The Project Gutenberg eBook of Hurdy-Gurdy: Bilder aus einem Landgängerdorfe

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Title: Hurdy-Gurdy: Bilder aus einem Landgängerdorfe

Author: Ottokar Schupp

Release date: May 3, 2017 [eBook #54656]
Most recently updated: October 23, 2024

Language: German

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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK HURDY-GURDY: BILDER AUS EINEM LANDGÄNGERDORFE ***

Anmerkungen zur Transkription

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Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches.

Hurdy-Gurdy.

Bilder aus einem Landgängerdorfe

von

Ottokar Schupp.

Signet

Bielefeld und Leipzig.
Verlag von Velhagen & Klasing.
1867.


[1]

I.
Das exercirende Ehepaar.

Ich hatte den Gipfel des Dachsbergs wieder erreicht und war somit in den Bezirk meines Kirchspiels eingetreten. Hier pflegte ich mich von dem ermüdenden Steigen zu erholen und einen kleinen Umblick zu halten. Denn die Aussicht von dort in die gesegneten Fluren der Wetterau, die einem weit und breit, umgränzt von den blauen Höhen des Vogelbergs, zu Füßen liegt, und in die vielen Dörfer, Städte und Burgen ist eine so reizende, daß man sich immer wieder gefesselt fühlt, wenn man sie auch schon hundert und tausendmal betrachtet hat.

Heute bedurfte ich der Ruhe mehr, als gewöhnlich, da ich von einer ziemlich weiten Fußtour zurückkehrte und die Sonne mit ihren heißen Glutblicken mir an dem langen Sommertage gehörig zugesetzt hatte. Ich suchte mir deshalb ein bequemes, schattiges Plätzchen im nahen Buchengehölz, und nachdem ich mir eine Cigarre angesteckt und meine müden Glieder behaglich auf dem schwellenden Moose ausgestreckt hatte, genoß ich mit allen Sinnen den herrlichen Abend, den Gott über das Land hereinsandte.

Die Cigarre schmeckte besser, als heute den ganzen Tag. Der kräftige Waldesduft stärkte die erhitzten Lungen und gab neuen Lebensmuth. Zu meinem besonderen Ohrenschmause[2] schienen Finken und Drosseln einen kleinen Sängerkrieg veranstaltet zu haben. Das Auge hingegen ruhte vergnüglich auf der mit Schönheiten gesättigten Landschaft. Aber all' dieser beneidenswerthe Genuß konnte mich nicht der Art erfassen, daß nicht der müde Leib, durch die bequeme Lage verführt, in jenen träumerischen Halbschlummer gefallen wäre, der nur wenig bedurfte, um in festen Schlaf überzugehen.

Aus diesem süßen Hindämmern wurde ich durch Stimmen auf der Landstraße aufgeschreckt. Es war sonderbarer Weise ein militärisches Commando, was ich hörte. Ich glaubte anfangs noch zu träumen. Denn wie kam hier Militär her? hier auf die einsame Gränze? – Sollte eine Räuberbande entdeckt worden sein? Sollte der Schmuggel eine solche Ausdehnung gewonnen haben, daß man Militär requirirt hatte? – daß sich dieselben Scenen wiederholten, wie etwa vor vierzig Jahren, wo auf der nämlichen Stelle ein furchtbares Gemetzel mit den Schmugglern stattfand? Ich verwarf bald diese Gedanken, die mir nur so durch den Kopf schossen, als zu abenteuerlich. Und doch hörte ich jetzt ganz deutlich durch den Wald hin: »Bataillon halt! Gewehr ab! Auf der Stelle ruht!« – Freilich vernahm ich nicht das Aufstampfen der Füße, das Rasseln der Gewehrkolben. Aber jetzt hieß es wieder: »Bataillon Achtung! Gewehr auf! Vorwärts marsch!«

Ich war neugierig geworden und schob die Zweige auseinander, um besser die Straße überblicken zu können und sah dann zu meinem Erstaunen nichts weiter, als einen Mann und eine Frau in der üblichen Landestracht, die jetzt ganz in meine Nähe gekommen waren.

Von ihnen mußten die Stimmen herrühren. Und so war es auch. Ich bemerkte es nun ganz deutlich. – Der Mann,[3] obwohl er nur im Kittel war, wußte sich eine Würde zu geben, wie sie nur ein Unteroffizier zu haben vermag. Wie warf er sich in die Brust – wie legte er das Gesicht in gemessene, gewichtige Falten, wenn er das Commandowort aussprach! Leicht voltigirte er neben der Frau her, die groß, stramm und strack, wie Frankreichs erster Grenadier dahergeschritten kam, die eine Hand fest angepreßt an den kurzen Unterrock, in der andern eine lange Stange mit eisernem Haken statt des Gewehrs haltend, den Kopf hoch aufgerichtet, aber nur mit einem kleinen Hessenhäubchen bedeckt, statt mit einem Czako oder Helm. Ich hätte herzlich lachen mögen, so komisch war das Alles. Und doch lachte ich nicht. Die Frau that mir so leid.

Ich kannte die Leute. Sie waren aus meinem Kirchspielsdorf. Es war ein verdorbener Schneider, Namens Heimerdinger und seine Frau.

Das Sitzfleisch hatte ihm gefehlt, wie so vielen dieser beweglichen Naturen, und er hatte deshalb sein Handwerk aufgegeben. Um seiner finanziellen Lage aufzuhelfen, war er mit Weib und Kind in's Ausland gezogen und hatte sich besonders im Oestreichischen umhergetrieben, Alles angreifend und probirend, aber ohne Geduld und Erfolg. Abwechselnd wirkte er bald als Hausknecht, bald als Gärtner, bald als Schornsteinfeger, bald als Bretzeljunge; zuletzt wurde er Hanswurst bei einer Seiltänzerbande und dann noch gar Schauspieler bei einer umherziehenden Truppe. Viel heimgebracht hatte er nicht. Aber Eins hatte er draußen gelernt und das verstand er jetzt aus dem Fundamente: das Schnapstrinken. Und so war bald der Rest des Vermögens durch die Gurgel gejagt: zuerst ein Acker nach dem andern und zuletzt wurde das Häuschen, worin[4] sie noch wohnten, über und über verpfändet. Um sich das Nöthigste zu erwerben, hatte er jenen leidigen Ernährungszweig ergriffen, wie so viele Arme und Heruntergekommene aus dem Dorfe, daß er mit Frau und Tochter, jedes mit einem eisernen Haken versehen, um die Aeste herunterzureißen, täglich in die weiten Gebirgswaldungen zog, eine tüchtige Partie dürren Holzes zusammenstahl und dieses in der eine Stunde entfernten Stadt verkaufte. Was er erlöste, vertrank er. Was Frau und Tochter verdienten, davon wurde die Haushaltung bestritten.

Die Frau dagegen war mir in jeder Hinsicht ein Räthsel. Sie war durchaus kein gewöhnliches Weib. Schon ihre körperliche Erscheinung bekundete dieses. Mit ihrer hohen, majestätischen Gestalt und ihrem schönen feinen Gesicht hätte sie in andrer Kleidung und in anderen Verhältnissen, wenn auch nicht gerade Aufsehen erregt, doch imponirt und wäre nicht unbeachtet geblieben. Aber wie ihr Auftreten nicht harmoniren wollte mit ihrer Beschäftigung, so paßte auch ihre Sprache nicht dazu. Denn diese war edel und verrieth Bildung und Belesenheit, so daß man leicht zu der Vermuthung kommen konnte, sie sei kein Dorfkind, sondern eine Dame von Stand wäre durch ganz außerordentliche Begebenheiten in diese Verhältnisse gekommen. Ich dachte anfangs, es sei Alles nur äußerer, glänzender Firniß, angelerntes Wesen. Inwendig sei sie so gemein und niedrig gesinnt, wie die Andern. Denn ein gebildetes Weib kann sich selbst in der größten Noth kaum an solcher elenden und schmachvollen Ernährungsart betheiligen. Es kann aber absolut einen solchen Mann nicht achten und noch weniger sich den so excentrisch tollen Launen seines trunkenen Muthes fügen, die es selbst der Lächerlichkeit preisgeben.

[5]

Doch dagegen sprach gar Mancherlei. Ihre stille und nachdenkliche Art, womit sie dem Treiben des Dorfs auswich und sich abschloß; ihre Klugheit, da sie mit den beschränktesten Mitteln eine ganz schöne Haushaltung führte; ihr Schönheitssinn, denn ihr Gärtchen war stets am zierlichsten und in ihrem Zimmerchen sah es immer nett und behaglich aus; die Weise, wie sie ihre Kinder erzog, indem diese nicht blos ständig reinlich und hübsch gekleidet gingen, sondern auch so etwas Vornehmes in ihrem ganzen Wesen hatten, – eine ganz andere Art zu denken und zu fühlen, als die übrigen Dorfkinder.

Und so war es mir wie eine Ahnung, diese unbedingte Fügsamkeit und dieses Hergeben zu den niedrigsten Beschäftigungen sei nichts Anderes, als strenge Buße, welche sie sich für ein vergangenes sündiges Leben auferlegt hatte. Wenn es aber wirklich Buße war, so fehlte ihr jedenfalls die rechte Weihe des Glaubens. Denn es war dabei etwas so Verbittertes, Stolzes, Abstoßendes in ihr, daß Niemand sich in ihrer Nähe wohl fühlte. Und seit sie den Plan gehabt hatte, ein Geschäft zu gründen und sich durch ihre nicht geringe Geschicklichkeit in weiblichen Handarbeiten zu ernähren und die ganze Anlage mißglückt war, war sie noch stolzer und herber geworden. Ich war noch liegen geblieben, bis das seltsame Paar eine Weile fort war. Als ich mich aber endlich von meinem königlichen Lager erhob, traf ich gerade mit einer Schaar Leute zusammen, die ich alsbald für lauter heimkehrende Holzhändler der eben beschriebenen Sorte erkannte. Da war vor Allen der Nestor dieser Helden des Holzfrevels und des Amtsgefängnisses »der Maulwurf«, ein alter verwetterter Gesell, der schon von Jugend auf unverdrossen dieses Geschäft trieb, weil er zu jedem andern als untauglich erfunden worden war. Ich weiß[6] nicht, ob er diesen ehrenden Beinamen deshalb erhalten hatte, weil er eine besondere Geschicklichkeit besaß, Höhlen und Löcher aufzusuchen und sich darin zu vergraben und den nachstellenden Förstern und Holzschlägern zu entgehen, oder weil er die Gewohnheit hatte, Alles, was er verdiente, in Speise umzuwandeln, um seinen breiten, liebenswürdigen Mund damit zu füttern, oder gar wegen der wulstigen, aufgeworfenen Lippen. Das ist aber gewiß, wenn er über einen gefüllteren Geldbeutel hätte verfügen können, er wäre einer der ausgemachtesten und renommirtesten Feinschmecker geworden; so blieb er nur ein besonderer Liebhaber von Weißbrod, Kuchen, frischer Leberwurst und Kartoffelsalat mit Speck.

Da war weiter »das Käschen«, ein spitzer, kleiner Geselle, die dürre Gestalt ganz in englisches Leder gehüllt. Er gab gewiß in der Klugheit dem vielgewanderten Odysseus nichts nach, denn er hatte aus lauter Klugheit sein schönes Vermögen verloren. Aus lauter Klugheit ging er nie die offene Straße, sondern stets die Schleichwege, er kam nie die Vorder-, sondern stets die Hinterthüre herein. Ein ehrlicher Handel war ihm ein Gräuel. Dagegen in alle Stänkereien und schlechte Geschichten der ganzen Gegend war er verwickelt, hatte aber auch meistens den Schaden zu tragen. Und während alle Welt glaubte, er müsse im Geld sitzen bis über die Ohren, machte er plötzlich Bankerott. Natürlich war es ein betrügerischer, aber es half ihm doch nichts. Jetzt wandte er hauptsächlich seine Klugheit dazu an, um Käse zu erlangen, der eine leidenschaftliche Liebhaberei von ihm war, und den Wächter des Amtsgefängnisses zu betrügen. Denn jedes Vierteljahr wurde beim Amte große Abrechnung gehalten und da mußten die Herren Holzhändler die verschiedenen Holzfrevel absitzen, wobei sie erwischt[7] worden waren. Im Amtsgefängniß war aber besonders »das Rauchen und Kartenspielen« verboten und der Wächter wachte mit Argusaugen. Aber Käschen-Odysseus wußte Pfeife, Tabak und Karten dennoch hinein zu schmuggeln. Eine brennende Pfeife gab er ab, sagte aber dem arglosen Wächter nicht, daß er eine andere im Strumpfe bei sich führe. Den Tabak hatte er in einem Töpfchen, worüber Käsematten gebreitet waren und die Karten waren in das Futter seiner Mütze eingenäht. – Eigentlich die hervorragendste Gestalt unter den Männern war der schwarzbärtige, große Mann, der um eines Hauptes Länge über die ganze Gesellschaft hinaussah: »Der Herr Baron«. Er war in seiner Blüthenzeit ein Hauptschwindler gewesen, der bald die Rolle eines russischen Grafen, bald die eines englischen Lords spielte und sich Tausende erschwindelte. In einem amerikanischen Gefängniß hatte er »die Rothe« kennen gelernt, und war er schlau, sie war noch schlauer, und war er stolz, sie hat ihn klein gekriegt. Jetzt war er nur noch eine Ruine, ein gebrochner, blöder Mensch.

Doch wo der Ruhm so manches Anderen gemeldet wird, darf ich auch Deiner nicht vergessen, edler »Heckenkonrad!« Denn wenn Du auch nicht gerade der Reinste in Gesicht, Händen und Kleidung warst, so warst Du doch der Unschuldigste von ihnen. – Der dicke Kopf und der stiere Blick des Heckenkonrad verrieth sofort den Cretin. Und doch hatte ihm einst der Gemeindevorstand die Heirathserlaubniß ertheilt. Aber, als er sich die nöthigen Papiere und den Proklamationsschein auf dem Amt geholt hatte und er sie triumphirend unter seiner Kappe heimtrug, kam ein großer Wind und jagte Kappe und Papiere in den Bach. Die Kappe bekam er wieder, aber die Papiere rissen die Wellen mit sich fort. Wenn man ihn jetzt[8] noch fragt: »Konrad, warum hast Du nicht geheirathet?« ist seine ständige Antwort: »das Glück ist mir fortgeflogen.« Aber noch immer sammelt er für seine künftige Heirath und nähet jeden Kreuzer, den er verdient, in das Futter seiner Hosen. Es mögen zwar diese Schilderungen den Leser ein wenig ermüden, aber es wäre doch unartig, die Damen ganz zu übergehen. Zumal darf »die Florentine« oder auch sonst »die Speckdine« genannt, nicht übergangen werden. Dazu wäre sie auch etwas zu groß, (denn sie mißt wohl eher etwas über als unter sechs Fuß) und die wasserblauen Augen zu schmachtend und der spitze Mund zu süß. Freilich thut die Magerkeit ihrer Liebenswürdigkeit etwas Eintrag. Ihr Fuß ist etwas sehr groß und breit, ihre Schultern etwas sehr schmal, ihr Hals etwas sehr lang und ihr Köpfchen etwas sehr klein, und nun hat sich auch ein Zöpfchen losgemacht, und der Wind treibt es hin und her. Sie hat früher ihre Nachtigallenstimme neben einer Orgel ertönen lassen und in ihre süßen Flötentöne mischte sich melodisch der dumpfe Baß ihres Geliebten. Aber der Geliebte verließ sie, und sie mußte einsam wandern mit der Harfe. Sie legte nun allen Schmerz getäuschter und alle Sehnsucht hoffnungsloser Liebe in ihre Lieder und stimmte andere schöne Seelen zu gleichem Schmerz, zu gleicher Sehnsucht. Aber die Harfe ward verstimmt und der Schmerz vertrocknete und die Einnahmen versiegten. Sie mußte Holzhändlerin werden. Aber noch immer sind ihre Augen schmachtend, und Abends in der Dämmerung singt sie zur Harfe.

Neben ihr ging »das Schnuckeschen«, eine alte Flamme »des Maulwurfs«. Die Zeit, die Alles verzehrt, hatte ihr nur noch einen Zahn gelassen. Dafür hatte sie ihr in den alten Tagen einen üppigen Bartwuchs gegeben, zum Theil um[9] das Kinn, aber auch zum Schrecken der Menschheit auf der Nase, um eine breite rothe Warze herum. Ihre tückischen, kleinen Augen, ihr verschrumpftes Gesicht und ihre hohe Schulter vermehrten nicht grade die Schönheit, doch soll sie, als »der Maulwurf« sie »Schnuckeschen« nannte, etwas reizender gewesen sein.

Etwas zurückgeblieben war »die Rothe«, nach Zigeunerart ein Kind auf dem Rücken und einen Rothkopf an der Hand. Sie war, wie ihr geduldiger Eheherr sagte, »etwas rasch mit dem Maul« und manchmal wäre sie, meinte er, doch »etwas gar scharf«. In Wirklichkeit galt aber von ihr, was der ungerechte Richter im Evangelio von sich rühmt: sie fürchtete Gott nicht und scheute sich vor keinem Menschen. Zucht und Scham hatte sie schon als Tanzmädchen in Californien gelassen und sah auch jetzt noch dieselben als etwas höchst Ueberflüssiges, ja Störendes an. Ein Schwarzwälder Uhrenhändler sagte mir einst: »Ich verkaufe schon dreißig Jahre Uhren und bin in aller Herren Länder gekommen und habe in viele Haushaltungen geblickt und weiß der Himmel! viel Frauen kennen gelernt. Lange habe ich die Lügengreth' von Niederallendorf für die Schlimmste gehalten, aber fürwahr, vor »der Rothen« müßte die klein beigeben. Das ist ja ein wahrer Satan. Ich glaube, vor der müßte der Gottseibeiuns selber die Segel streichen.« – Neben her trabte »der junge Maulwurf«, baarhäuptig und baarfüßig, mit Aermeln so blank, wie weiland der Spiegelschwab, die verrätherische Warze auf der Nase und den Wurstlippen.

Das war die ehrenwerthe Gesellschaft, zu der ich jetzt trat. Aber in ihrer Mitte schritt ein wirklich liebliches Mädchen, ein Bild von Schönheit, Gesundheit und unverdorbener Jugendkraft.[10] Mit ihren hellen blauen Augen, ihren langen, blonden Zöpfen, ihrem hohen zierlichen Wuchs und dem ächt jungfräulichen Wesen, was über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, bildete sie einen solchen Gegensatz gegen diese unsauberen, verkommenen Gestalten, daß man denken mußte: »Sie ist nicht in dem Thal geboren«, ein andrer Boden hat sie erzeugt, eine andere Sonne sie beschienen.

Es war Babette, die Tochter des versoffenen Schneiders Heimerdinger. Aber es war nicht blos ein schönes Mädchen, sondern auch edel und hoch begabt und von einer kindlichen Frömmigkeit. Ich kannte sie noch aus der Schule und der Confirmandenstunde her.

Ich war ein Stück Wegs mit ihnen gegangen, hatte einige gleichgültige Worte mit ihnen gewechselt und wollte eben voraus eilen, als Heimerdinger und seine Frau zu uns stießen, die an einer Waldecke auf uns gewartet hatten. Er spielte jetzt nicht mehr den Unteroffizier, sondern den stolzen Spanier, der mit seiner Sennora am Arm, jeder Zoll ein Cavalier, auf uns zugeschritten kam. Seine Frau schämte sich und wollte sich losmachen. Aber er duldete es durchaus nicht, sondern trat auf mich zu und redete mich leicht und vornehm an, indem er seinen Schnurrbart drehte: »Eine Reise gemacht, Herr Pfarrer? Hm – Bin früher auch gereist. Hab's jetzt aufgegeben. Man wird alt, Herr Pfarrer, man wird alt. Denke jetzt oft an die Reise in die Ewigkeit. Sind ja hier nur Fremdlinge und Pilgrime. Haben keine bleibende Stätte, sondern die zukünftige suchen wir. Spreche als manchmal, wie Paulus sprach: Habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.«

»Lästert nicht, Heimerdinger«, entgegnete ich ernst, »Gott läßt sich nicht spotten.«

[11]

»Herr Pfarrer! Ich werde verkannt. Alles verkennt mich. Mein Weib verkennt mich, meine Kinder verkennen mich. Sie verkennen mich auch. Ich habe ein butterweiches Herz und kann durchaus die Sünde nicht leiden. Wie oft sprach ich zu dem Maulwurf: »Alter! Alter! Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken« und zu dem Baron: »Die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden, und Hochmuth kommt vor dem Fall.« Sie meinen mit Ihrem Schelten gewiß den Branntwein, Herr Pfarrer! Ich weiß es. Sehen Sie, das hat seine eigene Bewandtniß. Alles hat seine zwei Seiten, nur die Buchecker hat ihrer drei. Und prüfet Alles; aber das Gute behaltet, spricht Paulus. Ich trinke gern Branntwein, das ist wahr; aber ich trinke auch gern Wein. Nun läßt unser Herr Gott für jeden Menschen seinen Theil Wein wachsen, hat mir einmal ein alter Mönch in Ungarn gesagt. Ich bekomme aber meinen Wein nicht. Und der Mensch hat doch Durst. So trinke ich als Branntwein. Und weil der Andere mir meinen Wein trinkt, so trinke ich seinen Branntwein und das von Rechtswegen. – Doch nun muß ich eins singen: Sie erlauben es, Herr Pfarrer! –

Der Branntewein, der Branntewein!
Das ist so mein Vergnügen.
Da saug' ich frisches Leben ein
In langen, langen Zügen.
Gluck, Gluck, Gluck,
Gluck, Gluck.
Des Morgens, wenn ich früh aufsteh',
Thu ich mein Gläschen trinken,
Und wo ich bin und wo ich geh' –

Herr Pfarrer! die Babette zupft mir fast den Kittel vom Leib und stört meinen Gesang. Sie ist ihrer Kindespflichten[12] durchaus nicht eingedenk. Ich werde ihr wohl eine kleine Ermahnung geben müssen. Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen, heißt es, und: Ehre Vater und Mutter, auf daß dir es wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Jetzt hast du Deines alten Vaters ganze Gesangesfreude vernichtet. Nun zieht die Sorge wieder in meine Brust, wie ich Euch ernähren sollte und nicht ernähren kann. O, ich möchte weinen!« Und damit liefen ihm wirklich die hellen Thränen die Backen herunter, zum lauten Gelächter seiner ganzen Umgebung. Ich aber war froh, daß wir in den Bereich des Dorfes gekommen waren und eilte auf einem näheren Pfade meiner Wohnung zu.


II.
Der verhängnißvolle Brief.

Des andern Morgens kam die alte Balzerswäs zu mir, beiläufig bemerkt: die reichste Bauersfrau aus dem Dorfe. Sie hatte etwas Wichtiges, denn sie hatte die Sonntagsnachmittagsschürze an und machte mir einen Teller voll rother Herzkirschen zum Geschenk. Nach einer langen Einleitung über das Wetter und über Dorfverhältnisse rückte sie denn auch endlich heraus.

Sie war die Woche, wie sie sagte, »auf dem Seminario« in J. gewesen, um ihren Sohn zu besuchen. Denn sie hatte so lange Jahre immer die Lehrer in Kost und Logis gehabt, daß sie mit Recht verlangen konnte, daß Einer ihrer Söhne sich auch dem Lehrerstande widme.

Es war schon spät Abends, als sie in J. ankam und sehr ermüdet, wie sie war, hatte sie auch nicht lange mit dem Schlafengehen[13] gesäumt. Und des andern Morgens lag sie noch in guter Ruhe, als ihr Sohn schon wieder »auf das Seminario« mußte. Da hatte sie sich aber auch schnell herausgemacht. Und weil sie nichts Anderes in seiner Abwesenheit zu thun wußte, fing sie an, in seinen Sachen zu kramen. Als sie aber einmal in's Kramen, Mustern und Ordnen gekommen war, wurden auch alle seine Siebensachen durchstöbert und ein Stück nach dem andern vorgenommen. Denn als liebende und sorgliche Mutter mußte sie Alles wissen und kennen, was ihren Sohn anging. So hatte sie auch eine Weste in die Hand bekommen und einen schadhaften Sack entdeckt und in dem schadhaften Sack einen Brief gefunden. Da war ihr denn sehr leid gewesen, daß sie ihre Brille zu Hause gelassen, denn ohne Brille konnte sie nicht mehr gut sehen. Aber die Neugier hatte sie doch nicht ruhen lassen. Sie hatte den Brief entfaltet und sich an's Fenster gestellt und endlich nach langem Buchstabiren die Unterschrift herausgebracht. Sie wollte aber ihren Augen nicht trauen, denn die lautete höchst sonderbar: Deine Dich bis in den Tod liebende Babette Heimerdinger. Da war just in aller Welt an niemand Anderes zu denken, als an des versoffenen Schneiders Töchterlein. Als ihr das aber erst so recht klar wurde und sie sich an Dieses und Jenes erinnerte, über das ihr jetzt erst ein Licht aufging, wurde es ihr bald heiß, bald kalt und sie meinte, sie bekäme das Gallenfieber. Sie konnte es kaum erwarten, bis ihr Sohn heimkam. Dann aber hatte sie es ihm gesagt. Sie meinte denn, sie hätte es ihm tüchtig gesagt. –

»Allen Respekt davor, Frau Balzer«, sagte ich, »ich hätte nicht an Ihres Sohnes Stelle sein mögen.« –

[14]

»Aber denken Sie an! Herr Pfarrer, er gab sich nicht.« Und um es noch kräftiger zu betonen, daß ihre so eindringliche Rede keinen Erfolg gehabt hatte, schüttelte sie ihr graues Haupt und sprach mehrmals hintereinander: »Nein, er gab sich nicht – nein, er gab sich nicht. Er sagte, er würde nicht von dem Mädchen lassen und wenn wir ihn enterbten. Nur der Tod könne sie scheiden.«

Und nun brach sie im Gefühle ihrer beleidigten Mutterwürde in einen Strom von Thränen aus, die sie mit der neuen Schürze abwischte.

Dann aber sich plötzlich emporrichtend, gab sie mir den Brief, dessen sie sich bemächtigt hatte. »Lesen Sie nur einmal! Da können Sie sehen, was das heilige Babettchen für ein sauberes Mensch ist! Wenn Gerechtigkeit wäre, müßte solch' eine Verführerin in das Zuchthaus.«

Ich las den Brief, während sie still fort weinte. Es leuchtete aus demselben eine zarte, innige Zuneigung zweier unverdorbener jugendlicher Herzen, die unbewußt mit ihnen aufgewachsen war. Es wäre die größte Grausamkeit gewesen, hier störend einzugreifen, selbst wenn man ein Feind von solchen Liebeleien war. Ich muß eben gestehen, daß ich sogar eine starke Sympathie für dieses Liebesverhältniß fühlte und mir die Nachricht davon eine Art Genugthuung und Freude erregt hatte. Denn sie waren Beide meine Lieblinge und ich hatte schon oft im Stillen gedacht, was das ein herrliches Paar gäbe, wenn das leidige Geld, Stand und Verwandtschaftsverhältnisse nicht wären. Darum sagte ich: »Aber liebe Frau Balzer, der Brief enthält ja durchaus nichts Böses und Schlechtes.« »Ei, Ei, Herr Pfarrer,« rief sie, »überlegen Sie doch einmal! Sie hat ja gar Nichts, auf der ganzen Gottes Welt[15] Nichts« – und immer mehr sich meinem Ohre nähernd und immer lauter schreiend, als könnte sie mir das schreckliche Verbrechen desto klarer machen, rief sie: »Sie hat ja gar kein' Sach' und kein Vermögen!« »Dafür haben Sie desto mehr,« erwiderte ich ganz ruhig. Nun gerieth sie aber in vollen Eifer und Zorn. »Sie sind freilich noch jung und unerfahren und haben den Verstand nicht wie unser eins. Darum kann man's Ihnen nicht so übel nehmen. Ei, das ist es ja gerade, daß wir einen schönen Wohlstand haben. Glauben Sie, man hätte sich den Rücken krumm und die Nägel von den Fingern gearbeitet, um diesem faulen, liederlichen Lumpengesindel das Maul zu schmieren? Glauben Sie, wir hätten alle die Unkosten nicht gescheut und unsern Ernst Schullehrer werden lassen, um ihn hernach an das Bettelmensch wegzuwerfen? Ich darf gar nicht daran denken, was es uns schon gekostet hat, sonst wird es mir schwindelig. Der ganze Beutel mit Kronenthalern, den ich und mein Balzer selig dafür zusammengespart hatten, ist fort. Wenn man die Schinken, die Wurst, die Butter und Eier erst rechnen wollte, die ich oder der Hanjost hinübergeschleppt haben und die feine Montur und das Weißzeug – es macht ja ein Heidengeld zusammen. Aber man thut es ja gern. Jedesmal, wenn mein Balzer selig einen Kronenthaler in den Beutel that, dann lachte er schon ganz stolz und sagte: »das ist für den Herrn Lehrer.« Es ist wahrhaftig gut, daß er diese Geschichte mit dem Ernst nicht mehr erlebt hat. Es hätte ein Unglück gegeben! – Aber ich sage es immer: er ist nicht schuld daran; er war ja sonst immer ein braver, gehorsamer Bub. Das Satansding hat ihn verhext. Sie müssen mir den Gefallen thun, Herr Pfarrer, und es kommen lassen und ihm gehörig die Leviten lesen über[16] seine Schlechtigkeit und ihm in's Gewissen reden, daß es den Ernst aufgibt. Es kriegt ihn doch nicht, so gewiß ich Balzern heiße!«

Ich entgegnete ihr hierauf mit ganzem Ernst, daß ich das durchaus nicht thun würde. Ueberhaupt bäte ich sie, von der Babette Heimerdinger mit mehr Achtung zu reden, denn diese verdiene es. Wenn die zwei jungen Leute ein Vorwurf träfe, so wäre es der, daß sie mit mehr Ueberlegung hätten zu Werk gehen, die Schwierigkeit der Verhältnisse bedenken und bei Zeiten die aufkeimende Neigung unterdrücken sollen. Sie hätten sich jedenfalls viel Kampf und Kummer erspart. Aber wer könnte solche Bedachtsamkeit von solcher Jugend erwarten? Nun sei es wahrscheinlich zu spät. Ich wolle sie zwar nicht hindern, das Ihrige zu thun, würde aber selbst ihr in Nichts die Hand reichen. Sie würde auch wahrscheinlich durch alle ihre Einwirkungen das Liebesfeuer nur noch stärker anblasen. Ich rieth ihr vielmehr, der Sache vor der Hand ihren Lauf zu lassen und nur ein wachsames Auge zu haben. Es könne sich ja noch ohne ihr Zuthun Alles anders gestalten. Sie solle auch ja nicht wähnen, das ihre Ansichten und Worte Gott besonders wohlgefällig wären. Ihr Geldstolz und ihr liebloses Urtheil seien vielmehr durchaus unchristlich.

Die Balzerswäs war mit diesem Bescheid gar nicht einverstanden. Sie sagte zwar nichts mehr, aber sie ging mit so unbefriedigtem Gesicht hinweg, daß durchaus nichts Günstiges für die Liebenden darin zu lesen war.

Der Brief, den ich leider sogleich wieder zurückgeben mußte, war etwa folgenden Inhalts, soweit ich mich auf mein Gedächtniß verlassen kann:

[17]

Theurer Ernst!
Vielgeliebter Schatz!

Ich ergreife die Feder, um auf Deinen schönen Brief zu antworten. Ich muß mich recht schämen, wenn Du die Kratzfüße siehst und die vielen Fehler, die ich mache. Ach, Du bist so hochstudirt und kannst gar so gelehrt schreiben und ich bin doch gar zu dumm. Ich weiß gar nicht, wie Du nur an mir Gefallen finden kannst. Aber, Du herzlieber Bub Du, Du kannst einem so herzig sagen, daß Du einen gern hast, daß man gar nicht mehr zweifelt. Und ich glaube Dir auch gar zu gern. – Weißt Du auch, daß ich Dir recht böse war, daß Du fragst, ob ich Dich noch gern hätte und mir die andern Buben nicht besser gefielen. Siehst Du, ich wäre gar nicht mehr Babette und Du nicht Ernst, wenn ich aufhören könnte, Dich zu lieben. Ich meine immer, der liebe Gott hätte uns direkt für einander geschaffen und deswegen wären unsere Herzen so ineinander gewachsen, daß sie gar nicht auseinander gerissen werden könnten, in alle Ewigkeit nicht.

Ach, wie war ich so traurig, als Du nun fortgingest nach J.! Ich glaubte, mein Herz würde mitten durchgeschnitten mit einem scharfen kalten Messer. Ich wäre auch damals gestorben, wenn Du nicht noch einmal gekommen wärst und hättest mir gelobt, Du wollest nicht von mir lassen, es müßte denn Gott uns auseinander reißen. Ich mußte in der letzten Zeit so Vieles denken. Und meine Gedanken waren so anders, als früher. Abends sitze ich oft in dem Hüttchen, weißt drunten unter dem alten Birnbaum an den Weiden am Bach, daß Du heimlich gemacht hattest und mit Moos gepolstert. Und Niemand hat es entdeckt. Aber wenn dann der Abendwind so durch den Wald hinrauscht und über das Gras fährt und die Unken[18] rufen und die Eulen schreien, dann wird mir's so grausig und ich muß an's Sterben denken und daß es uns noch schlimm, recht schlimm gehen kann.

Ach, Deine Mutter und Deine Brüder sind so stolz und mein Vater – mein Vater hat sich noch gar nicht gebessert. Ich fürchte immer, wenn Du einmal Herr Lehrer bist, bin ich Dir auch zu gering und Du schämst Dich meiner. Es war doch viel besser und schöner, als wir noch Kinder waren, wenn wir uns dort im Hüttchen über Alles besprachen und Du immer die schönen Geschichten wußtest aus den Büchern, die Dir die Schullehrer gaben. Ich mußte immer die verwunschene Prinzessin sein und Du warst dann der Prinz, der die Zauberer und Ungeheuer todt machte. Ein andermal wolltest Du Dir ein Schloß kaufen und Ritter werden und dann mußte ich irgendwo gefangen sitzen und dann hast Du mich befreit. Dann dachten wir, es könnte auch Alles so werden und es wäre dann so schön, so schön! Und denkst Du noch an jenen Sonntagabend, an der Guntramseiche, als wir zurückgeblieben waren und alle Burschen und Mädchen waren schon fort, und wie Du mich bei der Hand nahmst und sagtest: »Du bist mein Schulschatz gewesen und bist jetzt mein Schatz, aber ich will's nicht machen, wie die Andern – Du sollst auch meine Frau werden.« Und als ich Dir sagte: »das geht nicht, Deine Eltern leiden's nicht und Du kannst als Lehrer keine Holzdiebin heirathen;« da sagtest Du: »Du bist ja unschuldig, Deine Eltern zwingen Dich dazu, und meine Eltern müssen nachgeben. Ich lasse Dich nicht. Lieber werde ich gar kein Lehrer.« – Damals habe ich Wochen lang geglaubt, ich wäre gar nicht mehr auf Erden, ich lebte im Himmel. – Doch ich bin recht einfältig, daß ich lauter solche[19] Dinge schreibe, die Du schon lange weißt. Ich muß Dir recht kindisch vorkommen. Aber siehst Du, ich muß immer an diese Zeiten denken. Und manchmal denke ich: es geht nicht, es kann gar nicht gehen. Und dann denke ich wieder, was Du für ein guter, treuer Mensch bist. Und dann bin ich so glücklich, so selig. Aber manchmal bin ich auch so traurig, so unglücklich, daß ich Dir's gar nicht sagen mag.

Du wirst lachen über die Strümpfe, die ich Dir mitschicke. So ein Paar dicke Strümpfe mitten im Sommer. Aber ich denke, Du wirst ein Einsehens haben. Ich armes Mädchen habe ja Nichts und wollte doch Etwas mitschicken. Da habe ich die Wolle genommen, die mir meine Goth' vom Hauserhof zu Weihnachten geschenkt hat und habe sie Abends im Hüttchen gestrickt. – Weißt Du auch schon, daß der alte Fink, der Seelenverkäufer, wieder im Dorfe ist. Es wundert mich nur, daß so einen schlechten Menschen das Meer nicht verschlingt. Er war in Californien und hat erstaunlich viel Geld mitgebracht. Und die Mädchen, die mit waren, haben alle seidene Kleider und goldene Ringe, wer weiß wie! Und sie tragen's alle Sonntage und schämen sich nicht.

Ach, Du lieber himmlischer Gott, wenn doch meine Eltern nicht auf den Gedanken kommen, mich auch zu verschachern. – Ich glaube, ich würde es nicht erleben.

Schreibe bald einmal wieder. Es ist mir in letzter Zeit oft so ängstlich und so bang, als müßte bald ein Unglück geschehen. Nun Gott wird helfen! Ich grüße Dich und küsse Dich vieltausendmal, Du herzlieber Schatz.

Deine Dich bis in den Tod liebende

Babette Heimerdinger.


[20]

III.
Der alte Fink.

Die Furcht Babettens vor dem alten Fink war durchaus nicht unbegründet. Es war nicht die eitle Besorgniß eines liebenden Herzens, das im Bewußtsein der Wandelbarkeit des Glücks Alles schwarz sieht. Sie kannte die Dorfverhältnisse, kannte ihre Eltern und kannte den alten Fink. Und ehe sie noch diese Unglück ahnenden Zeilen niederschrieb, hatte bereits der kundige Blick des alten Fink mit Wohlgefallen auf ihrer herrlichen Gestalt geruht. Und ehe Ernst erfuhr, daß der alte Fink da sei, war Babette schon für ihn verloren. Denn da hatte der alte Seelenverkäufer bereits den festen Entschluß gefaßt, daß sie um jeden Preis sein werden müsse für Californien und erwog schon die Mittel, die ihm zu Gebote ständen und war im Geheimen außerordentlich thätig.

Um dieses jedoch recht zu verstehen, muß der Leser noch einen Blick in das Dorf thun. Einen Theil der Ortsbewohner hat er zwar schon kennen gelernt, aber nur den unwichtigeren, die Invaliden, die Ruinen. Die Landgänger, die dem Dorf seinen eigenthümlichen Charakter verleihen, kennt er noch nicht. Aber wenn er sie kennt, dann müßte kein deutsches Christenherz in seiner Brust schlagen, wenn es nicht überflösse vor Zorn und Ingrimm über diese Schmach und diese Schändung des deutschen Namens. Das Landgängerdorf liegt sonnig und anmuthig auf den nordwestlichen Abhängen des Taunus, mit einem weiten Ausblick bis in die Gegend von Gießen und Marburg. Rings ist es umgeben von einem grünen Kranz von Buchen- und Eichenwäldern, der sich gar lieblich ausnimmt[21] zu den rothen Ziegeldächern und den schön bemalten Häusern, etwa wie ein grüner Brautkranz zu den erröthenden Wangen einer geschmückten Braut. Freilich ist es eine gewagte Sache, hier von Brautkranz zu reden, wo längst alle Bräutlichkeit und Jungfräulichkeit in wüstem, schändlichem Treiben untergegangen ist. Aber es hat ihn doch einst verdient und kann ihn vielleicht wieder verdienen. – Wer heutzutage kommt, um Land und Leute zu beobachten, der muß im Spätherbst oder Winter kommen. Erst wenn die Blätter fallen und die Schwalben heimwärts ziehn, kehrt auch der Landgänger heim. Im Sommer sind die meisten Häuser unbewohnt und Thüren und Läden geschlossen. Man trifft nur hier und da einen Ackersmann im Feld. Alles ist so still und leer, wie ausgestorben. In der Umgegend heißt es: »Nur die alten Weiber und Schulkinder sind daheim.« Erst wenn es draußen im Feld und Wald stille wird, wird es im Dorfe laut und lebendig. Hier rauscht ein rasselndes Tambourin, dort klagt eine einsame Violine; hier orgelt eine Harmonika die neuesten Lieder, dort übt sich ein ganzes Orchester. Dazwischen tönen dann die gellenden Stimmen keifernder Weiber, schreiender Kinder, das Fluchen der Männer, das Singen und Juchzen der Jugend. Die Männer sind meistens im Wirthshaus bei Karten, Würfeln und starken Getränken. Es ist, da ein wildes Lärmen und Gedränge, und englische und französische und ganz fremdtönende Flüche schallen durcheinander. Goddam und sacré Dieu heißt es herüber und hinüber; denn im Dorfe werden fast alle europäischen Sprachen gesprochen, vorzugsweise aber englisch und französisch. Mancher Junge und manches Mädchen müssen erst in Deutschland deutsch sprechen lernen. Aber auch die Weiber bleiben hier nicht im Hause.[22] Kochen und alle weiblichen Handarbeiten sind ihnen ein Gräuel, dem sie sich nur im Nothfall unterwerfen. Man kann sie zu allen Tageszeiten in größeren und kleineren Gruppen schwatzend zusammenstehen sehen. Am liebsten sammeln sie sich jedoch zu Kaffee- und Theekränzchen, wo Mürbes und feines Gebäck geschmaust und sehr oft süßer Branntwein getrunken wird. Es sind meistens große, üppige Gestalten. Doch haben auch Viele ein gar krankes, armes Aussehen in Folge ihres Lasterlebens. Ihre Kleidung ist, wenn sie die übliche Landestracht abgelegt haben, oft sehr reich, aber geschmacklos und ungeordnet. Man merkt eben, daß sie auf dem Trödelmarkt gekauft oder durch Bettel zusammengebracht ist. Die Jungen wollen nicht hinter den Alten zurückbleiben. Darum versammeln sich auch Burschen und Mädchen, aber besonders in solchen Häusern, wo Niemand eine Autorität geltend machen kann und will und gar keine Aufsicht herrscht. Hier wird denn getanzt und gespielt. Auch fehlt es nicht an berauschenden Getränken. Und ungescheut und ungestraft geben sie sich allen möglichen Zügellosigkeiten hin.

Um die zahlreichen Kinder kümmert sich Niemand. Die wälzen und balgen sich ungebändigt auf den Straßen umher – ein hoffnungsvolles, heranwachsendes Geschlecht! So geht es den ganzen Winter in Saus und Braus. Da wird geschlachtet, gebacken, gesotten und gebraten; da wird getrunken, gesungen und getanzt, bis der Schnee schmilzt und der Boden aufthaut und die erste Lerche trillert. Dann ist keine Ruhe mehr unter dem Wandervölkchen. Dann verstummen die Gesänge und die Harmonika's. Und wenn der Kukuck schreit, und die erste Schwalbe kommt, ist Niemand mehr da von diesen Zugvögeln. Aber was treiben sie draußen? und wo ist der[23] Schauplatz ihrer Thätigkeit? Ihre Thätigkeit lassen sie sich nicht gerne beschränken. Sie besuchen alle bekannten und zugänglichen Theile der Erde. Doch beehren sie am liebsten den Westen: England, Frankreich, Amerika, Californien. Indessen ist Australien auch recht beliebt unter ihnen. Der alte Fink hat sogar bereits China und Japan bereist.

Ueber ihre Beschäftigung sprechen sie sich nicht gern aus. Doch ist man darüber durchaus nicht im Unklaren. Die Männer treiben hauptsächlich Handel und Musik. Die Kinder betteln. Weiber und Mädchen leben vom Tanz oder von noch schlimmeren Dingen. Damit soll nun nicht ausgeschlossen sein, daß nicht auch die Männer betteln und die Weiber nicht auch öfters hausiren gingen und Musik machten.

Da wird bereits aller Sitte und Zucht Hohn gesprochen. Die Familienbande sind gelöst. Eheliche Liebe ist nicht da. Kindliche Pietät muß zu Grunde gehen. Die heiligsten Triebe werden geschändet und gemordet. Aber noch schändlicher – weil hier die Bettelei und die Prostitution gewerbsmäßig betrieben wird – ist die Seelenverkäuferei. Sie wird aber nur von den kühneren Naturen und solchen, die über ein Kapital zu verfügen haben und zwar auf eine doppelte Weise ausgeführt.

Die unbedeutenden Art ist die, daß Kinder zum Betteln zusammengemiethet werden, wofür die Eltern sehr anständige Summen erhalten. Hierbei werden die Reisen nicht besonders weit ausgedehnt. Der Norden Deutschlands, Schweden und Rußland sind gewöhnlich die Zielpunkte der Unternehmung. Die Kinder werden natürlich zur Verstellung, zum Lügen und Stehlen professionsmäßig angelernt – ein schöner Same für die Zukunft! Sie sind dabei vollständig in die Gewalt und Willkür roher gewissenloser Menschen gegeben und müssen Unsägliches[24] erdulden. Jedes kann Gott danken, wenn es wohlbehalten die Heimat wieder erreicht.

Von dem Raffinement und der Frechheit dieser Bettelfahrer nur ein Beispiel: Eine deutsche Prinzessin, in's russische Czarenhaus verheirathet, hatte einst besonderes Wohlgefallen an so einem blondlockigen rothbackigen Mädchen gefunden. Dieses Wohlgefallen aber mußte sie büßen, indem man ihr dafür die Verpflegungskosten einer langwierigen Krankheit und endlich das Geld zum Begräbniß abschwindelte. Und während die Prinzessin ihre Dukaten hergab und Thränen über die Leiden und den Tod ihres Liebling weinte, war derselbe frisch und gesund. Von größerer Bedeutung und Ausdehnung ist die andere Art von Seelenverkäuferei: das Miethen von Tanzmädchen, oder wie die Amerikaner sie nennen: Hurdy-Gurdy's. Es sind dabei reichlichere Auslagen und mehr List, Muth und Geschick nöthig. Es werden aber auch ganz enorme Summen verdient – zwanzig- bis dreißigtausend Thaler haben Etliche schon nach wenigen Jahren mit heimgebracht. An Mädchen fehlt es nur selten. Denn auch vermögendere Bauern und Pächter geben ihre Kinder her und die Armen helfen sich dadurch aus ihren Schulden. Es handelt sich fast nur um den Preis. Die Mädchen wissen es nicht besser. Sie werden in die Seehäfen Nord- und Südamerika's, nach Australien, ganz vorzüglich aber nach Californien gebracht. In den dortigen Tanzhäusern dienen sie den spitzbübischen Wirthen und Dienstherren als Lockvögel, um den leichtsinnigen Matrosen, Goldgräbern und Bergleuten die vollen Taschen auszuleeren. Und aller Humbug der neuen Welt und alle Gaunerei der alten Welt wird dabei angewendet.

[25]

Aus den Mädchen haben bald Mißhandlungen und hitzige Getränke die letzten Reste von Scham hinausgetrieben. Und die meisten dieser leichtfertigen Geschöpfe geben sich von ganzem Herzen dem zuchtlosen Leben hin. Es muß übrigens ein schmähliches Gewerbe sein, denn keine Nation der Erde – auch die gesunkenste nicht – liefert Contingent dazu. Die Hurdy-Gurdy sind nur Deutsche, nur Rheinländerinnen.

Die Armuth war die Grundursache dieser auffallenden, aber entsetzlich traurigen Erscheinung und ist es zum Theil noch jetzt. – Man hat sich gewöhnt, die Armuth von einer gewissen idyllischen Seite anzusehen. Wer sie aber so ansieht, den hat die Noth mit ihren hohlen Augen und hohlen Wangen noch nicht ernstlich angeblickt; dem hat der Hunger noch nicht in den Gedärmen gewühlt. Kein Brod und keine Arbeit – ist schrecklich! Und der weise Salomo wußte recht gut, was er that, als er sich keine Armuth erbat. Vor hundert Jahren war noch Arbeit im Dorf: Bergmannsarbeit und Wollspinnen. Aber es kam eine Zeit, da war keine Arbeit mehr da. Und es war eine Zeit unbeschreiblichen Elends. Da machte sich ein Mann, kühner und energischer als die Andern, auf, um mit Fliegenwedeln, jenen bekannten, aus weichem Holz geschnitzten, faserigen kleinen Besen einen Handel zu treiben. Er brachte viel Geld heim. Und er zog weiter und weiter den Rhein hinab bis zu den Mynheers, wo man sein Deutsch nicht mehr verstand. Und wieder brachte er viel Geld heim. Plötzlich stand er als ein zweiter Columbus vor dem atlantischen Ocean, denn er war fest entschlossen, hinüber zu segeln und drüben war ihm lauter unbekanntes Land. Zuerst kam er nach England. Und John Ball bezahlte das unbekannte Fabrikat generös. Da war es, wie er heimkam,[26] als hätte er das Goldland entdeckt. Und nun zogen seine Schwiegersöhne und deren Verwandte und Freunde mit. So ging es weiter und weiter. Erst gingen die Schwiegersöhne, dann das ganze Dorf und zuletzt die ganze Umgegend. Erst lernten sie die Straßen der großen Weltstädte kennen und die großen Häuser, dann die leichten Sitten und die Verderbniß, und zuletzt wurden sie so schlecht, wie der schlechteste Auswurf derselben. Erst handelten sie mit Fliegenwedeln, dann mit andern Waaren, dann kamen sie zur Musik und Bettelei, dann zur Prostitution und zuletzt zur Seelenverkäuferei. Und so kommen wir denn auch wieder auf den alten Fink. Er war durch den kühnen Unternehmungsgeist, mit dem er alle Schwierigkeiten, die diesem elenden Gewerbe entgegenstanden, leicht und schnell beseitigte und durch den Erfolg, der ihn bisher begleitet hatte, unstreitig das Haupt der Seelenverkäufer in der Gegend. Und als solcher genoß er bedeutendes Ansehen und Einfluß, statt Verachtung und Abscheu. Denn das Geld ist in diesen armen Walddörfern allmächtig. Aber was halfen ihm die Tausende von Dollars, die er heimbrachte? Ein reicher Mann ist er doch nie geworden. Es war kein Segen in dem Geld. Er hatte sich zwar einen Landsitz gekauft, ein schönes Haus und schöne Aecker, aber er hatte einen etwas nachlässigen Verwalter an seinem Schwiegersohne. Der ließ die Aecker brach liegen, wenn der Schwiegervater fort war und machte Schulden auf Schulden. Und wenn Niemand mehr borgte, verkaufte er das Vieh aus den Ställen und das Gras von den Wiesen. Wenn aber Alles fort war, was beweglich war, mußten die Oefen dran und die Fenster und die Stallthüren. Bei der Heimkehr des alten Fink sah es in der Regel am häuslichen Herd ziemlich[27] unfreundlich aus und er mußte jedesmal tief in den Geldbeutel steigen, um Alles wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Es setzte dann auch scharfe Auftritte ab. Einmal flog sogar dem Schwiegersohn eine Kugel hart am Kopfe vorbei und schlug in die Wand. Aber das nächste Mal war es doch wieder so. Ebenso brauchte aber auch der alte Fink für seine eigene Person schon ganz ansehnliche Summen. Er aß und trank gern gut, war sehr gesellig und spielte gern den großen Herrn. In seinem Hause hielt er offene Tafel. Im Wirthshause waren die, die an seinem Tische saßen, stets seine Gäste. Bei Kirchweihen und Märkten gingen Hunderte drauf. Als es ihm einmal eines Morgens an Gesellschaft fehlte und eine Anzahl Holzhauer vorübergingen, rief er diese herein, bezahlte Jedem einen Gulden Taglohn und bewirthete sie bis spät in die Nacht hinein. – Diesmal war er zu seinem besonderen Malheur zur Sommerszeit heimgekehrt und hatte sich von einem heimischen Badeorte fesseln lassen, während Frau und Mädchen bereits nach Hause waren. Bald war er dem allgemeinen Strome zur Spielbank gefolgt. Er hatte anfangs viel Glück und lebte ein paar Tage herrlich und in Freuden. Aber auf einmal wandte sich das Spiel und er verlor Alles – Alles, so daß er nicht einmal den Wirth bezahlen konnte und zu Fuß heim wandern mußte. Zu Hause wurde er nicht sehr aufmunternd von seiner Frau empfangen, die, von Geburt eine Schottin, als Geizdrache allgemein bekannt war. Sie hatte zwar schon bei Zeiten einen schönen Nothpfennig zurückgelegt, aber es war hart für den alten Fink, von ihrer Barmherzigkeit leben zu müssen. Er lebte bereits in zweiter Ehe. Seine erste Frau war auf eine schauerliche Weise in Australien um's Leben gekommen. Er[28] war damals noch kein Seelenverkäufer. Aber er war immer unternehmend. So war er von Adelaide aus mit seiner Frau zu verschiedenen Malen unter die Eingebornen gegangen. Seine Frau hatte sich in einen phantastischen verlockenden Anzug gehüllt und trug ein Branntweinfäßchen auf dem Kopf. Er war dagegen mit Harmonika und Revolver bewaffnet. Wenn sie nun einen Lagerplatz der Eingebornen erreicht hatten, wurde der Branntwein ausgetheilt, und während sich dieselben berauschten, ließ er Lieder und Tänze erschallen und seine Frau sang, tanzte und machte allerhand Gaukeleien. Ihre Einnahmen waren außerordentlich, weil sie Goldkörner für den Branntwein erhielten. Aber als einmal der Golddurst erwacht war, waren sie hiermit nicht mehr zufrieden. Ihnen glänzten die Goldklumpen, die die Eingebornen in Nase und Ohren trugen, zu sehr. Sie thaten betäubende Dinge in den Branntwein, und als nun Alles berauscht und betäubt da lag, schnitten sie die Ohren- und Nasenzierden ab. Es gelang ihnen auch ein-, zweimal. Aber sie hatten dadurch die Eingebornen in Wuth gebracht, und als sie es zum dritten Mal versuchten, wurden sie überfallen und nur mit Mühe entkam er allein. Seine Frau blieb in den Händen der Kannibalen zurück. Den nächsten Tag fand er ihren furchtbar verstümmelten Leichnam. – Die mit dem Blut seiner Frau erkauften Goldkörner wurden das Kapital zu seinem Seelenhandel.

Sein Verhältniß zu dem Bürgermeister des Dorfes war fast zärtlicher Natur. Sie waren Schul- und Jugendfreunde. Eine Leidenschaft und ein Streben vereinigte sie. Wenn sie nicht Freunde waren, mußten sie Nebenbuhler sein, denn sie waren gleich groß im Trunk und Kartenspiel und in ihrer Begeisterung für das schöne Geschlecht. Dieses innige Band[29] der Freundschaft hatte sich im Alter nicht gelöst, so wenig wie ihr Bestreben und ihre Begeisterung aufgehört hatte. Es war sogar noch inniger geworden, je mehr sie sich gegenseitig nöthig hatten. Der Bürgermeister brauchte Geld für seine kostspieligen Liebhabereien und der alte Fink brauchte obrigkeitlichen Schutz.

Sie standen jetzt Beide in den Sechzigen und waren ein ausgesuchtes Paar. Der alte Fink, eine kurze gedrungene Gestalt mit einem Körper von Stahl. Denn alle Klimate der Erde und ein wüstes, ausschweifendes Leben hatten an ihm gerüttelt, aber er schritt noch so fest einher, wie ein Jüngling. Er glich in seinem Auftreten einem behäbigen, gemüthlichen Bürgersmann, und seit sein Haar schneeweiß war, hatte er sogar etwas Ehrwürdiges.

Der Bürgermeister dagegen war ungewöhnlich lang und schwank und trug eine Nase im Gesicht von einer überraschenden Größe, Schwere und Röthe. Es war, als hätten sich alle Nasen seiner ungnädigen Vorgesetzten zu einer Nase vereinigt und diese spielte nun in allen Farben des Regenbogens. Ueber dieser Urgroßmutter aller Nasen thronte eine Brille mit dicken, großen Gläsern, in der eigentlich der Zauber seiner bürgermeisterlichen Würde verborgen lag. Denn wenn er redete, schob er sie auf die Stirne und zog die Nase herunter. Auf diese Weise erhielt sein Gesicht eine Wichtigkeit, daß die hohen schnorrenden Nasentöne, die nun hervorkamen, ihre Wirkung nicht verfehlen konnten. Er war gewöhnlich schweigsam, denn so kostbare Waare, wie seine Worte, durfte nicht wohlfeil werden. Sein Gewissen lag in einem Branntweinsglas und kam nur dann wieder zum Vorschein, wenn man nicht frischen Branntwein darüber goß. Er war von Morgens bis Abends[30] im Wirthshaus – wahrscheinlich um Ordnung zu halten; machte auch dort seine Geschäfte ab. So sagte man in der Umgegend: Wer den Bürgermeister von F. sehen will, muß ihn durch ein Schnapsglas betrachten.

Im Winter war eigentlich seine fette Zeit; im Sommer lag er oft brach und mußte sich mit Holzfuhrknechten, mit Scheerenschleifern und allerhand Gesindel, was gewöhnlich auf der Grenze umherspukte, begnügen.

Wenn wir übrigens das Rathen und Thaten dieser zwei Helden näher betrachten wollen, müssen auch wir sie im Wirthshaus aufsuchen.


IV.
Im Wirthshaus.

Als ich mich der Theologie widmete, dachte ich auch nicht, daß ich bald nach meinem Amtsantritt den Kochlöffel in die Hand nehmen müßte und daß mein nächstes Studium – »Henriette Davidis« sein würde. Aber es war so. Mein Kosthaus wurde mir aufgekündigt; ein anderes Haus, wo man mit Appetit essen konnte, war nicht da; einen Koch zu halten, erlaubte meine Besoldung nicht; verheirathet war ich nicht. Es blieb mir also, wenn ich warme Speisen haben wollte, nichts Anderes übrig, als selbst zu kochen. Freilich kostete es einige Ueberwindung und Bedenken. Aber ich dachte: das Kochen wird wohl auch keine Hexerei sein und machte mich frisch an's Werk. Und siehe da! – es ging. Es kamen natürlich vorerst eine Menge Fehlversuche vor. Da war es denn gut, daß ich meinen alten, treuen Anton Scheppler hatte. Der aß die mißglückten Produkte meiner[31] Kochkunst mit einer Selbstverleugnung und einem Appetit, der wohl besserer Leckerbissen werth gewesen wäre. Im Augenblick bildete er mein ganzes Dienstpersonal. Er war meine Magd, mein Kammerdiener und mein Auslaufejunge. Doch theilte ich seine Thätigkeit mit der Kirche und der Gemeinde. Denn er bekleidete noch das Amt eines Küsters, eines Ortsdieners und eines Nachtwächters. Wenn er außerdem noch einen Verdienst bekommen konnte, nahm er den auch noch mit. Denn er hatte allein die Obliegenheit, eine ziemlich starke Familie zu ernähren. Seine Frau sagte: wenn sie arbeiten wollte, hätte sie ihn nicht genommen; da hätte sie auch daheim bleiben können, da hätten sie Arbeit genug gehabt. Sie war eigentlich schon sein zweiter Heirathsversuch. Sein erstes Ehegespons, die schön und sauber war, »daß man sie auf jeden Markt führen konnte«, wie er sich ausdrückte, war ihm bei einem Ausflug nach England mit einem Riesen, den man in einem Marktflecken für Geld zeigte, durchgebrannt. Mit der zweiten ging es auch nicht recht. Er hatte Unglück mit den Weibern, der gute Anton. Aber die Liebe, die er zu seinen Kindern zeigte, seine Ehrlichkeit und Anhänglichkeit machten ihn mir wirklich theuer. Auch besaß er ein ganz ungewöhnliches Erzählertalent, womit er mir schon manchen Abend erheitert hatte. So saß er wieder einige Tage nach den schon erzählten Auftritten eines Abends bei mir und kaute mit beiden Backen an einem Kalbsragout, was ich des Morgens etwas zu steif gekocht hatte. Ich hatte, scheint es, ein wenig zu viel Mehl daran gethan, denn es wurde allmählich so dick, daß ich es nur mit Mühe aus dem Topfe herausbrachte. Ich hatte ihm in der Angst, es könnten Stickanfälle vorkommen, ein Glas Dünnbier dabeigestellt. Aber es erwies[32] sich als vollständig unnöthig, denn er schnalzte und schmatzte so nachdrücklich, daß ich alle Minuten glaubte, er würde mich um das Rezept von dem kostbaren Ragout angehen. Das Bier sparte er sich auf zu der Pfeife, die er sich jetzt stopfen durfte. Und nachdem diese brannte und er einen herzhaften Schluck genommen hatte, sagte er: »Herr Pfarrer, wenn der Babette Heimerdinger Gefahr drohete, würden Sie Etwas für sie thun?«

»Ich würde alle Kräfte aufbieten, sie zu retten,« antwortete ich. »So denke ich auch. Weiß Gott, ich habe an dem Mädchen einen wahren Narren gefressen. Sie ist die Schönste und die Beste im Ort. Sie ist hülfreich und tugendhaft. Wenn ich in ihr Gesicht sehe, dann ist mir es, als wenn die Sonne aufging. Und wenn sie mir Morgens begegnet und sagt so freundlich: »Guten Morgen, Anton«, dann, meine ich, könnte mir den ganzen Tag kein Unglück passiren.«

»Wenn das Eure Frau wüßte, Anton!« »Das darf sie wissen. Darin ist sie mit mir einig. Sie sagt oft selbst: Das ist ein Goldmädchen; dem wünschte ich einmal einen ordentlichen Mann und keinen solchen Dreidrath. Damit meint sie mich.«

»Das merke ich«, sagte ich lachend.

»Sie ist so gut auf die Babette zu sprechen, weil sie nie an unsern Kindern vorbeigeht, ohne sie zu streicheln und ihnen Etwas zu schenken, oder das kleinste auf den Arm zu nehmen und zu küssen. Es wäre mir leid, wenn der alte Fink das Mädchen bekäme.«

»Ist denn Etwas im Gang?« fragte ich ganz erschrocken.

»Ei freilich. – Sehen Sie, Herr Pfarrer, ich will nicht besser scheinen als ich bin. Ich war auch draußen im Land[33] und habe an zehn Jahre lang die Orgel gedreht. Aber mit den Mädchen, das ist einmal unrecht. Sie wollen es zwar Alle nicht gesagt haben, aber hier darf ich es sagen. Und es ginge mir ein Stück vom Herzen weg, wenn die Babette auch so eine verdorbene Person geben sollte.«

»Was ist denn eigentlich geschehen? So redet denn doch einmal.«

»Etwas ganz Besonderes ist es nicht. – Die Wirthsleut' mußten heut all' in's Feld, drum sagte die Annelies zu mir: Anton, sagte sie, der Schnapskrug steht auf dem Schrank und das Bierfäßchen liegt angesteckt im Keller. Wenn Jemand kommt, dann gib ihm, nur dem Förster Köhler nicht; der borgt alle Welt aus und bezahlt nicht. Ich sagte: Schon gut. Ich that's ja nicht zum ersten Mal.

Es war des Morgens schon früh heiß und ich setzte mich unter den Lindenbaum vor dem Haus in den kühlen Schatten. In der Wirthsstube waren der alte Fink und der Bürgermeister gar eifrig im Gespräch, und von Zeit zu Zeit riefen sie mich hinein, daß ich die Schnapsgläser wieder füllte. Das Fenster stand auf und ich konnte jedes Wort verstehen, ohne daß ich horchte.

»Kommt der Heimerdinger?« fragte der alte Fink.

»Er kommt!« antwortete der Bürgermeister und lachte selbstgefällig dazu. – »Hast ihn bestellt?«

»Nein, aber du wirst sehen: er kommt. Zehn Pferde hielten ihn heut nicht aus dem Wirthshaus.«

»Nun, so sprich, alter Sünder! Brauchst bei mir nicht so wichtig zu thun mit deiner Klugheit – wir kennen uns.«

»Es ist ja weiter nichts. Ich habe ihm nur heute früh im Vorbeigehen gesagt, Du hättest die Schuldverschreibung[34] von seinem Haus und wolltest sie aufkündigen. Den Schrecken und den Brast, den ihm das macht, kann er nicht ohne Schnaps bewältigen. Wirst sehen. Aber hast Du auch die Verschreibung?«

»Freilich habe ich sie und theuer genug. Das Lumpenpapier kostet mich fünfhundert Gulden. Du hast Dich auch einmal wieder verrechnet mit dem »Krämerheimbuk«, – alter Schlaukopf. Der ist so gescheut wie ein Mensch. Als ich so zu flankiren anfing und von der Schuld sprach, die der Heimerdinger bei mir hätte und wie mir es lieb wäre, wenn ich Alles beisammen hätte, damit ich ihm besser zu Leib rücken könnte, wußte er gar nicht, was ihn das anging. Und als ich ihm geradezu sagte, ich wüßte, daß der Heimerdinger ihm sein Haus verschrieben habe, gab er lauter ausweichende Antworten. Und je mehr ich drängte, desto zäher wurde er. Endlich als ich zornig ward und fortging und die Thür hinter mir zuwarf, daß das Haus zitterte, ward er manierlich. Er rief mich zurück und wir wurden handelseinig. Aber ich mußte dem Halunken die rückständigen Zinsen und noch fünfzig Gulden extra bezahlen. Der Heimerdinger will auch noch etwas Baar in die Finger haben. Das Mädchen kostet mich sechshundert Gulden, so gut wie einen Kreuzer. Was machte meine »Alte« Augen, als sie so viel herausrücken mußte! Ich habe auch mein Lebtag noch nie soviel gegeben. Die »Anne-Mile« war die theuerste und die kostete vierhundert Gulden. Mit dem Heimerdinger hätte es alle die Umstände nicht gebraucht, aber die Frau, die Frau! Die ist nicht anders zu ködern. Aber das Haus läßt sie nicht, denn sie ist merkwürdig stolz.«

»Baue nicht zu sicher d'rauf, sagte der Bürgermeister. Es sind Weiber. Und die Babett bringst Du gar nicht in Rechnung.«

[35]

»Ein Gewitter soll Dich und Alle verzehren«, schrie da der alte Fink, »wenn der Anschlag mißlingt und ich die Babett nicht bekomme. Ich muß sie haben und wenn ich einen Mord thun müßte! Du weißt, wie es mit mir steht. Ich muß Geld haben, sonst bin ich verloren. Ich spüre auch schon das Alter in den Knochen. Es wird meine letzte Reise sein und da will ich Etwas für meine alten Tage haben. Zehntausend Dollars muß sie mir wenigstens einbringen.«

»Bist Du denn der anderen sicher?«

»Die habe ich sicher und schon bezahlt.«

Ueberdem trat Heimerdinger in die Stube. Er grüßte kleinlaut und setzte sich an einen Tisch, den ich von außen recht gut überschauen konnte. Die zwei Anderen belauerten ihn wie zwei Raubthiere, stellten sich aber, als kümmerten sie sich gar nicht um ihn.

Er that einen tiefen Zug Schnaps aus dem Glas, das ich ihm hingestellt hatte. Dann aber, als hätte er Gift getrunken, stieß er das Glas so heftig auf den Tisch, daß es fast ganz verschüttet ging und auf dem ganzen Tisch herumlief.

Es war still im Zimmer, aber es war keine wohlthuende Stille. Mir war so unheimlich, wie wenn schwere Gewitterwolken am Himmel hängen und kein Blatt sich regt in der schwülen Luft.

Heimerdinger stierte auf den Tisch. Dort war eine Mücke, frecher wie die andern, dem auf dem Tische liegenden Branntwein nahe gekommen. Aber der starke Duft hatte sie betäubt. Sie war hineingefallen. Ihre Flügel wurden naß, und nur mit Mühe schleppte sie sich eine Weile weiter. Endlich ganz betäubt und ermüdet sank sie hin und ersoff. Heimerdinger hatte mit großer Aufmerksamkeit und Aufregung zugesehen.[36] Jetzt sprang er auf, schlug sich wider die Stirn und rief, als wenn er unsinnig geworden wäre: »Mein Bild – mein Bild! – Verflucht will ich sein, wenn noch einmal so ein gottverdammtes Glas an meine Lippen kommt.«

»Man meint, Du wolltest schon in aller Frühe eine Comödie aufführen. Bist und bleibst der lustige Heimerdinger«, sagte der alte Fink so kalt und spöttisch, daß ich ordentlich grimmig wurde über ihn.

Heimerdinger fuhr auf, als erwachte er aus einem wüsten Traum. Einen Augenblick starrte er auf die Beiden, dann sank er auf seinen Stuhl zusammen wie ein zugeklapptes Taschenmesser.

Nach einer Weile unterbrach wieder der alte Fink das Stillschweigen: »Heimerdinger, Du bist ein Esel!« rief er mit seiner tiefen und starken Stimme, daß es ordentlich schallte. Dem aber schoß auf einmal alles Blut in's Gesicht. Ganz rasend sprang er auf und faßte den alten Fink an der Gurgel, aber der baumstarke Fink drückte ihn zusammen, wie ein Kind, schüttelte den vor Wuth Zitternden und schrie: »Ruhig, sage ich, ruhig!« Dann schob er ihm sein Glas zu und sagte: »Da trink! – Und nun sage ich noch einmal: Du bist ein Esel, weil Du Dir helfen kannst und thust es nicht! Bist Du denn noch der alte, fidele Heimerdinger? Ich kenne Dich nicht wieder. Ich dachte, wenn es Einer im Dorfe leicht nimmt, daß Alles d'rauf geht, so ist es gewiß der Heimerdinger. Jetzt thust Du aber gerade, als wäre es mit Dir Mathäi am Letzten. Lustig, sag' ich, immer lustig! So trink doch, Du Schwerenöther! Und wenn Du kein Geld hast und der Wirth nicht mehr borgt, so hast Du noch gute Freunde. Hier hast Du ein paar Thaler.«

Heimerdinger war wieder in seinen Trübsinn verfallen.[37] Er hatte das Schnapsglas nicht angerührt, obgleich er den Blick nicht von ihm wenden konnte. Als ihm aber der alte Fink die Thaler aus seinem Beutel hinschüttete, hatte er plötzlich aufgeschaut und ihn mit großen Augen angesehen. Er nahm jeden Thaler in die Hand und wog ihn. Es war, als wolle er es nehmen. Plötzlich schob er es aber wieder zurück und sagte: »Glaubst Du, ich wüßte nicht, wo Du hinauswillst, warum Du die Verschreibung an Dich gebracht hast und nun das Geld einforderst? Du willst meine Babett. Aber die ist viel zu gut für Deine versoffenen Matrosen und Deine californischen Goldgräber. Ich verkaufe mein frommes, schönes Kind nicht. Ich kann nicht, wenn ich auch wollte. Behalte Dein Blutgeld; ich bin kein Judas.«

»Himmelsakramenter!« schrie der alte Fink, fast blau im Gesicht vor Zorn. »Du miserabler Hund, Du Lump! hast Weib und Kind an den Bettelstab gebracht und willst mir so etwas bieten.« Dabei nahm er einen Stuhl und stieß ihn auf den Boden, daß die Splitter in alle Ecken flogen. Mit diesem furchtbaren Ausdruck seines Zornes schien sich derselbe auch schon wieder verkühlt zu haben und nur noch wie nachrollender Donner hieß es: »Ei, Dich soll ein Gewitter verschlagen, Du verfluchter Lump!«

»Anton,« rief mir der Bürgermeister, »schenk' einmal ein. Mach' auch dem Heimerdinger sein Glas voll und stell es hierher auf unsern Tisch. Und Du, Heimerdinger, setz Dich hier auf den Stuhl zu uns! Hörst Du? Nun, willst Du gehorchen? So. Und nun trinkst Du mit uns. Willst nicht? Bist Du etwa zu vornehm geworden? Auf Deine Gesundheit, Heimerdinger! So, das war einmal ein herzhafter Zug!«

[38]

Heimerdinger hat auf einen Zug sein Glas ausgeleert.

»Anton,« sagte jetzt der Bürgermeister zu mir, »kannst den Krug hier stehen lassen. Auf meinem Pult daheim ist Allerhand zum Ausschellen zurechtgelegt. Das kannst Du jetzt thun.«

Ich merkte, daß der Bürgermeister den Karren, den der alte Fink in seiner Hitze verfahren, wieder in das rechte Geleise bringen wollte und gab dem Heimerdinger einen heimlichen Rippenstoß, er solle mitgehen. Er hat mich auch verstanden. Ich habe es ihm angesehen. Er wollte auch mitgehen, aber er konnte nicht. Der Schnapskrug hielt ihn fest. Ich habe einmal gehört von der Klapperschlange, daß die die Vögel bannen könnte mit ihrem Blick, daß sie nicht fortkönnten, wenn sie auch wollten. Wie so ein Vogel saß auch der Heimerdinger da. Er wußte, daß ihm der Hals zugeschnürt würde, aber der Schnapskrug hielt ihn fest. Als ich ihn heute Abend aus dem Wirthshaus taumeln sah, da wußte ich, er war doch ein Judas geworden und hatte seine Tochter verkauft.

Herr Pfarrer, wenn Sie etwas thun wollen und thun können, thun Sie es schnell. Doch ich muß zehn blasen gehn.«


V.
An der Guntramseiche.

Der Sattler Guntram von Friedberg hatte sein nährendes Handwerk aufgegeben, weil er reich genug war und war ein gewaltiger Nimrod geworden zum großen Aerger aller Hasen und Füchse in den nahen Waldgebirgen, die durch das fortwährende Knallen seiner Flinte auf ihren einsamen Streifereien und Vergnügungen jetzt immerfort gestört wurden.[39] Zu seinem besonderen Glück gab es damals in Deutschland keine Auerochsen und Bären mehr. Die hätten sich vielleicht nicht so lange ärgern lassen. Er war ein seltsamer Jäger; kurze Beine, kurzen Athem und kurzen Blick, und im Grunde hatten die Hasen und Füchse gar wenig Respekt vor seinem dicken Bauch und seinen dicken Brillengläsern. Aber wenn er Abends heimkam vom Anstand, da wußte er beim Glase Apfelwein und langer Pfeife so grausige Geschichten zu erzählen, daß die Andern nur mit offenem Munde und stehendem Haare zuhören konnten.

Doch die böse Welt wagte in letzter Zeit auch seine stille Größe anzutasten. Man sagte, das viele Wild, was er heimbrächte, kaufe er alles beim Förster in Cransberg. Und selbst in seinem Apfelweinklub, wo man ihm stets die aufrichtigste Bewunderung gezollt hatte und keinen Augenblick an seiner Fertigkeit zweifelte, drangen gelinde Bedenken ein. Zuerst waren Etliche so kühn, bei den Kraftstellen seiner Erzählung ein feines Lächeln sehen zu lassen. Dann widersprach man ihm sogar. Zuletzt utzte und hänselte man ihn ungescheut. »Ehre verloren, Alles verloren,« sagte Meister Guntram zu sich. »Heute gehe ich nicht heim, bis ich etwas geschossen habe.« – Da hatte der Cransberger Förster zu ihm gesagt: »Wenn Sie ein Reh schießen wollen, dürfen Sie nicht warten, bis Sie es sehen. Wann es im Gebüsche raschelt, wann Sie den Schatten sehen, dann drauf los.«

Und horch! Raschelt es jetzt nicht im Gebüsch, fällt jetzt nicht ein Schatten auf die Wiese? Er schießt los. Aber klang das nicht wie menschlicher Schrei? Er läuft hin. Aber da liegt ja auch kein Rehbock. Da liegt die alte Krexline, die sich dürren Reisig sammeln wollte für ihren Kaffee. Sie[40] verwendet noch einmal die Augen, macht eine Faust und ist mausetodt. – Meister Guntram weiß nicht, wie er heimgekommen ist. Ist auch nimmer auf die Jagd und zum Apfelwein gegangen. Aber dort an der Eiche, wo die Krexline erschossen lag, mitten im dichten Wald, wo die prächtigen Waldwiesen liegen und das Sauerbrünnlein quillt, hat er sich eine Bank gepolstert aus Rasen und Moos und hat oft da gesessen und heiße Thränen geweint. Jetzt ist er längst gestorben und begraben, aber das Voll nennt es dort noch immer »an der Guntramseiche«.

An der Guntramseiche war der Tummelplatz der Jugend an den Sonntagnachmittagen zum lustigen Tanzen, Spielen und Singen. Dagegen an den Werktagen war es still dort und einsam. Und in der lieblichen Waldeinsamkeit habe ich gar manchmal gesessen, in mein Buch vertieft und mein Pfeifchen schmauchend.

So war ich wieder einmal hinausgewandert. Ich suchte die herrliche Kühle und einen frischen Trunk ans dem Sauerborn, denn das Thermometer zeigte im Schatten 25 Grad Réaumur. Aber siehe, mein Plätzchen war bereits besetzt. Es saß auf der Moosbank die Enkelin der alten Krexline, Babette Heimerdinger. Ich hatte sie schon von Weitem erkannt. Doch als ich nun näher trat, erschrak ich heftig bei ihrem Anblick. Bleich wie der Tod war ihr Antlitz, aus dem sonst das frische, gesunde Leben lachte; die sinnigen, blauen Augen blickten starr und glanzlos in das Weite; das blonde, reiche Haar ringelte sich in wilder Unordnung um ihre Schultern; die kräftigen Arme ruheten wie gelähmt in ihrem Schoos. Es war die Erscheinung einer an Leib und Seele Gebrochenen, die abgestorben ist für die Außendinge. So klang auch[41] ihre Stimme eintönig und hohl. So war auch ihre Rede fast die einer Geistesabwesenden.

Ich dachte nicht, daß sie mich bemerkt hätte, denn sie war in ihrer halbliegenden Stellung verblieben und hatte keinen Zug in ihrem Gesichte verändert; aber plötzlich redete sie mich an:

»Es ist gut, daß Sie kommen. Ich habe gebetet, daß Sie kommen möchten. Es mußte Jemand kommen, sonst wäre ich verzweifelt.« Sie schwieg hierauf eine Weile, dann begann sie wieder: »Ich bin arm – arm – entsetzlich arm. Ich habe Niemand – Nichts mehr in der Welt. Alles ist todt – leer – fort. Ich habe keine Eltern mehr, nicht Vater – nicht Mutter, keine Heimat – keine Liebe. Alles – Alles ist fort. Das Haus ist schuld – der Fink, der Erzbösewicht!« – Hier war wieder eine Pause, dann rief sie: »Ernst! Du lieber, lieber Bub! – Dich haben sie mir genommen! Wir sind geschieden auf immer und ewig! Sie beschmutzen und besudeln mich! Ernst!« schrie sie laut auf und immer lauter – »Ernst! Ernst!« Zuletzt war sie aufgesprungen, mit den Händen in der Luft umhergefahren, war eine Weile hin und her geschwankt und dann leblos auf den Rasen hingesunken. Man kann mir glauben, daß ich tüchtig erschrak. Ich glaubte anfangs, sie wäre todt. Und da ich gar nicht wußte, was ich beginnen sollte und auch weit und breit Niemand entdecken konnte, rief ich um Hülfe. Aber Niemand antwortete. Da fiel mir erst ein, daß sie ohnmächtig sein könnte. Ich eilte rasch mit meinem Glase an den Sauerborn und besprengte sie tüchtig mit Wasser. Aber es half Nichts. Ich wiederholte das Manöver. Da endlich, nachdem ich schon zu verzweifeln begann, schlug sie die Augen[42] auf und kam nach und nach zu sich. Ich sagte: »Gott sei Dank!« Sie aber war ganz verwundert. Endlich begann sie sich über ihre Lage klar zu werden und brach nun in einen Strom von Thränen aus, der allmählich in krampfhaftes Schluchzen überging. Da ich dieses für sehr wohlthätig erachtete, ließ ich sie ruhig gewähren. Und als sie sich herzlich satt geweint hatte, begann sie von selbst gleichsam zur Rechtfertigung der Scene, die ich eben angesehen hatte, ihre Erzählung: »Wenn Sie Alles wissen, Herr Pfarrer, werden Sie nicht erstaunen, daß mir schwach geworden ist. Ich habe es schon lange kommen sehen. Seit etlichen Tagen aber wußte ich es ganz gewiß, daß Etwas wegen mir im Werk war. Denn mein Vater saß nicht umsonst die Tage her so oft und so lange mit dem Bürgermeister und dem alten Fink im Wirthshaus und hatte nicht umsonst mit meiner Mutter so viel heimlich zu verkehren. Dazu kommt noch vorgestern Abend Försters Anna zu mir geschlichen und sagt: »Weißt Du auch etwas Neues? Wir sind veraccordirt: ich, Du, Fuchse Greth, Schulheimbuk's Lisbeth, Zimmers Dine und Treppe Dorth. In drei Wochen geht es nach Californien. Sie freuen sich schon Alle über den Staat und die Herrlichkeit. – Die schlechten Dinger! An das Andere denken sie nicht. Ich habe mir schon fast die Augen aus dem Kopf geheult. Doch, ich muß heim. Verrath' nichts, sonst bin ich verloren!« Damit war sie auch schon fort. Ich aber war ganz starr vor Schrecken, daß ich gar nichts sagen konnte. Doch war ich bald wieder ruhig, denn ich mußte immer denken: Deine Mutter hilft Dir! Deine Mutter läßt es nimmer zu. Sie hätte es auch nicht zugelassen und hätte es bei meinem Vater auch durchgesetzt; denn so nachgiebig sie sonst[43] gegen ihn ist; was uns Kinder angeht, hat sie immer ihren Willen behauptet. Aber sie hatten es zu pfiffig angefangen. Sie wollten ihr das Haus nehmen – ihr letztes Eigenthum – und das läßt sie sich nicht nehmen. Dazu ist sie viel zu stolz. Ach, die Zwei: der Bürgermeister und der alte Fink – das sind zwei Bösewichte, so schlecht und schlau! Die kennt Niemand aus. Früher hatten wir als allerhand Waaren beim Krämerheimbuk geborgt und der Vater hat auch noch als baar Geld bei ihm gelehnt. Auf einmal waren es dreihundert Gulden und wir wußten gar nicht, wie sie zusammengekommen waren. Aber sie waren da. Der Krämerheimbuk hat es uns vorgerechnet bis auf den letzten Pfennig. Und es wäre schon damals Alles zur Versteigerung gekommen, wenn wir ihm nicht das Haus verschrieben und sich meines Vaters Bruder für uns verbürgt hätte. Jetzt hat der alte Fink dem Krämerheimbuk die Schuldforderung abgekauft. Und der will nun entweder mich oder das Haus. Auf etwas Anderes will er sich nicht einlassen. Das Alles habe ich nicht so gewußt. Gestern Abend hat es mir meine Mutter erst gesagt und dabei bemerkt: »Du wirst Dich doch wohl fügen müssen.« Ach, ich bin gar so sehr erschrocken, als ich erfuhr, daß wir in der Gewalt des schrecklichen Menschen wären und meine Mutter ihm beistimmte.

»Lieb Mutterchen,« habe ich gesagt, »Du wirst es nicht thun! Nicht wahr, Du hast mich lieber als das Haus? Du weißt, ich wäre verloren hier und dort, wenn Du mich diesem Manne übergibst. Ebensogut könntest Du mich, Dein eigen Fleisch und Blut, mit diesen Deinen Händen in die Hölle hineinstoßen, wie Du mich zu Schmach und Verbrechen verkaufst?« Da wurde sie feuerroth im Gesicht und ich dachte[44] schon, ich hätte gewonnen Spiel, da meine Worte solchen Eindruck machten. Aber es kam anders. Sie sagte: »Wie redest Du doch, mein Kind? Wo nimmst Du nur die Worte her, die einen ja ordentlich ergreifen? Doch, denke ja nicht, daß Du mich erschüttern könntest. Du kennst mich einfach nicht, sonst würdest Du Dich gar nicht mühen. Mein Herz ist todt und leer. Sie haben es draußen getödtet. Ich weiß von keinem Erbarmen, denn man hat kein Erbarmen mit mir gehabt. Sieh' ich habe Dich lieb, wie meine eigene Jugend, denn Du bist das Bild derselben. Ich hätte Dir auch gern die Leiden und Kämpfe erspart, die ich durchzumachen hatte. Aber es sollte nicht sein. Und wer kann seinem Schicksal entfliehen? Es ist so, wie ich es schon oft gedacht habe. Die Tugend ist recht schön, aber sie ist einmal für uns arme Leute nicht. Ich habe es nicht anders gefunden in der weiten Welt. Wo Armuth war, war auch Schlechtigkeit, Laster und Verbrechen. Es herrscht wohl auch viel Verdorbenheit unter den Reichen und Wohlhabenden. Aber es gibt immer noch Brave und Gute. Dagegen der Arme kämpft vergebens gegen sein Schicksal. Man glaubt gar nicht an seine Tugend. Wir heißen nur Spitzbuben, Strauchdiebe, Vagabonden, feile Dirnen, Bettelpack und Lumpengesindel. Und weil man einem alles Schlechte zutraut, so muß man auch schlecht werden.

Doch ich muß Dich einmal einen Blick in mein Leben thun lassen. Du sollst erfahren, was ich noch keinem Menschen gesagt habe.

Ich war ein junges, unschuldiges Ding und schön – wie alle Leute sagten – da hat mich auch Einer mitgenommen nach Amerika. Es ist schwer, wenn man so allein und schutzlos ist, sich der Frechheit der wilden Männer zu erwehren,[45] aber ich wehrte mich. Eines Tages verfolgten mich zwei: ein Irländer und ein Italiener, die Haupthelden unseres Tanzlokals, auf die Straße. Ich jagte flüchtigen Fußes durch die Straßen von New-York. Aber die Beiden mir ständig nach, wie zwei wilde Bestien. Es war schon Alles öde und vereinsamt und nirgends Hülfe zu erwarten. Meine Kräfte fingen an nachzulassen. Noch einen Augenblick und ich war rettunglos in ihrer Gewalt. Schon streckten sie ihre Arme nach mir aus, da schrie ich Hülfe! Hülfe! so laut ich konnte. Und noch schrie ich – da kam es plötzlich wie eine Windsbraut über die beiden Kerle. Der eine flog in diese – der andere in jene Ecke der Straße. Ein Jüngling, hoch und gewaltig, war plötzlich zwischen sie getreten mit dem Rufe: »Weg, ihr amerikanischen Schurken! Ein deutsches Mädchen schreit um Hülfe!«

Nie werde ich seinen Anblick und seine Worte vergessen. Es war eine große, kräftige Gestalt mit langen, blonden Locken und blauen, blitzenden Augen und einem Gesicht, so fein, wie ein Mädchenangesicht. Er hatte mich an seinen Arm genommen und nun stand er da, hochaufgerichtet, mit einem einfachen Stock bewaffnet, um seine Gegner zu empfangen. Denn diese hatten ihre Messer gezogen und drangen wüthend auf ihn ein. Mit etlichen wohlgezielten Streichen trieb er die Feiglinge in die Flucht. Und da ich noch sehr entkräftet war, nahm er mich mit in ein naheliegendes Kaffeehaus und ließ mir eine Tasse Kaffee reichen. Er betrachtete mich eine Zeitlang unverwandt, ging dann mehrmals durch die Stube, in der außer uns Niemand war. Dann fing er auf einmal an und sagte: »Ich bin ein deutscher Student. Ich mußte flüchten, weil ich mein Vaterland zu heiß geliebt habe. Zu Hause[46] sitzt eine alte Mutter und eine bleiche Braut. Die weinen um mich. Ich werde sie nie wiedersehen. Ich bin daheim zu lebenslänglichem Kerker verurtheilt. Da draußen, in den Wäldern, habe ich mir ein Haus gebaut. Aber es ist mir zu einsam dort, wo ich nur den Schall meiner Stimme und meiner Büchse höre. Darum kam ich in die Stadt. Ich suchte Menschen. Hier fand ich Dich. Du gleichest, liebes Mädchen, meiner Braut: dieselben treuen, braunen Augen, derselbe süße Mund und Deine Stimme ist meiner Mutter Stimme. Ich habe einen Entschluß gefaßt. In Amerika freit man schnell. Kannst Du mich lieben? Willst Du mein Weib werden?« Dann blieb er vor mir stehen – die Arme gekreuzt – und schaute mich an so ernst und so liebreich.

Ich war erst ganz erschrocken und verschüchtert. Endlich wagte ich die Augen aufzuschlagen. Ich spürte aber ordentlich, wie mein Herz und meine Seele zu ihm hinübergezogen wurden. Auf einmal lagen wir uns in den Armen und er drückte einen langen, heißen Kuß auf meinen Mund. So mag eine Zeitlang vergangen sein. Es waren die seligsten Augenblicke meines Lebens. Plötzlich schlug er sich wider die Stirn und sagte: »Da habe ich mich wieder einmal schön vergallopirt. Mädchen, wie heißt Du denn? Was bist Du? Und kannst Du auch über Dich verfügen?« Ich fühlte, wie mir alles Blut aus dem Gesichte zurücktrat. Mir war so angst, so angst. Ich wußte, daß ich mit dem einen Wort mein ganzes Glück vernichtete. Ich wollte lügen, aber ich konnte nicht. Ich nannte meinen Namen und sagte: ich sei eine Hurdy-Gurdy. Da wurde er bleich wie der Tod. Er schaute mich mit einer furchtbaren Verachtung an; dann aber so grenzenlos traurig, daß mir schon die Thränen aus den Augen stürzten.

[47]

»Mädchen,« sagte er, »Du weißt nicht, wie entsetzlich wehe Du mir gethan hast! Es ist nicht blos die schreckliche Täuschung – nicht blos, daß ich meine Liebe, die so plötzlich und so stark in mir entstanden war, unterdrücken muß, – es ist die Schmach, die meinem lieben deutschen Vaterlande angethan wird durch solche deutsche Mädchen.« Und damit wankte der starke Mann wie ein Trunkener zur Thüre hinaus. Ich wollte rufen – ich streckte die Arme nach ihm aus – da wurde es dunkel vor meinen Augen und ich stürzte ohnmächtig zusammen. Ich verlebte schreckliche Tage. Ich hatte ihm sagen wollen, daß ich rein und tugendhaft geblieben wäre mitten in diesem wüsten Treiben. Ich suchte ihn auch überall und forschte nach ihm, um es ihm noch zu sagen. Aber ich fand ihn nicht. Er war wahrscheinlich wieder nach seinen Wäldern. Ich dachte zuletzt: Und wenn du es ihm nun auch sagst – wird er dir auch glauben? Wird dir es überhaupt Jemand glauben? Ein furchtbarer Zorn gegen das Schicksal bemächtigte sich meiner. Warum sollte ich denn besser sein als die Welt mich machte? Warum sollte ich unnöthigerweise die Mißhandlungen erdulden? Ich stürzte mich mitten hinein in das wüste Leben und war bald eine der Schlimmsten.

So kam ich nach Californien, nach San Franzisco. Es war ein großer Saal und ein blendender Lichterglanz von den vielen Kronleuchtern. Mein Blut war wie Feuer durch vielen Punsch und das wilde Tanzen. Da stand ich da mit fliegendem Athem und klopfender Brust; ein bärtiger Goldgräber hielt mich um die Taille und streichelte meine heißen Wangen. Da sah ich ganz in meiner Nähe wieder das Jünglingsangesicht und diese blauen Augen mit so unendlich traurigem und doch so strafendem Blick auf mich gerichtet. Ich[48] hätte vor Scham in die Erde sinken mögen und bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen. Als ich wieder aufblickte, war er verschwunden. Aber die Augen – die Augen habe ich nicht los werden können, bis heute noch nicht – sie haben mich weggetrieben von Amerika. Als ich heimkam, trug man eben meine Mutter zum Dorfe hinaus. Der Meister Guntram von Friedberg hatte sie wie ein Wild des Waldes todtgeschossen. Ich war nun ganz allein. Mein Vater war schon längst todt. Ich hatte ein paar Aecker und unser jetziges Haus von meiner Mutter schuldenfrei geerbt. Dort wohnte ich nun ganz einsam. Es war mir lieb, daß das Haus fast völlig im Walde stand. Er hatte ja auch ein Haus im Walde. – Es war eine Zeit voll Träumens und Schwärmens. Den ganzen Tag konnte ich sinnen über Vergangenes und Zukünftiges. Die Hoffnung, mit ihm vereinigt zu werden, hatte ich noch immer und baute Luftschlösser, wie es ermöglicht werden könne. So hätte ich noch lange fortgelebt, aber mein erspartes und ererbtes Geld ging zur Neige. Heirathen wollte ich nicht, obwohl ich viele Gelegenheit dazu hatte. Ich mußte darum auf einen Erwerb denken. Es sollte vor allen Dingen leichte und bequeme Arbeit sein. Ich wandte mich an die alte Barb. Sie verschaffte mir auch einen guten Dienst in der Stadt. Aber bald sollte ich erfahren, warum sie so geheimnißvoll gethan hatte. Mein Herr ging mir überall zu Gefallen, und als ich seine Zumuthungen stolz zurückwies, lachte er mich aus: »Er hätte nicht umsonst ein Mädchen aus unserm Dorfe genommen.« Er drohte mich fortzujagen. Was sollte ich machen? Der Winter war vor der Thür; das Essen war ausgezeichnet; die Arbeit war kaum zu nennen und –« »Mutter! Mutter!« rief ich – das Herz wollte mir zerspringen[49] – »schweig still! Soll ich denn gar Nichts mehr von Dir halten? Soll ich denn meine Mutter ganz verlieren? Ach, wie dachte ich mir Dich immer so rein! Wie warst Du mir immer Vorbild und Muster und jetzt – jetzt!« »Du mußt Alles hören. Es ist Zeit, daß Du es hörst. Das war das Schlimmste nicht, es ging immer mehr abwärts. In Wien lebte ich in Saus und Braus. Ich hatte Geld in Ueberfluß. Ich besuchte Theater, Concerte und Bälle. Die schönsten Bücher standen mir zu Gebote. Ich lernte außerordentlich viel. Es wurden oft die witzigsten und geistreichsten Gespräche bei mir geführt und ich konnte mitreden, mitlachen und mitspotten, aber ich weiß nicht – ich hatte doch keine Befriedigung. Inwendig kam ich mir so hohl, so leer vor. Dein Vater, den ich kurz vorher geheirathet hatte, war mir ein ständiger Vorwurf. Er hatte sich aus Aerger über mein Leben ganz dem Trunke geweiht und wurde bei Tag und Nacht nicht mehr nüchtern. Ich kümmerte mich gar nicht mehr um ihn. Damals sah ich in einer Nacht in einem halbwachenden Zustande wieder »die Augen!« Und nun ging es gerade wie in Californien. »Die Augen« verließen mich nicht mehr. Aus jeder Ecke schauten sie mich an – so unendlich traurig und doch so strafend; im dunklen Zimmer daheim, im hellerleuchteten Ballsaal, im Theater – überall waren sie. Ich konnte es nicht mehr aushalten. So habe ich das glänzende Leben aufgegeben und bin mit Deinem Vater heimgereist. Wir hatten uns gar Nichts gespart, obwohl wir es gekonnt hätten. Dazu war Dein Vater ein Trinker geworden. Ich hatte ihn dazu gemacht und konnte ihm deshalb auch keinen Vorhalt thun. Und wenn seine Launen noch so toll wurden – ich habe immer nachgegeben – ich hatte es ja um ihn verdient.[50] Euch, Kinder, habe ich immer gern gehabt. Du thust mir auch gewissermaßen leid, daß ich Dich hergeben muß. Wenn es mit dem Hause nicht gekommen wäre – es wäre auch niemals geschehen. Aber hier – in mein Herz – hat sich eine Verbitterung und ein Haß eingefressen, von dem Du Dir gar keinen Begriff machen kannst. Es steht mir immer vor Augen: was hätte aus dir werden können und was ist aus dir geworden! Und wer ist schuld an Allem? Doch allein das Schicksal und die Welt. Wer arm ist, kommt zu keinem sicheren Glück. Du bekommst nie Deinen Ernst! Wenn nur die geringste Hoffnung wäre, so solltest Du nicht nach Californien! Du entgehst auch Deinem Schicksal nicht, wenn Du selbst diesmal noch nicht mitgingest! Wenn dazu nur die geringste Hoffnung wäre, so wollte ich Dich bewahren! Aber da ja doch gar kein Gedanke daran ist – was soll ich mir mein Haus nehmen lassen? Ich habe Demüthigungen und Spott und Lästerung genug erfahren müssen! Sie sollen es nicht erleben, daß die stolze Frau Heimerdinger, die sie Alle nicht leiden können und der sie alles Böse gönnen, noch aus ihrem Hause hinausgeworfen wird! – Doch genug, ergib Dich in Dein Schicksal! Es ist bereits Alles abgemacht.«

»Mutter! Mutter!« schrie ich, »morde mich lieber! Hier ist ein Messer, stoße es mir in die Brust!« Aber sie that als hörte sie mich gar nicht. »Mutter, ich will ja das, was das Haus kostet, mit meiner Arbeit verdienen; ich will arbeiten, daß mir das Blut zu den Nägeln herausläuft und Gott, der in den Schwachen mächtig ist, wird mir helfen«.

»Kind, du redest Unsinn! Das kannst du nicht.« »Mutter, jetzt sehe ich, was Dir immer gefehlt hat, Du glaubst nicht an Gott!«

[51]

»Nein in der Art nicht, wie Du gelernt hast. Doch davon spreche ich nicht mit Dir.«

»Aber ich will mit Dir davon sprechen. Siehst Du, »die Augen«, die Dir erschienen sind, das war der erste Ruf Gottes an Dich, und als Du dem Leichenzug Deiner Mutter begegnet bist, das war die zweite Mahnung. Sie ist so gräßlich um's Leben gekommen, weil sie Dich verkauft hat für ein Blutgeld und Du wirst ebenso schrecklich um's Leben kommen, wenn Du mich verkaufst.«

Da wurde aber meine Mutter zornig und fing an mich zu schelten. Ueberdem kam mein Vater, und als er hörte, von was die Rede war, hat er mich getreten und geschlagen und mit den Haaren durch das Zimmer geschleift. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, aber auch nicht klar denken. Dunkle Träume quälten mich. Und zuletzt ergriff mich eine Angst, daß ich es nicht mehr aushalten konnte. Da bin ich herausgelaufen in den Wald und habe mich hierher gesetzt. Ich habe immer dagesessen. Es lag wie ein Alp, wie eine Betäubung über mir. Ich wußte Alles, aber ich konnte mich nicht rühren. Alles, was meine Mutter gesagt hat und ich gesagt habe, ist mir Wort für Wort wieder eingefallen. Dann habe ich heiß und lange gebetet. Und so sind auch Sie gekommen, aber ich konnte mich immer noch nicht bewegen. Ich war wie gebannt.«

»Das war irgend ein mir unbekannter Nervenzustand, der über Dich gekommen ist in Folge der starken Aufregung,« erwiderte ich, »der ist nun überstanden. Wäre auch das Andere ebenso glücklich überstanden! Dein Vater hat wie ein Unmensch an Dir gehandelt. Deine Mutter hast Du richtig erkannt. Hätte sie Gott vor Augen und im Herzen gehabt, sie[52] hätte gewiß ein glücklicheres Loos gezogen. Nicht die Welt und das Schicksal, sondern ihr stolzes, vergnügungssüchtiges Herz hat sie in das Verderben gejagt. Aber wie Du Deiner Mutter den Namen Gottes zugerufen hast, als sie über Dich und Deine Zukunft entschied, so rufe ich Dir in diesen schweren Stunden den Namen Gottes zu. Denn nur des Herrn mächtiges Wort kann den Sturm Deiner Gefühle bedrohen, daß es stille in Deinem Herzen wird, ganz stille. Und unter den schwierigen Verhältnissen, denen Du jetzt entgegengehst, kann nur seine Hand Dich führen und seine Rechte Dich halten. »Gott ist getreu und lässet Dich nicht über Vermögen versucht werden.« »Der gute Gott im Himmel wird Dich nicht verlassen, noch versäumen.« »Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf!« heißt es, und: »Harre des Herrn, sei getrost und unverzagt und harre des Herrn!«

Was ich für Dich thun kann, ist unbedeutend. Mein Einfluß auf diese verhärteten Gemüther ist gering und mit ihrer List und Verschlagenheit kann ich es nicht aufnehmen. Doch was ich zu thun vermag, will ich thun. Auf Etwas kann ich Dich übrigens noch aufmerksam machen: Du brauchst hier Deinen Eltern keinen Gehorsam zu leisten. Es tritt hier der Fall ein, wo es heißt: »Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen!« Sie haben Dich zur Sünde verkauft. Und wenn Du ihnen folgst, gibst Du Dich zum wenigsten in große Gefahr. Auch haben sie vollständig ihre Elternrechte an Dich aufgegeben, indem sie offenbar das Gegentheil von dem in Dir pflanzen wollen, wozu Dich Gott ihnen anvertraut hat.«

»Ich habe auch schon daran gedacht,« sagte sie, »fortzulaufen[53] in die weite Welt und dort für mich allein mein Glück zu suchen, aber ich kann nicht. Ich bleibe und gehorche. Und wenn es noch schwerer wäre, ich bliebe doch! Ich will es versuchen, meinen Eltern treu zu sein und auch meinem Gott nicht untreu zu werden.«

»Du unternimmst fürwahr Großes und Schweres, Babette und ich will Gott danken, wenn es Dir gelingt. Doch des Herrn Rath ist wunderbar! Vielleicht soll es so sein. Und hier war es, als ob mich ein Geist der Weissagung ergriff. Vielleicht sollst Du drüben in Amerika den Ruf einer frommen deutschen Jungfrau wieder zur Ehre bringen und Deinen gesunkenen Kamerädinnen ein Stachel werden zur Reue und Nacheiferung. Wenn Dich aber Gott zu dieser hohen Mission als Rüstzeug auserwählt hat, dann sei getrost; der Dich auserwählt hat, der weiß, daß Du die Kraft dazu hast und führet Alles herrlich hinaus!«

Wir hatten uns auf den Heimweg gemacht, weil es stark zu dunkeln begann. Ich hatte ihr noch manches Tröstliche gesagt. Auch das noch, daß Gott dem zarten und schwachen weiblichen Geschlecht gerade in der Unschuld einen mächtigen Schild geschenkt habe, den selbst die größte Rohheit nicht anzutasten wage, wenn sie in ihrer kindlichen Reinheit bewahrt bliebe.

Am Rande des Waldes hatte ich sie verabschiedet und schaute ihr wohlgefällig nach, wie sie so rüstig und strack dahinschritt und schickte ein leises Gebet zum Himmel empor für ihr Wohlergehen.

»Ein Rendezvous gehabt, Herr Pfarrer?« zischelte neben mir eine Stimme, und eine Gestalt eilte flüchtig an mir vorüber, in der ich die »Anne-Mile«, eine der verdorbensten Frauen des Dorfes erkannte.


[54]

VI.
Die Balzerswäs.

Es war des andern Abends spät ein mächtiges Gewitter am Himmel. Die Wolken hingen schwarz und schwer über dem Dörfchen. Die Luft war wie ein Feuermeer und wenn der Donner krachte, zitterten die Fensterscheiben und wackelte mein alter Tisch an der Wand. Jetzt fuhr wieder ein Blitz hernieder, so blendend, daß ich die Augen zumachen mußte, und dann wogte und prasselte es über mir, als wenn das verwetterte Ziegeldach auf mich gefallen käme. Ein alter Eichbaum, etliche Schritte vom Hause entfernt, stand in lichten Flammen. Damit hatte aber auch das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht. Nun öffneten sich die Schleusen des Himmels. Bald grollten nur noch die Donner in der Ferne und langgezogene Blitze erleuchteten das Firmament.

Der Wettersturm draußen in der Natur war ein treues Abbild, wie es des Abends in meinem Gemüthe stürmte und wetterte. Man hatte mich auf das schmählichste beschimpft. Man hatte das Interesse, welches ich an dem Schicksal Babettens nahm, und das Wohlgefallen an dem Mädchen, das ich offen zeigte, auf das gemeinste gedeutet und zwar hatten es die Leute gethan, die noch am ersten im Dorfe den ehrenwerthen Bauernstand und die altväterliche Sitte repräsentirten und zu denen ich mich noch am meisten hingezogen fühlte.

Es waren die schwersten Augenblicke, die ich bis dahin erlebt hatte. Mit großen Schritten wandelte ich im Zimmer[55] umher. Alles war in mir in fessellosem Aufruhr und Empörung. Die Finger habe ich öfters in das Fleisch meiner Brust eingekrallt und ein- über das anderemal gerufen: »Demüthige Dich unter die gewaltige Hand Gottes!« und: »Laß Dir an meiner Gnade genügen!«

Der blendende Blitz und der brennende Baum brachten mich zu mir selber. Wie aber dann die Schleusen des Himmels sich öffneten, so stürzte auch eine Thränenfluth aus meinen Augen. Hernach habe ich noch lange am offnen Fenster gesessen und in den dunklen Nachthimmel und in das ferne Blitzen hineingeschaut und mit meinem Gott gesprochen.

Den ganzen Tag vorher hatten mich die Sorgen für das unglückliche Mädchen nicht verlassen. Ich hatte mir gedacht, am leichtesten könnten alle Schwierigkeiten gelöst werden, wenn die alte Balzerwäs die Einwilligung zu der Verbindung mit ihrem Sohne gäbe. Denn hatte nicht die Frau Heimerdinger gesagt: »Wenn nur die geringste Hoffnung da wäre, so solltest Du nicht nach Californien!« Und sollte denn auch nicht der leiseste Hoffnungsschimmer für diese Verbindung zu entdecken sein?

Ich verhehlte mir durchaus nicht das Bedenkliche der Sache, denn in einer so wohlhabenden Bauernfamilie, wie die Balzerische war, steckt ein Hochmuth und eine Zähigkeit, die jeder Einwirkung trotzt. Dabei herrscht eine Nüchternheit und trockne Verständigkeit der Auffassung, daß eine Begeisterung oder irgend ein höherer Aufschwung geradezu unmöglich erscheint. Es ist, als ob der kalte Eigennutz alle Gefühle verknöchert hätte. Bei Heirathen gesteht man dem Herzen nicht die geringste Berechtigung zu. Nur die Aecker werden gezählt und die Viehställe und Weißzeugschränke besichtigt. Und die Weiber, bei denen man gern einen idealeren Zug und ein[56] lebhafteres Gefühl voraussetzen möchte, sind die schlimmsten. Am wenigsten hatte ich in der Art Etwas von der alten Balzerswäs zu erwarten, die mit straffer Hand die Zügel ihres Hauswesens führte, seit ihr Mann todt war, vielleicht auch schon früher. Auf der andern Seite legte ich großes Gewicht auf die freundlichen Beziehungen, in denen ich zu der Familie stand, in der ich regelmäßig meine Winterabende zuzubringen pflegte. Die Balzerswäs hatte sogar meinem Vater, der mich besuchte, versichert, er brauche gar nicht so viel nach mir zu sehen, sie sorge für mich wie eine Mutter. Ferner hatte in dieser Gegend die Achtung vor dem geistlichen Stande Etwas zu bedeuten. Denn, dachte ich, ist nach dem Apostel Jakobus die Zunge eine solche Macht zum Bösen, ein Feuer, das den Wald anzündet, eine Welt voll Ungerechtigkeit, so muß sie wohl auch eine Macht zum Guten sein, wenn man sie dazu verwenden will, und ein klein wenig durfte ich auch auf meine Fertigkeit im Reden vertrauen.

Der Plan, den ich mir zurecht gelegt hatte, war meiner Meinung nach sehr fein und klug ausgedacht und mußte von Erfolg sein. Er wäre es vielleicht auch gewesen, wenn er überhaupt zur Ausführung gekommen wäre. Aber ich konnte ihn nur bruchstückweise gebrauchen; denn als ich in Gottes Namen und im Vertrauen auf meine gute Sache hinüberging, merkte ich schon gleich beim Empfang, daß nicht Alles stand, wie sonst. – Sonst sagte die ganze Familie feierlich »guten Abend!« Der achtzigjährige Großvater oder Eller erhob sich hinter dem Ofen, that die Pelzmütze ab, das kurze irdene Pfeifchen aus dem Munde und sagte besonders »guten Abend, Herr Pfarrer!« Dann wurden die Kinder herbeigeholt, der lustige Fritz, die vorlaute Dine und der dicke[57] Adam. Sie mußten mir alle hübsch die Händchen geben. Während der Zeit putzte die Balzerswäs einen Stuhl ab und stellte ihn oben an den Tisch. Der Friedrich, der unverheirathete Sohn, holte ein Glas frisches Wasser am Brunnen und stellte es an meinen Platz, weil ich gern Abends ein Glas Wasser trank. Der Hanjost dagegen nahm seine lange Pfeife von der Wand, die ihm der Ernst zu seinem Geburtstag von J. mitgebracht hatte und auf deren Kopf die ganze Stadt abgemalt war und lieh sich vom Eller den Tabaksbeutel; denn er war nur ein Gelegenheitsraucher. Die Schwiegertochter und die Töchter des Hauses gruppirten sich mit ihren Spinnrädern und sonstigen Arbeiten um die Hängelampe. Recht gemüthlich aber wurde es, wann die Alte ihr Kaffeetöpfchen vom Ofensims nahm. »Denn den Kaffee trinke ich für mein Leben gern,« sagte die Balzerswäs. »Morgens wann ich aufstehe, muß ich gleich meinen Kaffee haben, sonst wird mir leicht schwach. Für zehn Uhr hebe ich mir als ein Tröpfchen auf, denn dann erquickt er mich am meisten. Mittags, gleich nach dem Essen, trinke ich als ein Schälchen wegen der Verdauung. Um vier Uhr trinke ich mit den Andern und da schmeckt er mir am besten. Abends, sehen Sie, da kann ich das schwere Essen nicht mehr vertragen, da machen sie mir als Kaffee. Und vor dem Schlafengehen trinke ich auch gern noch eine Tasse. Man schläft besser, denken Sie.«

Wann sie nun Kaffee getrunken hatte, dann ging ihr Mundwerk besonders gut, das ganz gewiß auch sonst nicht stille stand. Es wurden meistentheils Ortsverhältnisse besprochen. Ich machte meine Bemerkungen dazu und betheiligte mich sonst an der Unterhaltung. Der Eller, der eine merkwürdige Frische des Geistes bewahrt hatte, gab von seinen Erfahrungen[58] zum Besten, und der Hanjost warf oft einen sehr treffenden Witz dazwischen, der jedesmal mit großem Lachen aufgenommen wurde.

Das war nun den Abend, wie gesagt, Alles anders. Ich wurde so kleinlaut gegrüßt und man sah mich so verblüfft an, daß ich merkte, man hatte eben noch über mich gesprochen und zwar nichts Gutes. Es bot mir sogar Niemand einen Stuhl an. Ich wurde selbst ganz verlegen und wollte eben fragen, was nur in aller Welt geschehen wäre, als der dicke Adam den Zauberbann brach, indem er auf drollige Weise die Begrüßung des Großvaters nachahmte. Er stand von dem Stühlchen auf, auf dem er gesessen hatte, that seine Kappe ab und das Reis, an dem er rauchte, aus dem Mund und sagte mit lauter feierlicher Stimme: »Guten Abend, Herr Pfarrer!« Alles lachte und ich lachte herzlich mit. Die Schwiegertochter hatte mir jetzt auch einen Stuhl zurechtgestellt und der Hanjost reichte nach der Pfeife. Aber es dauerte lange, bis die alte Balzerswäs zu einer ihrer Töchter sagte: »Ich weiß nicht, Dorth, ich meine, draußen in den Kohlen müßte noch ein Töpfchen mit Kaffee stehen, geh' hin und sieh' einmal nach!«

Ich lenkte allmählich das Gespräch auf den alten Fink und die Mädchen, die er für Californien gemiethet hatte. »Es ist ein Schimpf und eine Schande für unser Dorf und unsere Gegend, sagte ich, daß hier solche Zustände walten! In allen Zeitungen wird darüber geschrieben. Es heißt: keine Nation der Erde gäbe sich zu diesem schlechten Gewerbe her – es seien nur Deutsche, nur Rheinländerinnen. Wir könnten es ihnen noch besser sagen, wer es ist! Nicht wahr? Jedes Mal, wann ich so Etwas lese, preßt sich mein Herz zusammen und Flammenröthe bedeckt mein Gesicht. Ich meine immer,[59] auch ich trüge einen Theil Schuld und weiß doch Nichts anzufangen, um der Sache Einhalt zu thun. Alle meine Worte und Zusprache verhallen wie der Wind. Es sind gar harte, verstockte Herzen hier. Und muß es nicht so sein? Kann überhaupt noch von »Herz« die Rede sein, wo Väter und Mütter ihre eigenen Kinder für Geld dahingeben? Man wundert sich über die Unmenschlichkeit der Neger an der Westküste Afrikas, wo die Häuptlinge ihre eigenen Stammsgenossen und die Väter ihre Kinder an die Sklavenhändler verkaufen. Aber was will das heißen gegen die Schändlichkeiten, welche hier begangen werden! Dort sind Heiden, hier sind Christen. Und die verblendeten, unwissenden Heiden verkaufen ihre Kinder doch nur zu Sklaven, aber hier verkaufen christliche Eltern ihre Kinder zu H… Wenn irgendwo das Wehe, das der Herr über die Menschen ausspricht, durch welche Aergerniß kommt, seine Anwendung findet, dann ist es hier.«

»Herr Pfarrer«, sagte die Balzerswäs nach einer kleinen Pause, »die Menschen wollen leben, und wenn die Kinder nach Brod schreien, dann thut man Manches, was man vor seinem Gewissen nicht verantworten kann.«

»Ach was,« sagte ich, »die Noth bricht Eisen, aber ein Gebot Gottes darf sie nicht brechen. Wer arbeiten will und im Vertrauen auf Gottes Hülfe sich redlich mühet, dem hat es noch nie an Gottes Hülfe gefehlt. Nur muß mit dem Arbeiten das Beten und mit dem Beten das Arbeiten verbunden sein. Die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde sind mahnende Zeugnisse, daß es Niemand fehlen könnte, wenn er nur seine Pflicht treulich erfüllen wollte und die Sorgen und den Segen dem Herrn überlassen würde. Was gibt es öde und wüste Gegenden in der Welt, wo kaum[60] noch die naschende Ziege einen Grashalm findet in dem Steingeklüft, nicht wie hier, wo die reichste Fruchtlandschaft zu unseren Füßen liegt und wo selbst noch Korn und Weizen herrlich gedeihen, und die Menschen, die dort wohnen, ernähren sich redlich und ernähren sich reichlich. Denket nur an die Schwarzwälder Uhrmacher und an die Tyroler Geigenmacher, von denen Ihr in der letzten Spinnstube gelesen habt. Und wenn man solche Kunst nicht versteht und erlernen kann, warum ernährt man sich nicht durch Tagelöhner- und Handlangerarbeit? Die Fulder sehe ich jeden Sommer in Schaaren in die Wetterau gezogen kommen, um sich Geld zu verdienen durch redliche Arbeit. Dagegen von unseren Dorfleuten sehe ich keinen hinunterwandern, als um gestohlenes Holz zu verkaufen und um zu betteln. – Wenn jedoch selbst die Noth nahezu unerträglich wäre, so dürfte immerhin nicht aller Sitte Hohn gesprochen und das Heiligste und Göttlichste in der Menschennatur unter die Füße getreten werden. Aber es geschieht und nicht aus Noth. Sie war es nur anfänglich, die zu diesem Treiben hinführte. Jetzt sind viel mehr Geiz und Genußsucht die Triebfedern, als die Armuth.«

»Das hört sich zu, als ob man in der Kirche wäre,« murmelte Hanjost vor sich hin und die Mädchen fingen an zu kichern.

»Es ist durchaus meine Absicht nicht, Euch eine Predigt zu halten. Und es braucht's auch wahrlich nicht. Wenn ich schwiege, würden die Steine schreien, so auffallend sind die Beispiele, die Ihr ständig vor Augen habt. Nehmet die alte Justine! Was treibt diese greise Frau mit ihren schlottrichten Knien, ihr einzig Kind in die weite Welt zu schicken? Kann sie nicht längst der grüne Rasen decken, ehe es wiederkehrt? Und wird[61] es überhaupt wiederkehren? Wer wacht denn nun an ihrem einsamen Lager? Wer drückt ihr die müden Augen zu? Hat denn solch ein Herz gar kein Bedürfniß nach Liebe? Nachdem sie ihren Mann so früh begraben hat und ihr ein Kind nach dem andern dahingesunken ist, sollte man nicht meinen, sie hätte nun alle Liebe auf dieses Eine übertragen? Hat ihr Gott darum dieses Eine gelassen und ihm die blühende Schönheit geschenkt, daß es auf mütterliches Geheiß für schnödes Geld seine Ehre und seinen Seelenfrieden hier auf Erden und sein Hoffen auf das Jenseits so dahingeben soll? Ist es nicht ein himmelschreiender Frevel? Und hat sie es nöthig, jegliches Muttergefühl zu ersticken, weil rasender Hunger sie quälte oder schreiende Noth sie zwang? Hat sie nicht ein zweistöckiges Wohnhaus, Aecker und Wiesen, ja sogar Geld ausgeliehen und war nicht die Herrschaft, wo ihr Mädchen diente, sehr mit ihm zufrieden und wollte es auf keine Weise losgeben? Wißt Ihr noch, es war ja hier im Zimmer, als ich ihr so eindringliche Vorstellungen machte und zuletzt rief: »Weib, Dich hat der Satan verblendet, Du bist vom Geizteufel besessen!« und wie sie da wüthend ward und die Fäuste ballte und wie der Großvater hinter dem Ofen aufstand und ihr »wehe!« zurief und wie ein Prophet weissagte, sie würde elend in die Grube fahren und wie sie bleich wurde, als hätte sie ein Gesicht gesehen, aber dennoch ihr Kind verkaufte?«

Da räusperte sich hinter dem Ofen der Großvater, der immer nach seiner Weise sich Alles zurecht legte. »Sie haben Recht, Herr Pfarrer, ganz Recht. Der Geiz ist die Wurzel alles Uebels und treue Gesellen im Schlechtmachen sind Fleischeslust und hoffärtiges Wesen. Wann aber der Teufel einmal Herberge gemacht hat in so einem lüsternen Menschenherzen,[62] dann wird es ärger und ärger und der Mensch lädt sich auf und lädt sich auf und denkt nicht an die Zeit des Abladens. Die Jugend ist thorhaft, aber das Alter sollte bedächtig sein; denn der Tod ist nahe und das Gericht!«

»Großvater,« sagte ich, »das Gericht wartet oft nicht bis nach dem Tod. Es ist noch Niemanden Segen erwachsen aus dem Kinderhandel. Oder könnt ihr mir ein Elternpaar nennen, das nicht zum mindesten von seinen Kindern Vernachlässigung und Mißhandlung im Alter geerntet hätte? Da ist noch jüngst der alte Knoth im Elend und Ungeziefer zu Grunde gegangen. Was haben ihm seine fünf Töchter ein Geld eingebracht! Wo ist es hingekommen? Seine Töchter sind sämmtlich gut verheirathet und im Wohlstand. Warum hat sich nicht eine einzige Hand geregt, um ihm sein letztes Leiden zu erleichtern? Warum mußten fremde Leute ihm die nothdürftigsten Handreichungen thun? Warum mußte er auf seiner öden Kammer einsam und verlassen den letzten schrecklichen Kampf auskämpfen? –

Es sind ja erst ein paar Tage her, daß der alte Hanfriedrich auf seinem Karren krank heimgebracht wurde. Was haben ihm seine Kinder für einen Empfang bereitet! In den Kuhstall haben sie ihn gebettet! Und da er jetzt wieder auf sein kann, darf er um keinen Preis in die Stube. Sein Kaffeetöpfchen hat ihm seine Schwiegertochter vom Herd gestoßen, daß die Scherben in die Ecken flogen. Wenn ich nicht ernstlich eingeschritten wäre, wer weiß, was noch hätte geschehen können. Aber es wird auch noch Saat des Verderbens in die Zukunft gesäet. Was gibt das Gatten! Was gibt das wieder für Eltern! Die Sünden der Väter werden heimgesucht bis in's dritte und vierte Glied. Auf welchem Boden sollen auch die Gattentreue und die Elternliebe wachsen! Es ist ja bekannt,[63] daß Hofmann's Lisbeth bei dem Tode ihres Mannes zwei Malter Weizen verbacken ließ. Alle Welt sollte sich mit ihr bei Kaffee und Kuchen und Wein und Bier freuen, daß sie endlich von ihrem Manne erlöst sei, der sich doch nur für sie in den englischen Fabriken das schmerzliche Rückenmarksleiden zugezogen hatte. Sie konnte doch jetzt offen mit ihrem Buhlen hervortreten.

Doch am ergreifendsten spiegelt sich gewiß die grenzenlose Verderbtheit bei der berühmten Anne-Mile, die ich am vorigen Sonntag mit dem braven Leonhard copulirt habe. Was hatte sie Gott mit reichen Gaben des Leibes und des Geistes ausgestattet und wie benutzte sie dieselben! Es kann mich immer unendlich jammern, wenn so ein herrliches Geschöpf im Lasterleben zu Grunde geht. Eine vom Hagelschlag verwüstete Flur, eine vom Feuer zerstörte Stadt ist fürwahr kein so trauriger Anblick, als solch ein durch und durch vergiftetes Menschenleben. –

Man weiß es ja allgemein, daß sie dem alten Fink in New-Orleans entfloh, als die Schottin ihr einst den Rücken etwas zu derb mit dem spanischen Rohr bearbeitet hatte. Auch machte sie kein Geheimniß aus der traurigen Weise, wie sie die reichen Putzgegenstände und das blitzende Gold, das sie mitbrachte, verdient hat. Ich erinnere mich noch recht wohl ihres ersten Auftretens hier und des Aufsehens, welches sie allgemein erregte. Fast ein halbes Jahr und noch länger war sie Gegenstand aller Gespräche. Die Weiber machte sie verrückt mit ihren seidenen Kleidern und der Straußenfeder auf dem Hut; die Burschen und Männer verlockte sie durch ihre schwarzen frechen Augen und ihre Buhlerkünste. Ihre fünfhundert Dollars, die sie sofort ausgeliehen hatte, waren[64] der Gegenstand der Habgier und der Intriguen. – Als sie einmal so mit ihrem Troß vorüberzog und ich mit dem Großvater draußen auf dem Bauholz in der Sonne saß, spuckte der aus und sagte ganz laut: »Pfui Teufel!« Selbst aus der Stadt kamen die sauberen Herren und umschwärmten sie, und sie trug ein Kapital nach dem andern auf die Landesbank. Aber während sie Kapitalien machte, die Weiber reizte und die Männer verführte und herrlich und in Freuden lebte, lag ihr alter Vater von der Gicht geplagt, gliederlahm auf dem Schmerzenslager und ernährte sich von dem Bettelbrod, was ihr achtjähriger Bruder in der Wetterau zusammenbettelte. Als sie jedoch ein Kind gebar, bekam ihr Vater auch diese dürftige Nahrung nicht mehr; denn da mußte ihr Bruder das Kind halten. – Der Vater ist gestorben – ob an der Gicht oder an Hunger – das wird wohl einst entschieden werden. – Da war es denn eine unbequeme Geschichte für sie, daß ihr Bruder bei fremden Leuten untergebracht wurde; denn nun mußte sie selbst für ihr Kind sorgen und das wurde ihr nach gerade so lästig, daß der Bürgermeister eines Morgens ihr schreiendes Kind vor der Thür liegend fand und sie ihm sagen ließ: er hätte ihr den Bruder aus dem Haus genommen: nun könne er auch für ihr Kind sorgen. Wißt Ihr auch, was mich am meisten bei ihrer Heirath empört hat? Nicht der freche triumphirende Blick, den sie mir am Altare zuwarf; nicht daß mir die Hochzeitgäste am Abend ein Spottlied sangen, sondern daß die ganze Gemeinde ihr »Ja und Amen« zu dieser Verbindung gab. Frau Balzer, Sie haben auch dazu gerathen und geholfen! Der Leonhard hat mir's gesagt, als ich ihm die ganze Geschichte leid machen wollte. Er hat sich darauf berufen!«

[65]

»Ich habe auch zu der Heirath gerathen und heiße sie auch jetzt noch gut. Das Mädchen hat eine schöne Sach', ist fleißig und sparsam. Sie ist gut für das Land, gut für die Haushaltung und versteht alle Feldarbeit. Was will der Lumpenkerl, der Leonhard, mehr? Der ist arm wie eine Kirchenmaus.«

»Aber brav und unbescholten,« entgegnete ich, »und sie ist die abgefeimteste, frechste Dirne, die ich kenne. – Das ist es gerade, was mich so empört, daß man Nichts hierin findet. Man ist so tief gesunken, daß man über die gemeinste Gesinnung und die schamlosesten Handlungen keine Entrüstung mehr hat. Man hat sich so sehr an das Laster gewöhnt, daß man ganz und gar vom Ruf eines Mädchens absieht und es nur nach seiner äußeren Brauchbarkeit und seinem Gelde schätzt. – Und was enthält der Begriff »brauchbar für's Land« für entsetzliche Nebenbegriffe, die man gar nicht nennen darf! und was ist das für sauberes Geld! Mancher würde sich bedenken, es nur mit der Feuerzange anzurühren. – Ich hätte fürwahr bei Euch, die Ihr Euch wenigstens äußerlich vor jedem Makel hütet, andere Gesinnungen gesucht! Darum ist auch mein Kampf gegen die täglich zunehmende Versunkenheit so vergeblich, weil ich ihn allein kämpfen muß. Wenn noch ächte, unverdorbene Art in Euch wäre, so würdet Ihr entschieden auf meine Seite treten und mich mit Rath und That unterstützen! Euer Ansehen und Einfluß mit in die Wagschale geworfen, würde meinen Worten ein ganz anderes Gewicht verleihen.«

Da nun auf diese Worte ein verlegenes Stillschweigen erfolgte, glaubte ich, das Feld wäre genug bearbeitet und der Zeitpunkt gekommen, meinen Antrag anzubringen. Ich sagte[66] also: »Ich will Euch noch diesen Augenblick eine Gelegenheit bieten, wo Ihr zeigen könnt, ob noch besseres Gefühl in Euren Herzen schlummert, ob Ihr noch irgend ein Opfer zu bringen vermöget, ob Ihr noch einer edlen That fähig seid! Frau Balzer und Ihr, alter Großvater, Ihr könnt eine Menschenseele vom Verderben retten! Ihr könnt Eure eigene Seele retten! Denn wer einer Seele vom Tode hilft, der wird die Menge der Sünden bedecken. Bedenket die Nähe Eures Todes und des Gerichts! Die Frau Heimerdinger hat erklärt: wenn die Babette nur die geringste Hoffnung hätte, den Ernst zu bekommen, solle sie nicht nach Californien. Gebt Ihr diese Hoffnung! Benutzet die Gelegenheit zu einer edlen That, die Euch der Herr durch mich anbietet, und ladet Euch nicht den Fluch der Versäumniß auf!«

Wenn eine Bombe plötzlich in das Zimmer gefallen wäre, die Gesichter hätten nicht verblüffter aussehen können, als durch diese meine Aufforderung. Die Balzerswäs rang sichtlich nach Athem. Endlich hatte sie die Sprache wiedergefunden. Sie war aufgesprungen und trippelte vor mir auf und ab, während sie sprach: »Was sagen Sie, was sagen Sie, Herr Pfarrer? Ich kann's gar nicht glauben. Wir, wir sollen das schlechte Mensch, die Lumpenbagage, in unsere Familie aufnehmen! Dazu haben Sie die lange Einleitung gemacht und uns die Predigt gehalten! Da hätten Sie den Athem sparen können!«

Ganz niedergeschlagen über den schlechten Erfolg meiner gewiß guten Absicht erwiderte ich: »Arm ist das Mädchen wohl, aber wenn Sie es »schlecht« nennen, versündigen Sie sich! Wer weiß, ob nicht ein besseres Herz unter ihren Lumpen schlägt, als unter Ihrem feinen Tuchmieder.«

[67]

»Ach, der Herr Pfarrer soll ja nicht glauben, als wüßten wir nicht, warum er so warmen Antheil an der Babett nimmt, warum er ihr immer die Hand gibt und so freundlich zunickt und oft stundenlang mit ihr spricht! Man ist endlich hinter Ihre Schliche gekommen. Sie sind gestern mit ihr gesehen worden an der Guntramseich'. Die Dorth hat's eben mit heimgebracht. Pfui, schämen Sie sich für einen Pfarrer und für so einen frommen Mann, wie Sie sein wollen! Doch was ich sagen wollte, mit einem Wort: Mein Ernst ist viel zu gut, um Ihre Liebste zu heirathen.«

Ich wußte anfangs gar nicht, was die Frau wollte und fühlte nur instinktmäßig, daß sie einen schweren Verdacht gegen mich aussprach. Aber als ich endlich merkte, wo sie hinauswollte, wurde ich ganz betäubt und fing an schwindelig zu werden, so daß ich mich durch einen starken Willensakt wieder aufraffen mußte. Da wollte sich nun meiner ein entsetzlicher Zorn bemeistern, aber ich beherrschte mich und sagte kalt und stolz: »Sie werden es wohl beweisen können, denn beweisen müssen Sie es! Solche schwere Verdächtigungen spricht man ungestraft nicht aus.« Meine Worte verfehlten ihren Eindruck nicht; denn ein rechter Bauer scheut die Amtsstube, wie das Feuer. – Ich wäre nun gern gegangen, aber ich fühlte, daß ich mit der Drohung, sie vor Gericht zu belangen, als Geistlicher nicht gut scheiden konnte und sagte: »Ich meine, ich könnte hier, wo man mich auf so niederträchtige Weise beleidigt hat, keine Minute mehr verweilen, aber meinem Stand und meiner Stellung bin ich es schuldig, Euch etliche Aufklärung zu geben. Ich habe allerdings gestern zufällig die Babette Heimerdinger an der Guntramseiche getroffen und habe eine lange Unterredung mit ihr gehabt. Auch habe ich[68] ein Werk der Barmherzigkeit an ihr ausüben müssen, denn kurz nach meiner Ankunft ist sie in Folge der Mißhandlungen ihrer Eltern und des Seelenschmerzes, den ihr die Gewißheit machte, an den alten Fink verkauft zu sein, in Ohnmacht gesunken und ich habe sie erst nach langen vergeblichen Bemühungen in's Leben zurückrufen können. Wenn ich der Babette freundlich zunickte und gern mit ihr sprach, so hatte das darin seinen Grund, daß ich mich freute in dieser gänzlich verkommenen Gemeinde ein reines, unverdorbenes Gemüth zu entdecken. Das ist etwa die Freude, die man hat, wenn man eine Palme in der Wüste oder eine Rose mitten unter Giftgewächsen findet. Und nun, wer mir solche Schlechtigkeiten zutrauen mag, der soll es thun! Das muß ich sagen: von Euch hätte ich es nicht erwartet, und daß Ihr so leicht den Verdächtigungen über einen Mann, den Ihr nun schon jahrelang kennt und der Euch gewiß nicht den geringsten Anlaß zu Verdacht gegeben hat, Glauben schenkt, ist durchaus kein gutes Zeichen für Euch selbst. Doch ehe ich gehe, möchte ich doch noch wissen, wer dieses schöne Gerücht in Umlauf gesetzt hat. Sage, Dorth, wer hat mich gesehen?«

»Ei, die Anne-Mile,« sagte diese ganz kleinlaut. – »Nun da wußtet Ihr ja schon, was Ihr von der Sache zu halten hattet. Leben Sie wohl, Frau Balzer! Dieser Stunde werden Sie noch auf dem Todesbette gedenken!«


[69]

VII.
Ein Kirchenvorstand.

Die Aufregung vom vorigen Abend lag mir in allen Nerven. Ich hätte weinen mögen. Hinaus in's Freie wagte ich anfangs nicht zu gehen. Ich dachte, man würde mit Fingern auf mich deuten. Auch die Unterredung mit den Eltern Babettens, die ich mir auf diesen Morgen festgesetzt hatte, gab ich auf. Wäre mir noch einmal so Etwas gesagt worden, wie die Balzerswäs mir gesagt hatte, ich hätte nicht gewußt, ob ich so gleichmüthig geblieben wäre. Es wogte noch gar jugendliches Blut in meinen Adern. Ich war noch nicht lange von der Universität heimgekommen.

So war es Mittag geworden. Ich konnte es nicht mehr in den engen Wänden aushalten. Ich mußte hinaus. Man hätte mich anders ja am Ende gar noch für schuldig halten können. Auch schämte ich mich meiner Feigheit.

Als ich kaum aus der Hausthüre getreten war, kam der Schneider Heimerdinger mit seinem Hunde daher. Ich hielt es für eine passende Gelegenheit, um über Babette mit ihm zu reden und rief ihn deshalb an. Er kam auch eiligst herbei. Aber nun merkte ich, daß er total betrunken war. Er legte mir ganz vertraulich die Hand auf die Schulter und fragte: »Nun, Herr Pfarrer, wollen Sie einen Spaziergang machen?« Ich schüttelte ihn von mir ab und sagte ihm, ich liebte solche Vertraulichkeiten nicht. Ob er sich denn gar nicht schäme, am hellen Tage betrunken durch die Straße zu wanken. Er solle heimgehen und seinen Rausch ausschlafen. Da wandte er sich hinweg und sagte zu seinem Hund: »Bello,[70] beiße einmal den Hochwürden! Er hat deinen Herrn beleidigt.«

Das war diesen Tag mein erster Empfang auf der Straße. Als ich weiter das Dorf entlang ging, sah ich, wie Alles stehen blieb, was mir begegnete, und mir nachsah. Niemand grüßte. Am Wirthshaus fuhren plötzlich eine Menge Gesichter zum Fenster heraus und glotzten mich an. Als ich vorüber war, brachen sie in ein schallendes Gelächter aus und Etliche riefen: »Vivat! unser Pfarrer lebe hoch!« und die Andern wieherten Beifall über den äußerst gelungenen Witz. – Als ich heimkam, war mein erster Gedanke: ich kann hier nicht mehr bleiben. Mein zweiter Gedanke: Du mußt bleiben. Du bist nicht umsonst an diesen schwierigen Posten berufen worden. Willst Du schon beim ersten Anstoß fliehen, wie ein Miethling? Wer glaubt, fleucht nicht. Aber Du mußt ernster und entschiedener werden! Du mußt einmal die Seelenverkäuferei geradezu zum Gegenstand Deiner Predigt machen und statt einzelner Hindeutungen auf dieses gottwidrige Treiben der Gemeinde unverhüllt das Verderben zeigen, wohin sie schon gerathen ist und wohin sie noch gerathen wird. Das kann nächsten Sonntag schon geschehen. Und so geschah es. Ich predigte mit glühendem Herzen und glühenden Worten über den Text: Matth. 24. V. 12: »Dieweil die Ungerechtigkeit wird überhand nehmen, wird die Liebe in Vielen erkalten.« – Obgleich es durchaus keine Musterpredigt war und sein sollte, so muß ich doch einige der stärksten Stellen ausziehen, um sie so am besten in der Kürze zu charakterisiren:

»O wie selig sind die Seelen,
Die mit Jesu sich vermählen,
Die sein Lebenshauch durchweht;
[71] Daß ihr Herz mit heißem Triebe
Stündlich nur auf seine Liebe
Und auf seine Nähe geht.«

»Solche Seligkeit liegt hinter Euch, wie das verlorene Paradies. Nicht einmal die Ahnung derselben lebt in Eurer Brust. Es will Nacht in Euch werden, volle Nacht. Viel eher als den Lebensweg werdet Ihr den Verzweiflungsweg wandeln, den Judas ging, als er das Blutgeld den Hohenpriestern vor die Füße geworfen hatte. Denn Judasväter und Judasmütter seid Ihr, die Ihr Eure Kinder für elenden Mammon verschachert und verkauft! Wenn der Geiz die Liebe tödtete in des Judas Brust, daß er seinen Meister und Heiland für dreißig Silberlinge verrathen konnte – steht Ihr vielleicht höher? Ist nicht auch Eure Liebe todt? Auch Eure Liebe zu Gott und Christus? Vernichtet und veranstaltet Ihr nicht in Folge dieses schamlosen Handels das Ebenbild Gottes in Euren Kindern? Werfet Ihr sie nicht dem Satan in den Rachen, statt der rührenden Bitte des göttlichen Kinderfreundes zu gehorchen? »Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht!« Gibt es irgend Heiden in der Welt, die so unnatürlich wie Ihr die angebornen Gefühle eines Vater- und Mutterherzens unterdrückten? –

Abels Blut schrie zum Himmel hinauf. Kains Fuß war unstät und flüchtig auf Erden; auf seiner Stirne brannte das Brandmal des Mörders.

Auch auf Eurer Stirn ist das Kainszeichen eingebrannt. Die gemordete Unschuld Eurer Kinder schreiet zum Himmel hinauf. Wenn sie aus dem Ausland zurückkehren, ist ihr Leib zerrüttet und ihre Seele gemordet. Ihr seid die Mörder! Und das Feuer, das nicht erlischt, brennt auch Euch, und der[72] Wurm, der nicht stirbt, nagt auch an Euch, daß Ihr nicht Ruhe findet, hier nicht und dort nicht. Euch wäre besser, Ihr wäret nie geboren!

Und könnte es nicht auch hier schön und sonnig sein, wie draußen der helle Sommermorgen? Könnte nicht auch hier der Geist der Liebe und des Friedens walten? Ist es nicht Gottes Himmel, der sich über uns wölbt? Ist es nicht Gottes Erde, auf der unser Dorf steht, und wohnet nicht auch bei uns die Fülle seiner Liebe und Gnade? Ist des Sohnes Blut nicht auch für Euch geflossen? Hat es nicht Kraft, selbst Euch von Euren Sünden zu waschen? Ruft er nicht dort auf Golgatha mit seinen ausgebreiteten Armen auch Euch: »Kommet her zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken!«« –

Das sind so etliche Stellen aus dieser Predigt. Sie war scharf und schneidend, aber von dem heiligen Zorn des Augenblicks eingegeben. Und mußte sie nicht schneidend und scharf sein, wenn die Eiterbeule, die an dem Leben der Gemeinde fraß, aufbrechen sollte?

Den Nachmittag hatte ich Kirchenvorstandssitzung ansagen lassen, nicht etwa in der Absicht, große Berathungen mit den Kirchenvorstehern zu pflegen, oder ihre Unterstützung zu verlangen; sie sollten blos unterschreiben. Denn auf das Unterschreiben und Jasagen beschränkte sich nach ihrer eigenen Wahl lediglich ihre Amtsthätigkeit. Ich hatte diesmal ihre Unterschriften nöthig, weil ich ein gewichtiges Gesuch an das Amt wollte abgehen lassen, worin ich um gründliche und ernstliche Untersuchung der obwaltenden Zustände und um schleunige Abhülfe bat, da dadurch vielleicht noch manchem schwebenden Unheil vorgebeugt werden könne.

[73]

Das war mein letztes Rettungsmittel für die Mädchen. Man sollte denken, es sei mein erstes gewesen; aber frühere Erfahrungen hatten mich nicht besonders ermuthigt und auch der Erfolg des vorliegenden Schriftstücks widerlegte meine Ahnungen nicht. Um die bestimmte Zeit kamen die »Kirchenherrn«, wie man dort den Kirchenvorstand bezeichnet. Voran schritt der Bürgermeister. Schon an seinem Gruße merkte ich, daß er betrunken war. Dieses wurde aber noch deutlicher, als er in das Zimmer trat; denn da fing er so an zu taumeln, daß ich alle Augenblicke glaubte, er würde hinstürzen, und es wäre auch geschehen, wenn er sich nicht krampfhaft an meinem Kanapee festgehalten hätte. Als er kaum diesen sicheren Hafen erreicht hatte, ließ er sich auch hineinsinken. Wie er aber nun festen Grund unter sich spürte, holte er auch sofort seine bürgermeisterliche Würde wieder hervor, indem er die große Brille, die sich etwas verschoben hatte, zurecht setzte, die dünnen Haare an den Schläfen glatt strich und den Hemdkragen hervorzupfte.

»Herr Bürgermeister, Sie sind betrunken und wagen es in diese Sitzung zu kommen?« sagte ich.

»Das will ich erst bewiesen haben, daß ich betrunken bin!«

»Sie können ja nicht gehen und stammeln nur die Worte hervor und das ganze Zimmer ist voll Schnapsgeruch.«

»Ich will's bewiesen haben, daß ich betrunken bin. So was lasse ich mir nicht sagen, dafür bin ich Bürgermeister.«

»Sie verlassen jetzt augenblicklich die Sitzung und ich werde über Ihr Betragen berichten.«

»Ich bleibe hier und will den einmal sehen, der den Bürgermeister von F. hinausthut!«

[74]

»Den werden Sie gleich sehen.« Mit diesen Worten faßte ich ihn am Arm und führte ihn trotz seines Sträubens zur Thüre hinaus, die ich hinter ihm zuschloß. Eine Weile murmelte es draußen und man verstand deutlich Worte wie: »Schlechter Pfaff, ich komme Dir auch!«

Dann auf einmal gab es ein furchtbares Gepolter. Der Herr Bürgermeister war die Treppe hinuntergefallen. Wir liefen schnell herbei, um zu sehen, ob er sich keinen Schaden gethan habe; aber er hatte sich schon wieder erhoben und spazierte nun die Straße hinauf, indem er von einer Seite derselben auf die andere taumelte. Als wir wieder in das Zimmer traten, sagte der Kirchenvorsteher Mauser: »Es ist eine Schande, Herr Pfarrer! Ich sage weiter Nichts – es ist eine Schande. – Ich bin vierzehn Tage vor Johanni sechzig Jahre alt geworden, aber ich muß sagen, So etwas habe ich noch nicht erlebt.«

Mauser war der Wortführer in den Kirchenvorstandssitzungen. Er besaß die eigenthümliche Gabe, meine Gedanken, wenn sie kaum ausgesprochen waren, zu seinen eigenen zu machen und sie weiter auszuspinnen. Er war desto erpichter darauf, für einen Ehrenmann und guten Christen zu gelten, je deutlicher er fühlte, daß er eigentlich ein Schurke war. »Ich habe keinen Feind,« pflegte er zu sagen »und wenn der Herr will, werde ich es noch erleben, daß meine Gesinnung Anerkennung findet. Die Lieb' und die Freundschaft, die ich im Herzen trage, ist gar nicht zu sagen. So bin ich auch gegen Sie gesinnt. Ich habe mit allen Pfarrern gar gut gestanden. Wir waren immer wie Brüder.« Und in der That, er war der Allerweltsfreund und Allerweltsgevattersmann. Er war bei allen Viehhändeln, bei allen Krankenbetten, Leichenschmäusen,[75] Taufen und Hochzeiten. Ohne seinen Zuspruch und seine beruhigenden Worte geschah Nichts. Das Volk liebt es, bei seinen Festlichkeiten einen Mann zu haben, der das nöthige Ansehen und genügende Redegewandtheit besitzt, um die Mittelsperson bei vornehmen und fremden Gästen zu machen, den allgemeinen Gefühlen einen würdigen Ausdruck zu verleihen und, wenn das Gespräch stockt, wieder ein neues anzuspinnen oder, wie man sich ausdrückt – »Jemanden für die Ansprache.« Dafür war nun unser Mauser wie geschaffen. Er that hierin den kühnsten Anforderungen Genüge. Aber auch sich vergaß er nicht. Seine Leidenschaft für den Branntwein war eine selbst in dem Landgängerdorfe nicht ganz gewöhnliche. Doch fehlte es ihm an Mitteln, dieselbe nach Lust zu befriedigen; denn seine Frau, die den Schlüssel zum Geldschrank immer mit sich führte, hielt ihn äußerst knapp. So mußte er sich denn bei andern Gelegenheiten entschädigen und es war fast als hätte er dabei noch eine feinere Witterung, als ein Jagdhund, so sicher war er dabei, wo Branntwein umsonst gegeben wurde. Gar zu gern wäre er Bürgermeister geworden und hatte es wahrhaftig nicht an Umtrieben fehlen lassen, aber man wollte den Freund und Gevatter Mauser nicht zum Bürgermeister, denn man fürchtete für das Gemeindevermögen.

Als ich Nichts erwiderte, sondern vielleicht sehr niedergeschlagen aussah, fuhr er fort: »Es muß aber auch in letzter Zeit Alles zusammenkommen, um unsern lieben Herrn Pfarrer zu beleidigen und zu kränken.« Dabei wischte er mit seinem Schnupftuch in den Augenwinkeln, als wenn er ein paar Thränen wegzuwischen hätte. »Wissen Sie, daß ich und mein Kathrein in der letzten Zeit als ein Stückchen geflennt haben, daß sie es unserm Herrn Pfarrer so machen im Ort. O,[76] es sind gar boshafte, neidische Menschen hier im Ort. Wir haben es gleich gesagt, daß an der ganzen Geschichte kein wahres Wort wäre. Es war am Donnerstag Abend, da saß ich und las in der Bibel. Ich lese jeden Abend in der Bibel und da kann ich mich so vergessen, daß mein Kathrein als sagt: Jakob, weißt Du auch, wie viel Uhr es ist? Es hat eben elf geschlagen. So leg' Dich doch in's Bett! Es kostet so genug Oel; man kann es gar nicht mehr aufbringen. Kathrein, sage ich dann: was hier an irdischem Oel verloren geht, das gewinne ich an himmlischem Oel für meine Seele. So saß ich am Donnerstag Abend und las in der Bibel, da kömmt mein Hannesche hereingestürmt und erzählt in aller Hast die Geschichte von Ihnen. Das ganze Dorf spräche davon. Da ging ich hin, ohne ein Wort zu sprechen, und gab ihm eine Ohrfeige, daß es klatschte. So, sagte ich, wenn schlechte Menschen solche Sachen erzählen, dann mußt Du so viel Respekt vor unserm lieben Herrn Pfarrer haben, daß Du so etwas gar nicht nacherzählst. Und nun gehst Du in Dein Bett und legst Dich schlafen. Ich habe aber noch lange mit meiner Kathrein Rath gehalten. Kathrein, habe ich gesagt, Weißt Du, wer schuld ist an dem Allen? Das ist der Bürgermeister, habe ich gesagt. Es muß ein anderes Oberhaupt in's Dorf, der alle Strenge anwendet, um die Landgängerei zu unterdrücken und nicht überall noch mit Rath und That zur Hand geht, und wenn wir keinen andern Bürgermeister bekommen, geht noch Alles zu Grunde.«

»Sie mögen Recht haben, Mauser, daß viel Schuld am Bürgermeister liegt; aber es muß Jeder seine Schuldigkeit thun nach dem Maß seiner Kräfte und Gaben. Ich habe hier eine Schrift an's Amt aufgesetzt, worin ich um strenge[77] Untersuchung des Treibens der Seelenverkäuferei und um baldige Abhülfe bitte. Das mögen Sie unterschreiben.« »Von ganzem Herzen, Herr Pfarrer! Es ist dieses der einzige Weg, der noch helfen kann. Das habe ich schon lange gesagt.«

Nun wandte ich mich an den andern Kirchenvorsteher, Namens Schwalb, der ein redlicher Mann war, aber zum Unglück fast ganz taub. Er saß während der Sitzung gewöhnlich so da, daß er die hohle Hand an das am besten hörende Ohr legte, den Mund weit aufsperrte und die Augenbrauen in die Höhe zog. Sobald ich nach ihm hinsah, nickte er freundlich mit dem Kopf und machte eine Bemerkung über den jedesmaligen Wetterstand, oder sagte: »Sie haben heute gar schön gepredigt,« obwohl er kein Wort recht verstehen konnte. Auch jetzt machte er mir das Compliment. Ich gab ihm stillschweigend die Schrift zum Durchlesen, aber er unterzeichnete, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben. Damit entließ ich die würdigen Kirchenherrn.

Am folgenden Mittwoch Morgen erhielt ich zwei Dienstbriefe. Der eine trug das Amtssiegel, der andere das Decanatssiegel.

Ich öffnete zuerst das Schreiben vom Amt. Da wurde ich denn ersucht, erst spezielle Thatsachen aufzuführen und Zeugen zu nennen, dann wolle man sich bewogen finden, die Zeugen abzuhören und, je nachdem der Thatbestand sich ergebe, einzuschreiten. Ich legte den Brief ziemlich unbefriedigt bei Seite und öffnete den andern, in welchem noch ein zweites Schriftstück lag. Das Schreiben des Decans lautete: »Sie empfangen hier eine Anklage Ihres Kirchenvorstandes, worüber ich Sie ersuche, sich alsbald zu verantworten.« Die Anklage war folgende:

[78]

Hochwürdiger Herr Decan!

Wenn es erlaubt ist mit Ihne zu rede, bitte wir Ihne um Entschuldigung, daß wir Ihne lästig falle müsse, aber mit uns Herrn Pfarrer ist gar kein Auskomme meh. Er ist mit eim Wort wüthend und gleicht gar keim Mensch meh. Am Sonntag kam er in die Kirch und hat so die Thür hinter sich zugeschlage, daß nervenschwache Weiber und Greise fast ohnmächtig geworde wärn und hat sich geberdt auf der Kanzel, als wenn er besoff wär und geschimft und räsonnirt, daß uns Gemein ein ganz schlechte Nam kriegt von dene fremde Leut, die auch drin warn. Er kümmert sich um alle Angelegenheiten, die ihn nix angehn und stift Streit unter die Familien und hetzt die Leut hintereinander. Wenn er einmal ein Buckel voll Schläg bekäm, dafür könnt mir nix. Wenn uns Dorf in Unzucht und Schlechtigkeit fällt, daran ist er allein schuld. Im ganze Dorf schwätzt man davon, daß ers mit eim schlechte Mädche hätt. Wie soll denn nun die Jugend sein, wenn der Pfarrer so ist. Uns ganz Dorf kömmt noch durch so ein Pfarrer in Verruf. Wir möchte Herrn hochwürdigste Decan unterthänigst gebeten habe, ihn gerad wegzusetze. Es könnt möglich sein, daß er sich in einer andern Gemeine besser aufführt. Wir wolle an seim Unglück nicht schuld sein, darum solle Sie ihn nicht absetze. In großer Unterthänigkeit grüßt

der Kirchenvorstand:

Adam Koch, Bürgermeister,
Jakob Mauser, Kirchenvorsteher,
Philipp Schwalb,   "

[79]

Ich hatte kaum das Schreiben gelesen, da kam der Anton Scheppler zur Thüre hereingestürzt:

»Sie sind fort, Herr Pfarrer!« –

»Wer ist fort?«

»Der alte Fink und die Mädchen.«

»Auch die Babette Heimerdinger?«

»Auch die Babette Heimerdinger.«


VIII.
Eine Predigt Gottes.

Es war Winter geworden. Der Schneesturm tobte und in den Feldern und Wiesen lag er fast zwei Fuß hoch. Wie ein Wintersturm war es auch über meine Jugend dahingegangen. All' mein Hoffen und Sehnen und meine Begeisterung war dahin. Ich fühlte mich innerlich geknickt und gebrochen. Mein Zerwürfniß mit der Gemeinde war zwar äußerlich beigelegt: Anne-Mile hatte geplaudert und sich nach und nach selbst verrathen. Als die Babette an der Guntramseiche in Ohnmacht fiel und ich um Hülfe rief, war sie ganz in der Nähe gewesen und hatte Alles mit angesehen und zum Theil mit angehört. Doch statt Mitgefühl zu empfinden, war der teuflische Plan in ihrer Seele wach geworden, Babette und mich in geschehener Weise zu verdächtigen. Der Anton Scheppler hatte einmal zu ihr gesagt, die Babette sei tausendmal schöner als sie, weil sie züchtig und rein wäre. Das hatte sie schon lange genug geärgert; die sollte nicht länger mit ihrer Unschuld groß thun. Nun hatte sie auch soviel[80] verstanden und sich zusammengereimt, daß ich der Babette helfen wolle und war den Abend gleich zum alten Fink gelaufen und hatte ihm Alles erzählt. Der war heftig erschrocken und versprach ihr zehn Thaler, wenn sie Babette und mich in der geschehenen Weise verdächtige, einen rechten Lärm im Ort mache und so meinen Einfluß vernichte. Die zehn Thaler freilich bekam sie nicht und der Aerger darüber war auch der Anlaß ihres Plauderns.

Der Kirchenvorstand, als er hörte, daß ich ihre Anklage in Händen habe und es mit meiner Versetzung Nichts würde, war gekommen, um mich um Verzeihung zu bitten, jedoch jeder Kirchenvorsteher allein. Der Bürgermeister meinte, der alte Fink und der Mauser wären an Allem schuld. Der alte Fink hätte gehetzt und Branntwein bezahlt und der Mauser hätte die Schrift gemacht. Der Mauser dagegen sagte, der Bürgermeister wäre der Urgrund alles Unheils und wir bekämen keinen Frieden in das Dorf, bis wir einen andern Bürgermeister hätten. Der Schwalb sprach vielleicht allein die Wahrheit, denn er gestand, er habe nicht gewußt, was er unterschrieben habe.

Als der Decan Kirchenvisitation hielt, hatte er sehr zur Eintracht und zum Frieden gerathen. Konnte aber Eintracht und Frieden zwischen mir und meiner Gemeinde sein? Wäre es nicht ein trauriges Zeichen für mich gewesen?

Jetzt im Winter, und da ich Alles in seiner nackten Wirklichkeit schaute und nicht mehr mit der idealisirenden Brille eines jugendlichen Herzens, fühlte ich doppelt meine Einsamkeit und Verlassenheit unter diesen Leuten. Mir war es oft mit meinem wunden Gemüthe, wie dem »ausgewanderten Dichter«:

[81]

»Allein? Allein? und so willst du genesen?
Allein? Allein? ist das der Wildniß Seegen?
Allein? Allein? o Gott, ein einzig Wesen!
Um dieses Haupt an seine Brust zu legen.«

Ich verstand es, wenn es in der Schrift heißt: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.« Und ich hatte ja eine geliebte Braut; aber bei dem dürftigen Einkommen der Stelle konnte ich nicht an Heirathen denken. Ich konnte stundenlang im trüben Sinnen am Fenster sitzen und hinunterblicken zu den fernen Burgen und Städten der Wetterau und zu den finsteren Höhen des Vogelberges. Meine einzige Gesellschaft war ein Rabe, der stets auf dem Stumpfe des vom Blitz getroffenen Baumes saß. Er nickte mir zu und ich nickte ihm zu, als verständen wir uns. Es schneite dabei immer zu und der Nordweststurm rüttelte an den Fenstern und wirbelte den Schnee auf und jagte den Rauch aus dem Kamin zurück in mein Zimmer. Aus diesem trüben Sinnen wurde ich geweckt durch eine Nachricht, die laut predigte von der Unbegreiflichkeit der Gerichte Gottes und von der Unerforschlichkeit seiner Wege. Es hieß: der Schneider Heimerdinger hat seine Frau erschlagen.

Anfangs hörte ich nur dunkle, abenteuerliche Gerüchte, als habe er ihr mit einer Axt den Leib aufgeschlitzt. Andere sagten, er habe ihr ein Schnitzmesser in den Hals geworfen. Endlich gelangte eine bestimmtere Nachricht an mich, daß die Frau Heimerdinger zwar stark verwundet sei, aber nicht todt, und man auch gar nicht wisse, ob ihr Mann schuldig wäre; nur lasse er keinen Menschen in's Haus, indem er vorgäbe, seine Frau sei zu schwach, um Besuch anzunehmen. Ich beschloß, auf jeden Fall die Sache näher zu untersuchen und mich so[82] leicht nicht abweisen zu lassen. Ich fand die Hausthüre von innen verriegelt. Aber als ich ein wenig Lärm mit dem Drücker machte, erschien ein Kopf am Fenster und bald darauf wurde geöffnet. Es war Konrad, der achtjährige Sohn des Heimerdinger, der mir öffnete. Sein Vater war nicht zu Hause. Er war vor einer Stunde in den Wald gegangen, um Holz zu holen, weil sie keinen Vorrath mehr im Hause hatten, um zu kochen und einzuheizen. Ich trat in ein freundliches, nettes Zimmer, wie kein zweites im ganzen Dorf zu finden war. Die Wände waren mit einer neuen, hellen Tapete bekleidet; an den Fenstern waren schneeweiße Halbvorhänge angebracht und auf einem selbstverfertigten Blumentischchen stand eine ganze Auswahl von Monatsrosen, Nelken, Geranien, Fuchsia's und Cactus. In dem Bett, das die Ofenecke ausfüllte und durch eine einfache Gardine geschützt war, lag die Frau Heimerdinger, das immer noch schöne Gesicht todtenbleich und von Schmerz entstellt. Der kleine Konrad war an ihr Bett getreten und hatte sein Gesicht in dem Kissen vergraben, während die Mutter krampfhaft in seinen Locken wühlte und mich gar verlegen und mißtrauisch anblickte.

»Es scheint Ungewöhnliches in diesem Hause vorgegangen zu sein«, begann ich die Unterredung.

»Ja, Herr Pfarrer, es wird mein Tod sein.«

»Was ist denn eigentlich geschehen?«

»Gestern Abend bin ich dunkel in den Keller gegangen und über das Sauerkrautfaß gefallen und habe mir an einem großen Nagel, der herausstand, den Leib aufgeritzt und ich glaube, einen Darm verletzt.«

Die Geschichte war so einfach und wahrscheinlich und so im Tone der Wahrheit erzählt, daß mir gar kein Bedenken[83] gekommen wäre, wenn ich nicht in ihren Augen etwas Lauerndes meinte wahrgenommen zu haben. Doch ich konnte mich auch täuschen. Um sie weiter zu beobachten, sagte ich rasch: »Es wird im Dorfe ganz anders erzählt, Frau Heimerdinger.«

Aber sie wußte es schon.

»Ich weiß es, der Konrad hat mir's gesagt. Es sind verleumderische Menschen, die einem gern etwas anhängen möchten und die nicht wissen, was sie thun.«

»Sie werden es wohl am besten wissen und werden nicht mit einer Lüge aus der Welt gehen wollen?«

»Nein, wenn man so nahe der Ewigkeit steht, lügt man nicht.«

Sie war aber feuerroth bei diesen Worten geworden und wendete sich ein wenig nach der andern Seite. Es war also nicht Alles richtig. Sie hatte Etwas zu verbergen.

»Gebrauchen Sie einen Arzt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie wissen, wir armen Leute schicken nicht gleich zum Doctor und in die Apotheke, wir können schon einen Stoß vertragen. Doch wenn mein Mann heimkommt, soll er gleich nach einem gehen. Die Schmerzen sind nicht gut zu ertragen und es ist Alles geschwollen.«

»Versäumen Sie es ja nicht! Sie haben schon zu lange gewartet. Sie können dadurch an Ihrem Tode schuldig sein.«

Sie war noch bleicher geworden. Ihre Schmerzen schienen furchtbar zu sein. Aber die größten Schmerzen konnten ihr das Geheimniß nicht auspressen. Sie hatte sogar noch Geistesgegenwart genug, sich nicht durch ein einziges Wort zu verrathen. Als sie sich wieder etwas erholt hatte, bemerkte ich darum, um sie noch stärker anzugreifen:

[84]

»Denken Sie auch an Babette?«

»Herr Pfarrer, die macht mir mehr Schmerzen, als meine Wunde. Wir haben gestern Morgen einen Brief von ihr bekommen. Sie schreibt nicht gut.«

»Dürfte ich den Brief vielleicht einmal sehen?«

»Ich glaube, mein Mann muß ihn mit haben.«

»Mutter,« sagte Konrad, »er liegt ja unter Deinem Kopfkissen.«

»Nein, Konrad, Dein Vater hat ihn mit.«

»Lassen Sie nur, Frau Heimerdinger, Sie können mir vielleicht etwas daraus mittheilen.«

»Sie schreibt von New-York aus, des andern Tages würden sie nach Californien absegeln. Sie macht uns schwere Vorwürfe und was mich am meisten ängstigt, ist: daß sie schreibt, sie blicke oft in das Meer und dann denke sie: wenn sie tief, tief dort unten liege, dann hätte sie Ruhe und Frieden. Balzer's Ernst hat auch einen Brief von ihr erhalten.«

Als sie mir nichts weiter mittheilte, wollte ich auch nicht weiter in sie dringen und fragte nur noch, wenn Sie denn sterben sollte, ob Sie sich auch gerüstet glaube, vor dem Richterstuhle Gottes zu erscheinen. Da antwortete sie auf einmal in einem ganz umgeänderten Tone: »Sie müssen wieder kommen, Herr Pfarrer, Sie müssen wieder kommen!« und schwere Thränen perlten in ihren Augen. »Ich habe noch viel mit Ihnen zu reden, ehe ich sterbe, aber jetzt bin ich zu schwach, zu angegriffen.« Ich sah ihr an, wie sie sich nur mit Mühe aufrecht erhielt und entfernte mich. Die Erinnerung an ihr unglückliches Kind schien den Panzer, der ihr Herz umschloß, geschmolzen zu haben. – Ich lag die Nacht im ernsten, tiefen Schlaf; da wurde mit der Faust wider meinen Fensterladen[85] geschlagen. »Herr Pfarrer, Sie sollen gleich in Heimerdinger's kommen: Die Frau Heimerdinger stirbt!« rief es draußen.

Ich zündete Licht an. Es war eben drei Viertel auf ein Uhr. Ich warf mich schnell in meine Kleider und war bereit, dem Manne, der noch draußen mit der Laterne stand, zu folgen. Der Sturm heulte, Schnee und Regen schmetterten wider die Fenster, die Dachziegel klapperten, die zwei alten Pappelbäume vor meinem Hause ächzten und stöhnten. Ich schauderte, in die schwarze, schreckliche Nacht hinauszugehen zu solchem Sterbelager. Aber die Pflicht rief. Unterwegs erzählte mir mein Begleiter, der ein Nachbar von Heimerdingers war, er und seine Frau seien schon den ganzen Abend im Hause. Die Frau Heimerdinger hätte bereits seit Stunden nach mir verlangt, aber der Heimerdinger habe immer Entschuldigungen und Ausreden vorgebracht. Zuletzt als sie immer schwächer geworden, sei er auf eigene Verantwortung zu mir gelaufen und hätte mich gerufen. Er glaube, sie wolle mir ein Geständniß machen. – Als wir eintraten, lag sie ebenso da wie am Morgen; nur saß ihr Mann neben ihr am Bett. Er warf mir einen wilden, verwirrten Blick zu, als ich so plötzlich und unvermuthet hereintrat, wandte sich aber gleich wieder zu der Sterbenden. Diese faltete die Hände und streckte sie hoch in die Luft, warf einen verzweifelten Blick auf mich und ihren Mann, that noch einen Schrei und war verschieden. Ich war zu spät gekommen. Der Mann warf sich schluchzend über die Leiche. Der Konrad lag ohnmächtig in der Nachbarin Arm. Ich sank auf die Knie und betete um Gnade für die arme Seele. Ich hätte gern eine gerichtliche Untersuchung der Leiche gehabt, zumal da das ganze Dorf derselben[86] Ansicht war, wie ich, daß der Fall über das Sauerkrautfaß reine Erfindung sei. Man traute allgemein der Frau Heimerdinger die Festigkeit und Charakterstärke zu, daß wenn sie ein solches Geheimniß hätte mit in's Grab nehmen wollen, sie es auch gekonnt habe. Aber der Arzt, der sie noch den Nachmittag vor ihrem Tode besucht hatte und den ich darüber sprach, sagte: es sei kein Grund vorhanden, hier gerichtlich einzuschreiten, indem an der Angabe der Kranken gar nicht zu zweifeln sei: Ich solle sie in Gottes Namen beerdigen.

Es war in der folgenden Nacht. Der Nordweststurm hatte sich noch nicht gelegt und rüttelte besonders an dem einsamen Haus des Schneiders Heimerdinger, als wollte er es vom Erdboden mit hinwegnehmen und mit ihm alles Verbrechen und Weh, welches es in sich verbarg. Mitternacht mochte vorüber sein, da erwachte der kleine Konrad hinter dem Ofen, hinter dem er sitzend eingeschlafen war. Der Ofen war kalt. Ihn fror es, daß die Zähne klapperten. Das Licht, das auf dem Tische stand, war am Ausgehen und flackerte auf und nieder. Bei seinem ungewissen Schein glaubte er zu sehen, wie seine Mutter, deren Leiche mit einem Leintuch verhüllt auf dem Bette lag, ihre Hände nach ihm ausstreckte. Wie er sich entsetzt abwandte, fiel sein Blick auf seinen Vater, der lang ausgestreckt, bleich wie seine Mutter, auf dem flachen Stubenboden lag. So war er hingefallen, als er spät in der Nacht betrunken in die Stube hereintaumelte, und liegen geblieben und eingeschlafen. In demselben Augenblicke, als der Knabe seinen Vater erblickte, erlosch das Licht. Da wurde es wirr in seinem Sinn; er meinte den Sterbeschrei seiner Mutter wieder zu hören; er glaubte, eine Faust fasse ihn beim Genick, sein Haar sträubte sich in die Höhe und mit einem[87] lauten Schrei stürzte das unglückliche Kind, vom Entsetzen gepackt vor seinen eigenen Eltern, hinaus aus dem Vaterhaus in die wilde Nacht hinein, um sich eine andere Heimat zu suchen. Der Wind spielte mit seinen Locken und fuhr eiskalt durch seine dünnen Kleider und bei jedem Schritt brach er bis über die Knie in den Schnee. Aber fort ging's, wie das gehetzte Wild vor einer Meute Hunde dahinläuft. Fort – fort – aber wohin du armer Knabe, in der dunkeln Nacht, in Wind und Wetter, im tiefen Schnee? In die Heimat? Du hast ja keine Heimat! Dein Vater ist ein Mörder – Deine Mutter ist ermordet – Deine geliebte Schwester ist verkauft! Oder willst du in die andere Heimat? Du hättest sie wohl auch noch erreicht in dieser Nacht, wenn Gott nicht seinen Engeln befohlen hätte: »dies Kind soll wohl behütet sein!«

Auf einmal war es dem Konrad, als hätte er keinen Boden mehr unter den Füßen; dann meinte er, er könne fliegen, dann lag er so weich, so weich und wäre gern eingeschlafen, aber das Bein that ihm so weh, daß er in einem fort aufschreien mußte.

»Hanjörg, Hanjörg«, sagte zum Bauern auf dem Hauserhof seine Frau, die Babett, und strich ihm mit der Hand über's Gesicht, um ihn aufzuwecken: »ich weiß nicht, die Hunde rasen ordentlich an ihren Ketten; es muß Etwas im Hof sein. Es wäre gut, wenn Du einmal hinausgingst und nachsähest: ich traue dem Heidenvolk nicht, das in den letzten Tagen hier herumstrich. – Und horch! – wenn der Sturm nicht so heult – hörst Du es nicht jammern und jispern? Mein Gott, wenn so ein Unglücklicher in der Dunkelheit die Felswand hinabgestürzt wäre!« Mit gleichen Füßen fuhr sie aus[88] dem Bette und in fünf Minuten stand sie schon mit ihrem Manne im Hof und fanden dort den armen Konrad, der ein Bein gebrochen hatte.

Ich hatte noch nicht gefrühstückt, da war ein Knecht vom Hauserhof da: ich solle gleich einmal hinauskommen, es wäre etwas Wichtiges.

Ich beeilte mein Frühstück und machte mich auf den Weg; aber der Hof war, obwohl nur eine Viertelstunde entfernt, kaum zu erreichen vor dem ungewöhnlich tiefen Schnee. Endlich trat ich wie ein Schneemann mit Schnee beladen in's Zimmer und merkte nun alsbald auch, um was es sich handelte, da ich den Konrad im breiten Familienbette entdeckte und die geschwätzige Hoffrau mir fast in einem Athem über die nächtlichen Geschichten berichtete und andeutete, daß der Knabe Alles wisse und auch sagen würde, worüber man bis jetzt nur noch Vermuthungen hatte.

»Das Bein ist wieder kunstgerecht eingerichtet vom Schäfer von Langenbuch: der versteht's besser als ein Doctor. Er war noch keine fünf Minuten fort, als Sie kamen und morgen will er wieder kommen und nachsehen. Aber was das Konrädchen zu sagen hat, da sollten Sie dabei sein! Sie wissen doch besser mit solchen Dingen umzugehen, als wir. Und wenn der schlechte Mensch schuldig ist, so muß er d'ran und wenn es tausendmal noch ein Verwandter von uns ist. Für die Kinder ist gesorgt. Der Konrad bleibt gerade bei uns und ich wollte, die Babett, mein Göthchen, das herzige Mädchen wäre auch wieder da! Es würde sich noch Manches machen lassen. Ich und mein Alter haben schon lange unser Augenmerk auf die herrlichen Kinder des Heimerdinger geworfen, da uns Gott diesen Segen versagt hat.«

[89]

Um den Strom der Rede, der wahrscheinlich noch so eine Weile fortgeflossen wäre, abzuschneiden, trat ich an's Bett und fing an, den Knaben zu verhören. Jedoch nur auf die heiligsten Versicherungen des Schutzes, den er genießen sollte, begann er seine Erzählung, die oft durch Weinen unterbrochen wurde und worüber ich mir in manchen Stücken erst durch langes Examiniren Aufklärung verschaffte. Heimerdinger hatte durch den Verkauf seines Mädchens die Schuld, die auf dem Hause ruhte, gedeckt und auch noch etliches baare Geld in die Finger bekommen. Aber sein Durst war diesem und noch mehrerem gewachsen; er schien sich sogar noch von Tag zu Tag zu steigern. Die Arbeit war ihm gänzlich verleidet und er begehrte Nichts als zu trinken und wieder zu trinken. Das war nun ein großes Leidwesen für die Frau, die schon zum Voraus berechnen konnte, wann der Preis, für den sie ihr herrliches Mädchen dahingegeben hatte, durch den Leichtsinn und die Trunksucht ihres verkommenen Mannes bis auf den letzten Heller verzehrt sein würde! Alle Vorstellungen und Zuredungen halfen Nichts; ebensogut hätte sie dem Winde sagen können, er solle nicht mehr wehen oder dem Feuer, es solle nicht mehr brennen, wie dem Heimerdinger, er solle nicht mehr trinken. – Ueber die neuen Tapeten, welche sie gekauft und über die neuen Einrichtungen im Haus und Garten, wonach sie sich schon so lange gesehnt hatte, konnte sie sich gar nicht freuen; sie gereichten ihr nur noch zu größerem Schmerz. Nun kam der Brief von Babette. Sie hatte laut aufweinen müssen vor furchtbarem Weh und Herzeleid, als sie die schweren Kämpfe ihres armen verstoßenen Kindes erkannte und seine gerechten Vorwürfe fielen wie Hammerschläge auf ihr selbstsüchtiges Herz. – Selbst der Mann wurde soweit gerührt, daß er[90] sich vornahm, wieder zu arbeiten. Er wollte sich beim Holzfällen betheiligen und wie sonst den Schweinemetzger im Dorfe spielen und sich auch diese wenigen Kreuzer nicht entgehen lassen. Deshalb nahm er seine Axt und sein Schlachtmesser und sagte: er wolle zur Schmiede, um sie sich dort auf dem Schleifstein zu schleifen. Aber er kam den ganzen Tag nicht heim. Konrad hatte schon mit seiner Mutter zu Nacht gegessen und sie las wieder Babettens Brief, da taumelte Heimerdinger völlig berauscht zur Thüre herein, in der einen Hand die volle Branntweinflasche, in der andern seine Axt und sein Schlachtmesser. Er war sehr guten Humors und setzte die Flasche an den Mund, um seiner Frau zuzutrinken. Aber in dieser hatte jetzt die Geduld ihr Ende erreicht und je lustiger er war, desto grimmiger wurde sie. Sie riß ihm die Flasche aus der Hand und rief: »Du Nimmersatt, du verfluchter Saufaus, o daß Du ersticktest an dem nächsten Tropfen, den Du trinkst! Du säufst unsere Thränen und unser Blut, Du Wütherich!«

Ganz kaltblütig erwiderte er: »Gib die Flasche her und schrei nicht so!« »Die Flasche bekommst Du nicht wieder!« »Gib die Flasche her oder es gibt ein Unglück!«

»Ich fürchte Dich nicht und Du bekommst sie nicht!«

»Gib die Flasche her oder –!«

»Da hast Du sie!« rief seine Frau und warf sie ihm vor die Füße, daß die Splitter umherflogen. Aber in demselben Augenblicke griff er nach seinem Schlachtmesser und rannte es ihr in den Leib. Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus und fiel für todt in die Stube. Heimerdinger war plötzlich nüchtern geworden, als er das Blut am Boden rinnen und seine Frau als Leiche im Zimmer liegen sah. Er schlug sich mit der Faust wider die Stirn und schrie: »Mörder! Mörder!«[91] verfluchte sich und den Branntwein und warf sich über den Leichnam und weinte bitterlich. Als er so über ihr lag, meinte er auf einmal noch Leben in ihr zu verspüren und legte sie deshalb auf ihr Bett. Um die Wunde ungestört untersuchen zu können, riegelte er die Hausthüre zu und machte allerhand Wiederbelebungsversuche. Und wirklich erholte sie sich rasch wieder und fühlte sogar im Augenblick keinen besonderen Schmerz. Da war es denn auch mit der ernstlichen Reue des leichtsinnigen Trinkers schon vorbei und er fing an, die Spuren seiner Unthat zu vertilgen. Die Blutlache machte ihm viele Arbeit, zumal da er nicht überflüssig Wasser im Hause hatte. Das Messer vergrub er im Holzschoppen. Dann sagte er zu seiner Frau: »Nun mag daraus entstehen, was da will; du bist über das Sauerkrautfaß im Keller gefallen. Wenn Du anders sagst, schneide ich mir den Hals ab, das schwöre ich Dir bei Gott dem Allmächtigen!

Und Du, Konrad, wenn ein Wort über Deine Lippen kommt, schlage ich Dir die Axt auf den Kopf, so gewiß ich Heimerdinger heiße!« –

Der Knabe war durch sein Erzählen und mein ständiges Fragen so ermüdet, daß er dringend der Ruhe bedurfte und da auch alles Weitere von keinem besonderen Belange war, überließ ich ihn ganz seinem weiten Federbette.

Ich aber setzte sofort die Hauptsache des eben Gehörten zu einem Bericht zusammen und schickte damit direkt einen Knecht an's Amt. Schon gegen Abend desselben Tages kam eine Untersuchungscommission in's Dorf, von zwei Gensdarmen begleitet. Des Mörders Haus fanden sie jedoch verschlossen. Dieser war seit der Todesstunde seiner Frau nicht mehr nüchtern geworden; bei Tage trieb er sich in den Branntweinkneipen[92] der Umgegend umher und erst spät in der Nacht kehrte er in fast bewustlosem Zustande heim. So wurde die Hausthüre erbrochen. Die Section ergab, daß die Wunde nicht durch einen Nagel, sondern nur durch ein scharfes, schneidiges Instrument könne bewerkstelligt sein. Das Messer fand sich nach kurzem Suchen im Holzschoppen. Und nun erstand auch noch im Nachbar ein wesentlicher Zeuge, da er den Heimerdinger mit Axt, Messer und Flasche hatte heimgehen sehen und den Schrei der Frau und den Ruf »Mörder! Mörder!« gehört hatte. Er war auch an's Haus geeilt, als er aber die Thüre verschlossen fand und er seinen Nachbar in der Trunkenheit fürchtete, hatte er sich wieder zurückgezogen. Es wurden noch außerdem die halbe Nacht Zeugen verhört. Die zwei Gensdarmen saßen während dessen in dem dunklen Haus und warteten auf die Heimkehr des trunkenen Schneiders. Sie mußten lange vergeblich warten. Endlich kam er. Er hatte so weit die Erinnerung an seine ganze Situation durch Branntwein hinuntergespült, daß er mit lauter Stimme sang. Doch mag er etwas überrascht gewesen sein, als er nun plötzlich verhaftet und gefesselt wurde. Den Rest der Nacht mußte er in Fesseln neben der Leiche sitzen. Auch des andern Morgens wurde er nicht gleich abgeführt, da das Zeugenverhör noch immer andauerte, und so traf es sich, daß er gerade von den zwei Gensdarmen aus dem Dorfe hinaustransportirt wurde, als man seine gemordete Frau im Sarge hinaustrug. Wie mag ihm das Grablied, das er noch hörte, in den Ohren geklungen haben.


[93]

IX.
Das Ende.

Eines Nachmittags kam die alte Balzerswäs ganz verstört in mein Zimmer.

»Der Himmel erbarme sich einer alten Wittfrau! Wie schwer wird man heimgesucht! Denken Sie, mein Ernst ist fort, ist der Babett nach, dem verfluchten Mensch!«

»Was sagen Sie, der Ernst ist fort! ist nach Californien?« rief ich ganz verwundert.

»Ach Gott, das viele, viele Geld!«

»Es ist allerdings ein leichtsinniger Streich, der schlimme Folgen für seine Zukunft haben kann. Doch wie ist es denn zugegangen?«

»Nun wie wird's zugegangen sein! Der Bub ist ganz verhext in die Babett, sie hat ihm auch, glaube ich, von Amerika aus geschrieben und ihn dazu verleitet. Es kann ja nicht anders gehen, wenn man sich unter das Bettelpack mischt. Als er die Weihnachten hier war, ist er nicht wieder auf's Seminario. Ich hatte ihm das Kostgeld für ein halbes Jahr mitgegeben, das hat er nicht bezahlt. Seine Bücher, sein Weißzeug, sein Bett und sein Clavier hat er für ein Lumpengeld verkauft und vom Izik aus der Stadt hat er sich auf Handschein zweihundert Gulden geben lassen. Denken Sie, der stille, brave Ernst! Die Gedanken kann ihm doch nur das Satans Ding eingegeben haben. Wir sind erst hinter die ganze Geschichte gekommen, als der Izik mich vorgestern anrief und fragte, wer denn die Zinsen von den zweihundert Gulden bezahlte – ich oder der Ernst. Ich weiß gar nicht, wie ich heimgekommen bin. Der Hanjost mußte gleich hinüber nach[94] J., aber das Nest war leer – der Vogel war fort. Er wird auch nicht mehr aufgenommen in's Seminario, weil er durchgegangen ist. Der Hanjost hat's aus dem Mund vom Direktor.

Denken Sie, jetzt muß ich das Kostgeld noch bezahlen und der Izik will am Ende auch noch sein Geld haben. Ach Gott, das viele, viele Geld! Was hat das Studium nicht Alles gekostet und nun ist Alles umsonst! Es wäre vielleicht doch am besten gewesen, wenn wir Ihnen gefolgt hätten, aber wer hätte denken können, daß Alles so käme! Ja, ich vergesse ganz, was ich eigentlich fragen wollte. Ist denn gar nichts mehr zu machen? Kann man ihn denn nicht mehr erreichen?« – »O ja, Sie müssen nach Hamburg oder Bremen telegraphiren und ihn dort festnehmen lassen.«

»Kostet das aber nicht wieder Geld?«

»Gewiß wird es Geld kosten, doch ich meine, das könnte Sie in diesem Fall nicht kümmern!«

»Nun ich könnte einmal in die Stadt gehen. Hernach kann man immer noch machen, was man will.«

»Aber wenn Ihre Bemühungen Erfolg haben sollen, Frau Balzer, so thut die größte Eile noth.«

Ob sie hat telegraphiren lassen, weiß ich nicht. Zurückgekommen ist er wenigstens nicht. Dagegen kam im Mai des Jahres ein Brief von Försters Anna, der von ihm Nachricht gab. Weil dieser Brief auch die einzige Nachricht vom ferneren Schicksal Babettens enthielt, suchte ich mir denselben zu verschaffen und will den Hauptinhalt desselben hierhersetzen.

Theuerste Eltern!

Ihr empfanget hiermit meine Photographie. Es ist jetzt Mode, seinen Eltern die Photographie zu schicken. Alle Herrn[95] wollen auch meine Photographie haben. Sie sagen: ich wäre sehr gut getroffen und nähme mich reizend aus. Das Kleid, was ich auf dem Bilde anhabe, ist von Seide und die gelben Streifen um die Finger sind goldene Ringe. Ich wollte auch meinen neuen Hut und meine seidene Mantille anthun, aber der Maler sagte, ich würde anders viel schöner aussehen. Alle Herrn sind in mich vergafft. Mir gefällt's sehr gut hier. Anfangs, als ich noch einfältig war, habe ich als viel gegreint und mich heim gewünscht, aber jetzt habe ich mich schon recht gefunden. Es wäre Alles recht gut hier, wenn die Männer nur nicht so wild wären und gleich aufeinander schössen und sich todtstächen. Aber Mord und Todtschlag ist hier überall und Alle haben Pistolen, wo man oft mit schießen kann, die sie »Revolver« nennen und lange Messer. – Artig sind sie – das ist wahr – und können einem ganz anders die Cour schneiden, als unsere Bursche daheim. In unserm Tanzhôtel heiße ich allgemein »die Königin«, besonders seit die Babett todt ist und auch als sie noch lebte, hatte ich schon viel den Vorzug wegen meiner Munterkeit und Anstelligkeit.

Doch ich habe Euch noch gar nicht den Tod der Babett berichtet. Ach, das arme, arme Ding! Ich muß gerad weinen, wenn ich an sie denke. Wir waren immer so gute Kamerädinnen. Ich wollte, ich wäre nur einmal ein paar Stunden bei Euch! Es ist gar zu viel zu erzählen. Die Babett war schon ganz merkwürdig, als wir auf dem Meer waren, gar nicht wie wir Andern. Sie hatte gar keine Furcht, bekam auch nicht die Seekrankheit. Meistens saß sie auf dem Deck und guckte oft stundenlang nach dem Himmel oder hinunter in die See. Ich sagte einmal zu ihr: Nun willst Du ein Sterngucker werden? Da hat sie laut angefangen zu weinen. Hernach[96] habe ich sie nie mehr gestört. Aber ich glaube, sie hat damals viel daran gedacht, sich selbst um's Leben zu bringen. Ich mußte bei ihr sitzen bis spät in die Nacht hinein und wenn ich fort wollte gehen, hat sie mich um Gotteswillen gebeten, ich solle bei ihr bleiben. Dann sang sie all' die Lieder, die wir als Sonntags an der Guntramseiche gesungen haben. Aber auch Ein's hat sie oft gesungen; ich glaube, das hat sie selbst gemacht:

Ich steh' am Schiffsgeländer
Und blicke in die See;
Ich möcht' so gern hinunter,
Begraben alles Weh!
Es ist so tief da drunten,
So tief bis auf den Grund,
Mein Schmerz ist noch viel tiefer;
Ich werd nicht mehr gesund.
Mein Ernst, du lieber Bube,
Dein Schatz sagt dir: Ade!
Du siehst Dein Mädchen nimmer;
Es liegt in tiefer See.
Im Meer ist gar viel Wasser,
Wo man mit säubern mag;
Ich möcht' mich drunten waschen
Von aller meiner Schmach!

Einmal hatte sie es wieder gesungen, da sprang sie wild in die Höhe und schaute ganz verwirrt um sich. Mir war angst und bang, und ich wollte schon um Hülfe rufen, da fiel sie auf die Knie und betete laut:

Mein Gott, ich bitt' durch Christi Blut!
Mach's nur mit meinem Ende gut.

[97]

Von der Zeit an habe ich das Lied nicht mehr von ihr gehört.

Wir haben auch einen Sturm mitgemacht. Das brüllte und tobte, als ginge die Welt unter. Aber als wir Alle schrien und weinten, war die Babett ganz ruhig, als wenn Nichts wäre. Und als das Schiff krachte, als wollte Alles kaput gehen, da leuchteten ihre Augen zum ersten Mal wieder wie daheim. – In Californien wollte sie ganz apart sein. Sie hat uns als recht geärgert mit ihren Ermahnungen, wir sollten beten und in der Bibel lesen. Wir sagten ihr, wenn wir uns predigen wollten lassen, gingen wir in die Kirche. All' ihr Heiligthun hat ihr auch Nichts geholfen. Sie mußte mit wie wir Andern. Was ist sie geschlagen und gepeinigt worden! Die Schottin ist noch schlimmer als der alte Fink und der ist wahrhaftig schlimm genug. Sie hat jedoch nie geklagt und auch nie geschrien. In die Lippen hat sie sich gebissen, daß das Blut herunterlief und die Thränen sind ihr aus den Augen gestürzt. Wir mußten als laut weinen, wenn sie so mißhandelt wurde. Im Tanzsaal that sie gar stolz. Sie hat mit Niemandem getanzt und wenn's Einer fertig bringen wollte, mußte er sie mitschleppen. Und doch waren die Herrn gleich in sie vernarrt, als sie zum ersten Mal mit mußte. Es war, als wenn sie allein im Saal wäre. Alle hatten Respekt vor ihr. Sie nannten sie »die Jungfrau von Orleans.« Da war aber Einer – sie nannten ihn den »schwarzen Tom«, – das war der Haupthahn und der Schönste von Allen. Ich konnte ihn ganz gut leiden. Seine kohlschwarzen Augen brannten wie lauter Feuer und seine Zähne waren so weiß wie Elfenbein. Er führte Alles an und sie mußten ihm Alle gehorchen. Der machte eine Wette: er wollte die Babett küssen mitten im Saal vor den Leuten. Und er that's auch; aber[98] die Babett, die immer so riesig stark war, gab ihm eine Ohrfeige, daß er den langen Weg in den Saal fiel. Alle lachten, spotteten und uzten; denn es waren Viele, die ihn nicht leiden mochten. Er wurde dadurch wüthend, nahm seinen Revolver und schoß der Babett durch die Brust. Es war ein furchtbares Durcheinander. Der Tom hätte sich retten können, aber ein alter Herr hielt ihn so fest, daß er nur zappelte. Der ließ auch die Babett in sein Haus schaffen. Man erfuhr hernach, daß er ein Deutscher sei; er hätte auch der Babett ihre Mutter schon gekannt und hätte vorgehabt, die Babett zu sich zu nehmen und hätte nur noch eine Zeitlang warten wollen, um ihre Beständigkeit zu prüfen. Der Tom wurde schon den andern Tag gehenkt. Die Babett war nicht gleich todt, sondern hat noch vierzehn Tage gelegen und nicht besonders viel Schmerzen gehabt. Um den Jammer voll zumachen, kam vor ein paar Tagen plötzlich der Ernst und traf mit einem von unsern Mädchen zusammen.

Das war ein Wiedersehn: Die Steine hätten sich erbarmen mögen! Er hatte die halbe Welt durchreist, um sie zu retten, wie er sagte. Er hatte sein Studium und Alles aufgegeben und nun fand er sie am Sterben. Die Babett war wunderbar ruhig und getrost. Als sie den Ernst sah, sagte sie: Nun ist Alles gut! Der Tod ihrer Mutter durfte ihr nicht gesagt werden. Sie sah fast aus wie ein Engel und Alle hat sie getröstet. Und wie ein Engel ist sie hinübergegangen. Der Ernst ist ganz niedergeschmettert. Er ist vorläufig noch bei dem alten Herrn. Ich habe ihm die Geschichte von unserer Reise so oft erzählen müssen, daß ich sie fast auswendig kann. Doch jetzt thun mir die Finger weh, so viel habe ich geschrieben und es ist auch Zeit, daß ich an meine Toilette denke.[99] Heute Abend ist großer Maskenball und Alle haben gesagt: »Die Königin darf nicht fehlen!«

Haltet Euch gesund und seid gegrüßt von

Eurer treuen Tochter

Anna Klein.

Nachschrift: Ihr findet auch ein Bankbillet von fünfzig Dollars in dem Brief; der alte Fink braucht nicht Alles zu wissen.


Ich hätte vielleicht noch Ausführlicheres von den Heimkehrenden in Erfahrung bringen können, wenn ich nicht etliche Monate darauf in eine der schönsten Gegenden des Lahnthals versetzt worden wäre.


[100]

Druck von Velhagen & Klasing in Bielefeld.


Weitere Anmerkungen zur Transkription

Der Schmutztitel wurde entfernt.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.

Korrekturen:

S. 94: Hangost → Hanjost
Der Hanjost hat's aus dem Mund

S. 95: war → wahr
Artig sind sie – das ist wahr