doch jeder Mensch Anspruch habe. Dem frommen und treuherzigen Pastor war es recht schwer, sich in die Geistesverfassung des andern hineinzudenken, indessen er fand, daß er selbstsüchtig sei; wie er aber das Friederike sagte und sie mit Tränen in den Augen bat, sie solle mit ihm zurückkehren, wurde die gekränkt über den geringen Vorwurf, den er dem Amerikaner machte, und sagte, wenn ihr Liebster arm und unglücklich sei, so sei ihr Platz erst recht an seiner Seite, und sie wolle ihm schon helfen und ihn fördern. Dergestalt erreichte der treue Bruder nichts, außer daß er sie wenigstens noch vor ihrer Abreise nach Amerika trauen durfte, nachdem sie sich vor dem Standesamt zusammengetan hatten.

Es verging nur eine ganz geringe Zeit, da kam aus Amerika ein schmerzensreicher Brief von der armen Friederike, und machte sich der Pastor wieder auf, fuhr selbst über das Wasser und holte sein Schwesterchen nach Hause, denn jetzt folgte sie ihm willig. Sie sah krank aus, wie sie kam, mit hohlen Backen und ungesund glänzenden Augen; die Haare trug sie kurz, denn ihre schönen Zöpfe hatte ihr der schlechte Mensch abgeschnitten und verkauft. Bald gab sie einem Kinde das Leben, einem gesunden und starken Jungen, der gleich recht unbändig schrie; aber von dem Kinde erholte sie sich nicht wieder, und nach einigen Monaten starb sie in gänzlicher Erschöpfung aller Lebenskräfte; wie sie im Letzten lag, rief sie in Liebe und Sehnsucht immer nach ihrem bösen Mann und bat, er solle ihr verzeihen, sie habe ihn lieb gehabt. Den Jungen behielt der Pastor und zog ihn auf, in Liebe nach Spuren von seiner Mutter Wesen in ihm suchend, und in Furcht, daß seines Vaters Art auf ihn vererbt sein könne. Dieser Junge war Karl Gleichen, der mit Hans zusammen in des Pastors Studierstube saß und die Anfänge des Lateins lernte.

Karl Gleichen wird den Hans Werther eine lange Weile begleiten, deshalb ist so ausführlich über seine Eltern geredet; denn aus deren Schuld und Art entstand sein Wesen, das in allem anders war wie Hansens Wesen. Karl war ein anmutiges und liebenswürdiges Kind, jeder Güte zugänglich und leicht nachgebend bei scharfem Zureden, offenherzig und gutmütig, und gern hätte er Allen geschenkt; sein Verstand faßte leicht auf und behielt schnell, und ohne Mühe zog er Schlüsse: jeder hatte ihn lieb und war gütig gegen ihn, weil er ein so begabtes, gut geartetes und sonniges Kind schien; aber er war erzeugt durch Schwäche und Selbstsucht, und ein ernster Mann hätte in seinen Vorzügen vielmehr Fehler gesehen. Seine Güte entsprang nicht aus einer Stärke, sondern aus einer Kraftlosigkeit, weil er sich nicht wehren konnte gegen den Einfluß fremden Willens und schnell gerührt wurde und mitlitt; seine leichte Auffassung entstand dadurch, daß in ihm selbst nichts Eigenes und Starkes war, das sich gegen die fremden Gedanken wehrte, sondern leicht hielten diese fremden Gedanken bei ihm ihren Einzug, nahmen Besitz von den Kammern seines Verstandes und zeugten hier Kinder; zwar blieben sie immer nur Fremde, und wenn eine neue Einwanderung kam, so mußten sie bald weichen. So geschah es, daß er selbst Auswendiggelerntes nach längerer Zeit, wenn er es nicht gebraucht, plötzlich spurlos verloren hatte, als habe er es nie gehabt. Seine Offenheit hatte denselben Grund, denn weil nichts Eigenes und Unbewegliches in ihm war, so entwickelte sich nicht die Scham des Gedankens, die oft scheinbar törichte Äußerungen von sich gibt, aber auch bei der größten Torheit immer Eignes und Starkes anzeigt. Solche Menschen sind dann leicht anmutig, weil sie so ohne Zwang und Not im Innern leben, und liebenswürdig sind sie, weil sie sich einem freundlichen Entgegenkommen sogleich öffnen. Auf solcher Schwäche ruhen aber zuletzt die Selbstsucht wie die Eitelkeit, denn weil die nötige Kraft nicht genügend vorhanden ist, muß ein solcher Mensch mit seinem Wollen haushalten, um nur bestehen zu können; während dagegen ein starker Mensch überflüssige Kraft hat und daher selbstlos ist, indem er in Stolz und Freude von seiner Kraft andern mitteilt, mag er in äußeren Dingen dem Oberflächlichen auch karg scheinen, weil er keine leichte Hand hat. Aber Liebe bei den Menschen haben mehr die Kinder vom Schlage Karls; Hans war verschlossen, unliebenswürdig, ängstlich im Verkehr, hart, hielt seine Sachen fest und spendete nicht, lernte schwer und zog schwer Schlüsse aus dem Gelernten, und außer seiner Eltern befolgte er niemandes Ermahnungen.

In des Pastors Studierstube saßen die beiden Jungen. Hans übersetzte, mit oft stockender Stimme und in großer Anstrengung, die Stirn finster faltend; Karl dachte träumend an Hansens Kaninchen und bedachte bei sich, ob der Oheim ihm wohl erlauben werde, daß er sich auch ein Pärchen halte; denn wenn er nur die erste kleine Erlaubnis hatte, so wollte er wohl mit der Zeit noch mehr bekommen und einen Stall haben, der viel schöner wäre wie Hansens.

An den Wänden herum standen auf den Gestellen viele alte Bücher, denn der Pastor war ein Freund ehrwürdiger Folianten in Schweinsleder und Pergament; da waren des teuren Gottesmannes Luther sämtliche deutsche Bücher in acht Foliobänden, des Tabernämontani Kräuterbuch und Gesneri Tierbuch; daneben Spangenbergs Adelsspiegel und Mansfeldische Chronika, und noch manche andre alte Chronik. Das war ihm eine Freude, wenn er dem kleinen Hans diese Bücher zeigte; langsam holte er den Band aus dem Börd, strich liebkosend über den gepreßten Pergamentdeckel, auf dem etwa ein sächsischer Kurfürst oder eine menschliche Tugend abkonterfeit war; dann öffnete er die Schließen und schlug den Band auf vor Hans, dem das Herz klopfte. Oft wunderte er sich, woher der Junge diese Freude an Büchern geerbt habe, denn der stammte von Förstern und Bergleuten ab und nicht wie er, der Pastor, von einer langen Reihe von Gelehrten und Dienern des Wortes; war doch in den Lutherschriften vorn eine Eintragung eines Vorfahren, der auch Pfarrer gewesen, und hatte diese Schriften gekauft und binden lassen, und kam ihn der Band auf einen Karolin zu stehen nach damaliger Münze, was für einen armen Pfarrherrn mag eine stattliche Ausgabe gewesen sein. Dafür aber hatten so viel Jahrhunderte diese Bücher in den Studierstübchen der Nachkommen gestanden und hatten viele geistliche Moden erlebt, Bärte und Perücken und rasiertes Gesicht und eignes Haar; und die letzten Pfarrherren waren alle starke Raucher gewesen, davon die Bücher endlich ganz mit Tabakrauch durchdrungen waren, also daß er einem in die Augen biß, wenn man sie aufschlug.

Noch andre Freuden hatte der Pastor, die er mit Hansen teilte, weil der so nachdenklich war. In einem Glasschrank stand ihm ein Straußenei und eine Kokosnuß und viele fremde Muscheln; dazu Pfeile von wilden Völkern, ein großer Bergkristall und die Fingernägel eines vornehmen Herrn in Siam; denn die adeligen Siamesen beschneiden ihre Nägel nicht, aus Stolz, sondern lassen sie lang wachsen, daß sie wohl fünf Zoll erreichen und mehr und sich wunderlich krümmen. Zu Winterzeiten hielt der Pastor allwöchentlich eine Missionsstunde ab, in welcher er vieles erzählte von dem Leben der Wilden, daß die nackt herumlaufen, wie sie Gott geschaffen hat, und sich gegenseitig verzehren und Götzen anbeten, die sie selbst gemacht aus Stein oder Holz; so elend ist der natürliche Mensch. Da zeigte er dann auch seine Seltenheiten herum, das Straußenei und die Kokosnuß, die Pfeile und die grausamen Fingernägel aus Siam; und war um diese Missionsstunden eine große Liebe für die armen Heiden in der Gemeinde, und viel wurde geopfert. An Hans hatte der Pastor eine große Freude, daß er so offenen Herzens war für alle solche Kenntnis, und deshalb erzählte er ihm vieles, was ihm auf dem Herzen lag. Er erinnerte ihn aber ganz an seinen Vater, den Förster. Der war zu ihm gekommen, wie er selbst Student war, als ein armer Junge, der eine Waise war und schon in den Wald gehen mußte auf Arbeit, um das Brot für sich und seine Mutter zu verdienen; denn das Gnadengeld, das die Mutter bekam für ihren toten Mann, betrug nur zehn Silbergroschen die Woche, und das reichte nicht aus für die beiden; hatte also den Studenten gebeten, er möge ihm Stunden geben in der Mathematik, des Abends, wenn er aus dem Wald nach Hause käme, weil er nicht Arbeiter bleiben wollte, sondern wollte einmal Förster werden, und gestand, daß er nur einen halben Groschen zahlen könne für die Stunde. So war er denn ins Pfarrhaus gekommen um acht Uhr in der Dunkelheit und hatte sich in des Studenten Dachstübchen an den Tisch gesetzt und gelernt. Aber weil es warm war in dem Studierstübchen, und er hatte den Tag über fleißig gearbeitet in der Kälte, so wurde er müde, und die Augen fielen ihm zu wider Willen, mitten während eines Beweises. Da hatte der Student Mitleiden gehabt mit dem armen Jungen, hatte ihn schlafen lassen und derweilen, eine lange Pfeife rauchend, in Bengels Gnomon studiert, bis der wieder aufwachte, sich besann und weiterhin aufmerksam folgte, wie sein Meister lehrte. So lange war das nun her, und jetzt wollte der Sohn dieses armen Jungen selbst einmal Student werden und später ein Prediger, und das geschah darum, weil der Junge von damals so fleißig und treu gewesen war. Auch für des Pastors Blumen hatte Hans viel Liebe und Staunen. Vornehmlich an Topfpflanzen hatte sich der Pastor gefreut, wenig am Garten, als ein rechter Stubenhocker, der den lieben Sonnenschein so recht genoß durch die kleinen Scheiben seiner blumenbestandenen Fenster und zu Winterszeiten im warmen Schlafrock sein geheiztes Stübchen liebhatte.

Da standen merkwürdige Pflanzen, besonders viele Kaktuspflanzen; dabei war auch eine Königin der Nacht, die nur einmal im Jahr blühte, und dann nur eine Nacht. Wenn diese Nacht war, so lud der Pastor den Förster, den Lehrer und den Amtmann zu sich ein, die Frau Pastorin setzte Wein und Torte vor, und dann wurde abgewartet, wie sich die Blume öffnete. Eine ganz sonderbare Geschichte erzählte der Pastor von einer andern Pflanze, die er „japanische Rose“ nannte. In früheren Jahren hatte er einen solchen Topf von einem Amtsbruder geschenkt bekommen, der zwei Stücke besaß, die er selbst aus Stecklingen großgezogen. Lange Jahre wuchs, grünte und blühte das Gewächs; aber mit einem Male fing es an zu kränkeln, nahm ab und ging endlich ein; und zu der gleichen Zeit starb der Amtsbruder, von dem der Pastor den Topf erhalten. Diese Geschichte durfte Hans nicht weitererzählen wegen der menschlichen Schwachheit, weil Manche in der Gemeinde sich noch mit abergläubischen Gedanken trugen.

Der Pastor war ein Letzter einer langen Reihe, und weil er mit seiner Frau keine Kinder hatte, so schien es, als wolle die Natur nicht, daß er seine Art fortführte. Was so viele Generationen seit Jahrhunderten in innerlicher Arbeit erstrebt hatten, das war in ihm ein wirkliches Bild geworden; er wußte nichts von Schlechtigkeit oder bösem Wesen, und kam ihm etwas Schlimmes nahe in seiner Gemeinde, so machte er ein erschrecktes und betrübtes Gesicht, und dann lächelte er ungläubig, und seine Mienen zeigten an, daß er vor einem Fremden und Unverständlichen stand und keinen Rat wußte; bald aber fand er sich wieder und meinte, ein Irrtum sei das und eine falsche Auslegung der Wirklichkeit. Zwar, er predigte von der Erbsünde und von der natürlichen Bosheit des Menschengeschlechtes; aber in seinem Herzen wußte er nichts von diesen Lehren, er sprach da nur Worte, die er nicht verstanden. Mitten unter einer harten Bevölkerung lebte er, unter kleinen Bauern und Holzarbeitern, die wohl tüchtige und ordentliche Leute waren, unter denen keine Liederlichkeit oder Faulheit vorkam; aber ihr Leben floh hin bei dürrer Berechnung von Besitz und Erwerb, bei zähem Halten am kleinen Vorteil, der nicht ohne geringe Betrügereien war, wie sie bei solchen Leuten als ordnungsmäßig betrachtet werden. Die fanden bald heraus, daß der Pastor vom wirklichen Leben nichts wußte und keine Ahnung hatte von dem, was in ihnen vorging; deshalb hielten sie ihn für dumm, oder wie sie sich das vorstellten, für „überstudiert“; und in dem sie nun mit allem, was sie unmittelbar anging, sich fern von ihm hielten, vermehrten sie noch seine Täuschung über die Wirklichkeit, die ihn umgab.

Aber auch in der Seele solcher Menschen, die ganz beschränkt auf Irdisches und Bürgerliches sind, gibt es doch ein höheres Leben. Zwar gewinnt es scheinbar keinen Einfluß, denn es wird rasch bedeckt durch das Überwuchern des Wirtschaftlichen; aber vielleicht ist das ganz gut so, und wenn es anders wäre, würden solche Menschen Schwätzer und scheinheilige Salbader. Deshalb hatte der Pastor doch eine große und segensreiche Bedeutung für seine Gemeinde; sie wußten alle, daß er nicht an sich dachte und das Evangelium vom Rock erfüllt hatte; ja es gab sogar eine Geschichte über ihn von einem Paar neuer Stiefel und einem wandernden Handwerksgesellen; sie wußten, daß hier keine Lüge, keine Gier, kein Betrug war, keine Habsucht und kein unlauteres Wesen, sondern ein reines und frommes Herz und ein klarer und guter Sinn; und in dem bedrängten und beladenen Leben, das sie führen mußten, bei harter Arbeit und schweren Sorgen um das tägliche Brot und Kämpfen um die Ehrbarkeit des Wandels hatten sie an dem Pastor ein Bild wie das eines glücklichen und frohen Engels, der auf Erden wohnt, nichts weiß von Sünde und Schuld und Sorge und mit dem Finger zum Himmel weist, als zu einem freien und leichten Leben, das als Ziel uns allen vorschweben sollte. Und was bedeutet das für einen beladenen Menschen, der mühselig dahin geht, den Blick auf die Erde gerichtet! Aber es ist gut für uns, daß solche Menschen selten sind.

In ihrer Art ebenso merkwürdig wie der Mann war die Frau Pfarrerin.

Sie war frühzeitig Waise geworden und hatte von ihren Eltern ein ziemliches Vermögen geerbt; ihres jetzigen Mannes Vater, der alte Pastor, der ein entfernter Verwandter war, wurde ihr als Vormund bestellt und nahm sie zu sich ins Haus, sie mit seinen Kindern zusammen zu erziehen.

Schon als kleines Mädchen faßte sie eine Neigung zu dem ernsten Ältesten, weil er ein liebes und gutes Wesen hatte und in vielen kleinen Dingen besorgt werden mußte wegen seiner Zerstreutheit. Das hatte ihm eine Schwester einmal gesagt, da war er rot geworden und schämte sich, denn er dachte, sie wolle ihn hänseln. So behielt sie ihre stille Neigung, wie er von Hause fortkam auf die Schule, und wie er erwachsener wurde und auf die Universität ging; aber weil sie eine herbe und verschlossene Natur war und ohne Zutunlichkeit, so verspürte niemand etwas von dem, was sie heimlich bei sich dachte. Und auch der Student seinerseits, der durch seine Jahre selbstbewußter geworden war, wie er als Junge gewesen, dachte viel an sie mit Liebe und Hoffnung, nur hatte er noch so viel Schüchternheit, daß er ihre Begegnung mied, und spann sich noch mehr in seiner tabaksqualmigen Dachstube ein, wie er es sonst getan hätte ohne seine liebende Gesinnung.

Wie er seine Examina bestanden und hoffen durfte, daß er in wenigen Jahren eine Pfarre bekommen werde, da dachte er wohl, daß er nun wagen dürfe, mit ihr zu sprechen über das, was er im Herzen hatte. So geschah es, daß er einst an einem Sonntagnachmittag nach der Predigt mit ihr durch die Felder ging, und auf beiden Seiten stand der hohe Roggen, untermischt mit Kornblumen und roten Kornrosen. Und wiewohl er ihr nur ganz alltägliche Dinge erzählte aus Scheu, so spürte sie doch durch ein geheimes Überfließen seines Herzens, was er sagen wolle; aber da überfiel sie mit einem Male eine namenlose Angst und eine heftige Scham, und das spürte er sofort, und zwar hatte er in seinem Herzen eine Bewegung, die das richtig deutete, und er hatte Lust, sie in seinen Arm zu nehmen und an die Brust zu drücken, aber da überkam ihn aus einem andern Winkel seiner Seele plötzlich ein lähmendes Mißtrauen und eine Furcht, so daß sich alle Gefühle in ihm zurückzogen als erschreckt und ihm ganz starr wurde im Herzen.

So redete er mit stockender Aussprache weiter, was er Gleichgültiges angefangen, und ging neben ihr her; und ihre bebende Hand streifte einmal über das hohe Korn; da sah er, daß ihre Hand bebte, und es begann wieder lebendig zu werden in ihm; aber die Erstarrung war bei dem feinen Menschen zu groß, er wurde ihrer doch nicht wieder Herr, und so blieben die Worte ungesprochen zwischen den beiden, nach denen ihrer Beider Herzen sich sehnten, und sie gingen stumm nach Hause.

Da war aber eine Schicksalsstunde versäumt, die in langen Jahren nicht wiederkam. Sie dachte, daß sie sich wohl geirrt habe in ihrem Gefühl, daß er zu ihr neige, und er habe überhaupt keine wärmere Liebe für sie, nur für die andern; und er meinte traurig, für sie, die große, feste und herbe Jungfrau mit den geschlossenen Lippen sei er zu gering, und sie könne ihn nicht lieb haben, sondern müsse ihre Liebe auf einen andern richten. Ohne Eifer dachte er das und mit tiefer Trauer.

So vergingen Jahre ihnen beiden in stillem Sehnen, bis jenes Unglück über ihn kam mit seiner Schwester. Wie er von Hamburg zurückkehrte, da trieb es ihn, daß er zu ihr gehen mußte, die schon längst für sich gezogen war und allein hauste; sie waren aber nun beide Menschen weit über die vierzig; da erzählte er ihr alles, davon er doch manches gar nicht recht verstand, weder die blinde Leidenschaft der Schwäche seiner kleinen Schwester, noch die rohe Habgier der Schlechtigkeit bei dem Manne. Und wie er geendet und sie anblickte, ohne Rat und Trost, da sah er, daß in ihren Augen Tränen standen, die sie vergeblich zurückhalten wollte. „Weinst du über sie?“ fragte er. „Nein, über dich!“ rief sie in Selbstvergessenheit. Da vergaß auch er alles und fragte, als ob er träume, und lächelte dabei wie ein Kind: „Hast du mich denn lieb?“ Aber eine Erwiderung in Worten wurde nicht gegeben, sondern sie kamen zusammen mit ihren Herzen, und ihr Gesicht, das sonst unbeweglich und fest war, lag an seiner Brust und wurde von vielen Tränen überströmt.

So hatten sich die beiden gefunden, nachdem sie des Lebens Höhe schon überschritten und sich seit frühen Jahren nacheinander gesehnt; und als sie sich dann heirateten, da war es, als ob alles Glück, das für sie bestimmt gewesen und nicht verbraucht war in den langen Jahren, als ob das sich angesammelt habe und nun um sie sei, und verging kaum ein Tag, daß sie nicht darüber staunten, wie glücklich sie waren, und machten sich selbst aufmerksam auf dieses oder das in ihrem Leben, und freuten sich über sich selbst.

Und das war sonderbar, daß, wer die beiden allein sah, hätte gemeint, diese ernste Frau mit dem festgeschlossenen Mund müsse dem kindlichen Mann überlegen sein, auf dessen reiner Stirn nur die einfachen Gedanken zu lesen waren, die ihn bewegten; und sie konnte auch nicht gut mit Kindern umgehen, während dem Mann alle Kinder anhingen und ganz mit ihm sprachen wie mit ihresgleichen, welches der stärkste Ausdruck kindlicher Zuneigung ist. Wenn aber die beiden zusammenstanden, dann kam niemand mehr auf den Gedanken, der Mann könne schwächer sein wie die Frau, sondern das natürliche Verhältnis von Mann und Weib war offenkundig vorhanden, obwohl sie in vielen Dingen für ihn sorgte, daß er hätte ganz unselbständig scheinen müssen; so schnitt sie ihm bei Tisch das Fleisch vor.

Das Pfarrhaus hat für die Leute auf dem Lande etwas Festtägliches, durch die Ruhe, die wenigen Menschen in den vielen Räumen, die blitzenden Fensterscheiben mit den weißen Gardinen dahinter, die sandbestreute Diele und die frommen Sprüche, die im Flur angebracht sind. Und die beiden Leute waren festtägliche Leute dazu, das empfanden die Arbeiter und Bauern; und noch mehr empfand es der kleine Hans. Wenn sich die Haustür in der Pfarre hinter ihm geschlossen hatte und die Klingel lange nachschellte und er auf den Zehenspitzen über die Diele ging mit dem knirschenden Sand, der ein so lautes Geräusch zu machen schien, so schlug ihm jedesmal das Herz; und in Freude verwandelte sich die Ehrfurcht erst dann, wenn er dem freundlichen Pastor die Hand gab. Was sollen wir viel erfahren von dem, was äußerlich vorging in diesen Jahren? Auf Hans wirkte das Wesen der Alten, und das Wesen Karls hatte Einfluß auf ihn, zu den Wirkungen und Einflüssen, die er zu Hause hatte und im Wald; ganz wenig wirkten auf ihn die Jungen in der Schule und die Schule überhaupt, obwohl die einen großen Raum in seinen Erlebnissen einnahm; aber was er hier hatte, war nur ein Kennenlernen der Dinge, die ein Mensch gebraucht zu seinem äußeren Leben; diese aber sind für unsere Absichten gleichgültig.

 

Wie Hans in sein zwölftes Jahr kam, mußte er des Pastors Unterricht verlassen und in die Stadt gehen, das Gymnasium zu besuchen; mit ihm ging Karl Gleichen.

Hans wurde auf den Löwenhof gebracht, zu einem Ackerbürger, namens Löwe. Hier bekam er ein Dachkämmerchen mit einem Bett zum Schlafen, den Tag über mußte er sich in der Wohnstube der Leute aufhalten, an deren Tisch aß er auch; nur die Woche über war er hier. Sonnabends, wenn die Schule beendet war, pilgerte er durch das alte Stadttor hinaus, durch die Felder hinauf in den Wald nach Hause, und Montag früh ging er wieder zurück in die Stadt. Seine Mutter hatte abgemacht, daß sie für die Woche einen Taler bezahlen wollte an die Wirtsleute, den trug er Montags in der Tasche bei sich.

Diese Löwes waren alteingesessene Leute, deren Voreltern fleißig und sparsam gewirtschaftet hatten, bei ihnen aber ging alles auf, und es war wohl zu sehen, daß sie ihrer einzigen Tochter einst nichts hinterlassen würden. Das geschah aber so, daß sie nicht eigentlich liederlich waren, auch nicht wirklich verpraßten; nur war der Mann von langsamer Art und ein Schläfer, und die Frau, wiewohl flink und gewandt, liebte sehr das Essen, mehr aus Liebe zur Kochkunst wie aus Leckerei, denn es freute sie am meisten, wenn es andern schmeckte. Sonst aber waren sie ordentliche und gute Leute.

Um vier Uhr des Morgens weckte die Frau den Mann; der öffnete dann die Kammerfenster und rief die Knechte und die Magd wach; darauf sagte er, daß er erst wieder warm werden wolle und ging ins Bett zurück, aus dem er dann nicht vor sieben Uhr aufstand. Da pflügten die beiden Knechte schon lange auf dem Acker, und die Magd hatte längst gemolken; wenn aber des Herrn Auge nicht wacht, so geht der Pflug nicht tief und wird das Euter nicht leer, und vieles wird vertan und verworfen in der Wirtschaft. Die Frau ging in die Küche und sagte, sie fühle sich so schlecht im Magen, ihr sei, als müsse sie etwas Besonderes genießen; und so briet sie schon am frühen Morgen sich allerhand Leckerbißlein, davon sie auch, als eine kleine Person, dick und rund wurde, indessen der Mann mit dem verschlafenen Gesicht mager und lang war.

Wohl sahen sie selbst ein, daß sie auf diese Weise immer mehr zurückkamen, und namentlich an den Quartalsterminen wurde ihnen das klar. Aber sie vermochten nichts an ihrem Leben zu ändern; wenigstens muß man rühmen, daß sie sich nicht gegenseitig Vorwürfe machten. Nur heimlich klagten sie wohl einem andern ihr Leid, und zu solchem Vertrauen erwählten sie sich ihren Kostgänger Hans. So rief ihn etwa die Frau in die Küche, briet eine schmackhafte Gänseleber, schob ihm die zu und sprach: „Iß, sie ist mit ungesalzener Butter gebraten“, und erzählte dann von ihrem Leben, daß sie viele Anbeter gehabt habe, die sie zur Frau gewollt hätten, aber sie habe nun zu ihrem Unglück diesen Mann genommen; der sei zwar gut zu ihr und trinke auch nicht, aber er sei träge und schlafe zu viel, und sie könne allein das Wesen nicht halten, so viel Mühe sie sich auch gebe; dazwischen erzählte sie, daß sie in die Nudeln, mit denen die Gans gestopft wird, buchene Asche nehme, rühmte auch wohl die gebratenen Kartoffeln und erzählte, von welchem Landstück man die Kartoffeln zum Braten nehmen müsse, und von welchem sie als Salzkartoffeln oder in der Schale am besten schmeckten; und am Ende weinte sie in die blaue Schürze und sagte, wenn sie noch einmal heiraten sollte, was ja Gott verhüten möge, denn ihr Mann sei ja gesund und wohl, aber unmöglich sei doch nichts, so werde sie sich besser in acht nehmen. Und der Mann rief den Hans zu sich, nahm die kurze Pfeife aus dem Mund, tippte ihm damit auf die Brust und erzählte, was er für ein Kerl gewesen sei in seinen jungen Jahren, und was er für Mädchen hätte heiraten können, lobte dann seine Frau, daß sie ja gut sei und auch flink, aber sie sei zu sehr auf das Essen und Trinken, und darüber gehe das Haus zugrunde. Aber, meinte er, man könne ja nicht wissen, wenn seine Frau einmal sterben sollte, so werde er sich in seiner zweiten Ehe ganz besonders vorsehen; und so waren beide schon recht in die Jahre gekommen und meinten doch, nach unbedachter Leute Art, daß sie ihr Leben immer noch vor sich hätten und es nach ihrem Gefallen lenken könnten.

Die Tochter der beiden war wenige Jahre älter wie Hans, gutmütig und still, und hatte der beiden Eltern Eigenschaften in sich vereinigt, schlief viel und aß gern und war in ihren jungen Jahren auch schon artig aufgegangen zu einem kugelrunden und zufriedenen Fräulein.

Hans aber hatte es gut in der Familie und wurde rechtschaffen gefüttert für seinen Taler.

In der Schule war ihm das Einleben recht schwer. Da bestand eine allgemeine Verschwörung gegen die Lehrer: alle Schüler hielten zusammen, logen sich gegenüber dem Lehrer heraus, betrogen diese auch, untereinander aber logen und betrogen sie nicht. Hätte einer sich dieser Ordnung nicht gefügt, so hätten sie ihn alle verachtet.

Karl fügte sich sehr schnell in die Verhältnisse, sah in seines Nachbars Hefte und hatte beim Abfragen ein Buch unter der Bank liegen; und wie der Lehrer einmal eine Aussage von ihm wollte, log er mit offener und heiterer Miene. Hansen war es nicht möglich, sich so zu geben, gleichwohl aber sah er wohl ein, daß er nicht gegen die andern auftreten konnte, und so stritten das alte Pflichtbewußtsein und das neue, das er hier bekam, eine lange Zeit in ihm miteinander, bis er endlich einen Ausweg fand, indem er selbst zwar keine Betrügereien mitmachte, aber willig seine Hefte und Bücher hergab, wenn die andern sie benutzen wollten. Als einmal sein Nachbar beinahe ertappt wurde und der Lehrer ihn befragte, wurde er sehr rot und verlegen und sagte ängstlich, er wisse von nichts.

Die Lehrer hatten allerhand Spitznamen, mit denen die Schüler sie unter sich nannten; allmählich gewöhnte er sich auch daran, sie so zu nennen, immer aber behielt er dabei noch eine gewisse Scheu und Unbehaglichkeit.

Zwar nahmen die Schüler im ganzen und großen seine Art ruhig hin ohne besonderes Nachdenken, einmal aber kamen sie doch auf den Gedanken, sie möchten ihn hänseln, weil er anders war wie sie, und fiel ihnen ein, sie wollten ihn auf den Klassenschrank setzen. Da wich er erst zurück und zog seine Arme fort, an denen sie ihn anfassen wollten, aber wie sie ihn endlich umringt hatten, und weil er sich aus Verlegenheit nur ungeschickt und schwach wehrte, da hoben sie ihn bald unter lautem Geschrei auf den bestimmten Thron. Wie er da saß, standen ihm vor Kummer die Tränen in den Augen, aber wie er auch Karl unter der Schar seiner Peiniger erblickte, da faßte ihn ein heftiger Gram, und es überkam ihn eine besinnungslose Wut, und er ergriff eine zusammengerollte Landkarte mit Stäben, die da oben lag, und hieb unbarmherzig mit aller Kraft auf die Köpfe unter ihm ein. Die Jungen schrien auf, und der Schwarm wickelte sich schnell auseinander, er aber sprang mit seiner Waffe vom Schrank herunter und verfolgte die andern, die vor ihm flohen, bis sie zuletzt alle zur Tür hinausliefen und diese von außen zuhielten, damit er ihnen nicht nachkommen solle, denn sie waren in heftige Furcht gekommen. Nach diesem Vorkommnis ließen sie ihn in Ruhe, ohne sich übrigens besondere Gedanken über den Grund zu machen; er aber überlegte sich das Ganze reiflich und kam zu dem Schluß, daß einer, wenn er sich nicht fürchtet, gar keine Gefahr läuft und wohl dreißig in die Flucht schlagen kann.

Fünf Jahre mußte er auf dem Gymnasium verbringen, das waren die fünf schlimmsten Jahre seines Lebens. Damals fühlte er wohl den Druck und hatte das unbestimmte Gefühl, als sei er Gefangener in einem Zuchthaus, aber weil alle um ihn herum in derselben Weise lebten und dieses Leben ganz natürlich und angenehm fanden, so kam ihm sein Unglück nicht zum Bewußtsein, und er litt nur dumpf. So hatte er es später leichter, wie er schwere Zeiten durchmachte, in Gewissenskämpfen und Sorge um das tägliche Brot, denn da fühlte er sich innerlich doch immer froh, wenn er dachte, daß das alles, was man als das Schlimmste hinstellt, doch nicht so schlimm war wie dieses Leben in der Schule, das damals allen natürlich und angenehm erschien, wenn auch alle litten gleich ihm.

Vieles wurde gelehrt, was ein jugendliches Herz wohl hätte begeistern können; aber was die Lehrer sagten, und was gelernt werden mußte, war gleichgültig und eine gemeine Arbeit ohne Sinn, wie sie ein Holzarbeiter verrichten mag, der denkt: am Sonnabend habe ich meinen Lohn verdient; und einen andern Sinn hat seine Arbeit nicht für ihn. So war auch in der Schule alles Arbeiten nur aus dem Zwecke zu verstehen, daß man solche Dinge wissen mußte, wenn man das Examen bestehen wollte; das mußte man aber bestehen, sonst durfte man nicht studieren; deshalb freuten sich auch alle auf die Universität, denn sie hofften, daß sie da das Zweckvolle und Sinnreiche sehen würden. Aber weil die Arbeit allen zuwider war, und weil alle das gleiche wissen mußten, Kluge und Dumme, so kam zu dem noch hinzu, daß die Dinge, die man wissen sollte, so lange wiederholt wurden und breitgetreten, bis sie auch bei dem Dümmsten und Gleichgültigsten festsaßen. Traurig und matt saßen die Jungen auf ihren Bänken, sahen sehnsüchtig aus dem Fenster, wo die Schneeflocken wirbelten und eine frische Kälte war, oder starrten auf die tintenfleckigen und zerschnitzten Tische und die beschmierten Bücher, indessen die gelangweilte Stimme des Lehrers schläfrig an ihr Ohr klang, der nun schon seit Stunden eine einfache Konstruktion erklärte, die jeder sofort verstanden hätte, wenn er nur Lust hätte bekommen können, sie zu verstehen; den einen oder andern ermahnte der Lehrer, er solle aufpassen und nicht träumen, und wenn er dann einen fragte, ob er jetzt die Sache wiederholen könne, so zeigte sich der gänzlich verständnislos, und die Erklärung mußte von neuem angefangen werden. So wurde an einem einzigen Satz von Cicero eine ganze Stunde übersetzt.

Es ist zu sagen, daß diese Bildung der Schule weder unsern Hans noch irgend einen andern Jungen gebildet hat, sondern nur die Bedeutung eines Wissens von allerhand Dingen bekam, das zum Teil sehr schnell wieder vergessen ward, und so erhielten alle diese Schüler ihre wahre Bildung neben und außer der Schule, weshalb über diese sowohl wie über die Lehrer hier weiter nichts zu sagen ist.

Kinder sehen die Dinge nahe, scharf und gewissermaßen in einer einzigen Fläche; aber wenn ein Junge in die Zeit kommt, die man die Flegeljahre nennt, so ändert sich unmerklich dieses Sehen, und damit werden auch die Gefühle verändert, die er in sich hat; denn es legt sich ihm ein Schleier über alles, daß die Umrisse verschwinden und die Dinge, die früher allein standen, sich zu einem einheitlichen und untrennbaren Bild zusammentun, und dieses Bild bekommt dann Tiefe, Vordergrund und Hintergrund, seine Seele aber erfüllt sich nun mit einer unbestimmten und undeutlichen Sehnsucht, welche die Bilder immer weiter in den Hintergrund treibt, damit sie dort goldigere Farben annehmen und duftigere Umrisse; er kriegt Erinnerung und Hoffnung, und der Gegenwart vergißt er, und weil so vieles eine neue Bedeutsamkeit erlangt hat, die er früher nicht geahnt, so geht ihm nun oft bei einer Kleinigkeit das Herz auf als bei einem tiefsinnigen Symbol, dessen Bedeutung ihm nicht in Begriffen beifällt, sondern nur in einem dunkeln Gefühl; und kommt alles das rein und ungestört durch Äußeres aus dem Innern heraus, bei dem einen so, bei dem andern so. Außerdem, während das Kind noch das Gefühl hatte, daß alle andern Kinder, ja selbst die Tiere, ihm gleich seien und deshalb noch keine Scham kannte, überfällt jetzt den Jungen eine heftige Schamhaftigkeit, weil alles Neue nur ihm allein gehört, und kann sich diese Schamhaftigkeit aber nicht äußern, wie es ihr entsprechen würde, weil der Junge sie selbst nicht versteht, deshalb kommt sie zutage als Trotz, Ungezogenheit und auch als Lüge; so nennt unsre liebe keusche Muttersprache dieses Alter recht schön die Flegeljahre.

Welche von den vielen Zügen, in denen sich diese Wandlung äußerte, soll der Erzähler nun wohl herausheben? Es ist etwa zu erzählen, wie Hans an einem Mittwochnachmittag in der Stube seiner Wirtsleute sitzt, wo hinterm Ofen der Bauer im Halbschlaf träumt, und hat eine alte Zigarettenschachtel, die er geschenkt bekommen, die klebt er an allen Seiten sorgsam mit Kleister zu, daß kein Licht hinein kann, und träumt in der Art wie einst, da er zu Hause unterm Tisch saß, wie heimlich es wäre, ganz klein zu sein und in solcher verklebten Schachtel zu sitzen. Wäre ein andrer in der Stube gewesen und nicht bloß der verschlafene Wirt, so hätte er sich geschämt, solches Spiel zu treiben.

Durch Schule und Umgang werden derartige Neigungen auf bestimmte Wege gelenkt, und so kam Hans darauf, sich eine Pflanzensammlung anzulegen. Dazu hatte er den stärksten Trieb im Frühling, denn wenn der Rasen noch überall vergilbt und schmutzig war, so erschienen die gelben Blumen des Huflattich, die dann im Sommer die großen Blätter nachtreiben, darauf kamen die Schneeglöckchen, und endlich begrünten sich die Wiesen, erst an den feuchten Stellen, wo die Dotterblume ihre dicken Knospen aufbrach und glänzende Blätter entrollte; und wie es überall grün war, da beblümte sich die Wiese mit Marienblümchen, Veilchen, Männertreu, Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Frauenmantel, Löwenzahn, Schaumkraut und Storchenschnabel, in den Wäldern aber wuchsen die Zankblümchen, Maiglöckchen und blauen Leberblumen. Das alles war so, daß das Herz weit wurde, und schien, als könne diese Zeit nie aufhören und müsse die Wiese immer weiter blühen, und der Fuchsschwanz sich heben und Sauerampfer stehen und Kälberkropf sich breiten, und es werde niemals gemäht. Alle diese Blumen kannte Hans schon früher, aber jetzt sagten sie ihm eine Sehnsucht und eine Freude, die ihm bis dahin unbekannt gewesen, und einmal, wie er ganz allein war, und niemand ringsum zu sehen inmitten der blühenden Wiesen, da wagte er es, daß er aufjauchzte; aber der Ton war ihm so sonderbar, daß er gleich wieder verstummte, aus Schrecken.

Aus dieser Zeit blieb ihm ein Erlebnis für sein ganzes Leben in der Erinnerung, das äußerlich zwar nichtig schien: er war ausgegangen, Pflanzen zu suchen und trat aus dem Wald und sah vor sich ein Bauernhaus, bei dem ein großes, abgezäuntes Weidestück war; weil aber der Frühling eben seine ersten Tage schickte, so lag noch in einem schattigen Winkel etwas schmutziger Schnee, jedoch mitten durch das Stück floß ein Wässerlein, eilfertig und geschäftig, wie diese Wässerlein im frühen Frühling dahinplaudern, und an dessen Rändern war das Gras schon grün und einige Büschel Narzissen standen da, in deren einem eine Narzisse aufgeblüht war, diese Blume, die für den Oberflächlichen kalt und leer scheint und in Wahrheit doch eine fast unheimliche Leidenschaft in sich schließt. Wie Hans diese einsame Blume sah, war es ihm, als bliebe vor einer sonderbaren Wonne sein Herz stehen, und erst viel später, wie er schon erwachsen war, wußte er, daß da damals ein heftiges Glücksgefühl gewesen, und verspürte einen goldenen und sanften Abglanz davon auch nachher immer noch, wenn er in seiner Sammlung die gepreßte Blume betrachtete. Mit geringerer Stärke hatte er solche Gefühle auf andern Gängen, die er einsam machte und für sich; so, wenn er am Waldrand dahinschritt, wo knorrige Wurzeln vorragten und die Zweige sich weit überbogen, indessen das Korn ruhig stand mit Mohn und Kornblumen, oder er wandelte einen schmalen Pfad zwischen den Kornfeldern, und rechts und links streiften ihn die schweren Ähren, die überhingen, und eine Lerche stieg schmetternd in die Höhe aus der Mitte der unbewegten goldenen Frucht und wurde zu einem kleinen Punkte oben im Blau, von dem es herabjubelte; ja selbst der Strohduft in seines Vaters dämmernder Scheune vermochte eine Sehnsucht und glückliche Freude zu erwecken. Der Grund bei allem diesem aber war wohl, daß es ihm schien, weil seine Brust sich weitete, so fließe er zusammen mit dem andern und gehöre zu ihm, so daß alles eins sei.

Nur ein dunkles und drohendes Gefühl stand auch in solchen Stunden immer im Hintergrund, das sich an die Schule knüpfte; da waren unbekannte Gedanken, daß er eigentlich arbeiten müsse, und daß er nicht seine Pflicht erfülle, und daß er niemals das schwere Abiturientenexamen werde bestehen können, denn trotzdem er unter den Ersten saß, war er sich doch bewußt, daß er lange nicht wußte, was man wissen mußte; und allerhand Vorwürfe machte er sich dann, wenn er an seinen Vater dachte, wie fleißig der war und sich keine Freude gönnte, nur damit er selbst lernen sollte. So schwer war diese Last, welche die Schule auf seine Seele legte, daß er auch nach vielen, vielen Jahren sie noch spürte, wie er schon längst erwachsen war und verheiratet und Kinder hatte.

In der Schule hörte er von Lehrern wie von Schülern etwas ganz anderes über den lieben Gott, wie er bisher gehört. Die Religionsstunde hatten die Jungen bei einem Lehrer, dem ein langer, blonder Bart gewachsen war, und der oft einen kleinen, runden Taschenspiegel vorzog, den er auf den Katheder legte und darin seinen Bart betrachtete; auch putzte er sich die Nägel so sorgfältig, daß sie glänzten wie poliert, und wenn er sich setzte, so zog er vorher mit zwei Fingern die Hosenbeine in die Höhe, um sie zu schonen, weil sich die Knie sonst aus den Hosen herausarbeiten. Die andern Lehrer sprachen gar nicht vom lieben Gott, sondern sie redeten so von den Göttern der alten Griechen und Römer, daß es war, als glaubten sie an die, was natürlich bloß so schien. Und die Jungen dachten eigentlich gar nicht an Gott; das war so, daß er sich geschämt hätte, vor ihnen den Namen Gottes zu gebrauchen, denn er hatte das Gefühl, daß das nicht hierher paßte.

Mit Karl hatte er einmal ein Gespräch über diesen Punkt. Da sagte dieser, heute glaubten überhaupt die meisten Menschen nicht mehr an Gott, und die es doch täten, wären entweder Heuchler wie die Pfaffen, oder sie seien Dumme. Wie Hans ihn fragte, was dann sein Onkel sein sollte, verstummte er zuerst, und dann erklärte er, der sei „hinter seiner Zeit zurückgeblieben“. Solche Meinungen schienen Hans ganz schrecklich, und er hatte großes Mitleid mit Karl; der aber lachte und sagte, er wolle ihm ein Buch borgen, in dem sei das alles ganz klar bewiesen. Zuerst wollte Hans das Buch nicht lesen, dann aber meinte er, daß er Karl vielleicht auf bessere Wege bringen könne, wenn er ihm solchen Widersinn klar mache, wie in dem Buche geschrieben sein werde, und deshalb studierte er es durch.

Da war nun aber plötzlich alles anders geworden. Karl hatte recht, in dem Buch war ganz klar nachgewiesen, daß es keinen Gott gab und daß nur die Schlechtigkeit der Menschen, insbesondere der Pfaffen, die von der Dummheit der Menschen ihren Vorteil zögen, noch die falschen Ansichten aufrecht erhielte. Gar nichts konnte man gegen die Beweise des Buches vorbringen. Das fiel ihm nun schwer aufs Herz, denn erstlich sollte er jetzt in einigen Wochen konfirmiert werden und mußte bekennen, daß er an die christliche Lehre glaubte, und das konnte er nun nicht. Wie er Karl fragte, was der tun werde, da konnte ihm der auch keinen Trost geben, sondern meinte, das sei nur eine Formsache mit dem Glaubensbekenntnis und man könne es nicht Lüge nennen, wenn einer dazu sein „ja“ sage, denn jeder wisse ja doch, was von diesen Dingen zu halten sei. Diese Meinung schien Hans nicht richtig und er beschloß deshalb, einen Erwachsenen zu fragen, wiewohl er eine große Scheu hatte, wie wenn er etwas Verbotenes getan habe; aber weil es sein mußte, so überlegte er sich lange, wen er angehen solle, seinen Vater oder den guten Pastor, und er entschloß sich endlich, zu seinem Vater zu gehen. Der aber erwiderte ihm nichts auf das, was ihn bekümmerte, sondern wurde nur ärgerlich und sprach, er solle keine törichten Bücher lesen, sondern sich an seine Schulsachen halten und die ordentlich betreiben, so werde sich alles Weitere später schon von selber finden. Das war das erstemal, daß ihm auf eine Bitte keine Gabe wurde von seinem Vater, wiewohl nur deshalb, weil der ihn nicht verstanden, und von da an verschloß sich das Herz des Kindes vor dem Erzeuger und kam viel Kummer und schwerer Kampf aus solcher Entfremdung. So sehr aber hatte die Antwort ihn zurückgetrieben, daß er nun noch weniger wagte, zu seinem alten guten Pastor zu gehen.

Wohl wußte er, daß der Satan derlei Anfechtungen schickt, daß wir nicht glauben können, und daß wir dann siegen, wenn wir recht heftig zu Gott beten und Gott die Hilfe abringen; aber er sah auch ein, wenn es nun keinen Gott gab, so war ja auch diese Lehre eitel Torheit; und das schien ihm so klar, daß es keinen Gott gab, daß kein Mensch mehr zweifeln konnte, nachdem er das Buch gelesen; es hieß aber „Kraft und Stoff“.

Und die Sorge um die Konfirmation war nur das Nächste. Weiterhin tat sich ihm dann die Furcht auf, wenn er nun die Schule zu Ende besucht hatte, so sollte er Theologie studieren nach dem Willen seiner Eltern; das konnte er aber doch alsdann nicht, denn er wäre doch dann auch einer von denen geworden, die das Volk betrügen und die Wahrheit verhehlen. Auch über diesen Punkt urteilte Karl ganz leichtfertig, indem er meinte, diese Sorge habe noch lange Weile, und vorerst brauche man sich um sie nicht zu bekümmern.

Für einen jungen Menschen bedeutet der Glaube an Gott noch wenig; er hat noch so viel andern Glauben an sich und an die Menschen und an die Zukunft und an die ganze Welt, daß er jenen entbehren kann, ohne daß etwas in ihm zusammenbricht. So empfand Hans seine Wandlung im Grunde gar nicht tief, sondern nur als eine Beunruhigung für seine Ehrlichkeit; erst in seinem späteren Ringen ging ihm wenigstens ein Teil der großen Fragen auf, um die es sich hier handelt. Diese erste Anfechtung fand ihn in der Gedankenlosigkeit, die der glücklichen Jugend eigen ist und geziemt.

Gerade in den Wochen, wo diese Gedanken einander am heftigsten anklagten und entschuldigten, kam noch eine zweite Angelegenheit zu ihrem Höhepunkt. Hans hatte nämlich eine Liebe gefaßt, wie das bei Knaben seines Alters geschieht, und in dieser ereignete sich etwas über alle Maßen Grausiges.

Das Städtchen war bis zum Deputationshauptschluß reichsunmittelbar gewesen; dazu führte bis zu dem großen Umschwung im sechzehnten Jahrhundert hier der Handelsweg vorbei, und die Bürger trieben wichtige und weite Geschäfte bis tief nach Asien hinein. So waren sie reich und stolz geworden und hatten ein Rathaus gebaut noch in den romanischen Zeiten aus den gewaltigen Blöcken des dort vorkommenden Syenitgesteins, das Funken sprühte, wenn man ihm einen Stahl anschlug, und waren in der wuchtigen Wand die kleinen Fenster verteilt, die das Licht von hoch herab in große Säle warfen, und vorn führte eine steile und schwere Freitreppe zum Stock; am Eingang stand ein uralter und ungefüger Steinblock, an dem des Kaisers Schwert und Handschuh hingen. Jetzt spielten Kinder in luftigen Sommerkleidern auf der alten Treppe. Noch andre alte Häuser erhoben sich am Marktplatz, stolz und trotzig wie Burgen wehrhafter Ritter, aber mit hohen Dachräumen, in denen einst reiches Kaufmannsgut gelagert.

Als der Handel damals andere Wege einschlug, hatten die klugen und vorsichtigen Kaufherren einen verständigen Ersatz gesucht im Geldgeschäft und Beteiligung am Bergbau, und war eine zweite Blüte der Stadt gekommen aus diesen Gewinnen, die noch stolzer war wie die erste; aber die großen Staatsbankerotte, die Wandlungen des Metallwertes und die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges hatten diesen Wohlstand von Grund aus vernichtet. Seitdem kamen kleine Bürger auf in den stolzen Häusern, die in Läden Handwerksgeräte, Kleiderstoffe und allerhand geringe Kaufmannswaren verkauften an die Leute aus dem Gebirge oder die Bauern vom Lande, die an den Sonnabenden zur Stadt kamen, hier einzuhandeln, wessen sie bedurften bei ihrem kleinen Wesen. Und außer den alten Häusern zeugten nur noch in der Kirche zu Sankt Blasien alte Wappen in den Fenstern, finstere Familienstühle mit sonderbaren Schnitzereien und prunkvolle Grabtafeln an den Wänden von den stolzen Geschlechtern, die einst hier gelebt, ehe die freisinnig gesinnten Kleinbürger in der Stadt hausten.

Nur eine der alten Familien hatte sich erhalten in sicherem Reichtum an Grund und Boden in den Dörfern; deren Letzte bewohnten noch das alte Haus aus schweren Quadern mit kleinen Fenstern und gewaltigem Giebel, den oben die große eiserne Rolle zierte, mit welcher einst die fremden Warenballen heraufgewunden wurden. In den reichsstädtischen Zeiten war aus diesem Hause immer der regierende Bürgermeister gewählt und der Iktus, aber wie die Freiheit verloren ging, hatten sich die Herrschaften von allem zurückgezogen, und nun führten sie ein hochmütiges und abgeschlossenes Leben, die Männer in Verwaltung ihrer Güter und allerhand verschollener Gelehrsamkeit, die Frauen in Sorge für das Haus, Wohltun und Frömmigkeit; seit dem dreizehnten Jahrhundert wies die Hauptkirche Stiftungen von ihnen auf, angefangen mit einem Stück guten schwarzen Tuches von acht Ellen, für die Armut bei den Beerdigungen als Sargdecke zu nehmen. Damals nun lebte Herr Jobst Riemenschneider mit seiner Frau und einem einzigen Töchterchen Johanna in dem alten Hause. Herr Jobst war ein durchsichtig blasser und feiner Mann mit einem verzehrten Gesicht, der Scheu hatte vor Menschen und alles Geräusch fürchtete, und ganz im verborgensten Winkel des Hauses hatte er seine Studierstube, deren Türen waren gepolstert, damit kein Laut sie durchdringen sollte. Hier forschte er in allen Akten und Archivstücken über die frühere Geschichte seiner Stadt; denn seit langen Jahren schon arbeitete er an einem Werke, das doch nie fertig zu werden schien, weil ihm immer neue Zweifel kamen, wenn er glaubte, er habe etwas festgelegt, und dann mußte er immer von neuem untersuchen. Unterdessen wurde in der allgemeinen Wissenschaft draußen ein heftiger Kampf geführt über die Anfänge des Städtewesens und die ersten Zeiten der Gilden und Zünfte und über die frommen Genossenschaften; das alles betraf seine Arbeiten, aber er verspürte von diesen Kämpfen nichts, denn seit seinen Universitätsjahren hörte er nichts mehr von heutiger Wissenschaft, sondern lebte nur seiner beschränkten Aufgabe, die doch von Jahr zu Jahr luftiger wurde und weniger zu fassen. Die Frau war bei der Heirat ein fröhliches junges Ding, von der niemand wußte, woher sie stammte, und es wurde heimlich erzählt, sie sei eine Schauspielerin gewesen. Damals lebte noch des Herrn Jobst alte Mutter, eine kalte und fromme Frau mit scharfen, grauen Augen. Die mag das junge Ding wohl sehr in die Zucht genommen haben, denn man merkte ihr an, wie sie sich veränderte und traurig aussah und oft verweint. Das einzige Töchterchen, das sie Johanna nannten, wurde ihnen erst nach Jahren geboren. Damals, als Hans seine Berührung mit diesen Menschen hatte, war die Frau schon lange leidend, und es hieß, sie müsse in den Süden gehen. Johanna wuchs auf in dem alten Hause, in dem es noch ein Zimmer gab, das ganz mit blauweißen Kacheln ausgelegt war, auf diesen Kacheln sah sie Schiffe und Windmühlen, Schlösser, Ruinen, Fischer, Kirchtürme, Chinesen und allerhand sonstige Dinge abgebildet, die man sich denken mochte. Dann waren da große, geschweifte Schränke, die vier Türen hatten, und Kommoden mit wunderlichen Griffen, seltsam geschwungene Stühle, uralte Bilder, die ganz dunkel geworden waren und etwa einmal ein gespenstisch blasses Antlitz mit blitzenden Augen sehen ließen; Treppenstufen gingen zu Zimmern in die Höhe; Kronleuchter hingen seit Jahrzehnten eingehüllt, und vergoldete Stühle hatten festgebundene Bezüge. Und auf den Böden stand unter Staub vielhundertjähriges Altertum, eingelegte Truhen, Spinnräder aus Mahagoniholz mit Elfenbein, alte Bücher in Schweinsleder mit messingenen Beschlägen, Rechnungen der Urahnen in Bündeln, Medizinflaschen von längst vergessenen Toten und sonstiges Krankengerät, Wiegen und Kinderspielzeug, darunter ein Puppentheater aus der Rokokozeit und ein großer Ballen sorgfältig gesammelter alter Leinwand, von der an arme Wöchnerinnen geschenkt wurde, wie seit Jahrhunderten schon geschehen in diesem Hause.

Johanna war ein blasses Mädchen mit schwermütigen, dunkeln Augen und langlockigem Haar; ihr Mund war schweigsam, aber ihre Augen vermochten ein tiefes und heftiges Gefühl zu erregen. Als sie Hans zum ersten Male ansah, war es ihm, als überfalle ihn eine ganz schreckliche Angst; über die dachte er lange nach, und zuletzt wurde es ihm sicher, daß er das Mädchen liebe. Wie er darüber klar war, beschloß er, mit Karl zu sprechen; aber kaum hatte er dem den Namen genannt, da machte er ein glückliches Gesicht und begann zu erzählen, wie sie die Tochter seiner Wirtsleute besucht habe, mit der sie zusammen zur Schule ging, denn er wohnte bei einem Oberlehrer, und es sei eines Sonntagnachmittags gewesen, und sie hätten Pfänderspiele gespielt; da hätte sie ihn mehrmals angesehen; und er wisse genau ihren Schulweg und habe eine Rose abgepflückt und sei vor ihr gegangen, daß sie ihn habe sehen müssen, und dann habe er die Rose für sie in einen stillen Winkel hingelegt, und sie habe die Rose genommen, und seitdem lege er ihr jeden Morgen eine Rose hin, und sie nehme und trage die.

Wie Karl das erzählte, schämte sich Hans für ihn, sowohl um die Frechheit, daß er die Rose hingelegt, wie auch, daß er ihm das erzählte, und wurde ihm auch sehr traurig im Herzen, in weiter und unbestimmter Weise. So sprach er nichts mehr und suchte, daß er bald nach Hause kam, ging auf sein Dachkämmerchen und begann heftig zu weinen; der Wirtsleute gutherziges Töchterlein aber, das ein, zwei Jahre älter sein mochte wie er, als sie nebenan das Schluchzen hörte, kam sie zu ihm und wollte ihn trösten, riet auch gleich, daß er wohl verliebt sei. Da sprach sie recht verständig und wie eine ganz erwachsene Person, daß er doch noch ganz jung sei, und verloben könne er sich noch lange nicht, und überhaupt sei das alles nur Unsinn. Wie aber Hans, obwohl er sich schämte wie ein Dieb, doch immer heftiger zu schluchzen anfing, da konnte sie in ihrer Gutmütigkeit sich nicht mehr halten, denn sie hatte nahe ans Wasser gebaut, und fingen auch ihr an die Tränen über ihre runden Bäckchen zu rollen in dicken Tropfen. So saßen die beiden auf Hansens Bettkante; und kam ihr am Ende eine Erinnerung aus einem Buche, das sie gelesen, und sagte sie Hans, sie wolle seine Schwester sein, küßte ihn auf den nassen Mund und ging fort.

Nach wenigen Tagen hatte sie sich schon an Johanna heranzumachen gewußt und wurde mit ihr recht befreundet. Da dachte sie dann, Hansen guten Trost zu bringen, denn Johanna hatte ihr gesagt, sie möge Karl gar nicht leiden und habe Hans viel lieber; aber Hans glaubte ihr nicht, sondern meinte, sie wolle ihn nur trösten durch solche Botschaften. Einmal jedoch besuchte Johanna seiner Wirtsleute Tochter, und da sprach sie auch mit ihm einige Worte und sagte ihm zuletzt, weil es schon so dunkel sei und das Haus so abgelegen, so möge er sie doch eine Strecke begleiten, und wie er das tat, sagte sie ihm auf dem Wege dasselbe über Karl.

Da bekam er einen so wilden Haß auf den, daß er darüber erschrak, denn er hatte ein solches Gefühl noch nicht verspürt, und war es ihm besonders heftig, wenn er Karl lachen sah, denn da hätte er ihn mögen umbringen. Und weil er in diesen Tagen keinen Halt mehr fand in seinem Gebet, so geriet er in Trübsinn und tiefes Unglück, und ihm war, als sei er in einem Tal, aus dem es keinen Ausweg gibt, weil er vorher gemeint, es gebe einen Weg nach oben, der in Wahrheit nicht da war. So geschah es das erstemal, daß er dieses Gefühl hatte, das ja die meisten Menschen durch ihr ganzes Leben begleitet; sie wissen es sich nur zu verbergen, daß sie es haben, denn wenn sie das nicht täten, so vermöchten sie ja nicht zu leben.

Während diese Dinge nun solchergestalt liefen neben den Dingen der Erwachsenen, die meinten, daß ihre Dinge wichtiger seien, spitzte sich in der Heimlichkeit eine andre Sache in Beziehung auf Johanna zu.

In Hansens Klasse war ein Schüler, dessen Jahre weit über den Durchschnitt seiner Mitschüler hinausgingen, und der von diesen nicht sonderlich geachtet wurde wegen seines törichten Wesens, denn er ahmte in geckenhafter Weise die Erwachsenen nach in seiner Tracht, Haltung und Benehmen; so hatte er dem Religionslehrer abgesehen, daß er eine große Silbermünze an der Uhrkette trug, was damals neu und elegant war, und hatte sich einen steifen Hut gekauft, wie die jungen Kaufleute haben, und trug Stege an den Hosen. Sein Vater war ein reicher Gutsbesitzer, der wenige Stunden von der Stadt entfernt wohnte, und von dem erzählt wurde, daß er habsüchtig sei und Geld auf hohe Zinsen ausleihe.

Als Hans an einem Morgen in die Klasse kam, sah er, wie dieser Mensch allein auf seinem Platze saß und scheinbar eifrig in einem Buche studierte; alle seine Nachbarn waren von ihm gewichen, und in einer Ecke des Schulzimmers wurde von einigen heftig gestritten und erzählt; von denen erfuhr Hans, daß Ecker, denn so hieß jener, bei einem Freunde einen Ring gestohlen habe, der dessen Mutter gehörte; und diese, in der Meinung, daß ein Dienstbote die Tat begangen, habe der Polizei Nachricht gegeben, und als Ecker den Ring beim Goldschmied zum Verkauf bringen wollte, sei er festgehalten und erkannt worden. Wie der Lehrer in die Klasse trat, gingen alle schnell auf ihre Plätze; der Lehrer aber rief Ecker an und sagte, es sei bereits Meldung über ihn eingelaufen, und er solle bis auf weiteres aus der Schule bleiben. Da richtete sich Ecker auf mit einem blassen und verzerrten Gesicht, daß alle erschraken, denn sie hatten ihre Blicke auf ihn gewendet, und machte sonderbare Bewegungen mit den Händen und stieg unbeholfen auf die Bank und den Tisch; und indem noch alle erstaunt waren, was dieses bedeuten solle, da zog er ein Terzerol aus der Tasche, wie es wohl Jungen heimlich für ihr Taschengeld kaufen, setzte sich das auf die Brust, schoß ab und stürzte vornüber auf die Bänke und Tische hin, wo die andern entsetzt wegstoben, ehe sie noch wußten, weshalb sie erschrocken waren.

Hans war es, als höre er einen Fall eines schweren Geschirrstückes auf die Erde, denn er hatte die Handbewegung nicht verstanden, und wie Ecker fiel, wußte er noch gar nicht, was das bedeute. Als ihm das aber klar wurde, stieß er einen lauten Schrei aus vor Entsetzen, und nach einer kurzen Weile schrie er nochmals und anhaltend. Viele versammelten sich um ihn, und er wurde nach Hause gebracht.

In den nächsten Tagen wurde erzählt, wie alles zusammenhing. Der Tote hatte allabendliche Zusammenkünfte mit Johanna gehabt in der schlechtesten Straße des Städtchens, und hatten sie Leute da zusammen stehen und sprechen sehen. Um diese Liebe hatte der junge Mensch allerhand Ausgaben gemacht, die an sich wohl gering waren, aber doch sein Vermögen überstiegen, und so war er zu dem letzten verzweifelten Streich gekommen.

Für Hans war es, als ob er das alles in einem schweren Traum erlebe, bei dem man das Bewußtsein hat, daß doch nichts Wirkliches geschieht, sondern nur Erträumtes, und daß alles wieder in Ordnung ist, wenn man aufwacht. Und kam ihm zwar nicht zu rechter Klarheit, was innerlich bei ihm vorging, aber es ward ihm bewußt, daß alle Neigung zu Johanna plötzlich erloschen war, und ihm geschah, wie wenn ein verschönender Schleier plötzlich von ihrem Gesicht weggenommen war; so fiel ihm als häßlich auf, daß sie über dem Nasensattel kleine Sommersprossen hatte, die sie vorher ihm besonders liebreizend gemacht, und klang ihm auch ihre Stimme mit einem Male scharf und widerwärtig. Sie besuchte seine Wirtstochter und sprach wieder mit ihm, daß über sie viel gelogen werde, und sie sei jetzt nach jenem Todesfall so allein, deshalb dürfe er sie nicht auch verstoßen. Aber ihm war das alles abscheulich und ganz kalt.

Wie oft die Letzten untergehender Geschlechter zeigte Johanna das unheimliche Auftauchen längst vergessener Triebe der Urzeiten, denn nicht gestorben ist ja in uns das Blut unserer Vorväter, die im Steinalter und in der Bronzezeit düstere Höhlen bewohnten und mit bodengesenkten Blicken auf Raub und Vernichtung zogen, und es wird immer wieder regsam in uns selbst zu gewissen Zeiten, wenn die klare Vernünftigkeit schwach ist, die unsre Vorfahren errungen im jahrtausendlangen Kampf um das Freie, Hohe und Gute, und manche Menschen erfüllt es gänzlich; die wissen dann nichts von sittlichen Geboten und folgen einer Sehnsucht, die wir nicht glauben, geben plötzlich sinnlos und ohne Gedanken einer auftauchenden Begier nach und machen uns vielleicht verwundern durch die Schärfe ihrer Sinne und die merkwürdige Kenntnis der Regungen in andern Menschen, wie durch die Fähigkeit, diese Kenntnis zu ihrem Nutzen zu verwenden.

Hans war dem geheimnisvollen Zwange der Natur unterlegen, welche die ehrbaren und braven Menschen treibt, daß sie sich an solche unehrlichen und schlechten hängen müssen, und scheint in der frühen Jugend, wo die Liebe noch ganz geistiger Art und dunkle Sehnsucht der Seele ist, dieser Zwang noch ärger zu sein wie im späteren Alter der zwanziger Jahre. Deshalb muß man wohl sagen, daß Liebe etwas Furchtbares und Grausiges ist, und der Mensch ist glücklich zu preisen, den das Geschick davor behütet, in ihre Tiefen zu sehen. Aber bei Hansen war das nicht ein Sehen oder ein Verstehen, sondern ein ganz tiefes, heftiges Gefühl, das stärker war wie alle klare Äußerung des Geistes; und so tief in ihm war der Kampf vor sich gegangen, daß ihm nichts davon in sein Bewußtsein kam und er vielmehr erstaunte, daß seine Meinungen, Gedanken, Träume und Liebe so plötzlich umgeschlagen hatten. Aber mit einem Male überfiel ihn nun das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit in der Welt. Das war den Sonntag vor seiner Einsegnung.

Da wurde ihm zum ersten Male klar, daß wir zwischen den Menschen wandeln wie zwischen den wesenlosen Larven, welche die Wüste erfüllen; sie weichen zurück, wenn wir auf sie zugehen, und wenn wir ihre Hände drücken wollen, so fühlen wir bloße Luft; und ist nichts in der großen Wüste lebendig, denn wir allein.

Es geschah aber in einem Wäldchen, weil er sich sammeln wollte und ohne Reden der Menschen sein, daß ihm diese Klarheit kam, und geschah, wie er eine Ameise betrachtete auf dem Wege, die sich abmühte um etwas, das für ihn selbst ein Nichts war. Da dachte er an sein Losungsbüchlein, welche Losung ihm das geben müsse für diesen Tag; und siehe, da stand geschrieben: „Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.“ Über diese Worte kamen ihm die Tränen und stürzten in großen Mengen aus seinen Augen, und faltete die Hände, und wiewohl er keine Worte zu sagen wußte oder denken konnte, so betete er doch, und im Bitten schon hatte er noch Tröstung, Sicherheit und Ruhe.

Zwar bereits auf dem Heimwege kamen ihm wieder die alten Gedanken, daß es doch keinen Gott gebe, und daß deshalb solche Erfahrungen, wie er eben gemacht, ein Selbstbetrug seien; aber da half ihm wieder ein Buch, nämlich er hatte Doktor Martin Luthers Tischreden zu Hause liegen, die ihm der gute Pastor geliehen, in einer schönen, alten Folioausgabe, unbekümmert um die Derbheiten und starken Ausdrücke des Buches; denn er meinte, was aus einem reinen Munde kommt und in ein reines Herz geht, das kann keinen Schaden tun, und die heutigen Menschen sind übermäßig verzärtelt in ihren Worten, da sie doch in Gedanken und Taten unreiner sind wie früher. In diesem teuern und herrlichen Buche schlug Hans auf den Zufall hin auf, da stieß er auf die Stelle: „M. Antonius Musa, damals Pfarrherr zu Rochlitz, hat auf eine Zeit D. Martino herzlich geklagt, er könne selbst nicht glauben, was er andern predige. Gott sei Lob und Dank (hat D. Martinus geantwortet), daß andern Leuten auch so gehet, ich meinte, mir wäre allein so. Dieses Trostes hat Musa sein Lebenlang nicht vergessen können.“

Hierüber wurde Hans fröhlich und zufrieden, und schien ihm alles, was er Gelehrtes gelesen gegen Gott, dummes Zeug zu sein. Und beim frohen Blättern kam ihm noch eine andere Stelle unter die Augen:

„Als über D. Martini Lutheri Tische disputieret ward, wie ein lieblich Ding der Tau wäre, sprach D. Martinus: ‚Ich hätte es nimmermehr gegläubet, daß der Tau so ein herrlich lieblich Ding wäre, wenn nicht die Heilige Schrift den Tau selbst hoch gelobt hätte, da Gott saget: Dabo tibi de rore coeli, ich will dir vom Tau des Himmels geben. Ach, Creatura ist ein schön Ding, wenn wir sollen Creationem glauben, tum balbutimus et blaesi sumus, und sagen Cledo für Credo, wie ein Kindlein spricht Lemmel für Semmel. Die Worte sind wohl stark, aber das Herz spricht Cledo; sed per hoc salvamur, quia cupimus credere. Ach, unser Herrgott weiß wohl, daß wir arme Kindlein sind, wenn wirs auch nur erkennen wollten. Sagen doch die Apostel selbst: Dominus adauge nobis fidem. Aber wir sind alle klüger denn unser Herrgott, wir könnens nicht verstehen, nisi per filium, id est, Christum. Das ist alle seine Predigt, daß er spricht: per me, per me, per me, ihr könntet’s nicht tun, wenn ihr euch gleich zerreißet, durch den Sohn werden wir zum Vater bracht. Darum, wenn wir nur glaubten, daß unser Herrgott klüger wäre, so wäre uns schon geholfen.‘“

 

Hans wurde mit Karl zusammen eingesegnet, nicht in der Stadt, sondern zu Hause in dem kleinen Dörfchen bei dem guten und frommen Pastor, der ihn in den ersten Jahren unterrichtet.

Es saßen zusammen zehn Kinder auf den Bänken der Konfirmanden, sechs Knaben auf der einen Seite und vier Mädchen auf der andern; und hatten die Mädchen das alte Dorfkirchlein mit seinen hellen Fenstern und weißgetünchten Wänden durch Kränze und Blumengewinde verziert, mit den vollen und farbigen Herbstblumen, vornehmlich Georginen und Astern, und der Boden war mit Tannengrün bestreut, das die Knaben den Tag vorher aus dem Walde geholt hatten unter fröhlichen Gesängen und wichtigen Reden darüber, wie sie sich morgen würden mit der kurzen Pfeife sehen lassen auf der Dorfstraße, und daß sie zum Erntefeste tanzen durften. Sie dachten wohl mehr an die Freuden der natürlichen Menschen bei der Feier; aber der natürliche Mensch und der geistige waren bei ihnen ja nicht so getrennt, wie wir meinen; und wenn ein Junge, der jetzt zur Seite ausspuckt, wie er es bei den erwachsenen Burschen gesehen, und vom Tanzboden spricht mit überlegener Miene, wenn der erst durch sein Leben gepilgert ist, durch Jugendtorheiten, Verliebtheit, Heiraten, Kindererziehen, Sorgen, Arbeiten und Kummer und als ein Greis im Hochalter vor seiner Hütte in der Sonne sitzt, dann denkt er auch wohl einmal an seine Einsegnung, und da verspürt er, daß er in Wahrheit doch noch andre Gedanken gehabt wie an die kurze Pfeife und das Tanzen. Es ist wohl recht lächerlich, daß auch Hans nicht die rechten Gedanken hatte; ihm fiel immer die Uhr ein, die ihm der Vater geschenkt, nebst der stählernen Kette, und der schwarze Anzug beengte ihn, und dann fürchtete er sich, daß er weinen werde. Karl saß neben ihm und war in sich versunken und hatte schwere Gedanken.

Die Kirche war ganz voll. Da saßen unten die Frauen, voran die Bäuerinnen mit ihren Töchtern, dann die Frauen der Holzarbeiter, und hinten die Tagelöhner. Vorn sah man feste, ruhige und glatte Gesichter, denen man Sicherheit, Ordnung und Fleiß anmerkte und gute Gesundheit. Dann kamen Gesichter, in denen man viele Mühe und Not las und Sorge um das tägliche Leben, aber dabei doch Würde und Ehrbarkeit, und zuletzt sah man Übermut und niedergedrücktes Wesen, fahrigen Sinn, Unterwürfigkeit und gedankenloses Dahinleben. Auf dem Rang saßen die Männer, glattrasiert die alten und mit Bärten die andern, und sie hatten nicht so ihre geordneten Plätze wie die Frauen unten. Hansens Eltern waren auch zugegen und saßen im Pfarrstuhl, und der Vater trug die grüne Gala-Uniform mit dem Hirschfänger an der Seite und sah groß und stattlich aus, und neben ihm die Mutter, die mit der Frau Pfarrerin die einzigen Frauen in städtischer Tracht waren.

Wie die Gemeinde das Eingangslied gesungen, kam der gute Pastor und las das Evangelium, und seine Stimme tönte schön und tiefklingend wie eine wohllautende Glocke; und nach dem zweiten Lied folgte dann die Predigt.

Die wendete sich fast nur an die Kinder und ihre Eltern; der alte Mann sagte, daß sich nun das Tor auftat zum Leben, und rühmte Gottes Güte, daß der uns die Gabe verliehen, durch dieses Tor zu gehen nur mit Hoffnung und Freude; und siehe da, als er diese Worte sprach, wurden einer harten und strengen Frau die Augen naß, der reichsten Bäuerin, und zog ihr Taschentuch hervor und weinte still vor sich hin, und die Tagelöhnerfrauen hinten stießen sich an und sahen nach ihr mit Erstaunen. Der Prediger fuhr fort und sprach von der Schuld, wie die sich jetzt anspinnt, in diesen Jahren, wenn sie nicht schon älter ist, und wie sie größer wird und größer und unversehens so groß, daß sie uns überragt und uns beherrscht wie einen Sklaven. An dieser Stelle wurde Karl bleich und schaute verzweifelt vor sich hin, daß Hans erschrak, wie er durch Zufall zur Seite blickte und in sein verfallenes Gesicht sah. Vieles verstanden die Leute nicht in der Predigt, so die Worte, daß das Gute leichter sei wie das Böse, und daß man das Gute tue als ein froher Herr und das Böse als ein ingrimmiger Knecht; aber es war auch wohl nicht nötig, daß die Leute alles verstanden, denn für sie konnten die Worte ja doch nicht Mahnung sein, sondern nur Trost, und den faßten sie auch so, selbst wenn zu dem andern ihre Gemüter nicht genug licht waren. Und nahm jeder den Trost in seiner Weise, denn die stolzen und lebensklugen Bauern hatten doch einen Winkel in ihrer Seele, wo die Sicherheit nicht war, der wurde nun erhellt, und die bekümmerten Holzarbeiter, die sich sorgten, wie sie die Ihrigen rechtschaffen durch das Leben brachten, fanden eine Hoffnung auf ein Leben, da es keine Sorgen und Kümmernisse gab, aber die oberflächlichen und prahlerischen Tagelöhner wurden wohl aus ihrer Selbstzufriedenheit erweckt, doch schwieg gleichzeitig der Stachel des Neides, der sie sonst quälte, und auch sie wurden fröhlicher.

Wie der Glauben bekannt wurde, sprachen die andern zaghaft und leise, Hans aber rief sein Ja laut und jubelnd, daß ihn der gute Pastor freundlich ansah; und unter bangem Herzklopfen folgte dann die Abendmahlfeier, bei der ein unbegreifliches Geheimnis unsern Glauben mit den urältesten Hoffnungen, Furchten und Gedanken der Menschen verbindet und so auch in Leichtfertigen und Gedankenlosen einen Schauer erzeugt, der ernst macht.

Danach sang die Gemeinde das Ausgangslied, und währenddem gingen die Eingesegneten einer nach dem andern zu dem Pastor in die Sakristei, brachten ihm, eingewickelt in Papier, ihren Beichtgroschen, wie es Sitte war seit undenklichen Zeiten, und niemand nahm daran einen Anstoß, und erhielten einen Spruch auf ihren Lebensweg; Hansen aber sah der Pastor mit einem frohen Lächeln an, dann nahm er seine Hand, legte ihm die Rechte aufs Haupt und sprach: „Halte, was du hast.“ Das war in einer kleinen Sakristei, die getünchte Wände hatte, und stand da ein Tisch aus gestrichenem Holz, und darauf lag Bibel und Gesangbuch, davor das Kruzifix und ein Strauß Herbstblumen in einer blauen Glasvase; das Fenster war geöffnet, und von draußen kam das Murmeln der gehenden Menschen und herbstlicher Sonnenschein, der in Tropfen durch das Laub eines Baumes fiel. Wie Hans in die Kirche zurückkam, wartete da eine Taufgesellschaft, und war die Mutter früher Dienstmädchen bei der Herrschaft gewesen, die einen Waldwärter geheiratet und hatten das erste Kind. Die Frau saß in einem Kirchenstuhl, mit verlegenem und glücklichem Gesicht, und rosig und lächelnd und hielt das Kindchen auf einem Kissen im Arm und schaukelte es, damit es nicht schreien solle, das Kind aber wollte gar nicht schreien, sondern sah erstaunt nach dem großen Hängeleuchter, der mitten in der Kirche von der blauen, goldgesternten Wölbung herabhing. Der Vater stand aufrecht daneben in straffer Haltung, als ein früherer Soldat, und trug einen Bart rund ums Gesicht, in dem Oberlippe und Kinn ausrasiert waren, so daß nur der Kranz blieb; und auch er blickte glücklich und stolz auf das Kind, doch suchte er unbeteiligt auszusehen und wollte seine Gefühle verbergen, als unpassend für einen gräflichen Beamten. Die beiden Großeltern sollten Pate stehen, denn die Eltern mochten keine Patengeschenke von Fremden betteln. Die saßen gleichfalls, und ließ der Großvater seine Uhr an der härenen Kette baumeln, und wunderte sich, daß das Kind gar nicht auf die Merkwürdigkeit achten wollte, indessen die Großmutter zur Seite geschäftig in allerhand Linnenzeug kramte.

Wie der Pastor in die Kirche zurücktrat, erhoben sich die Sitzenden und traten alle zum Taufbecken. Die Mutter sah den alten Pastor an, der auch sie einst getauft, dann eingesegnet und endlich getraut hatte, und wurde noch röter, und ihr frisches Gesicht strahlte und wollte gewiß sagen, daß er das Kind bewundern solle, wie groß es war und verständig, aber sie besann sich noch zu rechter Zeit, daß das unpassend gewesen wäre, und in ihrer Verlegenheit schoß ihr eine ganz feurige Welle über das Gesicht, und machte einen Knicks vor dem geistlichen Herrn, wie es ihr früher beigebracht war, wenn sie auf dem Schlosse etwas der Herrschaft zu übergeben hatte, und reichte ihm das Kind. Der alte Mann lächelte freundlich, nahm es ihr ab, faßte ihm die Bäckchen und gab es der Großmutter, indem er der ganz verwirrt gewordenen Mutter zunickte.

Indem goß der Kantor das Wasser in das Taufbecken und prüfte mit dem Finger die Wärme; dann fand die Taufhandlung statt, bei der das Kind sich artig und ruhig hielt, dank der unermüdlichen Bewegungen der Großmutter, denn nur wie es die dreimalige Benetzung verspürte, schien es erstaunt und schlug die Augen über sich, und der Großvater, welcher der Stolzeste schien, rühmte es durch ein leises Wort dem Vater; am Ende kniete die Mutter nieder, und der Pfarrer erteilte ihr den Segen. Karl erwartete Hansen, denn er hatte ihm Wichtiges zu sagen und wollte seine Seele erleichtern durch Erzählen. Schon seit etlicher Zeit hatten sich die beiden entfernt, unmerklich und ohne sichtbaren Grund, wie sich zwei Baumstämme trennen, die, im Meer treibend, einander gefunden hatten und zusammen dahinschwammen, eine lange Weile. Wenn sie sich trafen, hatten sie sich nichts zu sagen, trotzdem doch sonst der Jugend das Herz leicht überfließt von dem vielen Neuen, das durch Auge und Ohr hereinkommt und gebildet wird durch den schöpferischen Verstand, und deshalb sprachen sie Gespräche wieder, die sie vorzeiten geführt, wiederholten Worte, die damals lebten und nun tot waren, und wunderte sich im stillen ein jeder, wie wenig er zu sagen wußte. Aber heute war in Karl eine alte Liebe erwacht, und sein Herz sehnte sich nach einem teilnehmenden Gesellen. So feinfühlig sind wir, ohne daß wir es ahnen, daß das Fremde, das in uns gekommen, auf beiden Seiten wirkend, uns trennt; erst als seine Reue die Schuld hinauswarf, waren sie wieder zusammen wie vorher.

Karl erzählte aber von Johanna und seiner Liebe zu ihr, und wie er sich bisher nicht frei machen konnte, trotzdem er sich selbst verachten müsse, und er sehe klar, daß er immer niedriger und schlechter werde durch seine Zuneigung; heute aber habe er einen festen Entschluß gefaßt, daß er sich befreien wolle aus seiner Untertanschaft. Nicht so sprach er, wie hier mit abstrakten Worten geschrieben ist, sondern er redete als ein Halbwüchsling; und ein Mensch, der nicht weiß, welche Bedeutung die Handlungen des Menschen haben, hätte seine Erzählung für kindisch gehalten und sein ganzes Erlebnis. Aber das ist eine oberflächliche Meinung, die durch die äußere Gestaltung, welche einer Handlung Alter und Bildung und sonstige formgebende Dinge anziehen, sich bewegen läßt in ihrem Urteil, und einen sittlichen Kampf belächelt, weil er in dem siegfriedhaften Wesen eines unerfahrenen Gemütes vor sich geht und um Dinge, die einem Erwachsenen unbedeutend erscheinen; da doch solche Vorgänge wichtiger sind, weil sie auf die weitere Bildung des Charakters einwirken, wie scheinbar bedeutsame Ereignisse in späteren Jahren.

Es kann ja kein Mensch trösten, denn es gibt keinen Trost, außer den einen, den jeder schon weiß, daß wir Vergangenes nicht ändern können; aber in der bloßen Erzählung war ein Trost für Karl; denn indem er alles genau seinem Freunde schilderte, wußte er, daß er ein Zeichen von sich gab dessen, daß er nicht wieder zurückkehren würde zu dem, was zu verlassen er sich vorgenommen. So gelangte er ans Ende seiner Geschichte frohen Mutes, und auch Hans war fröhlich, und beide freuten sich einer neuen Freundschaft, die ihnen leuchtete wie ein Ährenfeld nach einem erquickenden Sommerregen, wenn die Sonne sich in tausend frischen Tropfen spiegelt und die Erde einen nahrhaften Geruch ausströmt, denn die Gedanken junger Leute laufen noch mit eiligen Kinderfüßen, und besonders laufen sie eilig vom Trüben zum Trostreichen. Aber wer zu urteilen wüßte über Menschen und Schicksale ahnen könnte aus ihrem Wesen, der hätte gesehen, daß Karl wohl guten Willen hatte und einer guten Leitung folgte; aber in seinem Innern war doch Zuchtlosigkeit und Schwäche, und auf irgendeine Weise mußte Schwäche einmal sein Schicksal entscheiden. Jetzt war es so, daß einmal und für einen flüchtigen Augenblick und unverstanden aus den grauenhaften Tiefen, die wir ja alle haben, in ihm der Gedanke auftauchte: er möchte Hansen töten; das war ein nichtiger Gedanke, wie uns Tausende durch den Kopf gehen, ohne Folgen und selbst ohne Möglichkeiten von Folgen; es war nur ein leises Lebenszeichen des Bösen in ihm, das sich des Vertrauens schämte und Haß empfand gegen den Mitwisser der Schwäche.

Die beiden waren im Walde gegangen durch raschelndes Buchenlaub; wie sie zurückkehrten und zwischen den Bäumen hervortraten, standen sie oberhalb des Dörfchens, das sich lang das Tal in die Höhe dehnte; die Kirchenglocke läutete zur Beerdigung, und auf dem Kirchhofe predigte der Pastor vor einem offenen Grabe, an dem die Leidtragenden standen.

Der Verstorbene war ein recht unglücklicher Mensch gewesen; denn schon seine Eltern hatten im Armenhause gelebt und als leichtfertiges und träges Volk, und wie er noch ein ganz kleines Kind war, hatte ihn die Mutter einmal im Zorn auf die Erde geworfen, davon er sich die Hüfte verrenkt, und war ihm das Bein verdorrt, so daß er sich nur mit mühseligem Humpeln weiterschleppen konnte; hierdurch erhielt er den Namen Hinkeding. Wie er etwa sieben Jahre alt sein mochte, starben seine beiden Eltern, und die Gemeinde gab ihn dem Abdecker in Kost, der außerhalb des Dorfes lebte; bei dem hatte er es noch übler wie bei den rohen Eltern, denn er erhielt nur schlechte Nahrung und geringe Pflege und mußte trotz seines Gebrechens und seiner Jugend doch viel arbeiten, das er zwar willig tat. Die böse Dorfjugend beschimpfte ihn um diese Arbeit noch weiter und nannte ihn Wasenmeister, und mochte sich darum kein andres Kind mit ihm abgeben, auch hätten die Eltern es denen verboten, wenn sie es getan hätten. So wuchs Hinkeding roh und tückisch heran, nur mit dem alten Wasenmeister und seiner bösen Frau hatte er zu sprechen, die in schlechtem Rufe standen, außer ihrem ordentlichen Geschäft, daß sie allerhand Zauberei und Aberglauben treiben sollten. Beim Konfirmandenunterricht mußte er allein auf einer Bank sitzen, denn der damalige Pfarrer war zu schwach und unverständig, um dem Unwesen zu steuern, und nach den Stunden fielen oft die andern über ihn her und schlugen ihn, wiewohl er sich wehrte mit allen Mitteln, indem er trat und kratzte, und einmal zog er selbst ein Messer. Niemals durfte er auf den Tanzboden kommen, und auch die geringsten Mädchen wendeten sich von ihm mit Verachtung, denn selbst einer Gutsmagd uneheliche Tochter, die bei einem Bauern diente und ein Auge verloren durch einen Stich mit der Heugabel, mochte nicht mit ihm sprechen. In solchen Lebensverhältnissen hatte sich in ihm eine besondere Bosheit ausgebildet, daß er die Kinder erschreckte, indem er plötzlich eins faßte und ihm unheimliche Dinge sagte, die er vielleicht auch ausgeführt hätte, wenn er es gewagt, oder daß er den Mädchen bösartigen Schabernack antat, um den er dann wieder von den andern mit Grund gehaßt und verfolgt wurde. Später warf er sich darauf, allerhand Bücher zu lesen, die er bekommen konnte, denn wiewohl er in der Schule nichts gelernt hatte, weil in den Zeiten, wo er jung war, sich um solche Kinder niemand bekümmerte, wußte er sich allerhand Künste doch aus seinem eignen Geiste zu lehren und hatte auch ohne Anleitung das Lesen gelernt. Aus diesen Büchern kam ihm nun viel verwirrtes Zeug in seinen Verstand, denn er verschmähte einfache und schlichte Schriften, die er hätte verstehen können, sondern wollte Bescheid wissen, wie die Welt geschaffen, und weshalb das Böse in die Welt gekommen, und wie weit der Himmel von der Erde entfernt sei und solche Dinge, denn es hatte wohl seine arme, umdüsterte Seele ein Sehnen nach Gott und nach Gerechtigkeit; denn wenn auch die Liebe dem natürlichen Menschen nicht eigen ist, so hat er doch ein Streben nach Gerechtigkeit. Dergestalt kam er auf eigne Gedanken, daß es keinen Gott geben könne, weil da ein Stern war, dessen Licht erst nach viertausend Jahren zu uns kam, weil er so weit entfernt von der Erde war. Und bei dieser Meinung blieb er; wie er aber nichts weiter hatte, an das er sich halten konnte, so wurde er hochmütig auf seinen Verstand und verachtete alle andern Menschen und verhöhnte sie, und diese hinwiederum beharrten in ihrem alten Spott und Haß und vermehrten nur ihr Lachen, wie sie von seinen Ansichten merkten; und wenn er auch allen andern Spott fühlte, so spürte er hier doch nichts davon, daß sich die jungen Burschen über ihn lustig machten, wo sie ihn fragten, wie lang und breit der Himmel sei und ähnliches, sondern erklärte ihnen seine Meinungen, achtete gar nicht ihres Lachens, sondern hielt dieses wohl gar für Anerkennung und verhöhnte sie wegen ihrer Dummheit und Unbildung. Und so groß war sein Eifer, wenn er dergestalt lehren und sich rühmen konnte, daß er gar nicht merkte, wie er Hinkeding Wasenmeister genannt wurde, welche Namen ihn sonst zu heftigem Zorne bringen konnten.

Wie der jetzige Pfarrer seines Vaters Stelle erhalten, war es schon zu spät gewesen, noch auf den armen Menschen einzuwirken, denn die Bosheit war schon ganz unausrottbar in ihm gewurzelt, und seine Meinungen hatten sich so in ihm befestigt, daß sie nicht mehr vernichtet werden konnten. So war es mit ihm denn immer schlimmer geworden, daß er am Ende ein gefährlicher Mensch war, der nur durch ein Wunder noch kein schweres Unheil angerichtet, vielleicht weil ihn seine Unbehilflichkeit an vielem hinderte. Denn weil sein eignes Gemüt schlecht war, und weil gegen ihn alle Menschen sich schlecht gezeigt hatten, so bildete er sich die Gedanken, es gebe gar keine Güte im Menschen, und sei auch allen alles erlaubt, nur daß sich immer einer vor dem andern fürchte.

Dieser unglückliche Mann war nun im Hochalter gestorben; und wiewohl die Leute im Dorf gewollt hatten, daß er beigescharrt werde wie ein Tier, wegen seiner Lästerungen und Bosheiten, hatte der Pastor doch verlangt, daß er ehrbar geleitet wurde, und nun hielt er ihm selbst eine Predigt.

Jetzt stand der Mann vor Gottes Thron und wartete auf sein Urteil. Und sein Ankläger brachte ein großes Buch vor, in dem standen geschrieben die vielen Schmähungen und Lästerungen, Bosheiten und schamlose und niederträchtige Handlungen. Denn als eine im tiefsten Innern böse Person hatte er sich selbst an den unschuldigen Tieren und an jungen Bäumchen vergriffen. Aus bloßer Lust hatte er viele hundert junger Bäume abgeschnitten, die in Fröhlichkeit sich in der Frühlingsluft zu strecken gedachten, und Tiere hatte er nicht nur geworfen und geschlagen, sondern einmal hatte er einem jungen Hunde, der ihm treuherzig gefolgt war, ein Auge ausgestochen, und einem Pferd hatte er brennenden Schwamm unter den Schwanz gebunden. Nichts konnte sein Verteidiger erwidern, wie daß er erzählte von seiner elenden Kindheit und jämmerlichen Jugend, und daß er nur Schlechtes gesehen hatte in seinem Leben und nie Gutes ihm erwiesen war. Aber vor Gott gibt es keine Entschuldigung aus diesen Dingen, denn er sagt, daß er den Menschen eine reine Sonne an den Himmel gestellt hat, zu der sollen sie aufschauen. Da erzählte der Verteidiger zuletzt eine Geschichte, die einzige, die er hatte aufzeichnen können in seinem Buch.

Vor langen Jahren, der Mann war noch ein Jüngling gewesen, hatte er einmal an einem Raine unter einem Quitschenbaum gesessen und an einem hölzernen Löffel geschnitzt, denn er erhielt sich durch Anfertigung und Verkauf von allerhand Holzwaren. Da kam ein kleiner dreijähriger Junge zu ihm, dessen Eltern im Feld arbeiteten und durch einen geringen Hügel verdeckt waren, nannte ihn und bat, er solle ihm eine Pfeife machen; er konnte aber noch nicht alle Buchstaben sprechen, deshalb sagte er zu ihm Inkeding. Da sah Hinkeding das Kind an, stieg auf den Baum, der hoch war und glatt, schnitt ein passendes Reis ab und machte dem Kind eine Pfeife, indem er beim Klopfen das Liedchen sang, welches er selbst als Junge oft gehört, aber nie über seine Lippen gebracht hatte, weil er allein war und keine Pfeife haben mochte.

Er war noch ein Jüngling gewesen damals, und als er älter wurde, schnitt er die Bäumchen ab und stach dem kleinen Hund ein Auge aus; aber Gott sieht nicht in der Zeit wie wir, sondern ohne die Zeit; was wir Menschen auch tun sollten, wenn wir uns herausnehmen, in sittlichen Dingen zu urteilen; und weil er keine Seele von sich läßt, die auch nur eine Ahnung des Guten hat, denn er meint, daß durch Güte sich Güte vermehrt, was freilich nur für den Himmel paßt, und nicht für dieses irdische Gefängnis unsrer Seele hienieden, so nickte er dem Manne freundlich zu und nahm ihn auf in sein ewiges Leben.

In dem Augenblicke hatte der Pfarrer seine Rede am Grabe beendet, und der eine oder andre der Umstehenden nahm sich vor, er wolle künftig seinen Kindern verbieten, solche Menschen zu verspotten, und wolle ihnen selbst ein Beispiel geben. Und die beiden Jünglinge oben am Waldesrande, die auf den Gottesacker niedersahen, dachten, daß sie eben froh gewesen waren, und daß ein Mensch begraben wurde, der unglücklich gewesen in seinem ganzen Leben.

 

Nun hatte Hans die Schule durchgemacht und das Examen bestanden; so sollte er jetzt die Universität beziehen. Bis dahin war er nie ganz von Hause weg gewesen, denn wenn er auch in den Wochentagen im Löwenhof in einem Dachkämmerchen war und in der Schule auf den Bänken saß zwischen den andern, so pilgerte er doch jeden Sonnabend nach Hause, durch den hohen Tannenwald, an stillen Holzhauerdörfchen vorbei zu seinem Vaterhaus, das auf einer umschlossenen Waldwiese stand, in schwarzen Schiefern, und krausen Rauch schickte es in die helle Luft. Aber nun sollte er weit fort reisen mit der Eisenbahn, aus den Bergen in das ebene Land, und erst nach Monaten kam er wieder in die Heimat; und wenn er dann seine Studien beendet, wer weiß, in welche Ferne er dann gehen mußte.

Da rief ihn die Mutter zu sich und ging mit ihm in die Schlafkammer oben, um ihm ungestört ihre Abschiedsworte zu sagen.

Sie machte ein Gleichnis und sprach: Wenn du einen Tropfen Essig schüttest in ein Faß edlen Weines, so wird der Essig zu Wein; und umgekehrt, wenn du einen Tropfen Wein gießest in ein Faß mit Essig, so verliert er seine Natur und wird zu Essig. Also ist auch der Menschen Natur, denn wenn ein guter Mensch kommt in böse Gesellschaft, so verliert er alsbald seine Art und nimmt schlechte Art an, gleichwie ein Böser, der in gute Gesellschaft kommt, sich zu guter Art schlägt. Dieses bedenke und hüte dich vor lockeren Buben, die du viele treffen wirst auf der hohen Schule und in der großen Stadt. Denn wir, ich, dein Vater, deine Großmutter und unsre Magd Dorrel haben uns getreulich bemüht, daß du ein guter Mensch werdest; jetzt aber müssen wir dich ziehen lassen, mit Furcht und Sorgen, daß du uns nicht verdorben werdest und zurückkehrest als ein nichtsnutziger und verkommener Mensch. Und laß dich auch nicht verführen durch Neugierde und Eitelkeit, daß du zu tun bekommst mit solchen Buben, und du meinst, es soll nur auf kurze Zeit sein, nachher aber gedenkst du sie zu meiden; sondern denke, daß das Böse sich an den Menschen hängt wie Kletten, auch durch leise Berührung, und schwer ist es, daß sich einer wieder befreit von dem Unkrautsamen an seinem Gewande. Besonders aber warne ich dich vor der Eitelkeit; denn du weißt wohl, daß die Bösen spotten über die Guten und ihnen vorwerfen, sie seien unfrei, weil sie nicht tun wie sie und hören auf erfahrene Leute, dahingegen doch die Bösen selbst unfrei sind, denn wohl tun sie die ersten Schritte ohne Zwang, alle weiteren aber als Knechte ihrer früheren Taten; ein Trinker kann nicht mehr lassen vom Trinken und ein Hurer vom Huren, sondern ihr Teufel zieht sie hinter sich her an ihren Haaren. Du mußt aber wissen, daß dieses die besondere Verblendung des Satans ist, daß er macht, daß seine Knechte sich für frei halten; denn sie lügen nicht, wenn sie der andern spotten, sondern reden aus ihrer wahren Meinung.

Und wirst du nicht bloß böse Buben finden, sondern auch schlechte Mädchen, die dich verführen wollen zu Unkeuschheit und Werken der Wollust. Dazu wird deine eigne Begierde wach werden, denn du bist jetzt in die Jahre gekommen, da der Mann sich nach dem Weibe sehnt, und geschieht diese Verführung aus dem natürlichen Menschen und ist deshalb stärker wie die andre zum Trinken, Spielen und Balgen. Deshalb denke, daß du keusche und reine Eltern gehabt hast, denn dein Vater ist in das Ehebett gestiegen als ein unbefleckter Jüngling, gleichwie ich als eine reine Jungfrau. Und denke ferner, daß du einst ehelichen wirst und Kinder haben; aber was für Kinder wirst du bekommen, wenn du deine Kräfte ausgibst in jungen und unfertigen Jahren! Wenn du dich vergleichst mit deinem Vater, so wirst du finden, daß du einmal größer und stattlicher sein wirst, wenn du in dein Alter kommst, obwohl du viel in der Stube und über Büchern hast sitzen müssen; dessen Ursache ist das ehrbare und ordentliche Leben deines Vaters, der sich zusammengehalten hat in seiner Jugend, damit sein Sohn einst tüchtig sein solle.

Aber wenn du diese beiden Gefahren vermeidest, so wird dir eine dritte begegnen. Denn du wirst in der Stadt Mädchen finden, die sind zwar ehrbaren Wandels und ordentlichen Herkommens, und man kann ihnen nichts nachsagen; aber sie mögen nicht an sich selbst schaffen, sondern sind leichten Herzens und denken nicht an die Zukunft, und meinen, alles sei gut, wenn sie nur einen Mann haben, den sie lieb haben können. Hüte dich, daß du dich mit solchen Mädchen einläßt und etwa denkst: ich will mich verloben jetzt, und wenn ich fertig bin mit meinen Arbeiten, so will ich sie heiraten, und denkst: ich habe sie lieb, und sie hat mich lieb, und wir werden ein gutes, christliches Ehepaar sein, ehrlich leben und unsre Kinder gut aufziehen. Dieser Liebe sollst du mißtrauen, obwohl sie mit großer Schmeichelei deiner Natur und Seele daherkommt. Denn ein junger Mensch hat keine Erfahrung und weiß nicht, wie schwer es ein Hausvater hat, und was ein Haus kostet, und wie tüchtig ein Mädchen sein wird als Hausmutter. Deshalb öffne deine Augen und betrachte die Menschen, die sich frühzeitig verloben und verheiraten; da wirst du finden, daß das alles ein leichtes Volk ist, das sich freut ein Jahr lang, und das andre Leben bringt es hin mit Sorgen und Borgen. Auch ich, deine Mutter, habe eine Liebe gehabt, wie ich achtzehn Jahre alt war, zu einem jungen Kaufmann, und wie mein Vater nichts wissen wollte von dieser Liebe und der Bewerber traurig von ihm ging, da meinte ich, daß ich sterben müßte vor Kummer, und wäre ins Wasser gegangen, wenn ich nicht Gottes Wort gehabt hätte. Heute segne ich meinen Vater im Grabe, daß er hart gegen mich war aus Liebe, denn der Mann ist leichtsinnig gewesen und hat sein Vermögen vertan durch törichtes Bauen und übermäßige Erweiterung seines Geschäftes, weil er etwas Besonderes vorstellen wollte. Dann harrte ich sieben Jahre, und da kam dein Vater; das war eine andere Liebe, die ich zu dem hatte, denn ich ward ruhig durch ihn und stark. Er hat mir keine süßen Worte gegeben und mich nicht gerühmt; aber seit ich seine Ehefrau bin, habe ich keine andre Sorge gehabt als die, welche Gott jedem Menschen auferlegt, nämlich um ihn in seinem Beruf, daß ihm nicht ein Unglück geschieht, und um dich, mein geliebter Sohn, daß du gesund und gut aufwachsest; und ein bös Wort habe ich nie von ihm gehört.

Darum habe ich dir das erzählt, wiewohl es mir eine schwere Aufgabe war, weil diese dritte Versuchung die schwerste ist. Denke an meine Worte, wenn du vermeinst, daß du ein Mädchen getroffen habest, von der du nicht wieder lassen kannst. Vergiß nicht, daß erst das Weib den Mann zum Manne macht, deshalb darf der Mann kein Jüngling mehr sein, und deshalb soll er sein Weib auswählen, nicht bloß nach dem Gefühl der Liebe, wie es von den heutigen Dichtern beschrieben wird, sondern mit Ernst und Furcht.

So sprach die Mutter zu Hans. An manchen Stellen ihrer Rede färbte die Scham ihre Wangen; aber sie sprach ruhig und sicher, als eine Mutter zu ihrem Sohn. Und der Sohn ward bewegt in seinem Herzen und fühlte, wie er seine Mutter liebte, die stattlich und stolz vor ihm stand mit dem glatten und blonden Scheitel.

Hans antwortete, daß er ihre Worte behalten wolle. Und er glaube, daß er keine großen Anfechtungen erleiden werde. Denn es ist wohl ein unchristliches Gefühl, das ich habe, aber ich glaube doch, daß meine Meinung richtig ist: ich denke nämlich, daß ich besser bin wie alle andern jungen Leute, die ich bis jetzt gesehen, und deshalb muß ich mich zusammennehmen, damit ich später auch etwas leisten kann, wenn ich ausgelernt habe. Und ich will mich auch hüten, daß ich nicht hochmütig werde, denn ich kann ja nicht so viel für mich, sondern das meiste habe ich von Natur, nämlich von euch.

Nach diesem Gespräch war ein neues und andres Leben zwischen Hans und die Mutter gekommen; er war freier gegen sie und offen, wiewohl er ihr auch früher nichts Besonderes verheimlicht hatte; aber er hatte das Gefühl, daß er jetzt zu ihresgleichen herangewachsen sei, gleichwie er vor Jahren zu Dorrel herangewachsen und ihr gleich, bald dann auch ihr überlegen geworden war. So blieb jetzt nur noch der Vater über ihm. Gegen den Vater hatte er noch die alte kindliche Scheu; gegen die Mutter aber hatte er eine neue Scheu bekommen, wie er sie etwa gegen seine Braut gehabt hätte, und eine neue Liebe seit jener Bewegung im Herzen, die mehr zärtlich war wie früher. Solches sind die Ringe unsrer wachsenden Seele; und wenn unsre Seele in Gesundheit und Kraft zunimmt, so setzt sie solche Ringe einen nach dem andern an, und unser innerer Kern wird immer heimlicher und verborgener vor dem Ahnen der andern Menschen.

Aber wie die Mutter mit Hans gesprochen hatte, da nahm ihn auch Dorrel mit sich auf ihr sauberes Dachkämmerchen, wo ihr hochaufgetürmtes Bett stand mit rot und weiß gewürfeltem Bezug, und ein blankgescheuerter hölzerner Stuhl, und ein großer Koffer, mit bunten Blumen bemalt.

Den Koffer öffnete sie, zeigte ihm, was darinnen war, und sprach, daß er einst erben solle, was sie besitze, denn sie habe nur einen Bruder gehabt, der sei nach Amerika gegangen und habe dort eine Bauernstelle erworben, seit langen Jahren aber habe sie nichts mehr von ihm gehört und wisse gar nicht, ob er noch lebe und Kinder habe; in fremde Hände aber solle ihr Gespartes nicht fallen. „Aber wenn du einmal heiratest, so schenke ich dir dieses Tischtuch und zwölf Servietten; dazu habe ich den Flachs selbst gesät, gezogen, gebrochen, gehechelt und gesponnen, und vom Weber habe ich ihn mir weben lassen mit künstlichen Figuren von Bäumen und Tieren und einem Jäger. Jetzt ist das Leinen zwar noch hart und sieht grau aus, aber wenn es erst ein Jahr lang im Gebrauch gewesen ist, so wird es weich, weiß und glänzend. Nur hüte dich vor den faulen Wäscherinnen, die in der Apotheke fressende Gifte kaufen, die verderben dir deine gute Leinwand, und du hast am Ende nur Lumpen.“ Danach zeigte sie ihm ihr Sterbehemd, das hatte sie auch selbst gesponnen und mit schönen Spitzen besetzt und wollte sie mit ins Grab nehmen; ihre übrige Wäsche aber, die gebraucht ist, welche er nicht behalten wollte, sollte er verschenken, einem armen und ordentlichen jungen Dienstmädchen, das sich noch nichts hat anschaffen können, und dem damit geholfen ist; „aber es muß ein ordentliches und fleißiges Mädchen sein, die meine Sachen trägt mir zu Ehre und sie sauber hält, nicht so ein faules Bettlergesindel, das in Lumpen umhergeht.“

Am Ende zog Dorrel noch ihre besonderen Kostbarkeiten hervor, an denen ihr Herz am meisten hing. Da war erstlich ein gestickter Tabaksbeutel, den hatte ihre Mutter ihrem Vater einst als Braut geschenkt und hatte derzeit zwei Taler gekostet, war auch nie gebraucht von ihrem Vater, aus Ehrfurcht, weil er so teuer gewesen. Den hatte ihr Bruder damals mitnehmen wollen nach Amerika, aber sie hatte ihn nicht hergegeben, weil sie dachte, in Amerika könne er in schlechte Hände kommen und zu Leuten, die nicht verstünden, wie kostbar er ist. Er war aber aus grüner Seide gehäkelt und waren Rosen, Vergißmeinnicht und Veilchen aus Perlen darauf, und in der Mitte war ein Wort „Souvenir“, das war auch aus Perlen, aber aus goldenen; gefüttert war er mit guter Schweinsblase. Dorrel sagte, wenn Hans erst Pastor sei, dann werde er sich das Rauchen aus einer langen Pfeife angewöhnen, und natürlich hätte er dann seinen Tabak in einem Kasten, aber wenn er einmal auf Besuch gehe, dann müsse er einen Tabaksbeutel haben, da solle er dann diesen nehmen; denn für einen Pastor schicke sich wohl so ein teures Stück, aber nicht für einen Tagelöhner, und eigentlich sei es ein rechter Unsinn gewesen von ihrer Mutter, ein solches Geschenk zu machen. Dann zeigte sie ihm einen geschnitzten Stockknopf aus Knochen. Der stammte desgleichen von ihrer Mutter her, welche als Mädchen in einem großen Hause gedient. Der Knopf hatte auf einem Rohr gesessen, das der Herr zu tragen pflegte, und wie das Rohr einmal zerbrochen war, wurde der Knopf mit fortgeworfen, Dorrels Mutter aber hatte sich ihn ausgebeten, abgeschraubt und sorgfältig aufgehoben. Jetzt sollte ihn nun Hans kriegen, wenn er erst eine Pfarre hatte, und da sollte er sich ein gutes Meerrohr mit ordentlicher Zwinge beim Drechsler kaufen und an den Knopf andrehen lassen; denn der Knopf war zwar altmodisch, aber von guter Arbeit, und weil die Mode sich immer ändert, so kommt es gewiß auch einmal wieder auf, daß die Männer von Ansehen solche Art Stöcke tragen.

Zuletzt hatte sie noch einen Hund aus Gußeisen, der für einen Briefbeschwerer dienen sollte, und hatte noch eine ganz andre Geschichte.

Auch Dorrel war einmal ein hübsches junges Ding gewesen mit prallen Backen und lustigen Augen, aber brav und ordentlich war sie auch schon, wie sie erst ihre achtzehn Jahre hatte. Da war da ein junger Knecht bei der gräflichen Herrschaft auf dem Hofe, der verliebte sich in sie und sie in ihn, und wie Kirmes war, tanzten sie viel zusammen, und er bezahlte für sie Himbeerwasser, und weil sie sich so recht glücklich fühlten, wollten sie sich etwas schenken, was sie später einmal brauchen konnten in der Wirtschaft. So kaufte Dorrel ihrem Schatz eine Samtweste, die mit bunten Blumen bestickt war, und er kaufte ihr den eisernen Hund, denn er sagte, wenn sie sich später erst etwas gespart hätten, so müßten sie sich einen Glasschrank kaufen, und in dem würde sich der eiserne Hund gar prächtig machen. Wie sie aber nach Hause ging, hatte sie schon Angst vor ihrer Frau, denn sie war damals schon bei Hansens Großmutter von der mütterlichen Seite, was die zu ihrer Liebschaft sagen würde; und in Wahrheit bekam sie auch starke Schelte, und die Frau hielt ihr vor, daß sie selbst nichts habe, und er habe zehn Geschwister, und wenn sie heirateten, so komme Hunger und Kummer zusammen, vornehmlich, wo sie sich so läppisch zeigten und sich so einfältige Geschenke aufschwatzen ließen von den Krämern, denn wenn die Dummen zu Markte gehen, so lösen die Krämer Geld. Darum solle sie ihr nicht wieder kommen mit einer Liebschaft, ehe sie nicht fünfundzwanzig Jahre alt wäre. Da seufzte und weinte Dorrel die Nacht durch, aber bedachte sich doch, daß die Frau recht hatte, und daß ihr Liebster erst noch zu den Soldaten mußte. Deshalb sagte sie zu ihm, was die Frau zu ihr gesprochen, und versprach, daß sie auf ihn warten wolle, und sie müßten ihre Zeit ausharren und sich erst anschaffen und sparen. Da schimpfte der Mann wohl recht auf ihre Frau und sagte, die solle ihm nur einmal in den Weg kommen, der wolle er schon die Wahrheit sagen, aber am Ende mußte er sich geben, sah auch wohl ein, daß Dorrel recht hatte. Weil er indessen wohl ein guter Kerl war, aber einen leichten Sinn hatte, ließ er sich mit einer andern ein; als er in der Stadt bei den Soldaten stand, heiratete die auch, zog fort und kam nachher in großes Elend. Dorrel aber brauchte lange, bis sie die Gedanken an ihn verwand; und wie sie wieder so weit war, daß sie dachte, sie möchte wohl heiraten, da schien ihr keiner recht, denn sie war inzwischen etwas altjüngferlich geworden, hatte große Besorgnis, daß dieser liederlich werden möchte und jener krank und der dritte faul; später hätte sie wohl auch einen Witmann bekommen können, aber da bedachte sie, daß sie es doch zu lange gut gewohnt war bei ihrer Herrschaft und fürchtete sich vor den Sorgen und der Not; und so geschah es, daß sie ledig blieb und die Liebesgeschichte mit dem Knechtlein, wo sie den eisernen Hund geschenkt kriegte, war ihre einzige.

Diesen Hund nahm sie nun hervor, wickelte ihn sorgfältig aus dem Papier und reichte ihn dem Hans, indem sie sagte, weil er jetzt als Student so viel schreiben müsse, so solle er den Briefbeschwerer gleich haben, denn sie schreibe ja doch nicht, weil sie niemand habe in der Welt. Die Geschichte erzählte sie ihm zwar nicht, wie sie zu dem Hund gekommen, aber wie sie an die alte Zeit dachte, da kamen ihr die Tränen in die verrunzelten Augen; sie war aber auch gerührt, weil sie sich recht lebhaft vorstellte, wie es erst wäre, wenn Hans nicht mehr am Sonnabend nach Hause käme, da streichelte sie ihm mit ihrer rauhen Hand seine Backe, und die Hand zitterte; dem Hans aber stieg das Wasser auch in die Augen, wiewohl er sich schämte und unwillig war; und so brummte er etwas, schlug seinen eisernen Hund wieder ins Papier und stolperte die Treppe hinunter.

Den Koffer nahm ein Holzfuhrmann mit nach der Stadt und gab ihn bei der Eisenbahn ab, indessen Hans selbst den Weg zur Bahnstation zu Fuß machen wollte; so verabschiedete er sich von der Mutter und von Dorrel, und der Vater warf die Büchse über die Schulter und sagte, er wolle ihn eine Strecke begleiten.

So gingen die beiden. Sie sprachen über die neue Art von Tannen, die der Graf hatte kommen lassen, welche ein sehr schnelles Wachstum haben sollten, und der Förster zweifelte, ob das Holz so wertvoll sein werde, wie die gegenwärtigen Arten, das zu Fußbodendielen zersägt wurde, weil es besonders fest war durch das langsame Wachsen der Bäume auf dem felsigen Boden. Hans wunderte sich, daß sein Vater so mit ihm sprach.

An einem Seitenwege machte der Vater Halt, weil er zu seinen Arbeitern mußte, gab dem Jungen die Hand und sagte: „Sei fleißig und schreibe bald. Wenn dein Geld nicht reicht, so mußt du schreiben.“ Dann wendete er sich zur Seite, und Hans ging weiter.

Aber der Hund, den der Förster an der Leine führte, hatte aus allen früheren Anstalten gemerkt, daß etwas Besonderes geschehe und Hans auf länger fortging wie sonst; so legte er sich auf den Boden, stemmte sich mit aller Kraft fest und begann zu winseln. Der Förster zog ihm das Ende der Leine über, aber der Hund winselte nur mehr und ließ sich nicht von der Stelle ziehen. Da wendete sich der Vater zurück und rief hinter Hans her: „Der Hund will Abschied nehmen.“ Da tanzte der Hund bellend und winselnd auf den Hinterbeinen, und wie Hans zurückkam, leckte er dem ungestüm die Hände, heulte und bellte. Hans liebkoste ihm den Kopf und mußte sich zusammennehmen, daß er nicht weinte. Am Ende sprach der Vater: „Nun gehe, du versäumst den Zug“, und da wendete sich Hans und ging; der Hund aber wich auch jetzt nicht von der Stelle, bis Hans durch eine Biegung des Weges unsichtbar wurde, dann beschnupperte er noch einmal seine Fußspur und dann erst folgte er seinem Herrn auf den Nebenweg und war traurig und niedergeschlagen.

So schritt nun Hans seine Straße fürbaß. Das war die alte Straße, die er so manchen Sonnabend heimwärts gegangen war frohen Mutes und in Trauer stadtwärts Montags früh, wenn die Vögel ihr Morgenlied sangen. Eine gute, feste Chaussee war es; zu den Seiten standen Ahornbäume, deren Laub färbte sich schon herbstlich, und Quitschen mit roten Beeren; im Winter fressen die Drosseln diese Beeren und bekommen davon ein angenehm schmeckendes Fleisch. Und auf der Chaussee fuhren Holzwagen; an einem sehr großen Stamm kam Hans vorbei, den zogen zwei schwere Pferde mit Mühe und war wohl bestimmt zu einem Mastbaum; der sollte auch in die weite Welt hinaus. Der Fuhrknecht in manchesternen Kniehosen und blauem Kittel grüßte.

Nicht weit von der Straße war die Elsgrube, Hans bog ab und ging dahin. Die kleinen, schiefgeschnittenen Äcker waren abgemäht, und die Stoppeln sollten noch umgepflügt werden; der Kartoffelacker war umgewühlt, und in der Mitte war ein runder Aschenfleck, wo das Kartoffelfeuer gebrannt hatte. Merkwürdig trostlos sah das alles aus. Das stille, kreisrunde Wasser glänzte grün inmitten des kahlen Wesens; einige geknickte Binsen hielten sich am Rande. Hans dachte, wie gern er als Kind nahe gegangen wäre an das Wasser, um vielleicht in der Tiefe den Turm der versunkenen Burg zu sehen; jetzt hätte ihm niemand verboten, so nahe an den Rand zu treten, wie er wollte, aber er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Turm in der Tiefe. In kindischem Tiefsinn dachte er: „ja, das ist ein Symbol unsers Strebens“; und er meinte, das sei wahrhaftig seine Ansicht. Aber seine wirklichen Gedanken waren ganz anders.

Die waren wie die Tannen, die sich den steilen Bergabhang in die Höhe strecken gleich einem Heer, das eine feindliche Befestigung stürmt; mannhaft stehen sie in Reih und Glied, klammern sich mit ihren Wurzeln über Felsen und Steine. Nach oben streben sie, nach Sonne, Freiheit und Licht; ihre unteren Zweige lassen sie trocken werden, denn sie mögen nichts mehr zu tun haben mit dem Dunkel, wo Ameisen geschäftig laufen. Eilfertig plätschert ein kleines Wässerlein den Berg hinab, aufblitzend in einem verlorenen Sonnenstrahl; das muß ihre Wurzeln tränken. Aber tiefer dringen ihre Wurzeln, sind nicht zufrieden mit des muntern Bächleins klarem Wasser; sie gehen bis zu der Tiefe, von wo die Bergquelle in die Höhe steigt. Die schaut aus der Erde zwischen Moos und Tannennadeln, wie ein dunkles Auge, und kleine Sandkörnchen tanzen in dem quellenden, kristallklaren Dunkel. Rührend ist es, wie diese Sandkörnchen da tanzen, unermüdet. Wenn man ruhig harrt und hört das leise Rauschen und Plätschern, so spürt man, wie der Wald wächst, im Herzen spürt man es, und man weiß, daß man zusammengehört mit dem Wald und aus einem herauswächst mit ihm, und alles ist eins und gehört zu einem, die leise wankenden Tannenwipfel und das dunkle Auge des Bergquelles, der moosbewachsene Felsblock und das spritzende Wässerlein und das heimliche Wesen der Wälder mit seiner starken, gesunden Luft. Eine Minute nur währt solche Verzückung; aber für den inneren Menschen bedeutet die Zeit ja nichts, denn Jahre können träge vorübergehen, ohne daß sie uns einen Eindruck machen, aber der Eindruck jener Minute ist immer noch in unsrer Seele. Die Straße ging in Windungen bergab bis zum Städtchen, wo die Bahnstation war; da wartete der Zug, der bestand aus zwei Personenwagen und vielen Wagen mit Brettern, Wellen, Stempeln und Balken, denn Holz war die Hauptware, die von hier verschickt wurde. Ein häßlicher Kohlengeruch lag über dem Bahnhofe und stumpfe und schmutzige Farbe, aber für einen Augenblick drang der Duft des frischgeschnittenen Holzes durch, daß Hansen ein heftiges Heimweh ergriff.

Da fuhr der Zug; und er fuhr erst durch Täler, auf deren Grund Wiesen waren, die in der Mitte, wo Wasser floß, noch Grün zeigten, sonst aber schon grau und braun schienen, und auf den Höhen standen Wälder, aber nur noch vereinzelte Tannen, denn nun begann der Buchenbestand; und schon waren die Blätter farbig, und eine vereinzelte Eiche leuchtete rot aus dem stumpferen Braun. Bald aber wurde das Tal breiter und die Hügel flacher, die Wälder verschwanden, und es zogen sich Stoppelfelder in die Höhe und ab und zu winkte ein Dörfchen mit einem Kirchturm.

Dann tat sich die Ebene auf, die ganz weit war und durch die Trübe des Himmels begrenzt wurde. Hier war die Station, wo Hans den Zug verlassen mußte; die Wagen mit den Brettern und Stämmen blieben zurück, das letzte von der Heimat; und nun wurde alles anders und wurde fremd, denn selbst die Wagenabteile waren größer wie die früheren, und es schien, als wenn in den andern noch etwas heimische Luft und Helligkeit gewesen sei; dazu sprachen die Leute eine andere Sprache, redeten über andere Dinge, und ihre Gesichter waren Hansen nicht mehr vertrauter Art.

Dahin raste der Zug. Die Telegraphendrähte an der Seite flogen auf und ab, die Stangen blitzten vorüber, und lange, schmale Felder tanzten, wie wenn sie sich im Kreise um einen Mittelpunkt bewegten, der in Hansens Wagen lag. An großen Rübenbreiten kamen sie vorbei, wo eine Herde Polenmädchen in nackten roten Beinen mitten in der Nässe stand und Rüben herausholte, und Wagen mit breiten Rädern wurden beladen, schwere Pferde zogen mit Anstrengung durch den nassen Acker, und der Wagen hinterließ eine tiefe Spur. Nun kamen wieder ganz andere Menschen in den Wagen, Leute, die sich breit machten und über Hansen wegsprachen und unhöflich drängten. Sehnsüchtig blickte er zum Fenster hinaus, dachte bei sich, er hätte doch lieber mögen zu Hause bleiben, im Wald, und mit der Flinte auf dem Rücken gehen, und alle Menschen kannte er da und alle Wege, und in der Fremde war ihm das Herz schwer und wußte auch nicht, was eigentlich die Universität war, und was er tun sollte, wenn er nun auf dem Bahnhof stand in Berlin. Immer weiter eilte der Zug und fuhr über Sandboden, wo häufige Kiefernwälder kamen, die schienen Hans natürlich zu sein; dann kamen wieder Äcker und große flache Seen, daß es war wie eine Überschwemmung; solche Art von Wasser kannte er nicht, das war so glatt und flach. Bald senkte sich auch die Dunkelheit; ein Reisender zeigte ihm in der Ferne eine schwere Dunstwolke in der Luft, das war Berlin. Das war Berlin, was unter dieser Dunstwolke lag. Wie er das sah, war ihm das Heimweh plötzlich vergangen.

Nun hielt der Zug, die Türen der Abteile wurden hastig geöffnet, und alle Menschen liefen schnell und hastig, eilten, drängten und stießen sich, und Hansen überholten sie alle, daß er als letzter eine ungeheuer breite Treppe hinunterschritt, die von einem Stein war, der Hansen Granit schien, und waren die sehr breiten Stufen immer aus einem Stück geschlagen, was sehr teuer gewesen sein mußte. An Hans vorbei eilten andre in die Höhe, hinter ihm kam ein neuer Menschenstrom herab, und unten in der Vorhalle wimmelte und kribbelte es von eilfertigen Menschen. Diese Vorhalle war außerordentlich hoch, aber eine häßliche Luft war da, und schien alles schmutzig, so daß Hansen ein plötzlicher Ekel ankam, denn ihm war, als sei auch er mit einem Male ganz schmutzig.

So stand er am Ende draußen auf dem Platz, und vor ihm war Berliner Leben.

Einen Rock trug er, den der Schneider in der kleinen Stadt verschnitten hatte, denn er war ihm vorn zu eng; auch sahen seine langen und knochigen Hände weit aus den Ärmeln, und sein Hut war von ganz alter Mode, denn er hatte ihn sich bei einem kleinen Hutmacher zu Hause gekauft, und Kragen und Schlips paßten nicht zueinander und verschoben sich beständig, und seine Füße waren in großen, plumpen Stiefeln, und die Hose hatte ausgeweitete Knie. In der einen Hand trug er einen baumwollenen Regenschirm, in der andern eine gestickte Tasche, auf der stand: „Glückliche Reise“; sein Großvater hatte sie gekauft, wie er als junger Mensch zum ersten Male von zu Hause weg mußte. So beschaffen waren Hans Werthers Kleider, wie er zum ersten Male auf dem Berliner Pflaster stand. Dazu war seine Gestalt unglaublich mager, lang und knochig, und aus seinem hageren Gesicht, das mit langen, blonden Stoppeln dicht besetzt war, starrten ratlos zwei hellblaue Augen. Im Bergwald war Hans eine schöne und jugendlich männliche Erscheinung; aber hier, auf der Königgrätzer Straße, sah er recht komisch aus.

Eine ganz auffallend gekleidete junge Dame ging dicht an ihm vorüber, blickte ihm verwundert ins Gesicht und lachte ihn aus. Er sah hinter ihr her und wunderte sich, daß eine solche Dame so unpassend sein konnte, denn sie trug einen Hut mit so großen Federn, wie Hans noch nie gesehen, schwang einen nadeldünnen Schirm in der Hand und trällerte vor sich hin.

Dem Hans wurde schwach im Herzen, und seine Sehnsucht nach der Heimat war mit einem Male wieder ganz heftig, daß sie ihm weh tat, denn er fühlte sich gänzlich verlassen von diesen eiligen Menschen, die nur alle gerade vor sich hinsahen.

Da aber gedachte er, daß er ja keine unrechten Dinge vorhatte, und fiel ihm der Gesangbuchvers ein, den er oft mitgesungen in der kleinen Dorfkirche, vor deren Fenstern die Linden standen:

„Befiehl du deine Wege

Und was dein Herze kränkt,

Der allertreusten Pflege

Des, der den Himmel lenkt.

Der Wolken, Luft und Winden

Bestimmte Ziel und Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Da dein Fuß gehen kann.“

Eine wunderbare Tröstung und Zuversicht überkam ihn, so daß er rüstig ausschritt durch das Treiben und Ziehen der Menschen hindurch, denn es schreckte ihn nicht mehr die Leere ihrer Gesichter, und daß sie gestorbene Seelen hatten, welches ihm bewußt geworden war, ohne daß er Klarheit über dieses Wissen hatte.

Zweites Buch

Die erste Zeit in Berlin war für Hansen recht traurig, denn sie brachte ihm große Enttäuschungen, weil er gemeint, auf der Universität müsse ganz Besonderes und Herrliches sein, und unter der Wissenschaft dachte er sich etwas Befreiendes und Beglückendes, das ihm in unklarer Weise als das höchste aller irdischen Hoheit vorschwebte; er konnte noch nicht wissen, daß dieses Besondere und Herrliche nicht ein greifbar Vorhandenes ist, sondern vielleicht nur eine Gemütsverfassung sein kann, die einige begabte Menschen mit der Zeit durch ihre Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen erhalten. Und nun fand er ein großes und graues Gebäude, das nach Staub aussah, dann eine Diele, in der sehr viele Studenten standen und gingen, die gar nicht der Vorstellung glichen, die er sich von Studenten gemacht, sondern eher wie recht unelegante Kaufmannskommis schienen und fast alle außerordentlich spießbürgerliche Gesichter hatten; und endlich war da ein niedriger Kollegsaal mit vielen Bänken, mit einem muffigen Geruch. Der Professor trat ein und wurde mit Trampeln begrüßt, und war ein ganz kleiner Mann in einem dicken Pelz und mit einem recht abgenutzten Zylinder; wie er diese Stücke an den Kleiderhaken hängte, machte er eine komische Hüpfbewegung, und dann trat er auf den Katheder, nickte mit dem Kopf und entfaltete ein uraltes, gebräuntes Heft, aus dem er mit monotoner Stimme außerordentlich lange Perioden vorlas, indessen sein schwarzer Rock speckig glänzte. Die Studenten schrieben mit heftigem Eifer nach, ohne daß einer den Kopf hob, und nachdem Hans zuerst immer gedacht hatte, es müsse noch etwas kommen, schrieb er am Ende auch nach; weil er aber langsam mit der Feder war, so kam er bald zurück und konnte nicht mehr folgen, und so saß er zuletzt recht ratlos und unglücklich da. Wie die Glocke zum Schlagen aushob, ließ der Professor plötzlich seine Stimme zu einem Murmeln sinken, hörte mit dem Ende des Satzes auf, klappte das gebräunte Heft zusammen, hüpfte nach seinem Pelz und Hut und ging hinaus. Die Studenten aber schnappten ihre Tintenfässer zu, steckten die Hefte in die Mappen und gingen gleichfalls.

Das war die erste Vorlesung, und die weiteren hatten einen ähnlichen Charakter. So wurde Hans niedergeschlagen und bekümmert, denn wie er nun mit seinen Heften unterm Arm zum Essen ging und sich bedachte, was er gelernt habe in diesen Stunden, da fand er gar nichts in seinem Gedächtnis, außer die Vorstellung von einem ungeheuren und wüsten Raum, in den er hineingestoßen war, damit er weitergehen solle, und sah weder Weg noch Wegweiser.

Gleich hinter der Universität, am Kastanienwäldchen, war damals ein Speisehaus, wo ein sehr großer Teil der Studenten aß. Hans folgte der Menge und kam in kleine Stuben, wo an Tischen dichtgedrängt die jungen Leute saßen und eilig ihre Speisen verzehrten, indessen Kellner in jägergrünen Joppen mit Hirschknöpfen geschwind mit Schüsseln und Tellern herumliefen und der Strom der eintretenden Gäste dem Strom der herauskommenden begegnete. Wie Hans einen Platz gefunden an einem Tisch, dessen übrige Stühle besetzt waren, und die fleckige Speisekarte genommen, kam hastig ein Kellner im Vorbeilaufen heran und fragte, so daß Hans erschreckt aufs Geratewohl bestellte, denn er war schon durch die Eile und Menschenmenge geängstigt. Dann aß er und trank mit der Schnelligkeit, die er bei den andern sah, denn hinter dem einen Tischgenossen wartete bereits einer auf dessen Platz; und wie er fertig war, kam der Kellner wieder, zählte zusammen, und Hans bezahlte, und weil ihm gesagt war, daß man in Berlin den Kellnern Trinkgeld geben mußte, so legte er ihm fünf Pfennige in die Hand mit einem höflichen und verlegenen Murmeln, denn er scheute sich und fürchtete, der Kellner würde beleidigt sein. Wie alles abgemacht war, hatte er ein leichtes Herz und ging durch die gedrängten Zimmer zurück aus dem Hause. Da fühlte er sich recht einsam und verlassen; denn einige gelbe Blätter hingen an den Kastanienbäumen, Sperlinge zankten sich auf der Straße, ein grauer Dunst war in der Luft, und häßliche Farbentöne hatte alles, schmutzige und stumpfe; nichts Leuchtendes war da, welches das Herz leicht macht. Er wunderte sich, daß das Studentenleben so aussah; ganz anders hatte er es sich vorgestellt.

Seine Stube war ein langer und schmaler Raum, der eine Form hatte wie ein Handtuch; oben am Fenster stand der Schreibtisch mit einem Stuhl davor, dann kam ein Sofa mit einem Sofatisch, dann das Bett, endlich der Waschtisch; und bildeten diese Möbel eine Reihe, so daß man sich an ihnen allen vorbeidrücken mußte, wenn man zum Schreibtisch gehen wollte. Auf dem Waschtisch hatte er seine neue Spiritusmaschine aufzustellen gedacht; denn das hatte er sich so schön ausgemalt, wie er sich den Kaffee nachmittags selber kochen werde, und dabei wollte er dann fleißig studieren; aber die Wirtin sagte, das könne sie nicht erlauben, weil es ihre guten Möbel ruinieren werde, und er solle den Kaffee bei ihr in der Küche bereiten. So ging er jetzt mit der Kaffeemaschine, der Mühle und dem andern Gerät in der Wirtin Küche, und hatten die Leute nur die beiden Räume, also die vermietete Stube und die Küche, in der sie kochten, wohnten und schliefen, nämlich eine sehr dicke und schmutzige Frau, ein finsterer Mann, über den die Frau meistens schimpfte, eine Tochter von achtzehn und einen Sohn von zwölf Jahren.

Hans fand die Frau allein vor, die ihm seine Sachen abnahm und sagte, sie wolle ihm den Kaffee schon bereiten, und obzwar ihm die Leute widerstrebten, ohne daß er freilich den Grund recht wußte, so tat doch diese Freundlichkeit seinem einsamen und bedrückten Gemüt wohl, daß er in dem Augenblick eine Zuneigung zu der dicken Frau faßte und sich nach ihrer Einladung auf den Stuhl setzte, den sie vorher mit der Schürze abgewischt. Die Frau begann gleich zu klagen, daß ihr Mann oft keine Arbeit habe und alles vertrinke, und daß die Ferien über das Zimmer leer stehe, und seien die Studenten meistens unsolide und meinten, die Stube sei ungeniert, aber was wolle sie machen, sie sei eine arme Frau; und nachdem sie sich die Augen mit der schmutzigen Schürze gewischt, fuhr sie fort, daß ihre Tochter ihr auch Sorgen mache, die sei hinter den Herren her, mit der werde es noch einmal ein schlimmes Ende nehmen, aber sie könne es nicht halten. Wie sie noch so im Klagen war, kam die Tochter nach Hause und trug einen neuen Hut und fragte ihre Mutter, wie der ihr stehe; die schlug die Hände zusammen und jammerte über den Hut, da antwortete das Mädchen, den habe sie geschenkt bekommen von einem Herrn, und was sie treibe, das gehe die Mutter gar nichts an. Darauf zog die Frau Hansen in den beginnenden Streit und fragte ihn, ob wohl eine Tochter so antworten dürfe, das Mädchen ließ ihn aber gar nicht zu Worte kommen, sondern sagte, sie wolle essen, und schalt darüber, daß so weniges im Eßschrank lag. Inzwischen war der Kaffee fertig geworden, daß Hans gehen konnte; er hörte aber noch eine höhnische Bemerkung der Tochter, die auf ihn zielte, die verstand er zwar nicht, indessen machte sie ihn verlegen, und er wußte nicht recht, wie er sich benehmen solle, wenn er wieder in die Küche gehen mußte; durch die Tür drangen dann noch Worte der Mutter zu ihm, die eine Zustimmung zu den Reden der Tochter zu enthalten schienen. Da fühlte er sich wieder recht elend und unglücklich, und mit Sehnsucht dachte er an seine Heimat und an den Wald, und selbst sein Dachkämmerchen auf dem Löwenhof war ihm jetzt vertraulich in der Erinnerung, wiewohl er nie ein heimliches Gefühl darin gehabt, sondern es immer nur als bloße Unterkunft betrachtet hatte. Denn alles erschien ihm namenlos scheußlich, weil er sich auch eine Studentenbude immer ganz anders gedacht hatte, nämlich als ein Mansardenstübchen, niedrig und klein, aber von quadratischem Grundriß, mit einem alten ledernen Sofa und einem kleinen eisernen Ofen, in dem ein lustiges Feuer brannte, und mit einem großen Bücherbrett voller Bücher.

Nach dem Plane, den er sich von seiner Tagesarbeit gemacht, mußte er nun die gehörten Vorlesungen durcharbeiten. So nahm er das erste Heft vor, das enthielt lauter Literaturangaben über den Gegenstand, und er wußte nicht, was er mit diesen beginnen sollte, dachte, er müsse sie wohl auswendig lernen und schreckte dann zurück vor den vielen fremden Namen, an die sich ihm keine Vorstellung knüpfte; und bei dem zweiten Heft ging es nicht besser, denn hier hatte der Professor ganz weit hergeholte Dinge als Einleitung behandelt, die mit dem Gegenstand nichts zu tun hatten, und weil Hans nicht genau nachschreiben konnte, sondern hatte Lücken lassen müssen, so wurde er aus dem Ganzen gar nicht klug. Derart stieg seine Betrübnis auf einen solchen Gipfel, daß er gar nichts mehr mit sich anzufangen wußte, und weil er gegen seine Unruhe doch irgend etwas tun wollte, so verließ er seine Stube und ging durch die Straßen. Er wurde bald müde, denn das Gehen auf dem harten Pflaster war ihm ungewohnt, und das Geräusch und die Menge der Menschen strengten ihn an, und wenn er die lange Straße hinuntersah, so erblickte er nur himmelhohe Häuser, Drähte und Steinpflaster, und nirgends ein Fleckchen Erde, wäre es auch nur so groß gewesen wie eine Hand. Nirgends war ein Fleckchen Erde, alles war mit Steinen bedeckt. Über eine Brücke ging er, aber auch die Ufer des Flusses waren mit Steinen vermauert. Da fiel ihm ein, daß in dieser Stadt ein Kind geboren werden konnte und aufwachsen, das gar nicht wußte, wie Erde aussieht, und wie ein Wald und ein Kornfeld und eine Wiese aussieht; und als er das dachte, hatte er ein großes Mitleid mit sich selbst.

So ging er, und die Füße taten ihm weh und die Schultern, und ein Ring lag ihm um die Stirn, und war ihm, als habe er sich ausgeweint und könne nicht mehr weinen. In solcher Verfassung blieb er, indem es begann zu dunkeln, und die Laternen wurden angesteckt und die Läden mit stechendem Licht erleuchtet, und die Menschen rasten immer gleichgültig vorbei. Am Ende trat er aus Müdigkeit in eine Wirtschaft, und weil er sich graute vor seinem Zuhause und es zudem doch noch am Anfang des Semesters war, so beschloß er, hier in der Wirtschaft zu Abend zu essen und nicht zu Hause, und wollte hier so lange bleiben, bis es spät genug war, daß er zu Bette gehen konnte.

Eine Kellnerin brachte, was er bestellte und setzte sich dann zu ihm an seinen Tisch, indem sie sagte, er sei gewiß erst seit kurzem in Berlin, und dann erzählte sie, ihr gefalle es sehr gut hier. Hans antwortete in der Weise, wie er gewohnt war, mit allen Menschen zu sprechen; da stand sie plötzlich auf, mitten in seinem Satze, in einer Art, als sei er ihr ganz verächtlich, und nachher war sie ganz fremd zu ihm, als habe sie nie freundlich an seinem Tische gesessen.

Inzwischen füllte sich die Wirtschaft mit Gästen und die meisten taten sonderbar vertraulich zu den Kellnerinnen, und es war als ob alle, die hier in dem rauchigen und niederen Raum saßen, miteinander nahe bekannt seien. Nach einer Weile setzte sich an Hansens Tisch ein junger Mann, der aussah wie ein Künstler; dem brachte die Kellnerin ein Glas Bier und zwei Butterbrote, die aß er gierig, als sei er sehr hungrig. Wie er mit dem Essen zu Ende war, knüpfte er ein Gespräch an und erzählte, er wolle eine Operette komponieren und spiele hier in der Wirtschaft abends Klavier, wofür er fünfzig Pfennige und das beschriebene Abendbrot erhalte; aber von diesem Erwerb könne er nicht leben, und wenn nicht die gutherzigen Kellnerinnen wären, so müßte er verhungern, und seine Operette würde viel besser werden wie der „Zigeunerbaron“. Wie Hans antwortete, daß er dieses Werk nicht kenne, vertiefte sich der andre in musikalischen Erörterungen, und zwischenhindurch klagte er bitter über das Los der Künstler in der heutigen Gesellschaftsordnung. Am Ende verbeugte er sich mit großer Eleganz vor Hans, daß dieser sehr verlegen wurde, und ging zum Klavier, setzte sich, fuhr mit den Fingern durch sein langes und dichtes Haar und begann mit großer Geläufigkeit Tänze zu spielen; sein Spiel schien Hansen aber ganz seelenlos, obschon das Pianino viel besser war wie des Lehrers im Dorfe altes Klavier.

Bald darnach fragte die Kellnerin Hansen, ob sie dem Klavierspieler ein Glas Grog bringen solle, weil er sich doch mit ihm unterhalten habe, und indem Hans dachte, das müsse wohl so sein, bejahte er die Frage, aber er schämte sich doch sehr für den Musiker. Dieser nahm das Glas, wendete sich zu Hans, nickte ihm dankend zu, führte es an den Mund und fing dann gewandt einen neuen Tanz an.

Den ganzen Abend quälte sich Hans mit dem Gedanken, daß er nachher der Kellnerin ein Trinkgeld geben sollte, denn das kam ihm unzart und beleidigend vor, weil es nicht mit Herzlichkeit geschehen konnte und deshalb keine Freundlichkeit war, die den Empfänger zu ihm in solche menschliche Beziehung brachte, daß dessen menschliche Würde die gleiche blieb, sondern er hatte das Gefühl, daß er das Mädchen dadurch unter sich drückte, ebenso wie am Mittag den Kellner und vorhin den Musiker. Viel Schmutz muß ein Mensch erst an seinen weißen Kleidern haben, bis er gleichmütig das Geldstück in die vorgestreckte Hand eines dienernden Menschen gleiten läßt und unbewußt jede Liebenswürdigkeit, die ihm ein Niedrigerstehender erwiesen, durch eine kleine Münze vergilt, statt durch einen einfachen Dank; und nicht nur seinen Bruder zieht er herab, sondern auch sich selbst.

Wie Hans den peinlichen Augenblick überstanden hatte und sich zum Gehen wendete, verspürte er mit den geschärften Sinnen, die ein Mensch innerhalb einer feindlichen Umgebung hat, daß die Kellnerin sich hinter seinem Rücken gegen eine andre über ihn lustig machte, wie schon einmal an dem Tage die Wirtstochter gegen ihre Mutter getan. So wurde immer stärker das Bewußtsein in ihm, daß er lächerlich und dumm sei, und alle andern Leute waren viel gewandter, klüger und erfahrener wie er; denn solange wir die Welt noch nicht kennen, wissen wir die sittlichen Gegensätze nicht zu verstehen und beurteilen und halten sie für Gegensätze des Verstandes und der Erfahrung, und ist das einer der Gründe, weshalb mancher junge Mensch schlecht wird, der von Natur nur oberflächlich war.

Langsam und müde ging Hans heimwärts, und war es eben nach zehn Uhr, wie er an sein Haus kam, und deshalb war es schon dunkel auf den Treppen, aber er tastete sich schnell am Geländer nach oben. Als er fast oben angekommen, trat er auf einen Menschen, der dalag. Wie er schon ohnehin in erregter Verfassung war durch alles vorige, so stieß er einen Schrei aus und prallte zurück, daß er fast die steile Treppe hinabgefallen wäre. Auf das Geräusch wurde die Korridortür geöffnet und Hansens Wirtsleute, später auch die Nachbarn erschienen mit Lichtern, und da zeigte sich, daß eine betrunkene Weibsperson von etwa fünfzig Jahren auf den Stufen lag, die sich hatte auf den Hausboden schleichen wollen, um dort zu nächtigen, und nun hier von Trunkenheit und Schlaf übermannt war.

Der finstere und schwarzbärtige Wirt Hansens stieß das Weib mit dem Fuße an, bis sie sich halb erhob in ihren stinkenden Lumpen, und starrte mit dem aufgedunsenen Gesicht sinnlos in die Lampe, die der Mann in der Hand hielt; er brüllte, er wolle die Polizei holen, und gab ihr allerhand gemeine Schimpfworte, das Weib aber schien nichts zu merken, sondern hockte da und sah zwinkernd mit rotgeränderten und tränenden Augen in die Lampe. Deshalb versetzte der Mann ihr wieder Fußtritte, um sie zum Aufstehen zu bewegen; aber da empfand Hans einen wilden Schmerz im Innern und rief, er solle das lassen und die Frau menschlich behandeln. Hierüber war der Mann erstaunt und erwiderte, wenn er selber betrunken sei, so werde er auch so behandelt, und das noch dazu von den Schutzleuten, die doch von den Steuern lebten, die er zahle, diese Person jedoch zahle keine Steuern. Über diese Worte aber schien seine Frau sich zu ärgern, denn die rief ihm verächtlich zu, er verdiene doch nichts und bezahle auch keine Steuern, und da lachten die andern Leute. Das brachte den Mann in Wut, so daß er sich nun mit seinen Schimpfworten an seine Frau wendete, und die Tochter griff mit in den Streit ein, indem sie in derselben verächtlichen Weise zu ihm sprach wie die Mutter. Da wollte der Mann die beiden schlagen, aber indem nun die Tochter kreischend fortlief und die fette Frau, die Arme in die Seite stemmend, ihn mit wackelndem Busen erwartete, hielten ihn die Nachbarn fest und suchten ihn zu beruhigen. Inzwischen hatte sich die Betrunkene unsicher erhoben, und weil sie noch ihren alten Plan in dem umnebelten Gehirn festhielt, so wollte sie höher steigen, sie trat aber auf ihre Lumpen, fiel halb, hielt sich mit den Händen an den schmierigen Stufen und starrte wieder in die Lampe. Nun erschien ein Schutzmann, den ein andrer geholt hatte. Der packte die Betrunkene und stieß sie vor sich her die Treppe hinunter, daß sie hätte kopfüber stürzen müssen; aber sie klammerte sich am Geländer fest und wimmerte. Hans konnte den Anblick nicht mehr ertragen, denn ihm wurde, als sei er krank, deshalb ging er in seine Stube, schloß hinter sich zu und schob den Riegel vor. So verlief der erste Tag von Hansens Studentenleben, und noch nie war er so unglücklich gewesen wie an dem Abend. Weshalb er ein so heftiges Gefühl von Jammer hatte, konnte er sich nicht klarmachen, und es war auch gut, daß er es sich nicht klarmachen konnte, denn sonst wäre er gänzlich verzweifelt. Denn dieser Tag führte den ersten und heftigsten Streich gegen seinen Glauben, und von heute an wurde ihm, Stück für Stück, Gott geraubt, denn alle diese Menschen, die er getroffen hatte, waren ohne Würde gewesen: der Lehrer, der mechanisch sein Pensum ablas, und der Kellner, der gleichmütig seine Speisen brachte, und die Wirtin, und der Musikant, und die Betrunkene endlich. Und wenn es Menschen gibt, die keine Würde haben, so müssen wir an unsrer eignen Würde zweifeln: nicht mit dem Verstande, denn das ist alles über den Verstand, aber wir können nicht mehr den reinen Glauben und die klare, unschuldige Zuversicht haben.

Und wenn wir an unsrer Würde zweifeln, so können wir an keinen Gott mehr glauben, der über uns ist, und durch den unser kleines Leben einer Eintagsfliege am Sommertage eine Bedeutung bekommt, die höher ist wie die Bedeutung von Millionen Welten; und auch dieser Zweifel kommt nicht aus dem Verstande, denn dieser ist noch weit mehr über allem Verstande; aber er kommt aus unserm ganzen Menschen.

Dergestalt bereitete sich bei Hans der Glaube vor, daß er ein Rad sei neben andern Rädern in einem großen Räderwerk, das für sich keinen Sinn hatte, welches die allgemeine Ansicht der Menschen war, mit denen er nun zusammenkam.

 

In einer philosophischen Vorlesung fand Hans seinen Platz neben einem älteren Studenten, der ihm durch seine eigne Art sehr auffiel, denn er hatte seine Stelle genau ausgemessen und durch Bleistiftlinien bezeichnet und erklärte Hansen, wie er das unumschränkte Recht innerhalb dieser Linien habe, außer daß er seine Nachbarn zur andern Seite müsse bei sich vorüber zu ihren Plätzen gehen lassen, und wenn jemand Bücher oder Hefte über die Linien hinaus neben ihn lege, so dürfe er die zurückschieben. Mit diesem jungen Mann wurde Hans schon beim zweiten Wiedersehen näher bekannt, indem sich die beiden nach jugendlicher Art über die philosophischen Fragen unterhielten, welche die ihre Generation beschäftigenden waren; und indem sie nicht wußten, daß das, was jeder für sich gedacht, von vielen Altersgenossen geteilt wurde, waren sie recht verwundert über häufige Übereinstimmungen ihrer Ansichten und empfanden die als Veranlassung zu engerem Verkehr; und es bewirkte der Jahresunterschied gleich, daß Hans als der Nehmende erschien und Heller, denn so nannte sich der andere, als der Gebende, der ihm lehrte mit Freude und Genugtuung. Dieses war das erste Mal, daß Hans das Gefühl der Freundschaft empfand, welches der Liebe verschwistert ist, und so folgte er mit Bewunderung, Glauben und Zuversicht allem, was ihm Heller sagte; der aber stand völlig, wie er sich ausdrückte, auf dem modernen Standpunkt und hatte auch einen Kreis von gleichgesinnten Freunden, die zu bestimmten Zeiten zusammenkamen, das waren Studenten, junge Kaufleute, junge Schriftsteller, Maler, Musiker und ähnliche. Bei diesen führte er Hansen ein, wiewohl der eine große Besorgnis hatte, daß er werde vor solchen Leuten nicht bestehen können mit seinem kleinen Wissen und Vermögen, und saßen sie in einem engen Hinterzimmer einer geringen Wirtschaft, das an den übrigen Tagen von Gesellschaften und Vereinen kleiner Bürger eingenommen war, die sich in sonntäglicher Gewandung und mit Bierfässern hatten photographieren lassen, um die Wände des Zimmers zu schmücken.

Hans fand seinen Platz zwischen zwei jungen Mädchen, die sich mit großem Eifer an den Reden beteiligten. Die eine war eine Russin und hatte einen russischen Studenten als Begleiter, mit dem sie in freier Liebe lebte; das war ein schweigsamer Mensch, von einer leuchtenden Blässe des Gesichtes, mit hoher Stirn und ganz dunklem Haar und langem schwarzen Bart, den er unablässig strich. Der lange Bart, den bei uns einer als Vierzigjähriger haben würde, sah sehr merkwürdig aus in dem ganz jugendlichen Gesicht. Eine Zeitungsnotiz wurde in der Ecke gelesen und besprochen, die mitteilte, daß des Russen Bruder, der als ein hervorragender Revolutionär galt, in Petersburg gefangen genommen war und in Schlüsselburg untergebracht; und wie über den Tisch herüber der Russe nach der Art des Gefängnisses gefragt wurde, machte er mit unverändertem Gesicht eine Handbewegung, die bedeutete, daß sein Bruder dort sterben werde, dann bat er mit fremdartiger Aussprache seinen Nachbar um eine Zigarette. Er war ärmlich gekleidet, und es wurde erzählt, er sei sehr wohlhabend und gebe fast alles für die Unterstützung der Arbeiterbewegung aus; auch die Frau trug sich sehr einfach und schien dazu unordentlich und sollte von sehr vornehmer Abkunft sein und aus Überzeugung ihre Familie verlassen haben.

Hans kam in eine weihevolle Stimmung, und ihm war, als sitze er neben Aposteln; denn diesen Leuten erschien ihre Pflicht einfach, und sie taten sie ohne Ruhmredigkeit. So erzählte der Russe, er wolle mit seiner Frau bald in sein Vaterland zurückkehren und hoffe, daß er etwa ein Jahr lang wirken könne, bis man ihn nach Sibirien schicke. Am allgemeinen Gespräch beteiligte er sich sehr wenig und hatte eine sonderbare Art, verächtlich über Menschen und Gedanken zu reden.

Die andere Dame, welche Helene genannt wurde, hatte die Begleitung ihres Bruders, und waren die beiden das erstemal in der Gesellschaft und wurde von ihnen erzählt, daß sie soeben sich von ihren Eltern getrennt hätten und allein lebten; der Vater der beiden war ein kleiner Kaufmann, dessen älterer Sohn war befreundet mit einem Mitglied des Kreises, der offiziell zur sozialdemokratischen Partei gehörte; der hatte ein Paket verbotener Schriften bei seinem Freunde hinterlegt, weil bei dem niemand einen Verdacht haben werde, der Vater aber hatte die Schriften gefunden, wie er in argwöhnischer Besorgnis seines Sohnes Sachen durchsuchte, und war mit ihnen gleich auf die Polizei gegangen aus Angst und aus unbedachtem Ärger über seines Sohnes Verkehr. Weil nun einige der Schriften in mehreren Stücken vorhanden waren, so nahm die Polizei an, das Paket sei zur Verbreitung bestimmt, und verhaftete den Sohn des Angebers zu dessen großer Bestürzung, und weil sich bei weiterem Nachsuchen der eigentliche Besitzer leicht ermitteln ließ, nachher auch den sozialdemokratischen Freund. Der andre Sohn und die Tochter waren über die Handlung ihres Vaters so entrüstet, daß sie erklärten, sie wollten nunmehr nicht mehr in ihrer Familie bleiben, gingen von Hause fort und mieteten sich zwei Zimmer, um für sich zu leben, was ihnen dadurch möglich war, daß sie beide Geld verdienten, nämlich der junge Mann als Reisender und das Mädchen als Buchhalterin in einem Geschäft.

Der junge Mann, der sich in der fremden Gesellschaft einsam fühlte, begann ein Gespräch mit Hans, weil der gleichfalls hier unbekannt war, und als ein redegewohnter Herr fing er bald an zu erzählen, und Hans hörte zu. Er erzählte aber mit Stolz, welche Kunstgriffe er auf seinen Geschäftsreisen anwende, um den Bürstenbindern, denn sein Artikel war Schweineborsten, Ware zu verkaufen; so habe er auf einer Tour dem jungen Mann eines Konkurrenten alle Aufträge vorweggenommen, indem er sich mit ihm angefreundet habe und ihn abends eingeladen und so betrunken gemacht, daß er sein Notizbuch durchsehen konnte. Über diese Erzählung erstaunte Hans sehr und sagte, eine solche Handlungsweise sei doch nicht redlich, der andre aber erwiderte, im Geschäft sei das nun einmal nicht anders, und wer ein guter Geschäftsmann sein wolle, der er selbst auch wirklich sei, der müsse so handeln. Die Schwester aber nickte Hansen zu und gab ihm recht; und indem sie sagte, daß sie zu ihrem Bruder schon immer ähnlich gesprochen habe wie er, setzte sie ihre Worte so, daß gleich eine freundliche und vertrauliche Beziehung zwischen ihr und Hansen entstand. Dann sagte sie zu ihm, er dürfe es nicht unpassend finden, daß sie zwischen so vielen jungen Herren sei, denn die seien doch alle Männer, die das Höchste wollten, und zudem werde sie ja auch von ihrem Bruder beschützt.

Inzwischen hielt jemand einen Vortrag darüber, ob man wohl auf der Bühne das wirkliche Leben ganz genau darstellen könne, und kam zu dem Ende, daß das nicht möglich sei, weil man ja auf der Bühne immer eine Wand fehlen lassen müsse, nämlich nach dem Zuschauerraum hin; über diesen Vortrag bezwangen die meisten ein Lachen, Heller aber lobte den Redner laut, das Hansen sehr von seinem Freunde verdroß, denn es schien ihm unehrlich. So folgten noch allerhand Reden und Gespräche.

Hans brach mit den Russen zugleich auf, und wiewohl es schon recht spät war, nahmen ihn die beiden doch noch mit sich in ihre Wohnung. Dieselbe bestand aus drei recht elenden Räumen, die hatten aber eine besondere Bedeutung, denn ein großer Teil der Freiheit, welche das Paar genoß, wurde durch diese Wohnungseinrichtung erzeugt. Sie wollten nämlich wie zwei gute Kameraden zusammen leben, nicht so, wie es in der heutigen Ehe sei, daß das Weib vom Manne unterdrückt und ausgebeutet wird; deshalb hatte der Mann eine Stube für sich, und die Frau hatte eine Stube; und nur in wichtigen Fällen und nach besonderer Anfrage und Einwilligung durfte einer des andern Raum betreten; in der Mitte aber lag ein Zimmer, das ihnen beiden gemeinschaftlich gehörte und vornehmlich für die Einnahme der Mahlzeiten bestimmt war. Hatte einer Lust, mit dem andern zu plaudern, so ging er in dieses Zimmer und klopfte an der Tür des andern, und wenn der wollte, so kam er heraus, wenn er aber nicht wollte, so beachtete er das Klopfen nicht, und jener ging wieder in seine Stube zurück.

Auf dem Tisch in diesem Mittelzimmer stand eine russische Teemaschine, deren Schlot der Mann mit Kohlen füllte, die er schnell zum Glühen brachte, und unterdessen legte die Frau einen Hering, in Zeitungspapier gewickelt, auf die Tafel, ein Brot und ein Messer. Das geschah beim Schein einer alten Petroleumlampe, der die Glocke fehlte. Der Mann ging mit weiten Schritten in dem Stübchen auf und ab, und indem er seinen weichen und schwarzen Bart langsam strich, blickte er gradeaus ins Leere, wie wenn er in weiter Ferne ein Ziel sehe, das für andre unsichtbar war durch die Wände mit den schmutzigen Tapeten; dazu erzählte er in abgebrochenen Sätzen mit fremdartigen Tönen von Schlüsselburg, daß dort die Zellen der Gefangenen unter dem Wasserspiegel lägen, und die Gefangenen würden nach zwei oder drei Jahren wahnsinnig. Die Lampe flackerte durch den Luftzug, wenn er vorbeiging. Seine Frau saß auf dem verdrückten und lumpigen Sofa und hatte die Beine auf den Sitz gezogen und die Arme um die Knie geschlagen; sie starrte unbeweglich vor sich hin.

Der Bruder war ein Künstler gewesen, ein Musiker. Ganz zarte, weiche Hände hatte er gehabt, die schonte er ängstlich seiner Kunst wegen, daß er sogar im Bette des Nachts Handschuhe trug. Ein merkwürdiges Leben hatte er in seinen Fingerspitzen; einmal durchblätterte er ein Buch, da sagte er plötzlich, das Blättern mache ihn krank, und war ganz blaß geworden und hatte fieberige Augen. Wie nun sein erstes Werk gedruckt wird und er der Korrekturen wegen in der Druckerei zu tun hat, da sieht er, wie die Bogen von der Maschine gebracht werden, in hohen Stößen, an einen Tisch, wo Kinder sitzen, welche die Bogen falzen müssen; ganz kleine Kinder waren das, von neun Jahren höchstens, Knaben und Mädchen, die sahen blaß aus und hatten fieberige Augen, und griffen eilfertig ein jedes zu, nahmen den Bogen vor sich und falzten. Als er sie befragte, antworteten sie, daß sie oft Kopfschmerzen haben, weil sie vierzehn Stunden lang jeden Tag gedruckte Bogen von einem Stoß nehmen müssen, knicken und falzen; aber es war nicht wegen der Fingerspitzen, die waren hart geworden. Zum Spielen hatten sie keine Lust, sondern sie wollten Geld verdienen und hofften, wenn sie erst erwachsen waren, so wollten sie sich Branntwein kaufen, jetzt nahmen ihnen die Eltern immer ihr Geld weg. Wie er das gehört hatte, da warf er seinen kostbaren Pelz ab und schenkte den einem Kinde, es solle ihn seinem Vater geben, und dann setzte er sich zu den Kindern, nahm einen Stoß Notenbogen und falzte Bogen, und wie seine Fingerspitzen bald rot wurden und feurig, da begann er plötzlich irr zu reden und wurde nach Hause gebracht in einem Wagen und verfiel in eine schwere Krankheit, in der er nichts von sich wußte, sondern schrie beständig, daß er Kinder gemordet habe, und einmal schrie er auch, er habe Kinderfleisch gegessen. Wie er wieder aufstand, mochte er nichts mehr von seiner Kunst hören, sondern kleidete sich in Lumpen und ging ins Volk, pilgerte auf der Landstraße, arbeitete, was seine schwachen Kräfte konnten, und sagte den Leuten, der Kaiser und die Beamten und die Reichen müßten ermordet werden. Einmal banden ihn die Arbeiter, die ihm zuhörten, und führten ihn vor den Richter, aber er entsprang wieder aus dem Gefängnis. Ein verlorenes Mädchen lachte ihm zu, eine ganz niedrige Dirne, die von den Soldaten geliebt wurde. Zu der sagte er, daß er sich vor ihr schäme, weil sie ein größeres Leiden trage, wie einem Menschen möglich sei, da weinte sie, ging mit ihm und diente ihm. Zuletzt wollte er sich als Arbeiter verdingen bei einem Bau, wo er Gelegenheit hatte, etwas gegen den Kaiser zu unternehmen, da wurde er verhaftet, und nun wird er bald sterben, denn er ist ganz krank.

Eine Zeitlang ging der Mann stumm auf und ab. Dann sagte seine Frau: „Ich weiß, woran er sterben wird, an der Lüge. Denn wir sind alle krank an der Lüge.“ Darauf sprach sie ein heftiges Schimpfwort gegen die Deutschen. „Ich habe uns durchforscht“, erwiderte der andre, „und ich glaube, wir lügen nicht. Aber wir sind feige. Das ist das Verzehrende.“ Nun begannen die beiden einen Streit und erniedrigten jeder sich selbst und einer den andern, und ein sonderbarer Haß war in ihnen, und ihre Augen leuchteten voll Feindseligkeit. Auf Hansen nahmen sie gar keine Rücksicht, als sei er nicht vorhanden, und begannen russische Sätze zu sprechen, und plötzlich, inmitten einer großen Erbitterung, sprang die Frau vom Sofa und warf ihre Arme um den Hals des Mannes und redete ihn mit heftigen Liebkosungen an; da strömten aus seinen Augen die Tränen, und sie beklagte ihn, wollte ihn begütigen und war glücklich und froh. Indessen kam unter dem Sofa ein Kätzchen hervor, das dehnte sich, sprang auf das Polster und machte einen krummen Rücken, da eilte Natascha zu ihm und liebkoste es stürmisch.

In übler Verfassung verließ Hans das Haus der Russen, und mochte es gegen drei Uhr in der Nacht sein, wie er durch die verödeten Straßen fröstelnd ging. Straßenreiniger mit einer sonderbaren Maschinerie begegneten ihm. An der Ecke stand ein Mann, der in einem blankgeputzten Kessel warme Würstchen zum Verkauf bot, dessen Kundschaft bestand vornehmlich aus Studenten, die in später Nachtstunde nach Hause gingen, und von diesen sowie in Erinnerung an vorige Tage, die besser waren, hatte er sich ein eignes Wesen angewöhnt. Hans blieb vor der jammervollen Gestalt mit dem aufgedunsenen Gesicht zerstreut stehen. „Dic, cur hic?“ redete ihn der Mann an, dann holte er mit der Gabel ein Würstchen hervor und begann mit Berliner Redensarten seine Anpreisung. Hans nahm und bezahlte, und wie der Mann sein Gesicht sah, fuhr er mit Erzählungen und Ruhmredigkeit fort und sagte, Hans habe wohl keinen Sinn für das studentische Leben, und ein jeder müsse der Gottheit folgen, die ihn antreibt; so habe er für seine Person immer eine besondere Neigung zur Germanistik gehabt, und wenn er nicht durch den Trunk so heruntergekommen wäre, so könnte er jetzt wohl auf einem Lehrstuhl sitzen mit mehr Recht wie mancher andre, der weniger wisse wie er. Aber auch so, wie er jetzt nachts an der Straßenecke stehe, sei noch ein Drang zum Höheren in ihm, wie in jedem Menschen, denn er sei Volksanwalt und setze für das Volk Klageschriften und Gesuche auf, und wenn er freie Stunden habe, so lese er; so habe er Claurens sämtliche Schriften durch studiert, weil der Mann heute unterschätzt werde, denn keiner von den gelehrten Herren gebe sich die Mühe, ihn durchzulesen.

Über diesem Geschwätz befiel Hansen ein heftiger Widerwille und zugleich eine sonderbare Angst, daß er sich von dem Manne losmachte und weiterging; und es war nun das erstemal, daß ihn die Angst befiel, die ihn von dieser Zeit an immer begleiten sollte. Sie war ganz unbestimmt und richtete sich auf nichts nach vorwärts noch nach rückwärts, aber ihm war, als begehe er ein großes Verbrechen. Jetzt schien ihm das Gefühl noch sonderbar, und er suchte nach Gründen oder Ursachen; und wie er in seinem Verstande nichts fand zur Erklärung, so wurde sie immer heftiger, daß er am Ende Furcht hatte vor dem Alleinsein und nicht nach Hause gehen mochte. In solcher Verfassung traf er einen jungen Dichter namens Krechting, den er vorher in der Gesellschaft gesehen; den begrüßte er und folgte ihm in ein Café. Krechting war ein kleiner und verwachsener Mensch, der schweigend mit langen und dünnen Beinen rüstig ausschritt, bis sie an ihren Ort kamen. Da setzten sie sich, und Krechting blickte finster vor sich hin; ganz unvermittelt fragte er dann Hansen, ob er bei den Russen gewesen sei, und wie der bejahte, pfiff er leise und trommelte mit den Fingern auf dem Marmortischchen. In dem hellen Raum saßen viele verlorene Mädchen, die sich geschminkt und geputzt hatten, und deren Augen glänzten; einige suchten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, viele aber waren müde und ausdruckslos. Hans hatte den Drang, von sich zu erzählen und hätte mögen über seine Angst klagen, wenn der andre ihn nicht so kalt und zerstreut angesehen hätte, daß er nicht sprechen konnte. Auf der Schule hatte er den Namen Krechtings gelesen und eine undeutliche Kunde von ihm war zu seinen Ohren gedrungen, daß er eine große Achtung vor ihm gehabt; aber dieser Mensch hier entsprach gar nicht seiner Vorstellung. So stieg seine Angst und Unruhe, bis er aus Verlegenheit eine gleichgültige Erzählung begann, der Krechting eben mit so viel Aufmerksamkeit zuhörte, indem er flüchtig eine Zeitung überflog, daß Hans nicht verstummte; einmal machte er eine bissige Bemerkung über einen Schriftsteller, dessen Namen in dem Blatt erwähnt war, dann legte er es weg und sah trübsinnig vor sich hin. Endlich begann auch er zu reden und sprach abgerissen und fast für sich selbst, daß er nun zehn Jahre so lebe, indem er die Nächte durch irgendwelches Geschwätz anhöre, dann an solch ekelhaften Ort gehe wie hier, und in der Frühe komme er nach Hause; den Tag verbringe er mit sinnlosem Tun, und er wisse gar nicht, wozu das alles sei. Unterdessen seien alle seine Freunde zu Ruhm und Reichtum gestiegen, um ihn aber bekümmere sich kein Mensch. Deshalb habe er sich immer gewünscht, wenigstens einen Hund möchte er halten, damit ihn doch ein lebendes Wesen erwarte bei seiner Heimkunft, indessen seine Wirtsleute hätten ihm das nicht zugegeben. So habe er sich denn ein Glas mit zwei Goldfischen gekauft, aber die seien ihm langweilig. Hans fühlte, wie aus dem andern ein Haß gegen ihn strömte, und in ihm erhob sich ein Widerwille, wie vorher gegen den Menschen auf der Straße. Indessen erklärte Krechting sein Wesen, daß er einen Jugendfreund gehabt, mit dem habe er alle Gedanken geteilt, und seit der tot sei, bleibe für ihn die Welt leer und kalt, denn er brauche einen Menschen, von dem er zehren könne, und für sich allein sei er nur ein Schemen. Hans solle das nicht für Eitelkeit halten, wenn er ihm solche Geständnisse mache, denn ihm sei es gleich, daß er gerade zuhöre, nur habe er ein Bedürfnis, zu irgendeinem Menschen zu sprechen.

Ein Mädchen setzte sich an den Tisch der beiden, indem sie ihnen den Rücken drehte, und es fiel Hansen auf, wie durch die dünne Seidenbluse sich die Bewegungen ihrer Schulterblätter bemerkbar machten bei den Gesten, durch die sie einen Eindruck in einem verschlafenen jungen Menschen erwecken wollte, der in ihrer Nähe saß. Krechtings Augen waren wunderlich trübe geworden, wie er sie auf den Rücken des Mädchens geheftet hielt; und indem sein Gesicht eine große Anstrengung des Überlegens aufwies, fuhr er fort, daß er den Russen beneide, trotzdem der ein unreinlicher Mensch sei, ein Stück Heiliger, ein Stück Narr und ein Stück Schuft; aber dem sei es doch möglich geworden, sich die letzten Zwecke zu verschleiern durch seine sozialistischen Banalitäten, und dadurch sei der glücklich; er jedoch, Krechting, könne sich nicht blind machen, denn er wisse, daß es ein Ziel geben müsse jenseits des banalen Glückes für sich selbst oder für andre; aber er vermöge nicht zu erkunden, welcher Art und Natur dieses Ziel sei, denn er sei kein vollständiger Mensch und ihm fehle irgend etwas, das sein Jugendfreund gehabt, und den habe er verzehren müssen. Indem fühlte das Mädchen die Augen Krechtings im Rücken, drehte sich um und lächelte den beiden zu. Über Hansen kam ein Schauer als vor etwas Grausigem und Gespensterhaftem; eilig stand er auf, entschuldigte sich verwirrt und ging fort, denn es war ihm plötzlich gewesen, als sehe er zwei leblose Masken und als sei Vernichtung und Nichtsein hinter dem gedankenlosen Lächeln der Dirne und hinter den trüben Augen und den gespannten Zügen Krechtings.

Lange irrte er noch durch die Straßen, die bereits wieder lebendig wurden durch die Menschen, welche in der Frühe ihre Geschäfte betreiben müssen, bis er endlich todmüde war, und seine Gedanken waren gänzlich verschwunden; so ging er nach Hause und legte sich zu unruhigem Schlaf. Aus dem erweckte ihn am andern Morgen Heller, der unerwartet zu ihm kam; und indem er auch im Schlummer noch unter dem Eindruck des Abends gestanden, fuhr er erschreckt in die Höhe durch den Anruf des Besuchers.

Heller begann damit, daß man vor wichtigen Entscheidungen des Lebens das Bedürfnis habe, sich einem Freunde mitzuteilen, weniger, um dessen Rat einzuholen, denn ein jeder tue ja doch, was er schon vorher gewollt habe, als um selbst zur Klarheit des Willens zu kommen durch die Aussprache. Nach dieser Einleitung erzählte er, daß Helene, die er gestern zum ersten Male gesehen, einen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht habe, vornehmlich durch eine gewisse Kühnheit und Überlegenheit des Willens, die er in ihren Zügen bemerkt, wozu dann noch der Gedanke gekommen sei, daß sie sich dieselben Gedanken errungen habe, die er selbst vertrete und voraussichtlich, denn ganz sicher könne man ja nie wissen, ob man seine Meinungen nicht ändern werde mit den älter werdenden Jahren, auch immer vertreten werde; und sei sein Geist so sehr mit diesem allen beschäftigt gewesen, daß er wohl gemerkt, dieses seien die Anfänge der Liebe. Nun halte er es für eine große Verschwendung von Kraft, wenn sich jemand einem solchen Gefühl hingebe, das durch die Zeit und die Hoffnung immer stärker werde, und dann vielleicht am Ende erfahre, daß die geliebte Dame seine Gefühle gar nicht erwidern könne oder möge; denn nicht nur die Zeit, die in der Hoffnung verbracht, sei alsdann für eine andere Tätigkeit verloren, die vielleicht mehr beglückt hätte, und wir sollten doch immer in unserm Leben das größte Glück zu erringen suchen, das uns möglich sei, ohne unsern Mitmenschen zu schädigen; sondern auch nachher, wenn er die Enttäuschung gehabt, komme eine verlorene Zeit, die je nach der Persönlichkeit des Betreffenden länger oder kürzer sei, in der einer sich nicht glücklich fühle und für alles andre unzugänglich bleibe. Aus diesen Gründen habe er sich entschlossen, schon jetzt dem Fräulein seine Gefühle zu entdecken, obgleich dieselben noch gar nicht bis zur Liebe gediehen seien, sondern nur die Möglichkeit böten, daß sich aus ihnen Liebe entwickle, welches er ihr genau und psychologisch auseinandersetzen werde, und sie dann nur fragen, ob sie meine, daß unter Umständen, wenn nämlich er sich so entwickle wie er denke, auch sie sich so entwickeln werde, daß sie seine Liebe erwidern könne; über das sie ihm ja wohl keine ganz sichere Antwort geben werde, denn durchaus Gewisses vermöge in psychologischen Dingen kein Mensch zu sagen; aber einen ungefähren Anhalt könne sie ihm wohl bieten. Sollte alsdann die Antwort so ausfallen, wie er annehme, so wolle er ihr vorschlagen, daß sie öfters zusammenkämen, vielleicht eine Stunde täglich, und in dieser Zeit wollten sie über Literatur, Psychologie oder Sozialismus sprechen, wobei sie sich dann genauer kennen lernen würden, und so werde sich ihre Liebe nicht in phantastischer Weise entwickeln, sondern in genauem Zusammenhang mit der Wirklichkeit und den beiderseitigen psychologischen Tatsachen.

Dieser Plan erschien Hansen sehr schön und würdig solcher neuen und vollkommenen Menschen, wie Heller und Helene waren, deshalb lobte er ihn sehr und wunderte sich viel im Innern über die Menschenkenntnis und Klugheit seines Freundes. Da er aber durch seine häusliche Erziehung gewöhnt war, immer an die notwendigen Unterlagen des Lebens zu denken, so fragte er, wie der Freund sich nun seine Absichten weiter ausgedacht habe, wenn alles so eintreffe, nämlich er zu Helene und Helene zu ihm eine Zuneigung fasse.

Hierauf erwiderte Heller, daß allerdings an eine bürgerliche Ehe nicht zu denken sei, indessen könnten sie beide als gleichberechtigte und freie Menschen einen Vertrag abschließen, da sie ja ihre Gesinnungen hätten, und er selbst verdiene durch Stunden, die er Gymnasiasten gebe, so viel, daß er seinen eigenen Lebensunterhalt bestreite, und Helene habe gleichfalls ihr Auskommen, da sie einen Beruf und eine Stellung habe; indem sie aber zusammenlebten, würden sie in manchem noch sparsamer wirtschaften wie jetzt jeder einzelne, wie sich ja im kleinsten schon der Vorteil des Großbetriebes erweise; so würden sie zum Beispiel das Mittagessen zwar wie vorher in einer Gastwirtschaft zu sich nehmen, aber das Abendessen würden sie sich zu Hause bereiten, wobei sie nicht nur mehr Glücksempfindungen in sich auslösen könnten, sondern auch sehr viel sparen. Nach diesem fuhr er fort, was Hans in seiner Antwort noch gar nicht beachtet habe, das sei, daß hier einmal eine der seltenen Gelegenheiten gegeben werde, wo zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes in durchaus sittlicher Weise zusammenleben könnten. Denn in der auf Unterdrückung und Ausbeutung beruhenden bürgerlichen Ehe, wie wir wissen, ist ein wirtschaftlicher Zwang da für die Frau, daß sie beim Manne bleibt, auch wenn sie aufgehört hat, ihn zu lieben, denn sie würde ohne Unterhalt sein, wenn sie von ihm ginge. Dagegen in dem vorliegenden Falle halte nur die Liebe die beiden Gatten zusammen, und wenn bei dem einen das Gefühl erlösche, das doch das Natürliche sei, weil alle unsere Gefühle eine Kurve beschreiben bis zu einer Höhe und von da wieder bis zum Nullpunkt, so könne dieser dem andern ruhig seinen Zustand enthüllen, und die Trennung des Verhältnisses, das alsdann ja unsittlich sein werde, sei sehr leicht.

Nachdem Heller sich durch seine Erzählung und Darlegung Klarheit über seine Absichten verschafft, machte er sich gleich ans Werk, seinen Plan durchzusetzen, ging zu der Speisewirtschaft, wo Helene in ihrer Mittagspause ihr Essen einnahm, und traf sie dort allein an einem Tische sitzend. Es war eine Wirtschaft, wo man für billiges Geld ißt, und die Tischtücher hatten viele Flecken, und ein häßlicher Geruch war in der Luft, und eilfertige Kellner liefen hin und her, indem sie ein großes Klappern mit den Tellern machten.

Wie Heller seine Rede ungefähr in der Art vortrug, mit der er zu Hansen gesprochen hatte, wurde Helene ziemlich verlegen, denn in Wirklichkeit wußte sie gar nichts von den Ansichten, die er bei ihr voraussetzte, und hatte nur öfters über manche Reden ihres Bruders lustig gelacht, der jetzt im Gefängnis war, denn sie hielt den für etwas töricht. Nun verstand sie zwar nicht alles von dem, was Heller ihr erklärte, und wußte auch nicht recht, welche Absichten er ihr ausdrücken wollte, weil sie aber sich nie andres gedacht hatte, als daß sie einmal nach ihres Kreises Sitte heiraten werde, etwa einen elegant gekleideten Geschäftsreisenden, der ihr jeden Sonntagvormittag einen Blumenstrauß schickte, solange sie mit ihm verlobt war, so fand sie doch aus der Verwirrung heraus, daß Heller sich mit ihr verloben wolle, aber das solle noch eine Weile geheim bleiben. Deshalb sagte sie unter häufigem Stocken ihrer Rede, sie könne ihm auf seinen Antrag nicht recht antworten und wolle sich das überlegen, was er gesagt habe; denn da er ein Student war und ihr feiner erschien wie ein Kaufmann, so hatte sie wohl eine gewisse Zuneigung zu ihm. Auf diese Worte erwiderte Heller, daß er keinen andern Bescheid gehofft habe, und sehr zufrieden mit diesem sei; nur bitte er sie alsdann, daß er sie nun täglich zu einer bestimmten Stunde besuchen dürfe. Auf dieses antwortete Helene, daß ihr Bruder, mit dem sie zusammenlebte, augenblicklich nicht auf einer Geschäftsreise war, und sie verbrächten die Abende immer zusammen in ihrer Stube, und wenn es ihm recht sei, so würden sie beide sich sehr freuen, wenn er sie da besuche; sobald ihr Bruder aber reise, was in etwa zwei Wochen geschehe, weil da die Saison für den Einkauf der Schweineborsten anfange, so dürfe er nicht mehr kommen, weil sie alsdann allein bleibe, und die Leute würden ihr Übles nachreden, wenn sie ohne Beschützer seinen Besuch empfinge, obwohl er ja ein gebildeter Mann sei. Zwar schien diese Rede Heller nicht ganz das zu sein, was er gemeint hatte, trotzdem aber war er voller Freude und Hoffnung, verabschiedete sich von ihr mit Liebe und erwartete mit Zuversicht den Abend. Unterdessen besuchte Hans den Bruder Helenens, der Kurt hieß, und tat das nicht aus einer besonderen Zuneigung, sondern aus Bescheidenheit, weil er gern die andern näher kennen wollte und doch nicht wagte, an sie heranzutreten, mit Kurt aber hatte er an dem Abend manches besprochen. Er traf ihn im Geschäft in einem kleinen Stübchen, wo er einem Arbeitsgenossen gegenüber an einem Schreibpult stand und an Geschäftsbriefen schrieb. Im Zimmer war nur noch der Telephonkasten und ein großer Geldschrank, in dessen offener Tür steckte der Schlüssel, und an dem Bund hingen noch andre Schlüssel. Es war die Zeit der Mittagspause, und wie Kurt Hansen begrüßte, richtete sich auch der andre Herr von seiner Arbeit auf, schloß den Geldschrank ab und steckte die Schlüssel in die Tasche und bereitete sich zum Essen. Kurt sagte ihm, er werde noch einmal ein Unglück erleben, wenn er die sämtlichen Geschäftsschlüssel, von der Haustür angefangen bis zum Geldschrank, so leichtsinnig behandle. Inzwischen machte auch er sich straßenfertig und wanderte mit Hans zu der Wirtschaft, wo die beiden zusammen Mittag essen wollten. Wiewohl Hans zu Kurt keinerlei geistige Verwandtschaft spürte, wurde er in der Folge doch weiter mit ihm bekannt, und weil seine Wohnung nicht weitab vom Geschäft des andern lag, so machte es sich wie von selbst, daß er ihn öfters zum Mittagessen abholte, bei dem sie dann über allerhand gleichgültige Dinge mit einer gewissen Behaglichkeit redeten. Auch den Besitzer des Geschäftes lernte Hans kennen, der ein recht wunderlicher und altväterischer Mann jüdischer Abkunft war, welcher zu Hause unterdrückt wurde durch seine Frau; die hatte allerhand Bildungsinteressen und ließ ein verstiegenes Wesen schauen. Diese traf Hansen einmal im Geschäft, redete ihn an, und nachdem sie schnell allerhand aus ihm herausgefragt, lud sie ihn zu sich ein, weil er ihren Kindern Freude machen werde. Sie hatte eine hohe Haarfrisur und rauschte stattlich mit einem schwarzseidenen Kleide in dem engen Raume. Unterdessen nahm Hellers Liebschaft ihren weiteren Verlauf. Er war mit Zolas Buch über den Experimentalroman angekommen und hatte den Geschwistern vorgelesen und erklärt, was für Kurt zwar recht langweilig war, aber Helene faßte eine stärkere Zuneigung zu ihm, wiewohl auch sie nur wenig von dem begriff, was er vortrug; und da einem Verliebten solche Zuneigung nicht verborgen bleiben kann, so kamen die beiden bald zu einer Aussprache, wobei Helene jedoch immer noch in ihrem Irrtum verharrte, daß es sich bei Heller um regelmäßige und bürgerliche Absichten handle. Unter solchen Umständen, und da ihr schien, als wolle Heller aus Zartgefühl nicht mit ihren Eltern reden wegen der Handlungsweise ihres Vaters, ging sie zu ihrer Mutter, um der ihr Herz auszuschütten und ihren Rat einzuholen, und die, welche niemand aus dem ganzen Kreise kannte und sich keine rechte Vorstellung von allem machen konnte, teilte alles dem Vater mit. Dieser war zwar im Grunde einverstanden mit Helenens Wahl, weil er dachte, daß ein Studierter, wenn er erst angestellt sei, ein angesehenes Amt und sicheres Einkommen habe; aber weil er über Hellers Studien und Aussichten nichts wußte, so beschloß er, seine Zustimmung erst noch zurückzuhalten und vorerst den Bewerber um alles zu fragen, was ihm nötig erschien.

Er kam deshalb am Sonntagvormittag im Besuchsanzug und mit dem Zylinder, der von sehr alter Form war, in Hellers Wohnung und begann in freundlicher Weise mit dem zu reden, indem er Helene lobte und erzählte, daß er selbst immer sehr viel Sinn für Bildung gehabt habe und auch das Konversationslexikon in Lieferungen beziehe, und für eine Ehe sei natürlich das Wesentliche gegenseitige Liebe und Hochachtung, er aber als Vater habe doch die Verpflichtung, außerdem noch einen Punkt zu bedenken; und bei diesen Worten machte er die Gebärde des Geldzählens und sah Heller erwartungsvoll an. Der war recht verlegen über das Mißverständnis und schwieg, denn es fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können. Der Alte schob sein Schweigen auf die natürliche Schüchternheit eines jungen Mannes, der vor dem Vater seiner Braut steht, wollte ihn zutraulich machen und sprach deshalb weiter, indem er die Macht der Bildung rühmte und die Neuzeit lobte, welche die Bildung auch dem Volke zugänglich mache, wodurch Aberglaube und schlechte Sitten ausgerottet würden. Wie er sich bei dieser Gelegenheit erkundigte, welchem Studium sich Heller im besonderen zugewendet habe, fand der eine Möglichkeit, aus seinem peinlichen Schweigen herauszukommen, indem er ausführlich erklärte, daß er ursprünglich Theologe gewesen sei, aber nachdem er sich aus seinen ersten Ansichten heraus entwickelt habe, so verzichte er jetzt auf das theologische Studium und wolle zunächst seine Persönlichkeit bilden dadurch, daß er die verschiedensten Dinge auf sich wirken lasse. Hierüber wiegte der Alte den Kopf und hielt ihm entgegen, daß doch die theologische Laufbahn sehr viele Vorteile biete, besonders indem ein junger Mann in ihr rasch zu Brot komme, was eine sehr wichtige Sache sei, zumal wenn einer daran denke, einen Hausstand zu gründen. Hierauf sprach Heller wieder von seinen Überzeugungen, und der Vater im schwarzen Rock wurde hingegen noch dringender mit den Anspielungen auf die künftigen Erwerbsverhältnisse; da erschien es Heller plötzlich als eine Rettung, wenn er diese als recht schlecht hinstellte, und so erzählte er, daß er nicht gesonnen sei, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, sondern er gedenke vornehmlich für seine Ansichten zu wirken.

Nachdem der Streich mit der Übergabe der verbotenen Schriften so übel abgelaufen war, hatte der Alte seine Sicherheit verloren, und deshalb, wiewohl er aus allem verspürte, daß Hellers Absichten und Verhältnisse ganz anderer Art waren, wie er gedacht, wurde er doch nicht ärgerlich, wie ihm wohl sonst geschehen wäre, sondern er machte ein bekümmertes Gesicht, seufzte, und gab Heller die Hand zum Abschied, indem er sagte, die Welt sei heute anders wie früher, und ein Vater mit erwachsenen Kindern habe viele Sorgen; er vertraue aber Heller, daß er nicht schlecht an seiner Tochter handeln werde; darauf ging das alte Männchen unter vielem Dienern aus der Tür.

Nach diesem Besuch dachte Heller in einer neuen Gesinnung über seine Liebe nach und kam zu dem Schluß, daß bei dem Verhältnis doch auf beiden Seiten ein Irrtum gewaltet habe, indem Helene eigentlich noch gänzlich in den bürgerlichen Anschauungen befangen war und sich nicht, wie er vorher gemeint, zu den modernen Ideen durchgerungen hatte, und ihn auch nicht richtig verstanden hatte, und auch sie hatte sich etwas andres von ihm gedacht. Dazu kamen psychologische Erwägungen, denn es war ihm nicht entgangen, daß sie in ihrem Anzuge sehr ordentlich, aber recht einfach war und keinerlei Reiz entfaltete, wo doch offenbar ein Mädchen, wenn es liebt, den Wunsch hat, dem Mann auf jede mögliche Weise, namentlich aber durch den Anzug, zu gefallen; deshalb, wenn sie in Wahrheit eine Neigung für ihn hätte, so müßte sich ihr Gefühl irgendwie in kleinen Koketterien der Haartracht, oder eines einfachen Schmuckes, oder einer gefälligen Bluse, oder sonstwie äußern, aber weil nichts dergleichen geschehen, so mußte er zu dem Schluß kommen, daß ihre Zuneigung zu ihm nur auf einem Irrtum beruhte, der ja erklärlich war, daß sie unter ihren eigentümlichen Umständen sich das einreden konnte, sie liebe ihn, während sie vielleicht nur Achtung empfand.

Wie Heller sich das klar gemacht, beschloß er ohne Zögern so zu handeln, wie es die Umstände forderten, denn für sie beide schien es ihm das beste, wenn sie nunmehr, nachdem sie diese Einsicht gewonnen, in den gewöhnlichen Zustand zurückkehrten, in dem sie sonst gelebt hätten; deshalb schrieb er gleich in diesem Sinn an Helene einen Brief. Diese aber war sehr traurig, als sie Hellers Meinung erfuhr, und weinte heftig, denn sie dachte, daß sie durch irgend etwas seine Zuneigung verscherzt habe, prüfte alle ihre Handlungen und fand endlich als einzigen Grund, der möglich war, daß sie die Angelegenheit ihrer Mutter erzählt, und daß vielleicht von ihrem Vater Schritte geschehen seien, die ihn verletzt hatten. So ging sie zu ihren Eltern, um sich zu erkundigen, und wie sie alles gehört, machte sie unter vielen Tränen ihrem Vater heftige Vorwürfe und sagte, er habe gegen sie ebenso gehandelt wie gegen ihren Bruder, und der alte Mann geriet in große Not und versuchte sie mit allerhand Versprechungen und Liebkosungen zu beruhigen, aber sie sagte immer, ihr Leben sei zerstört, und keinerlei Trost wollte helfen. Es muß aber in solchen Fällen auf einen immer alle Schuld geworfen werden, und so vereinigte sich bald die Mutter mit der Tochter gegen den Vater, und am Ende kam Helene derart zu einer gewissen Beruhigung, weil sie beides, Vorwürfe machen und Klagen auslassen konnte. Wie Heller den üblen Erfolg seines Planes vernommen hatte, geriet er in große Verlegenheit und beschloß, daß er Helene weiterhin besuchen und scheinbar ganz in der früheren Weise mit ihr verkehren wollte, dabei aber sollte sein Zweck sein, sie sowohl durch Gründe wie durch Erregung von Stimmungen zu andern Gefühlen zu bringen, so daß sie ihre gefaßte Liebe vergäße. Indem er nach diesem neuen Plan handelte, geschah es indessen, daß die beiden als zwei junge und harmlose Leute sich immer weiter in dem Netz der Liebe verstrickten; und wie es öfter geschieht, so kam es auch hier dazu, daß der weibliche Teil schnell ein Übergewicht erhielt, nachdem erst einmal eine gewisse Klarheit in den Beziehungen eingetreten war, und da Helene als ein braves und ordentliches Wesen keine Neigungen für Hellers neue Theorien aufwies, so endeten die beiden zuletzt mit einer gewöhnlichen und bürgerlichen Verlobung. Und dieses Ende machte zwar Heller manche Unruhe, denn er vermochte nur schwer seine Gedanken auf solche unerwartete Handlungsweise einzurichten, im Grunde aber hatte er doch ein großes Glück durch diesen Ausgang, denn nun wurde seinem Bedenken und Reden ein Schluß gemacht, und er mußte sich auf einen Broterwerb einrichten, was für einen solchen Mann doch nötig ist, sonst wird er mit den Jahren anstatt klüger, immer läppischer, und zuletzt gelangt er vielleicht sogar zu Bösartigkeit.

Diese geschilderte Entwicklung von Hellers Liebe ging naturgemäß in einem längeren Zeitraum vor sich, währenddessen unser Held Hans verschiedenes kennen lernte, von dem er vieles noch nicht gewußt. Die Berichte Hellers vom Fortgang seiner Geschichte hörte er zuletzt mit Kopfschütteln an, denn wiewohl der andre älter war wie er, kamen ihm doch jetzt Bedenken über ihn, und er schätzte ihn nicht mehr so sehr hoch wie anfangs. Da sich eine solche Wandlung aus der größten Hochachtung nicht verbergen läßt, so verspürte sie Heller wohl, und indem er durch sie an einer Stelle getroffen wurde, wo er am leichtesten verwundbar war, nämlich in der besonderen Achtung, die er vor sich selbst hatte, so wurde er merklich kühler. Hans aber wurde inzwischen durch die Zufälle solcher unbestimmten Situationen des Lebens, wie er sich jetzt befand, zu einem weiteren Verkehr mit Krechting getrieben und zu einer Bekanntschaft in der Familie von Kurts Herrn.

 

Über diesen Geschäftsmann und seine Frau ist nichts Wichtiges zu sagen, denn sie sind ganz gleichgültige bürgerliche Personen gewesen. Der Mann hatte sich von unten in die Höhe gearbeitet, und weil er nicht Zeit gehabt, bei steigendem Wohlstand sich geistig weiterzuentwickeln, so hatte er nun immer ein Gefühl der Scheu und Befangenheit in seinem neuen gesellschaftlichen Leben; dazu hatte er seine alten Gewohnheiten zum Teil beibehalten, die er als ganz armer Mensch gehabt, und hielt viel von dem alten Aberglauben fest, der sich bei den Juden aus dem Osten untrennbar mit ihrer Religion gemischt hat. Dergestalt trat er in seinem Hause nicht hervor, denn die Frau, die er geheiratet, als er schon wohlhabend war, mochte im Grunde wohl auch nicht mehr Bildung besitzen wie er, hatte sich aber die äußeren Formen angeeignet und zeigte eine verwirrte Freundschaft zu vielen unzusammenhängenden Dingen, mit denen man sich in der gebildeten Gesellschaft beschäftigt, und leitete nach diesen Wünschen das Haus.

Unter solchen Verhältnissen waren zwei gute und brave Kinder aufgewachsen, ein Sohn und eine Tochter, und hatte der Sohn, der jetzt ein junger Student war wie Hans, schon von Kindheit an eine sonderbare Neigung für ganz entlegene Gelehrsamkeit gehabt und vermochte es durchzusetzen bei dem bekümmerten Vater, der in seines Herzens Grunde alle Leute, die nicht viel Geld verdienen, trotz vieler Mühe zum Gegenteil für dumm halten mußte, daß er Vorlesungen über orientalische Sprachen hören durfte; die Tochter aber, die vor Fremden Luise genannt wurde, war ein fünfzehnjähriges Mädchen von früher Entwicklung, die eine große Liebe für die Dichtung aufwies. Bei diesen Leuten war Krechting sehr bekannt, und als Hans hier das erstemal einen Besuch machte, mit großer Schüchternheit, und empfangen von einem erstickten Lachen der lustigen Luise, da traf er den dort an.

Krechting war gleichfalls jüdischer Abkunft und mochte damals achtundzwanzig Jahre zählen. Vor etwa zehn Jahren war er als Student nach Berlin gekommen und hatte sich einer Gesellschaft gleichalteriger Schriftsteller angeschlossen, in der er nach kurzem berühmt geworden als ein Dichter von ganz besonderer Begabung, indem er auf eine neue und unerhörte Art sah und darstellte. Dann hatte er ein Büchlein drucken lassen, und weil dieses gerade in die Zeit kam, wo immer Neues sich ablöste, und die Kunstrichter, einmal aus ihrer alten Ruhe geschreckt, gegen sich mißtrauisch geworden waren und begannen, alles Neue und Unerhörte ebenso hoch zu preisen, wie sie es bis vor kurzem verhöhnt hatten, so fehlte es ihm nicht, und der verwachsene junge Mann wurde als der Begründer einer besonderen Richtung gepriesen und als ein solcher sogleich den übrigen jungen Größen der Dichtkunst beigezählt. Seit dieser Zeit aber hatte er kein weiteres Buch geschrieben; und zwar folgten ihm nun andere Neutöner und wurden neben ihn gestellt, aber sein Name war befestigt und blieb, gerade durch sein Schweigen, indem die Leute zwar mehr und mehr vergaßen, was er eigentlich damals gesagt hatte. Dann sammelte von den jüngeren Kunstrichtern, die zu jener Zeit den Ton angegeben, allmählich einer nach dem andern seine Aufsätze, und in jeder solcher Sammlung war auch ein Aufsatz über ihn, darauf erschienen zusammenhängende Bücher über die geistige Bewegung jener Zeit, und in jedem hatte er eine besondere Stelle; und so bekam sein Ruhm bereits eine gewisse geschichtliche Art, und war anzunehmen, daß man auch weiterhin über ihn schreiben werde wie bis jetzt, und nach langer Zeit, etwa einige fünfzig Jahre später, würde dann ein jüngerer Gelehrter Quellenstudien über sein Leben machen, seine Briefe herausgeben und auch sein alsdann sehr selten gewordenes Buch (denn nur wenige Abzüge waren verkauft) neu drucken lassen.

Seine Eltern hatten ihn nach Berlin geschickt, damit er Rechtswissenschaft studiere und dann Anwalt werde und als solcher einen großen Namen bekomme und viel Geld verdiene, er aber hatte das Berufsstudium bald aufgegeben und allerlei anderes getrieben, um seine Persönlichkeit auszubilden. Da er von ärmlichem Herkommen war, so blieben endlich die Zuschüsse von zu Hause aus, und indem er trotz seiner Berühmtheit und seiner vielen und verschiedenen Kenntnisse und Fähigkeiten doch nicht viel verdienen konnte, außer etwas Geringes durch Musikstunden, so gelangte er zu der Meinung über sein Schicksal, die er mit der Redewendung ausdrückte, er sei unter den Frachtwagen gekommen. Den meisten Menschen war es wunderbar, wie er sich zu ernähren vermochte, indessen hatte er sich doch immer durchgeschlagen bis jetzt, vornehmlich durch Bekanntschaft in wohlhabenden Kaufmannsfamilien, dann durch Unterstützungen, die er sich so geschickt zu verschaffen wußte, daß sie nicht kleinlicher Art waren und von vielen kamen, denn geringe Summen, die er geliehen, zahlte er pünktlich zurück.

Unter solchen Umständen hatte er jene zehn Jahre verbracht, die in eine wichtige Lebenszeit fielen, wo sich Wesentliches im Menschen bildet. Als er noch Kind war, machte einmal auf ihn eine Stelle aus dem Talmud einen besonderen Eindruck, wo geschrieben stand: Wer eine gerechte Handlung tut, ist ein Geselle Gottes in der Weltschöpfung. Solange er an Gott glaubte, hatte er diesen Gedanken als seinen Mittelpunkt, und seinetwegen glaubte er später nicht mehr an Gott, denn solches Wort ist ja nur ein mythischer Ausdruck der Gottlosigkeit, die aus dem Hochmut kommt. Deshalb hatte er nachher überhaupt keinen Mittelpunkt mehr für sein Selbst, und das einzige Feste in ihm war der Hochmut. Seiner Eltern schämte er sich bald, die ordentliche Leute waren nach ihres Volkes Art, denn er schämte sich auch seines Volkes, ja er legte den Namen seiner Eltern ab und nahm einen fremden an. Dabei fühlte er aber wohl, daß er immer mit sich tragen mußte, was er hierdurch fliehen wollte, nämlich das Erbteil der Schlechtesten unter ihm, den Sinn eines frechen Knechtes. Dem hatte das Schmarotzerleben seine besondere Farbe gegeben, indem es seine innere Verlogenheit so vergrößerte, daß er endlich selbst bei ganz unmittelbaren Äußerungen seines Gefühls nicht mehr wußte, ob es wahr sei. So kam es, daß er scheinbar unvereinbare Eigenschaften vereinigt, nämlich Bosheit und Empfindsamkeit. Etwa, als er einmal nach seiner Weise über sich selbst, seine Figur und seine Art bei diesen bürgerlichen Leuten Späße gemacht hatte und sich umblickte mit unruhigen Augen, um ganz die Wollust seiner Hanswurstdemütigung zu genießen, sah er die kleine Luise mit unmutigen Tränen kämpfen zwischen den lachenden und sich schüttelnden Menschen, denn einem edlen Herzen mag solche Niedertracht als eine bittere Kränkung seiner selbst erscheinen; da trieb ihn die Bosheit, sich immer mehr preiszugeben, und weil er zufällig Schillers Schrift über die Schaubühne als sittliche Erziehungsanstalt bei ihr gesehen, so zog er auch Gedanken aus dieser Schrift mit in seine Gemeinheit; hier ging das Mädchen aus dem Zimmer, mit krummem Rücken, und als er diese Bewegung eines unschuldigen und hochgesinnten Kindes sah, hörte plötzlich die Bosheit auf zu wirken, und über ein jammervolles Bedauern mit sich selbst hinweg gelangte er in eine empfindsame Stimmung, schlich dem weinenden Kinde nach, legte seinen Arm um sie, die sich zornig sträubte, und weinte mit ihr.

Außer jenen Leuten, wo er Parasit war, hatte er zwei Arten von Freunden und Bekannten. Die erste Klasse waren seine Altersgenossen, gleich ihm Zerstörte oder Gescheiterte, Menschen mit Instinkten, die gegen sie selbst gerichtet waren, die große Worte machten und an ihnen zweifelten, ja sie selbst verlachten, wenn man sie nur fest ansah, Menschen mit unruhigen Augen und Vogelprofilen, ungleichem Gang und verwirrtem Sprechen, liederlich und schmutzig angezogen; und die meinten, sie seien die Herren des geistigen Lebens, und über alle war in jenen Aufsatzsammlungen und Geschichtswerken geschrieben, und untereinander verachteten, haßten und verleumdeten sie sich. Die zweite Klasse bestand aus ganz jungen Leuten, nämlich treuherzigen Studenten, reichen Jünglingen und unruhigen Menschen von allerlei Begabung, die hochkommen wollten, das heißt zu einer Stellung, wie die erste Klasse sie hatte. Und diesen Männern entsprachen die Mädchen und Frauen des Kreises. Mit unordentlichem Haar und schlecht sitzenden Blusen waren sie zwischen den Männern und redeten mit denen ohne Scheu. Alle diese Menschen wähnten frei zu sein, aber sie waren nur losgekettet von den Banden, in denen die Gesellschaft die Schwachen hält, und hatten sich schnell härtere Fesseln selbst geschaffen durch ihre leichtfertige und unbehütete erste Jugend. Nach jenem Vorfall mit Luise geschah es, wie Krechting das nächste Mal zu ihren Eltern kam, daß sie verwirrt war und gab ihm die Hand nicht zur Begrüßung. Er rief: „Und Sie geben mir die Hand nicht?“ Sie sah ihn unwillig an und legte flüchtig ihre Hand in seine; die war ganz kalt vor Aufregung. Da wurde er verlegen und begann sehr schnell zu reden, vom Wetter und den vielen Leuten auf der Straße, und sie lachte und lief aus der Tür, daß die Mutter tadelnd hinter ihr her rief und sie entschuldigte. Als er allein mit ihr war, sprach er ganz anders, wie er sich vorgenommen. Er wußte, daß sie eine schwärmerische Vorstellung von ihm hatte als von einem reinen und edlen Dichter, und daß er für sie ein Ideal war, wie sich junge Mädchen oft aus der Unschuld und Größe ihres Herzens ein Bild schaffen, das sie einem beliebigen Mann vorhängen, ihrem Lehrer, oder einem jungen Offizier, einem Schauspieler oder ähnlichen. Mit spöttischem Hohn hatte er bei sich hierauf ein Gespräch aufgebaut; aber wie sie nun jetzt schüchtern und demütig vor ihm saß, fühlte er unerwartet Mitleiden mit sich selbst, und um das zu unterdrücken, fing er gleich mit Reden an, die noch mehr gelogen waren wie seine beabsichtigten Lügen und zugleich so ungeschickt in Beziehung auf das Kindchen, daß dieses gar nichts zu antworten wußte und immer nur dasaß mit gesenktem Köpfchen, und er fühlte dann einen Zwang, immer weiterzureden, daß er immer läppischer wurde. Er sprach: „Sie müssen mich sehr verachten, daß ich so über mich selbst spotte und auch über Schiller, aber diese beiden Dichter verehre ich am höchsten, nämlich mich und Schiller, und welchen Sinn hätten Götterbilder, wenn man sie nicht von ihren Sockeln stürzte? Und haben Sie nicht schon bemerkt, daß man ein eigenes Machtgefühl bekommt, wenn man sich selbst der Verachtung preisgegeben hat und sieht die Gesichter der Höflichen ringsum, die ihren Ausdruck zu Liebenswürdigkeit zwingen? Daß das Gefühl mehr wert ist wie sein Gegenstand, wissen Sie am besten“ — hier spürte er herzklopfend seine Schamlosigkeit wie die eines dritten — „nämlich aus der Liebe. Und ich will nicht Macht, ich will nicht Liebe, ich will nur den flüchtigen Rausch einer Sekunde genießen, denn dieser enthält alles Wertvolle aus ihnen; jeder Besitz ist Enttäuschung, deshalb lebe ich als Chambregarnist nicht nur mit meinem physischen Menschen ...“

Luise war aufgestanden, schwer wurde ihr das Sprechen. „Sie sind so unglücklich“, sagte sie schamhaft; er spürte plötzlich ihre Lippen auf seiner Stirn wie einen kühlen Hauch; dann war sie unversehens aus dem Zimmer. Da kam Scham über ihn, und er wußte nicht, daß er sich nach ihr sehnte, so zerstört war er, daß er das nicht wußte. Hans wurde um eben jene Zeit mit der Familie befreundet, als sich diese Dinge abspielten. So erlebte er auch den weiteren Verlauf.

Zu Krechtings größerem Kreise gehörte ein junger Dichter, den wir hier Peter nennen wollen; den hatte er schon vor langem mit der Familie bekannt gemacht, und war der merkwürdigerweise der einzige von den jungen Genies der Frau, zu welchem der Mann in eine Art von Beziehung geriet, indem er nämlich gelegentlich kleine Scherze über ihn machte, die der harmlos erwiderte, denn in so verschiedenen Welten lebten die beiden, daß sie sich gar nicht kränken konnten.

Peter war gleichfalls vor etwa zehn Jahren nach Berlin gekommen, in einer freilich unbekannten Absicht, und hatte eine Anzahl seltsam ungeschickter und kindischer Gedichte mitgebracht, die recht töricht schienen, wenn man sie für sich las, obschon zwar aus dem wirren und gleichgültigen Zeug zuweilen einmal ein Wort, besonders ein Beiwort oder ein Satz auffiel, der dem Leser ans Herz rühren mochte. Las er aber selbst vor, so bekamen diese schülerhaften Reime ein ganz neues Leben, denn seine guten und sanften Augen leuchteten, und sein Gesicht hatte einen Schein von innen heraus, und die abgenutzten Worte und Wendungen erhielten ein frühlingsmäßiges und feines Gefühl. Dann sagte jeder lächelnd: „Er ist ein großes Kind“, aber alle wurden sonderbar froh, glücklich und gut, als wenn seine bescheidene Seele mächtig geworden wäre über sie, und lächelten auch über ihn und dachten: ‚Er ist doch ein Dichter‘; und das war mit einer Freude empfunden, wie gegenüber einem kleinen Kinde geschieht.

Auch dieser Jüngling hatte in jenen früheren Zeiten sein Bändchen herausgegeben; nur kein Kritiker beachtete es, weder in feindlicher noch in freundlicher Gesinnung, und so schrieb niemand etwas über seine Gedichte; aber alle jene scharfsinnigen und klugen Schriftsteller liebten ihn und sagten: „Er ist doch ein Dichter“, oder sie sagten: „Er ist ein großes Kind.“ Und so lebte auch er zehn Jahre lang in einer Weise, die sich keiner erklären konnte, denn niemand nahm und druckte seine Arbeiten, und er borgte von niemand, außer etwa einmal eine rührende Kleinigkeit, zehn oder zwanzig Pfennige. Es fand sich aber, daß er Unterkunft hatte bei ganz armen Leuten, bei denen er als Student gewohnt; die gönnten ihm ein Plätzchen umsonst, am Tage auf einem Stuhl in der Werkstatt, denn der Mann war Schuhmacher, und des Nachts in der Küche in einer alten eisernen Bettstatt, die am Tage zusammengeklappt wurde; sein weniges Essen aber fand er bei Freunden, wenn er die zur Abendbrotzeit besuchte, oder die Schuhmachersleute gaben ihm auch wohl von ihrer Suppe ab. Weil der nun in seiner Armut unterstützt werden sollte und ihm doch niemand ein Almosen bieten mochte, so war er von der Frau angenommen, der Tochter und einigen ihrer Freundinnen Unterricht in der Literatur zu erteilen, wodurch er dreißig Mark im Monat verdiente; und weil er seit langen Jahren nicht so viel Geld gehabt hatte, so schöpfte er jetzt neue Zuversicht und hatte neue Kraft zu schaffen, sagte auch, wie wohl es einem Dichter tue, wenn er eine feste Einnahme habe, die ihn vor der Not schütze und ihm auch erlaube, sich zuweilen ein gutes Buch zu kaufen. Bei seinen Schülerinnen hätte er wohl einen recht schweren Stand gehabt, denn die hatten bald gemerkt, daß er vieles Sonderbare glaubte, was man ihm aufbinden mochte, und daß sein Urteil und Wissen in der Literaturgeschichte recht wunderlich schien; aber er merkte es gar nicht, wenn sie über ihn lachten, sondern lachte fröhlich mit, sagte auch wohl, wie gut es tue, so zwischen Jugend zu leben und ihre glückselige Heiterkeit in sein Herz aufzunehmen. Und bald entwickelte sich etwas Merkwürdiges, daß seine Schülerinnen ganz mütterliche Gefühle für ihn zu bekommen schienen, und er folgte ihnen treulich, wenn sie ihm dieses oder jenes richteten oder anbefahlen für seine Kleidung oder seine Lebensweise, und wurden die Mädchen dabei dann ganz ernsthaft und umsichtig, und zuletzt kamen sie auf den Gedanken, weil er doch ein so guter Mensch sei, wenn auch nicht ganz klug, so müsse er heiraten, weil ein solcher wie er bei den gegenwärtigen Zeiten, wo die Männer meistens selbstsüchtig und ungebildet seien, eine Frau sehr glücklich machen werde durch die Bildung seines Herzens, und er selbst müsse auch jemand haben, der für ihn sorge, aber sehr reich müsse die Frau sein, da er ja niemals viel verdienen werde. Dabei stellte sich denn heraus, daß ihn alle diese zwitschernden und lachenden Mädchen so herzlich lieb hatten, daß ihn jede genommen hätte, wenn nur die Eltern einverstanden gewesen wären: denn um seine eigene Einwilligung machten sie sich keine Sorgen.

Am nachdenksamsten aber wurde durch ihn Luise und faßte eine besondere Neigung zu ihm, und geschah das so, daß Peter einmal mit ihr allein war, und da sie zu ihm Vertrauen hatte, so erzählte sie ihm, daß in ihrer Familie etwas vorgefallen sei, wie ja öfter geschah durch den Gegensatz der beiden Eltern, und daß man ihr nichts davon mitteile. Auf diese Klage antwortete er, daß den Eltern doch viel Trost im Leben fehle, wenn sie die Kinder an ihrem Kummer nicht teilnehmen lassen, und den guten Kindern machen sie auch das Herz schwer, denn sie spüren doch von dem Unheil, aber müssen dann ihre Lust am Helfen und Trösten in ihrer Brust verschließen; das nahm sie ihm nun zwar übel, daß er sie für ein Kind hielt; aber wie er dann fortfuhr, daß den Erwachsenen die Kinder gegeben seien, damit sie besser und heiterer würden, und wie sie ihn fragte, ob er selbst durch sie besser geworden sei, lachte er freundlich und sprach: „Ja, ich habe Sie doch lieb“; da fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn, und dann lief sie schnell weg. Nach Wochen aber sagte sie ihm, daß sie ihn geküßt habe, sei geschehen, weil er doch ein erwachsener Mann sei und sie noch ganz jung, und er sei doch ihr Lehrer.

Peter teilte ihr auch mancherlei Pläne und Wünsche mit, so vor allem seinen Gedanken, eine Zeitschrift zu begründen, die nur der reinen Kunst und dem Schönen dienen solle und nicht abhängig sei von Rücksichten auf Gewinn und Verdienst, und meinte, da er selbst jetzt doch für sich eine passende Einnahme habe, die für seine Bedürfnisse genüge, so könne er die Leitung dieser Zeitschrift ohne Belohnung übernehmen, und solche Dichter, die wohlhabend seien, würden ihre Werke umsonst zum Abdruck geben, und die ärmeren Dichter müßten sehr viel bezahlt bekommen. Dann müßte sich ein Reicher finden (oder es gebe vielleicht auch mehrere reiche Leute, die der Kunst helfen wollten, man kenne sie nur nicht, und sie wüßten nicht wie, weil sie vielleicht in entlegenen Schlössern wohnten, und es sei auch noch nicht eine solche Zeitschrift da), der sehr viel Geld schenke; das müsse man dann natürlich recht sorgsam verwalten, damit auch das gewollte Ziel erreicht werde und es nicht Unwürdigen zugute komme. Wenn dann die Zeitschrift recht viele Leser habe, dann könne man das Volk zur wahren Kunst erziehen, daß es sich nicht mit den schlechten und dummen Büchern abspeisen lasse, die ihm heute gegeben würden, sondern gute Kost wolle, und dadurch würden auch wieder in Rückbeziehung die Dichter gehoben, denn die würden mehr Freude an ihrem Schaffen haben, und manche gebe es, von denen er für seinen Teil glaube, wennschon er keinen Namen nennen wolle, die gewiß Schöneres und Edleres schaffen würden, wie sie jetzt täten, wenn sie sehen, daß es seine Leser fände.

Durch solche gegenseitige Vertraulichkeit kamen sich die beiden immer näher, und wie nun in den Kindern der Plan entstanden war, daß sie Peter verheiraten wollten, so kam sie zu dem Entschluß, sie selbst wolle ihn zum Manne nehmen, wenn sie zu ihrem Alter gekommen wäre, welche Gedanken sie aber noch verschwieg aus Scham und Bedenken.

Es hatten aber die Eltern der jungen Mädchen am Ende gespürt, daß in den Literaturstunden mancher Unfug getrieben wurde, und daß die Kinder seltsame Ansichten und schlechte Kenntnisse erwarben. Hierdurch kam zuletzt Zwistigkeit und Ärger mit dem Lehrer, und so wurden am Ende die Stunden aufgekündigt, und Luise erhielt von ihrer Mutter noch außerdem viele Vorwürfe über ihre besondere Vertraulichkeit mit dem Dichter, und wurde häßlich über ihn gesprochen. Gegen solche Reden wehrte sie sich zuerst und verteidigte ihn, aber endlich, wie sie spürte, daß sie durch ihre Widerworte das Übel nur ärger machte, schwieg sie und ersann einen Plan. So erwartete sie ihn auf der Straße, sprach ihn an und sagte ihm, daß er wohl gemerkt haben werde, welche Wünsche sie habe, nämlich später einmal seine Frau zu werden; aber jetzt sei ihr das Leben bei den Ihren so unerträglich geworden, daß sie nicht mehr so lange zu Hause bleiben wolle, bis sie sich ihnen, weil sie dann ganz erwachsen sei, offenbaren könne, sondern sie wolle mit ihm von Hause fliehen. Sie würden aber sicher schon einen Ort finden, wo gute Menschen sie aufnähmen, und sie seien doch beide auch nicht hochmütig, sondern würden gern jede Arbeit übernehmen, um sich ihr Brot zu verdienen. Peter erwiderte ihr, daß das zwar sehr schwer sei, was sie vorhabe, aber wenn sie nicht mehr bei ihren Eltern bleiben könne, welches er glaube, wenn er ihrer beider Art betrachte, so wolle er ihr helfen und mit ihr entweichen, und denke er aber, sie zu seiner alten Mutter zu bringen, die weit weg in Westfalen lebe in einer kleinen Stadt und zwar recht arm sei, aber sie habe ihn sehr lieb und mache ihm nie Vorwürfe, daß er in den Augen der Welt kein großes Wesen geworden sei, wenn er ihr freilich auch immer erzählt habe, daß er viel Geld verdiene, welches man als Schriftsteller ja könne, indem mancher für einen kurzen Artikel, den er in einer Stunde schreibe, hundert Mark oder noch mehr bekomme. Dieser Mutter solle sie dann behilflich sein, weil sie nämlich außerdem, daß sie für Leute wasche, einen kleinen Laden halte mit Schreibwaren für die Schulkinder, und so könne sie ohne Sorge und in Liebe leben.

Wie das Mädchen einverstanden war, machten sie sich gleich auf den Weg nach dem Bahnhof und kauften Fahrscheine, und da sie nicht genug Geld hatten, konnten sie freilich nicht bis zum Ende fahren, aber Peter tröstete sie und sprach, daß sie nur eine ganz kurze Strecke gehen müßten, acht oder zehn Stunden, durch einen schönen Wald. Und so fuhren sie nun, und am Ende stiegen sie aus, machten sich auf die Füße und gingen; und wie sie zu dem Walde kamen und hochwipflige Bäume sie empfingen, da faßten sie sich freundlich an die Hand und schritten weiter fröhlichen Mutes wie zwei Kinder. Laub raschelte unter ihren Füßen, und hoch über ihren Köpfen bogen die Zweige sich wölbend zur Höhe, und durch grünes Laub leuchtete Sonnenschein, und Tropfen des Lichtes fielen auf den Boden voll goldbraunen Laubes. Und allerhand geheimnisvolle Märchenlaute waren da hinter den Bäumen, ein Klopfen und Zirpen, und ein leises Huschen, und ein Knistern; eine blitzende Fliege summte in einem schrägen Sonnenstrahl, und ein ganz großer Käfer flog mit tiefem Gebrumm rund um einen Baumstamm. Der Dichter erzählte von den Waldvögelchen, von den kleinen Meisen, die so klug schauen, und von den Finken, vom Zeisig und Hänfling, und von den wunderlichen Spechten, und das kleine Mädchen schmiegte sich an ihn, ängstlich und voll Liebe, und das Herz tat sich ihr auf, denn sie hatte bis dahin den Wald noch nicht gekannt, weil ihre Eltern immer mit der Eisenbahn an vornehme Orte gefahren waren, bei denen es Bäume auf Rasenplätzen gab und sorgfältig geharkte Wege.

Viele Stunden gingen die beiden, und sie wurde recht müde, denn sie war solcher Wege nicht gewohnt, er aber schritt immer freudig und zuversichtlich weiter, und deshalb mochte sie ihm nichts klagen, denn von selbst merkte er nicht ihre Ermüdung; und so kamen sie am Ende vor das kleine Städtchen, wo Peters Heimat war, und gingen durch das alte Tor die große Straße hinunter, wo neugierige Gesichter hinter blitzenden Fensterscheiben ihnen nachsahen, und in Nebengäßchen, und in einem ganz versteckten Winkel da stand ein uraltes Häuschen, ganz schmal und niedrig, unter einem blühenden Lindenbaum, und war die obere Hälfte der Haustür geöffnet, und man konnte durch den dämmerigen Hausflur in ein Gärtchen sehen, wo rote Rosen an hohen Stöcken blühten. Da traten sie ein, und da kam Peters alte Mutter aus ihrem Stübchen, und trug ihre alten mageren Arme nackt, und legte die Hand über die Augen, um die Fremden zu betrachten, da umarmte sie schon ihr Sohn und küßte sie, und in ihrem ehrlichen Gesicht ging die Freude auf.

Wie sie nun alle drei in dem heimlichen und sauberen Stübchen saßen, auf dem schwarzledernen Kanapee unter den bunten Öldruckbildern, und Peter erzählte seine Geschichte und Vorhaben, da schlug die alte Frau wohl immer nur die Hände zusammen vor Verwunderung und wiegte den Kopf und sah liebevoll das zarte Mädchen an; aber nicht einmal kam ihrem braven Herzen der Gedanke, daß ihr großer Junge doch noch ein rechtes Kind sei, denn sie hatte eine besondere Hochachtung vor ihm. Deshalb war sie mit allem einverstanden, und jetzt lief sie nun eilfertig hinaus in die Küche, einen kräftigen Kaffee zu bereiten auf die Anstrengungen der Reise. Aber als die beiden jungen Leute allein waren, begann Luise plötzlich heftig zu weinen, und wie er sie trösten wollte und streichelte ihr die schwarzen Haare, da machte sie eine unwillige Bewegung mit der Schulter, daß er ganz ratlos dastand. Bald blickte sie wieder auf und sah in sein Gesicht, und da mußte sie plötzlich hell auflachen, aber das Weinen war noch nicht ganz vorüber, und das Böckchen stieß sie mitten im Lachen, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Indem kam die gute alte Mutter wieder in die Stube und trug auf einem Präsentierbrett den Kaffee in einer sehr großen Kanne, und zwei Tassen, denn sie selbst wollte nicht mittrinken, weil sie sich für zu gering hielt, und eine rotlackierte Zuckerdose aus Blech stand bei der Kanne; und wie sie die Weinende erblickte, fing auch sie an zu trösten und empfahl den Kaffee, indem sie eine lange Geschichte begann, wie er eine wunderbare Heilung einer Lahmen bewirkt hatte; da lugten durch die Türspalte die beiden Mieterinnen, die sie in ihrem Häuschen hatte, das waren zwei uralte Weiberchen, sauber und ordentlich und über die Maßen neugierig. Wie die Mutter die beiden bemerkte, nötigte sie, daß sie hereinkommen mußten; die entschuldigten sich vielmals, und standen hintereinander, dann aber kamen sie in die Stube, indem sie sich die blanken Hände an den reinlichen blauen Schürzen abwischten und neugierig das Pärchen betrachteten. Aber bald wurden sie recht vertraut, prüften mit den Händen den Stoff von Luisens Kleid und fragten nach dem Preis, tranken vergnügt von dem schwachen Kaffee aus der großen Kanne, nachdem sie zuerst vielmals abgelehnt, erzählten von ihren Krankheiten und fragten, ob Luise auch die Kaiserin recht oft sehe. Peter war fröhlich und unbefangen zwischen den drei gutherzigen alten Frauen, lachte viel und erzählte so, daß die drei nicht aus dem Verwundern kamen; Luise aber hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt, zog Peter auf die Seite und bat ihn, daß er ein Telegramm an ihre Eltern schicke, das denen ihren Ort anzeige, welches der sehr richtig fand, und tat sofort, was sie begehrte.

So geschah es denn, daß am nächsten Tage die Eltern des Kindes kamen, in großer Aufregung und Sorge; aber wie sie den frohmütigen und harmlosen Dichter, die geschäftige und saubere alte Mutter und die braven andern Weiberchen um ihre Tochter versammelt fanden, die lachend ihrem Vater an den Hals flog, da vermochten sie nicht die empörten Reden an Peter zu führen, die sie sich vorgenommen, sondern die Mutter machte nur ein gekränktes und kaltes Gesicht, und der Vater brummte etwas, das nicht deutlich wurde durch die Liebkosungen der lachenden Tochter, und zuletzt, weil sie ganz ratlos waren, was das Ganze bedeutet habe, nahmen sie das Mädchen mit sich in ihr Gasthaus und luden den Dichter zum Mittagessen ein, das er ohne Schuldbewußtsein auch freundlich annahm. Nach diesem Anfang fanden die Eltern bald, wie sie das ganze Begebnis als einen Kinderstreich auffassen konnten, was die ihrem Wesen angemessene Art einer Erklärung war, und so überwanden sie leicht ihren Groll, und am Ende lachten sie mit ihrer Tochter zusammen, indem die Fröhlichkeit des unbefangenen Kindergemütes auf sie überstrahlte.

Wie sie alle in dem Gasthause versammelt waren, sprach Luise, daß sie gedacht habe, sie wolle später, wenn sie in ihre Jahre gekommen wäre, den Dichter heiraten; aber nun sei ihr doch klar geworden, daß sie ihn zwar immer noch so lieb habe wie früher, und vielleicht noch lieber, aber seine Frau könne sie nicht werden. Das wolle sie ihm gesagt haben, und weil sie sich noch nicht geküßt hätten bis jetzt, so wolle sie ihm nun, zum Abschied von ihrem gemeinsamen Plane, einen Kuß geben; als sie das gesprochen hatte, faßte sie sein Ohrläppchen, beugte seinen Kopf zu sich nieder und küßte ihn auf die Lippen; dann lächelte sie, indes ihr eine Träne in die Augen trat; und auch der Dichter lächelte. So endete der beiden Liebesverhältnis.

 

Indem Hans immer weiter in die Gedanken hineinkam, die in dem Kreise der Menschen um ihn herrschten, gelangte er bald zu dem Entschluß, daß er sein Studium ändern müsse. Aber Scheu vor den Eltern und Furcht vor dem Ungewissen hielten ihn eine Zeit in einem peinigenden Zustande, bis er sich am Anfang des zweiten Semesters zu einer schnellen Tat entschloß; denn durch Zufall war die Tür der Amtsstube in der Universität einmal offen, wie er gerade vorbeiging: da trat er ein und erklärte, daß er sich in eine andere Fakultät umschreiben lassen wolle, und wie ihn der Beamte fragte, was er denn zu studieren gedenke, da sagte er ohne Besinnen und ohne daß er vorher eine Absicht gehabt hatte, er wolle Historiker werden. Dann belegte er seine neuen Vorlesungen, faßte sich auch ein Herz und besuchte einen der Lehrer; der empfing ihn freundlich und hatte bald Hansens Meinungen erkundet, denn er hatte selbst in jungen Jahren freiheitlich gesinnte Ansichten gehabt, und wie damals gerade die Revolutionszeiten gewesen waren, hatte er als junger Gymnasiallehrer seinen Schülern lateinische Aufsätze aufgegeben über die Vorzüge der Republik vor der Monarchie und darüber, daß die Verbrennung der Leichen richtiger sei wie das Begraben. Wegen solcher Betätigung seiner Gesinnungen hatte die Behörde ihn damals abgesetzt, aber später wurde er an die Universität berufen. Dieser alte Mann bekam eine Freude an Hans, und der gewann so einige geringe Aussichten für seine Zukunft.

Inzwischen war sein Jugendgenosse Karl gleichfalls nach Berlin gekommen und zeigte sich als von gleichen Ansichten. So beschlossen die beiden, eine nähere Bekanntschaft mit wirklichen Arbeitern zu machen, und da sie keinen andern Weg wußten, so dachten sie eine Volksversammlung zu besuchen, und gerieten in die Versammlung eines großen Fachvereins, in der ein Vortrag über die materialistische Geschichtsauffassung gehalten wurde; denn damals, wo das Sozialistengesetz noch bestand, hatten diese Fachvereine in Wahrheit eine Art politischer Bedeutung, die zwar nicht ausgedrückt war, aber sich doch mit Notwendigkeit von selbst aus den Umständen ergab. Mit einer großen Furcht wie vor etwas Außerordentlichem hielten sich die beiden bescheiden im Hintergrund, wo neben ihnen am Tisch einige Arbeiter saßen, ein alter Mann und zwei junge Leute, die sie zuerst mißtrauisch betrachteten, und endlich sagte der eine junge Mann gerade heraus, sie seien doch keine Schuhmacher, es war nämlich der Fachverein eine Verbindung der Schuhmacher, und sie sollten ihm ihre Absichten sagen. Darauf erwiderte Hans, daß sie Studenten wären und gern die Verhältnisse der Arbeiter kennen lernen wollten. Hierüber wurden die Gesichter der andern freundlich und bewillkommten die beiden und zogen sich noch weitere Arbeiter an ihren Tisch, die alle fröhlich und liebenswürdig waren. Dabei stellte sich heraus, daß sie Hans und Karl für zwei Spitzel gehalten, weil man an ihren Daumen gesehen, daß sie keine Schuhe machten, und Hans trug Stiefel, die zu Hause von einem schlichten Schuster genau in der Form gearbeitet waren wie die Kommißstiefel, an denen die Geheimpolizisten erkannt wurden.

Hans war recht erstaunt über die braven und ordentlichen Gesichter der Leute und über ihre sonntägliche Kleidung und fröhliche und ruhige Art. Einen gewissen Ernst hatten sie wohl alle, aber der war mehr ehrbarer und bürgerlicher Art, und sie zeigten nichts Düsteres oder Trauriges, sondern schienen, als wenn sie alle zufriedener und glücklicher Hoffnung lebten. Die meisten der Anwesenden waren jung, und man sagte Hansen, daß die Älteren, weil sie verheiratet seien, gewöhnlich das Geld nicht aufwenden könnten, welches das Gehen in die Versammlung koste, weil man doch sein Glas Bier trinke, oder auch zwei, und seine Zigarre rauche.

Ganz vorn, auf einer Erhöhung, saßen an einem langen Tisch die Vorstandsmitglieder und an einem Tischchen daneben ein Polizeioffizier mit einem Schutzmann. Nach einiger Zeit eröffnete der Vorsitzende die Versammlung, und es wurden einige Angelegenheiten des Vereins erledigt in merkwürdig förmlicher und formelhafter Weise, indem der Vorsitzende häufig erklärte, so oder so sei die parlamentarische Sitte: denn das schien als besondere Hauptsache betrachtet zu werden, daß alles bis ins kleinste parlamentarisch zuging. Bei einem Punkte fragte Hansen sein Nachbar leise, indem er annahm, ein Student wisse diese wichtigen Dinge, ob das so richtig sei. Man verspürte bei allen, daß sie einen freudigen Wunsch nach Form und Regel hatten und nach Kräften eine Ordnung suchten, um sich ihr zu unterwerfen. Dann stand der Vortragende auf, der über die materialistische Geschichtsauffassung reden wollte. Der war ein älterer Arbeiter, in dessen Gesicht sich eine merkwürdige geistige Anstrengung zeigte, wie er redete, denn er holte mit schwerer Arbeit die Gedanken herauf und drückte sie mit Mühe in Worten aus, und deshalb sprach er sehr langsam und eindringlich; alle aber folgten ihm mit eigner großer Anstrengung. Was er sagte, hatte eigentlich mit der Marxschen Theorie wenig zu tun; es kam aber seine Herzenssehnsucht heraus und die Herzenssehnsucht der Hunderte von Arbeitern, die ihm lauschten, denn er meinte, die Arbeiter seien heute von der Bildung abgeschnitten und müßten sich die Bildung erwerben, dann seien sie die Herren der Welt, und jeder von diesen Männern dachte bei seinen Worten, daß er die Bildung haben wolle, und malte sich ein Gedankenbild zukünftigen Lebens der Menschheit, wo alles Leid verstummte, Haß, Neid und Unterdrückung verschwand und die Menschen in gegenseitiger herzlicher Freundschaft lebten und sich bildeten.

Wie der Vortrag beendet war und einige aus der Versammlung nacheinander auf die Stufe traten und ihre beistimmende oder abweichende Meinung sagten, sprachen Hans und Karl weiter mit den Männern, die an ihrem Tische saßen. Der eine war erst vor kurzem aus dem Osten nach Berlin gekommen, nachdem er zu Hause eine mehrjährige Gefängnisstrafe abgebüßt hatte wegen Geheimbündelei. Der erzählte seinen Prozeß und stellte seine Sache so dar, daß er mit seinen Freunden, die das Gesetz wohl kannten, keinerlei Geheimbund gehabt, indem sie sich immer nur freundschaftlich zu Ausflügen oder Zusammenkünften getroffen hatten. Dann fuhr er fort, daß er zuerst der Meinung gewesen, er sei ungerecht verurteilt, nicht, daß die Richter gegen ihn besonders etwas gehabt hätten, aber sie seien durch ihre Klassenvorurteile verblendet; dann aber habe er sich die Sache weiter bedacht und sich im Geiste auf den Standpunkt des Richters gestellt, denn wenn einmal ein Gesetz sei, und wenn es auch ungerecht ist, so müsse doch der Richter danach entscheiden, und da habe er sich denn gesagt, daß er und seine Freunde eigentlich nur eine Umgehung des Gesetzes begangen hätten, denn alles, was das Verbot des Geheimbundes bezwecke, hätten sie doch getan und sich nur gehütet, die äußeren Formen eines Vereins anzunehmen, und das habe der Richter wohl eingesehen, und darum müsse er sich jetzt selber sagen, daß er gerecht verurteilt sei, und wenn er selbst Richter gewesen wäre, so hätte er auch nicht anders gekonnt.

Über diese Worte entstand eine Meinungsverschiedenheit, indem einige sagten, wenn kein wirklicher Verein mit Satzungen und Vorsitzenden und festen Versammlungen gewesen sei, so wären sie in unrechtmäßiger Weise bestraft, und es könnten ja dann alle andern Menschen auch verurteilt werden, weil doch jeder einen Kreis von Bekannten habe, die mit ihm einer Gesinnung seien; die andern aber schlossen sich der Meinung des Erzählers an, den sie Jordan nannten, und sagten, Recht müsse sein, und wenn sie selbst erst die politische Macht errungen hätten, was wohl schon in zehn oder zwanzig Jahren sein könne, so müßten die Gegner auch den Gesetzen gehorchen, die sie selbst dann geben würden; zwar würden diese freilich auf keine Unterdrückung ausgehen, und deshalb würden auch die Gegner wohl willig sich ihnen fügen.

Sie fragten auch Jordan nach dem Aufenthalt in seinem Gefängnis, denn es war eine Nachricht durch die Zeitungen gegangen, daß er und seine Freunde sehr viel hatten erdulden müssen. Da streifte Jordan seine Ärmel hoch, zog die Manschette ab und wies an seinem mageren Arm einen geröteten Streifen um den Knöchel, denn man hatte ihnen Ketten angelegt; aber wie die Zuhörer Ausrufe machten, erzählte er, daß das Tragen der Ketten nicht so schlimm sei, wie man sich vorstelle, denn man habe ja ohnehin nicht viel Bewegung; nur müsse man immer Vorkehrungen treffen, daß die Haut nicht durch das Eisen gescheuert werde, denn solche Wunden heilten sehr langsam und seien schmerzhafter wie manche gefährliche Verletzung. Und wie einige darauf wieder über den Leiter der Gefängnisse schalten, daß er sie unnützerweise mit diesen Ketten gequält habe, entschuldigte er von neuem, indem er sagte, man habe sie erst nach einem Fluchtversuch von zweien unter ihnen geschlossen, und wenn er selbst auch die Ketten für ein sehr wenig wirksames Mittel gegen die Flucht halte, so sei doch der Leiter der Anstalt andrer Meinung gewesen und habe gedacht, daß er auf diese Art weitere Fluchtversuche unmöglich mache. Der Erzähler schloß dann, indem er auseinandersetzte, ein jeder Mensch stehe auf seinem Posten, den er ausfüllen müsse, und anders könne er nicht, und er selbst glaube, daß unter den niederen Gefängnisbeamten mancher sei, der ihre Meinungen teile, aber er müsse doch seine Pflicht tun. Und deshalb kämpfen ja auch sie, er und die andern, nicht gegen die Menschen, sondern gegen die Verhältnisse, und man müsse auch nicht glauben, daß es in den höheren Ständen nur lauter rohe und gefühllose Menschen gäbe, vielmehr lebe da mancher, der selbst in großer Bedrängnis sei.

Dieser Jordan war ein langer und hagerer Mann, dem man in seinem kummervollen Gesicht deutlich seine früheren Leiden ansah, und sprach langsam und gemessen und mit einer kindlichen Wichtigkeit. Die Zuhörer schienen alle recht ernst geworden; als aber ein neuer sich zwischen sie setzte, wurden plötzlich alle heiter und begrüßten den lachend, denn auch der hatte zwar erst vor kurzem das Gefängnis verlassen, wohin er wegen einer Majestätsbeleidigung gekommen, aber sie fingen an, ihn zu necken, und erzählten, er sei bis über beide Ohren verliebt in ein Mädchen, die ganz außerordentlich zielbewußt war, denn so nannten sie es, wenn jemand ihre Anschauungen teilte, und die habe ihm einmal gesagt, sie könne ihn nicht lieben, weil er noch keine Opfer gebracht habe und sei nicht ein einziges Mal verurteilt; das habe er sich so zu Herzen genommen, daß er noch denselben Abend in einer Versammlung eine Rede mit den heftigsten Majestätsbeleidigungen gehalten, für die man ihn sofort arretiert habe. Über diese Geschichte lachten alle, und wie er selbst den Erzähler zum Scherz mit dem Ellbogen stieß, entstand unter Gelächter und Späßen ein allgemeines scherzhaftes Schieben und Stoßen um den Tisch wie bei fröhlichen Jungen, daß der ernste Polizeileutnant seinen gesträubten Bart von dem Papier, auf dem er fleißig die Reden niederschrieb, nach der Richtung wendete und der Vorsitzende eine Glocke erklingen ließ und zu parlamentarischer Ordnung mahnte.

Auf der Bühne stand gerade ein Redner, der seine abweichende Meinung von den Gedanken des Vortragenden mühsam in recht unklaren Sätzen erklärte, die doch von den Versammelten mit musterhafter Geduld und Ruhe angehört wurden; seine Meinung aber war, daß die Arbeiter die Bildung schon errungen hätten, weil sie „aufgeklärt“ seien, aber es gäbe noch eine zu große Menge von „unaufgeklärten“ Arbeitern, und die seien der wahre Feind, gegen den man kämpfen müsse. Zum Schluß trug er einen Vers vor, der gegen den „Unverstand der Massen“ gerichtet war und großen Beifall erhielt.

Inzwischen erzählten die jungen Leute mit leiser Stimme wieder andere Scherze. Auf einen gewissen Polizeibeamten, den sie den Spitzohrigen nannten, hatten sie einen besonderen Ärger, und deshalb wurde ihm zum Verdruß regelmäßig die neue Nummer des „Sozialdemokrat“ in den Briefkasten gesteckt, ohne daß er je den Täter ausfindig machen konnte; der „Sozialdemokrat“ war damals das anerkannte Blatt der Partei und wurde in England gedruckt und heimlich nach Deutschland gebracht und hier im stillen verbreitet, und besonders stolz waren die Leute darauf, daß das Blatt immer mit der pünktlichsten Regelmäßigkeit in die Hände der Leser kam. Über den Spitzohrigen erzählten sie noch andere Geschichten; der hatte bei einer Haussuchung in einer gipsernen Kaiserbüste wichtige Schriftstücke der Partei entdeckt, die der Besitzer an ihrem Ort ganz sicher geglaubt; aber nach einigen Tagen, wie des Kaisers Geburtstag war, hing bei ihm eines Morgens eine blutrote Fahne aus dem Fenster statt der schwarz-weißen, und hier vermochte er den Mann, der ihm diesen Streich gespielt, nicht aufzufinden. Mit besonderer Freude erzählte diese und andre Geschichten der junge Mann, der mit seiner zielbewußten Geliebten geneckt war und Weiland genannt wurde, und seiner Lustigkeit merkte man wohl an, daß er nicht unbeteiligt war an derartigen Späßen.

Während diesem hatte der Redner auf der Bühne eine unvorsichtige Äußerung getan; über die erhob sich der Polizeileutnant, setzte seinen Helm auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Da standen sofort alle auf, und indem sie sich mit Ruhe zum Gehen bereiteten, stimmten sie die Marseillaise an, der ein besonderer, für ihre Verhältnisse passender Text untergelegt war.

Das machte auf Hans und Karl einen gewaltigen Eindruck, wie die mutigen, leidenschaftlichen und jubelnden Töne dieses Liedes, von Hunderten begeisterter Männer gesungen, in dem vorher so nüchternen Saale ertönten, und es war, als wollten diese Leute jetzt alle gleich zum Kampf eilen, und als müßten sie siegen, und die beiden Studenten waren so hingerissen von der Wucht, daß sie sich gleich dem Haufen angeschlossen hätten, wenn die zu einer Barrikade gezogen wären, denn es war, als sei ihnen die eigene Überlegung geraubt und als folgten sie nur dem gemeinsamen Impuls der Menge, so schritten sie im Takt mit den andern, und ihre Herzen schlugen hoch, und nur ein Trieb war ihnen, nach vorwärts zu gehen.

Indessen währte das wunderliche Gefühl nur wenige Augenblicke, denn auf der Straße verstummte das Lied; vor der Tür standen zwei Reihen Schutzmänner, zwischen denen alle hindurchgehen mußten. Eine Stimme rief: „Laßt euch nicht provozieren“; daraufhin war es mit einem Male, als sei jetzt alles harmlos, kleine Gruppen schwenkten nach verschiedenen Richtungen ab, ein Schutzmann mahnte einmal zum Weitergehen, und willig gingen alle weiter und zerteilten sich, es war nicht anders, als seien alle von einem einfachen Vergnügen gekommen. Ohne weitere Überlegung hatten sich die beiden Studenten den Leuten angeschlossen, mit denen sie zusammengesessen und gingen, die einen fragend und die andern erklärend, durch die Straßen, welche so gleichgültig aussahen wie sonst, nur war es Hansens angestrengten Nerven, als hallten ihre Schritte ganz besonders auf dem Pflaster. Nach kurzem Bereden traten sie in eine Wirtschaft, in der die Arbeiter bekannt waren, denn der Wirt begrüßte sie mit Vertraulichkeit; die Vertraulichkeit von dem ungesunden und dicken Mann war Hansen unangenehm.

Es stellte sich heraus, daß der ältere Arbeiter von den beiden Studenten eine Belehrung haben wollte, denn er erzählte, daß er viel gelesen habe, und besitze zu Hause eine Menge Bücher, deshalb habe er auch keine Frau genommen, und ihn beschäftige vornehmlich eine Frage, die sei ihm aber noch in keinem Buch beantwortet, wiewohl er keine Mühe gescheut, denn er sei doch nur ein Arbeiter und besitze nicht die rechte Vorbildung; nämlich, es werde gesagt, daß unsre Gedanken und auch das, was wir wollen, durch die Verhältnisse bestimmt werde, in denen wir leben, und daß also die Verhältnisse schuld sind an allem Übeln, das geschieht. Wenn das richtig sei, dann könne man also dem Menschen, der Böses tut, mit Recht keinen Vorwurf machen und dürfte ihn auch nicht strafen, und auch dieser Schluß werde von vielen für richtig gehalten. Er aber meine, das alles könne nicht so sein, denn dann verlohne es sich ja gar nicht, daß man lebt, und er für sein Teil wolle lieber tot sein als leben, wenn es so sei.

Der Mann, der zu Hans das sagte, mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und war ein Schuhmacher, und seine Gestalt und Gesicht waren auch die eines armen Schuhmachers, der vielleicht nach seines seßhaften Gewerbes Art zuweilen wunderliche Gedanken hat. Aber diese Worte rührten Hans ans Gewissen, denn plötzlich merkte er, daß er ein ganz andrer Mensch geworden war wie früher, und daß er früher gedacht hatte, er wolle lieber tot sein als so leben, wie der Mann schilderte, und daß er jetzt so lebte. Und dazu wurde ihm klar, daß er jetzt viel log; denn der fröhliche Weiland redete wohl die Wahrheit, und der ernsthafte Jordan redete die Wahrheit, und dieser Mann; aber er selbst hatte sich in Lügen gefangen und war dadurch in Gewissensangst geraten.

Er wußte aber nicht, was er antworten sollte; denn nicht nur gibt es ja keine Antwort auf die Frage, sondern er selbst war auch so verwirrt, daß er auch sonst nichts Rechtes zu sagen gewußt hätte. Deshalb sprach er nur, daß das eine Sache des Glaubens sei; wenn einer glaube, daß er in seinen Gedanken und Entschlüssen durch die Verhältnisse bestimmt werde, so sei es so, und wenn er das nicht glaube, so sei es nicht so. Hiermit war dem Mann nun wohl nicht sonderlich gedient; aber er merkte wohl, daß Hans ihm nicht mehr zu sagen wußte, und deshalb forschte er nicht weiter.

Jordan hatte mit Anstrengung zugehört. Jetzt sagte er, es sei richtig, daß die Verhältnisse unser Denken und Wollen bestimmen; denn wenn wir alle in der herrschenden Klasse geboren wären, so würden wir so denken und handeln wie die, und die Arbeiter verurteilen, und doch wären wir im übrigen genau solche Menschen wie jetzt. Hierüber versuchte Karl zu bemerken, daß sie beide als Studenten doch der höheren Klasse angehörten; es zeigte sich aber, daß die Arbeiter die beiden gar nicht recht ernst nahmen, sondern sie mit einer liebenswürdigen Nachsicht betrachteten, etwa wie ein alter Förster einen jungen Herrn mit auf den Anstand genommen hat, und dieses Urteil ergab sich nicht aus den Worten, die sehr zartfühlend waren, aber man merkte es doch in der Gesinnung. Der alte Mann jedoch sagte zum Schluß, wenn die Gerechtigkeit nur ein Rauch sei, so sei die ganze Welt sinnlos; damit erhob er sich zum Gehen und war erregt wie einer, der einen heftigen Kampf für sein Liebstes streitet und dabei doch das Gefühl hat, daß sein Kampf nutzlos ist.

 

Karl hatte sich mit Weiland angefreundet und mit dem verabredet, daß sie gemeinsam am Sonntag einen Ausflug in einen Vorort machen wollten, der berühmt war durch seine Tanzgelegenheiten, und Hans ließ sich bereden, mitzugehen. Sie kamen in einen niedrigen und sehr großen Saal, der mit Zigarrenqualm und Menschengeruch angefüllt war; ein Lärmen, Lachen und Schwatzen stieg in die Höhe, auf einer Bühne saß eine kleine Kapelle, und die Paare drängten sich durch die Menge zum Antreten. Nach vielem Suchen fand Weiland seine Braut, die mit zwei andern Mädchen zusammensaß, welche von verlegener Freude ergriffen wurden, wie sie die drei sahen; aber die Lustigkeit Weilands und der leichte Sinn Karls überwanden bald die Befangenheit der ersten Minuten, und nur Hans fügte sich nicht so recht ein, wofür er auch der besonderen Aufmerksamkeit der Mädchen teilhaftig wurde. Bald begann Weilands Braut mit Geläufigkeit zu erzählen und redete mit Verachtung von ihren Eltern, deren Anschauungen zurückgeblieben seien, denn ihr Vater war ein alter Achtundvierziger, der immer noch auf dem Standpunkt der bürgerlichen Demokratie stehe, und der habe ihr ein Sparkassenbuch angelegt und gehöre zur freireligiösen Gemeinde. Ihr Wunsch wäre, daß sie mit Weiland in freier Liebe zusammenleben wollte, aber ihr Vater verlangte, daß sie sich der bürgerlichen Trauung unterzögen. Hans sprach am meisten mit der einen Freundin, einem stillen und blassen Mädchen, das ein schwarzes und oben geschlossenes Kleid trug und ihre Hände mit einem eigenen schwermütigen Ausdruck lässig im Schoß liegen hatte. Die erzählte, daß sie Weißnäherin war und für ein Geschäft arbeitete; sie konnte nicht tanzen, und ihre Reden waren sonderbar müde und unfroh. Einmal antwortete sie auf eine Bemerkung: „Ach, was hat man vom Leben, den ganzen Tag sitzt man vor der Maschine, und wenn man heiratet, so hat man dazu bloß noch Sorgen und Kummer.“ Etwa achtzehn Jahre mochte sie alt sein. Auch klagte sie in ihrer Art darüber, daß sie sich nun schon so lange gewünscht habe, einmal einen feinen Herrn kennen zu lernen, und nun, da sie das erreicht, sei sie in solcher Verfassung, daß sie ihn von sich abschrecke. Über diese Reden bekam Hans bald ein peinliches Gefühl und war ihm, als müßte er eine Schuld haben, und zugleich war er aber auch gereizt gegen das Mädchen; die begann in klagender Weise weiter zu erzählen von ihrem Leben und von ihren Verhältnissen; da zeigte es sich, daß ihre Eltern sich ganz jung geheiratet hatten, weil ihr Vater in Schlafstelle gewohnt bei den Eltern der Mutter, und daß sie von Leichtsinn schnell in Sorge geraten waren und ihren Körper noch nicht hatten entwickeln können, wie sie auch keine Ersparnisse gehabt hatten für die Einrichtung des Hausstandes, und wie dann in schlechter und lichtloser Wohnung viele schwächliche und freudlose Kinder gekommen waren, die aufwuchsen in Bitterkeit und ohne Kraft, mit blassen Backen und hinschmachtendem Leib. Über alle diese Umstände urteilte das Mädchen mit wunderlicher Klarheit, und am Ende sprach sie, die armen Leute hätten sehr unrecht, wenn sie immer mehr Freiheit haben wollten, denn sie seien wie die Kinder, die von guten Menschen beaufsichtigt werden müßten, damit sie sich nicht schädigten durch ihre eignen Torheiten, und dieses Urteil hätten unter ihnen viele Frauen, aber die Männer verhöhnten sie deswegen und sagten, sie seien nicht aufgeklärt.

Wie das Gespräch diese Wendung genommen hatte, verschwand ihnen beiden die peinliche Stimmung, und es entstand bald eine gewisse Behaglichkeit zwischen ihnen, indem sie auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens kamen und das Mädchen eine ernsthafte Mütterlichkeit gegen Hansen entwickelte, gegen ihren Willen, denn sie hatte sich die ganze Woche darauf gefreut gehabt, ein leichtes und fröhliches Liebesband zu knüpfen mit einem Studenten, den sie sich als einen besonders lustigen und ganz außergewöhnlichen Menschen vorgestellt; aber nun erzählte sie, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen kochendes Wasser geliefert bekamen für ihren Kaffee, und daß sie sich Geld gespart zu einem neuen Kleid, und wenn er sich nicht schäme, mit ihr auszugehen, so wolle sie dieses Kleid tragen, denn sie wisse bereits eine billige Gelegenheit für einen guten Stoff, der ihr auch zu ihrem Gesicht und Figur stehe.

Inzwischen tanzten die andern, und die dünne Musik tönte durch das Lärmen; Zigarrenrauch ringelte sich in die Höhe zu der allgemeinen Wolke und Kellner drängten sich eilfertig und aufgeregt durch die Menge; wie Hans sie nach schüchternem Bedenken zum Trinken aufforderte, nippte sie zart an ihrem Glase und klagte dann, daß sie wenig vertragen könne.

Die andre Freundin war ein übermütiges, gesundes und rotbackiges Wesen, deren Augen in Fröhlichkeit blitzten, die hatte solche Lust zum Tanzen, daß sie nicht still sitzen mochte, wenn die Musik ertönte, und Karl, der ein geschmeidiger und leichter Tänzer war, führte sie immer mit heiterer Aufforderung in den Reigen. Bald fand sie heraus, wie sie Hansen und die Freundin necken konnte, und Karl, der durch alles gleichfalls in frohe Laune geraten war, stimmte mit ein; aber obschon beide eine gutherzige Gesinnung dabei hatten, wußten sie doch nicht eine gewisse Taktlosigkeit zu vermeiden, die durch das Dissonieren der Meinungen ja leicht in dem lebendigeren Teil erzeugt wird, und so entstand ein nicht ganz behagliches Gefühl bei allen, durch das besonders Hansen plötzlich die schlechte Luft, der Menschengeruch und der unfeine Lärm häßlich auffielen, so daß er stiller wurde und in sich versank.

Wenn Leute aus dem Volk recht gesund und in ihrer Art wohlgeordnet leben, so haben sie einen zutraulichen Glauben an sich selbst und an alles, was sie tun, der sie sehr glücklich macht. Von dieser Beschaffenheit war Karls Freundin. Die diente bei einer vornehmen Herrschaft und war recht tüchtig in ihrer Tätigkeit, und indem sie aus diesem die Überzeugung herausnahm, daß alles, was sie tat, überhaupt nicht besser getan werden könne, hatte sie in ruhiger Zuversicht bald die Herrschaft über den kleinen Kreis gewonnen, daß selbst Weilands Braut sich ihr unterordnete. Es war für Hansen recht unbehaglich, daß er sich dieser an sich harmlosen Herrschaft nicht zu erwehren vermochte, wenn er nicht eine Mißstimmung schaffen wollte; und so hatte er hier zum ersten Male das Gefühl, daß doch eine Kluft zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft ist, die nicht überbrückt werden kann, und wenn jemand den Versuch dennoch machen will, so begeht er vielleicht eine schlechte Handlung, denn er zerstört die Wurzel des Dranges nach Höherem.

In der Folge stellte sich heraus, daß Karl bei dieser Zusammenkunft mit dem Mädchen eine Liebschaft angeknüpft hatte, die man mit dem Berliner Ausdruck als Verhältnis bezeichnet. Er bewegte sich in den seltsamsten Vorstellungen, indem die modernen sozialistischen Ideale mit alten romantischen Bildern vom Volk bei ihm zusammenschmolzen, und so erschien ihm dieses Mädchen aus dem Volke mit ihrem Drange nach Freiheit und nach ungestümem Glück zugleich als eine kräftige und ursprüngliche Natur und als ein Erstling einer großen Zukunft. Es kamen die beiden aber zusammen an Sonntagen, die das Mädchen frei hatte, und indem zu der Zeit der Frühling begann, daß er die Menschen aus den kahlen und grauen Straßen hinauslockte in helles Grün, fuhren sie aus der Stadt, bis sie an Orte kamen, wo sie allein waren und sich auf heimlichen Wegen ergingen unter Kiefern, welche die ersten hellgrünen Spitzen vorsteckten. Da sah sie viele Dinge, die ihr früher nicht bekannt gewesen waren, weil sie vorher die nicht beachtet, Vögel von allerlei Art und Frühlingsblumen und einen reinen, klaren Himmel; und zuerst war sie einem gedankenlosen Drange gefolgt, der sie nach Glück und Genuß trieb, wie sie aber ein Vögelchen gesehen hatte, das einen Halm im Schnabel trug zu seinem Neste, und ein Himmelschlüsselchen, das schüchtern sein Köpfchen beugte auf einer großen Wiese, da verschwand ihr das laute Lachen, und ihre Augen wurden ernster, und ihr war, als müsse Karl ein Halt sein für sie, und das Leben schien ihr nicht mehr eitel Jubel wie vorher. Aber wie sie sich so änderte, da begann Karl seine Seele vor ihr zu verschließen, denn auch ihn hatte nicht Liebe zu ihr getrieben, sondern Leichtfertigkeit und eine falsche Vorstellung, die er sich selbst geschaffen; aber bei ihm wandelte sich der leichte Sinn nicht in Treue und Zuneigung. Das merkte sie gar bald, und da seufzte sie heimlich und kehrte bei sich ein; aber schon war ihre Liebe zu groß geworden, als daß sie hätte sich entfernen können von ihm, und so hing sie ihm weiter an in bitterer Demütigung, und ihr Kummer machte sie besser, wie sie gewesen, und ihr Gesicht verlor zwar seine jugendliche Frische, aber es bekam edlere Züge, und selbst ihre Bewegungen erhielten etwas Vornehmes, das ihren Bekannten auffiel, daß sie es dem Einfluß Karls zuschoben. Dieser aber lebte in Haltlosigkeit; schämte sich seiner selbst und war deshalb hart gegen sie; denn schwache Menschen können es nicht leiden, daß sie geliebt werden und müssen den Liebenden plagen. Unter solchen Umständen geschah es, daß sie sich gesegneten Leibes fühlte; da erschrak sie heftig und hatte zugleich eine heimliche Freude, und außerdem überkam sie, wie aus einer Nacht, die Erinnerung an ihre Heimat und an ihre Eltern, und wie sie sich schämen mußte zu Hause, wenn dort jemand etwas von ihr wüßte; vor ihren Freundinnen in Berlin aber schämte sie sich nicht, auch hatte sie keine Freude auf das Kind, wenn sie bei denen war. Wie Karl die Neuigkeit erfuhr durch Weilands Braut und nicht durch sie selber, da hatte auch er einen starken Schrecken, und indem sich verwirrte Gewissensbedenken in ihm erhoben, die nicht auf klaren und verständigen Gefühlen ruhten, sondern auf Unwahrheit, so beschloß er bei sich, daß er sie heiraten wolle. Wie er ihr diesen Entschluß mitteilte, sprach sie zu ihm: „Wenn du mir solche Worte gesagt hättest in unsrer ersten Zeit, bevor ich dich wirklich lieb hatte, so wäre ich sehr stolz geworden durch sie und hätte mich ohne weitere Gedanken gefreut, deine richtige Frau zu werden. Nun aber weiß ich, daß es ein Gefühl gibt, das ich damals nicht kannte, und das wahrscheinlich viele Menschen nicht kennen, und vielleicht hätte ich unter andern Verhältnissen auch selbst bis zu einem späten Tode nichts von diesem Gefühl erfahren; da ich es nun aber kenne, so kann ich nicht mit dir zusammenleben, denn du kannst mich nicht so ehren, wie es nötig wäre, weil ich geringer Herkunft bin und mir nicht feine Art angewöhnen kann, auch nicht der rechten Bildung fähig bin; was alles wohl jetzt in unserm Kreise und so lange wir jung sind nicht so schlimm erscheint, aber mir viele schmerzliche Stunden erzeugen würde, wenn ich erst älter bin und du in eine andre Gesellschaft gelangt bist.“ Wie sie das gesagt hatte, spürte Karl, daß sie aus übergroßer Liebe ihm mehreres verschwieg, von dem sie gedacht hatte, daß es ihn kränken könne, und es war ihm, als ob er sich recht schämen müsse vor ihr. Damals zog zuerst Bitterkeit in sein Herz, denn er sah plötzlich ein, daß er ein niedriger Mensch war, und er begann sich selbst zu hassen und versuchte, ob er andre verachten könne; denn solche Hölle entbrennt in unedlen Leuten, wenn ihnen durch die Betrachtung Edler ihr Unwert klar wird; deshalb begann er lügnerische Worte zu machen, die sie schmerzten und in ihm am Ende eine große Leere schufen.

Wie nun ihre Zeit herannahte, mußte sie ihre gute Stelle aufgeben, und indem sie unwillig abwehrte, daß er ihr in irgend etwas half, nahm sie ihr erspartes Geld von der Sparkasse und zog zu einem alten Kunkelweibe, das in solchen Fällen Mädchen Unterkunft gewährte; hier saß sie in einer großen Hinterstube, die ein Fenster in der äußersten Ecke auf den Hof hinaus hatte, und saß an dem Fenster im trüben Winterlicht und nähte Windeln, Binden und Hemdchen für das Kind, das sie erwartete. Und daran dachte sie, daß das ein kleines Wesen sein werde, das sie sich an die Brust legen wollte, und alle andern Gedanken waren ihr versunken; nur stellte sie es sich immer wieder mit Absicht recht klar vor, wie klein das Kind sein werde, weil sie es sich sonst zu groß gedacht hätte, etwa wie es auf einem Stühlchen sitzt und nach seinem Schüsselchen verlangt. Mit Kraft und Anstrengung vergaß sie, daß sie es nicht bei sich behalten konnte, sondern sie mußte nach ein paar Wochen wieder in Dienst gehen, und das liebe Kind mußte bei der Frau bleiben; denn wenn sie daran gedacht hätte, dann hätte sie immer weinen müssen; so aber konnte es ihr vorkommen, als gehöre ihr diese Stube, und sie sei verheiratet, und am Abend komme ihr junger Mann, und zuweilen bedachte sie bei sich, wie sie die Möbel anders stellen wolle und alles recht reinlich halten. Aber dann tat sich die Tür auf, und das alte Kunkelweib kam herein und erzählte ihre Geschichten, wie sie sich mit den Leuten gezankt hatte. Da mußte sie sehr an sich halten, daß sie nicht weinte; denn wenn Karl sie besuchte, so war ihr das auch kein Trost, weil sie sah, daß er nur um sich ängstlich war und an sie dachte er eigentlich gar nicht; ja es war zuzeiten, als sei es ihm ein besonderes Opfer, welches er ihr brachte, daß er sie besuchte.

Wie es oft geht, daß Verhältnisse, die eigentlich längst sinnlos geworden sind, doch noch fortbestehen, weil keine äußere Gelegenheit kommt, die sie zum Aufhören bringt, so geschah es auch hier. Denn nachdem das Mädchen wieder eine neue Stellung erhalten hatte, schien es äußerlich, als sei zwischen beiden alles wie vorher, da sie doch beide mit Mühe und Verdruß ein drückendes Joch trugen, und Karl war oft heftig und ungerecht gegen sie, und sie schwieg voller Sanftmut. Da bat sie ihn, es war gerade am Jahrestag ihrer ersten Begegnung, daß sie wollten wieder an jenen Ort hinausfahren, wo sie sich kennen gelernt. Sie kamen an, und es schien äußerlich alles unverändert, denn wie im vorigen Jahre war der große und niedrige Raum vollgedrängt mit Menschen, und spielte auf der Erhöhung die geringe Kapelle, und es war fast, als schlage der Lärm der Gespräche, des Klapperns, des Gehens und Kommens, des Tanzens und der Musik im gleichen Zeitmaß an ihr Ohr, nur saßen sie jetzt allein und ohne die Freunde.

Aber da wurde ihnen klar, wie sie selbst sich verändert hatten, denn sie wurden von Widerwillen und heftiger Langeweile befallen, und wo im vorigen Jahr ihnen die Hoffnung einen weiten Raum gezeigt hatte hinter diesen tanzenden Paaren, da war es jetzt, als sei das alles hier nicht räumlich, sondern geschehe in einer Fläche, und sie hätten fliehen mögen, weil das Gewühl ihnen nahe kam. Mit einem erzwungenen Lächeln führte Karl sie zum Tanze, aber ihre Hände lagen schlaff ineinander, und sie beide dachten an den ersten plötzlichen Händedruck, den sie sich damals beim Tanz gegeben, der sie beide elektrisch durchzuckt hatte.

Während diesem überlegte sie sich eine Absicht, führte ihn aus dem Saal in den winterlichen Garten und sprach zu ihm: „Ich sehe ein, daß es für uns beide am besten ist, wenn wir nun auseinandergehen. Wohl haben unsre Eltern recht gehabt, daß sie uns warnten vor der Leichtfertigkeit und sagten, gleich gesellt sich zu gleich. Ich habe geglaubt wie viele heute, das Leben sei leichter geworden und die Alten seien altfränkisch, und unter den Menschen herrsche mehr Gleichheit wie früher. Aber jetzt verspüre ich, daß ich einem falschen Scheine gefolgt bin, denn in Wahrheit ist das Leben schwerer geworden, weil ein jeder allein steht in der Welt und keinen Menschen hat, noch Meinung, an die er sich halten kann; und in Wahrheit ist eine tiefere Ungleichheit unter die Menschen gekommen, wie sie früher war; denn als du versuchtest, wie du es nanntest, mich zu bilden, da verspürte ich eine tiefe Kluft, die nicht überbrückt werden kann; und wenn ich redlich sprechen soll, so muß ich sagen, ich weiß nicht, welches mehr wert ist, deine Bildung oder das, was ich für mich habe und auch behalten will. Und vielleicht ist das der einzige Unterschied gegen früher, daß ich als ein Dienstbote solche Gesinnungen habe und ausspreche. Aber wir wollen nicht in Haß und Erbitterung voneinandergehen, denn wir haben doch einmal gedacht, wir gehören zusammen, und ich wenigstens bin durch dich ein andrer Mensch geworden. Und wie ich dir schon sonst sagte, will ich das Kind für mich behalten und will mich seiner auch allein freuen, du aber sollst keine Furcht haben durch uns beide. Und denke auch nicht, daß ich ein trauriges Leben haben werde; denn ich will suchen, daß ich einen guten und tüchtigen Mann bekomme, der für mich paßt, und will heiraten und ein rechtschaffenes Leben führen.“

Nach diesen Worten geschah nur noch Unbedeutendes; und so trennten sich am Ende die beiden, nachdem einer den andern sonderbar beeinflußt hatte und dessen Leben in eine neue Bahn geleitet.

Bei Karl kam es in den folgenden Wochen, daß eine dichterische Begabung, die sich bis dahin nicht hatte zu äußern vermögen, einen ihr angemessenen Ausdruck fand. Freilich war seine Dichtung nicht ein Kind der Kraft und Gesundheit und ein freiwilliges Überfließen, sondern wie bei so vielen Menschen unsrer heutigen Zeit war sie ein Kind der Schwäche, die hier dem Seelenunkundigen durch scheinbar scharfe Wiedergabe der Natur gerade als Stärke zu erscheinen vermochte. Zu jener Zeit kam aus dem Auslande der Einfluß gleichgestimmter Seelen, und weil der leere Nachton früherer Kunst, der bei uns damals vornehmlich zu hören war, die Ohren und Geister nicht gegen die fremden Klänge einzunehmen vermochte, so geschah es, daß gerade die Dürftigen und Schwächlichen zu einer besonderen Entfaltung kamen und ein seltsames Gaukelspiel vortäuschen konnten. Karls Geschick wollte, daß er mit in diese Bewegung geriet. Aber weil er ein schwacher Mensch war, so hatte er nicht die Liebe zu den Dingen und Menschen, die ein Dichter haben muß, der die Welt in sich aufnimmt in Heiterkeit und Ruhe und sie vergoldet durch seine Freude, Hoffnung und Willen zum Guten und dann wieder aus sich heraus stellt in einen Rahmen, damit die Menschen das Bild anschauen mögen und glücklicher und besser werden, sondern er beobachtete das einzelne und zerfaserte es und wollte aus den untersuchten Stücken des Leichnams wieder lebendige Körper schaffen, und zerfaserte sich selbst in Hochmut und Selbstverachtung und wollte neue seelische Wahrheiten bilden aus diesen Quellen der Eitelkeit. Und dieses alles bedeutete für die Geschichte seines Wesens einen weiteren Schritt in die Auflösung. Wie aber eine Frucht, die sich aus der Blüte entwickelt hat zum Fruchtansatz und allmählich gereift ist zum rotbackigen Apfel und dann vom Baum gepflückt wird und aufgehoben im dunkeln Raum, wie solcher Frucht alles weitere Geschehen als eine weitere Entwicklung erscheinen muß, nicht nur, daß sie noch reift auf dem Stroh und schmackhafter wird, sondern auch, daß sie endlich vom Kernhause aus zu faulen beginnt und die Fäulnis sich immer mehr ausdehnt, bis der ganze Apfel verfault ist und der Schimmel ihn bedeckt, so muß auch solchem Menschen seine Auflösung als eine Weiterentwicklung erscheinen, und er mag sich sogar als einen Erstling preisen der künftigen Zeiten, wo eine neue Art Menschen leben wird, die ihm gleich sind, da er doch nur ein fauler Apfel ist und nicht mehr wert, als daß ihn die Hausfrau ausliest und wirft ihn auf den Mist.

 

Es ist schon früher berichtet, daß die Gräfin viele Jahre lang bettlägerig gewesen ist. Welche Krankheit sie haben mochte, das konnten die Ärzte nicht bestimmt sagen, denn es wechselten die Schmerzen und die Stellen des Leidens und alle Anzeichen, und nur das war immer das gleiche, daß sie nicht ihr Bett verlassen konnte.

Sie war eine harte Frau und hatte einen unruhigen Verstand, der zu allen Dingen schweifte, und seit ihrer Krankheit vornehmlich aber zu den verschiedenen Angelegenheiten des Haushaltes. Diesen wollte sie beständig von ihrem Lager aus leiten, und die Dienstboten mußten ihr alles genau berichten und erklären, und indem sie in ihrer Einsamkeit nach diesen Antworten und Erzählungen sich ein vollständiges Bild von allem machte, befahl sie ihnen genau alles bis in das geringste, was getan werden sollte. Aber da die Dienstboten sich sehr häufig nicht an ihre Befehle kehrten und nach ihrem Belieben wirtschafteten und ihr dann später trügerischerweise Falsches berichteten, bildete sie sich doch eine unrichtige Vorstellung von allem, was vorhanden war und was geschah. Dann kam es, daß die Leute ihre früheren Lügen vergaßen und nach dem wirklichen Stande erzählten, auch sonst sich Widersprüche herausstellten zwischen ihrem Bilde, das sie sich gemacht, und den wirklichen Zuständen. Hierüber geriet sie immer in großen Zorn, schalt viel und klagte dann das Geschehene ihrem Mann, der sich hierdurch noch mehr von ihr entfremdete, als ohnedies durch ihre Krankheit geschah. Wie sie das verspürte, machte sie ihm Vorwürfe und trieb sich und ihn immer weiter in den Unfrieden hinein.

Die beiden Söhne, die mit alten und in der Familie erblichen Namen Bolko und Ivo genannt wurden, hatten sich inzwischen in der bereits früher geschilderten Art entwickelt und waren von Hause fortgekommen als Offiziere. Die ganze Zeit über verlangten sie von ihrem Vater immer sehr viel Geld, der zwar für sich selbst leichtfertig und unbedacht war, für seiner Söhne zielloses Leben aber doch einen klaren Blick hatte; auf seine Ermahnungen freilich hörten sie nicht, sondern hielten ihm keck sein eignes Beispiel vor; und indem er Furcht hatte, über seine Verhältnisse selbst klar zu werden, vermochte er ihnen auf diesen Einwurf nicht eindringlich zu antworten, denn sie lebten in der Meinung, daß das elterliche Vermögen viel größer sei, als es in der Tat war. So war er dahin gelangt, daß er schon Geld auf Wechsel genommen hatte, und war in die Hände der Wucherer geraten; nun befiel ihn zuzeiten eine heftige Angst und sinnlose Reue; und während solche Stimmungen früher von selbst wieder verschwunden waren durch die Wirkung seines leichten Gemütes, kostete es ihn jetzt Anstrengung, sich von ihnen frei zu halten. Die Frau durfte von allen diesen Sorgen nichts erfahren, und wenn sie in ihrer Unwissenheit oft Verfügungen traf, die ihm in seinem Mangel schwierig wurden, so mußte er allerhand Ausflüchte ersinnen, Lügen erzählen und lange Geschichten vorbringen und zuweilen sich gekränkt stellen oder Vergeßlichkeit heucheln.

Die Tochter, die allein zu Hause geblieben war, stand ohne eine rechte Bedeutung an der Seite, denn sie merkte wohl, daß der Vater Geheimnisse hatte, und aus Scheu und Mitleid wurde dadurch ihr Benehmen fremd gegen ihn, was er nach seinem bösen Gewissen ausdeutete, als wisse sie vieles und zürne ihm; und die Mutter hielt sie von den Angelegenheiten des Hauses entfernt aus Eifersucht, weil sie selbst die Leitung behalten wollte, und auch aus geheimer Furcht, daß ihre Unzulänglichkeit aufgedeckt werde. So brachte die junge Dame ein freudeloses Leben hin in Sehnsucht nach einer Tätigkeit und Wirkung.

Indem die Dinge so lagen, kam plötzlich der älteste Sohn Bolko unvorbereitet zu einem kurzen Besuch: der Vater erschrak, als er das Telegramm erhielt, und wie des Sohnes sporenklirrender Schritt auf dem Gange hörbar wurde, stockte ihm das Blut. Er führte ihn zur Mutter, die den Ältesten immer besonders geliebt hatte, indem sie von seinem wahren Leben gar nichts wußte, sondern ihn immer nur kannte, wie er als ein hübscher und schlanker Mensch mit offenem Gesicht ehrerbietig in ihrem dämmerigen Krankenzimmer stand. Sie freute sich mit einem glücklichen Gesicht, wie er ihr die Hand küßte, und mit großer Zärtlichkeit streichelte sie seine blonden Haare. Dann ließ sie sich von ihm erzählen, und er mußte Bälle beschreiben und Schlittenfahrten, und auch von seinen Pferden sprach er. So hörte sie immer mit glücklichem Lächeln zu, und als sie selbst einmal einiges sprach, suchte sie seinen Gedanken eine leise Richtung zu geben, denn sie hatte eine Heirat für ihn im Sinn und hätte gern gewußt, welches seine Meinung sei; und in dieser kurzen Zeit erschien ihr plötzlich ihr eignes Leben gar nicht so unglücklich wie sonst, und ihres Sohnes künftiges Leben war ihr heiter und sonnig. Er lachte aber über ihre Anspielungen und machte Scherze, so daß sie ein wenig gekränkt wurde; aber nur ein wenig, sie verzog den Mund, wie sie als junges Mädchen getan, und ganz schnell wurde sie wieder zufrieden und heiter; seit sehr langer Zeit war sie nicht in solcher Verfassung gewesen. Nach einer Weile stand er auf, um das Zimmer zu verlassen; groß und stattlich war er vor ihr, und sie blickte in ein ungetrübtes und lachendes Gesicht. Da überkam sie eine besondere Zärtlichkeit und gab ihm einen Wink, daß er sich über sie beugen mußte, und sie selbst hob ihren Kopf und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn; dabei überflog Röte ihr ganzes Gesicht, und ihre Augen glänzten. Wie er zum Vater zurückkehrte, fand er den in einer Ecke seines großen Lehnstuhls, da sah er ganz verfallen und grau aus; schweigend wies er dem Sohn einen Platz an. Die Furcht vor dem Gespräch lastete auf beiden, und um die Stille zu brechen, sagte der junge Mann endlich gleichgültige Sätze über die Ernte. Der Vater nickte nur, denn ihm verschloß die Angst den Mund noch fester wie dem Sohne, zuletzt aber fragte er doch nach dem Grund des Besuches, unvermittelt. Da schwieg der junge Offizier zuerst lange, und endlich erzählte er, daß er Abschied von den Eltern nehmen wolle, weil er am andern Tage einen Zweikampf habe, in dem er fallen werde. Nichts weiter sagte er, aber der Vater merkte, daß sein Sohn sich schämen mußte über die Ursache, und daß alles unabwendbar war, und saß da mit entsetztem Ausdruck und offenem Munde, und den Sohn überkam ein Ekel vor dem gedunsenen und schlaffen Schlemmergesicht; deshalb fügte er in härterer Sprache hinzu, daß er seine Schulden und andre Verpflichtungen aufgeschrieben habe und ihm das Verzeichnis geben wolle, damit der Vater später alles begleiche.

Da war es, als sei dem Alten das Wichtigste gar nicht klar geworden, und nur das Geringere berühre ihn, und fing an, mit heftigen Worten auf den Sohn zu schelten, daß der Schulden gemacht habe, und in seiner Verstörtheit gebrauchte er ganz gemeine Ausdrücke. Hierdurch geriet der Junge in eine feindliche Erregung und sprang ungestüm von seinem Stuhl auf und erwiderte die Vorwürfe und sagte dem Vater, daß er keine Eltern gehabt habe, und auch sein Bruder habe keine Eltern gehabt und auch seine Schwester nicht; niemand habe sich um sie gekümmert wie bezahlte Leute, denn den Eltern waren sie zur Last, weil die andre Dinge vorhatten; nur wurden sie zuweilen der Mutter vorgeführt in geputzten Kleidern und mit einstudierten Reden; nie haben die Eltern ein Herz gehabt für die Kinder, deshalb seien die nie mit einer Bitte zu ihnen gekommen; ein einziges Mal habe er erlebt, daß die Schwester gebeten, sie möchte gern Kaninchen haben, da sei ihr von der Mutter geantwortet, daß kein Raum vorhanden sei. Viele Vorwürfe habe er sich selbst schon gemacht über sein verkehrtes Leben, das nun jetzt in jungen Jahren zu Ende sei, und er wisse wohl, daß er selbst schuld habe, denn trotz allem hätte er ein andrer Mensch werden können; aber außer ihm selbst seien die Verursacher seines Unterganges sein Vater und seine Mutter. Und nicht lange könne es dauern, dann werde sein Bruder Ivo nach Hause kommen in derselben Weise wie jetzt er. Damit warf er das Verzeichnis der Schulden auf den Tisch und sagte, sein Erbteil müsse hinreichend groß sein, daß diese Summen nur eine Kleinigkeit dagegen ausmachten, und dann ging er aus der Tür; erleichterten Herzens, denn er war ein schwacher und schlechter Mensch und war nun beruhigt in seinem Gewissen, weil er sein Unrecht einem andern aufgeladen hatte. Wie nun die Nachricht kam von dem Tode des jungen Herrn, da ereignete sich das Sonderbare, daß die alte Gräfin plötzlich von ihrem Lager aufstand, auf dem sie fünfzehn Jahre lang verharrt, und war, als sei sie nie krank gewesen. Sie ließ sich die Kleider kommen, die sie damals zuletzt getragen, als sie sich gelegt, und wählte sich ein dunkelfarbiges Gewand aus; es schien aber, als sei sie größer geworden, und ihre Figur hatte sich verschmälert, so daß das Kleid in sonderbarer Weise auf ihr hing, und indem es gleichzeitig unmodern geworden war und für einen jugendlicheren Menschen gearbeitet, machte sie einen seltsam unheimlichen Eindruck in ihrem Aufzug. Mit Leichtigkeit stieg sie die Treppen und besuchte alle Räume und Winkel und betrachtete Vorräte und Einrichtungen und fand alles ganz anders, wie sie es sich auf ihrem Lager gedacht, und geriet in heftige Erregung über die Dienstboten; und so schalt sie im Hause herum und zankte mit Bosheit, während die Leiche des Erstgeborenen gebracht wurde und der alte Herr verstört in seinem verschlossenen und verriegelten Zimmer saß. Nach dem Herkommen wurde der Tote in einem großen Saal aufgebahrt, der mit Tannengrün geschmückt war; in dem Saal hatten seit vielen hundert Jahren die Toten des Geschlechtes gelegen, von Lichten auf alten Leuchtern ihre wachsfarbenen Gesichter beschienen. Die Leute aus der Gegend und die Bedienten und die Arbeiter von den Gütern kamen, die Leiche anzusehen; sie kamen mit ihren Frauen und den schüchternen Kindern und hatten ihre Sonntagskleider angezogen. Da sahen sie die Gräfin in wunderlicher Kleidung, die über die Leiche des Sohnes ausgestreckt lag und schluchzte, daß ihre Gestalt erschüttert wurde. Viele Stunden lag sie so, und wie sie sich erhob, begann sie wieder ihr mißtöniges Schelten mit den erschreckten Leuten und eilte aufgeregt durch alle Räume, Kommodenschubladen aufziehend, in denen sie vor fünfzehn Jahren alte Flicken aufgehoben, in Schränken wühlend und nach längst vertragenen Kleidern forschend, das Porzellan und Glas betrachtend, das die Wirtschafterin mit zitternden Händen auf den großen Ausziehtisch stellen mußte, und das Silber nachzählend, das sie selber putzen wollte.

Der alte Herr hatte mit schweren Sinnen gerechnet und gezählt; zum ersten Male kam ihm jetzt eine Art Klarheit seiner Lage, und er fühlte sich gänzlich hilflos. Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinab, und gebeugt bestieg er den Wagen, um nach dem Orte zu reisen, wo sein Sohn gestanden. Hier suchte er den Wucherer auf in seinem Hause, das erst neu gebaut war, denn der Mann war ein Bauunternehmer; eine marmorne Treppe erstieg er, die mit einem teuren Teppich belegt war, und kam in ein prunkvolles Gemach; es war ihm, als verlasse ihn alles Selbstbewußtsein, das ihm sonst immer natürlich gewesen war, wie er dem stiernackigen Menschen gegenüberstand, der seine gewöhnliche und gemeine Art mit Kaltblütigkeit hinter einer eignen Höflichkeit verbarg, welche der Graf in den Kreisen, welche er sonst gekannt, noch nie getroffen hatte; vielleicht war der Mensch erst vor kurzem aus dem Zuchthause entlassen, und trotzdem wußte er sich so zu haben, daß der adelige Mann verwirrt wurde vor ihm. Vergeblich versuchte der in einer vornehmen und nachlässigen Manier zu sprechen, er mußte abbrechen und nach einer andern Weise suchen; am Ende legte er dem andern mit Schüchternheit seine Verhältnisse offen dar, als sei der gegen ihn ein alter und würdiger Herr, dem er vertrauen müsse, und der ihn ermahnen und tadeln, aber auch unterstützen werde. In diesen Minuten, als ihm der künstlich erhaltene Stolz vor der Kraft eines ehrlosen Menschen zusammenbrach, begann in dem Grafen eine Verstörtheit, die ihn am Ende kindisch machte. Der andre, der seinen Vorteil bald bemerkte, wußte ihn zu den Absichten zu bestimmen, die er selbst sich gesetzt, und so wurden die Schulden derart geordnet, daß der Graf ihm kaum je wieder aus den Händen kommen konnte. Ivo, der zweite Sohn, wurde zu der Beerdigung erwartet; er verspätete sich aber in auffälliger Weise und kam erst, als die Träger den zugeschraubten Sarg eben auf die Achseln nehmen wollten. Nachdem die Feierlichkeit beendet war, saßen die vier Familienmitglieder in trüben Gedanken beisammen. Am Ende begann der Sohn mit einem Scheine, als handle es sich nur um Unbedeutendes, daß er den Vater auf andre Gedanken bringen wolle, und habe er in der letzten Zeit Unglück im Spiel gehabt, und brauche er bis zum übernächsten Tage eine bestimmte Geldsumme, die ihm der Vater gewiß geben werde; absichtlich brachte er die Bitte in Gegenwart der beiden Frauen vor, weil er dachte, daß für das erste sein Anliegen dadurch geringfügiger erscheinen müsse.

In dem alten Herrn wurden durch diese Worte längst vergessene Erinnerungen lebendig, und deren Drang übertäubte in seinem geschwächten Geist das Verständnis dessen, das er gehört. So begann er von seiner Jugend zu erzählen, und wie man damals anspruchsloser gelebt habe, denn nur an Königs Geburtstag habe man Wein getrunken, und sonst Kofent, und er selbst habe einmal seinem Vater kleine Schulden beichten müssen, da habe ihn der übel aufgenommen und ihm vorgerechnet, was er selbst arbeite und verbrauche, und habe ihm dann Hausarrest gegeben vier Wochen lang. Heute aber sei die Jugend leichtfertig, und das Eindringen der reichen Bürgerlichen in die Armee habe die Zeiten vornehmer Einfachheit verdrängt. Ivo saß da in großer Besorgnis, denn in Wahrheit hatte er große Schulden und wußte nicht, wie er seines Vaters Reden auffassen sollte. Und wie der Vater geendet hatte, begann die Mutter, schalt auf die heutigen Zeiten, in denen es keine treuen und sorgsamen Dienstboten mehr gäbe, und erzählte weitläufig von ihrer Leinenaussteuer, wieviel Dutzend sie von jeder Sache gehabt, und wie das alles auseinandergerissen sei, so daß sie nichts Vollständiges mehr vorfinde, und das Wenige, das noch in den Schränken liege, sei übel gewaschen. Dabei war, als seien die fünfzehn Jahre ihres Krankenlagers gar nicht gewesen, und sie verwechselte die Zeiten, denn indem sie von einigen Leuten sprach, dachte sie an deren Eltern, die in den Jahren, welche sie im Sinn hatte, so aussahen wie die jetzt. Dem Ivo wurde es unheimlich durch seine eigne Angst und durch das wirre Sprechen der Eltern, und er blickte hilfesuchend auf seine Schwester; die aber hatte ihren eignen Gedanken nachgehangen und seine Bitte überhört, weil sie im Ton nicht auffällig gewesen war, und da sie den Verfall der Eltern allmählich hatte vor sich gehen sehen, so waren ihr auch diese Reden nicht auffällig gewesen. So saß sie da im schwarzen und geschlossenen Kleid, die Hände im Schoße liegend und ins Leere blickend; sie bedachte aber, wie sie es erreichen könne, daß sie diesem Leben entfliehe, denn bis zur Unerträglichkeit hatte sich der Überdruß in ihr gesteigert.

Aber wie der junge Offizier sich derart ganz allein zwischen diesen drei Menschen fühlte und seine Sorge ihm mit Schwere auf das Herz fiel, stieg es ihm heiß in die Augen, und zwei Tränen rannen ihm über die Backen und in die Winkel des zuckenden Mundes. Hierdurch wurde die Schwester aufmerksam, und indem ihr nun seine früheren Worte in klares Bewußtsein traten, fragte sie erschreckt, ob seine Schuldenlast vielleicht sehr hoch sei; er aber war so bekümmert, daß er nicht zu reden vermochte, und so nickte er nur mit dem Kopfe. Dann, während sich inzwischen unter den Eltern ein Streit entspann um ein silbernes Salzfaß, das die Mutter vermißte, klagte er mit abgerissenen Worten der Schwester, daß es ihm an Mut fehle, um seinem Leben ein Ende zu machen, denn das sei ja doch der einzige Ausweg. Als er das sagte, schrie sie laut auf und verhüllte ihr Gesicht; der Vater wendete sich langsam zu ihr und fragte sie nach der Ursache ihres Schreiens, und indem er an den Wortwechsel über das Salzfaß dachte und in seinen trüben Gedanken meinte, daß es sich bei diesem um etwas Wichtiges handle, das auch seine Tochter schwer betrübe, suchte er mit der alten Gewohnheit liebenswürdiger Gesinnung sie zu trösten, indem er sagte, daß dieses Salzfaß sich schon noch wiederfinden werde, und sie als ein Kind brauche sich nicht solche Sorgen zu machen wie die Erwachsenen. Bei diesen Reden wurde dem jungen Ivo der Zustand seiner Eltern endlich ganz klar, und er verspürte mit Erschrecken, daß er zu seinen eignen verworrenen Verhältnissen nun auch noch das Bedenken der Familienangelegenheiten auf sich nehmen müsse, und nur geringer Trost war es ihm, daß er jetzt die Möglichkeit in der Hand habe, seine Lage in die Richte zu bringen, denn es ahnte ihm wohl, wie arg alles verwickelt war. Indessen besprach er sich nun mit der Schwester, was zu tun sei, und beruhigten die beiden die Eltern und brachten die mit Schonung dahin, daß sie ungestört von ihnen blieben und sich mit Ruhe beraten konnten.

Die ganze Nacht brannte in dem Arbeitszimmer des alten Grafen eine schlechte Lampe ohne Glocke, die sie sich aus der Küche hatten heraufbringen lassen; bei ihrem Schein lasen sie Aufzeichnungen, Ausgabenberechnungen, Einnahmenverzeichnisse und allerhand Aufstellungen über die Vermögensverhältnisse, und als letztes fiel ihnen das Blatt Bolkos in die Hand und die Urkunden über die Unterhandlungen mit dem Wucherer. Es war den Ungeübten nicht möglich, ein klares Bild aus dem Wirrwarr zu gewinnen, in dem sich der alte Herr selbst ja schon seit langen Jahren nicht mehr zurechtgefunden hatte; aber eine recht deutliche Vorstellung von ihrer Lage gewannen sie doch vornehmlich aus einem Schreiben, in welchem der frühere Vermögensverwalter um seine Entlassung bat, der eine andre Stellung angenommen hatte. Indessen drängte die Zeit, denn Ivos Hauptschuld war fällig, und er hatte seine Ehre verpfändet, und so ersparte die Notwendigkeit eines schnellen Entschlusses ihnen die Verzweiflung, die sie überfallen hätte, wenn sie sich länger hätten bedenken können, und es blieb kein weiterer Ausweg, als daß sich Ivo an den Wucherer seines Vaters wendete, da dieser die Verhältnisse am besten kannte und deshalb am leichtesten geneigt sein mußte zur Aushilfe. Was dann weiter geschehen sollte, insbesondere mit dem Vater, und wie Ivo die Ordnung und Verwaltung der Geschäfte in die Hand nehmen würde, das mußte man nachher bedenken.

Eine kurze Zeit war noch bis zur Abfahrt des Wagens für den Zug, den Ivo benutzen mußte. Er trat zu seiner Schwester, und sein Gesicht, das gestern noch leichtfertige und leere Züge aufgewiesen hatte, erschien gealtert und männlicher geworden; und indem er ihre Hand erfaßte, sprach er zu ihr in einem neuen und tiefen Ton, den sie bis dahin nicht von ihm gehört.

„Liebe Schwester, wir sind die letzten von einem alten Geschlecht, zu dem viele Menschen durch Jahrhunderte aufgesehen haben. Nun gehe ich einen schweren Weg, denn ich weiß nicht, ob ich bekommen werde, was ich suche; bekomme ich es aber nicht, so muß ich sterben, denn wenigstens liegt mir das ob, zu achten, daß unser Name nicht in Unehren erlischt. Du bleibst dann allein zurück, aber ich habe um dich keine Sorgen, denn du wirst schon eine Stelle für dich finden in der Welt; das sehe ich jetzt mit ruhigen Augen, denn seit mir offenkundig geworden ist, vor welcher Entscheidung und Ernsthaftigkeit ich stehe, habe ich plötzlich einen neuen Blick bekommen, Leben und Menschen zu betrachten, über die ich vorher gar nicht nachgedacht. Ich weiß, daß mein Bruder meinte, unsers verfehlten Lebens Ursache seien unsre Eltern, und ich selbst habe wohl dieser Meinung beigepflichtet in Stunden, wo das Gewissen mich mahnen wollte; aber dabei wußte ich doch immer im Herzen, daß ich nur eine schlechte Ausflucht meiner Angst suchte, und im Innern wußte ich mit großer Furcht, meines verfehlten Lebens Ursache sei ich selbst, denn ich gab mich hin an schlechte Menschen und war gedankenlos und überlegte nicht meiner Schritte Folgen, und alles, was ich tat, verstrickte mich immer mehr in das Netz, dessen Maschen mich nun so eng umschnüren; und schon daraus, daß ich bisher immer mehr gefesselt wurde, würde ich annehmen, wie auf die Stimme eines Dämons hörend, daß mein Suchen vergeblich sein wird und meines Lebens Ende unabwendbar nahe ist. Nicht wenig aber hat die heimliche Gewissensangst selber zu meiner Verstrickung beigetragen, denn sie selbst machte blind, und gleicherweise das Streben, ihr zu entgehen, indem ich sie mir leugnete, machte blind. Nun aber, in dieser Nacht der Verzweiflung, habe ich ein neues Licht gesehen, und ich weiß nun, daß niemand eine Schuld hat, nicht meine Eltern und nicht ich, sondern wir sind getrieben durch eine Macht zu dem Ende, das sie gewollt hat, und ich glaube, daß ihr Wille gut und nützlich ist. Denn wenn die Macht den Willen hat, daß einer ins Licht kommen soll und sein Geschlecht in die Höhe führen, so ist der pflichtlos und heiter, sorgt nicht und ringt nicht, und ohne sein Zutun wächst er, wie der Baum wächst, hoch wird und breit, und seine Form ist ebenmäßig; aber wer ringt, und wessen Gewissen kämpft, und wer will und wessen Verstand ein Ziel sieht, der ist ein Mensch, der zerfällt, denn er hat sein Band nicht mehr; und was er auch tut, das gereicht ihm alles zum Unsegen; und zum schlimmsten Unsegen gereicht es ihm, wenn sein Gewissen ein eifriger Mahner ist. Den andern aber treibt es ruhig und in Kraft zur Höhe, durch kluge Handlungen und törichte, und durch gute Taten und schlechte. Und nun ist das sonderbarste, daß mir jetzt plötzlich die Fähigkeit geworden ist, durch meinen Blick die Menschen zu unterscheiden, ob sie von dieser Art sind oder von jener; denn zwar hat unsre gegenwärtige Weise des Lebens die Kraft, die Menschen stärker zu zersetzen und aufzulösen wie frühere Zeiten, und so entgehen auch die zum Glück Bestimmten nicht solchen Jahren, wo es scheint, als haben sie ihr Band nicht mehr, und ihre Gedanken klagen einander an, und ihre Handlungen scheinen keinen guten Ausgang zu haben; aber dennoch kann ich diese Guten deutlich unterscheiden von den Geringen; und indem ich die Augen schließe, sehe ich deutlich vor mir, wie meine Freunde und Bekannten sich teilen in die beiden Lager. Diese Worte wollte ich dir hinterlassen zu einer Erinnerung an mich, und auch als einen Trost, wenn du über mein Schicksal bekümmert sein solltest, was ich zwar nicht denke, denn ich habe dir nichts erwiesen, aus dem du eine Liebe gegen mich hättest schöpfen können, und nun ist es ja für solches zu spät. Aber denke nur, daß ich ohne Bekümmernis und in Ruhe den Pfad schreite, der mir vorgeschrieben ist.“

Nach dieser Rede ging Ivo und machte denselben Weg, den sein Vater gemacht zwei Tage vorher; aber wie er vorausgesehen, hatte sein Suchen nach Geld keinen Erfolg. Und so kam die Kunde in die Heimat, daß der zweite Sohn seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe, und mit dieser Kunde kam eine verwirrte Erzählung von einem Mädchen, die zu derselben Zeit in den Tod gegangen sei. Das war ein blutjunges Wesen, das kaum zur Jungfrau herangereift war, die wohnte mit ihrer Mutter in einem kleinen Stübchen, das ein schräges Dach hatte und ein einziges Mansardenfenster, aus dem man über die Dächer und in den rauchverhängten Himmel der Großstadt sah. Zwei weiß bezogene Betten, ein ärmlicher Tisch und zwei schlechte Stühle waren in dem Kämmerchen, und ein herrlicher großer Spiegel aus geschliffenem Glas in kunstvollem Glasrahmen aus Venedig, der das Licht tausendfach widerblitzte.

Die Kleine war eine Schauspielerin, die zu einem großen Theater gehörte, aber wegen ihrer Jugend, und weil sie sich auf der Bühne befangen und eckig zeigte, erhielt sie keine großen Rollen, sondern wurde immer nur zu ganz unbedeutenden Nebenfiguren verwendet, und meistens zu Dienstboten, wo sie dann einige unwichtige Worte zu sprechen hatte. Es lebte aber eine große Sehnsucht in ihr nach der Kunst, und es berauschte sie, wenn sie an die Lampen dachte und an den dunkeln Zuschauerraum, und an eine Leidenschaft, die ihr das Herz überfließend machte, daß sie hätte die Arme öffnen mögen, und an den schönen Klang voller und tiefer Worte. Deshalb lernte sie eifrig für sich und studierte, und wenn sie einen Abend frei hatte, so zündete sie Lichte an, daß der herrliche Spiegel blitzte und funkelte, und trat im Kostüm ihrer Rolle vor den Spiegel und spielte, was sie am meisten liebte; vornehmlich aber war das die Ophelia. Da trug sie ein weißes Kleid, das durch einen goldenen Gürtel gehalten wurde, und ihre gelben Locken flossen über ihren zarten Nacken. So stand sie vor dem blitzenden Spiegel und sprach:

„Da ist Rosmarin, das ist zur Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner! Und das Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue. Da ist Fenchel für Euch und Aklei, da ist Raute für Euch, und hier ist welche für mich, wir können sie auch Reue, Gnadenkraut nennen — Ihr könnt Eure Raute mit einem Abzeichen tragen. Da ist Maßlieb — ich wollte Euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein Vater starb. Sie sagen, er nahm ein gutes Ende.“

Währenddem stand die alte Mutter in der Ecke, und Tränen des Glückes liefen über ihr blasses Gesicht, und sie freute sich der lieblichen und schön klingenden Stimme und der gelben Locken und zarten Gestalt. Und die Tochter umarmte sie, küßte sie und fragte: „Wann werde ich die Ophelia spielen dürfen? Meinst du, noch diese Spielzeit?“ Und vor Sehnsucht und Glück weinte auch sie klare Tränen.

Und an dem Abend, da Ivo auf seiner einsamen Stube saß und an sie einen Brief schrieb voll schmerzlicher Worte des Abschiedes und der Sehnsucht nach Glück, und dann holte er seine Waffen hervor und machte sie bereit, da geschah es ihr, daß Hamlet gegeben wurde, und kurz vor dem Aufziehen des Vorhanges fiel die Darstellerin der Ophelia, die eine berühmte Künstlerin war, über einen vergessenen Bohrer, und verletzte sich den Fuß derart, daß sie nicht auftreten konnte; und wie der Inspizient und die Schauspieler in großer Verlegenheit standen, denn durch einen besonderen Zufall war die Darstellerin, der die Rolle sonst in der zweiten Besetzung anvertraut wurde, für den Abend krank gemeldet, da trat die Kleine mit klopfendem Herzen vor und bot sich an, und in der allgemeinen Kopflosigkeit nahm man ihr Anerbieten an, das in einem ruhigen Augenblick wohl lächelnd abgewiesen wäre. Und nun stellte sich die Kleine vor die Lampen und den dunklen Zuschauerraum, im weißen Kleid mit dem goldenen Gürtel, wie sie so oft vor dem strahlenden Spiegel gestanden. Wie Laertes sie ermahnt: „Schlaf nicht, laß von dir hören“, antwortet sie in süßer Verwirrung ihr „Zweifelst du daran?“ Und in den drei Worten klang ihre Angst und Hoffnung, ihre Liebe und Furcht so wunderbar an die Ohren der Hörenden, daß alle zusammenzuckten, als in Ahnung des angeknüpften Unheils dieser lieblichen Gestalt; und in einem Nu war ein Faden gesponnen zwischen ihrem Munde und den Herzen der Zuschauer, den spürte sie immer stärker werden, wie sie dem Bruder ihre kindliche Ermahnung gibt und ihrem Vater antworten muß, bis zu dem „Ich will gehorchen, Herr.“ Da war erst eine atemlose Stille, wie der Zwischenvorhang fiel, und ihr schien, als müßten alle ihre Herzschläge hören, und dann kam ein sonderbares Geräusch, das sie erst gar nicht verstand, wiewohl sie schon oft den Beifall für andre gehört hatte, und wie sie noch so zweifelnd harrte, da ging der Vorhang wieder in die Höhe und ihre Mitspieler führten sie mit dankbarer Verbeugung vor die Rampe. Dann sprachen andre mit ihr, und sie antwortete und fühlte, daß sie beglückwünscht wurde, und trat wieder auf, und das Stück hatte seinen Fortgang, und auch die Stelle sprach sie: „Da ist Rosmarin, das ist zur Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner! Und da ist Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue.“

Schwankend und mit unsicheren Schritten ging sie nach Hause, wo ihre Mutter sie erwartete, die noch nichts ahnte; und wie sie in das helle Kämmerchen trat, wo das dürftige Abendbrot auf dem Tische stand und die Mutter fleißig an einem Kleid für sie nähte, da konnte sie sich zuerst gar nicht verständlich machen, aber die Mutter erriet schon und jubelte, und eine Lustigkeit kam ihr über das verhärmte Gesicht, und sie wurde beweglich und geschwätzig als eine alte Schauspielerin, die freilich nie zum Höheren gekommen war, und indes die Tochter munter aß, erzählte sie alte Bühnengeschichten und die Legenden, wie diese entdeckt war und jener seinen ersten Erfolg gehabt hatte, fragte dazwischen und beantwortete selbst ihre Fragen, und hatte endlich in allem ein so wunderliches Wesen, daß die Tochter zuletzt in ein lautes und herzliches Lachen ausbrechen mußte.

Erst spät gingen die beiden schlafen unter vielen Plänen und Hoffnungen, und früher wie sonst wachten sie wieder auf, wie die helle Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben schien. Lachend vor Kälte sprang sie aus dem Bett, heizte schnell den kleinen Eisenofen an und kroch wieder in das warme Lager, um noch in behaglichen Gesprächen abzuwarten, bis das Stübchen sich erwärmte und das dicke Eis des Fensters abtaute. Dann erhoben sich die beiden, kleideten sich an und bereiteten sich das Frühstück; wie sie sich setzen wollten, klingelte der Briefträger; sie kam jubelnd zurück; da war ein Brief von Ivo, der war gewiß gestern im Theater gewesen und hatte gleich geschrieben.

Aber wie sie den Brief aufgerissen hatte, wurde sie totenblaß; hastig kleidete sie sich für die Straße an und eilte in Ivos Wohnung. Da standen schon Neugierige auf der Straße und Schutzleute bewachten den Eingang des Zimmers, damit nicht Unberufene eindringen sollten, aber durch ihren Anblick wurden sie bestürzt und ließen sie durch. Da lag Ivo auf dem Fußboden, unentstellt, denn seine Kugel hatte gut getroffen, und nur die Tischdecke war ein wenig verschoben. Der Pistolenkasten stand auf dem Schreibtisch; sie nahm die andre Waffe heraus, ehe den Schutzleuten ihre Bewegung klar wurde, und indem sie gegen sich abdrückte, fiel sie neben ihrem Geliebten zur Erde.

Wie die Unglücksfälle über die gräfliche Familie hereinbrachen, bemühten sich bereitwillige Verwandte um Hilfe. Ein Vetter erschien, ein älterer und unverheirateter Mann, der als ein Sonderling galt, der ordnete, was zunächst notwendig war, denn die junge Gräfin Maria war zu unerfahren, und die alten Herrschaften schienen beide ihrer Sinne nicht mehr ganz mächtig zu sein. Deren Schicksal war nun bestimmt und unabänderlich, und so bemühte sich der Vetter vornehmlich, für die junge Dame etwas auszudenken.

In der ersten Zeit erschien die recht verschlossen und ohne Teilnahme für irgend etwas, bis an einem Abend der Vetter im Ärger aus sich herausging und sie schalt, daß sie wohl auch nur so sei wie alle, die etwas musizieren, etwas malen, englische Romane lesen und Konversation machen. Auf die Vorwürfe erwiderte sie, daß sie gar keine besonderen Talente gehabt habe und wohl gern die Hauswirtschaft geleitet hätte, aber das habe sie nicht gedurft; aber wenn es möglich sei, daß sie etwas nach ihrem Willen tun dürfe, so möchte sie wohl Krankenpflegerin werden. Hierüber wurde der Verwandte recht erstaunt und fragte sie, ob sie denn fromm sei; das verneinte sie und sagte, sie habe vieles gelesen, und wenn sie sich auch kein Urteil anmaßen wolle, so müsse sie doch sagen, daß sie nicht kirchengläubig sei; und wie der Verwandte weiter forschte, stellte sich heraus, daß sie gänzlich atheistisch gesinnt war, und wollte aber Menschen nützlich sein und eine Beschäftigung haben, die sie befriedigte.

Da wurde der Verwandte gerührt und erzählte, daß er als junger Mann eine große Neigung zur Medizin gehabt, und weil das damals nicht als standesgemäß gegolten, ein solches Studium zu beginnen, so habe er sich von seiner Neigung abwenden lassen; dadurch aber habe er sein Leben eigentlich zugrunde gerichtet, denn indem er zu dem andern, das er nun wirklich getrieben, keine innere Neigung gehabt, sei er nie zu Befriedigung und rechter Arbeit gekommen. Deshalb, weil er selbst das durchgemacht habe, wolle er ihr helfen bei ihrem Vorhaben, und es freue ihn, daß sie ihrem jetzigen Leben entsagen wolle, denn das Leben der Vornehmen werde im Grunde doch nur durch die Furcht vor den Leuten bestimmt, die trotzdem nicht so schlimme Dinge verhüten könne, wie sie eben mit Vater und Brüdern durchgemacht. Nach solchen Worten schloß er sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirn; und dann ermahnte er sie nochmals, sie solle bei ihrem Mute verharren, denn der komme aus einem guten Gewissen; und wenn Ängstliche ihr vorstellen würden, daß es ihre natürliche Pflicht sei, daß sie ihre Eltern pflege, so solle sie nicht darauf hören, sondern solle ruhig tun, was sie sich vorgenommen.

 

Weiland hatte sich bald nach dem letzten Zusammentreffen mit Hans und Karl verheiratet. Um wenigstens äußerlich zu zeigen, welche geringe Bedeutung sie der bürgerlichen Eheform beilegten, waren das Brautpaar mit den beiden Zeugen, welche Freunde von Weiland waren, in Alltagskleidung zum Standesbeamten gegangen; da hatten sie in einem staubigen und leeren Vorzimmer gewartet und waren dann zu dem Beamten eingetreten, der hinter einem gelbpolierten Tisch saß und einen Federhalter im Mund hielt und in der Rechten ein Lineal hatte. Der prüfte die Papiere der Zeugen, nahm die Aushangsbescheinigung zu seinen Akten, füllte das Formular in seinem dicken Buche aus, las dann seine Niederschrift laut vor und ließ die Anwesenden unterschreiben, indem er mit ärgerlichen Worten mahnte, daß sie keine Kleckse machen und nichts durchstreichen, auch ihre Vornamen nicht abkürzen sollten. Dann unterschrieb er selbst, und indem das Paar und die Zeugen noch in Erwartung weiterer Geschehnisse standen, winkte er ungeduldig mit der Hand, daß sie entlassen seien und gehen müßten. Im Vorzimmer wünschten die beiden Zeugen mit verlegenen Mienen Glück, und das Brautpaar lud sie der Verabredung gemäß zum Mittagessen ein. So gingen die vier mit leerem und verwirrtem Gemüt in eine Gastwirtschaft, da bestellte der junge Ehemann nach der Karte das Essen, und die üble Stimmung besserte sich ganz allmählich, indem alle zuerst die Speisen lobten und dann die Unfreundlichkeit des Standesbeamten tadelten; nur die junge Frau blieb fast stumm, und man sah, daß sie sich bezwang, um nicht zu stören. Nicht lange verharrte die Gesellschaft an dem unbehaglichen Ort, sondern nachdem sie gegessen hatten, standen sie auf und gingen, und auf der Straße verabschiedeten sich die Freunde mit Danksagungen und nochmaligem Glückwunsch, und dann faßten die Eheleute sich unter den Arm und gingen ihrem Heim zu, das sie sich schon vorher eingerichtet hatten.

Sie gingen durch die Haustür und über den Hof und sahen die neugierigen Gesichter der Mitbewohner an den Fenstern und erstiegen die schmalen Treppen und gingen an den verschlossenen und mit Namenschildern versehenen Türen der Wohnungen vorbei in die Höhe, und immer niedergedrückter wurden sie, wie sie so immer höher stiegen auf der schmutzigen und ungastlichen Treppe. Nur wie sie vor ihrer Tür ankamen, an der bereits das neue Namenschild befestigt war, hatten sie ein glücklicheres Gefühl, aber wie sie dann aufgeschlossen hatten und in dem engen und dunklen Korridor standen, fiel sie ihm um den Hals, schluchzte und weinte heiße Tränen aus dem tiefsten Herzen herauf, und die Erinnerung an die schmutzige Treppe, die sich eintönig an den gleichmäßigen Türen vorbei in die Höhe wand, bewirkte ihnen beiden eine heftige Vorstellung von dem einförmigen, freudeleeren und gedrückten Leben, das heute armen Leuten bevorsteht, wenn sie ihre Jugend verlassen und die Sorgen der Ehe auf sich nehmen. Und wiewohl sie ja jetzt noch jung waren und selbst die Sorgen noch nicht erlebt hatten, und ein fröhliches Stübchen hatten mit neuen Möbeln und frischen Gardinen, und die Sonne schien hier oben in ihre Fenster, so standen doch vor ihrem Sinn die vielen beladenen, mißmutigen, vergrämten und besorgten Menschen, die sie in ihrem Leben schon gesehen, und sie wußten, daß nicht lange mehr ihre Heiterkeit und roten Backen andauern würden.

Aber wie den armen Leuten gegeben ist, daß sie die Gegenwart zu genießen vermögen, so kamen auch die beiden bald über ihre Verstimmung hinweg, freuten sich ihres Stübchens und ihrer Küche, des neuen Sofas und des Salontisches, auf dem eine Visitenkartenschale stand, und des Vertiko; und wiewohl Sofa, Tisch und Schränkchen, neben dem Teppich und den Stühlen und allem anderen, ja neben den bunten Bildern von Marx und Lassalle an den Wänden, genau gleich waren tausend andern Sofas und Tischen, Schränkchen und Stühlen, die in tausend andern Wohnungen junger Leute standen, so schien ihnen ihr Stübchen doch etwas Besonderes und Schönes zu sein, das kein anderer Mensch hatte; und wenn sie zwar der festen Meinung lebten, daß die Zukunftsgesellschaft auch das häusliche Leben viel vernünftiger ordnen werde, wie es jetzt ist, so waren sie doch jetzt glücklich und zufrieden, wie sie ehrfurchtsvoll vor ihrem Salontisch saßen, auf dem die Visitenkartenschale aus bronziertem Zinkguß in der Sonne blitzte.

So führten sie ihre erste Zeit in harmloser Freude und genossen beide das Glück der jungen Ehe und die Vorstellung von einer besonderen Freiheit in ihr, die sie durch ihre Anschauungen und Gesinnungen hatten, daß nämlich die Frau nicht unterdrückt und ausgebeutet werde, und daß sie so in Wahrheit in freier Liebe lebten.

Derart hatten sie ausgemacht, daß sie des Morgens abwechselnd früher aufstehen wollten, denn beide mußten um sechs Uhr auf ihrer Arbeitsstelle sein, und nun sollte den einen Tag der Mann und den andern Tag die Frau zuerst das Bett verlassen, um für beide den Morgenkaffee herzurichten. Nach dieser Verabredung begann den ersten Tag die junge Frau, und mit sonderbarem Behagen erwachte der Mann von einem leisen Huschen auf den Dielen, da sah er durch die halboffene Tür, wie sie den neuen Petroleumapparat instand setzte und Wasser in das Blechgeschirr mit prasselndem Geräusch aus der Wasserleitung ließ, und während das heiß wurde, maß sie den Kaffee ab in die Mühle, nahm die zwischen die Knie und begann zu mahlen. Dann wischte sie den sauberen Küchentisch noch einmal ab und rückte die Stühle davor, holte den Frühstücksbeutel herein und setzte den Topf mit der Milch zurecht. Und wiewohl das alles nur ganz einfache Dinge waren, die nun von jetzt an jeden Tag geschehen sollten, so kam ihm doch ein sonderbares Glücksgefühl ins Herz, indem er zufrieden in seinem Bette lag.

Am andern Tag war die Reihe an ihm; da stand er vorsichtig auf, um seine Frau nicht zu wecken, die indessen mit verbissenem Lachen sich nur so stellte, als schlafe sie noch; mit ungeschickten Händen brachte er die Kochmaschine in Ordnung, wie er es gestern gesehen; aber schon als der das Wasser in die Kasserolle ließ, war er irr, und wie er die Bohnen mahlen sollte, wußte er nicht, wie viel er nehmen durfte. Da mußte er zu ihr gehen und sie fragen, sie aber antwortete, daß er ganz ungeschickt sei und nie die Handgriffe lernen werde, und daß die Männer überhaupt solche Sachen nicht verstünden, und dann sprang sie geschwind aus dem Bett, nahm alles in ihre flinken Hände und besorgte mit Schnelligkeit das Frühstück, indessen der Mann gehorsam zuschaute.

In solcher Weise geschah es, daß nach einiger Zeit die rasche Frau doch alle frauenhafte Arbeit in ihre Hände nahm, indem sie freilich ihren Mann häufig ausschalt; dieser aber, der sich schnell zu großer Geduld entwickelt hatte, nahm solches Schelten nicht übel, da es ja nicht böse gemeint war und eigentlich eine Zärtlichkeit ausdrücken sollte.

Wenn am Abend die Arbeit beendet war und das Abendbrot verzehrt und das Geschirr aufgeräumt, so begann für die beiden der schönste Teil des Tages, denn der Mann nahm vom Büchergestell an der Wand ein aufklärendes Buch, etwa Bebels „Frau“ oder Zimmermanns „Wunder der Urwelt“, las vor und erklärte; die Frau aber, die fleißig stopfte und flickte, hörte eifrig zu, fragte und widersprach, und recht oft kam zwischen beiden eine lehrreiche Diskussion zustande. In den meisten Fällen drehte sich der Streit darum, was die Arbeiter unter den gegenwärtigen Verhältnissen tun könnten, indem der Mann meinte, daß sie sich aufklären müßten und Bildung erwerben, die lebendige Frau aber schalt, daß die Männer träge und mutlos seien und zu Taten vorgehen müßten, und wenn sie selbst ein Mann wäre, so würde sie gewiß suchen, die Arbeiterklasse durch ein Attentat von einem besonders schlimmen Bedränger zu befreien, damit die andern Furcht kriegten. Hierauf erwiderte der Mann, daß sie durch solche Handlungen ja Ausnahmegesetze rechtfertigen würde und den ruhigen Fortgang der Entwicklung stören, von dem man alles erwarten müsse.

Indem die beiden dergestalt für sich lebten, geschah es ganz natürlich, daß sie weniger in Versammlungen gingen und der Mann auch geringeren Anteil nahm an der geheimen Tätigkeit seiner Freunde in Verbreitung verbotener Schriften oder im Sammeln von Geld; er sagte ihnen aber, daß er seinen Mann stehen werde, wenn es nötig sei; und wenn etwa die zunehmende Macht der Arbeiter die Regierung zu weiteren Unterdrückungsmaßregeln treibe und diese dann in einer bewaffneten Erhebung antworteten, um die soziale Republik zu begründen, das etwa in zwei oder drei Jahren geschehen könne, so wolle er selbstverständlich sogleich mit in die Reihen der Kämpfenden treten.

Inzwischen zeigte es sich zu ihrer großen Freude, daß die Frau ein Kind erwartete, und nun machten sie neue Pläne und Hoffnungen, wie sie das nicht wollten taufen lassen und als ein freies Wesen auferziehen ohne den Glauben an alle die Erfindungen, welche die herrschenden Klassen benutzten, um das Volk niederzuhalten, und dazwischen erzählte die Frau von einem schönen Kinderwagen, auf den sie jetzt schon sparte, denn er sollte Gummiräder haben, und auch von Jäckchen und Mützchen sprach sie; diese Gedanken schienen zwar dem Mann töricht, allein er mochte doch nicht recht etwas gegen sie vorbringen, denn sie konnte viel schneller sprechen wie er und auch viel mehr. Er selber trug sich indessen mit noch andern Absichten; denn es war damals zuerst die Sitte aufgekommen, daß die Spekulanten ihre unbenutzten Grundstücke, die zu Bauplätzen bestimmt waren, in kleinen Abteilungen an Arbeiter verpachten, die allerhand Gemüse und Blumen auf dem sandigen Boden zogen, und sich eine Laube bauten, und am Feierabend mit Weib und Kind sich hier in ländlicher Arbeit erfreuten. Einige Arbeitsgenossen von Weiland hatten sich zusammengetan zu einer solchen Ansiedelung, die sie „Klein-Kamerun“ nannten; diesen dachte er sich anzuschließen, wenn er seine Frau von der Vortrefflichkeit des Planes überzeugte, und die Frau sollte das Abendbrot in der Laube zurichten, und da würden sie dann im Freien essen, und das Kind sollte auch im Wagen anwesend sein und die frische Luft mit genießen, und nach dem Essen wollte er dann immer graben, pflanzen und jäten. Derart lebten die beiden als zielbewußte und ganz umstürzlerisch gesinnte Arbeiter doch in allerhand Wünschen, wie sie wohl kleine Bürger haben mögen, und es zeigte sich auch an ihnen, daß die Gedanken der Menschen immer viel weiter greifen, wie ihr eigentliches Streben ist, das für einen Arbeiter in Wahrheit ja doch immer nur auf ein größeres Behagen gehen kann und auf die Art von Freiheit und Sittlichkeit, welche er versteht, nämlich des kleinen Bürgers, weil er den gerade über sich sieht.

So nahte sich die Zeit, wo die Frau entbunden werden sollte. Als eine fleißige und rische Person ging sie noch bis in die letzten Tage auf ihre Arbeit, und weil sie jung und gesund war, so geschah alles ohne besondere Unfälle und in richtiger Weise. Und nun war das Leben und das Glück, das sich jedesmal wiederholt, wo eine Familie wenigstens nicht mit allzu großem Leichtsinn gegründet ist, wenn das Erstgeborene kommt; zwar hatten sie nur ein Mädchen, aber doch war der Vater so stolz, daß er meinte, er sei fast allen seinen Arbeitsgenossen überlegen, und die Mutter dachte, ein so kräftiges, gesundes und kluges Kind sei doch eine sehr große Ausnahme; den Namen gaben sie ihm nach den drei von ihnen am meisten verehrten Männern, nämlich Marx, Lassalle und Bebel, als Karoline Ferdinande Auguste. Es stellte sich naturgemäß heraus, daß die Frau zunächst ihre Arbeit lassen mußte, und so hatten die Ehegatten jetzt wieder viele Gelegenheit, über die bessere Organisation solcher Dinge in der künftigen Gesellschaft zu reden, wo eine gelernte und geübte Pflegerin eine Menge Kinder versorgen kann, indes die Mütter ihrer Arbeit nachgehen, die wegen ihrer geringen Kenntnis und Übung, auch wegen des bekannten Nachteils jeden Kleinbetriebes, doch gewiß ungeeignetere Pflegerinnen wären wie jene, und meinte die Frau, sie würde sich sehr gern von der Gesellschaft an solche Stelle als Pflegerin setzen lassen, denn dabei hätte sie ihr Kind doch immer bei sich, das sie auch nicht bevorzugen wolle. Inzwischen erwies sich das Kind als kräftig wachsend und froher Gemütsart und bekam einen sehr schönen Wagen mit Gummirädern, um den vorher die Frau eines Amtsrichters vergeblich gefeilscht hatte, er war der aber zu teuer gewesen, und auch alle seine Wäsche war sehr schön.

Hans und Karl hatten die Freundschaft mit den beiden aufrecht gehalten, und obschon sie zwar kein rechtes Verständnis für kleine Kinder hatten, so freuten sie sich doch des Glückes der Eltern mit. Zuweilen kamen sie am Sonntagnachmittag in die kleine Wohnung mit den ängstlich geschonten Möbeln, brachten allerhand Zugebröte in Papier gewickelt, wie Wurst und Käse, und aßen dann mit der Familie unter fröhlichen Gesprächen zu Abend; und erzeugte die Annäherung der Klassen in dem Schuhmacher und den Studenten auf beiden Seiten ein besonderes Hochgefühl und eine gewollte Freude, als kämen sie alle in eine neue Freiheit, indem es ihnen freilich oft mit Schwere auffiel, daß es eigentlich wenig war, was sie einander sagen konnten, und daß sie fast sich gegenüberstanden wie Menschen verschiedener Sprachen, die durch einige allgemeinverständliche Laute und Zeichen einander ihre Freundschaft versichern.

Auch Jordan war oft zu Besuch bei den jungen Leuten, jener ruhige Mann, der damals in der Versammlung ihnen die Spuren der Ketten an seinen Knöcheln gezeigt hatte. Einmal, als er mit den beiden Studenten zusammen von dem Ehepaar wegging, war er in sehr trüber Stimmung und in jener Verfassung, die zu Klagen und Erzählungen treibt. So sprach er von seiner Heimat, wo er bei einem alten Meister gelernt, der ihn lieb gewonnen hatte, weil er Sonntags nicht zum Tanzen ging und zu Biere, sondern zu Hause blieb und Bücher las; der hatte ihm gesagt, wenn er seine Wanderschaft beendet habe, so solle er wiederkommen, dann sei er selbst so weit, daß er nicht mehr arbeiten könne, dann solle er seine Werkstätte übernehmen und seine Kundschaft bekommen. Nun hatte er aber gesehen, wie überall das Handwerk durch die Fabriken verdrängt wurde, und auch die Schuhmacher konnten sich nicht lange mehr halten, und wenn jetzt ein junger Mensch sich in einem kleinen Ort als Meister niederließ, so mochte er ja wohl noch ein paar Jahre lang sein Auskommen haben, aber dann ging das Handwerk doch zugrunde, und da war es besser, gleich in jungen Jahren in die fabrikmäßige Produktion zu gehen, solange man sich noch gewöhnen konnte, und vielleicht bekam er eine bessere Stellung. Weshalb Jordan das erzählte, wurde nicht klar; aber der Grund war, daß er Heimweh hatte und sich aus dem großen Fabriksaal mit den schnurrenden Maschinen und der hastigen Arbeit wegsehnte in die kleine Schusterwerkstätte mit dem Schemel, dem Knieriemen und der Glaskugel vor dem Licht. Weiterhin erzählte er, daß er versprochen gewesen sei, kurz vor seiner Verhaftung, und das Mädchen habe er auch von Jugend auf gekannt, denn was man so in Berlin sehe von Mädchen, da wisse man bei keiner, was der schon alles passiert sei, und das sei ja wohl nicht richtig, wenn man als junger Kerl sein Herz an ein Mädchen hängt, denn man könne ja tausend haben für eine, aber weil er sie so lange gekannt und auch ihre Eltern, so sei er doch der Meinung gewesen, er habe etwas Gutes. Wie er aber wieder aus dem Gefängnis herausgekommen sei, da habe er sie mit einem andern verlobt gefunden, und sie habe ihm nur gesagt, die Jugend gehe schnell vorbei, und nachher kommen die Sorgen, darum sei man dumm, wenn man seine Jugend mit Warten hinbringen wolle. Damals sei er an allem verzweifelt, und wenn er nicht aus der Schrift von Engels gegen Dühring gelernt hätte, daß die Handlungen der Menschen durch die Verhältnisse bestimmt werden, so hätte er vielleicht dem Mädchen etwas angetan; nun aber sei das lange her, und er sehne sich nach Weib und Kind, und besonders wenn er bei Weiland gewesen sei, der zwar sehr leichtfertig gehandelt habe, daß er sich außer der Küche noch Stube und Schlafzimmer gemietet; wenn er sich jedoch die Mädchen ansehe, so habe er zu keiner Lust, daß er sie heiraten möchte, denn mit den Jahren werde man immer bedenklicher, wiewohl ja alles Überlegen doch nicht vor einem falschen Schritte bewahren könne, denn Heiraten sei immer ein Glücksspiel.

Aus diesen Reden ging hervor, daß der treuherzige Mann wohl schon seine Augen auf ein bestimmtes Mädchen gerichtet hatte, aber er scheute sich vor dem letzten Schritt aus Furcht, wie denn ja auch Personen seines Schlages, wenn sie nicht ein ganz besonderes Glück haben, übel anzulaufen pflegen in der Ehe.

Als die Weihnachtszeit heranrückte, beschlossen Hans und Karl, nicht nach Hause zu reisen, sondern sie wollten das Fest bei ihren Freunden verleben, die ihrer Meinung nach ihrem Herzen jetzt am nächsten standen. So besorgten sie in Fröhlichkeit die kleinen Geschenke, die sie für einander und für die andern Freunde ausgesucht hatten, pilgerten hinaus zu der entfernten Straße und erstiegen die vielen Treppen der hohen Wohnung.

Hier zeigte es sich, daß die Frau den Baum herrichtete, und daß der Mann mit den Gästen in der Küche warten mußte, und war außer den beiden Studenten noch Jordan anwesend und jenes Mädchen, mit dem Karl sein Liebeserlebnis gehabt; über dieses unerwartete Wiedersehen schien Karl verlegener wie sie, denn sie reichte ihm unbefangen die Hand und schüttelte sie kräftig; Jordan lachte, wie er Karls linkische Gebärde sah, und die andern merkten wohl, daß zwischen ihr und Jordan Einvernehmen war. Da wurde die Tür geöffnet und alle traten ins Zimmer, wo auf dem deckengeschützten Salontisch ein niedlicher Weihnachtsbaum brannte, und die Frau stand zur Seite und hatte das Kind auf den Armen, das zwar noch ziemlich teilnahmslos war, und hielt in einem Händchen seine Kinderklapper und sah mit etwas hängendem Kopf auf den Boden, ungeachtet aller Aufmunterung der Mutter, es sollte den Weihnachtsbaum betrachten. Die andern legten verstohlen die mitgebrachten Geschenke an die passenden Plätze und zeigten dann ihre Bewunderung der Anordnung durch Ausrufe und Lobpreisungen, welche die Frau mit bescheidenem Stolze annahm. Der kleine Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen zeigte sich noch einmal im Spiegel, neben dem die Bilder von Marx und Lassalle friedlich herabsahen. Aus vielen Wohnungen des viereckigen Hofes glänzten durch das Fenster andre Bäume, und das Bewußtsein, daß hier überall sich Menschen freuten, machte noch froher und glücklicher. Da stimmte Weiland mit heller Stimme die Arbeitermarseillaise an:

Wohlan wer Recht und Wahrheit achtet,

Zu unsrer Fahne steht zuhauf.

Wenn auch die Lüg’ uns noch umnachtet,

Bald steigt der Morgen hell herauf!

Ein schwerer Kampf ist’s, den wir wagen,

Zahllos ist unsrer Feinde Schar,

Doch ob wie Flammen die Gefahr

Mög’ über uns zusammenschlagen,

Nicht zählen wir den Feind, nicht die Gefahren all!

Der kühnen Bahn nur folgen wir,

Die uns geführt Lassall’.

Den Feind, den wir am tiefsten hassen,

Der uns umlagert schwarz und dicht,

Das ist der Unverstand der Massen,

Den nur des Geistes Schwert durchbricht.

Ist erst dies Bollwerk überstiegen,

Wer will uns dann noch widerstehn?

Dann werden bald auf allen Höhn

Der wahren Freiheit Banner fliegen!

Das freie Wahlrecht ist das Zeichen,

In dem wir siegen; nun wohlan!

Nicht predigen wir Haß den Reichen,

Nur gleiches Recht für jedermann.

Die Lieb’ soll uns zusammenkitten,

Wir strecken aus die Bruderhand,

Aus geist’ger Schmach das Vaterland,

Das Volk vom Elend zu erretten.

Alle fielen ein, und die mächtigen und jubelnden Töne des Liedes erfüllten den engen Raum und klangen hinaus über den viereckigen Hof mit den gleichförmigen Lichterreihen der Fenster; und bald öffneten sich hier und da Fenster, und neue Stimmen aus den andern Wohnungen fielen ein, und am Ende sangen alle die armen Leute, die rings um diesen Hof in dürftigen und engen Stuben wohnten, und ihr Lied stieg in die Höhe aus der Stätte ihrer täglichen Hoffnungslosigkeit und Sorge zu dem klaren und sternenfunkelnden Himmel; und unser lieber Vater im Himmel hat es gewiß gern gehört, wenn es auch nicht fromm war und die großen Kinder nicht an ihn glauben wollten, und hat sich seines lieben deutschen Volkes gefreut, daß auch solche Leute, denen so wenig Gutes geschieht, doch so rechtlich und brav denken. Wie der Gesang beendet, waren alle tief ergriffen; das waren einfache Arbeiter, die täglich in ihre Fabrik gehen und Schuhe machen für den gemeinen Bedarf, die ganzen langen Stunden des Tages hindurch; und Studenten, die eben den ersten Schritt hinaus taten in die Freiheit des Geistes; die armen Leute, die an die knechtische Arbeit für die Notdurft gefesselt sind, stehen gewiß auf der tiefsten Staffel der Leiter, und diejenigen, die zu geistiger Freiheit zu dringen vermögen, auch wenn sie äußerlich nur bescheidene Stellen erringen, stehen doch gewiß auf der höchsten Staffel; aber wiewohl die größte Entfernung zwischen ihnen war, die unter Menschen möglich ist, so fühlten sie sich doch als wahre Brüder, die sich lieb hatten und sich nicht einer über den andern erhoben dachten; und wurde so wieder einmal lebendige Tat, was unsre Vorfahren meinten, wenn sie sagten, daß vor Gott alle gleich sind, welches Wort heute für die meisten eine sinnlose Rede ist. In dieser neuen und wunderlichen Stimmung erhielten die armen Geschenke, die sie einander machten, und ihre Gefühle, die sie hatten, einen ganz andern und ernsteren Sinn wie vorher, denn es war ihnen wie frommen Leuten in der Kirche, und nachdem erst ein Schweigen auf den Gesang erfolgt war, wagten sie eine kurze Weile nicht laut zu sprechen. Hier begann nun Jordan, ergriff die Hand des Mädchens und sagte, daß er sich diesen Abend ausgesucht, um ihnen als seinen Freunden mitzuteilen, daß sie beide sich verlobt hätten. „Zwar weiß ich,“ fuhr er fort, und das Mädchen erglühte rot, „was vorher mit ihr geschehen ist; aber ich habe bedacht, daß ich selbst sogar mehrere Liebschaften früher gehabt habe, und deshalb wäre es ungerecht von mir, sie zu tadeln, vielmehr wollen wir doch alle, daß auch die Liebe frei und ohne Zwang sein soll; denn freilich wäre jede solche Verbindung unsittlich, die nicht frei wäre, und wahrscheinlich werden in der künftigen Gesellschaft, wo die Not und die Gewalt fehlen, die heute alles Böse erzeugen, die Menschen in Bälde so veredelt sein, daß sie gleich zuerst und ohne einen Irrtum erkennen, für welchen Gatten ein jeder bestimmt ist, dem sie dann angehören ohne Wanken, in Freiheit, aber in Treue.“ Nach diesen Worten schwieg er; die andern aber freuten sich und wünschten ihnen beiden Glück, und als erster gab Karl der Braut die Hand mit frohem Gesicht.

Hierauf mußte zuerst die Kleine zu Bette gebracht werden, und die Braut, die aus Verschämtheit nicht in der Gesellschaft der Männer ausharren mochte, ging in die Küche, den Tisch für alle zu decken und das Mitgebrachte auszupacken, das jeder für das gemeinsame Abendbrot hier niedergelegt hatte. Und während sie das glänzende Tischtuch ausbreitete und in die Mitte die Lampe stellte, und das wenige Geschirr verteilte, das nicht ausreichte für so viel Gäste, besprachen die vier Männer unter dem brennenden Baum ernste Dinge des Parteilebens, denn bei einer Haussuchung war eine Abrechnung gefunden, aus der auf die Einzelheiten der Organisation geschlossen werden konnte, und gleichzeitig mutmaßte man, daß die Polizei einen Angeber gefunden hatte, der vieles wußte, weil sie in der letzten Zeit ganz sonderbares Glück gehabt bei ihren Verhaftungen. Das erfüllte alle mit banger Sorge, und es wurde viel geraten und gedacht, wo wohl der Verräter zu suchen sei, und Weiland sagte, er habe jetzt immer ein schlechtes Gewissen, daß er in solchen Zeiten der Gefahr sich vom Leben der Partei so fern halte, aber die andern hielten ihm vor, daß es doch besser sei, wenn die Unverheirateten sich den Gefahren aussetzen, weil diese durch Gefängnis und Ausweisung ja nicht in ihrer Lebenshaltung bedroht würden wie ein Familienvater, denn ein solcher könne vielleicht ganz zugrunde gehen durch eine Verfolgung.

Inzwischen hatte die Frau das Kind besorgt und war dann in die Küche gegangen, der andern zu helfen, und nun rief sie mit heiterem Gesicht die Männer in den engen und reinlichen Raum, wo durch die Küchenbank und den Holzstuhl und umgekehrte Kisten allerhand Sitzgelegenheiten geschaffen waren um den sauberen Tisch. Aber als sie eben sich unter allerhand Scherzen setzen wollten, ertönte plötzlich die Klingel im Flur; die Frau rief noch fröhlich aus, das seien ihre Eltern, die sie überraschen wollten, trotzdem sie erst für den Feiertag einen Besuch verabredet hätten, und sprang glücklich zur Tür; doch wie sie ungestüm öffnete und eben die Draußenstehenden umarmen wollte, prallte sie erstaunt zurück, denn ein feiner Herr im Zylinder, ein andrer Herr im gewöhnlichen Anzug, ein Polizeioffizier und zwei Schutzleute traten ein und gingen in die Stube, wo noch der Weihnachtsbaum brannte; die andern kamen ihnen aus der Küche entgegen, und so war der enge Raum plötzlich ganz mit Menschen angefüllt. Da gab sich der Herr mit dem Zylinder als der Staatsanwalt zu erkennen, der andre Herr war sein Sekretär. Er teilte Weiland mit, daß er genötigt sei, bei ihm eine Haussuchung vorzunehmen, und drückte sein Bedauern aus, daß er gerade am heutigen Abend kommen müsse; Weiland lachte über diese letzte Rede und deutete ihm an, er solle tun, was sein Amt verlange. Nun wurden zuerst die Anwesenden nach Namen, Wohnung und Grund ihres Hierseins befragt und ihre Antworten von dem Sekretär aufgeschrieben, dann begann das Nachsuchen, währenddessen die Schutzleute die Freunde genau beobachten mußten, wiewohl sie eine Art freundlichere Stimmung gegen die Überfallenen zu haben schienen, die freilich durch den Ernst der Amtspflicht verborgen wurde.

Mit umständlicher Gründlichkeit wurde erst das Schränkchen untersucht nach etwaigen Schriftstücken; zornbebend mußte die arme Frau zusehen, wie ihre geringe Wäsche von den Männern hin und her gewendet wurde, und mit Mühe hielt Jordan sie zurück, daß sie nicht schalt. Endlich fand der Polizeioffizier ein dünnes Paket Briefe auf, das er dem Staatsanwalt reichte, aber plötzlich stürzte sich die Frau auf ihn zu, entriß ihm das Paket und hielt es unter ihrer Schürze. Ein Lärmen und eine heftige Bewegung entstand, sie rief, das seien ihre Briefe, die sie ihrem Manne in der Verlobungszeit geschrieben; der Staatsanwalt suchte die Peinlichkeit durch Beschwichtigungen zu heben, die Freunde redeten ihr zu, daß sie nicht durch unnützen Widerstand noch etwas Schlimmes anrichten möge; da gab sie die Briefe zurück, das feurige Rot der Scham im Gesicht, warf die Schürze vor die Augen und setzte sich weinend in die Sofaecke, wo die Freundin sie mit unterdrückter Stimme zu trösten suchte. Unterdessen fuhren die andern mit ihren Nachforschungen fort in der wunderlichsten Weise, indem sie selbst die Bilder von der Wand nahmen und hinter ihnen versteckte Schriftstücke suchten, den Teppich aufhoben und sich an den Dielen bemühten. Mit einem Eifer und einer Ernsthaftigkeit verfuhren sie, als seien die wichtigsten Dinge hier aufzufinden, durch welche das Bestehen des Staates in Frage gestellt werde, und das glaubten sie auch wohl wirklich. Weiland hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt und sah schweigend durch die Fensterscheiben, weil er vermutete, daß er einen Ausweisungsbefehl bekommen werde, wenn auch die Haussuchung fruchtlos verlaufen mußte, und er wußte nicht, was dann mit seiner jungen Frau und dem Kinde werden sollte, bis er an anderm Ort wieder Arbeit gefunden hatte; denn durch die Natur seiner Arbeit war er auf die wenigen großen Städte angewiesen, wo es Fabriken gab, in denen er arbeiten konnte; die standen aber meistens unter dem Belagerungszustand. Und wenn er wirklich anderswo eine Stelle für sich ausfindig machte, wo er vor neuer Ausweisung sicher war, so dauerte es doch erst eine Weile, bis er wieder zu seinem gegenwärtigen Lohn kam, denn als ein tüchtiger und erprobter Arbeiter wurde er besonders gut bezahlt; und dann machte der Umzug noch große Kosten, die er gar nicht aufzubringen vermochte, weil sie beide ihre Ersparnisse für die Einrichtung ausgegeben hatten. In Gedanken sagte er halblaut zu sich: „Das ist doch unrecht, das ist doch unrecht.“ Hans, der neben ihm stand, drückte ihm still in einem überquellenden Gefühl die Hand. Auf dem Tisch unter dem Weihnachtsbaum lag der erste Band des „Kapital“ von Marx, als ein Geschenk von Hans. Der Sekretär schlug das Buch auf, wies dem Staatsanwalt eine Seite mit vielen Formeln, die sehr gelehrt und schwer verständlich schien, und zuckte dabei als ein hochmütiger Subalterner die Schulter, indem er dabei doch die schuldige Demut gegen den Vorgesetzten zur Schau trug. Hierauf wurde sehr genau das kleine Bücherbrett durchsucht und die Bände einzeln herausgenommen und nach Schriftlichem durchblättert, und weil sich in der kleinen Sammlung mehrere Bücher und Hefte fanden, die verboten waren, so wurden die dem einen Schutzmann zum Mitnehmen übergeben. So gedrückt und unfrei allen zu Mute war, so mußte sich doch Hans fast des Lachens erwehren bei dem verängstigten Gesicht, das dieser machte, wie er die gefährlichen Drucksachen in seine braven, dicken Hände nahm. Wie die Nachforschungen im Schlafzimmer fortgesetzt wurden, erwachte die Kleine und begann jämmerlich zu schreien; die Mutter trocknete sich das Gesicht ab, ging zu dem Wagen und nahm das Kind heraus; aber die vielen Menschen und die ungewohnte Stunde mochten es wohl so erschreckt haben, daß es sich gar nicht beruhigen wollte. Der Schutzmann, dem die Bücher anvertraut waren, holte eine Uhr aus der Tasche und suchte die Kleine zufrieden zu stellen, indem er die vor ihr bewegte, und zuletzt wurde sie auch auf dieses Spielzeug abgelenkt, versuchte nach ihr zu greifen, fing endlich an zu lachen, und am Ende packte sie den Mann mit beiden Händen in seinen dichten, blonden Vollbart, und erst wie er mit ganz tiefer Stimme zu lachen begann, zog sie erstaunt die Händchen wieder zu sich. Dadurch aber war die Mutter so aufgeräumt geworden, daß sie gleichfalls lachte, zu erzählen begann und zu dem Kinde sprach. Plötzlich zwar hielt sie erschreckt inne, denn es kam ihr alles wieder zum Bewußtsein; aber es war doch, als sei eine leichtere Stimmung über alle gekommen. Wie als eine Entschuldigung sagte der Mann: „Wir müssen doch unsre Pflicht tun.“

Drittes Buch

Einige Tage nach der Haussuchung bekamen Hans und Karl eine Vorladung vor den Universitätsrichter, denn die Polizei hatte der Universitätsbehörde Mitteilung davon gemacht, daß sie die beiden in Weilands Wohnung angetroffen, auch weitere Angaben über ihren sonstigen Umgang zugefügt, den sie bereits seit einiger Zeit mit Sorgfältigkeit beobachtet hatte.

Ein alter Herr empfing sie in seinem Amtszimmer mit ernsten und bekümmerten Mienen, legte ihnen erst die Anzeige vor und fragte, ob sie die Nachrichten für richtig anerkannten; da waren allerhand wunderliche Dinge berichtet, daß die beiden einmal in einer Wirtschaft an einem Tische mit bekannten Sozialdemokraten gesessen, und daß sie ein andermal auf der Straße beim Abschiednehmen gerufen: „Auf Wiedersehen am Wahltage!“ Die beiden waren durch die Feierlichkeit der Umstände befangen und gestanden mit stockender Stimme zu, daß die Nachrichten alle richtig seien; da begann der alte Herr ihnen herzlich ins Gewissen zu reden, daß sie doch noch so jung seien und sich mit solchen Menschen zusammentun wollten, welche die Fürsten ermorden und alles umstürzen möchten, was uns heilig sei. Über diese Rede kam Hans in einen heftigen Ärger, daß er die jugendliche Schüchternheit gegen den weißhaarigen und würdigen Mann überwand und entgegnete, solche Meinungen über ihre Absichten seien unrichtig und wollte eine lange Auseinandersetzung beginnen. Diese schnitt der Richter aber kurz ab, indem er mit verächtlicher Gebärde fragte, ob er sich denn zu der Partei zähle; und wie Hans mit einem Ja antwortete und in seiner Erklärung fortfahren wollte, unterbrach er ihn wieder und sagte, es sei gut so. Hierdurch stieg noch die Empörung Hansens, und er sagte schnell, alle ehrlichen Leute müßten zu der Partei halten. Wie der Richter diese kecken Worte hörte, verfinsterte sich sein Gesicht sehr, und er neigte bedenklich den Kopf.

Auf dem Flur draußen, nachdem sie entlassen waren, machte Karl Hansen Vorwürfe über seine Heftigkeit und unbedachtsame Rede; aber er antwortete, er habe nicht anders gekonnt, und ihm sei gewesen, als sitze plötzlich ein andrer Mensch in ihm, der sich auf den Richter losstürzen wolle, und er habe den noch zurückgehalten, und nur einmal als Kind habe er ein ähnliches Gefühl gehabt, wie er mit den Kindern des Grafen habe spielen sollen; und selbst noch jetzt, wo er vor der Tür stehe und alles abgetan sei, geschehe ihm innerlich, als treibe ihn der andre, zurückzukehren und den Richter totzuschlagen. Das erschrecke ihn selber, denn er sei doch sonst ein sehr ruhiger Mensch.

Nun nahm die Angelegenheit der beiden ihren weiteren behördlichen Gang mit Vernehmungen, Verhandlungen und Beschlüssen, und am Ende wurde ihnen „wegen unzulässiger Begünstigung der sozialdemokratischen Bestrebungen“ das Consilium abeundi erteilt. Für Karl hatte der Schlag eine geringe Bedeutung, denn der hatte sich in der letzten Zeit gänzlich in die Literatur begeben und war ohnehin nicht willens, seine Universitätsstudien fortzusetzen; Hans aber arbeitete an einer Doktorarbeit und hatte den Gedanken, später durch die Empfehlung seines Lehrers eine Beschäftigung bei einem großen gelehrten Unternehmen zu finden; und so war für ihn dem Anschein nach eine große Gefahr vorhanden, daß sein Leben scheiterte; denn es war wohl schwer, eine Universität zu finden, wo er nunmehr zur Promotion zugelassen wurde, und wenn ihm das wirklich gelang, so hatte es gewiß große Schwierigkeiten, nachher die gewünschte Beschäftigung zu bekommen.

Weiland war aus Berlin ausgewiesen und hatte zunächst seine Familie zurückgelassen und sich auf die Suche nach einer neuen Stelle in einem andern Orte begeben; aber mehrmals war es schon geschehen, wenn er bei seiner Arbeit war, daß Polizeibeamte in die Fabrik kamen und ihn durchsuchten. Anfänglich schrieb er mit Lustigkeit, wenn er alsdann von seinem erschreckten Herrn verabschiedet wurde und wieder weiterreisen mußte; aber zuletzt lauteten seine Briefe ganz verzweifelt; denn er schämte sich, daß er kein Geld nach Hause schicken konnte. Die junge Frau hatte das Glück gehabt, daß sie die beiden Zimmer vermietete, und so schlug sie sich denn ärmlich mit dem Kinde durch, indem sie in der Küche wohnte; aber sie verbrachte ihre Tage mit manchen heimlichen Tränen, wenn der eine Mieter ihre geliebten Möbelstücke rücksichtslos behandelte, etwa mit den Stiefeln auf dem Sofa lag oder mit der Zigarre ein Loch in die Tischdecke brannte. Sie klagte auch zuweilen dem andern Mieter, dem, welcher in der früheren Schlafstube wohnte; derselbe war Aufseher in einer Fabrik, ein ruhiger und ordentlicher Mann von etwa dreißig Jahren, der verheiratet gewesen und von seiner liederlichen Frau verlassen war. Dieses Unglück Weilands drückte Hans noch besonders nieder, und wie er auch für sich so nirgends einen rechten Weg sah, den er gehen konnte, so erschien ihm sein ganzes Leben in trüber Zwecklosigkeit. Da bekam er unerwartet einen Brief von seinem Lehrer, daß er ihn aufsuchen möge; denn wiewohl er dem durch sein Arbeiten nähergetreten war, hatte er doch nicht gewagt, jetzt zu ihm zu gehen, weil er sich schämte, wie denn Unglück argwöhnisch macht und die Menschen zu einem unsinnigen Stolz verhärten kann. Hansens Lehrer war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und blitzenden blauen Augen, den die Jahre nicht versteinert hatten wie die einen, daß er bei seinen vormaligen Meinungen stehen geblieben wäre, noch hatten sie ihn schwach gemacht wie die andern, daß er sich zu Gesinnungslosigkeit entwickelt hätte, sondern als eine nicht auf das Handeln angelegte Natur hatte er sich zu einer milden Skepsis entwickelt, die in verständigem Zuschauen ihr Genüge fand, und die Wärme seines Herzens hob er für die einzelnen Menschen auf, die ihm irgendwie nahetraten, wie unser Hans. So begrüßte er den mit dem Troste, er wolle dafür sorgen, daß er an einer schweizerischen Universität promoviere, und alsdann werde er auch eine Stelle für ihn finden, wo er zuerst in untergeordneter gelehrter Arbeit tätig sein könne und aber doch Zeit habe, eigenes zu leisten, wenn er es vermöge. Dann fuhr er fort: „Ich meine, daß für jeden jungen Menschen, wenn er anders Kraft in sich hat, eine Zeit kommen muß, wo ihm alle bestehenden Einrichtungen unsinnig erscheinen; denn die haben ihren Grund ja nicht in den sittlichen Idealen, sondern in der menschlichen Gebrechlichkeit. Ein junger Mann aber kennt nur die sittlichen Ideale, weil er die in sich trägt; von der menschlichen Gebrechlichkeit aber weiß er nichts, die lernt er erst durch das Leben kennen, an sich wie an andern. So erneuert sich, um nur ein Beispiel zu nehmen, für jede Generation immer wieder der Zweifel an der bestehenden Eheform, und wie der junge Mensch an die Stelle der Ehe die Liebe setzen möchte, so soll auch in allen andern Verhältnissen an den Platz des Rechtes die Sittlichkeit treten. Bei tüchtigen Personen kommt mit der Zeit die Erfahrung, die ihnen die relative Vernünftigkeit alles Bestehenden zeigt und sie bewegt, daß sie von ihrer Schwärmerei ablassen und vielmehr das Bestehende durch Liebe und Geistigkeit verklären, weil sie anders keinen Ausweg für ihren guten Willen haben; untüchtige Personen aber lernen nicht durch die Erfahrung; und indem sie bei der Schwärmerei verharren, werden sie am Ende aus ursprünglich guten und edeln Menschen zu Narren und Verbrechern, denn weil sie darin beharren, das Gesetz für unrechtmäßig zu halten und allein ihrer Sittlichkeit folgen wollen, verwechseln sie mit der Zeit die Sittlichkeit mit ihren Trieben, weil ja die Menschen bei zunehmenden Jahren immer selbstsüchtiger werden; außerdem aber gibt es schon von Anfang an unter euch Verbesserern der Welt schlechte Menschen, nämlich solche, bei denen nicht das sittliche Ideal und der Mangel an Erfahrung der Grund ihres Abscheus gegen das Bestehende ist, sondern ein Mangel an Zucht und leerer Hochmut. In deinem Falle, mein lieber Hans, kommt noch dazu, daß wir heute in einer Zeit leben, wo ein jugendlicher Stand, nämlich die Klasse der industriellen Arbeiter, die erst vor kurzem durch die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen ist, die ihm historisch gebührende Stelle erstrebt, welche um einiges wenige höher ist wie die, welche er gegenwärtig inne hat. So vereinigt er mit diesem Streben alle die jugendlichen Anschauungen von Gleichheit der Menschen, von erhöhter Sittlichkeit in allen Beziehungen und noch viele andere, die du ja kennst. Und wende mir nicht eure merkwürdige geschichtliche Auffassung und eure Entwicklungsvorstellungen ein: denn auch die sind nur eine jugendliche Illusion neben andern, besonders bezeichnend für unser braves, nachdenkendes und vielstudierendes deutsches Volk. Wenn erst die Verfolgung aufhört, so wird mit der Zeit auch die Illusion schwinden, wenn auch die Terminologie noch beibehalten werden mag.“

Inzwischen bereiteten sich für Karl neue Liebesbande vor. Unvergessen war noch in seiner Seele die Leidenschaft für Johanna, die ihm die Jahre seiner angehenden Jünglingszeit verzehrt hatte, und es war nicht selten, daß ihm ihr eindringliches Gesicht des Nachts in verwirrten Träumen erschien, die wohl keine Erinnerung zurückließen, aber eine dunkle Sehnsucht und ein unbestimmtes Fühlen in der Helle des Tages erzeugten. Nun kam Johanna in diesen Zeiten nach Berlin und hatte bald, wie denn die Welt ja so klein ist, Beziehungen zu dem Kreise Karls gefunden, so daß sie ihm unerwartet entgegentrat. Das geschah aber so.

In ihre kleine Stadt war ein Fremder gezogen, ein etwa fünfzigjähriger Herr, der ein berühmter Geigenkünstler gewesen; der hatte sich ein altertümliches Haus am Bergabhang gekauft, dessen großer Garten mit weitschattenden hohen Bäumen sich den Berg hinaufzog. Die alte Mauer um den Garten wurde durch ein eisernes Staket erhöht, an dem sich im zweiten Jahre Ranken des wilden Weins zeigten, die in Bälde so dicht und hoch wuchsen, daß niemand von irgend einem Punkte draußen in den weiten und schattigen Garten blicken konnte, und das Haus wurde fest verschlossen und nur auf langes Pochen mit dem alten Türklopfer den Boten und Geschäftsleuten geöffnet; denn ein Besuch kam niemals an diese hohe und finstere Tür; und als einzige Bedienung hatte der Herr ein altes Weib nebst deren gleichfalls nicht mehr jungen Tochter, die beide abenteuerliche Gerüchte über ihn in dem neugierigen Städtchen verbreiteten.

Der Künstler hatte ein langjähriges Virtuosenleben geführt, war an Höfen und in Großstädten herumgereist, zuerst mit Übermut und Stolz, nachher in Langeweile und Ekel, und wie er alle Künstlereitelkeit bis auf das letzte befriedigt hatte und der Geschmack auf der Zunge ihm immer bitterer wurde, war ihm der Gedanke gekommen, sich an diesen stillen Ort zurückzuziehen und ganz nur sich selbst zu leben, denn in seinen zerstreuten und verwirrten Umständen zwischen vielen Menschen, die alle leer waren und ihm schmeichelten, war er auf den Gedanken gekommen, er sei ein Selbst, und es sei wichtig und sogar nötig, daß er dieses Selbst in Sammlung und Ruhe rein und groß aus sich herausstelle.

Indessen vergingen ihm in dem alten Hause und stillen Garten die Tage und Wochen; und zuerst hatte er gedacht, dieses müßige Dahingleiten der Zeit sei für das Nächste nötig, damit sich sein Geist erhole von dem zerreißenden Leben, das er geführt. Aber auch späterhin wartete er vergeblich auf eine Sammlung und Zunehmen der Kraft, vielmehr glitten die Tage und Wochen wie vorher dahin, wie in einem tiefen Flusse, schnell und ohne Halt, und auch seine Unruhe vermochte dieses Unheimliche nicht zu hemmen. Und während er vorher gedacht hatte, er könne keine Liebe zur Kunst in sich bilden, weil er nach der Willkür des Zufalls fremden Leuten an verschiedenen und gleichgültigen Orten äußerliche Musik vorspielen müsse, so zeigte es sich nun, daß er in der Einsamkeit gar nicht den Bogen anrühren mochte und es ihm ein heftiges Unbehagen bereitete, wenn er seinen kostbar eingelegten Geigenkasten ansah.

Unterdessen hatten sich aus den Erzählungen der beiden Weiber in dem Städtchen viele Legenden um ihn gebildet, von denen er nichts ahnte; denn er war als ein hochgewachsener und schlanker Mann von künstlermäßigem Aussehen ganz zu einem Helden phantastischer Bilder geschaffen. Auf Johanna, die damals gegen ihr neunzehntes Jahr ging, hatten diese Geschichten und der Anblick seiner Gestalt einen sehr tiefen Eindruck gemacht, so daß sie eine heftige Liebe zu ihm faßte und auf Mittel sann, wie sie sich mit ihm bekannt machen könne. Und am Ende fand sie eines, das freilich sehr gefährlicher Art war, aber dadurch gerade ihrem erregten Gemüt besonders zusagte. Der Fremde hielt sich nämlich zwar von aller Gesellschaft des Städtchens zurück, aber im Winter, wo auf dem großen See eine prächtige Schlittschuhbahn war, verschmähte er es nicht, sich auf dem Eise zu zeigen, denn er war von Jugend an ein eifriger Läufer gewesen; und zwar ging er immer des Morgens auf die Eisbahn, wenn die andern Bewohner der Stadt durch ihre Tätigkeit verhindert waren, so daß er seine kunstvollen Zirkel fast allein und ohne lästige Gesellschaft zeichnen konnte. Hierauf baute Johanna ihren Plan; denn an einer Stelle war das Eis dünn durch einen Quell, der vom Boden aus das Wasser bewegte, und wiewohl der gefährliche Punkt durch Tannhecke immer genügend gekennzeichnet war, so hatten sich an ihm doch schon zwei Unglücksfälle ereignet; die Vorfahren erzählten, daß durch diesen Quell der See mit dem großen Netz der unterirdischen Wasseradern in Verbindung stehe, welche den Wassergeistern als Wege dienen zwischen ihren Städten und Schlössern. Johanna beschloß nun, an einem Morgen, wenn sie den Fremden auf dem See wußte, gleichfalls zum Schlittschuhlaufen zu kommen, und wenn er in der Nähe war, mit scheinbarer Ungeschicklichkeit an die dünne Stelle zu geraten, damit sie einbreche und von ihm gerettet werde, denn daß er vielleicht nicht so mutig sein könne, wie sie annahm, das kam ihr gar nicht in den Sinn.

Nach diesem Plane ging sie nun vor, und es geschah alles, wie sie gewollt hatte, wenn schon ihr zuletzt schien, als handle sie gar nicht absichtlich, und das Eis gab an der Stelle nach, und sie sank ein, mit einem wunderlichen Gefühl darüber, daß das Wasser doch nicht so kalt war, wie sie sich gedacht, und obwohl sie hatte standhaft sein wollen, schrie sie doch laut nach Hilfe, aber es schien ihr, als habe sie dabei gar keine Angst. Der Musiker kam eilfertig auf sie zu, und wie sie seine Figur so von unten sah, erschien er ihr komisch; ohne daß ihr der Grund recht klar wurde, rief sie dem ratlos Ängstlichen zu, er solle sich flach auf das Eis legen und ihr von weitem die Hand reichen; unterdessen hielt sie sich aufrecht im Wasser, indem sie sich an das Eis festklammerte und die Beine nicht in die Höhe ziehen ließ. Er tat nach ihrer Vorschrift, und sie sah vor sich eine vornehme und schmale Hand in feinem Handschuh, die ergriff sie, und so kam sie aus dem Wasser. Wie sie beide aufrecht auf dem Eis standen und sie sein entsetztes Gesicht sah, in dem unter grauem Haar sich schon tiefe Runzeln zogen, da wurde sie so aufgeregt, daß sie ihm um den Hals fiel und ihn mehrmals auf den Mund küßte. Er brachte sie schnell nach Hause, und indem ihre erschreckten Leute sie empfingen, ging er mit dem Versprechen, daß er sich morgen nach ihrem Befinden erkundigen wolle.

Wie er am nächsten Tage kam, war sie gesund und fröhlich, denn der Unfall hatte ihr nicht im geringsten geschadet, und empfing ihn mit heiterm Lachen, er aber stand mit einer fremden Verlegenheit vor ihr, die indessen ihr den schlanken und nicht jugendlichen Mann noch liebenswerter erscheinen ließ. Und indem an die ersten Fäden sich bald weitere anspannen, schien es ihm, daß er eine unwiderstehliche Liebe zu dem jungen Mädchen gefaßt habe, denn in seinem unsteten Leben hatte er zwar manches verliebte Abenteuer bestanden, aber es hatte noch nicht ein Weib wirklichen Einfluß auf ihn gewinnen können. So geschah es am Ende, daß die beiden sich heirateten, wider den Willen des Vaters und zur großen Verwunderung der kleinen Stadt.

Schon am Hochzeitstage wurde sie ungeduldig über ihn und sprach verletzende Worte; er schwieg, aber seine Lippen zitterten und sein Gesicht sah alt aus; da hängte sie sich um seinen Hals und sagte ihm, daß sie ihn lieb habe. Nun geschahen geheimnisvolle Dinge in dem stillen, alten Hause. Einmal wurde bekannt, daß der Mann ein junges Dienstmädchen, das sie angenommen hatten, in ihrer Gegenwart mit einer Feuerzange geschlagen hatte, und war nachher zu dem Mädchen auf ihre Kammer gegangen, hatte ihr Geld gegeben und gesagt, seine Frau sei schuld, er habe nicht anders gedurft, und sie solle heimlich aus dem Hause gehen. Noch viele andre sonderbare Geschichten wurden verbreitet, und am Ende, nachdem die beiden noch nicht ein Jahr verheiratet waren, wurde eines Morgens in der Stadt erzählt, daß der Mann sie heimlich verlassen habe. Es folgte dann nach einiger Zeit eine Ehescheidungsklage, in welcher die Frau einen Eid schwor, der mit der Aussage des Mannes nicht übereinstimmte, aber da dieser seine Aussage nicht auf seinen Eid nehmen wollte, so wurde ihr von den Richtern geglaubt, wenn schon die ganze Stadt der Meinung war, daß sie im Unrecht sei. Nach dieser Scheidung mochte sie nicht mehr zu Hause bleiben, weil niemand mit ihr verkehren wollte, und deshalb kam sie nach Berlin, wo sie bei einem Meister Malunterricht zu nehmen gedachte. Hier gewann sie bald eine gewisse Stellung; denn wenn früher und auch noch jetzt in der ruhigeren Gesellschaft eine instinktive Abneigung gegen die geschiedene Frau herrschte, weil in ihr sich eine Verneinung dessen verkörperte, was der allgemeine Wille der Gesellschaft war, so wird jetzt in den unruhigeren Kreisen umgekehrt eine Geschiedene mit besonderer Freude empfangen als eine Verkörperung der neuen Bestrebungen, und auch ohne daß Johanna selbst Erfindungen zu machen brauchte, wurde von ihren Mitkämpferinnen gleich angenommen, daß sie eines der Opfer der bekannten männlichen Untugenden sei und beklagt werden müsse, und auch Männer schlossen sich der Meinung an.

Inzwischen war jene Luise, welche die kindliche Entführungsreise mit dem Dichter Peter gemacht hatte, zu weiteren Jahren gekommen, und durch jenes unklare Streben und den Drang, eine Kraft zu betätigen, welche damals die Flucht veranlaßt hatten, war sie zu einer Beschäftigung mit dem getrieben, was man die Frauenfrage nannte, und hatte für sich selbst einen Ausgang gefunden, denn sie lernte fleißig bei Lehrern, weil sie das Abiturientenexamen machen wollte und dann in der Schweiz Medizin studieren; und indem auch hier noch keine Scheidung eingetreten ist zwischen den tüchtigen Menschen, auf denen die Zukunft ruht, die ja irgendwie anders sein wird als die Gegenwart, und den zerfaserten und untüchtigen, die nur aus Schlechtigkeit und Ohnmacht mit allem Neuen gehen, so kam sie in ihren Kreisen mit Johanna zusammen und gewann eine Zuneigung zu ihr, wie ja solche innerlich gänzlich zerstörten Personen von Johannas Art oft die Liebe gerade der Besten gewinnen.

Karl hatte durch seine Natur die Gewohnheit, daß er gern mit Frauen sprach, und nachdem seine wunderliche und unpassende Liebschaft ein Ende genommen, besuchte er wieder häufiger eine solche Gesellschaft, wo er Frauen und Mädchen antraf, die zu seiner Klasse gehörten. So kam er jetzt auch oft wieder zu Luisen, die ihn in ihrem jungfräulichen Stübchen empfing, mit ihrem Bruder zusammen, der sich immer mehr zu einem wortkargen und scheuen jungen Gelehrten entwickelt hatte, und saßen die drei dann behaglich um den runden Tisch, wo Luise mit Freundlichkeit als Wirtin waltete, und eine besondere Wärme, die von den friedlichen Wänden, der reinen Luft des Zimmers und der Stille ihrer Bewegungen ausging, bewirkte in seinem Herzen ein besonderes Wohlgefühl; dann wurde nicht gestritten und disputiert, nur Kleinigkeiten wurden erzählt, oft in Andeutungen, die bloß den drei verständlich waren, und zuweilen brachte Karl eine Blume mit, und wenn Luise die in einem zarten Glase auf den Tisch setzte, so freute er sich.

Schon länger hatte er von der neuen Freundschaft gehört, aber wegen des veränderten Namens war ihm keine Ahnung gekommen. So fand er unvorbereitet an einem Tage Johanna beim Eintritt in das Zimmer vor, wie sie an dem Platz gegen das einzige Fenster saß, den er selbst sonst innehatte, und so kam es, daß er sie bei der Vorstellung nicht erkannte, sich gleichmütig verbeugte und unbekümmert setzte. Da sprach Johanna zu ihm: „Ich denke, wir müssen uns kennen.“ Dieser Worte Klang trieb ihm plötzlich das Blut zum Herzen, er sprang auf und zitterte, und war ihm, als müsse er ohnmächtig werden; sie aber brach in ein silberhelles Gelächter aus, das von einer wunderbaren Lieblichkeit anzuhören war. Da schien es ihm, als geschehe das alles meilenweit entfernt von ihm.

 

Es geschah Karl, daß unter seinem gewöhnlichen Menschen, den er kannte, sich plötzlich ein andrer und neuer Mensch erhob, den er nicht kannte, denn der hatte bis dahin unbewegt geschlummert. Ganz plötzlich erhob sich der und zeigte sich als blind und ganz erfüllt von einer unsinnigen und leidenschaftlichen Liebe zu Johanna, und während er sonst alle andern Regungen durch genaue und kranke Selbstbeobachtung in klares Licht stellen konnte, war an diesem Treiben gar keine Beobachtung möglich, denn es schien, als sei es ebenso einfach und nicht zu untersuchen wie der Hunger oder Durst. Gleichzeitig mit diesem verspürte er einen neuen Wunsch, nämlich, daß er an Gott glauben könnte, und indem er meinte, daß es keinen lebendigen Gott gibt, betete er zu dem, daß er ihm Glauben geben möge an ihn. Aber es war ein tiefes Dunkel und Schweigen, und kein Trost kam herab in sein furchtsames Herz.

Ehe er Johanna wiedersah, hatte er oft an Luise gedacht und sie sich vorgestellt, und solches Bild hatte ihn dann getröstet. Etwa sie saß unter einem blühenden Kirschbaum, in welchem die Bienen summten, und ein Blütenblatt fiel langsam sich drehend in ihren Schoß, oder ihre großen und dunklen Augen hatten jenen wunderbaren, tiefinnerlichen Ausdruck, den viele durchweinte Nächte erzeugen, wenn es die Dinge unsrer Seele gewesen sind, um die wir geweint haben; und ihre kühle Hand lag auf seiner Hand, Ruhe in ihm verbreitend und den Frieden, den sie sich erkämpft hatte. Denn auch sie hatte schwere Zeiten in ihrem Innern gehabt, aber wenn es im Gespräch an diese kam, so glitten die Worte an ihr ab ohne Wirkung, und nur im Gefühl teilte sie mit von dem, was sie besaß. Und er wußte, das Leben entflieht, wie der Schatten einer Wolke dahinzieht über schweigende Wälder und Berge.

Nun waren zu dem noch die Gefühle und Triebe des andern und untenliegenden Menschen gekommen, die sich um Johanna bewegten.

Sehr merkwürdig war es, welche Übereinstimmung er mit ihr in scheinbar unbedeutenden Dingen hatte, die doch auf Tieferes in uns weisen; so liebten sie beide, wenn im Bücherbrett die Bände eng zusammenstanden, und wo eine Anzahl Werke von geringerer Höhe neben größeren aufgestellt waren, legten sie andre oben quer über, damit die Lücke ausgefüllt wurde. Eine eigne Rührung überfiel ihn, als er das bemerkte. Auch schien es, als seien sie in allem der gleichen Meinung, und eine Uneinigkeit entstehe nur scheinbar und durch Mißverständnisse. So gelangte er auch neben Johanna oft zu dem Gefühl der Beruhigung. Zuweilen, wenn seine Gedanken einander widerstritten, sagte sie ihm, welches seine richtige Meinung war, ehe er selbst Klarheit gewonnen hatte; bei solchen Gelegenheiten konnte sie ihm scherzend vorwerfen, er rede oft doppelsinnig.

Aber plötzlich wurde ihm dann klar, daß sein Kreis enger geworden, und daß er das frühere Gefühl verloren hatte, hinter seinem Bewußtsein breite sich noch ein großer und dunkler Raum aus, der ihm gehörte, wenn er nur seine Schritte in diese Pfadlosigkeit lenken wollte; dann überkam ihn eine heftige Angst vor ihr, die ihn körperlich peinigte.

Einmal spielte er Schach mit ihr; sie hatte einen Zug getan, der das Spiel gegen sie entschied, und als es schon zu spät war, wollte sie ihn zurücknehmen. Er antwortete, daß das gegen die Regel sei, da stand sie auf und sagte, nun wolle sie nicht zu Ende spielen. Wie er ihren Gesichtsausdruck sah, wurde ihm plötzlich bewußt: sie brauchte ihn nur; und wie sie in diese Klarheit hinein noch sprach, daß er ihrem früheren Mann sehr ähnlich sei, da spitzte sich in ihm plötzlich ein starker Haß zu, und er empfand fast körperlich, wie sie einen selbstsüchtigen Willen auf ihn wirken ließ und durch den vieles aus ihm herausholte, was ihm gehörte, um es sich anzueignen und sich in roher Weise damit zu schmücken. Unter solchen Umständen gelangten sie zum Einverständnis. Und zwar geschah das scheinbar unvorbereitet, aber er hatte es vorhergefühlt. Sie stand von ihrem Stuhl auf, legte die Hände auf den Rücken und ging im Zimmer auf und ab wie ein Mann. Vorher hatte sie geraucht, und von dem Ende ihrer Zigarette im Aschenbecher stieg noch eine dünne Rauchsäule in die Höhe, die jedesmal in Verwirrung geriet, wenn sie in die Nähe kam. Sie begann damit, daß es doch nötig sei für sie beide, zu Klarheit zu kommen, und weil für sie selbst die Peinlichkeit des Anfangens geringer sei, so wolle sie beginnen; denn in seiner Natur liege es, daß er endgültige Entschlüsse scheue. Und wie sie so sprach, arbeiteten in ihm Furcht und Scheu, und er sah unglückliche Zeiten voraus, und doch konnte er nicht aufspringen und ihr entgegentreten, denn sein Herz bebte in tiefer Sehnsucht zu ihr.

Dämmerung sammelte sich in den Winkeln des Zimmers. Sie ging auf und ab, sprach stockend und langsam. Es fiel ihm ein, daß er einen Vorwand haben mußte, um das Gespräch abzubrechen, aber seine Angst fand keinen Vorwand, und sein Herz schlug ihr entgegen.

Ihr Tonfall war fremdartig; und es wurde ihm plötzlich klar, daß sich hier für einen Augenblick in ihr der Vorhang lüftete, durch den ihr eignes Innere sich vor ihr verbarg, und daß sie erschrak vor sich selbst; hätte er ihr jetzt alles sagen können, was er wollte, seinen Haß, seine Liebe, seine Furcht und seine Verachtung, so hätte sie alles begriffen und hätte ihn ziehen lassen. Aber er brachte kein Wort über seine vertrockneten Lippen, und schämte sich für sie. Und weil sie im Staube lag und sich selbst verachtete in dieser Minute, so sagte er, wider seinen Willen und tonlos: „Du hast recht, ich liebe dich über alles.“ Wie diese Worte verhallt waren, sonderbar waren sie verhallt in dem dunkelnden Raume, und sein Herz krampfte sich zusammen, da war auch in ihr der Vorhang wieder zugezogen, und sie wußte nicht mehr, daß sie im Staube gelegen hatte. Karl aber fühlte sich vernichtet, daß er hätte mögen ohnmächtig werden.

Sie kam zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals; und er mußte sie küssen; das war eine Heuchelei, daß er sie küßte, und eine Qual war es für ihn. Sie wich seinem Kuß aus, scheu und befangen; aber auch sie heuchelte ja, indem sie auswich, nur wußte er, daß ihr das keine Qual war. Sie hatte jetzt einen Menschen, der ihre Leiden tragen mußte, einen Feigling, der am Abgrund gestanden hatte und hinuntergesprungen war in die Tiefe, trotzdem er wußte, daß er unten zerschmettern würde, aber er sprang hinunter, weil etwas in ihm war, das ihn zwang, sich in dieses Verderben zu stürzen. Und siehe, jetzt lachte sie schon, mit jenem melodischen Lachen, das ihm so furchtbar war. Er hätte sie fassen mögen und weit von sich schleudern, aber er zog sie an sich und flüsterte Liebesworte. Und an Luise dachte er und ihren ruhigen Blick, und wußte jetzt mit Klarheit, daß es nur seine Schwäche war, die sie fern von ihm gehalten. Denn ihre Seele hatte sich zu ihm geneigt und wollte ihm ihre sanfte Blüte erschließen.

Es folgten die äußerlichen Dinge, Verlobung und Hochzeit, und die Aufmerksamkeit der Menschen, und inzwischen ging der seelische Kampf der beiden weiter, denn auf der einen Seite drang sie in ihn hinein als etwas Fremdes, suchte ihn auszufüllen und sich an Stelle seines Eigenen zu setzen, so daß er hätte mit ihren Augen sehen müssen und mit ihren Gedanken urteilen, und auf der andern Seite nahm sie räuberisch von ihm, paßte das Geraubte sich an, daß es ihr altes Eigentum schien und zeigte ihm das gelegentlich ganz unbefangen. Dann erkannte er mit Wut Stücke von sich in fremder Gefangenschaft, die er nicht befreien konnte.

Doch er kam am Ende dazu, daß er sich gegen das erste mit einem Erfolg verteidigte, und zuletzt wieder allein in sich war; aber gegen das zweite gab es für ihn keine Waffen. Indessen stellte sich da unerwartet eine Hilfe für ihn ein, denn je mehr er sich abschloß und sie aus sich entfernte, desto geringer schien ihre Kraft zum Rauben zu werden, wiewohl sie den Trieb dazu behielt. Dadurch kam sie in eine Enttäuschung, die sie jedoch nicht verstand, denn die Lage erschien ihr jetzt so, daß sie glaubte, sie habe die ganze Welt aufgefaßt, aber die sei ganz einfach und immer gleichmäßig und verursache ihr eine quälende Langeweile. Deshalb glaubte sie sich betrogen, weil man doch die Erwartung habe, daß das Leben mehr sei, und in Haß und Erbitterung über diesen vermeintlichen Betrug schloß auch sie sich nun immer mehr ab und wendete die wenigen und geringen Vorstellungen, die sie erobert hatte, mit Wut immer hin und her, ob sie nicht doch Neues an ihnen entdecke. Darauf gewöhnte sie sich an, zu klagen, und erzählte in allgemeinen Ausdrücken, daß sie vom Unglück verfolgt sei und alles fehlschlage, was sie beginne, und alle andern Menschen mehr Glück haben, und so fort; so wurde sie endlich auch in ihrer Ausdrucksweise pöbelhaft, denn nichts zieht Menschen so sehr ins Gemeine wie solches Klagen. Mehr und mehr wendete sie sich in diesen Reden mit einer Spitze gegen Karl; und am Ende, nachdem alles, was geschehen war, sich ihr ganz verkehrt hatte, sagte sie sogar, daß sie gegen ihre eigentliche Neigung und Absicht und nur aus Mitleid Karls Weib geworden sei, welches Mitleid ihr nunmehr übel vergolten werde.

Johanna hatte den Plan aufgegeben, eine bei ihr vorhandene geringe malerische Begabung auszubilden, weil ihr die Beharrlichkeit fehlte, sich das handwerksmäßige Können anzueignen, das für den Maler nötig ist, und wie so viele dachte sie, daß der Schriftsteller dieses Könnens entraten kann; und wie denn damals, als durch eine mißverstandene Rückkehr zur Natur die Meinung aufkam, durch die Wiedergabe einer zufälligen Beobachtung könnte man ein Dichterwerk schaffen, viele Frauen solche Fähigkeiten zeigten, so wendete sie sich nun der Schriftstellerei zu. Hierdurch entstanden auch äußere Gegensätze zu Karl, denn wenn auch bei ihm selbst die Begabung nicht zum Kunstwerk ausreichte, so wußte er doch um diesen Mangel schon bei sich genau, denn er beschränkte als Mann sein Wollen nicht auf sein Können, und noch deutlicher sah er den Mangel aber bei seiner Frau, deren Begabung zudem noch geringer war wie die seinige, da sie noch mehr lediglich Ausdruck einer problematischen Natur war und von jener Art, wie sittlich geringwertige Menschen sie oft haben durch ihre Minderkraft.

Aber auch diese Kämpfe der Ehegatten fanden keine rechte äußere und anschauliche Form, die eine eigentliche Erzählung möglich machen würde, und so muß es auch hier am bloßen Bericht genügen.

Inzwischen hatten auch Karls frühere Geliebte und ihr Verlobter Jordan geheiratet, nachdem sie ihren gebührlichen Brautstand gehabt, und hatte sie wohl große Sehnsucht, daß sie ihr Kind wollte zu sich nehmen, das sie von Karl bekommen, aber sie scheute sich; wie sie aber am Hochzeitstage von ihrem Mann in die Wohnung geführt wurde, die sie zusammen eingerichtet für sich, da fand sie in einem Kinderwagen liegen und ruhig schlafen das kleine Söhnchen, denn ihr Mann wollte ihr eine Freude machen. Da weinte sie vor großem Glück, küßte und herzte den guten Jordan, und weil das Kindchen eben aufwachte und nach einer Nahrung schrie, ging sie schnell in die Küche, woselbst schon alles bereit stand, und richtete ihm seine Flasche, und inzwischen spielte der Mann mit dem Kleinen, indem er ihm seine Uhr vorhielt und mit Schlüsseln klingelte. Sie aber bei ihrer Hantierung überlegte sich, was sie ihm sagen wolle, und wie sie wieder in die Stube kam und das Kind besorgt hatte, sprach sie zu ihm: „Ich bin sonst stolz gewesen und hätte von einem andern keine Gabe angenommen, auch wenn ich ihn lieb hatte, wie ich ja in Wahrheit Karl lieb gehabt habe. Von dir aber nehme ich alles an; und das nicht deshalb, weil ich weniger stolz geworden bin, sondern weil du ein solcher Mensch bist, daß sich einer nicht schämt, wenn du ihm gibst. Und nicht eine gewöhnliche Dankbarkeit habe ich gegen dich, sondern weil ich weiß, daß das Glück, das du andern schenkst, durch deine Güte wieder reicher zu dir zurückgeht, so liebe ich dich nur mehr in größerer Fröhlichkeit.“

Nun lebten die beiden in ruhigem Glück, das sie dadurch noch mehr wärmte, weil sie beide vorher durch schweres Unglück gegangen waren, und genossen das Glück mit klarem Bewußtsein, daß dieses Unglück notwendig für sie gewesen war.

Recht bald begann der Kleine aufrecht zu sitzen, und dann wurde er aus dem Wagen genommen und erhielt ein kurzes Kleidchen und versuchte zu gehen; und wiewohl er seinen Pflegevater nur eine kurze Zeit zu sehen bekam des Abends, wenn der von der Fabrik heimkehrte, hatte er ihn doch besonders in sein Herz geschlossen, sah ihn viel an und hielt sich zu ihm, denn auch ganz kleine Kinder wissen schon den Gesichtsausdruck der Erwachsenen zu deuten und haben nach dem ihre Gefühle. Schon in den ersten Tagen, wo er sich frei auf dem Fußboden bewegen durfte, hatte er gemerkt, daß der Vater, wenn er gekommen war, seine Schuhe wechselte, und so brachte er ihm, ohne daß es die Mutter ihm aufgetragen, seine Pantoffeln. Hierüber erhob sich bei den Eltern eine große Freude und ein besonderes Rühmen seiner Klugheit, das bewirkte, daß er auch fernerhin bei dieser Erfindung verharrte. Es bewunderten auch die andern Frauen im Hause den Kleinen sehr und erzählten ihren Männern von dem Kind, und der Kaufmann an der Ecke fragte jedesmal die Mutter nach ihm, wenn sie einholte. Über alles dieses wurde sie noch glücklicher, und ihr Gesicht war so, daß jeder froh werden mußte, der sie ansah.

Weil sie doch nun einen Mann hatte und sich nach ihrer Vorstellung nicht mehr des Kindes vor andern zu schämen brauchte, so bekam sie eine besondere Lust, einmal mit den beiden zu ihren Eltern zu reisen, die auf einem Dorfe und mit der Bahn nicht allzu entfernt wohnten. So beredete sie denn eine lange Zeit mit ihrem Mann diesen Plan, und wie die Witterung passend war und sie beide mit Kleidung wohl versehen, daß sie den Eltern gefallen mochten, da erbat er sich für einen Montag Urlaub, und sie fuhren auf zwei Tage nach dem Ort mit großer Freude; der Kleine war sehr artig unterwegs, und viele, die mitreisten, fragten die Eltern über ihn, ließen sich erzählen und freuten sich seiner.

Die Eltern der Frau waren Instleute, die zu einem großen Gute gehörten und ein Häuschen für sich hatten, eine Kuh und zwei Schweine, und ein Stück Acker bekamen sie von der Herrschaft. Sie verwunderten sich sehr über ihre Tochter, daß sie so schön gekleidet war, und über den Schwiegersohn, und über den Enkel, und waren über die Maßen stolz und fröhlich, und mußten die Kinder von allem erzählen, von der Arbeit des Mannes, und von seinem Lohn, und von ihrer Wohnung in einem so großen Hause, daß in dem einen Hause so viele Menschen wohnten, wie hier in dem ganzen Dorfe, und daß sie polierte Rohrstühle in ihrer Stube hätten. Über das alles schlug die Mutter die Hände überm Kopf zusammen, und der Vater sagte nur: „Ei, ei!“ Und bei dieser freudigen Verwunderung der Alten wurde es den beiden erst so recht klar, wie gut sie es hatten, und wie glücklich sie lebten.

Dann nahm die alte Mutter den Enkel auf den Arm, der ganz fein und vornehm aussah in seinem großen, weißen Hut neben ihrem verbrannten und verarbeiteten Gesicht, und ging mit ihm hinaus in den Hof, ließ ihn die Schweine im Stall sehen und erzählte ihm, daß die zu Martini geschlachtet würden, und daß dann Wurst gemacht würde, und er solle dann auch eine kleine Wurst haben, und dann zeigte sie ihm die Kuh, die vor der Krippe stehend zurücktrat und sich umsah nach den beiden mit ihren großen, sanften Augen. Und wie die Alte so allein mit dem Jungen war und keiner sie sehen konnte, herzte sie und küßte den Enkel fortwährend, denn vorhin hatte sie das nicht gewagt, und das Kind streichelte ihr die Backe und faßte lachend an ihre Nase. Der Alte aber führte den Schwiegersohn im Häuschen herum und zeigte ihm alle Einrichtungen, wie er die Wurst räucherte, und wo er sein Korn aufhob, denn er bekam Dreschanteil, auch das Dach zeigte er ihm und erzählte, daß es früher mit Stroh gedeckt gewesen sei, aber er habe jetzt ein Ziegeldach hergestellt, und zwar habe er Falzziegel genommen, was das Neueste sei und sehr viel besser als die Hohlziegel, die man früher gehabt, und so redete er noch vieles Wirtschaftliche und Verständige mit dem Schwiegersohn. Und weil ihm der so gut gefallen hatte, und er selbst hatte doch auch seinen kleinen Stolz, so nahm er ihn am Ende beim Ärmel und sprach zu ihm, er müsse nicht denken, daß die Eltern seiner Frau Habenichtse wären; und wenn sie einmal starben, so kamen doch auf jedes Kind etwa hundertundfünfzig Taler, die sie dann erbten.

Wie es gegen den Abend ging und die alte Frau daran dachte, das Essen zu bereiten, da taten sich die beiden Alten zu einer heimlichen Unterredung zusammen, und dann brachten sie eine Flasche Wein zum Vorschein, die hatte die Herrschaft vor Jahren einmal geschickt als eine Stärkung für die alte Frau, die damals recht krank gewesen war, aber sie hatte aus eigener Ehrfurcht nicht gewagt, das Geschenk anzurühren, sondern es aufgehoben, wenn einmal ein besonderer und festlicher Tag sein sollte. Sie lachten beide viel in Behaglichkeit und in Unruhe über das Ereignis, daß die Flasche nun entkorkt werden sollte, dann bereiteten die beiden Frauen am Herde das Essen, und die Mutter freute sich, wie flink ihre Tochter war, dachte auch seufzend früherer Zeiten, wo ihre Glieder noch nicht so steif geworden; ganz leichtfertig ging sie an den Speck und schnitt ein großes Stück ab, auch viele Eier nahm sie und ein großes Stück Butter stellte sie auf, und wenn sie auch eine heimliche Furcht hatte, ob nicht zu viel aufgehe, wenn sie den Tisch so üppig bereite, so freute sie sich doch wieder, daß es ihren Kindern gut schmecken sollte. Das gute Essen und der Wein machte alle Lebensgeister noch froher und munterer, und der alte Vater erzählte aus seiner Jugend und rühmte die heutige Zeit, daß es da jeder besser habe, und wer ordentlich und brav sei, der erreiche auch etwas, sei es nun in der Heimat oder in Amerika; und seine Bäcklein röteten sich unter den grauen Stoppeln, und er begann sogar die alte Mutter an die Zeit ihrer Verlobung zu erinnern, daß die erst sich schämte und ihm verbot und nachher gerührt wurde und sich mit dem Schürzenzipfel ein Tränlein aus dem Auge wischte; am meisten lag ihm jedoch das neue Dach aus Falzziegeln am Herzen, und er wurde nicht müde, dessen Vortrefflichkeit zu preisen. Die beiden Alten hätten in ihrem Stolz das Enkelkind gar zu gern ihrer Herrschaft gezeigt, nur wußten sie nicht recht, wie sie das beginnen sollten, denn sie hatten Furcht, daß sie aufdringlich erscheinen möchten, und die Herrschaft denke vielleicht, sie wollten etwas geschenkt haben für das Kind; da kamen sie am Ende überein, daß die Tochter mit dem Kleinen den alten Vater morgen auf dem Felde besuchen sollte zu einer Zeit, wo der Herr gewöhnlich geritten kam, dann würde der fragen, und er wollte ihm alles erzählen und ihm seine Tochter zeigen und das Enkelkind, und das sähe doch dann aus, als sei es bloßer Zufall gewesen. Und wie sie so sprachen, begannen sie allerhand Vergleiche mit diesem Nachbarskind und mit jenem; und keines, fanden sie, war so prächtig wie das ihre, denn an dem war alles zu bewundern.

So gingen am Ende alle schlafen, und wie sie in den rundlich gestopften und weichen Betten lagen, denn die Alten hatten zwei leere Betten stehen und die Federn waren von ihren Gänsen, die sie selbst gezogen, da waren alle so froh, daß es gar kein größeres Glück geben konnte, und schliefen fest und ohne Träume. Und am andern Tage wurde die geplante Begegnung mit dem Herrn auch durchgeführt, und der Herr fragte auch, und wie er alles gehört hatte, sprach er freundlich mit der Mutter und dem Kind, und wiewohl er nur einige gleichgültige Worte gesagt hatte, so wiederholten die beiden Alten die doch immer wieder und waren froh.

Dann aber ging es an das Abschiednehmen, und die Eltern mit dem Kind fuhren wieder nach Berlin zurück, unter vielen Versprechungen und Plänen, daß sie selbst bald wieder kommen wollten, und daß die Eltern sie in Berlin besuchen sollten, und dem Jungen hatte die Großmutter noch zwei schöne, große Äpfel heimlich in die Hand gegeben, die vom vorigen Herbst waren und aussahen wie eben gepflückt, die hielt er mit großer Sorgfältigkeit fest, bis die Mutter sie ihm abnahm, weil er müde wurde und schlafen wollte.

Nun geschah es aber, daß das Kind krank wurde, und fiel der Mutter zuerst eine seltsame Aufgeregtheit auf und besondere Röte des kleinen Gesichtes, dann wurde der Arzt gerufen und erkannte einen heftigen Anfall von Scharlach. Wie die Eltern seine Worte hörten, bekamen sie zwar erst einen Schreck, aber darauf bedachten sie, daß doch die meisten Kinder von dieser Krankheit befallen werden und wieder genesen, und das machte sie wieder guten Mutes. Dann folgte ein seltsamer Vorgang, nämlich das Kind wurde immer kränker, die Eltern aber, als ob sie eine heimliche Furcht hätten, die sie durch gewollte Hoffnung beschwichtigen könnten, wurden gleichzeitig immer zuversichtlicher. Aber am Ende geschah es in einer Nacht, wo die Mutter am Kopfende des kleinen Bettchens saß, daß das Kind plötzlich schneller atmete, und weil die Mutter vom Arzt gehört hatte, daß die Entscheidung bevorstand, so dachte sie bei sich, jetzt überwindet es die Krankheit, das macht ihm Mühe; plötzlich aber verzog sich der kleine Mund wie zu einer kläglichen Bitte, und das Gesichtchen sah mit einem Male viel älter aus, und da blieb der Atem stehen. Das war der Mutter zuerst recht sonderbar; aber mit einem Male verstand sie, was das bedeutete, und schrie: „Er stirbt, er stirbt!“ Da sprang der Mann vom Lager auf und kam mit einem ungläubigen Lächeln und wollte beruhigende Worte sagen, indem er die kleinen Händchen erfaßte; die waren aber ganz anders geworden, und das Wort stockte ihm.

So standen nun die beiden vor dem Leichnam und verstanden nichts, nur daß dem Mann einfiel, daß er die Augen zudrücken mußte. Und wie die Augen geschlossen waren und der Schatten der langen Wimpern sich abzeichnete, war der klägliche Ausdruck um den Mund des Kindes verschwunden, und in dem wachsfarbenen Kindergesicht zeigte sich ein tiefer Ernst und eine wunderbare Entschlossenheit, wie eines Helden, der einen schweren Gang zu tun hat. Da sank die Mutter auf die Kniee und begann zu schluchzen. Dem Mann aber zerstreuten sich noch immer die Gedanken durch den Gram, weil er keine Handlung zu tun hatte, denn noch eine lange Zeit war ihm, als müsse er verlegen sein und lächeln, und wunderte sich über sich selbst, denn er hatte das liebe Kind sehr gern gehabt, und am Morgen geschah ihm wunderlich, wie er seine Hausschuhe erblickte, die ihm der Kleine abends immer angeschleppt hatte, jeden einzeln, und drückte ihn ungeschickt an sich; da strömte es ihm plötzlich aus den Augen, ohne daß ein Aufhalten möglich gewesen wäre, unaufhörlich, wie eine Quelle, und ohne Schluchzen. Da schonten die beiden einander und sprachen nicht miteinander und taten ein jedes, was nötig war.

Am Abend des zweiten Tages sagte die Frau: „Ich habe bis nun nicht an Gott geglaubt und war stolz auf diesen Unglauben. Jetzt aber weiß ich, daß es einen Gott gibt, und zu einer Strafe für mich habe ich diese Einsicht gewonnen, denn ich habe dahingelebt in Leichtfertigkeit und ohne Gedanken, und wie dieses Kind kam, habe ich es nicht aufgenommen als eine Bestrafung dafür, daß ich nicht an mich dachte und an die Aufgabe, die ich erfüllen soll, und auch nicht als ein Geschenk, das mich zur Besinnung, Liebe und Nachdenken bringen konnte, sondern als eine zufällige und ungerechte Last, die ich verabscheute, und auch die Freude, die ich später an ihm gehabt, ging nicht aus einer Belehrung und Besserung hervor, sondern nur aus derselben alten Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit, nach der ich dahin gelebt habe wie ein Tier im Walde. So ist mir dieses Kind nun wieder genommen, und ich habe meine Strafe dahin und weiß nun, daß alles das nicht möglich wäre, wenn es nicht einen Gott im Himmel gäbe. Durch dessen Nachsicht habe ich bis jetzt gelebt, nun aber kann ich nicht mehr leben. Wenn ich aber das tote Kindchen ansehe, so ist mir, als habe es alles das gewußt, und wiewohl es nur eben anfing, die ersten Laute zu sprechen und ganz kindisch war in seinem Wesen, so hat es mich doch ganz durchschaut, und in seinem Innern hat es mich gerichtet; das sehe ich an dem Ausdruck seines Gesichtes.“

An Karl war eine Nachricht von dem Geschehnis gesendet; er kam zu den beiden, und wie die Beerdigung war, wohnte er der mit seiner Frau bei. Für das Kind hatte er keine rechten Gefühle gehabt, da er es kaum gesehen, denn die väterliche Liebe wächst erst, wenn ein Vater in einem größer werdenden Kinde sein eignes Bild wiedererkennt, und jene besondere Liebe, die wir zu den ganz Kleinen haben, auch wenn sie uns fremd sind, in deren großen und unbestimmten Augen noch ihre himmlische Heimat träumt, die entsteht doch nur im ganz nahen Zusammenleben. Auch hatte er nicht mehr genug Zuneigung zu seiner früheren Geliebten, um mit ihr zu empfinden und zu verspüren, was für sie das alles bedeutete. So überwog bei ihm das Gefühl der Peinlichkeit seiner wunderlichen Lage, und er hatte eine Empfindung von Leerheit; die aber machte ihn betroffen, wie er neben den beiden tiefgebeugten Menschen stand; und seine Frau war von äußerlicher Höflichkeit und zeigte eine gewisse Neugierde. So kam es, daß sie auf die hochgespannten und empfindlichen Seelen der andern verletzend wirkten und denen ein häßliches Gefühl verursachten. Nur einen Augenblick tauchte bei Karl etwas Besonderes auf, als er sah, wie Jordan mit Zartheit seiner Frau den Arm streichelte, als könne er sie dadurch trösten; da wurde ihm klar, wie die beiden zusammengehörten und eins waren, und was in Wahrheit die Ehe bedeutet, und empfand ein tiefes Mitleiden mit sich selbst.

Auf dem Heimweg sprach Johanna gleichgültige Dinge in kalter und selbstsüchtiger Weise und erregte in Karl eine tiefe Erbitterung. Jordan und seine Frau waren schweigend nach Hause gegangen; denn der Mann wußte nicht, was er zu dem sagen sollte, was in ihr sich jetzt bewegte und Gestalt annahm, und hatte Scheu und Ehrfurcht vor ihr; ihr aber hatte dieses Zusammenkommen mit dem früheren Geliebten einen neuen Eindruck gemacht, dessen Folgen sich erst nach Wochen zeigten. Da sprach sie zu ihrem Manne: „Ich habe ein herzliches Erbarmen mit Karl, denn er ist ein ganz unglücklicher Mensch; und das nicht nur durch sein ganz schlechtes Weib, sondern auch durch sich selbst. Es ist mir aber sein Anblick eine Tröstung gewesen in meinem gegenwärtigen Leiden, denn durch ihn habe ich gesehen, daß ich doch nicht verworfen bin. Wir haben die christlichen Lehren ja alle gehört, aber weil sie uns nur äußerlich gelehrt wurden und nicht eine Antwort auf das Fragen unseres Herzens waren, so haben wir sie nicht verstanden und dadurch sind sie uns fast in Vergessenheit geraten. Jetzt weiß ich, was Gottes Liebe bedeutet, und weiß, daß Gott mich liebt. Deshalb habe ich keine Unruhe mehr, mache mir auch keine Vorwürfe und Sorgen, denn ich weiß, daß mir nur Gutes geschehen ist, und daß mir nie Übles geschehen wird, durch die Liebe Gottes. Diese Erkenntnis ging mir auf, wie ich Karl beobachtete, denn der gehört nicht zu den Auserwählten; weshalb das aber so ist, weiß ich nicht, und das wird wohl ein Geheimnis sein, das Gott sich vorbehalten hat.“ So sprach die Frau; und wiewohl der Mann den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch später nicht verstanden hat, denn er war ein Mensch, der auf anderm Wege zu seinem Ziele kam, nämlich durch seine eigne Milde und Güte, so wußte er doch, daß auch solches gut ist, und ließ sie nach ihrer Art denken.

Und so lebten die beiden sich immermehr ineinander, und am Ende erreichten sie dasjenige Maß von Vollendung, das bestimmt ist für solche Leute, wie sie sind, mögen das nun gelehrte und hochmächtige oder schöne und berühmte Menschen sein, oder ein armes und unbeachtetes Arbeiterpaar, das nicht unterschieden von den andern in einer menschenerfüllten Stadt wohnt.

 

Hans erhielt einen Brief von seiner Mutter, er solle recht schnell nach Hause kommen, denn sein Vater sei sehr krank, und weil er wußte, daß das eine gefährliche Krankheit war, denn sonst hätte sie nicht so dringend geschrieben, so machte er sich eilig und voll Sorge auf die Heimfahrt; und fuhr denselben Weg wie damals, als er vor Jahren nach Berlin gekommen war, nur fehlte ihm jetzt der Glanz der Erwartung, und alles erschien ihm wie einem Enttäuschten, und sonderbar nüchtern war es auch in der Heimat, die Luft, und die Frische, die wohlbekannte Art von Menschen mit luftgefärbten Gesichtern, und die Häuser und Wälder. Wie er den alten Weg zum Forsthause ging, da kam ihm keinerlei freudiges Gefühl, und nur auf den gemeinen Nutzen waren die Holzstöße, das dünne Waldgras und die hohen, grauen Baumstämme gestimmt, und das alte Haus erschien ihm klein und dürftig mit der niederen Haustür und den winzigen Fenstern, und es war, als hänge alles hier nur von der täglichen Notdurft ab, in einer kleinlichen, beengenden und drückenden Weise, und wiewohl das Stübchen genau so war wie früher, so schien es gering und unwohnlich, und ganz jämmerlich waren die häßlichen Lithographien vom Leichenzug des Jägers und des Fischers, die über dem schwarzen Sofa hingen. Der Vater ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab und begrüßte den Sohn in zerstreuter Weise, ohne nach etwas zu fragen, die Mutter kam mit verweintem Gesicht aus der Küche; wie alt und gebückt erschienen die beiden, die er als so stattlich in der Erinnerung gehabt; waren denn das die wenigen Jahre gewesen, die derart alles verändert hatten? Der Vater begann gegen Hans gleich über einen Holzarbeiter zu schelten, der etwas versehen hatte, denn er konnte seine Gedanken nicht mehr recht bewegen, und weil er den Mann eben im Sinne gehabt, so mußte er über ihn sprechen; auch vermochte er sich keine Vorstellung zu machen, welche Sorgen und Gedanken in seinem Sohne sein mochten, den er früher doch so zärtlich geliebt hatte; und die Mutter fing an zu klagen, wie sie mit Hans allein war, über Schmerzen und allerhand Krankheitserscheinungen bei sich und über die Teuerung aller notwendigen Waren, und daß der Vater so stumpf geworden war; und auch sie schien über allerlei Kleinigkeiten das Wichtigste zu versäumen, und ihre Anteilnahme an Hansen zeigte sich nur in Erkundigungen über allerhand äußerliche und geringe Dinge.

Da kam er sich fremd vor und ganz einsam und verlassen, da fiel es ihm schwer aufs Herz, wie er die ganzen Jahre kaum an seine Eltern gedacht hatte und ihnen selten etwas von dem Wichtigen mitgeteilt, und besann sich, wie sie mochten gelitten haben unter seiner Kälte. Er fragte nach dem Hühnerhund, den hatte der Vater totschießen müssen, weil er durch das Alter die Räude bekommen hatte. Wunderlich, der Hund hatte schon seinen Lebenslauf beendet, den er hatte aufwachsen sehen von einem täppischen, dickbeinigen und spielerischen Wesen zu einem pflichttreuen und verständigen Jagdhund, und er selber, Hans, war nahe an das Mannesalter gekommen und hatte nicht die Arbeit für sein Leben.

Die alte Dorrel faßte seine Hand mit beiden Händen und streichelte sie, dabei fielen ihr die Tränen aus den Augen, denn sie freute sich, daß er so groß und stattlich geworden war, und beseufzte, daß sie daraus ihr Alter erkannte. Dann erinnerte sie ihn, wie sie zusammen Kartoffeln gerodet hatten, und dabei ging ihm zum ersten Male das Herz auf, und es war, als ob sich der Panzer lockere, der ihn fest umfing. Aber nur einen Augenblick war das, dann hatte er wieder das Gefühl, daß er nun an die Stelle der Eltern treten mußte, die im Absterben waren, und daß er doch das nicht konnte, denn er fühlte sich noch als ein Kind, das geleitet wird, und das Leben erschien ihm übermäßig schwer, daß er es gar nicht tragen konnte. Das kam ihm aber vornehmlich vom Vater, denn der tat wohl scheinbar alles wie sonst, aber alles, was er tat, hatte einen seltsamen Anblick fast gespenstiger Art, denn es ging aus einer zwecklosen Unruhe hervor und nicht aus bedachten Absichten; so stand er morgens lange vor Tag auf und ging in den Wald, vieles vergessend und sich um Kleinigkeiten erregend, und kehrte zu wechselnden Zeiten nach Hause zurück, eine zerstreute Ratlosigkeit mit sich führend. Und indem Hans seiner Eltern Leben überdachte, fand er, daß sie immer ehrlich und redlich ihre Pflicht getan, für ihr Kind gesorgt und auch andern Menschen geholfen hatten nach ihren Kräften. Und wenn nun solches das Ende war, welchen Sinn und welche Bedeutung hatte dann wohl überhaupt das Leben? Da überkam ihn eine Furcht, und es wurde ihm klar, daß er bis dahin gewandert war wie ein Träumender auf einem hohen Gebäude, und jetzt war er aufgewacht und sah ein, daß man sich in die Tiefe stürzen muß. In der Nacht stand die Mutter mit dem Licht an seinem Bett, denn der Anfall des Vaters, wegen dessen sie ihn hatte kommen lassen, war wiedergekehrt. Da lag der alte Mann in dem engen Bett, unbeweglich, und ein Auge war geschlossen und war tief eingefallen und das andre rollte in der Höhle hin und her, als wolle er jeden besonders ansehen, er konnte aber auch nicht sprechen. Am Fußende stand die Mutter und weinte still, und in der Tür stand Dorrel, die schluchzte, und das Auge des Sterbenden rollte stumm in seiner Höhle. Es war, als ob jetzt ganz besondere Gedanken in dem Vater waren, an die er sonst nie gedacht, die ganz neu und unerhört waren, und seinem Sohne mußten sie eine besondere Aufklärung geben. Aber die Zunge war gelähmt, und nur einmal rief eine besondere Anstrengung ein unverständliches Murren hervor. Kurze Minuten dehnten sich endlos aus, und das flackernde Licht erzeugte hüpfende Schatten an der geweißten Wand. Dieser Mann war nun alt und wollte sterben. Und nun war Hans ein Mann geworden und war so, wie er selbst vor langen Jahren seinen Vater gekannt hatte, der nun ein alter Mann war und sterben wollte. Grauenhaft war das. Denn es waren doch auch nur wenige Jahre, dann war er selber gleichfalls so alt wie dieser Mann, der jetzt im Sterben lag, und dann mußte er gleichfalls sterben. Da war es ihm, als verstehe er innerlich, was der Vater dachte und wollte, kniete nieder vor der niedrigen Bettstelle und legte seinen Kopf auf das Kissen neben den Kopf des Vaters, und das rollende Auge beruhigte sich, und Hans verspürte, wie aus seines Vaters Herzen eine heiße Liebe zu ihm herüberströmte, und die Mutter kniete auch vor dem Bett und hatte seine Hand gefaßt, und auch auf die Mutter strömte Liebe und freundliches Wohlwollen. Und Hansens Herz erwiderte die Liebe, und er fühlte deutlich, daß er zu seinem Vater gehörte, denn alles andre, was ihm geschienen, war falsche Äußerlichkeit gewesen. Wie er sich dergestalt glücklich fühlte, ging von dem Sterbenden ein erleichtertes Seufzen aus, und eine Bewegung ging durch den ganzen Körper; da erhob sich die Mutter und drückte ihm das Auge zu.

Er lag mit einem friedlichen und beruhigten Gesichte da, und war, als habe er in den letzten Minuten nicht nur etwas Schönes empfangen, sondern auch eine große Weisheit, die ihn in ein gläubiges Erstaunen versetzte und seine Züge hell machte. Hans sprach: „Mutter, ich kann nicht weinen, denn er ist sehr glücklich geworden.“ Die treue Dorrel aber kam an das Bett, nahm die Hände ihres Herrn und faltete sie; und dann faltete sie ihre eigenen Hände, die von vieler harter Arbeit zeugten, und betete leise. Hans sprach zu seiner Mutter: „Ich habe es nicht um ihn verdient, daß er mich so geliebt hat, aber ich will sein Andenken lieb haben.“

Viel dachte Hans darüber nach, woher es gekommen sein möge, daß seines Vaters Liebe erst in den letzten Minuten zu ihm sprach, und daß die Tage vorher so wunderlich verwirrt gewesen, und am Ende fand er darin eine Erklärung, daß seines Vaters Jugend zu schwer gewesen war und ohne Glück. Es muß aber jegliches Lebensalter auch das seiner Art entsprechende und gebührende Glück haben, sonst gedeiht der Mensch nicht zu seiner Vollkommenheit, sondern wird wie ein Baum, der in seiner Jugend nicht nach allen Seiten hat frei wachsen dürfen. Und wie er weiter nachdachte, fand er, daß dieses Glück viel weniger von der äußeren Gelegenheit abhängt, wie vom Menschen selber, ob er es aus sich herausbilden will, so daß also ein Mann wie sein Vater doch in seinem Innern einen Fehler gehabt hat. Aber diesen Fehler hatte er auch selber, und glich wohl sehr seinem Vater; das wollen wir bedenken, da unser Hans doch von deutscher Art und Sorte ist.

Als ein sehr veränderter Mensch kehrte Hans nach Berlin zurück, und es schien in Wahrheit, als ob er durch den Tod seines Vaters viel älter und ein Mann geworden sei, und besonders zeigte sich das, indem seine Gefühle gegen Personen, die ihm bis dahin nahegestanden, plötzlich ganz anders waren, ohne daß er einen Grund wußte. Am ersten kam es zu einem Bruch mit Heller. Der war längst in der früher beschriebenen Art verheiratet und hatte sich ein kleines und bürgerliches Leben begründet, indem er seine Anschauungen in Zeitungen verbreitete, die von Arbeitern und kleinen Leuten gelesen wurden. Hans besuchte ihn, wie er einen heftigen Einsamkeitsgram hatte, und traf ihn in seinem ärmlichen und sauber eingerichteten Zimmer, wie er in einem großen und gestickten Schlafrock am Schreibtisch saß; er hatte etwas an Umfang zugenommen, und im Gesicht war ein Ausdruck eines herablassenden Wohlwollens ständig geworden, der sehr aufreizend wirkte. Da verspürte Hans zu seiner großen Verwunderung, wie er ihm die Hand gab, eine tiefe Verachtung gegen den alten Freund, und ihm war, als sähe er eine unerträgliche und widerwärtige Maske, die ganz hohl war und unbewegte Züge hatte, und alles ärgerte ihn, der Schlafrock und der anspruchsvolle lehrhafte Ton, und besonders einige hochtrabende Worte. Und wie ihm Heller am Ende erzählte, daß er beabsichtige, sich für den Reichstag aufstellen zu lassen, und daß sein Wahlkreis ziemlich sicher sei, da entfuhr es Hans, daß er grob wurde und Heller einen Intriganten nannte, und das Sonderbare kam ganz gegen seinen Willen und auch gegen seine vorherige Meinung; aber die Bezeichnung hatte den wunden Punkt des andern getroffen, den Hans nur unbewußt geahnt hatte, denn er antwortete sehr gereizt, und das Ende war, daß Hans fortging mit dem klaren Bewußtsein, daß er für immer mit Heller auseinander war.

Nicht lange währte es, da hatte er einen ähnlichen Vorfall mit Krechting; der sagte ihm, er sehe aus ganz andern Augen wie früher und zeige einen besonderen Stolz, und aus diesem erkenne er, daß sich sein Wesen geändert habe und ein starkes Wollen in ihn gekommen sei, und so würden wohl ihrer beiden Wege jetzt auseinandergehen. Denn wir erwürben uns Freunde und zehrten diese innerlich aus, und hierdurch wie durch anderes würden wir mit der Zeit neue Menschen; dann seien diese Freunde geschmacklos für uns geworden und wir würfen das Geringe, das von ihnen übrig sei, gleichgültig zu anderm Unrat, der sich aus unsrer Vergangenheit um unsre Hütte ansammle; und etwa wie ein neugieriger Gelehrter die Küchenabfälle vorgeschichtlicher Völker durchwühle, so könne einmal ein Seelenforscher, wenn einer von uns einmal für einen solchen interessant wird, den Abfallhaufen studieren und aus ihm die Geschichte des Mannes erraten.

Krechting saß in seiner Stammkneipe an seinem gewohnten Tisch, und wie er mit seinem unglückseligen und verkümmerten Körperchen dasaß in seiner Ecke und verbissen vor sich auf sein Glas sah, da wurde Hans von tiefem Mitleid ergriffen, der andre aber verspürte seine Bewegung, und sein Hochmut machte, daß er sich deren schämte, und so wurde seine Stimme plötzlich heiser und rauh, wie er fortfuhr, daß er keinerlei Empfindungen von Hans wünsche, denn er selbst habe vielleicht nur einen gewissen Neid auf ihn, weil er für sich immer an der Seite stehen werde und bittere Urteile aussprechen, indessen andre sich zu handelnden Menschen bildeten; aber im Grunde wolle er ja dieses Leben; und nach einem Jahrzehnt werde Hans ihn immer noch hier in dieser Ecke sitzen sehen und in der gleichen Weise sprechen wie jetzt, und werde inzwischen eine neue Anzahl jüngerer Freunde mit ihm zusammengekommen sein und nach ihrer bestimmten Zeit ihn wieder verlassen haben, und so werde es gehen, bis er zu alt sei für junge Freunde. Alles das sei ihm ganz klar, und es müsse wohl so sein; nur grüble er vergeblich, welches doch der Grund eines solchen Zustandes sein möge; aber wahrscheinlich habe auch der bezauberte Merlin nicht gewußt, aus welchem Grunde er in seiner Rosenhecke träumen müsse.

So zeigte Krechting doch wider seinen Willen seine Schwachheit, und dadurch bewies er, daß er in Wahrheit eine Liebe zu Hans gehabt, die sich freilich nie geäußert hatte. Aber Hans verspürte das Nichtgesagte, und eine wunderliche Wehmut befiel ihn, eine Art Gefühl, als trenne er sich von einer warmen und treuen Heimat, um auf das hohe Meer zu gehen, und doch wußte er, daß Krechting ganz recht hatte, und es war besser für beide, daß sie sich in Freundschaft und Ruhe trennten, denn sonst wäre bald ein Streit zwischen ihnen ausgebrochen, und sie hätten sich gegenseitig tiefe Wunden geschlagen zum Abschied.

Inzwischen hatte Weiland noch mehrmals seine Stadt gewechselt, weil er überall durch die Nachforschungen der Polizei und auch durch Ausweisungen vertrieben wurde, bis er endlich nach gut zwei Jahren in Süddeutschland einen ruhigen Aufenthaltsort fand, zu dem er hoffte, seine Familie nachkommen zu lassen, die er in der ganzen Zeit nicht gesehen; und schon begann sich sein Gemüt wieder zu erheitern durch die Hoffnung auf ein friedliches und anständiges Leben. Zu Hause aber war seine Frau mit jenem Zimmerherrn, von dem schon berichtet, immer näher gekommen.

Das war eine ganz ruhige und einfache Entwicklung gewesen, deren Ende beiden unerwartet kam; denn der einsame und stille Mann, der bei seinen Arbeitsgenossen in der Fabrik und im Wirtshaus nicht Gelegenheit hatte, von dem zu sprechen, was ihn bedrückte, fand in der engen und sauberen Küche der Frau, wo das Kindchen auf der Erde spielte und sich auch wohl an seinem Knie hochrichtete, eine Wärme und Zuneigung, und so berichtete er sein Leben und hörte ihre Geschichte, die sie unter häufigem Weinen erzählte, und bald teilte sie ihm aus ihres Mannes Briefen mit von den vielen fehlschlagenden Hoffnungen und Versuchen, und er tröstete sie und freute sich an der Entwicklung des Kindes; dann machten sie ab, daß die Frau für ihn kochen sollte, und mit der Zeit besorgte sie alle seine Angelegenheiten, und wie sie nun immer mehr wirtschaftliche Dinge gemein bekamen, die besprochen werden mußten, zu den andern Angelegenheiten, die sie sonst schon besprachen, da geschah es, daß er die ganze Zeit über, wenn er zu Hause war, bei ihr in der Küche saß. Sie schrieb in ihren Briefen an ihren Mann vieles von dem Fremden und rühmte ihn sehr, bis ihr endlich ihr Mann einmal in neckischem Tone antwortete, sie solle sich nur nicht in den andern verlieben, denn er selbst sei doch so lange von Hause fort. Über diesen Scherz wurde sie sehr nachdenklich, und wie sie sich alles überlegt hatte, sagte sie zu dem Fremden, daß die Leute im Hause Übles reden könnten, wenn sie so oft zusammen seien, deshalb scheine es besser, wenn er nicht zu häufig zu ihr komme. Aber schon hatte die Gewohnheit einen zu tiefen Eindruck gemacht, und wenn der Mann abends nach Hause kam, hatte sie immer etwas, das sie mit ihm bereden wollte, und so kam sie jetzt zu ihm auf sein Zimmer.

Aber doch hatte sie nun ein Bewußtsein, daß sie etwas tat, das nicht recht gehörig war, und deshalb fing sie an, sich selbst Entschuldigungen zu machen; auch erwähnte sie des Fremden nicht mehr in ihren Briefen. Ihre Hauptentschuldigung aber, die sie sich machte, war die, daß sie noch jung sei und ihr Leben genießen wolle; denn in dieser kindischen und offenherzigen Art wissen die Leute sich ihre Vergehen darzustellen. Und auch der Fremde, der ein braver und ordentlicher Mensch war, hatte bis dahin aus allem kein Arg gehabt; aber nun, wie ihn die Frau öfter besuchte und in ihrem geheimen Schuldbewußtsein einen wunderlichen und verführerischen Reiz ausübte, den sie vorher gar nicht gezeigt, da kam auch er zu Nachdenken und Verlangen; und so steigerten sich beide unbewußt immer gegenseitig, bis der Mann eine leichte Zärtlichkeit wagte, die zwar anfänglich zurückgewiesen wurde, aber wie es denn geschieht, in solcher Art, daß er Mut bekam für einen neuen Versuch, und bald ahnten sie jeder, daß sie auf brüchigem Eis wandelten.

Hierüber war der Frühling ins Land gekommen, und die beiden verabredeten sich zu einem Ausflug am Sonntag und fuhren mit der Bahn in einem überfüllten Zuge zu einem der Orte, nach dem sich diese Ausflüge richten, gingen dort im Walde, der von vielen Menschen belebt war, dann aßen sie in einer Wirtschaft zu Abend und kehrten am Ende zum Bahnhof zurück, um nicht allzu spät wieder in Berlin zu sein. Es war eine schöne und etwas strenge Frühlingsluft gewesen, welche die Nerven anspannt und ein Gefühl in uns weckt, als stehe ein besonderes Glück vor uns. Auf dem Bahnsteig trafen sie einige andre Paare, die gleich ihnen frühzeitig zurückfahren wollten, und war ihnen ein eignes und sehnsüchtiges Gefühl, wie sie so diese heimlich flüsternden und vertraulichen jungen Leute sahen. In dem Zuge, der wegen der Frühe fast leer war, hatten sie ein Wagenabteil für sich, so fuhren sie allein durch das Dunkel nach Hause. Da wurde die Frau von einem neuen bräutlichen Gefühl übermannt, und die Tränen kamen ihr, sie lehnte sich an die Schulter des Mannes, der faßte ihre Hände, und so fuhren sie schweigend.

In der Folge entwickelte sich ein Trotz bei der Frau, weil sie ihr Unrecht fühlte, sie behielt ihren Grund, daß sie ihr Leben genießen wolle, solange sie jung war, und sagte auch, daß die Wohnungsverhältnisse Ursache seien, und endlich fand sie sogar, daß ihr Mann, weil er zu sehr an die Partei gedacht, die Familie vernachlässigt habe. Wie sie aber ihrem Manne von allem schrieb, erwähnte sie von diesen Gründen und Ursachen nichts, sondern sagte nur, daß sie den andern lieber gewonnen habe, und als freier Mensch wolle sie sich von ihm trennen und sich mit dem verbinden.

Dieser Brief kam gerade in Weilands schönste Hoffnungen und machte ihm einen sehr tiefen Schmerz, denn es war ihm, als sei er plötzlich wie eine Pflanze, die aus der Erde gerissen ist, und nachdem er etwa eine Woche in dieser Stimmung verharrt hatte, wurde ihm in seinem ganzen täglichen Leben so trostlos zumute, daß er dachte, es könne so nicht bleiben, sonst werde ihn der Überdruß zum Trinken verführen, deshalb beschloß er, daß er Deutschland gänzlich verlassen wollte, und nach Amerika gehen, um in eine völlig neue Umgebung zu kommen und hier durch die Arbeit der Anpassung vielleicht neuen Sinn zu kriegen, denn er dachte sich, daß er noch jung war und sein Leben noch nicht verloren zu geben brauchte, weil er es ja immer noch ganz von neuem zu begründen vermochte.

Indem er aber vorher noch von seiner Frau und seinem Kinde Abschied nehmen wollte und besonders das Kind noch zum letzten Male sehen, dachte er, erst nach Berlin zu fahren, und zwar war er ja dort ausgewiesen, aber er hoffte, daß die Polizei, wenn er die Reise geheim betreibe, doch nichts von ihm erfahren werde; und zur besonderen Vorsicht ließ er sich den Bart abnehmen und das Haar schneiden, um weniger leicht erkannt zu werden; aber gerade diese Vorbereitung erweckte einen Verdacht, denn da er aus irgend einem Grunde für einen besonders gefährlichen Menschen gehalten wurde, so war er sehr genau beobachtet. So kam er in Berlin an und ging die bekannten alten Wege zu seiner Wohnung, die er früher immer mit großer Fröhlichkeit gegangen war, und klingelte an der Tür, und weil ihn seine Frau nicht gleich erkannte auf dem dunkeln Flur, so hieß sie ihn unbefangen eintreten; da stand er auf der Küchenschwelle, und der Tisch, der damals ganz neu gewesen, hatte auf der Platte seine Farbe verloren durch den Gebrauch; aber es war eine weiße Gardine vor dem Fenster, und plötzlich wurde ihm so wehmütig zu Sinn, daß er hätte weinen mögen. Seine Frau stand in der äußersten Ecke und sah erschreckt auf ihn hin, und das Kind war auf ihn zugeeilt und hatte „Papa“ gerufen, in der Meinung, er sei der neue Vater, aber dann hatte es seinen Irrtum erkannt und war vor dem fremden Manne erschreckt zurückgelaufen und versteckte jetzt sein Gesicht in der Schürze der Mutter. Das erschütterte ihn mehr wie das Entsetzen seiner Frau, daß sein Kind sich vor ihm fürchtete, da rief er mit schluchzender Stimme: „Sehe ich denn aus wie ein Verbrecher, daß ihr vor mir Angst habt?“ Aber die Frau starrte ihn nur immer besinnungslos an, und das Kind machte das Köpfchen etwas los und blickte scheu zurück; da kamen ihm die Tränen, und er wagte nicht, einen Schritt vorzusetzen.

In diesem Augenblick traten Schutzleute durch die Flurtür herein, die in der Aufregung der beiden offen geblieben war, und einer legte die Hand auf Weilands Schulter und erklärte ihn für verhaftet wegen Bannbruchs; zerstreut sah er dem bärtigen Mann ins Gesicht, dann schrie er laut den Namen seiner Frau, der kamen jetzt auch große Tränen über die Wangen, aber sie stand noch immer gelähmt. Vor der Tür draußen sammelten sich neugierige Hausbewohner, ein Murmeln und die befehlende Stimme eines Schutzmannes wurde gehört. Da wendete sich Weiland langsam um und ging die Treppe hinab mit den Männern, die ihn verhaftet hatten, und die Knie zitterten ihm, und seine Frau mit dem Kind waren oben in der Küche.

Wie er zwischen den Polizisten aus der Haustür auf die sonnenhelle Straße trat, in deren Mitte ein Pferdebahnwagen fuhr, da flüsterten Leute hinter ihm, er sei betrunken; da ergriff ihn eine unbändige Wut und eine sinnlose Verzweiflung, daß er sich auf den einen Mann stürzen wollte. Wie er eben die Bewegung begann, hörte er eine scharfe und schneidige Stimme rufen: „Achtung!“ Das durchzuckte ihn, und das alte, bekannte Schlagwort, das er selbst vielhundert Mal gerufen, kehrte in ihn: „Laß dich nicht provozieren.“ So ging er denn ruhig mit, nur die Fäuste hatte er geballt.

Er wurde wegen des Bannbruches zu einigen Wochen Gefängnis verurteilt, und während dieser Zeit hoffte er immer, daß ihn seine Frau noch einmal mit dem Kinde aufsuchen werde, aber die schämte sich und so nahm der Mann von Deutschland Abschied mit Bitterkeit im Herzen. Aber als er vom Schiff aus New York erblickte, wo sich über dem breiten Lager der gewöhnlichen Häuser wie gewaltige Türme des Mittelalters die Riesenbauten erhoben, die mit ihrer obersten Galerie die Wolken streifen und deren Wände doch blitzen von spiegelnden Fensterscheiben, denn nur aus Eisen und Glas sind sie erhoben, da war es, als ob in ihm Begeisterung, Kraft und neue Freude erwachten. Und wie er durch die breiten Straßen ging, wo die Menschen sich rücksichtslos drängten mit willensstark geradeaus gerichteten Blicken und jeder ein Ziel verfolgte und Mut und Hoffnung hatte, da richtete sich auch seine Haltung, nicht in der militärischen Art wie zu Hause, sondern nach amerikanischem Wesen, und ein Einheimischer sah wohl verwundert den Einwanderer mit dem kleinen Bündel an, der gar nicht aussah wie ein gewöhnliches Grünhorn. Und es glückte ihm, daß er gleich Arbeit bekam in seinem Geschäft, und schon nach einem halben Jahre, wie er sich an das Neue gewöhnt hatte, rückte er zu einem Meisterposten auf, dann wurde sein Ehrgeiz immer lebendiger, und nicht lange währte es, da mußte ihn sein Herr, der einst gleich ihm als armer Schustergeselle eingewandert war, mit am Unternehmen beteiligen, und nun hatte er den Weg frei vor sich, der ihn einst zum Reichtum führen mußte. Ganz sonderbar schnell hatte er sich seiner Sprache entwöhnt und waren alle seine Manieren amerikanisch geworden, und weit, weit in den Hintergrund traten ihm seine jugendlichen Bestrebungen und die Erinnerung an Weib und Kind, denn nur zuweilen im Traum kam es ihm, daß er die alten Zeiten sah. Später heiratete er eine amerikanische Frau, die ein schlankes und stolzes Wesen war mit offenem Gesicht, die ihm erschien wie eine Königin, trotzdem sie nur Buchhalterin gewesen war in seinem eignen Unternehmen, und so bereitete er mit die neue Gesellschaft vor, die freilich ganz andrer Art ist wie die einst von ihm geträumte, und die einmal unbarmherzigen Krieg führen wird gegen uns Altväterliche.

In Hans begann jetzt allmählich ein Gefühl der Einsamkeit, denn die Jahre waren vorüber, wo man die Vorstellung hat von vielen unbekannten Freunden, die man nur anreden müßte, auch verliert am Ende der Jünglingsjahre das Bewußtsein gemeinsamer Überzeugungen seine Bedeutung, das leicht Menschen zur Freundschaft zusammenbringt, denn in Wahrheit fängt jetzt das Alter an, wo die Ehe eintreten muß und die erfolgreiche Berufsarbeit, in welcher die Fähigkeiten und Kenntnisse verwendet werden, die suchende Jünglingsjahre erworben haben. Aber weder konnte Hans an eine Ehe denken, auch wenn er eine Liebesneigung gefaßt hätte, denn er vermochte nur eben sich selbst zu ernähren, noch erschien ihm seine Tätigkeit als eine Berufsarbeit für das Leben, denn sein Lehrer hatte es ihm wohl nach seinem Versprechen verschafft, daß er bei einem großen wissenschaftlichen Unternehmen mitbeschäftigt wurde, aber die Arbeit war ihm nur ein gemeiner Broterwerb. Aber welche Tätigkeit er sich aussuchen sollte, das konnte Hans auch nicht sagen, und so machte er sich jetzt oft Vorwürfe, daß er sich früher durch zu vielerlei Interessen zersplittert habe.

Derart sah er nun auch andre Dinge in einem grauen und unerfreulichen Schein, die ihn früher glücklich gemacht hatten, die unreife Begeisterung der Jugend war erloschen, und Erfahrung und Verständigkeit hatten noch nicht ein neues Bild der Welt geschaffen; so wunderte es ihn, wie er in einer Volksversammlung ein ganz neues Bild bekam, wo er eine Rede von Heller hörte, in welcher der gehässig über die höheren Stände sprach und den Arbeitern schmeichelte, und die Versammelten jubelten ihm Beifall; aber der Hochmut und die kindische Art der Leute tat ihm weh, und weil er selbst ein Mensch mit Ehrfurcht war, so kamen sie ihm vor wie freche Knechte. Da erschien ihm plötzlich der Drang nach Gerechtigkeit und der Wunsch auf Gleichheit als ganz unreif und er kam sich vor wie das Kind, das den Ozean mit der Nußschale ausschöpfen wollte, weil er einst geglaubt hatte, er könne durch ein Urteil über Recht und Unrecht in diesen gesellschaftlichen Vorgängen eine Einsicht haben, die doch durch den geheimen Lebenstrieb der gesamten Gesellschaft bestimmt werden; und in Wahrheit hatte er vielleicht die Auflösung und den Tod der Gesellschaft erstrebt durch seinen Drang und seinen Glauben. Ganz neu und unbestimmt kam ihm nun zuerst der Gedanke, daß dieser Maurer oder Zimmermann neben ihm nicht behaglich leben dürfe, wenn er selbst oder ein andrer sollte höher kommen können, nicht zu Behagen, sondern zu höherer Wesenheit, und indem fühlte er plötzlich, daß er diese Menge von dumpfen und selbstzufriedenen Menschen haßte. Aber so einsam war er, daß er von dieser Unruhe und Verzweiflung niemand mitteilen konnte, und er hätte auch ein weibliches Wesen haben müssen, dem er seine Gedanken erzählte. So fühlte er sich nun näher hingezogen zu Luise; die hatte ihr medizinisches Studium beendet und war nach Hause zurückgekehrt, und ihre Absicht war gewesen, nun sich als Ärztin niederzulassen. Aber wie sie das gewollte Ziel erreicht hatte, war plötzlich eine seltsame Müdigkeit und gleichgültiger Sinn über sie gekommen, und sie lebte wochenlang und dann durch Monate untätig, und wie es Menschen in dieser Verfassung geschieht, häuften sich allerhand Schwierigkeiten um sie, als seien sie durch ihre Stimmung herbeigezogen. Hans verspürte nichts von dieser Lage und freute sich nur, daß er ihr manches mitteilen konnte; aber einmal, bei einem recht gleichgültigen Gespräch sprach sie mit ihrer Stimme, die jetzt müde war, von Zwecklosigkeit. Da tat er einen erschreckten Blick in die dunkle Tiefe ihres Überdrusses und ihrer unerklärten Verzweiflung, und für sich selbst wußte er plötzlich, daß er an demselben Überdruß litt. Und wie er sich nun so umsah nach andern, da fand er, daß ihr Bruder ein glücklicher Mensch war. Den hatte er früher immer verachtet, weil er gar keinen Sinn besaß für die Dinge, die Hans und den andern wichtig erschienen, sondern er verharrte nur immer mit unverdrossenem Eifer bei seiner kleinen Gelehrsamkeit. Eben trat er ins Zimmer, als Luise jene Worte gesagt; der Vater hatte ihm zum Geburtstag eine Geldsumme geschenkt, und er hatte sich dafür schmutzige Trümmer eines alten Buches gekauft, ohne Titel und ohne Schluß, das ein Stück eines im siebzehnten Jahrhundert in Venedig gedruckten arabischen Werkes war; sein ganzes Gesicht strahlte von innerer Heiterkeit, liebkosend strich er über den zerfetzten Einband, und Hans wechselte einen schnellen Blick mit Luise, und beide dachten, sie möchten wohl gern solchen Glückes fähig sein, und verwunderten sich, weshalb sie das nicht konnten.

 

Die Ehe von Karl und Johanna hatte sich immer grausiger entwickelt in Haß und Sehnen; und er gewann bald das heimliche Gefühl des Sieges und wußte, daß er in Kürze frei sein mußte von seiner Kette, und sie war gänzlich ratlos und sah sich von Unverständlichem umgeben. Unmerklich hatte sich eine Wand erhoben zwischen ihnen, deren Wachsen hatte er gesehen und kannte ihre Fugen, sie aber war erstaunt über die neue Mauer, denn ganz plötzlich merkte sie von ihr, dann schlug sie zornig gegen die empfindungslosen Steine, und zuletzt sank sie in sich zurück.

Er hatte schon lange geahnt, daß sie ihn nach einiger Zeit vor andern lächerlich machen werde, und nun hatte sie damit begonnen, indem sie über seine Tracht spottete, seine Gangart, seine Art zu sprechen. Und wiewohl sie wußte, daß er sehr litt und sich in ihm Bitterkeit häufte, so fuhr sie doch fort in dieser Weise; aber der Grund war, daß sie die Mauer einreißen wollte, denn sie verspürte wohl, daß sie ihn gar nicht hatte, weil sie nichts von ihm wußte wegen dieser Mauer, und sie wollte ihn ja verzehren. Auch stellte sie in seiner Gegenwart Betrachtungen über seinen Charakter an. So fühlte er zuzeiten deutlich hinter diesen Roheiten ein Flehen zu ihm, eine Sehnsucht, und einen Willen, der ihn halten wollte; das machte ihn glücklich durch befriedigte Rache. Ihr dunkler Trieb suchte weiter und äußerte sich in andrer Form, und dachte, daß Karl vielleicht nach irgend einer andern Seite eine starke Neigung hatte, die ihn unangreifbar machte; deshalb suchte sie mit heftiger Eifersucht in allem, was ihn beschäftigte, und begann Bücher zu hassen, Bekannte zu verfolgen, gegen Gewohnheiten zu schelten, aber fand nichts, das ihr eine Erklärung gab. Da bezwang sie ihre Natur zu Freundlichkeit, zu Entgegenkommen, suchte ihn auf seinem Zimmer auf, indem sie eine andre Absicht vorschützte, und wollte ihn bewegen, zu ihr zu sprechen, ja, sie ging zu ihm, der gebückt über seinem Buche saß, und streichelte ihm die Stirn mit ihrer Hand, und ihre Hand war weich und kühl, und etwas Seltsames floß aus ihr. Aber sein Haß wurde so heftig, daß er sich nicht ruhig halten konnte, und er stand hastig auf und ging fort. Da setzte sie sich und weinte; und wie er zurückkam und sie mit verweintem Gesicht in seiner Stube fand, mußte er sich zwingen, daß er sich nicht auf sie stürzte, um sie zu töten.

So war die Vorbereitung zum Ausbruch. Sie hatte eine große Gesellschaft ihrer Freunde, die ihm alle verhaßt waren, denn er sah in einem jeden von ihnen einen Teil ihres Wesens lebendig vor sich. An jenem Tage erschienen ihm alle Gesichter unnatürlich verzerrt, und wie sie um den runden Tisch sich drängten und verwirrt durcheinander sprachen, da saß er für sich und war zusammengesunken und vergrübelt. So hörte er wie durch einen Schleier eine Weile einzelne Worte aus dem allgemeinen Gespräch, die Johanna mit Krechting wechselte, und langsam wurde es ihm bewußt, daß sie sich auf ihn bezogen, und wie er aufblickte, nahm er einen Blick des Einverständnisses der beiden wahr, das auf seine Kosten ging. Da stand gerade vor ihm ein Tellerchen mit Backwerk, das nahm er und warf es Johanna ins Gesicht. Er warf mit Absicht so, daß es ihr Gesicht flach traf, nicht mit der Kante, damit sie nicht verletzt wurde. Während er das tat, war es ihm, als ob nicht er es sei, der das tue, sondern ein andrer, der ihn gar nichts anging, denn er war ganz ruhig, äußerlich wie innerlich, und wunderte sich, wie er den Teller vor ihrem Gesicht sah. In dem Augenblick, wo er zielte, waren alle stumm geworden und hatten erstarrt auf ihn geblickt. Das Tellerchen traf, und das Backwerk fiel wohl vor ihm auf die Erde, aber das Tellerchen traf sie mitten ins Gesicht. Sie fing es im Herabfallen auf und hielt es in der Hand, ohne Gedanken, indes sie ihn mit großen und erstarrten Augen ansah; mit einem Male schrie sie laut auf und warf es auf den Boden, als sei es glühend. Er aber erhob sich und ging aus der Tür, machte sich in seinem Zimmer straßenfertig und schritt langsam die Treppe hinunter und aus dem Hause. Alles ließ er dort, und nie kehrte er wieder zurück.

Ruhe und Frieden suchte er und etwas, das er nicht nennen konnte. So ging er zu Luise. In ihren Schoß hatte er seinen Kopf gelegt, und langsam stiegen ihm die Tränen in die Augen, denn er hatte nicht sprechen müssen, sondern sie hatte ihn angesehen, und dann hatte er sein Gesicht in ihren Schoß gelegt, und nun streichelte sie ihm die Haare. Ruhig wurde ihm, wie wenn nun alles Meer glatt wäre, und er dachte an nichts, nur fühlen konnte er, und er fühlte, wie Ruhe in sein Herz floß. Dann wußte er, daß er aufstehen mußte, und er stand auf und setzte sich neben sie; und sie sagte mit gütigem Gesicht, daß er älter geworden war. Wie sie das sagte mit gütigem Gesicht, strömte ihm das Blut zum Herzen, und er sah zwei feine Linien um ihre Mundwinkel. Sie lächelte, wie sie seinen Blick bemerkte und scherzte, daß auch sie nun die Jugend verlassen habe. So plauderte sie weiter, und er wußte, daß ihr das schwer wurde, jetzt so sorglos zu plaudern, und einmal fing er einen besorgten Blick auf, den sie auf sein Gesicht warf; aber er selbst hätte nichts sagen können, sondern er hörte nur zu, ihrem leisen und freundlichen Wortfall. Von Bekannten erzählte sie und von Bäumen und Blumen. Er liebte eine Bewegung an ihr, wenn sie mit beiden Händen zurück an das Haar faßte. Seine Seele wiegte sich auf ihren Worten, und er schloß die Augen, damit er nur den Klang allein habe.

Jetzt wußte er, daß er jeden Tag und jede Stunde an sie gedacht hatte, und daß er zusammengeschreckt war, wenn jemand einmal aus Zufall ihren Vornamen genannt hatte. Und nun saß sie neben ihm mit ihrer Güte und wollte ihm Liebes erweisen in Zartheit. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, und wie er eine zufällige Bewegung machte, berührte ihn ihr Kleid. Sie merkte das, und diese Berührung war ihr peinlich, aber sie beherrschte sich und sah ihn mit gutem Lächeln an, und erst eine Weile nachher nahm sie ihr Kleid zusammen und von ihm weg, mit einem entschuldigenden Blick. Dann ging sie zu ihrem Flügel und spielte, und die Töne fluteten langsam heran und schienen groß, und umgaben ihn weich und hoben ihn, und er fühlte sie um sich, wie sie weich waren. Dann begannen sie in ihn einzudringen, und mit einem leichten Schauer rührte etwas an sein Herz, und dann noch etwas, da wurde es ihm frei im Haupte und leicht, und es war, als ob alles sich im Herzen befinde, in dem war eine süße Lust, und es verschwand auch alles um ihn, weil es unbedeutend war, und er sah nur, wie Luise spielte, und in ihrem keuschen Nacken kräuselten sich dunkle Löckchen.

Von nun an lebte Karl wieder in der Weise wie vor seiner Verheiratung, nur daß auch ihn die Einsamkeit überkam und er viel auf seiner stillen Stube saß, und in seiner Seele bewegte sich herzkränkendes Grübeln, und es war, als sei ihm das Band lockerer geworden, das die verschiedenen Eindrücke, Strebungen und Ausflüsse zu unserm Ich vereinigt, denn hierhin und dorthin begaben sich Teile seines Selbst, und wie von Schmetterlingen flatterte es bunt und willkürlich um sein Haupt. Aber das machte ihn nicht unglücklich, sondern es schien ihm, als ob er zu Frieden und Ruhe wolle, und wie wenn er in einem schweigenden Flusse schwimme und seine Glieder sich lösten in dem Wasser mit leuchtenden Spitzen.

In dieser Zeit wurde er vorbereitet auf das Einfließen eines Neuen in ihn, das schon lange sich um ihn geballt hatte. Denn schon seit einiger Zeit war er, was ein wunderlicher Zufall in einer Großstadt scheint, auf seinen Wegen öfters einem Menschen begegnet, der ihm in eigener Art auffiel, vielleicht hätten ihn andere kaum beachtet; das war ein seltsam linkischer und verlegener Mann, dessen Kleidung nicht absonderlich war und dessen Gesicht, Haltung und Gliedmaßen ebenfalls nichts Merkwürdiges zeigten, und doch war er im ganzen so eigentümlich linkischer und verlegener Art, wie Karl noch nie einen Menschen gesehen hatte. Wie das so geht, schien der Mann umgekehrt auch für Karl ein gewisses Interesse zu haben, denn er sah ihn immer mit einem gewissen Aufleuchten des Gesichtes aus den andern Menschen auf der Straße hervortauchen. An einem naßkalten Novemberabend etwa gegen neun Uhr, wo die entlegene Straße recht einsam war, traf Karl den Fremden, wie er unter dem aufgespannten Regenschirm mit Verdruß eine kalte Zigarre betrachtete, trat zu ihm und bot ihm seine Streichhölzer an; der Fremde dankte mit etwas übertriebener Höflichkeit, und dann begann ein Gespräch daraufhin, daß sie sich so oft schon auf der Straße begegnet waren; und wie ihnen dann die ersten gleichgültigen Worte bald ausgingen, da verspürten sie beide den Wunsch, einander nahe zu kommen, und deshalb setzten sie sich zusammen in eine Wirtschaft; es stellte sich heraus, daß sie Nachbarn waren. Der Fremde, der sich Roch nannte, wußte das Gespräch bald auf einen Weg zu leiten, den Karl mit großer Freude beging.

Er stammte aus einer wohlhabenden und guten Familie und war in wohlerzogenem und bravem Zustande auf die Universität gegangen, um nach dem Willen seiner Eltern Jurisprudenz zu studieren. Es entwickelte sich in ihm damals eine ganz besondere Liebhaberei für Bücher, die fast die Art einer Leidenschaft annahm, über der vernachlässigte er beinahe seine Studien, und um die gewöhnlichen Vergnügungen seiner Altersgenossen und Kameraden bekümmerte er sich gar nicht, so daß er sich zu einem etwas sonderlinghaften Menschen entwickelte. Hierüber war seine Familie nicht sehr vergnügt, die wünschte, daß er sich benehmen solle wie Andere, und ihm auch einige Jugendtorheiten gern verziehen hätte, wenn sie von der gewöhnlichen Art gewesen wären, denn sie befürchteten, daß er als ein wunderlicher Mann später keine glatte Laufbahn haben werde, die ihnen allen als das Erstrebenswerteste erschien. Deshalb wurde er in den Ferien auf Besuch zu einem unverheirateten Oheim geschickt, der in einer kleinen Stadt als Kreisarzt lebte und als ein fröhlicher und allen Lebensgenüssen in Unbefangenheit ergebener Mann bekannt war. Vor dem hätte man ein leichtes Blut wohl sehr gehütet, diesen jungen und allzubraven Mann aber hoffte man durch ihn zu der gewünschten mittleren Art von Führung und Auffassung des Lebens erziehen zu können.

Des Oheims Betragen machte aber einen ganz unerwarteten Eindruck auf den Jüngling; denn der hatte bis dahin ganz treuherzig alles aufs Wort geglaubt, was öffentlich von unserm gesellschaftlichen Leben gesagt wird, und hatte nichts geahnt von den geheimen Veränderungen, durch welche die einzelnen Stände, Berufe, Klassen und Personen diese Meinungen ihren besonderen Bedürfnissen anpassen, und nun machte sich der Oheim, der von altjunggesellenhaftem Zynismus war, einen besonderen Spaß daraus, den jüngferlichen Neffen aus diesen Vorstellungen zu entfernen und begann damit, daß er ihm seine sämtlichen Liebesgeschichten nach der Reihe erzählte. Er war aber ein hochgewachsener schlanker Mann mit schneeweißem Knebelbart, rötlichem Gesicht und blitzenden blauen Augen, der so recht herzhaft aus der Brust heraus zu lachen vermochte über den etwas verkümmerten Neffen. Wie er noch Junge war, wohnte neben seinem Elternhause eine Hebamme, die eine einzige Tochter hatte, in seinem Alter, ein schwarzäugiges, rasches und hübsches Mädchen. Einmal mußte er eine Bestellung ausrichten und traf sie allein in der Stube; da hängte sie sich um seinen Hals, küßte ihn stürmisch ab und bestellte ihn auf den Abend in den Garten, und die war seine erste Liebe gewesen, damals war er zwölf oder dreizehn Jahre alt; eine Art Rührung huschte über das Gesicht des alten Erzählers, wie er davon sprach. Vor wenigen Jahren kam er einmal wieder in seine Heimat; und wie er allein durch das Holz ging, begegnete ihm ein sauberes und freundliches altes Mütterchen, die sprach ihn an und fragte, er kenne sie gewiß nicht mehr, und dann nannte sie sich ihm als diese alte Liebste und sagte seufzend, es seien nun fünfundvierzig Jahre vergangen seitdem, nun sei sie lange Großmutter, und da wolle er gewiß nichts mehr von ihr wissen; aber da sei doch die Jugend noch einmal wieder in ihm wach geworden. Es stand da aber eine schöne alte Buche, die ihre Äste weithin breitete, daß in einem runden Kreise unter ihr kein Unterholz war, sondern nur die gerollten braunen Blätter, zwischen denen einige weiße Blümchen wuchsen.

Dem Jüngling tat sich in diesen Wochen ein zauberischer Garten auf voll herrlicher Früchte, die ihn lockten, daß er sie pflücken sollte, nur dürfe er nicht zu zaghaft sein, sondern müsse ohne Furcht den Fuß über die Schwelle setzen; und so zog eine ganz unbändige und verstandlose Lebenslust in die fast vertrocknete Seele des Jünglings. Es floß aber am Ende des Gartens ein Fluß leise und rasch dahin, der sehr tief war und klardunkles Wasser hatte, und über ihn neigte sich, genau auf der Grenze des Nebengartens, eine alte Weide mit tiefhängenden gelben Ruten, an denen der Frühling kleine helle Blättchen hervorgetrieben hatte. Hier stand der Jüngling oft auf einer vorstehenden Wurzel, hatte den Stamm umfaßt und sah in das still dahinschießende Wasser, denn in seiner Klarheit schwammen kleine Fischchen in einem langen Zuge; sie schwammen gegen den Strom, und oft standen sie unbeweglich, und plötzlich zuckten sie einmal blitzschnell mit den Schwänzen und flohen auseinander. Diesem Spiel sah er lange zu mit behaglicher Freude und ohne sich Gedanken zu machen; denn wie der Frühling unsere Sehnsucht erregt und unsre Lust zum Leben, so spendet er uns auch eine süße und träumerische Mattigkeit, in welcher die Stunden rasch dahinfließen mit leisem und gleichmäßigem Rauschen.

An einem Nachmittage, wie er an diesen Platz gehen wollte, erblickte er auf der Nachbarseite durch das Gebüsch, das noch licht war, ein Mädchen in hellen und zarten Kleidern, das ganz in derselben Stellung stand wie sonst er selbst, denn sie stand auf der äußersten und unterspülten Wurzel des schrägstehenden alten Baumes und hatte den zarten Arm um den ausgehöhlten Stamm geschlungen und die Gestalt mit dem Köpfchen vorgeneigt, und schaute angestrengt in das lautlos fließende Wasser. Wie sie sein Rascheln hörte, blickte sie sich schnell um, und hatte kornblumenfarbene Augen und ihre Gesichtshaut sah aus wie ein Rosenblättchen, und schien verlegen, und es fiel ihm auf, daß unter der Oberlippe, die etwas zu kurz war, weiße Zähnchen hervorblinkten, das ganz wundervoll reizend erschien.

Nun wurden die beiden bald miteinander bekannt, und es zeigte sich, daß sie die Tochter einer Witwe war, deren Mann einen Kaufmannsladen gehabt, die recht ärmlich und allein in dieser kleinen Stadt ihr Leben hinbrachte. Das Mädchen hatte viel gelesen aus den Büchern ihres Vaters, aber nur unsre Klassiker, und zwar neben Schiller und Goethe auch Wieland und Klopstock, und dann Bulwer und Cooper, und ein Buch, das hieß das Buch der Natur. Hieraus hatte sie sich ein wunderliches Wesen entwickelt, das ebenso weltfremd war wie des Jünglings, nur daß in ihrer Seele sonderbare Phantasiegebilde lebten, in denen die verschiedenartigen Helden ihrer Bücher sich zusammengeschlossen hatten.

So einigten sie sich bald zu gegenseitiger Liebe, und nachdem sie sich zuerst am Tage häufig im Garten getroffen hatten, verabredeten sie sich endlich auch zu Zusammenkünften in nächtlicher Weile.

Indem nun aber in dem Jüngling damals zweierlei entgegengesetzte Wesen waren, kam er zu widersprechenden Handlungen, denn durch die Reden seines Oheims war auf der einen Seite seine Phantasie derartig verändert, daß er in seiner Liebe keine Grenzen mehr innehielt, auf der andern Seite aber blieb er in seinem eigentlichen Kern doch ein ganz andrer Mensch wie der Oheim, und wurde durch seine Liebe feinfühliger und gewann eine mehr edle Gesinnung, so daß ihm nun dessen Gespräche zuwider wurden, weil es ihm schien, als ob etwas Heiliges durch sie beschmutzt werde, während er doch selbst nach dem Sinn dieser Gespräche gehandelt hatte, und dann wurde ihm dieser Widerspruch immer quälender, so daß er am Ende, trotz seiner immer noch wachsenden Leidenschaft für seine Geliebte, nicht mehr bei dem Oheim ausharren konnte und Abschied von ihm nahm. Dabei wußte er keinerlei Rat, wie nun mit seiner Verbindung mit dem jungen Mädchen geschehen sollte, denn sie als seine Braut zu erklären, wagte er vor seiner Familie nicht, und so schob er diese Sorge auf die Zukunft, indem er sich für die Gegenwart nur dem Gram über die Trennung hingab. Nun geschah es aber, daß die natürlichen Folgen eintraten. Wie seine Geliebte das merkte, schrieb sie in ihrer tödlichen Angst an ihn einen Brief und erzählte ihm das, er aber war inzwischen wieder gänzlich in sein eigentliches Wesen verfallen, indem er eine heftige Angst vor den Menschen hatte und nicht wußte, was er tun müsse; aus dieser Verfassung heraus schrieb er an sie zurück, und wie sie mit ihrem großmütigen Herzen diesen Brief verstanden hatte, da wußte sie genau, daß sie nun allein stand in der Welt und ihr keinerlei Hilfe kommen werde, und so gab es nach ihrer Vorstellung denn nur einen einzigen Weg noch, den sie gehen konnte. Inzwischen war Roch wieder in seine Universitätsstadt zurückgekehrt, und indem sein unruhig gemachtes Gewissen ihn zwecklos hin und her trieb in einsamen Wanderungen, wurde er noch einsamer, wie er schon gewesen, und hatte wenigen Schlaf. Da geschah es ihm, daß er in einer Nacht ein Gesicht sah, nämlich, er saß in seiner Stube und ohne Licht, und hatte seit Stunden schon sich in Gedanken abgegrämt, und es mochte schon gegen Mitternacht sein, da erblickte er plötzlich deutlich den Weidenbaum, auf dessen schrägem Stamm jetzt Schnee lag, und unter ihm eine schwarze Stelle des Flusses, der sonst unter schneebedecktem Eise dahinschoß, aber an dieser einen Stelle war er frei, und an dem Baum, vor der eisfreien Stelle kauerte seine Geliebte und hatte nackte Arme und loses Haar, wie sie aus dem Bett gestiegen, und blickte in das dunkle Wasser, und ganz deutlich sah er die kurze Oberlippe, welche die Zähnchen sehen ließ, und das rührte ihn besonders am Herzen, daß er diese Oberlippe so deutlich sah, aber ganz blaß war das Gesicht und grauenhaft ernst und entschlossen; er schrie laut auf und stürzte auf das Bild zu, aber indem glitt die Gestalt nach vorn über in das dunkle Wasser, und noch während er schrie, war auch schon das ganze Bild verschwunden. Wie er die Nacht verbracht hatte, erhielt er am andern Morgen einen Brief von ihr, in dem sie ihm ihre Absicht mitteilte, daß sie aus dem Leben gehen wolle; und so hatte er nun die Bestätigung, denn bis dahin hatte er noch nicht geglaubt, daß das Gesicht ihm einen wahren Vorgang geoffenbart. Über dieses verfiel er in eine schwere Krankheit, und nachdem er die überstanden, kam ein langdauernder Trübsinn über ihn, er gab alle seine früheren Pläne auf und verwendete seine Zeit auf die Arbeit in den okkulten Wissenschaften; denn nach seinem Erlebnis hatte nichts mehr Bedeutung für ihn, was in dem engen Kreise geschehen war, der durch das Licht erleuchtet ist, und nur das erschien ihm wichtig, was in der unendlichen Dunkelheit verborgen ruht, die jenseits dieser nahen Grenze liegt, und so fand er eine Beruhigung für sein Gewissen, denn in Wahrheit war ja, was er getan, unwichtig und sinnlos gewesen, und seine Bedeutung war gar nicht verständlich für den blöden Blick, den wir hier haben. So war es möglich für ihn, daß er sich am Leben erhielt.

Mit diesem Roch nun freundete sich Karl an, und seine Lehren nahm er mit großer Begierde auf. Wie die beiden derart vertraut miteinander geworden waren, da erzählte ihm Roch, er habe sich schon lange einen Freund gewünscht, mit dem zusammen er einen wichtigen Versuch anstellen könne, der deshalb zwei Personen erfordere, weil er mit Gefahren verknüpft sei, denn in einem alten mystischen Buche, das nur handschriftlich vorliege, habe er eine Vorschrift für ein Räucherpulver gefunden, das früher von Beschwörern benutzt wurde, um Geister erscheinen zu lassen, und enthalte das in seinen wirksamen Bestandteilen gewisse berauschende Stoffe, die wohl geeignet sein möchten, den gewünschten Zweck zu erfüllen, da von ähnlichen Stoffen bekannt sei, daß ein südamerikanischer Indianerstamm sich seiner mit den gleichen Absichten bediene, indem die Leute die Geister ihrer Vorfahren sehen oder zu sehen glauben; denn eben inwieweit hier eine wunderliche physiologische Wirkung oder wirkliches Hereinragen andrer Welten stattfindet, das sei zu untersuchen.

Karl ging mit jener gewissen schauerlichen Freude auf den Vorschlag ein, die wir alle in solchen Fällen empfinden mögen; und nachdem Roch auf seinem Zimmer die Vorbereitungen getroffen, lud er nun Karl an einem Abend zu sich. Sein Zimmer war ein sonderbarer Raum, der ganz hoch oben in einem Hause lag, das nur von Arbeitern, und zwar recht geringen, bewohnt war. Auf den Treppen spürte man einen namenlos scheußlichen Geruch, den erklärten die vier und fünf Namenszettel übereinander an den Korridortüren, indem sie zeigten, wie dicht die elenden Stuben bewohnt sein mochten durch allerhand Schlafburschen und sonstige ärmliche Leute. Von einem solchen Korridor ging es auch in Rochs Zimmer, das war etwa drei Meter lang und zwei Meter breit, so daß schon das Eintreten schwierig war, weil die Tür auch nach innen ging, und man sich neben dem Bett durchdrängen mußte. An den Wänden hingen sehr viele Vogelbauer, in denen Waldvögel auf Sprossen schliefen. Außer dem Bett standen nur noch eine alte Kommode und zwei Stühle in dem Kämmerchen, das in der Tat für weitere Möbelstücke keinen Raum aufgewiesen hätte. Nach einer verlegenen Bemerkung über die Dürftigkeit seiner Wohnung wies Roch auf die Kommode, wo bereits eine flache Schale mit dem Pulver neben einer Spirituslampe bereit stand. Die Vorschrift des alten Zauberbuches lautete, nach Abzug von allerhand Geheimniskrämerei, daß man vorher lebhaft an die Person denken solle, deren Geist man zu sehen wünsche, wobei es gleich war, ob man einen Lebenden oder Toten haben wollte, und daß man die Erscheinung weder anrede noch sich ihr nähere, weil sonst ein großes Unglück geschehen könne, denn es seien Beschwörer von den erzürnten Geistern erdrosselt worden. Nachdem sich die beiden fest versprochen hatten, daß sie dieses erste Mal die Vorschrift genau befolgen wollten, zündete Roch die Spirituslampe an, welche in dem sonst dunkeln Zimmer mit blauem und flackerndem Flämmchen brannte, und dann streute er etwas von seinem Pulver auf.

Eine lange Weile warteten die beiden, indes das blaue Flämmchen hüpfte und wie unentschlossen zuweilen ganz vergehen wollte. Aber es ereignete sich nichts Auffälliges; nur war zuweilen ein Knistern hörbar, wahrscheinlich wenn ein Körnchen von dem Räucherwerk verbrannte; merkwürdig laut schien den beiden dieses Knistern. Aus dem engen Hofe schallte in die Höhe, und war verstärkt durch die eng zusammenstehenden Wände der Häuser, das Brüllen eines Betrunkenen; nach einer Zeit, die den beiden wohl eine halbe Stunde schien, mischte sich in das Brüllen das Schreien und Jammern seiner Frau, der hatte er heimlich das Geld fortgenommen, das sie durch Scheuern verdiente, und sie konnte den Kindern nichts zu essen geben. Roch und Karl dachten fast nur an den Vorgang, der sich da unten im Hofe abspielte, aber sie hielten sich doch noch immer ruhig. Plötzlich hob sich das blaue Flämmchen und erlosch. Nun zeigte sich, daß der Lichtschein vom Hofe her eine ganz schwache Helligkeit ins Zimmer verbreitete, so daß nicht gänzliche Dunkelheit war. Ein schwerer Rauch legte sich den beiden auf die Brust, und die Stimmen auf dem Hofe schienen sich in immer weitere Entfernung zurückzuziehen, indessen die Vögel in den Käfigen mit einem Male in seltsamer Weise flatterten und sich geängstigt zeigten.

Plötzlich war es aus der Erde gestiegen wie eine graue Gestalt; dann schwebte es langschleppend in der Luft, in der Entfernung von den beiden, die sie vorher auf dem Boden bezeichnet hatten. Nachdem erhob sich aus dem Boden ein zweites Wesen, gekrümmt stieg es von unten auf und mit Anstrengung. Nach einer Weile schwebte es ebenso langschleppend. Aber ganz undeutlich war das alles, das waren Schatten ohne Wunsch und Gesicht. Langsam schwebten sie.

Eine lange, lange Zeit währte das; aber es war nicht klar, ob Stunden dahinflossen oder Minuten.

Da wurde langsam deutlich der ersten Gestalt Gesicht und Wesen und rann zusammen zu der Figur Luisens. Gramvoll sah sie aus, und in ihren Augen ruhten schwere Leiden, die keine Form annahmen. Eine heftige Liebe und tiefes Mitleiden wallten auf in Karls Herzen, er hatte den Willen, auf den Schimmer zu eilen und dieses schwermütige Gesicht an seine Brust zu drücken. Aber indem erzitterte schon das schwanke Wesen wie ein Bild im Wasser, das plötzlich bewegt wird durch eine Blüte, die von einem überhängenden Baume leise herabfällt auf den glatten Spiegel. So bezwang er sich und hielt still, und langsam glättete sich wieder das Wesen und ward ruhig.

Derart verharrte alles eine lange Weile in atemlosem Schweigen; da geschah etwas in der andern Figur, die bis dahin noch unbestimmt gewesen, denn eilfertig schoß es in ihr hin und her, ballte sich und trennte sich wieder; aber die Züge wurden fester und schärfer, und schon hatte Karl eine heimliche Angst, daß ihm Johanna erscheinen werde; da tauchten in dem leeren Gesicht auf die Linien von Johanna, und es erschienen willensstarke Augen, und ein auf Böses gerichteter Blick wurde klar, und haßerfülltes Gesicht. Bis ins Innerste erschauerte Karl vor Entsetzen, denn alles Furchtbare, dessen dieses Weib vielleicht einmal fähig war, hatte seine Äußerung in diesem Gesicht gefunden, in den Linien sowohl wie im Ausdruck. Wenn im Leben solche Gesichter wären, so würden alle Menschen Furcht haben voreinander, weil solches Aussehen möglich ist.

Dann verging wieder eine endlos lange Zeit, und es war Karl, als verrauschten vor ihm Jahre, während er angstvoll an seiner vorgeschriebenen Stelle stand und sah; denn wiewohl die Wesen stumm waren und ohne Bewegung schwebten, und ihre Gesichter rührten sich nicht wie bei toten Menschen, und wiewohl er bei allem innerlich wußte, daß diese Gesichte nur Trugbilder eines Rausches waren, den der betäubende Rauch in seinem Gehirn erzeugt; ja er dachte sogar, daß andre solcher betäubenden Mittel die Vorstellung eines schnellen Fahrens durch die Lüfte verschaffen; trotzdem wußte er als ganz gewiß, daß zwischen den beiden Wesen etwas geschah, und daß Entsetzliches zum Ende kommen mußte.

Siehe, da richtete das Wesen Johanna langsam, wie vom Tode erwachend, die haßerfüllten Augen auf das schwache Wesen Luise; und erst ging der Strahl der haßerfüllten Augen neben ihr vorbei, und dann streifte er sie, und endlich traf er sie ganz, und das Wesen Luise erzitterte wie ein Bild im Teiche, schwankte und wollte sich auflösen. Da durchfuhr es Karl, daß er sie retten müsse, und er stürzte vorwärts mit erhobener Faust auf den Schemen Johanna. Ein sehr lauter Schlag erscholl, dann fielen Glasscherben klirrend auf die Erde, und das Fenster war gänzlich zersplittert, auch die oberste Scheibe. Karl sah auf die Scherben vor seinen Füßen und wußte nicht, wie ihm geschehen. Der andre suchte mit zitternden Fingern das Licht anzuzünden. Durch das offene Fenster drang kühle Nachtluft, und plötzlich wurde ihnen bewußt, daß der Betrunkene unten auf dem Hofe lärmte, das war genau so wie vorhin; und mit einem Male fiel auch das Jammern der Frau ein, genau so, wie sie es schon gehört hatten, und der Mann antwortete dasselbe wie vorhin. Karl sah nach der Uhr; noch nicht eine Minute konnte verflossen sein, seitdem Roch das Pulver aufgeschüttet, und doch war es ihm wie vor einer ganz langen Zeit.

Schweigend stiegen die beiden die Treppe hinunter; der Zank des Betrunkenen und der streitenden Frau verfolgte sie Wort für Wort, wie sie ihn schon kannten. Karl erschauerte und hielt sich am Geländer fest, auch des andern Kniee zitterten. Und nachdem sie lange durch belebte Straßen gegangen waren, sprach am Ende Karl: „Ich weiß, was ich gesehen habe, und es ist Übernatürliches dabei, aber ich kann es doch nicht glauben.“ Roch schwieg lange, dann antwortete er: „Das eben ist das Grausigste bei diesen Dingen, daß man immer zweifeln muß, ob man nicht ein Betrüger ist oder ein Selbstbetrüger. Auch dies hat das Mittelalter gewußt, das gesagt hat, daß der Teufel ein Lügner und Betrüger ist. Aber ich muß tiefer hinein, wiewohl ich weiß, daß ich immer nur Lüge finden werde und Selbstverachtung, und ich weiß es nicht, ob mich nicht das treibt, daß ich mich nach der Selbstverachtung sehne, denn in der liegt die tiefste Wollust beschlossen.“

Roch sagte nicht näher, was er mit diesen Worten meine, auch erzählte er nie, was er selbst gesehen hatte. Und wie es oft geschieht, daß wir eines Menschen Leben in einem für uns beide wichtigen Punkte kreuzen und dann wieder so schnell von ihm gehen, wie wir ihn trafen, so kam Karl recht schnell wieder mit ihm auseinander, durch ein Gefühl der Unruhe und Nichtbefriedigung; für Karl war dieser einzige Versuch genügend gewesen, mit den unterirdischen Mächten in Beziehung zu treten, der andre aber verstrickte sich immer tiefer und fand endlich seinen Kreis, für den er geschaffen war, in einer Anzahl gleich Zerstörter, die nicht an Gott glaubten und eine Satansgemeinde gegründet hatten.

 

Um Luise schloß sich immer enger der Ring des Todes. Wir wissen ja nicht, durch welche Kräfte am letzten Ende die entscheidende Willensrichtung gebildet wird, deshalb ist uns auch in den menschlichen Dingen so vieles unbegreiflich, nämlich alles das, wo wir nicht auf irgend eine Weise Gründe unterbauen können. Deshalb kann ein Erzähler in solchem Fall nur die Ereignisse berichten, die ihm irgendwelche Bedeutung gehabt zu haben scheinen.

Es lebte damals ein früherer Gutsbesitzer mit seiner Frau und einzigem Sohn in Berlin, der Offizier war. Der alte Mann hatte in jungen Jahren sein Gut in fröhlicher Hoffnung übernommen, nachdem er seine Geschwister ausgezahlt und eine brave und schöne Frau geheiratet. Nun war aber damals eine Zeit, wo der Weizen und die Wolle immer billiger wurden und die Arbeitslöhne immer stiegen, so daß die Ausgaben sich erhöhten und die Einnahmen sich minderten. Er ging lange mit sich zu Rate, was er bei dieser Erscheinung wohl tun könne, fragte auch seine Nachbarn, die zwar sich in ähnlicher Lage befanden, und zuletzt las er selbst Bücher, wie wohl er sonst wenig studiert, sondern hatte seine Universitätszeit vielmehr mit lustigen und treuen Freunden in Heiterkeit ohne sonderliches Arbeiten verbracht; aber auch aus den Büchern fand er keine Auskunft, die er nicht zuvor schon selbst verworfen gehabt hätte. Nun half er sich wohl mit großer Sparsamkeit, und seine treue Frau war sehr fleißig, daß sie aus ihrer Wirtschaft herauszog, was möglich war, aber mit der Zeit kam es sogar dahin, daß die Einnahmen geringer wurden wie die Ausgaben für den Betrieb und Zinsen. Da gelangte er in seiner Not zu Borgen und Wechselschreiben, und weil nun auch sein Gewissen schlecht wurde, denn er wußte nicht, wie er den Wucherer einmal bezahlen sollte, so schloß er die Augen und überlegte gar nichts mehr, sondern lebte wie einer, der morgen sterben soll und Mut hat und sich heute noch freut; er beruhigte sich aber immer, indem er sich sagte, daß der Wucherer schon selbst wissen werde, wie er wieder zu seinem Gelde komme.

Aus dieser Betäubung riß ihn die Rede eines leichtfertigen Handwerkers. Er mußte nämlich an einem Stall Reparaturen machen, der erst vor nicht allzu langer Zeit gebaut war, aber weil der Zimmermann betrüglicherweise frisches Holz genommen, so waren einige Balken stockig geworden. Wie er den Menschen nun zu Rede stellte und ihn in scharfen Worten an seine Handwerkerehre erinnerte, erwiderte der patzig, dafür sei ja der Bauherr da, aufzuachten, daß alles ordnungsgemäß gemacht werde. Diese Worte gingen dem alten Mann sehr nahe, denn er dachte bei sich, daß er selbst ja ebenso vernünftelt habe wie dieser unredliche Handwerker, und dabei war er ein vornehmer und adeliger Mann, der Stolz hatte. Deshalb fuhr er gleich in die Stadt zu dem Wucherer und erzählte dem alles, der heftig erschrak und nach Art solcher gemeinen Menschen in häßlichen Worten ihm Vorwürfe machte. Indessen gelang es doch, das Gut vorteilhaft zu verkaufen an einen wohlhabenden Herrn aus der Großstadt, dessen Vater viel Geld verdient hatte, und der sich zu diesem ererbten Gelde nun eine gesellschaftliche Stellung verschaffen wollte; so blieben dem alten Herrn sogar noch mehrere tausend Mark übrig.

Mit diesem geringen Gelde zog er nun nebst seiner Frau nach Berlin, wo sein Sohn schon früher lebte als ein frischer und unbefangener junger Offizier, der mäßig war und sehr verständig an seine Zukunft dachte. Die Frau beschloß, eine große Wohnung zu mieten und Fremde bei sich aufzunehmen um Geld, welcher Plan ihr auch gelang, da sie manche Familienbeziehungen hatte, der alte Mann aber, welcher einsah, daß er dergestalt keine Tätigkeit für sich selbst fand, durch die er zum Unterhalt der Familie beitragen konnte, wollte nicht durch seiner Frau Arbeit leben, und mühte sich so lange, bis er eine Anstellung bei der Pferdebahn erhielt als ein Aufseher über die Schaffner, damit die immer ordentlich alles Geld abliefern und nicht betrügen. Und wiewohl sein Körper schon gebrechlich war und dieser Dienst ihn recht anstrengte, so fühlte er sich doch nunmehr glücklich und zufrieden und erzählte seiner Frau des Abends vieles über die verschiedenartigen Charaktere der Schaffner, indessen die mit einer Küchenarbeit für das Mittagessen des nächsten Tages beschäftigt war.

Bei diesen Eltern lebte der junge Offizier, und weil er gesund und rotwangig war, auch vor seinen Vorgesetzten angenehm und bei seinen Kameraden beliebt, so dachte er, daß er wohl eine Heirat machen könne, durch die er seine Glücksumstände wieder aufbesserte. Und wie in Berlin alle verschiedenen Kreise der Gesellschaft sich in der wunderlichsten Weise berühren, so hatte er bei einer gewissen Gelegenheit Luise kennen gelernt und durch ein lange geführtes Gespräch liebgewonnen, denn bis dahin hatte er nur solche jungen Damen gekannt, die mit ihm über Beförderungen und Rangliste sprachen. Nun bedachte er zwar, daß sie eine Jüdin war und wenig angenehme Eltern hatte, auch blieb es ihm nicht unanstößig, daß sie Studentin gewesen, wenn schon ihr Benehmen nichts Auffälliges zeigte; indessen wußte er doch, daß sie eine große Mitgift erhoffen konnte, auf die er ja angewiesen, und dann hoffte er, daß der Umgang mit den Damen vom Regiment sie bald zu einer richtigen Offiziersfrau machen werde; über das alles hinaus gab bei ihm aber den Ausschlag, daß er eine große Zuneigung zu ihr gefaßt hatte, was freilich verwunderlich schien in Anbetracht der sonderlichen Verschiedenheit zwischen den beiden. So entschloß er sich denn und schrieb ihr einen wohlgesetzten Brief, in dem er sie fragte, ob er ihren Vater um ihre Hand bitten dürfe.

Ihre Eltern hatten aus Anzeichen schon vorher die Werbung geahnt, die von der Mutter begünstigt wurde, der Vater aber, der früher oftmals heftig gegen reiche Glaubensgenossen gesprochen, die ihre Töchter an Christen gaben, war der Verbindung feindlich gestimmt, und so wurde schon lange bevor der Brief ankam, in der Familie lebhaft und nicht mit Würde über das Kommende gesprochen, unter tiefem Leiden Luisens, die den jungen Mann wohl ganz gern sah als einen gesunden und tüchtigen Menschen, aber keine weitere Neigung zu ihm verspürte; denn durch diese Gespräche wurde ihr, als werde ihr Innerlichstes und Heimlichstes ans Licht gezogen und vor den Menschen zu Schau ausgebreitet. Und wie nun der Brief wirklich ankam, da hatte sie eine heftige Angst vor den Gesprächen und Reden, die noch folgen würden, und zudem wurde der Überdruß, den sie schon lange empfunden, plötzlich sehr viel heftiger; so beschloß sie, daß sie aus dem Leben gehen wollte, ohne daß sie eigentlich einen augenscheinlichen Grund gehabt hätte. Ehe sie aber ihre Tat ausführte, schrieb sie noch einen Brief an Hans, der ihrer Seele wohl am nächsten gestanden haben mochte. In dem sagte sie ungefähr folgendes:

„Ich sterbe, weil ich auf keinerlei Weise sehen kann, wie ich zu leben vermöchte, und weiß auch nicht, wie andre Leute leben können. Lange habe ich nachgedacht, denn ein jeder hat doch einen Willen zu leben; und vielleicht wäre es am besten für mich gewesen, ich hätte jung geheiratet und Kinder gekriegt; denn nachdem wir für uns selbst an das Ende gekommen sind, daß wir nichts mehr zu erstreben sehen, haben wir dann noch Ziele für die Kinder und ihr Größerwerden. Und so ist meine törichte Liebe zu Peter wohl noch das klügste gewesen in meinem Leben, die ich durch zu viele Klugheit zerstört habe, weil ich geistig hochmütig war und keinen Glauben fassen konnte zu einem Mann. Wenn du einmal heiraten solltest und Töchter haben, so erziehe sie nicht so, daß sie viel wissen, denn schon Männer macht das unfroh, aber Frauen vermögen dann nicht zu leben, weil sie nicht mehr sehen, wie sie das können.“

Diesen Brief erhielt Hans am Weihnachtsabend, als er allein in seiner Stube saß und über sein bisheriges Leben nachdachte. Da fand er, daß er war wie ein Baum im Herbstwinde, denn wie trockene Blätter waren die Freunde abgefallen, und der Wind trieb sie hierhin und dorthin. Und als er den Brief gelesen, dachte er sich, daß dieses das Ende aller sei, und nur einige wenige Jahre waren doch vergangen, daß so viele junge Leute zusammengewesen waren und Kraft gehabt hatten und einen starken Willen zu allem, was das Schicksal ihnen auch aufgeben mochte; und nun saß er selbst am Weihnachtsabend einsam in seiner Stube und dachte nach, wie Luise nachgedacht hatte, denn auch er hatte einen Willen zu leben; aber er fand nicht, wie das alles so gekommen sein konnte.

Und indem er angestrengt nachdachte, und es schien ihm zuweilen, als sehe er ganz von weitem das letzte Ende des Gedankens, den er erreichen wollte, da öffnete sich die Tür und jener Russe trat ein, den er gleich in der ersten Zeit seines Berliner Aufenthaltes kennen gelernt; später war er immer in Beziehung zu ihm geblieben, aber er mochte ihm nicht wieder so nahe kommen wie in jener Nachtstunde. Dieser trat jetzt ein, begrüßte ihn und sagte, er habe ein belastetes Herz und suche einen Mann, zu dem er sich aussprechen könne. Dann erzählte er folgendes:

Vor Jahren, wie er noch in Rußland lebte, hatte er einen Freund, der ein stiller Mensch war, der von den revolutionären Wünschen und Gedanken ihres Kreises nichts wissen mochte, sondern sein Studium liebte, nämlich die Mathematik. Dieser lebte mit seiner Schwester zusammen, einem sehr schönen Mädchen, das aus Liebe zu einem andern Studenten philosophische Schriften las und bedachte.

Nun war damals ein neuer Polizeimeister in Petersburg eingesetzt, der eine heftige Verfolgung solcher Personen begann, die ihm politisch verdächtig schienen. Bei dieser Gelegenheit wurden auch das junge Mädchen und ihr Bruder verhaftet, und weil man bei ihr verbotene Bücher gefunden hatte, so untersuchte man sie besonders genau, und befahl der Polizeimeister, daß die Jungfrau in seiner Gegenwart nackt ausgezogen werde, damit man nachsehen könne, ob sie nicht noch heimlich an ihrem Körper etwas verborgen hatte. Hierüber und wie sie die lüsternen Augen des Polizeimeisters sah, ward sie von so heftiger Scham ergriffen, daß sie ein Messer nahm, das da auf dem Tische lag zum Spitzen der Bleistifte, und es sich in die Brust stieß; und weil sie gerade auf die Stelle des Herzens getroffen hatte und der Stoß nicht durch Kleider abgeschwächt wurde, so sank sie gleich um und verschied in wenigen Augenblicken.

Wie der Bruder, dem nichts Verbotenes nachgewiesen werden konnte, aus dem Gefängnis entlassen war, bereitete er eine Rache vor, denn seine frühere Gesinnung hatte sich durch dieses Ereignis gänzlich in ihr Gegenteil verwandelt, und da er die notwendigen chemischen Kenntnisse besaß, so gelang es ihm leicht, ein Sprengwerkzeug zu machen, durch das er den Polizeimeister töten wollte. Er hatte aber das Mißgeschick, wie er das Kästchen sorgsam über die Straße trug, daß die Masse sich vorzeitig entzündete und ihm einen Arm wegriß und beide Augen blendete. So wurde er vom Pflaster aufgenommen und durch geschickte Ärzte wieder geheilt; dann aber klagte man ihn seines Versuches wegen an und verurteilte ihn zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe.

Die hatte der Mann nun abgebüßt, und zwar zum Teil in Einzelhaft, und dann war er aus Rußland fortgegangen und nach Berlin gekommen. Solches Geschick aber hatte ihn jedoch zu einem ganz merkwürdigen Menschen gemacht; denn er war damals achtzehn Jahre alt gewesen; und zwar in seinem Fach recht tüchtig, sonst aber etwas unreif und kindisch. In den zehn Jahren, die er seitdem in Finsternis und ohne alle Möglichkeit der Bildung verbracht, war sein Geist dann nicht älter geworden, und auch seine Erfahrungen hatten sich nicht vermehrt; nur zweierlei war in seinem Innern geschehen, nämlich erstens, er hatte die revolutionären Gedanken, die er damals ohne Interesse angehört, in sich befestigt und in einer Art von mathematischem Sinn und ohne Verständnis für die Wirklichkeit in sich gestaltet, und zweitens, er hatte sehr viele und lebhafte Träume gehabt und konnte in seiner Erinnerung nicht mehr unterscheiden zwischen Erlebtem und Geträumtem; und indem er auch jetzt noch derart träumte, und zwar häufig Vorgänge in solcher Weise, wie er sie sich wünschte, so befand er sich in Wahrheit in einer ganz andern Welt wie seine Umgebung; denn wenn ihm ein Wunschgebilde dieser Art abgestritten wurde als nicht wirklich, so hielt er den Menschen für erträumt, der gegen ihn stritt, nicht aber seine Vorstellung, weil diese sich bereits ganz mit seinem gesamten Weltbilde verschmolzen hatte.

Wie dieser Mann nun eine kleine Weile in dem Kreise der russischen Freunde in Berlin gelebt hatte, die fleißig zusammenkamen auf ihren Zimmern und viel disputierten, stellte sich das wunderliche Wesen heraus, daß er auf alle Mädchen und Frauen des Kreises eine große Anziehungskraft ausübte, trotzdem er schauerlich anzusehen war durch die Verstümmelungen an seinem Körper und im Gesicht, und wollten ihm alle dienen und helfen. Er aber hatte sich besonders an des Erzählers Frau angeschlossen, bei dem er auch wohnte und aß.

So verging nun eine Zeit, während welcher die Frau nachdenklich und schweigsam war; dann aber sagte sie zu ihrem Mann, daß sie ja doch beide sich von den Vorurteilen der bürgerlichen Gesellschaft befreit hätten und sich als Pfadsucher der neuen Menschheit wüßten, die, wie sie das oft besprochen, auch eine andre Form der Ehe bringen werde; in dieser solle die Freiheit der Persönlichkeit gewahrt bleiben; und da die Persönlichkeiten sich heute immer verschiedenartiger entwickelten, so werde die neue Ehe viele voneinander abweichende Typen aufweisen. Nun wisse er wohl, daß sie ihn liebe, aber es sei zu dieser Liebe eine neue Zuneigung in ihr Herz gekommen, nämlich für ihren gemeinsamen Freund; und anfänglich habe diese Erscheinung sie recht beunruhigt, denn da die Gefühle zu ihm als ihrem Mann noch immer die alten seien, so habe sie ihn doch nicht verlassen mögen um den neuen Geliebten; am Ende aber habe sie sich gedacht, daß auch solches in der künftigen Gesellschaft möglich sei, daß eine Frau mit zwei Ehegatten lebe, wie umgekehrt ein Mann mit zwei Ehefrauen, was wir ja beides auch heute schon bei barbarischen Völkern in der Wirklichkeit sehen; und da sie doch die künftige Gesellschaft in ihrer Lebensführung vorbilden wollten, so schlage sie ihm vor, daß der Freund in ihren Ehebund als Gleichberechtigter aufgenommen werde.

Auf diese Rede konnte der Mann nichts erwidern, da sie aber eine Angelegenheit von großer Bedeutung für die künftige Ordnung der Menschheit betraf, so entschloß er sich, daß er alles seinen Freunden unterbreitete, damit vorher eine gründliche Besprechung über die soziologischen und sittlichen Fragen stattfinde, die diesen Fall betrafen. Dies geschah nun alles, und nach einer sehr genauen Prüfung kamen die Freunde zu dem Urteil, daß die Frau recht habe und nach ihrer Rede geschehen müsse. Dem Spruch fügte sich der Mann, und so begannen die drei ihre neue Ehe.

Nun zeigten sich aber bald Unzuträglichkeiten, die sich aus dem Wesen des zweiten Gatten ergaben. Durch seine Eigenart war er nämlich allen Vorstellungen unzugänglich, die bezweckten, ihn zu etwas seinem Willen Entgegengesetzten zu bewegen; und nachdem zuerst aus Schonung alles nach seinen Wünschen gegangen war, herrschte er nachher hierdurch vollständig, zur großen Beschwernis des ersten Mannes. Und während sonst das neue Verhältnis wohl hätte Dauer haben können, wurde es ihm nun unerträglich, so daß er aus der Familie ausschied, denn die Frau hing mehr an dem zweiten Manne wie an ihm. Derart lebte er nun schon seit Wochen allein. Hans wußte auf diese Bekenntnisse wenig zu antworten; aber da jemand, der sein Herz erleichtern will, denn der Mann hing noch an seinem Weibe und sehnte sich nach ihr, nicht verlangt, daß man viel zu ihm spricht, sondern er ist froh, wenn er selbst ohne Störung seine Beichte beenden kann, so fiel das dem andern nicht auf.

Nach einer Weile fuhr der fort, nachdem er nun dergestalt allein lebe, habe er wieder mehr für die Verbreitung ihrer gemeinsamen Ideen tun wollen. Und da sei ihm Hans eingefallen, daß er es in der Hand habe, der Sache einen wichtigen Dienst zu leisten.

Er wisse nämlich, daß er gelegentlich noch jenen Kurt besuche, den Schwager Hellers, den er gleichfalls an jenem ersten Abend kennen gelernt. Wenn er nun dem auf seiner Schreibstube einmal sage, er wolle telephonieren bei ihm, so werde er und der andre den Raum verlassen, und er, nämlich Hans, bleibe allein. Dann könne Hans auf einer Wachstafel Abdrücke der Schlüssel machen, nach denen er selbst, der solche Künste gelernt habe, Nachschlüssel anfertigen werde; und wenn dann einmal gelegene Zeit sei, so würde er mit einem Freunde des Nachts das ganz unbewachte Geschäft öffnen und aus dem Geldschrank eine Summe nehmen, die seine Freunde in Rußland brauchten, um eine Druckerei anzulegen; und da keinerlei Spuren eines Einbruchs zu bemerken wären und man nicht erfahren könne, auf welche Weise das Geld verschwunden sei, so müsse dieser Plan ganz sicher auszuführen sein. Bedenken sittlicher Art aber werde er, Hans, doch wohl nicht haben, da man doch nur einem Ausbeuter nehme, was er zu Unrecht besitze, und das verwende für die Befreiung der Menschheit.

Wie Hans diese Rede hörte, wurde ihm wie durch einen Blitz sein eignes Leben und das Leben aller dieser Menschen erleuchtet, und wurde von tiefem Entsetzen fast geschüttelt, und war ihm, als müsse er den Russen niederschlagen in Entrüstung; und so sehr konnte er sich nicht bezwingen, daß der andre nicht seine Verfassung gemerkt hätte; die war aber derart, daß er in Angst geriet und verlegen wurde und dann plötzlich ging. Wie der andre fort war, kamen dem Hans die Tränen über sein Leben, er legte das Gesicht auf seine Arme und weinte bitterlich.

Aber noch nicht war die Zahl der Boten zu Ende, die ihm an diesem Weihnachtsabend geschickt wurden, nämlich der Brief der toten Luise, und dieser Mensch, der sich eben vom Narren zum Verbrecher entwickelte; es kam noch ein Wort von der treuen Dienstmagd seiner Eltern, und das traf ihn am tiefsten.

Die Mutter schickte ihm zur Bescherung aus der Heimat ein Kistchen, in das sie allerlei gepackt, was sie nützlich für ihn meinte, denn Überflüssiges zu schenken war ihrer sparsamen Art zuwider, und auf dem Boden lag der Brief, der fest zusammengefaltet war; in dem schrieb sie, daß Dorrel gestorben war, und erzählte die Art ihres Hinganges, und was sie ihr aufgetragen für ihn. Denn nachdem sie ihrer Frau alle ihre Habe nochmals gezeigt und gesagt, daß dies alles Hans erben solle, sagte sie: „Wie er zuletzt hier im Hause war, zum Tode seines Vaters, da fiel mir auf, daß sich sein Wesen verändert hat und daß seine Augen anders sind wie früher. Hierüber habe ich eine große Angst bekommen, aber als eine ungebildete Dienstmagd, die keine Kenntnis hat von einer Gelehrsamkeit, wagte ich ihm nichts zu sagen. Nun ich aber fühle, daß ich sterben werde, und ich hoffe, daß unser himmlischer Vater mich zu sich in sein Reich nimmt um seines Sohnes willen, so will ich versprechen, daß ich oben fleißig Fürbitte tun will für ihn bei Gott, damit der sich seiner erbarme und recht bald ihn frei mache aus seiner jetzigen üblen Verfassung.“

Es wohnte Hans bei braven und ordentlichen Leuten, die gleich ihm ein trübes Weihnachten feierten. Der Mann war ein Zuckerbäcker gewesen und als ein fleißiger und ordentlicher Mann, der auch eine sparsame und häusliche Frau hatte, war er in seinen Verhältnissen recht vorwärtsgekommen. Die beiden hatten einen einzigen Sohn, den sie mit vieler Liebe erzogen, und vielleicht waren sie allzu nachsichtig gegen ihn gewesen. Sie hatten ihn auf die gute Schule getan, wo er als ein begabter und leicht auffassender Junge anfänglich rasche Fortschritte machte, aber wie er in die höheren Klassen kam, wurde er träge, hielt sich zu den leichtsinnigen und schlechten Schülern, und durch Rauchen und Trinken vergnügte er sich in einer Weise, die seinem Alter noch nicht zukam. So geschah es, daß er die Schule nicht beenden und dann studieren konnte, wie die Eltern gedacht, sondern er mußte aus der Sekunda abgehen. Da ließen sie ihn eine mittlere Beamtenlaufbahn ergreifen und brachten ihn bei der Steuerverwaltung unter, und waren sehr stolz, wenn er sie in seiner schmucken dunkelgrünen Uniform besuchte, zahlten auch viel Geld für ihn, denn er machte große Ausgaben, weil er immer fein und vornehm erscheinen wollte. Dann heiratete er frühzeitig die Tochter eines andern Beamten, die ein sehr schönes Mädchen war, und es wurde erzählt, sogar ein Offizier habe um sie anhalten wollen. Die war nun freilich nicht vermögend und wußte nicht gut hauszuhalten, sondern hatte ihre größte Lust am Putz und Vergnügen; aber da ihre Art der seinigen zusagte, so lebten sie doch recht unbekümmert und fröhlich zusammen.

Die alten Eltern gerieten in große Sorgen, wie sie dieses Leben sahen und die großen Ausgaben merkten, und nachdem sie lange mit sich zu Rate gegangen, wie sie dem abhelfen könnten, besuchte am Ende der Vater seufzend seinen Sohn, ermahnte ihn zur Sparsamkeit, warnte ihn und sagte am Ende, wenn er vielleicht Schulden gemacht habe, so solle er sie ihm nennen, denn er wolle lieber für ihn bezahlen, als daß er ins Unglück komme. Und über die herzlichen Worte war der Sohn fast gerührt geworden, wie es leichtfertiger Leute Art ist, aber im Nebenzimmer hatte die Schwiegertochter alles gehört, die kam herein und schalt auf den alten Mann, sagte ihm, daß er ihr Leben nicht verstehe und sie beide beständig kränke und fügte noch viele bittere Worte hinzu über ihre vornehmere Herkunft und besseren Gewohnheiten. Über dieses alles wurde der Sohn beschämt, teils wegen seines Vaters, daß ihm der ins Gewissen geredet, teils wegen seiner Frau, weil die ihre Geburt gegen seinen Vater hervorhob; der Zorn aber, der aus dieser Beschämung entstand, richtete sich gegen seinen alten Vater, als der es gut gemeint hatte, und so wurde er heftig und verbot dem am Ende sein Haus. Da ging der gute alte Mann wortlos aus der Stube, küßte noch einmal den Enkel und es flossen ihm Tränen über die Backen, und dann mied er seinen Sohn; dieser aber, da er sich schuldig fühlte, mied ihn gleichfalls.

Nun geschah es nach nicht langer Zeit, daß in der Kasse, welche der junge Beamte verwaltete, Unterschleife entdeckt wurden, denn weil sein Einkommen bei weitem nicht ausreichte für sein Leben, so hatte er erst Schulden gemacht, und wie die Schuldleute drängten, hatte er fremdes Geld angegriffen. So wurde er denn gleich verhaftet und ihm der Prozeß gemacht und zu Zuchthaus verurteilt. Die junge Frau, die doch mitschuldig an seinem Verbrechen war, gebärdete sich wie irrsinnig, beschimpfte ihren Mann vor andern Leuten und ließ sich von ihm scheiden als von einem Ehrlosen. Dann brachte sie das einzige Kind zu den Schwiegereltern und sagte denen, sie wolle eines solchen Mannes Sohn nicht erziehen, denn der schlage gewiß nach seinem Vater, und sie selbst wolle nun ein neues Leben anfangen, nachdem ihr früheres zerstört, nämlich sie habe eine große Begabung für den Gesang und wolle Künstlerin werden. Dann ging sie aus dem kleinen Orte fort, und es wurde erzählt, daß sie Sängerin in einer großen Stadt in einem jener Häuser geworden sei, wo die musikalischen Darbietungen nur andre Dinge verbergen sollen.

Auch die Eltern verließen ihre Stadt, in der sie jung gewesen waren und gearbeitet hatten und alt geworden waren, und nahmen den Enkel mit sich, denn sie konnten die Schande nicht ertragen und meinten, in der Großstadt vermöchten sie sich am besten zu verbergen, daß sie niemand sähe, der sie gekannt, und daß das Kind ohne Vorwurf um seinen Vater aufwüchse.

Über dem allen waren nun Jahre vergangen, und das Kind hatte zugenommen an Größe und Verstand und sich zu großer Ähnlichkeit mit seinem Großvater entwickelt, war auch recht brav in der Schule und saß immer als einer der Ersten. So kam nun die Zeit heran, daß ihr Sohn entlassen werden mußte aus dem Zuchthause, dem Jungen hatten sie aber erzählt, er sei in Amerika. Und wiewohl der Vater ihn noch einmal gesprochen nach seiner Verurteilung und sie sich Briefe schrieben, so wußten sie nicht, ob er zu ihnen kommen werde, und hatten zwar große Sehnsucht nach ihm, aber der Vater wagte doch nicht, nach dem Orte seiner Strafe abzureisen und ihn dort zu empfangen, denn er fürchtete, daß ihm das wieder mißfallen möchte und ihn wieder verhärte. Deshalb waren jetzt ihre Herzen gespannt in Furcht und Hoffnung, denn gleich nach den Feiertagen waren die Jahre abgelaufen. So hatte nun dieses Weihnachtsfest für sie eine besondere Bedeutung. Und wie es oft geschieht, daß guten Menschen Not und Sorge das Herz offen machen für andere, wie bei bösen sie es verschließen, so sprach die Frau zu dem Mann, er solle zu dem Mieter hinübergehen und den einladen zu ihrem Weihnachtsbaum, denn sie hatte wohl gemerkt, daß er ein einsamer Mensch war, um den sich niemand kümmern mochte an diesem Abend. Aber als der Mann nun in seiner festlichen Kleidung anklopfte und endlich die Tür öffnete, da fand er Hansen ohne Besinnung im Zimmer auf dem Boden liegen, und neben ihm lag das geöffnete Kistchen von der Mutter, welches ein paar Schuhe enthielt, Strümpfe und Taschentücher, und ein Stück Honigkuchen.

Wie der Arzt kam, erkannte der schweres Nervenfieber, und ordnete an, daß Hans gleich in ein Krankenhaus gebracht wurde. So geschah, und war Hans die ganze Zeit besinnungslos, wie er im Krankenwagen gefahren wurde, und nur für einen Augenblick hatte er eine gewisse Klarheit, wie man ihn durch einen langen Gang trug, an vielen Türen mit Nummern vorbei. Der Mann zu seinen Füßen war ganz weiß gekleidet, und wie er sich umwendete, sah er, daß der andre Mann ebensolche Tracht hatte; das war ihm wunderbar, was das bedeuten mochte. Auch standen da zwei Krankenschwestern, von denen sagte die eine: „Und nicht einmal am Weihnachtsabend hat man Ruhe, das ist hier wie im Gefängnis.“ Da vergingen ihm die Sinne wieder, aber um das Wort „Gefängnis“ bildeten sich allerhand wirre und unfaßbare Phantasien, die ihm eine große Angst einflößten.

 

Nach seiner bestimmten Zeit kam Hans wieder zur Besinnung, aber da war sein Körper sehr schwach, und lag in großer Mattigkeit in einem Bett; seine Seele indessen war erfüllt von Bangigkeit, Reue und Angst, und erschien ihm sein Leben nutzlos verschleudert, und er meinte, daß er mit allem am Ende sei.

Dieses merkte die Pflegerin, die ihn besorgte, daß er nicht die friedliche und ruhige Stimmung des Gemütes hatte, die nach einer schweren Krankheit uns trösten soll und wieder ganz gesund machen. Deshalb fragte sie ihn, weshalb er sich verzehre, und hörte mit Geduld, wie er sich selbst anklagte. Da antwortete sie ihm, daß er sich aufrichten müsse und den Willen haben zu Kraft und Freude, und um ihm Mut zu machen, sagte sie, daß er sie selbst betrachten solle, wie sie ruhig sei und in Ordnung ihre Pflicht erfülle, und habe doch Schweres in ihrer Vergangenheit begangen, das sie ihm erzählte.

Ihr Vater war ein einfacher Mann gewesen, der in seiner frühen Jugend weit in die Welt gekommen war, und hatte da manches gesehen, davon in seiner Heimat niemand etwas bekannt war. Deshalb kehrte er nach Hause zurück mit einem wenigen von Geld, das er in der Fremde verdient, und tat sich mit einem reichen Bürger seines Ortes zusammen, einem Schlächtermeister, und mutete auf Kohlen. Und so hatte er Glück und fand reiche Kohlenlager, und war auch weiterhin verständig, indem er sich nichts abschwatzen ließ, sondern mit seinem Genossen sein Gefundenes selber ausbeutete, und gelangte auf diese Weise zu großem Reichtum, daß er viele Zechen besaß und auch Eisenwerke baute und Bahnen anlegte; und ward seine Heimat durch ihn ganz verändert aus einem grünen und frischen Lande, wo Holzhauer wohnten und Gebirgsbauern, zu großen Orten mit düsteren Häusern und Straßen voll schwarzen Staubes und zu Luft voller Qualm der rauchenden Schlote, und zogen viele fremde Leute zu, und auch die Einheimischen arbeiteten bei ihm in Schächten und Hütten, mit Verdrossenheit und Unmut. Er selbst aber ward ein schweigsamer und stiller Mann, der des Morgens in der Frühe in seine Arbeitsstube ging, Briefe las und Antworten diktierte, und wenn er einen ansah von seinen Leuten, so war sein Gesicht seltsam zerstreut, denn er dachte an eine Zeche oder eine Schwankung der Preise; und seine Erholung war, daß er am Abend in das Klubhaus ging, wo auch seine studierten und feinen Angestellten sich erfreuten, da setzte er sich allein in eine bestimmte Ecke und hatte vor sich ein Glas eines bestimmten Weines, und saß stumm da, spielte etwa einmal mit seinen Fingern. Dann ging er nach Hause und wanderte lang auf und ab in seiner Wohnstube, und am Ende legte er sich schlafen in seinem Schlafzimmer, das war eingerichtet mit fürstlicher Pracht. Er hatte als junger Bursche geheiratet, ein Mädchen seines Standes, die war an zehn Jahre älter wie er; von der hatte er zuerst keine Kinder, aber später bekam er mit ihr eine Tochter. Nun war er selbst mit der Zeit in Aussehen und Benehmen ein Mann geworden, wie wenn er immer in seiner jetzigen Lage gelebt hätte, und hatte auch auf seiner Wanderschaft fremde Sprachen gelernt und redete seine Muttersprache fast ohne Dialekt; die Frau aber konnte sich nicht recht in die neuen Zustände passen, denn nur, daß sie prunksüchtig wurde und zänkisch, sonst behielt sie alle ihre alten Gewohnheiten und Sitten bei. Das hatte den Mann nicht sehr gestört, solange das Kind nicht da war, denn er lebte wenig mit ihr zusammen; wie jedoch das Kind geboren war und einige Jahre alt wurde, da schied er sich von ihr, und sie zog weit weg, er aber behielt das Kind.

Nun wurde das Mädchen erzogen von teuren Erziehern, und am Mittag, wenn gegessen wurde, sah sie der Vater immer, denn sie mußte ihm gegenüber sitzen, sonst sah er sie aber nicht, weil er zu viel zu bedenken hatte. Da wuchs denn das Kind auf, wie es mochte, denn die Erzieher wagten nicht, streng zu sein, und der Vater erfüllte ihr alle Wünsche, weil er sie so wenig sah und doch wollte, daß sie ihn lieb hätte, und wie er nicht mehr wußte, was einem Kinde recht und passend ist, so schenkte er ihr viel kostbares Spielzeug. Hierdurch gewöhnte sich das Kind, daß alles seinen Einfällen gehorchen mußte, und daß es teure Dinge für nichts achtete und keine Grenze fand für seine Wünsche, und das ganze Leben erschien ihm langweilig. So wuchs das Mädchen heran zu einem schönen Fräulein, und ihre Erzieherin redete ihr allerlei vor von der Liebe und von vornehmen Heiraten. Da kamen auch bald Freier von allerlei Art. Es wollte aber der Vater gern, daß sie einen jungen Mann ehelichte, der bei ihm diente in seinem Geschäft und tüchtig war in aller Hinsicht. Diesen ladete er oftmals zu Tisch ein und fragte seine Tochter, wie er ihr gefalle; da antwortete sie, daß sie ihn sich gar nicht recht angesehen habe; und wie er ärgerlich wurde über diesen Hochmut und ihr sagte, daß er selbst ein armer Arbeitsjunge gewesen, der mit einem Schnupftuchbündel in der Hand in die Fremde gezogen sei, da zuckte sie nur die Achseln, und er vermochte nichts weiteres über sie, denn er mußte zu viel an seine Geschäfte denken und konnte deshalb ihr Wesen nicht erfassen.

Nun drängten sich um sie viele glänzende und vornehme Herren und schmeichelten ihr, und da sie unerzogen war und nicht bedachtsam, weil sie niemals auf Festes gestoßen war, so glaubte sie wörtlich alles, was ihr Schönes gesagt wurde, und ward noch hochmütiger; lieb gewinnen aber konnte sie niemand, in der Art, wie ihre Erzieherin ihm das geschildert hatte, die ein häßliches und armes Mädchen gewesen war, das immer sehnsüchtig zur Seite gestanden hatte; und am Ende dachte sie, daß sie ein Wesen von ganz besonderer Art sei, das beglücken könne, wen sie wolle, wie der Zufall aus den vielen Mitspielern einer Lotterie einen herausgreift, blindlings und ohne Grund. Da war nun in dem Kreise ein junger Offizier, der ganz arm war und von bürgerlicher Herkunft und nicht besonders ansehnlich, aber er hatte ein braves Gemüt und einen rechtlichen Charakter; der durchschaute wohl ihr Wesen, und weil er zudem bei so vielen glänzenden Bewerbern doch gar keine Aussichten zu haben schien, so hielt er sich ganz still und ruhig im Hintergrunde und bekümmerte sich nicht um sie. Diesen nun, weil er allein von allen abseits stand, suchte sie gerade aus, denn für so hochstehend hielt sie sich, daß seine Unansehnlichkeit und der Glanz der andern vor ihren Augen ein ganz gleiches Verdienst hatten. Der Jüngling, der zuerst glaubte, daß sie nur mit ihm spielen wolle, zog sich noch mehr zurück, wie er ihre Annäherungen bemerkte, und das wiederum machte sie nur hartnäckiger, so daß er am Ende verspüren mußte, es sei ihr Ernst mit ihrem Entgegenkommen. Da verfiel er der menschlichen Schwachheit, daß die Hoffnung, welche derart in ihm erweckt wurde, ihm einen glänzenden Schleier vor ihrem Bilde ausbreitete, daß er die Fehler und Mängel nicht mehr sah, die er früher recht scharf bemerkt, denn er war auch stolz und kannte seinen Wert in seinem geringen Äußern, und es schien ihm ein Besonders von ihr, daß sie ihn unter den andern nun herausgefunden hatte; so meinte er denn, daß sie in einer glücklichen und redlichen Ehe ihr voriges Wesen bald ändern werde, das ihr ja nur äußerlich angeflogen sei. Und auch ihr Vater wurde getröstet über ihre Wahl, denn er hoffte, daß er aus diesem jungen Mann sich werde einen Nachfolger erziehen können. Derart wurde dann die Hochzeit der beiden gefeiert; aber schon an dem Tage der Feier und vor der Trauung kam zwischen den beiden der erste Streit, um eine geringe Kleinigkeit, und die Braut, die schon festlich geschmückt war und nur noch des Kranzes harrte und des Schleiers, zog den Ring vom Finger und warf ihn auf die Erde. Da wendete sich der Bräutigam und wollte zur Tür hinausgehen; aber schon hatte er eine zu große Liebe gefaßt, daß er nicht mehr sich trennen konnte, deshalb kam er zurück, hob den Ring auf und gab ihn ihr wieder mit bittenden Worten.

Nun führten die beiden eine recht unglückliche Ehe, denn der Mann war ernsthaft und wollte lernen, damit er später alles leiten könnte, wenn sein Schwiegervater einst tot wäre; die Frau aber verspottete und kränkte ihn, und er war ganz weich in ihrer Hand und konnte ihr nicht antworten, wie er gemußt hätte; und sie selbst war dabei ohne Tröstung und langweilte sich, weil sie nicht wußte, was sie wollte. Ihr Vater indessen gewann mit der Zeit den Mann lieb wie seinen Sohn, denn er war viel um ihn, und waren beide vom gleichen Schlage; deshalb sagte er ihm, er solle sein Weib gehen lassen, wie sie wolle, denn es sei ja auch eine Torheit, wenn man sich Ruhe wünsche und Zufriedenheit, weil kein Mensch die erreichen könne, außer etwa in ganz jungen Jahren, wo man nur seine Sehnsucht vor sich habe und nicht die Wirklichkeit. So wurde denn der Mann zu einem Menschen wie der Alte war.

Inzwischen waren noch viele Verehrer um die Frau, die wohl sahen, daß sie unglücklich war, und ihr weiter schmeichelten und sich kränken ließen von ihr. Da fiel es ihr ein, aus Hochmut und Überdruß, und weil sie ihren Vater und Mann beleidigen wollte, daß sie sich einen Liebhaber aussuchte; das war ein windiger junger Mensch, der ein groß Wesen machte von sich, aber von Schulden lebte und von niemand geachtet wurde; mit dem ließ sie sich ein, denn es war ihr recht, daß er sie in wunderlicher Weise vergötterte, wie es wohl in törichten Büchern beschrieben wird. Ihr Mann und Vater merkten nichts von dem Wesen, trotzdem sie recht offen war, denn die hatten ihre Arbeit und dachten nicht an weiteres, sie aber trieb es so weit, daß sie ein Kind bekam, und ihr Mann meinte, es sei sein Kind, und freute sich über das Söhnchen, und ihr Vater hoffte, daß es auf einen von ihnen beiden schlagen möge und nicht auf die Mutter. Danach entzweite sie sich mit dem leichtfertigen Menschen, denn der wurde von den Gläubigern gedrängt und war in seiner beständigen Angst gegen sie nicht mehr so aufmerksam gewesen wie vorher; lieb gehabt aber hatte sie auch ihn nicht.

Nun geschah es, daß die beiden Männer eine Erholung haben wollten von ihrer schweren Arbeit, kauften sich eine Lustjacht und machten mit der Frau und dem Kinde eine Seereise. Wie sie unterwegs waren, bezog sich an einem Nachmittag der Himmel und kam Regen und stürmisches Wetter, so daß sie alle nach unten gingen in die Kajüte, indessen die drei Leute, welche das Schiff bedienten, auf dem Deck arbeiteten. In der engen und dumpfen Kajüte aber befiel sie alle eine eigne Gereiztheit, und sie begannen sich untereinander Vorwürfe zu machen, indessen draußen die Wogen wunderlich gingen; da warf der Vater der Tochter vor, daß sie an nichts Freude habe und keinen Menschen liebe, und die Tochter sprach gegen den Vater, daß er immer nur an sein Geschäft denke und sich nicht um sie bekümmere, und wie der Mann gut zureden wollte, da höhnte sie den, daß er nichts verstehe, wie in seiner Schreibstube sitzen, und auch der Mann wurde heftig und sagte, daß er ihr Herr sei; inzwischen war der Knabe, der damals dreijährig sein mochte, ängstlich geworden und schmiegte sich an den Vater; die Frau aber geriet in einen maßlosen Zorn und schrie, niemand sei ihr Herr, und indem der Mann das Kind halten wollte, weil das Schiff sehr schaukelte und er Furcht hatte, der Sohn möchte fallen und sich verletzen, da rief sie, das Kind gehöre ihr und nicht ihm, denn sie habe es von einem andern.

Wie sie diese Worte in blindem Haß hervorgestoßen hatte, taten sie ihr leid, denn die beiden Männer wurden ganz bleich, aber in dem Augenblick rief das Kind in großer Angst ihren Namen, und da fielen sie alle um von einem starken Stoß und rollten durch die enge Kajüte und konnten sich nur mit großer Mühe wieder aufrichten, aber wie sie sich aufgerichtet hatten, da waren der festgeschraubte Tisch und Stühle über ihren Köpfen in der Luft, und das Geschirr, das auf dem Tisch gestanden, lag auf dem Boden mit samt dem Tischtuch, und nach einer Weile sagte der Vater, daß das Schiff gekentert war. So trieben sie nun auf der See mit dem Kiel nach oben und das Deck war unter dem Wasser, und das Wasser drückte und klopfte gegen die Decke der Kajüte und klatschte gegen die Tür, und in solcher Lage erhielt sich die Jacht durch die eingepreßte Luft, die nicht hatte entweichen können, weil sie so ganz schnell umgeschlagen war, die Männer aber, die oben gewesen, waren fortgeschwemmt und ertrunken. Erst langsam wurde den Eingeschlossenen das klar, denn sie hatten eine große Angst. Es quoll auch bald Wasser von unten, denn das beständige Schlagen der Flut machte die Bretter locker, und so mußten sich denn die Menschen beizeiten umsehen, wo sie sich besser sicherten, und da sie nicht hinausgehen konnten aus dem kleinen Raum, denn vor der Tür war ja Wasser, so blieb ihnen nichts, als daß sie sich recht hoch machten. Deshalb schwang sich der Mann erst auf den Tisch, der oben festgeschraubt war in dem früheren Boden und prüfte die Haltbarkeit, und dann hob er die Frau hoch mit dem Kind und half dem Vater. Wie das geschehen war, suchte er auf dem Boden nach Essen und fand einige Brötchen und Zwiebäcke und ein Töpfchen mit Eingemachtem, das reichte er alles hinauf, und dann las er noch die Messer und Gabeln auf, die herumlagen, denn mit denen wollte er oben eine Diele entfernen, damit sie noch höher kommen konnten in den hohlen Kielraum des Schiffes. So schnitt er erst den Fußteppich durch und machte sich dann daran, mit dem unpassenden Werkzeug die Schrauben herauszuschneiden, welche die Dielen auf den Sparren festhielten; denn aufdrehen konnte er sie nicht, weil er dabei sein Messer zerbrach. Über diesen Anstrengungen verspürten sie, wie das geringe Licht, das von unten durch das runde Fenster im Wasser kam, immer geringer wurde, denn es waren ja auch nur wenige Lichtstrahlen, die durch die schaumbedeckten Wellen bis zu dem Fenster drangen; und dazu stand unten das Wasser in der Höhe von mehreren Fuß in der Kajüte, auf dem lustig eine Schachtel mit Streichhölzern und zwei Korke schwammen; die Luft aber wurde immer verbrauchter und schien immer schwerer zum Atmen, entwich auch an einer Stelle durch den Druck des Wassers unten mit einem leisen Pfeifen, und dadurch stieg das Wasser in dem Raum langsam immer höher. Die beiden Männer arbeiteten fleißig, und der alte Mann hatte einen Überschlag gemacht, daß bis zum andern Morgen die ganze Luft aus dem Raume entwichen sein mußte und das Wasser bis oben stand und sie alle erstickte, wenn sie nicht die Diele bis dahin gelöst hatten und sich in den Kielraum retten konnten, der aber würde wohl immer über dem Wasser bleiben, weil er ja durch das viele Holzwerk unten getragen wurde.

Wie es nun gänzlich Nacht geworden war und sie alle sehr müde waren, beschlossen sie, daß sie eine kurze Weile schlafen wollten, um neue Kräfte zu schöpfen, und der Vater erbot sich zur ersten Wache und wollte inzwischen weiterarbeiten im Dunkeln, und die zweite Wache sollte der Schwiegersohn übernehmen. So taten sie; aber nach einer unbestimmten Zeit schreckte der Mann aus dem Schlafe auf und hörte nicht mehr das leise Geräusch des arbeitenden Messers, das kleine Späne loslöste, da wußte er, daß der alte Mann ertrunken war, und deshalb arbeitete er allein weiter. Es erwachte dann auch die Frau durch große Beklommenheit des Atems, und das Wasser klatschte schon leise an die Platte des Tisches, auf dem sie saßen. Indessen war es dem Manne gelungen, daß er die Schrauben der einen Diele an seiner Seite herausgeschnitten hatte, und nun riß er die Scheuerleiste fort und faßte vorsichtig mit zwei Gabeln von beiden Seiten, um sie zu biegen, bis er sie mit den Händen fassen konnte; und indem die Frau half, gelang es auch, daß sich die Diele so weit bog, und nun ergriff er sie und riß an ihr mit aller Kraft, daß sie in der Mitte abbrach und über ihnen eine schmale Öffnung in den Kielraum wurde. Aber durch das Gegenstemmen hatten sich zwei Schrauben gelöst, durch welche die Tischbeine befestigt waren, und der Tisch glitt schräg ins Wasser. Die Frau hielt sich noch an der Diele über ihnen fest und schwang sich durch die gebrochene Öffnung in den Kielraum, das Kind aber war ins Wasser gerollt, und der Mann wollte das Kind retten und stürzte sich nach, aber er stieß mit dem Kopf gegen etwas, tat einen lauten Schrei und kam nicht wieder, und auch das Kind ist ertrunken.

Nun kauerte die Frau oben im Kielraum vor der Öffnung, und der kalte Hauch des Wassers drang zu ihr empor. Nach langer Zeit kam eine geringe Helligkeit in das Wasser unten; da war es noch höher gestiegen, und wie sie genau zusah, erblickte sie unter sich eine Hand mit gekrampften Fingern.

Wie sie gerettet war und sich erholt hatte von allem, was sie ausgestanden, verspürte sie, daß eine Wandlung in ihr vorgegangen. Vornehmlich hatte sie jetzt den Wunsch, daß sie etwas tun wollte, aber der war ihr nicht gekommen durch Ängste des Gewissens, Reue und Absichten von Buße, sondern ohne einen andern Grund, nur weil sie ein neuer Mensch geworden war. Deshalb überlegte sie sich alles, ihr früheres Leben und seine Bedingungen, da fand sie, daß ganz notwendig alles so geschehen mußte, wie es wirklich geschehen war, und sie selbst hatte keine Schuld und auch andre nicht. Denn ihr Vater konnte nicht leben, wie er wollte, sondern war einem Zwange unterworfen, daß er immer an seine Arbeit denken mußte und keine andern Gedanken haben durfte. Und da er nun in einer andern Klasse der Gesellschaft lebte wie vorher und sein Kind auch in dieser Klasse leben mußte, so konnte er seine Frau nicht behalten; deshalb war es nötig, daß er sein Kind Fremden anvertraute, die aber waren arme Menschen, welche gänzlich von dem Kinde abhingen, deshalb vermochten sie ihm nicht zu widerstehen. So war sie denn zu einem solchen Wesen geworden, wie sie bis dahin war, und nur das blieb zu verwundern, daß sie nicht noch Schlimmeres getan. Nun aber wollte sie einen neuen Weg gehen, und da schien es ihr das beste, wenn sie Krankenpflegerin würde, weil sie da wirklich tätig sein konnte, denn alle Untätigkeit war ihr jetzt ein Ekel. So lebte sie nun schon seit einigen Jahren und war sehr ruhig und genoß dasjenige Maß von Glück, das ihrer besonderen Art bestimmt war und wohl freilich nicht sehr groß sein mochte.

Dieses alles erzählte die Schwester dem Hans, und der wunderte sich sehr über ihren Frieden. Aber nachdem er ihre Geschichte lange bedacht hatte, da fand er am Ende doch, daß sie wohl ein andrer Mensch war wie er; denn wiewohl er sich viele Mühe gab zu Ruhe, so hatte er doch beständig Gewissensbisse und Selbstvorwürfe, und das Leben erschien ihm ganz schwierig. So sah er ein, daß die Gottlosen leichter leben wie die, so an Gott glauben, und ergab sich ihm, daß wir höher kommen sollen dadurch, daß wir an Gott glauben, denn wenn uns das Leben schwierig wird, so steigen wir indessen auf einen hohen Berg, wo die Luft härter und reiner ist, und die Arbeit der Menschen ist tief unter uns, die sie treiben, damit sie ihr fleischliches Leben erhalten.

Die meisten der Pflegerinnen hatten keine Geschichte gehabt und waren nur so gewöhnliche Menschen, die mit Widerwillen ihre Aufgabe erfüllen; aber noch eine andre Schwester wurde für Hans merkwürdig, denn die bildete ein Gegenstück zu jener ersten. Deren Erlebnis war folgendes gewesen:

Sie war als Tochter eines höheren Beamten geboren, und ihre Eltern lebten in beständigen Sorgen, weil ihre Mittel zu gering waren, um den Aufwand zu befriedigen, den sie für nötig hielten. So wurde sie schon frühe gewöhnt, überlegend und sparsam zu sein und nach außen doch eine gewisse Unbefangenheit zu zeigen, und ihr Wunsch war von Jugend an, sie möchte einmal ein recht tüchtiger Mensch werden, damit sie ihrem späteren Mann in ihrer Art behilflich sein könne.

Wie sie noch jung war, bewarb sich ein recht gut gestellter Mann um sie, ein Rechtsanwalt, der sie an Jahren ziemlich übertraf, und auf das Zureden ihrer Eltern heiratete sie den, wiewohl sie keine besondere und außergewöhnliche Zuneigung zu ihm verspürte; aber ihre Mutter hatte ihr in vertraulicher Weise gesagt, daß wohl überhaupt nur wenigen Menschen das Glück einer wirklichen Liebe werde, die man sich vorstelle in der Jugend. Sie gewann mit der Zeit den Mann auch in ruhiger und einfacher Weise lieb, denn er war gut zu ihr und sehr zuverlässig und tüchtig, daß jeder vor ihm Achtung haben mußte. Kinder indessen bekam sie nicht von ihm. Nun stellte es sich aber heraus, daß sie einen verschiedenen Willen hatten über das, was die Frau tun soll, denn sie hatte gemeint, daß sie eine rechte Tätigkeit haben werde in Leitung des Hausstandes, guter Wirtschaft und umsichtiger Fürsorge; er aber, da er keine Kinder hatte und viel verdiente, wollte gar nicht, daß seine Frau so viel Eifer auf diese Dinge verwendete, denn er mochte lieber, daß sie sich schön putzte und darauf sann, wie sie ihm allerhand Spiel und Gaukelwerk vormachte, wenn er von seiner Arbeit kam. Und ferner hatte sie gemeint, daß die Frau mit dem Mann viel Ernsthaftes reden werde und von ihm manches lerne, er aber war nicht zu gründlichen Gesprächen mit ihr aufgelegt, sondern wendete alles zu Scherz und Kurzweil, wenn er mit ihr war. Hierüber wurde sie recht traurig und fühlte sich ohne Glück und Befriedigung und empfand eine große Langeweile und zuweilen sogar einen Ärger über ihren Mann.

Als dieses so ging, kam in das Haus ein Verwandter des Mannes, ein junger Herr, welcher seine Universitätsstudien beendet hatte und auch seine ersten praktischen Jahre und nun als junger Assessor bei seinem geschickten und klugen Oheim noch lernen wollte. Dieser hatte viel Liebe zu aller Art von Kunst und Dichtung und hatte auch über die Fragen unsers gesellschaftlichen Lebens nachgedacht und besonders über die Bestrebungen der Frauen, die heute mehr Selbständigkeit und Beachtung wünschen. Da geschah es bald, daß er mit der Frau in eifrige Gespräche kam, und lieh ihr Bücher, erzählte ihr von allem, was heute geschieht und was viele denken, und sie stritten oft miteinander; und weil sie beide gute und harmlose Menschen waren und auch der Mann ohne Arg war, so dachte keiner von ihnen, was aus diesem entstehen konnte. Am Ende aber kam die Frau als erste zur Klarheit, was ganz plötzlich geschah, es wurde nämlich ihr Mann unvermutet von einer elektrischen Bahn überfahren und in solchem Zustand ins Haus gebracht, daß sie zuerst meinte, er sei tot, da verspürte sie plötzlich, daß sie den Jüngling liebte, und in heftiger Verzweiflung kamen ihr die Tränen aus den Augen; der Mann war aber nur leicht verwundet gewesen und genas wieder nach einiger Zeit. Da beschloß sie, wie er wieder ganz gesund war, daß sie ihm alles sagen wollte, ging zu ihm und erzählte von Anfang an und schloß, daß sie eine Liebe zu dem andern gefaßt habe. Hierüber wurde der Mann sehr bekümmert, wie er aber sah, daß sie selbst so verzweifelt war, tröstete er sie und machte ihr Mut, sagte ihr, daß er sie liebe und schonen wolle, und sie werde die Neigung überwinden, und alles werde wieder gut sein, wie es früher war, und darauf ging die Frau aus dem Zimmer und war in getroster Hoffnung, daß alles so geschehen müsse, wie der Mann gesagt.

Der aber ließ sich alles noch eine Weile durch den Sinn gehen, und dann verblaßte ihm die Rede seiner Frau und schien ihm nach einiger Zeit ganz unwichtig, denn sie schämte sich auch und sprach nie wieder zu ihm von dem vorigen, und ihre Scheu bemerkte er nicht. Deshalb tat er nichts, um das Verhältnis zu ändern, das bis dahin bestanden, sondern ließ alles beim alten, und der Jüngling war nach wie vor in ihrer beider Nähe. Und sie verschloß sich immer mehr innerlich und hatte eine große Angst und fühlte sich einsam und ohne Schutz.

Wie sie nun in diesen Gesinnungen sich von dem Jüngling ferner hielt wie sonst, da kamen auch diesem neue Gedanken, und es wurde ihm bewußt, daß auch er seinerseits eine Neigung gefaßt habe, und so erklärte er sich die Zurückhaltung der Geliebten so, daß er meinte, sie habe etwas von seiner Neigung verspürt und sei etwa gekränkt und beleidigt, und über diesem Gedanken wurde er recht unglücklich und härmte sich ab mit Vorwürfen. Und wie sie beide auf solchem Wege waren, da geschah es nach einiger Zeit mit Notwendigkeit, daß sie zueinander sprachen, und am Ende wuchs dem Jüngling die Kühnheit, und er gestand mit Worten seine Liebe. Da erhob sie sich, sah ihn zärtlich an und ging von ihm auf ihre Stube und hatte da einen Dolch heimlich verborgen, eine altertümliche Waffe, die sie einmal in Italien gekauft hatte aus Freude an dem kunstvollen Griff und in romantischer Spielerei, den stieß sie sich in die Brust, und sie stieß ganz sicher, und um ein Haar wäre sie da gleich gestorben, aber durch einen glücklichen Zufall und später durch die Kunst eines geschickten Arztes blieb sie doch am Leben und genas langsam wieder, indem sie in ihrem Stübchen am Fenster saß und sehnsüchtig in die frühlingsblühenden Bäume vor ihrem Hause blickte. Und war in dieser Zeit ihr Mann sehr gut zu ihr, brachte ihr viele Geschenke von kostbaren Kleiderstoffen und schönem Schmuck und klagte, daß er sich ihr nicht so widmen könne, wie er möchte, weil seine Arbeit ihn festhielt; von dem jungen Vetter aber erzählte er nie, der war fortgezogen in eine andere Stadt.

Wie sie nun wieder ganz gesund war, setzte sich der Mann öfter mit ihr zusammen und besprach mit ihr solche Dinge, über die sie mit dem Jüngling geredet hatte, mit ihm aber früher nie, denn mit ihm hatte sie nur Kindereien getrieben. Aber er war viel klüger und erfahrener wie der junge Mann und stammte aus einer älteren Zeit, die einen andern Glauben hatte, und so stimmten seine Worte nicht zu den Worten seiner Frau und waren wie die eines Lehrers zu einem widerwilligen Schüler. Hierüber kam es, daß sie einen neuen Entschluß faßte und aus ihres Mannes Haus ging bei der Nacht und in die Stadt reiste, wo der Neffe lebte in einem Studentenstübchen unterm Dach. Den suchte sie auf in seiner Wohnung und sprach, sie wolle mit ihm leben.

Es wurde nun viel Übles geredet, und das Gericht schied sie von ihrem Manne, und sie dachte, daß sie jetzt den Geliebten heiraten wolle, auch war alles schon vorbereitet für dieses Ende. Da geschah es, daß sie an einem Abend mit ihm ausging, und er führte sie an seinem Arm, sie gingen aber eine breite Straße, wo viele Geschäftsläden waren, in denen große Spiegel stehen, welche die Auslage sollen reicher erscheinen lassen; und die Spiegel stehen häufig so, daß man sich in ihnen ganz genau erblickt, wenn man vorbeigeht, und es ist, als komme man sich selbst entgegen. So sah sie auch sich selbst am Arm ihres Geliebten, und durch einen Zufall erblickte sie neben dem ein sehr schönes Mädchen, das etwa einen Schritt vor ihm ging. Da fiel ihr auf, daß sie älter war wie der Mann, und dachte, daß sie ein Unrecht tue, indem sie ihn heiraten wollte, und er werde die Heirat später bereuen. Sie sagte aber nichts, sondern ging ruhig weiter; nur machte sie sich zu Hause heimlich zurecht, schrieb ihm einen Brief zum Abschied und reiste von ihm fort, und weil sie nirgendshin wußte, denn alle hatten sie ausgestoßen, so ging sie in eine Gesellschaft von Krankenschwestern, lernte bei denen mit großem Eifer und war nun am Ende in das Haus gekommen, wo Hans jetzt krank lag.

Diese hatte eine ganz andere Gemütsart wie jene erste, denn sie lebte in beständiger Gewissensnot und tat viel um ihrer Seele willen. Es kam aber wohl alles, was sie tat, aus ihrer Güte und Liebe, und deshalb übte es eine gute Wirkung; sie selbst aber hatte dabei immer das Ende vor sich, daß sie eine Qual und Überwindung haben wollte, deshalb ging sie zu denjenigen Kranken, welche die widerwärtigsten schienen, und so hatte sie eine wahrhafte Buße.

Weil nun Hans doch seine Seele gesund machen wollte, so sprach er auch mit dieser über seine Furcht und Gedanken. Da antwortete sie ihm, daß sie ruhig sei und keine schweren Gedanken habe, wenn sie etwas Mühseliges und Widerstehendes tue, das in Wahrheit ein Opfer sei; wenn sie aber äußerlich wohllebe, so könne sie nach einiger Zeit ihre Gedanken nicht mehr aushalten, die sich untereinander anklagen und verteidigen.

Hierdurch wurde es Hansen klar, daß auch diese Frau wohl den Weg gefunden habe, der für sie selbst gangbar sei, aber für einen andern Fuß war der nicht geschaffen, denn es war ja klar, daß diese Frau ihre Geschichte nicht verwinden konnte wie die erste, sondern sie vermochte sich nur für eine Zeit zu betäuben; er aber wollte ein freier Mensch werden, der nicht von Furcht, Hoffnung und Geschichte abhing, sondern jede Handlung wollte er immer als ein Neuer und Frischer tun; nur konnte er zu diesem Wesen nicht auf die Weise kommen wie die erste Frau, sondern es mußte eine besondere Weise für ihn geben. Wie er in dieser Verfassung lag und vieles grübelte hierüber, besuchte ihn der alte Mann, bei dem er gewohnt, und der ihn hatte einladen wollen zu seiner Weihnachtsfreude, als er ohnmächtig in seiner Stube auf dem Boden lag. Der erzählte allerlei mit fröhlichem Gesicht, was sich ereignet unter den kleinen Leuten, die in dem Hause lebten; und am Ende konnte er es nicht mehr verschweigen, was er vornehmlich auf dem Herzen hatte und doch nicht gleich zu Anfang sagen wollen, aus Bescheidenheit, weil er sich nicht mit seinen eignen Angelegenheiten vordrängen mochte, denn sein Sohn war zurückgekommen aus dem Zuchthaus, wo er Wolle gesponnen hatte, und hatte einen kahlen Kopf gehabt und ein rasiertes Gesicht, und hatte sehr blaß ausgesehen, und die Augen lagen ihm tief. Er war eingetreten, und die Eltern hatten ihn zuerst nicht erkannt, da sagte er: „Wollt Ihr mich denn verstoßen?“ Da erkannten sie ihn an der Stimme und sprangen auf vom Stuhl und freuten sich, ihm aber rollten große und runde Tränen aus den Augen über die abgehärmten Backen, und mußte sich auf das Sofa setzen, und die Mutter lief gleich in die Küche und kochte ihm Schokolade, die hatte er als Kind immer gern getrunken, und der Vater sprach mit ihm von den Ernteaussichten und klagte über die Fleischpreise, denn er wollte sich anstellen, als sei nichts Bedeutsames geschehen. Dann kam der Knabe aus der Schule, und wie der seinen Vater sah, der so lange in der Fremde gewesen war, da freute er sich und kletterte an ihm in die Höhe, denn er war ein dreister Junge, und von seines Vaters Schande wußte er nichts. Alles das erzählte der alte Mann und freute sich über seines Sohnes Heimkehr, der im Zuchthaus gesessen hatte und hatte Wolle gesponnen, und mehrmals sagte er: „Er hat uns doch nicht vergessen in den Jahren, und alles wußte er noch, wie es früher gewesen war, als wir ihn noch bei uns hatten.“

Das war Hansen wunderlich, daß der alte Mann sich so freute und gar keinen Vorwurf hatte, sondern nur zu rühmen und zu loben wußte. Da fiel ihm das Evangelium vom verlorenen Sohn ein, der hatte die Säue gehütet und machte sich auf und kam zu seinem Vater. Wie er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und jammerte ihn, lief, und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. Und als Hans an dieses dachte, da ging es ihm wie Schuppen von den Augen und sank ihm wie eine Last von den Schultern und sein Herz ward leicht, und er wußte, daß wir einen Vater im Himmel haben, der uns lieb hat und sich freut, wenn wir zu ihm kommen, keinen Vorwurf sagt, sondern uns rühmt und lobt und spricht: „Laßt uns fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.“ So geschah in einem Augenblick die Wendung in Hansens Leben und wurden seine Jünglingsjahre abgeschlossen, denn nun sah er einen ebenen Weg vor sich, der durch Tage ruhiger Arbeit zu einem friedsamen Alter führt. Da wußte er, daß auch die Not und Sorge nötig gewesen war, und aller Irrtum und das überflüssige Grübeln, nicht zu dem Ende freilich, das er damals gemeint hatte, zu einer abschließenden Erkenntnis zu kommen, denn was half es ihm, daß er wußte: Nach der letzten Denker Meinung ist mein Ich kein Wesen, sondern ein Geschehen, eine Beziehung, eine mittlere Linie aus subjektlosen Willensenergien; sondern zu dem Ende, daß er gänzlich die jugendbegehrliche Vorstellung von Gott abstreife, als einem Wunschwesen, von dem man allerlei erbittet, und die neue gewann, daß er so wenig Wesen ist wie ich selber, und doch mein lieber Vater im Himmel ist, der sich freut über meine Heimkehr.

Und wie das scheinbar zufällige äußere Wesen das innere umhüllt als sein rohes Abbild, so kamen nun auch die äußeren Ereignisse, die den Übergang zum Mannesalter bestimmen.

Die Tröstung, die Hans gewonnen hatte aus dem Evangelium vom verlorenen Sohne, wirkte darauf, daß er sich schnell kräftigte und von Tag zu Tag zunahm an Stärke und Freude. So geschah es, daß er bald sein Krankenstübchen verlassen konnte, dessen Wände eng waren mit einer ganz hohen Decke, und ging in den allgemeinen Saal hinunter. Hier saß er in einer seligen Müdigkeit am offenen Fenster, und frische Luft wehte an seinem lächelnden Gesicht vorbei in das große Zimmer, wo viele saßen und leise miteinander sprachen.

Da öffnete sich die Tür gegenüber, und in dem Luftzug blähte sich die Gardine auf, und wie Hans zur Seite blickte, sah er in der Türöffnung eine Krankenschwester stehen in der schwarz und weißen Tracht, die einen Blick hatte, der über vieles Nahe und Kleine hinweg in die Ferne zu schauen schien. Für einen kurzen Augenblick traf dieser Blick in seine erstaunten Augen, dann wendete sich die Schwester langsam und war wie unschlüssig und ging wieder zurück, woher sie gekommen, und die Tür schloß sich hinter ihr; auf deren weißen Fläche aber hob es sich deutlich ab wie ein leichter Schatten der Entschwundenen, welcher in dem Geiste Hansens gewesen war und nun von den körperlichen Augen gesehen wurde.

In Hansens Herz fiel eine schwere Ahnung, daß hier eine Schicksalswendung des äußeren Lebens begann, und auch das Mädchen hat in jenem Zusammenstoßen des Blickes ihr Herz erbeben fühlen. Nach der Zeit erfuhr er, daß das Mädchen jene Gräfin Maria war, mit welcher er als Kind gespielt hatte in dem Forsthause seines Vaters. Die hatte bei ihrer Arbeit nicht gefunden, was sie erwartet. Eintönig ging das Leben hin zwischen gewöhnlichen Menschen, die nur an die kleinen Sorgen des Lebens dachten, und deren Aufschwung nur etwa einmal ein gemeines Vergnügen war, in dem sie sich von der Gleichmäßigkeit der täglichen Pflicht erholten. So kam sie dahin, daß sie ganz allein war und sich fremd fühlte zwischen den andern, wie sie sich schon zu Hause fremd gefühlt hatte, und weil sie nichts andres wußte, so meinte sie am Ende, das müsse so sein, und es gebe keine Gemeinsamkeit mit andern, und ein jeder Mensch sei ein tiefer Brunnen, den eine Mauer umzieht, der kann die Wolken wohl spiegeln, und das tiefe Blau des Himmels, und die goldenen Sterne, aber weiß nichts von den andern Brunnen im Garten, die schweigen, wie er selbst schweigt, und ihr dunkles Auge blickt sehnsüchtig in den hohen Himmel. Und so war sie zu der Meinung gekommen, daß wir zwar in unsrer Jugend glauben, es sei ein Glück und ein Ziel unsres Lebens für uns bereitet irgendwo, aber das ist nur ein Glaube unsrer Jugend, der bewirkt, daß wir wachsen und groß werden, und dann ist er nicht mehr notwendig und verschwindet in Dunst vor unsern Augen. So war sie zu dem Punkt gekommen, wo die Liebe das größte Glück für sie werden mußte, denn die zeigte ihr ein Ziel und Ende des Lebens.

Und desgleichen war Hans nun auf diesem Punkt, denn er war ein Mann geworden, und nun mußte er Weib und Kind haben und eine Stelle in der Gesellschaft, wo er arbeiten konnte mit den Kräften, die er in den Jünglingsjahren sich erworben hatte.

 

Unterdessen fand auch Karl den Hafen, in dem er jene Art von Ruhe haben sollte, die für ihn bestimmt war.

In Italien traf er ein Kloster, das ganz abseits lag von der Straße, in einem großen Frieden einer Landschaft, die mit weiten Zügen das Auge wunderbar beruhigte, daß ein Mensch keine Sehnsucht mehr empfand. Da war ein heimlicher und stiller Kreuzgang um einen kleinen Hof, in dessen Mitte wuchs ein uralter Ölbaum in tiefem Frieden, dessen Blätter doch die salzige Luft atmen mochten, die vom Meere her über das Dach der Kirche wehte in diese Ruhe und Abgeschlossenheit. Vor vielen Jahrhunderten war der Baum gepflanzt und waren die zierlichen Säulen des Kreuzganges gemeißelt von liebevollen Händen nach Gedanken voller Gestalten und Bilder, und damals war wohl lebendig, jung und bunt gewesen, was heute so beruhigte und freundlich machte, als ein abgeklärtes Alter. An drei Seiten, denn auf der vierten lag die Kirche, führte Tür neben Tür jede in ein kleines und abgeschlossenes Häuschen mit einem winzigen Garten, umgeben von hoher Mauer; in jedem Häuschen wohnte ein Mönch still für sich, der die Blumen seines Gartens pflegte und Bücher las, alte Bücher, in Pergament gebunden und mit großen Schließen, die auf den Seiten bunte Anfangsbuchstaben hatten, und oft waren die Anfangsbuchstaben vergoldet. Wenn die Glocke erklang vom Turm der Kirche herab, dann kam jeder aus seiner Tür, in seinem weißen Gewande, und mit freundlichem Lächeln begrüßten sie einander durch wortloses Neigen des Hauptes und gingen in den dämmernden Chor in die hohen geschnitzten Stühle, beteten und sangen. Und wie über dem gewundenen Ölbaum die Jahrhunderte still hingezogen waren, daß es schien, als seien sie kurze Tage gewesen, denn in gleicher Ruhe lächelte der helle Himmel auf ihn nieder und in gleicher Stille wehte die salzige Luft über das Dach der Kirche, so war noch heute der Zug der weißgekleideten Mönche wie zu der Zeit des heiligen Benedikt, und waren die Jahrhunderte still hingezogen wie freundliche Sommertage, indessen draußen in der Welt Unruhe gewesen war, Krieg, Aufstand, Gewissenszweifel, Umsturz, Neues und wieder Neues; nur daß die uralten Säulchen der Kreuzgänge nicht mehr an Jugendfrische denken mochten und an bunte Keckheit, sondern an ein friedliches und beruhigtes Alter.

Hier verbrachte Karl erst eine Prüfungszeit, nachdem er zur katholischen Kirche übergetreten, und am Ende wurde er mit unter die Zahl der Mönche aufgenommen.

Da sah er, daß auch hier Wirkungen der heutigen Zeit zu verspüren waren. Denn zwar fand er einige unter seinen neuen Freunden, die kaum etwas wußten von dem, was ihn bewegt, und die nichts erlebt hatten, wie das Alte, das in ihren viel gelesenen Büchern stand; aber zwei Männer waren da, die waren gleich ihm geflohen in diesen Frieden, weil sie zu schwach gewesen, nur daß ihre Geschichte grausiger war wie die seine und sie gänzlich gebrochen hatte.

Der eine war ein Deutscher, der aus einer sehr alten und vornehmen katholischen Familie stammte, die indessen durch viele Unglücksfälle im Laufe der Zeiten fast gänzlich verarmt war. Seine Eltern lebten in einer ganz entlegenen Gegend auf einem kleinen Gut, das seit vielen Jahrhunderten der Familie gehört hatte; und auch jetzt noch, in ihrer Armut, erschienen sie den Gutsleuten als besondere und höhere Wesen, denn auch die Leute waren hier seit undenklichen Zeiten ansässig, und einer jeden Familie Geschichte war in irgendwelcher Art mit der Herrschaft vielfach verknüpft, und alles, was die Herrschaft tat, war ihnen bekannt. Noch der Großvater der jetzt Lebenden hatte auf seinem Sterbebette bestimmt, daß ein Totengericht über ihn abgehalten werden sollte von den armen Leuten der Gegend, denn er wollte aufgebahrt werden im großen Saale, und die Leute sollten hereinkommen, und der Priester sollte sie fragen, was sie urteilten über ihn und seinen Wandel.

Dieser Familie Sohn kam als junger Offizier nach Berlin und sah hier die Leichtigkeit des Lebens, und wie keiner einen Willen hatte, sondern alle umgetrieben wurden durch den reißenden Maelstrom, und dabei glaubten sie, es geschehe durch ihre eigne Kraft, daß sie schwammen, und sei ihr Wille so. Da wirkte dieser Strudel so auf ihn, daß er unmerklich wurde wie die andern und ihm das Leben leicht ward, weil er keinen Willen mehr hatte und nicht mehr dachte, was morgen geschehen werde. So geriet er schnell in Schulden, und war ihm das gar nicht wichtig, denn er sah, daß alle andern gleichfalls verschuldet waren. Aber wie er nun wegen der Bezahlung gedrängt wurde und sich an seinen Vater erinnerte, der bei Tische abmaß, wieviel Brot er abschneiden durfte, damit der Laib auch hinreichte, und dann dachte er, daß das gar nicht zu Erzählungen paßte, welche die andern von ihren Eltern machten, da wurde es ihm unmöglich, daß er fernerhin so war wie die andern. Nun fand er indessen aber auch nichts in sich selbst, wie er handeln sollte, und so geschah es, daß er etwas ganz Neues beging, welches in dem gesamten Kreise noch nicht erhört war, er hat nämlich das Geld einem Kameraden gestohlen.

Wie er das getan, hatte er keine Ruhe mehr, sondern machte sich heimlich auf und entfloh nach Holland, weil er dort wollte sich anwerben lassen für das Heer, das auf Java unterhalten wird. Es glückte ihm aber nicht gleich, an die rechte Stelle zu kommen, und so hielt er sich eine kurze Zeit in Antwerpen auf, und in dem Wirtshaus, wo er speiste, ward er mit einem ganzen Kreise von Abenteurern bekannt, die alle ähnliche Pläne und Absichten hatten, indem der eine in dieser und der andere in jener Weise gescheitert war. In dieser Gesellschaft kam einmal die Rede darauf, was ein jeder früher getrieben, und so wurde auch dieser Jüngling nach seiner Geschichte gefragt. Da er nach seinem ganzen Aussehen, Manieren und Haltung sich als früheren Offizier erwies, so mochte er nichts Ausgesonnenes angeben, wie viele von den andern getan hatten, sondern erzählte, daß er ein Offizier gewesen sei und wegen eines Ehrenhandels den Dienst verlassen haben; nur nannte er ein andres Regiment. Wie er den Namen genannt hatte, da stand ein Mann auf, der rechts zur Seite gesessen und ihm immer am wenigsten gefallen von allen; er war ein großer Mensch von soldatischer Haltung, der einen starken Schnurrbart und gebräuntes Gesicht hatte und über dem einen Auge eine schwarze Binde trug, vielleicht, weil er sich unkenntlich machen wollte. Der stand auf und rief, jetzt erkenne er den Sprecher, denn er habe in demselben Regiment gestanden und sei sein Kamerad gewesen; damit ging er freundschaftlich auf ihn zu und drückte ihm mit großer Freude die Hand. Der Jüngling bekam einen heftigen Schrecken über diese Anrede, aber der Fremde ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern fragte ihn nach allerhand Namen, Personen und Geschichten, und erkundigte sich und beantwortete selbst seine Fragen; da wurde dem Jüngling klar, daß der Fremde ebensowenig bei dem Regiment gestanden wie er selber, aber er hatte gemerkt, daß seine Rede gelogen gewesen war, und da war er auf die Meinung gekommen, daß er etwas auf dem Gewissen haben müsse, was verborgen bleiben solle, und deshalb dürfe er ihn nicht Lügen strafen, wenn er selber sich auch auf das Regiment und alte Kameradschaft berief und dadurch vor den andern, die ihm mißtrauten, eine Art Beglaubigung beibrachte, daß er wirklich der sei, für den er sich ausgab. Und wie dem Jüngling das plötzlich klar wurde, da sah er des Fremden unverbundenes Auge mit einem ganz schlechten und widerwärtigen Ausdruck auf sich ruhen; und wie der wieder seine Hand faßte unter allerhand Beteuerungen, da war ihm nicht anders, als wenn ihn jetzt der Satan ganz gefangen habe und ihn nicht loslassen werde; und so begann der Fremde auch schon mit Vorschlägen, daß sie wollten zusammenziehen und gemeinsame Wirtschaft machen wegen der alten Kameradschaft.

Durch diese große Angst wurde die Reue in ihm lebendig und er ging in sich und sah ein, was er begangen hatte. Darauf bedachte er sich, daß er sein Verbrechen sühnen müsse, denn sonst konnte er sich nicht erretten aus der Hand des Satans. Da wurde ihm klar, daß er allein keinen Ausweg finden konnte, weil er zu geringe Erfahrung hatte und noch ohne Umsicht war, und fuhr deshalb zu seinem Vater, dem alles zu erzählen und um seinen Rat zu bitten, wie er sühnen solle; er meinte aber, das angemessenste sei, daß er sich den Gerichten anzeigte und ins Zuchthaus ging.

Sein Vater war ganz alt geworden, sein Haar war weiß geworden und er sagte ihm, daß er nicht als einzelner auf der Welt dastehe, sondern er sei der letzte eines ruhmreichen Geschlechtes, das immer in Ehren gelebt. Das sei nun schon ein sehr schweres Angehen, daß er nach solcher Tat das Geschlecht nicht fortsetzen dürfe, sondern es müsse mit ihm aussterben, denn wenn ein Dieb Kinder kriege, so werden die noch schlechter wie der Vater, und so müßte der Name ganz in Unehre fallen, wie so vielen alten und vornehmen Namen heute in unsern Tagen geschieht. Deshalb dürfe er aber auch das nicht tun, daß er seine Tat anzeige und vor aller Welt die Buße auf sich nehme, denn wenn die Welt erfahre, daß einer des Namens gestohlen habe, so sei es ganz umsonst, daß die Vorfahren gelebt hätten und hätten Ehre gehabt, denn alsdann ziehe er alle mit sich in seinen Schmutz. Darum solle er eine heimliche Sühne auf sich nehmen, die gab er ihm an, und die war schwerer, wie der Richter sie ihm auferlegt hätte. Denn fünf Jahre lang sollte er in einem Kloster die niedrigsten Arbeiten tun und den andern aufwarten, und dazu mußte er besondere Fasttage halten und hatte ein schlechteres Lager wie die andern, und mußte sich mit einer festgesetzten Zahl von Geißelhieben kasteien.

Dieses alles erfüllte der Jüngling genau, wie es ihm vorgeschrieben war, und nach einer Zeit wurde er ruhig in seiner Seele und kriegte eine neue Freudigkeit. So kam das Ende heran, wo er das Kloster verlassen durfte; aber da hatte er Angst vor der Welt, denn in der Welt hatte er Unrecht gehabt und Mißmutigkeit, und er dachte, er sei zu schwach, um draußen zu leben, deshalb blieb er in dem Kloster und war immer ein zufriedener und heiterer Mensch.

Der andre Freund, den Karl gewann, war ein geborener Protestant, ein Engländer. Der stammte von strengen und gläubigen Puritanern ab, die sich alle Lust verboten und nichts haben wollten im Leben wie Arbeit und Tugend, und reich geworden waren durch harte und kalte Tätigkeit. Von Geburt an war er blaß und kränklich gewesen und hatte als Kind solche Augen gehabt, die in den Himmel zu weisen schienen und sich fortsehnten aus den großen und leeren Stuben seiner Eltern in heitere und hohe Räume voller Luft und Licht.

Schon frühzeitig hatte er eine besondere Lust zum Zeichnen bewiesen, und nicht nur traf er immer mit großem Geschick die Ähnlichkeit, die er wollte, sondern es war auch ein Reiz von Schönheit und Anmut in seinen kleinen Bildern, der aus den Beziehungen der Linien kam und der Verteilung des Schwarzen und Weißen. Seine Eltern aber verboten ihm diese Übungen, wie sie seine heftige Leidenschaft sahen und wollten ihn zu einem klugen und gebildeten Kaufmann erziehen, der Gewinn finden konnte, deshalb betrieb er seine Künste im Verborgenen, unter häufigen Gewissensbissen, aber zuzeiten, wenn er es nicht mehr ertragen konnte, daß er sich Vorwürfe um seinen Ungehorsam machte, erzählte er seinem Vater von seiner Verfehlung, und dann wurde er streng bestraft; dann nach einer Weile konnte er seiner Lust doch nicht weiter widerstehen und verschaffte sich auf eine neue Weise die Möglichkeit, daß er sie befriedigte, und zeichnete was er mochte, denn die vorige Weise, die er seinem Vater gestanden hatte, war ihm unmöglich gemacht.

So wuchs er heran zum beginnenden Jünglingsalter, da veränderte sich plötzlich die Art seines Zeichnens und seiner Vorwürfe. Denn vorher hatte er Menschen, die er kannte, auf dem Papier abgerissen und sie verschönt, so daß sie einen himmlischen Ausdruck bekamen und edler schienen wie im Leben, und am liebsten hatte er ganz reine weibliche Gesichter gezeichnet, auf denen Gedanken zu lesen sein mochten, wie sie ein Engel ihnen in seltenen Augenblicken ins Ohr flüstert. Nun aber wendete sich alles Himmlische ins Teuflische, und in demselben Gesichtsschnitt war statt Reinheit und Klarheit wüste Unreinheit und gemeine Begierde, und nicht auf einfach Sinnliches ging das, sondern auf etwas Schmerzensvolles und wider alle Natur Scheußliches. Er selbst aber beharrte in seinem bisherigen Leben und war fleißig in seiner Arbeit, die ihm aufgezwungen war durch die Eltern, und keine Handlung beging er von unkeuscher oder unreiner Art; vielmehr war er vor Mädchen und Frauen von seltsamer Befangenheit und Furcht, und oft errötete er im Gespräch mit ihnen und schlug die Augen nieder; nur, daß er seinem Vater nichts mehr gestand von seinen heimlichen Kunstübungen, und so verborgen trieb er die, gelehrt durch die früheren Jahre und ihre Heimlichkeit, daß der Vater gar keinen Argwohn mehr hatte und ganz fest glaubte, sein Sohn habe das Zeichnen endlich aufgegeben. Daß er aber seinem Vater nichts mehr gestand, war seit dem ersten Bilde in seiner neuen Art.

Nun trieb es ihn indessen immer weiter in seiner eingeschlagenen Richtung und dachte sich aus, daß er nackte weibliche Körper zeichnen wolle in wunderlichen Bewegungen, und sollte etwa eine solche Figur Handschuhe tragen oder einen Schnürleib und strengte seine Gedanken ganz stark an, daß er sich ein solches Bild denken konnte, indem er nachts heimlich in seiner Kammer sich nackt auszog und vor dem kleinen Spiegel über dem Nachttisch seinen eigenen Körper betrachtete, der schmal war und ganz unreif, und in einem japanischen Bilderbuch, welches er verborgen aufhob, studierte er die nackten Frauenleiber, und auf der Straße achtete er auf die Frauen, die ihm begegneten, besonders wenn etwas Wind war und ihr Körper sich durch die Gewänder beim Schreiten abzeichnete, und entkleidete sie in seiner Vorstellung, daß sie nackt dahergingen; und in alledem war eine schmerzliche Sehnsucht und eine tiefe Lust.

Unter diesem Studieren und Arbeiten bekam er eine Sammlung von Heiligengeschichten in die Hand, die las er sehr eifrig, und besonders die Geschichten von den heiligen Frauen, wie der heiligen Katharina von Siena und der heiligen Rosa von Lima. Denen ahmte er nach in den Kasteiungen und beschaffte sich eine Kette, schlang sich die um den Leib, und die Kette rieb ihn blutig und drang ihm ins Fleisch, aber die Schmerzen taten ihm wohl, und damals wäre er glücklich gewesen, wenn es ihn nicht zu gleicher Zeit nach dem andern gedrängt hätte; so zeichnete er die heilige Rosa, wie sie als ganz junges Mädchen auf einer Wiese steht und von vielen Schmetterlingen umflattert wird, die in ihrer Heimat Peru wunderbare große Flügel und herrliche Farben haben, und ein ganz großer Falter hatte schwarze und weiße Flügel, der setzte sich auf ihre Schulter, und das war eine Berufung für sie, welchem Orden sie angehören sollte. Dieses Bild zeichnete er, aber die heilige Rosa hatte er ganz nackt gemalt, als ein dürftiges weibliches Wesen mit langen Haaren, die in sonderbaren Schlangenlinien gingen, und um ihren Mund spielte es wie eine schmerzliche Wollust und zugleich eine Unfähigkeit zur Lust. Solche Bilder aber mußte er immer zeichnen und seine seelische Unkeuschheit wurde immer stärker.

Am Ende wurde er sehr leidend, und wie ihn die Ärzte untersucht hatten, sagten sie, daß seine Lungen erkrankt seien und er müsse nach dem Süden gebracht werden. Da ließ ihn sein Vater gen Italien reisen, und wie er eine Weile an der Riviera gelebt hatte und gesünder geworden war, erfuhr er, daß sein Vater plötzlich gestorben sei. Da machte er sich gleich auf und ging zu dem Kloster und lebte dort eine Weile, bis er es endlich erlangte, daß er in die Zahl der Mönche aufgenommen wurde.

Außer diesen zwei Männern waren in dem Kloster nur Brüder, die keinerlei Geschichte gehabt hatten. Ein ruhiges und fröhliches Leben führten sie unter allerhand sonderbaren Sachen; da hatten sie ein Schränkchen, das war ganz mit Ruinenmarmor ausgelegt und eine Sammlung von Stücken aller Holzarten besaßen sie, die geschnitten und behobelt waren wie Bücher, auch ein Stück Zedernholz vom Libanon war darunter; eine besondere Kostbarkeit schien aber ein Bildnis der Muttergottes, das aus bunten Vogelfedern hergestellt war, und ein Kirschkern, auf dem ein Bruder die ganze Leidensgeschichte geschrieben hatte, daß man sie mit der Lupe lesen mußte, und fehlte kein Buchstabe.

Sehr selten geschah es, daß Fremde das Kloster besuchten, die alte Wandbilder aus Giottos Schule betrachten wollten; dann sprachen die Brüder bei Tische viel darüber, aus welchem Lande die Reisenden wohl stammen mochten und ob sie Protestanten waren oder Katholiken, wunderten sich auch, daß sie so wenig Freude an dem Kirschkern und dem Muttergottesbild zu haben schienen. Zuweilen wurde dann wohl darüber gestritten, ob die Protestanten bald zur Kirche zurückkehren würden oder noch lange in ihrer Verstocktheit beharren.

So lebte Karl, und von seiner früheren Welt erfuhr er fast nie mehr etwas, nur einmal kam zu ihm eine Nachricht über seine geschiedene Frau. Johanna hatte nach der Trennung ihren Kreis von alten Freunden beibehalten und auch durch neue vermehrt, und hatte ein Ansehen in ihrer Gesellschaft, daß viele auf ihre Meinung hörten und sie selbst hochhielten als eine Vorkämpferin und Befreierin. Alle in diesem Kreise lobten unsre heutigen Zustände und sagten, daß in unsern Tagen zum ersten Male das Individuum die Möglichkeit gänzlicher Freiheit erhalten habe, denn indem die Gesellschaft nicht mehr die volle Person in Anspruch nehme, sondern nur Betätigungen der Person verlange, so könne sich jeder zu dem entwickeln, was er werden wolle und unterliege keinem äußeren Zwange; und so dachten sie, daß aus jedem von ihnen ein Eigner und Besondrer werden müsse. Indem Johanna in diesen Anschauungen beharrte, schloß sie einen Liebesbund mit einem jungen Mann aus ihrer Gesellschaft und lebte mit ihm, und nach einiger Zeit sagten die beiden einander, daß ihre Liebe erloschen sei, und daß sie unsittlich handeln würden, wenn sie nun noch länger zusammenlebten, und so gingen sie in Freundschaft voneinander. Dann folgte eine neue Liebe, und in solcher Weise führte sie ihr Leben.

Es geschah aber, daß sie sich in diesen Umständen in Hoffnung fühlte, und hatte ein Kind. Da sagte der Vater zu ihr, daß sie nun sich gesetzlich heiraten müßten, weil die heutige Welt, obschon sie im Grunde wohl ganz neu sei, doch noch die alten Formen bewahrt habe, und deshalb sei in ihr kein Ort für eine solche Gruppe wie er, sie und das Kind, wenn sie keine Ehe nach der gebräuchlichen Form bildeten. Sie antwortete ihm jedoch, daß sie ihre Freiheit bewahren wolle und keinem Zwange unterliegen, und wolle ihr Kind auch allein aufziehen; und so tat sie auch, lebte für sich und besorgte das Kind, indem sie allen erzählte, daß sie eine geschiedene Frau sei, und das Kind habe sie von einem Freund; sie wurde aber sehr stolz und froh, wie sie verspürte, daß sie von vielen deswegen übel angesehen wurde, und meinte, daß alle Erlöser der Menschen beständigen Undank geerntet hätten, bis man später erst ihre Tat richtig erkannt. Dann begann sie und beschrieb ihr Leben von Kindheit an, und sagte, daß sie genau alles erzählen wolle, wie es in Wahrheit gewesen sei, und nichts wolle sie verschleiern, und dieses Buch dachte sie dann herauszugeben, damit jeder es lesen könne.

 

Die Komtesse Maria bewohnte ein kleines Stübchen, das auf einen stillen Hof hinausging, mit Möbeln, welche der Vermieterin gehörten, und hatten wohl deren gute Stube geschmückt, als der Mann noch lebte. Das Mahagoni, das die über ein Menschenalter gepflegt, war von einer gewissen Traulichkeit, und die Komtesse hatte durch allerhand kleines Wesen das Behagliche noch erhöht; so empfing eine gewisse Wärme des Frauenhaften Hansen beim Eintritt und erzeugte in ihm eine freundliche und friedliche Stimmung.

Es war einen Augenblick lang, wie sie aus der Kanne in seine Tasse goß; sie hatte eine nicht allzugroße Figur, und in ihrer Bewegung war etwas Hausmütterliches; er stand aufrecht da und schien groß und energisch; einen Augenblick lang hatten sie beide ein Gefühl: wie es wäre, wenn sie einander angehörten als Mann und Weib, und dieses wäre ihr Heim, das die Frau freundlich und friedlich machte, damit der Mann Ruhe fände, und der Mann erhielte es, und die Frau hätte bei ihm Sicherheit. Aber schnell verschwand das Gefühl durch Demut und Stolz, denn sie meinten jeder, der andere sei höheren Glückes wert, und er wolle nicht unbescheiden sein.

Dann erzählten sie sich. Zuerst war das Gespräch recht zaghaft, denn als Menschen, die viel für sich gelebt, verstanden sie nicht die Kunst der leeren Worte und scheuten sich, formelhafte Reden zu gebrauchen, bei denen sie nichts empfanden; aber bald wurden sie recht eifrig, denn sie waren auf etwas gestoßen, dafür sie beide Wärme hatten, nämlich auf gelesene Bücher.

Da ereignete sich etwas Wunderbares. Sie sprachen von diesem Buch und jenem, und beide hatten dieselben Bücher gelesen und waren auf die gleichen Fragen gekommen und hatten die gleichen Gedanken gehabt. Sie vertieften sich ganz im Zeigen und Wiedererkennen, und vergaßen sich, und im Eifer geschah es Hans, daß er zu der Gräfin sagte „Du“, worüber sie rot wurde, er aber merkte nichts. Und dann wieder kam ihnen das Märchenhafte zum Bewußtsein, daß sie sich gesehen hatten als kleine Kinder vor vielen Jahren, und jetzt waren sie beide erwachsene Menschen, und in der Zwischenzeit hatten sie ihre Köpfe über dieselben Schriften gebeugt, hatten dieselben Lehren ihren Geist erschüttert, dieselben Fragen sie umhergetrieben, und hatte doch keiner vom andern gewußt, als daß sie einmal zusammen gespielt im Heu und im alten kleinen Forsthause im Walde. Und jedem war gewesen lange Jahre hindurch, als sei er allein in der Welt, und die Menschen waren ihm nur Schatten und Geräusche und lebten nicht, und nun zeigte es sich, daß es noch einen Menschen gab, der alle diese Gedanken und Gefühle gehabt hatte; und plötzlich war es jedem, als sei die Welt nun lebendig geworden aus einem Zauber, und alle Menschen hätten Seelen bekommen. Hans hatte wohl viele Menschen getroffen, die ähnlich sprachen und dachten und ähnliches studiert hatten wie er, aber die waren ihm doch tot gewesen, das wußte er jetzt. Denn was das Lebendige zwischen ihnen schuf, das merkten sie beide nicht in Harmlosigkeit, nämlich, es kam zu den gleichen Meinungen und den gleichen Büchern, daß er ein Jüngling war und sie eine Jungfrau, und daß sie an seiner Brust liegen konnte und er sie umschlungen halten konnte. Das war ein Glück in ihnen, das sie noch nie gespürt. Sie überhasteten sich in ihren Reden, fragten und erwarteten keine Antwort, machten Pläne, nahmen sich Vorsätze vor, und lachten, ohne daß sie einen rechten Grund hatten.

Noch vor einer Stunde waren sie einander fast fremd gewesen, und nun schien es ihnen, als ob sie zueinander gehörten, so hatten sie ohne Scheu ihre natürlichen Bewegungen, und Maria legte ihre Füße auf einen kleinen Schemel, wie sie gewohnt war, ohne daran zu denken, daß sie einen fremden Herrn zum Besuch hatte, nicht einen Bruder oder Gatten; plötzlich fiel ihr die Unschicklichkeit auf, und sie errötete. Wie ein kleines Mädchen errötete sie, und so glücklich sah sie aus, wie ein kleines Mädchen in ihrer Schwesterntracht und glattgestrichenem Haare. Durch ihre Bewegung wurde er aufgeschreckt, sah nach seiner Uhr und fand mit großer Bestürzung, daß er ganz unschicklich lange geblieben war, so stand er hastig auf, und mit einer gewissen Befangenheit trennten sich die beiden.

Als Hans sie das zweite Mal besuchte, waren sie verlegen und kalt, und in ihre Worte wollte keine Wärme kommen, und was sie sagten, sagten sie nicht aus Liebe und Überfluß, sondern um ein schleppendes Gespräch zu erhalten; und weil alles, was vorher so rosig erschien, jetzt grau war, so prüften sie nach bei sich und fanden, daß sie eine eigentliche Belehrung doch das vorige Mal nicht voneinander empfangen hatten, und daß sie ein jeder das schon gewußt, was besprochen war; aber weder er noch sie warfen die Schuld davon auf den andern, sondern meinten jeder, der Grund liege bei ihnen selbst; so trennten sie sich sehr früh.

Nachher machten sie sich schwere Gedanken, wußten sich nicht zu erklären, woher die Kälte und Verlegenheit gekommen, und meinten jeder, er selbst sei schuld daran, indem er das erste Mal aufdringlich gewesen sei. Denn schon hatte in der Zwischenzeit die Liebe ihre seltsame Arbeit in ihren Seelen ausgeübt, nämlich den Geliebten verschönt und erhöht und so geschmückt, daß er ein ganz andres Wesen wurde, aus einem kleinen Menschenkinde mit seiner Angst und Verlegenheit ein zürnender Engel, der unnahbar ist durch seinen Glanz und Größe. Und so sagte Hans bei sich, daß er von niederem Herkommen war und später selten vornehme Leute getroffen, denn die meisten Bekannten und Gleichstrebenden waren ähnlicher Abkunft wie er, deshalb wußte er manches nicht, was schicklich war, etwa ob man die Beine übereinanderschlagen durfte, denn in einem Buche über den feinen Anstand, das er durchstudiert, war das verboten, und vielleicht habe er die Komtesse durch solche Nachlässigkeit beleidigt, und sie denke etwa nicht, wie man sie erklären müsse bei ihm, sondern meine, weil sie Krankenpflegerin geworden sei und ihren Stand verlassen habe, so glaube er, daß man in solchen Dingen ihr gegenüber nicht so sorgfältig zu sein brauche, und solche Ansicht müsse sie natürlich kränken. Und Maria dachte, daß Hans schnell alles spürte, was unsittlich oder unschicklich sein mochte, denn sie kannte auch seinen Vater gut und sah ihn in ihrem Geiste neben ihrem Vater hergehen; da schien ihr, daß sie nicht weiblich gewesen sei, und er könne meinen, sie sei nicht zurückhaltend, und sie fürchtete, er halte sie für schamlos.

Zu diesen Sorgen kamen noch kleine Mißverständnisse und allerhand solche Vorfälle, die bei Liebenden eintreffen; so lebten beide recht unglücklich, wie es ja gewöhnlich ist, auch bei klugen und guten Menschen, in den ersten Liebeszeiten; denn alles ist da noch trübe, unbekannt und unausgesprochen, und erst wenn das klar und geordnet ist und eine ebene Straße sich unter den Füßen hinzieht, kann ruhiges Glück hereinfließen. Aber je selbständiger zwei Menschen sind, desto schwerer ist offenbar ein solches Ziel zu erreichen.

Unter solchen allgemeinen Umständen hatten sie an einem Frühlingstage einen Ausflug gemacht an einen abseits von der begangenen Straße gelegenen Ort, wo ein See lag inmitten des eintönigen Kiefernwaldes, der aus dem dürftigen Boden mit Anstrengung hervorwächst, und in dem ruhigen Wasser spiegeln sich die Kiefern wider und der blasse Frühlingshimmel mit weißen Wölkchen. Unter einer Birke saßen sie, die am Waldrande allein stand und sich an den hängenden Zweigen mit ihren jungen Blättchen schmückte, und wie sich Maria neigte, da wuchsen Leberblümchen, wie zu Hause in dem hohen Buchenwalde, da pflückte sie drei Blümchen ab, und Heimweh ergriff ihr Herz, und um ihr Gefühl zu verbergen, tat sie behutsam die Blumen an ihre Brust. Dabei hatten sie ein Gespräch über etwas andres, aber auch ihm war das Heimweh gekommen, und hinter ihren gleichgültigen Worten teilte sich die Herzensbewegung des einen dem andern mit. Hierüber entstand eine Pause voll Befangenheit, die süß und sehnsuchtsvoll war, und wie sie so schwiegen, kam ein ganz kleiner Schmetterling, der den Winter überlebt hatte, denn er hatte recht abgenützte Flügel, und jetzt hatte ihn die liebe Sonne gelockt aus seinem Versteck, der suchte nach Blumen, und es fror ihn; und in ungeschicktem Fluge kam er zu Marias Brust, setzte sich auf ein Blümchen und schlug freudig und zufrieden seine Flügel zusammen, wie er früher getan hatte in dem warmen Sommer des vorigen Jahres. Sie sah mit glücklichem Gesicht auf das Tierlein nieder und hielt sich ganz still, und durch einen Blick, wie ihn ein Kind haben mag, rief sie ihm, daß er auch sehen solle. Er neigte sich zu ihr, über die Blümchen mit dem Schmetterling, und sein Gesicht kam vor das ihre, und beide verspürten eine Scheu und ein Klopfen des Herzens, da faßte Hans sich Mut und sah zur Seite, und sah, daß ihre Wangen rot waren und in ihren Augen Tränen standen, und hierüber geschah ihm, daß er handelte, ohne sich zu besinnen oder zu überlegen, er legte seinen Arm um sie und küßte sie, und zwar verfehlte er ihren Mund, aber er verspürte doch, wie sie den Kuß erwiderte, und sah, wie ihre Augen sich schlossen. Da tat sich ihm weit, weit das Herz auf und ihm schossen die Tränen in die Augen, und er warf das Gesicht in ihren Schoß und weinte, weinte; der Schmetterling war davongeflogen, und Maria strich ihm sein Haar, leise, mit ihren weichen Händen, und einmal sagte sie „Du Lieber“, mit Anstrengung sagte sie das.

Und wie sein Haupt in ihrem Schoße lag und seine Augen weinten, und sie streichelte ihm das Haar, das hell war und starr, und eine kleine Meise hüpfte über ihnen in dem durchsichtigen Geäst der frühlingsgeschmückten Birke, da kehrte ein in ihnen Zuversicht und Sicherheit und sie wußten, daß sie neu geboren waren wie in einem Stübchen bei ihren Eltern, und daß es nicht mehr Not, Sorgen und quälende Gedanken gab, und alles war einfach und selbstverständlich, und ihre Gedanken waren, als gehörten sie schon lange zusammen, seit vielen, vielen Jahren, und vor undenklichen Zeiten sei etwas Unruhiges und Einsames gewesen, und alles war eins bei ihnen, wie es natürlich ist bei einem alten Ehepaar. Lange verharrten sie so; und es war, als ob alles Glück, nach dem sie sich vergeblich gesehnt, so lange Jahre, jedes allein für sich, als ob das aufgesammelt gewesen sei und nun auf sie herniederregnete in diesen Minuten unter dem durchsichtigen Birkengeäst; und alles war ihnen gleichgültig, ja sie dachten an nichts, und hatten nicht gewußt, ob es Minuten waren oder Stunden, als ihm die Tränen des Glückes aus den Augen flossen, unaufhaltsam, aus der Tiefe seines Herzens, in dem das Glück saß, und sie streichelte sein Haar, das sie lieb hatte, und vielleicht waren es sogar nur Sekunden gewesen, daß sie so gesessen.

Sie besannen sich auch, sahen sich ins Gesicht und lachten, ganz ohne Grund lachten sie, Hansens Backen waren noch naß von Tränen. Plötzlich errötete sie, ein ganz neuer, lieblicher Ausdruck zog sich über ihr Gesicht und sie errötete bis an die Haarwurzel und an den Seiten bis zum Ohransatz, und legte die Hand vor das Gesicht und sagte: „Ach, ich schäme mich.“ Da war er ganz ratlos, und es war ihm, als habe er unrecht gehandelt, daß er sie geküßt, aber sie legte plötzlich ihre Hände um seinen Hals und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen, einen frohen und innigen. Dann strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und sagte: „Ich habe noch keinen Menschen lieb gehabt wie dich.“ Hierüber wurde er wieder verlegen und lachte.

Bald erhoben sie sich und gingen; zuerst schritten sie ganz ohne Gedanken, dann besannen sie sich, daß sie zur Bahnstation gehen mußten, suchten den Weg auf und gingen dann wieder in der vorigen Weise. Plötzlich fiel es Hans ein, daß er Maria den Arm geben wollte, das tat er aber ganz ungeschickt, und darüber lachte Maria, als wäre das etwas sehr Komisches, und Hans lachte auch. Darauf trieben sie ganz kindische Scherze, liefen eine ganze Weile mit untergefaßtem Arm und lachten wieder, bis Maria die Tränen kamen, das waren zwei runde Perlen, die nicht zerliefen, sondern rund blieben. Über diese freute er sich so, daß er sie küßte.

Eine Weile gingen sie dann wieder in Gedanken und still. Da fing Hans plötzlich an, daß er sich besonders darauf freue, wenn sie viele Kinder bekämen. Hierüber wurde sie wieder rot, er aber merkte nichts und fuhr fort in der Ausmalung seines Traumes, wie er dem ältesten Jungen ein Steckenpferd kaufen wollte und dem kleinen Mädchen ein Korallenhalsband, und abends wollten sie mit den Kindern in der dämmrigen Stube sitzen und schöne Lieder singen, und Maria mußte auf dem Klavier begleiten. Auch von der Erziehung sprach er, daß man hauptsächlich fest sein müsse und die Kinder nicht verwöhnen dürfe, denn selbst Härte sei besser wie übermäßige Weichheit. Und allmählich fiel auch Maria ein, und so begannen die beiden fröhlich ihre Luftschlösser zu bauen. Es zeigte sich aber, daß Hans ganz bestimmte Ansichten und Pläne hatte in allen diesen Dingen, über welche sich Maria sehr verwunderte, und wiewohl vieles von diesen Ansichten und Plänen ihren Wünschen nicht entsprach, so empfand sie doch keinen Ärger, wie er so bestimmt war und ganz einfach annahm, daß sie dasselbe wollen müsse wie er, aber sonst war sie immer gleich erbittert gewesen, wenn sie gespürt hatte, jemand wolle, daß sie etwas tue, was ihr nicht einleuchtete. So dachte sie jetzt, er sei wohl etwas tyrannisch, aber sie freute sich heimlich darüber und war gar nicht traurig, hatte auch gar keine Lust, daß sie sich ihre andre Meinung klar machte, sondern dachte nur bei sich: ‚ach, es wird schon schön und recht sein, wie er es meint‘, und er meinte doch viel Törichtes. Plötzlich aber bemerkte sie, daß sie selbst sich vorstelle, wie sie ihre Kinder kleiden wollte, und indem sie gar nicht daran dachte, daß die zuerst ganz klein waren, malte sie sich einen recht schönen Matrosenanzug aus für den Jungen und stellte sich einen Florentiner Strohhut vor für das Mädchen.

So gingen sie auf dem schmalen Weg durch den Wald. Und durch den Wald zog der Atem des Frühlings, herb und streng, die Kiefern reckten sich und hielten sich in Bereitschaft, ihre Kerzen aufzustecken, ein Kreuzschnabel saß auf einem Zweige und sah ruhig das Paar an; das ist ein Vogel, der auf Gott vertraut, denn er baut sein Nest mitten im Schnee, wenn die andern Tiere allen Glauben verloren haben, und im Frühjahr sind seine Jungen schon fast erzogen.

Das Stationsgebäude war ein Haus wie alle diese Häuser, und Menschen warteten da, die sahen gleichgültig und mürrisch aus, wie sie immer aussehen. Aber der beiden Glück machte das dürftige Haus schimmernd und den glänzenden Schienenstrang glückverheißend, der sich gerade hinauszog, weit fort, wer weiß wohin, und alle Menschen, die da warteten und an den Zug dachten und an ihre kleinen Sorgen und Geschäfte, wurden froh und glücklich. Die beiden aber dachten, daß das Leben leicht ist, und wunderten sich, daß sie nicht schon längst das gewußt hatten. Und am merkwürdigsten war, daß alle Menschen ihnen mit Liebe, Freundlichkeit und Schonung zu nahen schienen, und es zeigte sich, daß alle Menschen gut sind. Für den nächsten Tag hatten sie verabredet, daß sie sich im Tiergarten treffen wollten; denn sie mußten einander viel sagen, und vorher wollten sie manches bedenken, weil es doch überraschend gekommen war, wie sie sich gefunden hatten. Hans war zuerst an der Stelle, dann kam Maria, die hatte ein ernstes und ermüdetes Gesicht und begrüßte ihn liebevoll, aber mit sonderbarer Zurückhaltung, und gab ihm einen Brief in die Hand und sprach, während er lese, wolle sie sich auf eine Bank setzen. In dem sehr langen Briefe stand geschrieben, daß sie viel mit sich gekämpft, aber sie sei nun zu dem Entschluß gekommen, daß sie einander nicht angehören dürften; denn gestern habe sie sich durch ihre Gefühle, die sie nicht leugnen wolle, zu einer Übereilung hinreißen lassen; ihr Grund aber sei, daß sie sich zu selbständig fühle, um glauben zu können, daß sie eine gute Gattin sein werde. Dann erzählte sie, wie sie ihre Jugendzeit zu Hause verbracht habe in den großen Sälen, und habe keinen Menschen gekannt, denn mit den Offizieren und Gutsbesitzern, die in ihrem Elternhause verkehrt, habe sie nichts zu sprechen gefunden, außer ganz gleichgültige Dinge; und wie durch die Luft sei es angeflogen, daß sie ganz andere Meinungen bekommen wie alle Leute, die sie kannte, denn sie könne sich nicht entsinnen, daß jemand ihr etwas erzählt über solche Gedanken. Deshalb habe sie auch immer gedacht, ihre Gedanken und Pläne seien unrecht, weil sie niemand gekannt, der sie geteilt, denn erst in ihrem neuen Kreise später habe sie die Menschen getroffen, die ebenso dachten wie sie. Das erzählte sie ihm, damit er sehe, wie ihre Gesinnungen nicht zufälliger Art seien und sich ändern könnten, sondern sie seien aus ihrem Wesen mit Notwendigkeit entstanden, und deshalb könne sie nicht anders werden, wie sie jetzt sei. Dann fuhr sie fort, ihm zu schildern, welche große Anstrengung es sie gekostet, bis sie alle Hindernisse und Vorurteile der Familie überwunden und habe sich in Freiheit bilden dürfen; wenn sie jetzt an diese Zeiten zurückdenke, so begreife sie oftmals nicht mehr, wie das alles möglich gewesen sei. Und nun könne sie das alles nicht mehr opfern und sich einem andern fügen, eine Hausfrau werden und an ganz neue Dinge denken; und wenn sie es doch versuchen wollte, so würde sie selbst unglücklich werden und ihn unglücklich machen, denn der Versuch werde gegen ihre Natur gehen. Darum sei es das beste, er lasse sie, und sie trennten sich jetzt, was zwar ihnen beiden schwer fallen werde; aber da sie nun einmal in solchen unglücklichen Zwiespalt hineingeraten, daß sie einander lieb gewonnen hätten und doch nicht als Gatten zusammenleben könnten, so sei es besser, jetzt Kummer zu leiden und, wenn es möglich, ihre Neigung zu überwinden und dann später in der früheren Art weiter zu leben, wie eine Ehe zu führen, die sicher unglücklich werden müsse und vielleicht ihre gegenwärtige Liebe in Haß verwandeln werde.

Mit großer Trauer las Hans diesen Brief; und wie er ihn zu Ende gelesen, sah er in Mariens Gesicht, das mit einem Ausdruck von unendlicher Liebe zu ihm gewendet war; da lachte er, und sie hängte sich an seinen Arm und fragte schüchtern, was er nun denke, und wie er sagte, es werde alles gut werden, und sie wollten sich trotzdem ehelichen, da drückte sie seine Hand und war glücklich. In diesem Augenblicke wurde ihm in seiner ganzen Weise offenkundig, was sie zum Opfer brachte, nämlich die Freiheit und das Glück eines Blickes von hohen Bergen, und daß sie in Enge ging und kleine Sorgen auf sich nahm, und das tat sie, weil sie ihn lieb hatte, nicht für sich, sondern für ihn. Und er wußte wohl, daß er dieser Liebe unwert war und ihr nicht ein gleiches Opfer bringen konnte, und in Demut sagte er sich, daß alles Herrliche, das wir erhalten, ein unverdientes Geschenk ist, und in Dankbarkeit nahm er sich vor, immer an diese Stunde zu denken. Er freute sich aber, daß er nehmen durfte und dankbar sein, und schämte sich nicht, daß seine Hände leer waren. Solches sind die Werke der Liebe in uns, daß sie unsre schlechteste Eigenschaft überwindet, nämlich den Dünkel, der nichts umsonst empfangen will.

Nachdem die beiden dergestalt zu einem unumstößlichen Entschluß gekommen waren, beredeten sie untereinander, wie sie ihr äußeres Leben bilden würden. Wie die beiden Brüder und die Eltern gestorben, war Maria die Erbin aller Besitzungen der Familie. Solange sie für sich allein lebte, blieb ihr das gleichgültig, und sie hatte die Verwaltung einem Verwandten übergeben, denn sie war zufrieden, daß sie ihren Beruf hatte und ihre Pflicht erfüllen konnte. Nun aber wurde das anders, denn eine Familie will mehr Pflichten wie der einzelne. Hansens Tätigkeit war nicht derart, daß sie ihn selbst auf die Dauer befriedigt hätte, geschweige daß er auf sie hin hätte mögen mit seiner Familie leben. So beschlossen die beiden, daß Hans die Verwaltung der Herrschaft übernehmen sollte, und wußten wohl, wie verschuldet der gesamte Besitz war, so daß er zurzeit im ganzen sogar eine passive Bilanz aufwies, aber freuten sich, daß sie dadurch ein Ziel für frohe Arbeit bekamen, denn sie glaubten, daß wir nur glücklich sein können in einer angestrengten Arbeit, die einen Erfolg hat. Und nachdem sie dergestalt sich über den Plan und die Absichten klar geworden waren, setzten sie schleunigst alles Nötige ins Werk, benachrichtigten die entfernten Verwandten Marias, die zwar den Kopf recht schüttelten, aber doch keine Schwierigkeiten machen konnten, vielmehr recht gütig bei manchem halfen, und dann wurde die Hochzeit bald gefeiert.

So nahmen sie denn die schwere Last fröhlich und guten Mutes auf sich, zogen in ein kleines Häuschen, das früher eine Beamtenwohnung gewesen war, und richteten sich ganz einfach ein. Wohl hatten sie einen Besitz, der auch nach Abzug der Schulden noch Millionen wert war, und doch lebten sie bescheiden, aber sie waren stolz und froh, daß sie Sparen und Haushalten, Arbeiten und Sorgen vor sich hatten, dessen Ende doch Sicherheit und ordentliches Leben für ihre Kinder wurde; denn wenn der Besitz auch groß und wertvoll war, so blieb ihr Einkommen doch gering und konnte nur durch langsames Abtragen der Schulden wieder groß werden.

Am frühen Morgen ging Hans schon in den Wald, und am späten Abend kehrte er nach Hause. Ein unbändiges Frohgefühl überkam ihn, wenn er zwischen den schweigenden Stämmen wanderte; das alles gehörte ihm, diese gewaltigen Buchen, deren Zweige hoch oben sich wölbten, und die kleinen Bäumchen in der Schonung gehörten ihm, wo ein Strohwisch an einer Stange hing, und das trockne Laub gehörte ihm, und die kleinen weißen Blümchen, und die flinke Eidechse und der Vogel auf dem Zweige, die waren in seinem Walde, den er einst seinen Kindern vererbte. Ihm wuchsen die kleinen einjährigen Pflanzen aus dem Samen, die dereinst über seines Enkels Haupte mächtig rauschen sollten, für ihn saugten die Blätter Sonnenschein ein, Luft und Regen. Deshalb forstete er auch nicht mit Kiefern auf, wo Buchen abgetrieben waren, denn er wollte, daß wieder Buchen wuchsen, wo Buchen gestanden hatten; wenn er alte Bäume mußte schlagen lassen, so war es ihm, als müsse ihm das Herz bluten, und nur, weil er doch Einnahmen wegen der Zinsen nötig brauchte, ließ er abtreiben; dann schlief er nachts nicht, ging ans Fenster und sah im Mondschein seufzend über den stillen Wald hin; mit Freuden aber ließ er jungen Bestand ausholzen, wo Licht und Luft geschaffen werden mußten für die Bäumchen. Abends erzählte er, wie er dies machen wolle und das, wie an kahlen Hängen angepflanzt werden sollte, wenn er erst mehr Geld habe, wie in den Bruch Erlenbestand kommen müsse, und wie ein vernachlässigtes großes Gebiet am besten neu bepflanzt werde.

Seine schlimmste Sorge war, daß die Haupteinnahme aus einem unsicheren Bergwerksertrage floß, und häufig überlegte er, was zu beginnen sei, wenn dieser Ertrag einmal im Jahre geringer ausfalle. Wohl sagte er sich dann heimlich, es sei leichtfertig von ihm gewesen, daß er nicht bei der Übernahme mehr von dem Besitz verkauft, damit er das übrige desto sicherer halten konnte, aber was er sich auch überlegte, nichts von dem, was er besaß, wollte er hingeben; ja die beiden Güter, die er damals fortgegeben, und die nun unter einem tüchtigen und wohlhabenden Besitzer schnell gediehen, reuten ihn oft, und gab ihm einen Stich, wenn er in die Nähe ihrer Felder kam und dachte, daß ihm die auch gehört hatten. Deshalb wußte er keinen weiteren Ausweg, als daß er immer sparsamer zu wirtschaften suchte, immer eifriger und umsichtiger alles beaufsichtigte. Seine Figur änderte sich; er wurde hager und vornübergeneigt, und seine Nase stand mit einem scharfen Haken aus dem Gesicht, und sein Gang wurde schnell und weit ausschreitend. So vergingen Wochen, Monate und Jahre im Rechnen und Arbeiten; aber Rechnen und Arbeiten füllten das Leben der beiden nicht aus. Denn zu seiner Zeit bekamen sie ein schönes und gesundes Kind, ein Knäblein; dem folgten noch andre Kinder bis zu der Zahl von fünf. Für diese alle mußte die Mutter sorgen, ohne große Hilfe, das tat sie heiteren Gemütes und singend, und die Kinder wuchsen heran in Schnelligkeit, und wenn der Vater des Abends nach Hause kam, so umringten sie ihn, klammerten sich an seinen Beinen an und wollten an ihm hochklettern; und Maria begrüßte ihn mit lachenden Augen. Sie war immer froh, auch ohne einen bestimmten Grund, und hatte Beruhigung im Herzen und sichere Gedanken. Und auch Hans war beständig froh und sicher, trotzdem er sich viele Sorge machen mußte um Geld und pünktliches Zusammentreffen von Einnahmen und Ausgaben, was für einen Mann sehr schwer ist, der keine Begabung für Geldgeschäfte hat; bei seinen großen Rechnungen half ihm auch Maria, denn er verzählte und verrechnete sich häufig und geriet dann in große Ängste.

Was aber ganz besonders merkwürdig schien, das war, daß er sich gar nicht mehr Gedanken machte über abstrakte Dinge und Fragen, denn ihm war, als sei alles Grübeln plötzlich abgeschnitten und habe gar keinen Liebreiz mehr, und hätte er sich früher so gekannt, so hätte er sicher geurteilt, er sei beschränkt geworden, und doch war es ihm jetzt, wenn er an sein früheres Wesen dachte, als sei er damals töricht und kindisch gewesen. Und ebenso war es Maria, daß alle ihre Mühe und Arbeit, die sie sich früher gemacht, ihr kindisch vorkam; und wenn es auch gering war, zu bedenken, was ein Kind anziehen sollte und was ein andres essen durfte, und ob an einem Bach Weiden gepflanzt werden sollten für die späteren Korbflechtarbeiten, wenn die Äpfel aus einer neuen Anpflanzung erst versendet wurden, so schien beiden das doch heute viel wichtiger wie solche Fragen nach Freiheit und Verantwortlichkeit und ähnlichem, die sie früher bedacht. Und als sie einmal an einem glücklichen Nachmittag am Sonntag zusammen im Garten saßen und von weitem die jubelnden Kinder hörten und sich über die Wandlung wunderten, kam ihnen eine Zusammenfassung oder Erklärung dieser Erscheinung. Es geschah das aber, indem sie ein Schwalbenpärchen sahen, die Lehm zusammentrugen zu einem Neste für sich und ihre Kinder.

Da sagten sie: Wie die Vöglein, so leben auch die Menschen, wachsen, freien sich, kriegen Kinder, ziehen sie groß, und dann sterben sie; und ihre Kinder tun desgleichen; und so ist die Erde bevölkert mit lebenden Wesen, auf welche die Sonne scheint. Und jedesmal, wenn Kinder heranwachsen, denken sie, das ist etwas ungemein Merkwürdiges, daß wir auf der Welt sind, und es gibt nichts Merkwürdigeres, und mit uns wird alles neu, und vor uns ist nichts gewesen, nach uns aber wird alles das sein, was wir einmal Großes und Wichtiges schaffen werden. In Wahrheit aber erschaffen sie genau so Großes und Wichtiges wie die Menschen vor ihnen geschaffen haben, das sie gar nicht beachten. Und in solcher Gesinnung kommen sie auch zu weiterer Überhebung, daß sie in sich hineinsehen wollen und wollen wissen, wie in ihnen alles zusammenhängt, und woher es kommt, daß ihnen die Welt so erscheint, wie sie ihnen wirklich erscheint; und dann denken sie, daß sie das alles ändern können nach ihrem Wohlgefallen und können bauen, was sie wollen, und einreißen, was sie wollen.

Wenn es nun Gott gut meint mit solchen besonders hoffärtigen Menschen, so setzt er sie mitten in eine einfache und vernünftige Aufgabe; und da sehen sie, daß einer mit dem andern zusammenhängt, und daß die Menschen so leben, wie es ihnen vorgeschrieben ist, und solche Gedanken haben, wie Gott will, daß sie Gedanken haben; ebenso wie diese Schwälblein vielleicht denken, wunder welch ein Werk sie verrichten, und wie merkwürdig es ist, daß sie Mann und Frau sind, und wie wunderbar einst ihre Eier sein werden und wie eigen ihr Nest; und setzen doch bloß Dreck zusammen wie alle Schwalben vor ihnen und nach ihnen, und haben Eier und brüten nach aller Schwalben Sitte, weil so das Geschlecht der Schwalben sich erhält auf der Erde, das Fliegen und Mücken fängt und zum Herbst fortzieht und im Frühjahr wiederkehrt. Solche aber, die zerfahren sind aus Hochmut, finden keine einfache und vernünftige Aufgabe, sondern tun irgend eine widerwärtige Tätigkeit, damit sie ihr Brot verdienen, und wenn sie ihr Tagewerk vollbracht haben, so brüten sie weiter und haben dumme Gedanken über ihre Wichtigkeit und werden immer zerfahrener. Inzwischen geht das Leben vor ihrem Fenster vorbei wie ein schönes Mädchen, und sie merken es nicht, denn sie wissen nicht, daß sie dem Mädchen nachgehen sollten, sie zur Frau begehren und mit ihr leben in Freude und ohne überflüssige Gedanken. Und nachdem sie immer zerfahrener geworden sind, beginnen sie auch immer dümmer zu werden; und zuletzt enden sie in leerem und einfältigem Geschwätz.

In Wahrheit können wir doch nichts wissen, als daß wir hier auf dieser schönen Erde wandeln und brave Menschen sein sollen und uns freuen. Dann werden wir älter in Heiterkeit und Glück, und endlich sterben wir, und im Gedächtnis der Menschen leben wir eine Weile noch als verständige Leute oder als unverständige.

Als sie solche Gedanken hatten, blickten sie nach der Elsgrube hin, denn die konnten sie sehen von ihrem Hause aus und dachten, daß hier einst die alte Burg gestanden hatte, und daß das damalige Herrengeschlecht heruntergegangen war, und ein treuer Diener hatte die letzte Tochter geheiratet und das neue Geschlecht begründet. Das hatte lange geblüht durch vielerlei Zeiten hindurch, die Urzeiten hatte es erlebt und das Lebensalter und die Renaissance, das absolute Fürstentum und die Neuzeit; endlich war es untergegangen durch Untüchtigkeit; und nun gründete wieder ein treuer Mann aus der unteren Gesellschaft das dritte Geschlecht; und vielleicht erlebte das auch durch die Jahrhunderte Wandlungen der Dinge, Verhältnisse und Gedanken, und es zeigte sich, daß jede Zeit meinte, sie habe in allem das Richtige gefunden; und vor Gottes Augen war das alles doch nichts weiter wie die Reihenfolge der Schwalben, die ein Nest unterm Hausdache beziehen; und wenn die Kinder dieses Geschlechtes klug waren, so taten sie dasselbe, was jetzt Hans und Maria taten: arbeiten und sich liebhaben, ihre Kinder erziehen und fröhlich sein.

So waren ihre Gedanken, und die mochten wohl manchem von den andern kleinbürgerlich erscheinen. Aber was wir wert sind, das sind wir ja nicht wert durch unsre Gedanken, sondern dadurch, daß wir die Stelle auszufüllen vermögen, in die wir gesetzt sind; denn wenn wir das können, so bekommen wir Verstand und richtige Gedanken, und für die einen sind diese Gedanken richtig, für die andern jene. Nur ist das eine Weisheit, von der die Leute unsrer Zeit nichts wissen wollen, denn freilich ist sie nicht zu sehen, sondern wir müssen sie glauben. Aber wissen wir dies nicht, daß wir ja gar nicht die wahre Welt sehen, sondern nur einen trügerischen Schein?

In der wahren Welt steht Gott als ein Bauersmann im blauen Kittel vor dem Scheunentor und worfelt Weizen. Er nimmt eine Schaufel voll Weizen und schleudert den in die Scheune. Da fliegen zusammen durch die Luft Korn und Spreu und wissen nicht, wer sie in Bewegung gesetzt hat und wohin sie getrieben werden; doch sie verspüren, daß eine Kraft in ihnen ist, und daß dieselbe Sonne sie blitzend bescheint und daß dieselbe Luft sie klar bestreicht. Da denkt die Spreu hoffärtig: ‚Siehe, wir sind wie diese da, und vielleicht sind wir auch besser, denn uns scheint, wir fliegen höher‘, und die Körner denken demütig: ‚Es ist wohl so, daß wir alle gleich sind.‘ Aber nur einen Augenblick verweilen sie beide in der hellen Luft und unter der blitzenden Sonne; denn was Jahrhunderte sind für uns und unsre Welt des Scheins, das ist ein Augenblick für Gott und für seine wahre Welt. Dann senken sich die schweren Körner zu dem Weizenhaufen, auf den sie fallen sollen, und die Spreu trägt der Zugwind vor dem Scheunentor auf einen andern Haufen zu der früheren Spreu.

Ende

Von Paul Ernst sind im Rahmen der Gesamtausgabe und als Einzelbände u. a. erschienen:

Saat auf Hoffnung. Roman. Ganzleinen RM. 9.—.

Geschichten von deutscher Art. Ganzleinen RM. 10.—.

Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Ganzl. RM. 11.—.

Romantische Geschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Liebesgeschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Geschichten zwischen Traum und Tag. Ganzleinen RM. 10.50.

Lustige Geschichten. Ganzleinen RM. 10.50.

Der Weg zur Form. Abhandlungen über die Technik, vornehmlich der Tragödie und Novelle. Ganzl. RM. 11.50.

Grundlagen der neuen Gesellschaft. Ganzleinen RM. 13.—.

Erdachte Gespräche. Ganzleinen RM. 10.50.

Jugenderinnerungen. Ganzleinen RM. 12.—.

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Von den Gesammelten Werken besteht auch eine Subskriptionsausgabe. Auf einzelne Bände kann nicht subskribiert werden, dagegen auf einzelne Abteilungen. Der Subskriptionspreis von RM. 7.— für den in Leinen gebundenen Band gilt für die Subskription auf:

1. Abt. Erzählende Schriften 10 Bände. 2. Abt. Dramen 3 Bände. 3. Abt. Theoretische Schriften 6 Bände.

Es kann sowohl auf einzelne Abteilungen wie auf alle drei subskribiert werden. Die Lieferung erfolgt bandweise jeweils bei Erscheinen eines neuen Bandes. Die bereits vorliegenden Bände können auch in monatlichen Abständen bezogen werden. Es ist geplant, in jedem Jahr vier bis sechs Bände erscheinen zu lassen. Ausführliche Prospekte bitten wir von Ihrer Buchhandlung abzufordern.

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Außerhalb der Gesammelten Werke und nicht im Buchhandel: Das Kaiserbuch. Eine Dichtung, welche die Geschichte der deutschen Kaiser darstellt von 950-1250. 6 Bände. Geb. RM. 60.—. Nur zu beziehen durch die Paul-Ernst-Stiftung, Dr. Gimkiewicz, Hamburg, Agnesstr. 36.

Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einer anderen Schriftart markiert.

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