Title: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, Erster Band (von 2)
Author: Wilhelm Wattenbach
Release date: June 20, 2017 [eBook #54949]
Most recently updated: October 23, 2024
Language: German
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The Project Gutenberg eBook, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, Erster Band (von 2), by Wilhelm Wattenbach
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im Inhaltsverzeichnis führt auf S. 392 zu "§ 8. Alamannien." - Dies ist so belassen.)
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VON
W. WATTENBACH.
IN ZWEI BÄNDEN.
ERSTER BAND.
SECHSTE UMGEARBEITETE AUFLAGE.
BERLIN.
VERLAG VON WILHELM HERTZ.
(BESSERSCHE BUCHHANDLUNG.)
1893.
MEINEM FREUNDE
ERNST DUEMMLER
GEWIDMET.
Im Jahre 1858 erschien die erste Ausgabe dieses Handbuches, veranlaßt durch eine von der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gestellte Preisfrage; sie ist einem dringend empfundenen Bedürfnisse entgegen gekommen und hat eine sehr günstige Aufnahme gefunden. Die Mängel, welche bei einem ersten Versuch kaum zu vermeiden waren, wurden mit freundlicher Nachsicht beurtheilt. In den neuen Ausgaben sind sie, so weit es mir möglich war, beseitigt worden; manche früher übersehene Quellenschrift ist nachgetragen. Vorzüglich aber ist die sehr lebhafte litterarische Thätigkeit der Zwischenzeit auf diesem Gebiete sorgfältig berücksichtigt. Dagegen ist an dem Plane und Charakter des Buches nichts geändert; es soll kein gelehrtes Repertorium zum Nachschlagen sein, sondern durch zusammenhängende Darstellung zum eigenen Studium der Quellen anleiten, diesen in Beziehung zu den geschichtlichen Vorgängen der einzelnen Abschnitte ihren Platz anweisen. Bibliographische Vollständigkeit anzustreben, war um so weniger nöthig, da seitdem Potthasts Werk erschienen ist, welches diese Aufgabe verfolgt; hier genügte es, die zunächst brauchbaren Ausgaben anzuführen, und Schriften, in welchen weitere Nachweise zu finden sind.
Ein großes Verdienst um die neuen Bearbeitungen hat sich, wie schon um das ursprüngliche Werk, Ernst Dümmler erworben, welcher nie ermüdete, mich mit Berichtigungen und werthvollen Nachweisungen zu versehen, von denen nur wenige ausdrücklich erwähnt werden konnten. Vorzüglich auf seinen [vi] Wunsch sind auch mancherlei Umstände und Nachrichten angeführt und verwerthet, welche mehr culturgeschichtlicher Art sind und den eigentlichen Geschichtsquellen etwas ferner stehen. Nicht ganz ohne Besorgniß dadurch der Uebersichtlichkeit zu schaden, habe ich mich doch von der Ueberlegung leiten lassen, daß die richtige Würdigung der Persönlichkeiten und ihrer Werke dadurch befördert wird. Eine gleichmäßige Durchforschung aller Schulen, auch solcher, welche geschichtlicher Arbeit fern geblieben sind, eine Darstellung der litterarischen Thätigkeit auf allen Gebieten, ist eine so schwierige Aufgabe, daß ihre Lösung so bald wohl nicht zu hoffen ist, und ich habe deshalb nach dieser Seite hin lieber etwas zu viel als zu wenig thun wollen. Die von der Münchener historischen Commission gekrönte Preisschrift des Dr. Specht über die Geschichte des Unterrichtswesens in Deutschland während desselben Zeitraums berührt sich vielfach mit meinem Buche und ergänzt es in gewisser Hinsicht.
Auch anderen Freunden habe ich wiederum für ihre rege Theilnahme an dieser Arbeit zu danken. Ganz besonders förderlich waren mir auch die zahlreichen Zusendungen von Dissertationen, Programmen und einzelnen Aufsätzen, welche das hier vorliegende Gebiet berühren; je leichter gerade solche Schriften der Aufmerksamkeit entgehen, um so dankenswerther ist die Zusendung derselben, und indem ich für diese sehr wesentliche Erleichterung meiner Arbeit den lebhaftesten Dank ausspreche, erneuere ich die Bitte, mich auch fernerhin in gleicher Weise unterstützen zu wollen bei der Bestrebung, die Fortschritte der Forschung auf diesem Gebiete für eine spätere neue Bearbeitung zu verwerthen.
Berlin, den 7. August 1892.
W. Wattenbach.
einiger Werke, welche häufig abgekürzt angeführt sind.
d'Achery, Spicilegium veterum aliquot Scriptorum, Paris 1655-1677. 13 T. 4. Gewöhnlich nach der 2. Ausg. in 3 Fol. 1724 angeführt.
Acta SS. Acta Sanctorum, Antw. 1643 ff. fol. Vgl. S. 10.
Allg. D. Biogr. Allgemeine Deutsche Biographie. 1-34 (bis Smetana). 1875-1892.
Anz. d. Germ. Mus. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit, Organ des Germanischen Museums: 1-30. Nürnb. 1854-1883, 4.
Archiv. Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. Bd. 1-3 von Büchler und Dümge, Frankf. 1820. 1821. Bd. 4 von Fichard, ib. 1822. Bd. 5-12 von Pertz, Hann. 1824-1872.
Archiv d. W. A. Archiv f. Kunde österr. Geschichtsquellen (jetzt für österr. Geschichte), herausgeg. von der zur Pflege vaterländischer Geschichte aufgestellten Commission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1-77. Wien 1848-1891. Dazu als Beilage das Notizenblatt, 1851-1859.
Baehr, Die christlichen Dichter und Geschichtschreiber Roms (Carlsr. 1856). Zweite Ausg. 1872 als 4. Band der Gesch. der röm. Literatur.
— — Geschichte der römischen Litteratur im karolingischen Zeitalter. 1840.
Balzani, Early Chroniclers of Europe. Italy. By Ugo Balzani. London, Society for promoting Christian Knowledge, 1883.
Bibliotheca s. Jaffé.
Bielowski, Monumenta Poloniae historica, 1-3. Lemberg 1864-1878, 4.
Boehmer, Fontes Rerum Germanicarum, 1-4. Stuttg. 1843-1868.
Bouquet, Recueil des historiens des Gaules et de la France, von Anderen fortgesetzt, 23 T. Paris 1738-1876, f.
Canis. Henr. Canisii Lectiones Antiquae, 6 Tomi, Ingolst. 1601, 4. Neue Ausgabe von Jac. Basnage, Antw. 1725, f.
Dobner, Monumenta historica Boemiae. 6 T. Prag 1764-1786, 4.
[viii] Du Chesne, Historiae Francorum Scriptores coaetanei. 5 T. Paris 1636 bis 1649, f.
Dümmler Ostfr. Geschichte des ostfränkischen Reichs, von E. Dümmler, 2. Ausg. 2 Bde. in den Jahrbüchern der deutschen Geschichte. Berlin 1887. 1888.
Du Méril, Edélestand, Poésies populaires latines antérieures au douzième siècle, Paris 1843. Poésies pop. lat. du Moyen âge, 1847. Ohne Beifügung der Jahreszahl ist die erste Sammlung gemeint.
Ebert, Allgemeine Geschichte der Litteratur des Mittelalters im Abendlande. 1-3. Leipzig 1874. 1880. 1887. Der 3. Band reicht bis zum Ausgang der Ottonen, ist aber nicht mehr in Einzelcitaten eingetragen. 2. Ausgabe des ersten Bandes 1889.
Eccard, Corpus Historicorum Medii Aevi, Lips. 1723, f. 2 T.
Endlicher, Rerum Hungaricarum Monumenta Arpadiana. Sangalli 1849.
Fabr. Bibl. Jo. Alb. Fabricii Bibliotheca Lat. Mediae et Infimae Latinitatis, 1-5. Hamb. 1734-1736. Vol. 6. cur. Christ. Schoettgenio 1746. Ed. II. cur. Jo. Dom. Mansi, Patavii 1754, 4.
Fontes s. Böhmer.
Fontes Rerum Bohemicarum, 1-4. Prag 1871 ff. 4.
Forschungen zur Deutschen Geschichte, 1 bis 26. Göttingen 1862 bis 1886.
Freher, M., Corpus Francicae Historiae, 1613 f. Rerum Germanicarum Scriptores aliquot insignes, Francf. 1600-1611; ed. III. cur. Struvio 1717. 3 T. fol.
G G A. Göttinger Gelehrte Anzeigen, verbunden mit den Nachrichten von der Georg Augustus Universität und der k. Ges. der Wissenschaften zu Göttingen. Die letzteren werden als Gött. Nachr. angeführt.
Giesebrecht, Ludwig, Wendische Gesch. 780-1182. 3 Bde., Berlin 1843.
Giesebrecht, Wilhelm, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 1. 2. Fünfte Ausgabe 1881. 1885. Dritter Band 4. Ausg. 1877. Vierter Band 1875, 2. A. 1877. V, 1. 1880.
Hauck, Alb., Kirchengeschichte Deutschlands. I. 1887. II. 1890.
Histoire Littéraire de la France, ouvrage commencé par des Religieux Bénédictins de la Congrégation de St. Maur et continué par des Membres de l'Institut. 1733-1763. 1807-1857. 23 Vol. bis ans Ende des 13. Jahrhunderts. Der 24. Band (1862) eröffnet das 14. Jahrhundert.
Historische Zeitschrift (auch HZ.), herausgegeben von Heinrich von Sybel, München 1852-1892.
Historisches Jahrbuch der Goerres-Gesellschaft, 1-13. Münster 1880 bis 1892.
[ix] Jaffé, Bibliotheca Rerum Germanicarum. I. Monumenta Corbeiensia, 1864. II. Monumenta Gregoriana, 1865. III. Monumenta Moguntina, 1866. IV. Monumenta Carolina, 1867. V. Monumenta Bambergensia, 1869. VI. Monumenta Alcuiniana, 1873. Auch als Bibl. angeführt.
Langebek, Scriptores Rerum Danicarum Medii Aevi, fortges. v. Suhm. 7 Vol. fol. Hafn. 1772-1792. Vol. 8 v. Engelstoft u. Werlauff, 1834.
Leibniz, Accessiones historicae. 2 T. Lips. 1698, 4. Scriptores Rerum Brunsvicensium. 3 T. Hanov. 1707-1711, f. Annales Imperii Occidentis ed. G. H. Pertz, 3 T. 1843-1846.
Mabillon, Acta Sanctorum Ordinis S. Benedicti, aus den Sammlungen von d'Achery, später unterstützt von Germain und Ruinart, 9 T. Paris 1668-1701, f. Nachdruck Ven. 1733-1740. In der Regel ist die Pariser Ausgabe citirt. Unter Mab. ohne Zusatz ist immer dieses Werk zu verstehen.
— — Veterum Analectorum T. 1-4, 1675-1685, 8. Ed. II. 1723 fol. in 1 Bande.
Manitius, Max, Geschichte der christlich-lat. Poesie bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Stuttg. 1891.
Martene et Durand, Thesaurus Novus Anecdotorum. 5 T. Par. 1717 fol.
— — Veterum Scriptorum Amplissima Collectio. 9 T. Paris 1724-1733 f.
Mencken, Scriptores Rerum Germanicarum praecipue Saxonicarum. 3 T. Lips. 1728. 1730, f.
Migne, Patrologiae Cursus completus. Paris 1844 ff. gr. 8. Meistens nur incorrecte Abdrücke alter Ausgaben, und deshalb nicht immer angeführt. Kurzes Inhaltsverzeichniß bei Potthast S. 73-76.
Mittheilungen des Instituts für Oesterreichische Geschichtsforschung, red. von E. Mühlbacher. 1-12. Innsbruck 1880-1891.
Mone, Quellensammlung für die badische Landesgeschichte, 3 Bände. Carlsruhe 1848-1863, 4.
Monumenta Boica, angef. als MB., 1-42; von 28 an Doppelbände. Mon. 1763 ff. 4. Vgl. Böhmers Einleitung zu den Wittelbachischen Regesten, Stuttg. 1854, 4.
Monumenta Germaniae historica inde ab a. C. 509 usque ad a. 1500, ed. G. H. Pertz. Citirt als MG. SS., Legg. etc. Ein vortreffliches Hülfsmittel zum Auffinden gewähren die Indices von O. Holder-Egger u. K. Zeumer, 1890.
Müllenhoff und Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert, Berlin 1864. Zweite Ausgabe 1873. Dritte, von E. Steinmeyer, in 2 Bänden, 1892.
Münch. SB. d. i. Sitzungsberichte der philos., philol. u. hist. Classe der k. B. Akademie d. Wissenschaften zu München. Nach Jahrg. ohne Bandzahl.
Muratori, Scriptores Rerum Italicarum. 28 T. Med. 1723-1751, f.
Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 1 bis 17. Hann. 1876-1892. Angef. als NA.
Oefele, Rerum Boicarum Scriptores. 2 T. Augustae 1763, f.
Pertz, s. Archiv und Monumenta. [x]
Pez, B., Thesaurus Anecdotorum Novissimus. 6 T. Aug. 1721-1729, f. Der letzte Band hat auch den Titel: Codex diplomatico-historico-epistolaris, in 3 Theilen.
Pez, H., Scriptores Rerum Austriacarum. 3 T. Lips. 1721-1745, f.
Pistorii Rerum Germanicarum Scriptores aliquot insignes, ed. III. cur. Struvio. 3 T. Rat. 1726, f.
Potthast, Bibliotheca historica Medii Aevi, Berlin 1862. Supplement 1868.
(Pusch und Froelich) Diplomataria Sacra Styriae. 2 T. Vienn. 1756, 4.
Rettberg, Kirchengeschichte Deutschlands. 2 Bde. Göttingen 1848.
Reuber, Veterum Scriptorum ... tomus unus. 1584. Ed. III. cur. G. Ch. Ioannis. Francf. 1726, f.
Rinaudo, s. unten S.→12.
Roncallius, Vetustiora Latinorum Scriptorum Chronica. 2 T. Paris 1787, 4.
Schannat, Vindemiae Litterariae. 2 T. Fuld. 1723, f.
Schmidt, Zeitschrift für Geschichte, 9 Bände, Berlin 1844-1848.
Schöttgen et Kreysig, Diplomataria et Scriptores historiae Germ. medii aevi. 3 T. 1753, f.
Stälin, Wirtemberg. Geschichte. 4 Bände. Stuttg. 1841-1873.
Surius, De Probatorum Sanctorum Historiis, 1-6, Col. 1570-1575. Ed. II. 1576-1581. T. VII. von Mosander mit Register zu beiden Ausgaben, Nachträgen und Martyrol. Adonis. Ed. III. Col. 1618 f. in 12 Bänden. Ed. Taurin. (Marietti) 1884.
Tengnagel, Vetera Monumenta contra Schismaticos, Ingolst. 1611, 4. Wiederholt in Opp. Gretseri Vol. VI, 429-601. 1737, f.
Teuffel, W. S., Geschichte der römischen Litteratur. 1. Aufl. 1871. 4. Aufl. (von L. Schwabe) 1890. Da die betreffenden Paragraphen leicht zu finden sind, habe ich sie nur an wenigen Orten angeführt.
Traube, Ludwig, Karolingische Dichtungen, untersucht (Schriften zur germ. Philologie, her. v. M. Roediger) Berlin 1888.
— — O Roma nobilis. Philologische Untersuchungen aus dem Mittelalter. (Abhandl. der k. Bayer. Akad. d. Wiss. I. Cl. XIX. Bd. II. Abth.) München 1891.
Ughelli, Italia Sacra. 9 T. Romae 1644-1662, f. Sehr vermehrte Ausgabe von M. Coleti. 10 T. Ven. 1717-1725, f.
Watterich, Pontificum Romanorum Vitae, I. II. Leipzig 1862.
Wiener SB., die Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Phil.-hist. Classe.
Deutschlands Geschichtsquellen
im Mittelalter
bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts.
Ungeachtet des großen Unterschiedes zwischen den Denkmälern des [1]classischen Alterthums und des Mittelalters findet sich doch auch in ihnen viel übereinstimmendes, haben sie oft ähnliche Schicksale getheilt. Bis gegen den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts las man in den Schulen noch häufig und fleißig die alten Autoren, und hielt sich für die Geschichte der näheren Vergangenheit an echte und unverfälschte Quellen. In den nächsten Jahrhunderten tritt beides zurück. Auch die ausgezeichnetsten Geister begnügen sich mit phantastischen Vorstellungen von der Vorzeit, ohne deren Richtigkeit zu prüfen. Die alten Schriftsteller verschwinden aus dem Unterricht, abgeschmackte Fabeln überwuchern bei den Chronisten die Geschichte, und die einfachere, wahrheitsliebende Darstellung der Zeitgenossen findet solchen Entstellungen gegenüber keine Beachtung. Fast gänzlich scheint der Sinn für Kritik verloren, bis wir im fünfzehnten Jahrhundert wieder einzelne Spuren davon wahrnehmen, worauf dann bald die Bestrebungen der Humanisten für die Wiederbelebung der classischen Studien auch der Kunde des früheren Mittelalters zu Gute kommen.
In Italien freilich ist es das römische Alterthum fast ausschließlich, welches die Geister beschäftigt; als dazu auch die Griechenwelt noch hinzutrat, wandte man sich dieser fernen Vergangenheit völlig zu, und die platonische Akademie hat mit der Gegenwart und den aus dem Christenthum erwachsenen Zuständen kaum eine Berührung.
Anders in Deutschland. Hier richtet sich die Kritik sogleich auf die Urkunden der christlichen Religion, und die drückend empfundene päbstliche Herrschaft veranlaßt zur Prüfung der Ueberlieferung. Da werden die alten lauteren Quellen der Geschichte wieder ans [2]Licht gezogen, und gefeierte Humanisten wenden auch diesem Felde ihre Thätigkeit zu. Das lebhaft erwachende Volksbewußtsein konnte ebenfalls in der römischen Vorzeit nicht Befriedigung finden, wie es in Italien der Fall war, und wie mit den reformatorischen Bestrebungen diesseit der Alpen überall ein kräftiger Aufschwung der Landessprache zusammenfällt, so auch ein eifriges Erforschen der heimischen Geschichte[1]. Merkwürdigerweise ist es der italienische Humanist Aeneas Silvius aus Siena, den zuerst seine Forschungen über österreichische Geschichte zur Bekanntschaft mit Otto von Freising führten, der durch eine Goetweiher Handschrift Jordanis Gothengeschichte kennen lernte[2]. Wenig später (1457) benutzte Peter Luder mangelhafte Quellen zu rhetorischer Darstellung deutscher Vorzeit[3] und Hartmann Schedel sammelte neben altrömischen auch deutsche Inschriften und Chroniken[4].
Mehrere unserer besten Geschichtsquellen sind uns nur in Abschriften des fünfzehnten Jahrhunderts erhalten, gerade wie so manche Classiker, und den Handschriften reihen sich bald die ersten Drucke an. Schon in diesem Jahrhundert, um 1472, wurde in Nürnberg Honorius De imagine mundi gedruckt; in Ulm, 1473, erschien die deutsche Uebersetzung der Flores temporum von dem Ulmer Arzt H. Steinhöwel; zwischen 1470 und 1474, vermuthlich zu Augsburg[5], die Historia Friderici I, welche nichts anderes ist als ein Theil der Ursperger Chronik. In Poitiers wurde 1479 das Breviarium historiale bis 1428 gedruckt[6]. Denn nicht als Quellen für gelehrte Forschung betrachtete man damals diese Schriften; noch waren sie unmittelbar als darstellende Geschichtswerke willkommen, da man in der Sprache sowohl wie in der ganzen Denkweise jenen Zeiten noch nicht so fern stand, daß es eines eigenen Studiums bedurft hätte, um sich an den Schriften des Mittelalters zu erfreuen, sie auch nur zu verstehen.
Zu den eifrigsten Sammlern und Forschern gehörte der gelehrte Abt Johann von Trittenheim[7], der nur leider seine in der That [3] bewunderungswürdige Thätigkeit und Litteraturkenntniß durch kecke Fälschungen selbst um den Ruhm gebracht hat, welcher ihr sonst gebühren würde. In seinem Auftrag durchforschte der Bosauer Mönch Paul Lang viele Klöster nach Werken über die deutsche Geschichte[8].
Vor allen aber war es Kaiser Maximilian, welcher die Erforschung der deutschen Geschichte auf alle Weise beförderte und sogar selbst daran Theil nahm. Ueberall ließ er nach alten Urkunden und Chroniken suchen und belohnte jeden Fund; sein Historiograph Stabius sollte daraus ein großes Geschichtswerk zusammensetzen[9]. Die bedeutendsten Gelehrten der Zeit suchte er an seinem Hofe zu vereinigen, und die Wiener Universität erreichte unter ihm ihre höchste Blüthe; sie soll damals an 7000 Studenten gezählt haben, und viele der angesehensten Humanisten fanden dort begeisterte Schüler[10]. In seinem Auftrag bereiste von 1498 bis 1505 Ladislaus Suntheim aus Ravensburg das südwestliche Deutschland, um die Materialien zu einer genealogischen Geschichte des habsburgischen und anderer deutscher Fürstenhäuser zusammen zu bringen[11]. Seinem gelehrten Arzt Johann Spießhaymer, der sich Cuspinian nannte[12], gab Maximilian 1508 den Auftrag, Bücher aus allen Theilen des Reichs zu sammeln, und einen ähnlichen Auftrag hatte auch Dr. Jacob Mennel aus Bregenz (Manlius) erhalten[13], von welchem der Kaiser sich Nachts, wenn er an Schlaflosigkeit litt, aus den alten Schriften vorlesen ließ[14]. Auch der talentvolle, aber unstäte Dichter Conrad Celtis, welchen Maximilian im Jahre [4] 1497 nach Wien berufen hatte, erhielt im folgenden Jahre vom Kaiser die Mittel zu seiner letzten großen Reise in den fernen Norden, deren Frucht die Germania illustrata sein sollte, Celtis lange versprochenes Hauptwerk, welches er aber bei seinem Tode 1508 unvollendet hinterlassen hat[15]. Doch sind seine eifrigen Forschungen nicht ohne bedeutende Frucht geblieben. Im Kloster St. Emmeram zu Regensburg entdeckte er die Werke der Nonne Hrotsuit, welche er 1501 herausgab. Im fränkischen Kloster Ebrach fand er den Ligurinus, über den er selbst in Wien, seine Freunde in Freiburg, Tübingen, Leipzig Vorlesungen hielten; 1507 besorgten seine Augsburger Freunde den Druck. Ihm danken wir auch die Entdeckung der Tabula Peutingeriana, jener merkwürdigen römischen Straßenkarte des dritten Jahrhunderts, mit späteren Zusätzen erhalten in einer Copie des dreizehnten Jahrhunderts, welche sich jetzt in der Wiener Hofbibliothek befindet[16]. Ihren Namen führt sie davon, daß Celtis sie in seinem Testamente dem gelehrten Augsburger Patricier Conrad Peutinger[17] vermachte. Dieser, der ebenfalls von Maximilian zu seinem Rath erhoben war und fortwährend für künstlerische und gelehrte Zwecke in Anspruch genommen wurde, war 1506 beim Kaiser in Klosterneuburg, um die alten Briefe des Hauses Oesterreich zu besichtigen, und erhielt ein eigen Gemach in der Wiener Burg, wohin „S. Mt. von allen orten Cronica und historien bringen lassen“. Er selbst besaß die werthvollsten deutschen Geschichtsquellen und beabsichtigte eine umfassende Sammlung derselben herauszugeben; leider kam dies Vorhaben nicht in seinem ganzen Umfange zur Ausführung, doch verdanken wir ihm mehrere vortreffliche Ausgaben, die aber Peutingers Namen nicht auf dem Titel tragen. Nachdem er 1507 bei der Herausgabe des Ligurinus geholfen, erschien 1515 aus der in seinem Besitz befindlichen Abschrift die erste Ausgabe [5] des Chronicon Urspergense, besorgt von Joh. Mader[18]; gleichzeitig erschienen, von Peutinger bearbeitet, Jordanis de Rebus Geticis und Pauli Diaconi historia Langobardorum[19], eine sehr gute Ausgabe, gegen welche die 1514 zu Paris von Guillaume Petit besorgte Ausgabe des Paulus weit zurücksteht. Doch verdienen auch die Bestrebungen dieses Buchhändlers, bei welchem 1512 Gregor von Tours, 1513 Sigebert, 1514 außer Paulus noch Liudprand und Aimoin erschienen, unsere Anerkennung.
Ebenfalls im Jahre 1515 besorgte der schon erwähnte Cuspinian, zusammen mit dem kaiserlichen Historiographen Stabius, in Straßburg eine vortreffliche Ausgabe des Otto von Freising mit der Fortsetzung des Ragewin. Ebenda waren bereits im Jahre 1508 von dem Breisgauer Gervasius Soupher die Gesta Heinrici IV herausgegeben, mit einem Vorwort, welches von stolzem Selbstgefühl den Franzosen gegenüber erfüllt ist. Von ähnlicher Denkungsart zur Ehrenrettung dieses vielgeschmähten Kaisers getrieben, gab Aventin 1518 in Augsburg die schöne prosaische Lebensbeschreibung desselben heraus; er war ein Schüler von Celtis und hatte sich nach dessen Vorbild der deutschen Geschichte schon früh eifrig zugewandt[20]. So traten nach einander die vorzüglichsten Geschichtschreiber des deutschen Mittelalters ans Licht; 1521 erschienen in Cöln auch die Werke Einhards, herausgegeben von dem Grafen Hermann von Nuenar[21]; in Mainz die Chronik des Regino von Sebastian von Rotenhan[22].
Besonders eifrig aber nahmen die Protestanten diese Bestrebungen auf; sie fanden bald auch unter diesen Schriften Waffen gegen die päbstlichen Ansprüche, und die Streitschriften des elften Jahrhunderts erschienen auch für den veränderten Standpunkt des sechzehnten noch verwendbar. Hatte man doch schon lange im Einklang mit der wachsenden Erbitterung gegen den entarteten Clerus die scharfen Satiren des früheren Mittelalters hervorgezogen, so in Cöln bald [6] nach 1470 und mehrmals wiederholt den Pseudo-Ovidius de Vetula mit seinen Ausfällen gegen sittenlose Prälaten, und den Brunellus mit der schonungslosen Verspottung der Mönche. Die Schrift des Spaniers Alvarus Pelagius De planctu ecclesiae, in welcher er unter dem Eindruck seiner Erfahrungen an der Curie in Avignon den verderbten Zustand der Kirche beklagt, 1340 in Portugal zuletzt überarbeitet, erschien schon 1474 in Ulm bei Johann Zainer von Reutlingen, und wurde 1517 in Lyon wiederholt. Lupolds von Bebenburg Schrift Germanorum principum zelus in christianam religionem erschien 1497 in Basel. Die Epistola Luciferi ad malos principes ecclesiasticos, eine sehr bittere Satire, welche 1351 in Avignon zum Vorschein kam und in vielen Abschriften verbreitet war, wurde nach einer nicht mehr bekannten Pariser Ausgabe 1507 in Straßburg gedruckt, um 1530 in einem Einzeldruck o. J. wiederholt und 1549 in Magdeburg von Flacius Illyricus herausgegeben[23]. Derselbe wiederholte 1550 die deutsche Uebersetzung des Briefes, welche schon 1521 o. O. erschienen war[24]. Ulrich von Hutten gab 1520 die Schrift Walrams von Naumburg gegen Gregor VII, De unitate ecclesiae conservanda, heraus, welcher bald noch mehrere Schriften verwandten Geistes aus der Zeit des Schisma und der Reformbewegung des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts folgten[25]. So erschien 1521 in Wittenberg der dem Bischof Ulrich von Augsburg untergeschobene Brief unter dem Titel: Hulderichi Aug. ep. epistola adversus constitutionem de cleri coelibatu. Der Cölner Humanist Jacob Sobius gab 1521 in Basel die Commentare des Aeneas Silvius nebst anderen Stücken von verwandtem Inhalt heraus, eine Sammlung, welche 1535 in Cöln mit neuen Zuthaten von Ortwinus Gratius wiederholt wurde, dessen Standpunkt in seinem späteren Leben ein von dem früheren sehr verschiedener wurde[26]. Im Jahre 1529 wurden zu Hagenau die ersten Briefe Peters de Vinea gedruckt, weil sie auch für die Gegenwart zutreffend zu sein schienen. Unbefangener ließ Melanchthon es sich angelegen sein, den Schulunterricht in der Geschichte zu fördern. Sehr nachdrücklich spricht er sich über den hohen Werth der Geschichte aus in der an Sigismund von Brandenburg, [7] Erzbischof von Magdeburg, gerichteten Widmung des von ihm 1558 für die Schulen bearbeiteten Chronicon Carionis[27]. Schon 1525 gab Caspar Churrer in Tübingen die Chronik Lamberts nach einer Abschrift heraus, welche Melanchthon ihm geschickt hatte, und 1556 begleitete dieser Siegmund Schorkels Ausgabe des Helmold mit einem Brief an den Herzog von Stettin.
In Basel, wo schon 1529 Sichardus die Chroniken des Hieronymus, Prosper, Cassiodor, Hermannus Contractus mit einer Widmung an den Cardinal Albrecht von Brandenburg herausgegeben hatte, besorgten die Buchhändler Heerwagen, die auch Melanchthons Verleger waren, 1531 eine Sammlung, welche den Prokop, Agathias und Jordanis enthält, mit einer Vorrede von Beatus Rhenanus aus Schlettstadt. Dieser hatte auch zum Otto von Freising das Titelblatt entworfen und ist dadurch zu dem unverdienten Ruhme gekommen, als ob er der erste Herausgeber deutscher Geschichtsquellen gewesen wäre. Die Handschriften aber zu jener Sammlung hatte Conrad Peutinger aus Augsburg geschickt[28].
Im Jahre 1532 erschien in demselben Verlage eine zweite Sammlung, welche den Widukind, Einhard und Liudprand enthält, herausgegeben von dem Professor Martin Frecht zu Tübingen.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir fortfahren wollten, die Ausgaben des sechzehnten Jahrhunderts aufzuzählen, denn ihre Zahl ist nicht gering; besonders die Wechelsche Buchhandlung in Frankfurt verlegte eine ganze Reihe von Sammlungen dieser Art. Unsere Absicht war nur, zu zeigen, mit welchem Eifer man damals bestrebt war, die echten Quellen der Geschichte wieder ans Licht zu ziehen; mit richtiger Auswahl wurden die besten derselben zuerst herausgegeben und mit derselben Sorgfalt behandelt, welche die ersten Ausgaben der alten Classiker auszeichnet. Es war ein trefflicher Anfang gemacht, hinter dem der größte Theil der späteren [8] Leistungen weit zurückblieb, und an die Ausgaben schloß sich sogleich auch die geschichtliche Verwerthung, getragen von demselben Geiste wahrheitsuchender Kritik, die sich vorzüglich der Prüfung der kirchlichen Ueberlieferung zuwandte. Hervorzuheben ist unter diesen Werken die nach Jahrhunderten eingetheilte Kirchengeschichte der sogenannten Magdeburger Centuriatoren, Mathias Flacius, Wigand u. a. (Basil. 1559-1574, 13 Voll. fol.), weil sie durch scharfe Kritik und umfassende Forschung geradezu epochemachend wirkte, und durch Mittheilungen aus einem reichen handschriftlichen Material noch jetzt schätzbar ist[29].
Freilich waren nicht alle gleich bereit, die geschichtliche Wahrheit anzunehmen, und unter die Ausgaben der echten Quellen mischten sich bald auch falsche. Schon 1498 erschien in Rom der nachgemachte Berosus und anderes Machwerk des berüchtigten Annius von Viterbo. Nicht ganz so plump erfunden waren die Megenfrid, Benno und andere Schriftsteller, auf welche Trithemius sich in seiner Hirschauer Chronik (1514) berief, und seine Angaben führen deshalb noch jetzt nicht selten irre; hat doch sogar sein Hunibald, dessen lächerliche Larve schon der Graf von Nuenar durchschaute, noch im neunzehnten Jahrhundert Vertheidiger gefunden! Zum ärgsten Unfug dieser Art aber gehört das 1530 erschienene Turnierbuch von Rüxner[30], dessen freche Lügen von den ahnensüchtigen Herren begierig aufgenommen wurden und noch heutiges Tages hin und wieder gespensterhaft erscheinen.
Während einerseits die neu erwachende kritische Richtung willkommene Waffen in der Litteratur des früheren Mittelalters fand, bot sich andererseits hierin auch der katholischen Kirche ein schöner Schatz ascetischer Schriften dar, und die Briefe der alten Päbste, [9] wie die alten Vorkämpfer ihrer Ansprüche, waren noch immer zu brauchen. So finden wir denn, nachdem die katholische Kirche sich wieder ermannt und auch wissenschaftlich neue Kraft gewonnen hat, auch von dieser Seite viele Publicationen; der Cardinal Caesar Baronius setzte den Magdeburger Centuriatoren seine Annales ecclesiastici entgegen, welchen die aus dem Vaticanischen Archiv und anderen Quellen mitgetheilten Actenstücke hohen Werth verleihen[1]. Durch gute Ausgaben wichtiger neu entdeckter Quellen machten sich besonders Heinrich Canisius[2], Brouwer[3], Sirmond, Tengnagel, Gretser[4] verdient. Auf einzelnes einzugehen, würde hier zu weit führen; nur einen besonderen Zweig der Litteratur scheint es erforderlich hier näher zu betrachten.
Schon unter den ältesten Incunabeln finden sich Legendarien und einzelne Heiligenleben, zur Erbauung bestimmt. Hin und wieder bieten sie ein brauchbares Körnchen dar; im ganzen aber erscheinen die Legenden in solcher Weise überarbeitet, daß das Triviale, allen Gemeinsame, überhand genommen hat, das Geschichtliche oft ganz verschwunden oder doch verdunkelt ist. Die zahlreichen Wunder, die vielen Fabeln und Albernheiten machten diese Litteratur gerade ganz besonders zum Gegenstand lebhafter Angriffe, und bald empfand man, daß sie allen Werth und Nutzen verlieren werde, wenn man sich nicht zu einer Sichtung des überkommenen Stoffes entschließen werde. Nachdem schon der Mailänder Boninus Mombritius auf alte Handschriften zurückgegangen war, die er mühsam aufsuchte, und durch deren unveränderten Abdruck[5] er sich verdient gemacht hatte, ohne Nachfolger zu finden, erschien ein Jahrhundert später die Sammlung des Cölner Karthäusers Laur. Surius († 1578): Vitae Probatorum Sanctorum, die viel brauchbaren geschichtlichen Stoff zuerst ans Licht brachte, und wenn auch der lateinische Stil etwas überarbeitet ist, so berührt das doch kaum den Inhalt. Von Kritik aber ist in diesem Werke keine Rede, und die herrschende [10] Meinung der Gebildeten verwarf alle diese Mönchsgeschichten als leere Fabeln.
Diesen Angriffen gegenüber faßte nun der Jesuit Heribert van Roswey den Plan, durch strenge Sichtung des ganzen vorhandenen Materials und Aufopferung des falschen das echte zu retten und zu sichern. Er selbst gab u. a. das Martyrologium Romanum heraus; besonders aber veranlaßte er seinen Ordensbruder Johann Bolland in Antwerpen zu dem großartigen Unternehmen der Acta Sanctorum, wovon 1643 der erste Band erschien. Noch 5 Bände gab Bolland selbst heraus; dann hinterließ er die Fortsetzung Daniel Papebroch und Gotfried Henschen, von welchen der gediegenste Theil des Werkes gearbeitet ist. Sie gewannen bei ihrer Arbeit eine solche Sicherheit der historischen Kritik und verfuhren mit so wenig Schonung, daß sie bald vielfache Angriffe erfuhren und die spanische Inquisition sogar im J. 1695 die bis dahin erschienenen 14 Bände verbot. Man versuchte auch den Pabst zu einem Verbote desselben zu bewegen, aber vergeblich; nur Papebrochs Chronologia Pontificum Romanorum wurde wirklich verboten[6]. Mit dem unermüdlichsten, mühsamsten Fleiße setzten auch später die Antwerpener Jesuiten, welche man gewöhnlich als Bollandisten bezeichnet, das begonnene Werk fort; ihre Abhandlungen wurden immer weitschichtiger und verloren an innerem Werthe, während das ganze immer langsamer vorrückte. Doch sind noch viele sehr tüchtige Arbeiten und unermeßliches historisches Material darin. Durch die Aufhebung des Ordens wurde das Unternehmen gestört; andere führten es weiter, dann aber machte ihm die Occupation Belgiens durch die Franzosen ein Ende. In neuester Zeit hat man es wieder aufgenommen, aber mit der übertriebensten Weitschweifigkeit. Bis jetzt sind mehr als 60 Folianten erschienen, welche bis in den November reichen, denn das ganze Werk folgt der Ordnung des Kalenders. Die Auffindung eines bestimmten Heiligen war früher nicht leicht; man bedurfte dazu der Kenntniß seines Tages, wozu das Heiligenlexicon (von Schmauß) Gött. 1719, 8, brauchbar ist, welches zugleich zur vorläufigen Orientirung dienen kann. Gegenwärtig aber bietet Potthasts Bibliotheca historica in dem Artikel Vita S. 575-940 ein nicht allein auf den Umfang des Mittelalters beschränktes Repertorium sämmtlicher von den Bollandisten besprochener Personen, [11] dem ein Register der übrigen in jenem Riesenwerke enthaltenen Abhandlungen beigefügt ist. Außerdem aber enthält jetzt ein Supplementband der Acta Sanctorum zum October Generalregister über das ganze Werk von Rigollot.
Neben den Jesuiten begannen auch die französischen Benedictiner ein ähnliches Werk, nachdem ihr Orden in der Congrégation de Saint-Maur einen neuen, außerordentlich kräftigen Aufschwung genommen hatte. Die Erforschung der Geschichte ihres Ordens wurde bald ein Hauptgesichtspunkt der Congregation und ihr Bibliothekar Dom Luc d'Achery sammelte dafür viele Jahre mit Unterstützung der ganzen Genossenschaft unschätzbares Material. Zur Bearbeitung desselben wurde ihm 1664 Dom Jean Mabillon beigegeben, den dann wieder Germain und Ruinart unterstützten. Von ihnen erschienen 1668-1701 die Acta Sanctorum Ordinis S. Benedicti in 9 Folianten, welche bis zum Jahre 1100 reichen und vom größten Werthe für die Geschichte sind. Abweichend von der Anordnung der Bollandisten ist diese Sammlung nach der Zeitfolge geordnet; sie beginnt natürlicher Weise erst mit der Entstehung des Ordens der Benedictiner, die ersten Jahrhunderte der Kirche aber behandelte Ruinart selbständig in seinem trefflichen Werke: Acta primorum martyrum sincera, 1689, 4.
In viele einzelne Staaten zerspalten hatte Italien keine umfassende Sammlung von Geschichtsquellen erhalten; auch ging hier der Patriotismus gerne gleich über die Zeiten des Mittelalters hinaus in die antike Welt hinüber. Die römische Kirche aber konnte vom Mittelalter nicht lassen und noch weniger ihren Gesichtspunkt durch enge Grenzen beschränken lassen. Ihre Geschichte, vom Cardinal Baronius geschrieben, umfaßte die ganze christliche Welt, und jedes Volk fand hier die wichtigsten Aufschlüsse über seine Vergangenheit aus den Schätzen des Vaticanischen Archivs. Viele Geschichtsquellen Italiens zog Ughelli zuerst ans Licht in dem großen Werk der Italia Sacra, welches später von Coleti umgearbeitet und sehr vermehrt wurde[1]. Gleichzeitig mit diesem wirkte Ludwig Anton Muratori, der mit der umfassendsten Gelehrsamkeit, rastlosem Fleiße und unermüdlicher Thatkraft die [12] Grundlagen der italienischen Geschichte legte, auf denen noch heute fortgebaut wird. Seine Scriptores Rerum Italicarum in 21 Folianten, 1723-1751, sind die erste umfassende planmäßig angelegte Sammlung der Geschichtsquellen eines ganzen Landes, und bis jetzt die einzige, welche ihre Vollendung erreicht hat; das große Verdienst, durch eifrige Unterstützung der Sache, auch durch wissenschaftliche Mitwirkung die Ausführung möglich gemacht zu haben, gebührt den bescheiden im Hintergrund gebliebenen Socii Palatini[2]. Neuestens hat auch Italien eine Darstellung seiner Chronistik erhalten durch Ugo Balzani[3].
Erstrebt war freilich schon früher ähnliches in Frankreich durch die Sammlung von Duchèsne in 5 Folianten (1636-49); doch genügte diese nicht, so werthvoll auch ihr Inhalt ist. Colbert faßte bereits 1676 den Plan einer neuen umfassenderen Sammlung, der jedoch erst später zur Ausführung kam, als die Congregation der Mauriner auch diese Aufgabe übernommen hatte. Nachdem diese fleißigen und gelehrten Mönche bereits für die Geschichte ihres Ordens und der Kirche das außerordentlichste geleistet, und in verschiedenen Sammlungen unendliches Material zugänglich gemacht hatten, erschien von 1738 an der Recueil des Historiens des Gaules et de la France von Dom Bouquet und seinen Nachfolgern, eine Sammlung, deren Fortführung in neuester Zeit wieder aufgenommen ist, und die bis jetzt aus 23 Folianten besteht.
In Deutschland waren die vielversprechenden Anfänge des sechzehnten Jahrhunderts durch die inneren Spaltungen gehemmt und endlich durch den dreißigjährigen Krieg fast gänzlich erstickt worden. Die folgende Zeit des Reichthums und der fürstlichen Stellung der Geistlichkeit brachte wohl einige Stiftshistorien, aber nichts, das sich mit dem Wirken der Mauriner in Frankreich irgend vergleichen ließe. Wohl reizte das Beispiel zur Nachahmung, aber alle Versuche scheiterten theils an der Trägheit der in Reichthum und Ueppigkeit versunkenen Stifter, theils an der Eifersucht der Landesfürsten, welchen es bedenklich erschien, die Geistlichkeit ihrer Territorien in nähere Verbindung mit den Ordensbrüdern anderer Gebiete treten zu lassen. Und geradezu unmöglich war es für die [13] Reichsabteien, selbst wenn sie es gewollt hätten, sich einer gemeinsamen Leitung und wechselnden Aebten unterzuordnen. Das erfuhren namentlich die Gebrüder Bernhard und Hieronymus Pez[4] in Melk bei ihren Bemühungen, neues Leben in den alten Orden der Benedictiner zu bringen, und die Stiftung einer Congregation, welche es möglich gemacht hätte, die vorhandenen Kräfte zu vereinigen und, wie in Frankreich, planmäßig für gemeinsame Zwecke zu verwenden, scheiterte an solchen Hindernissen.
Material war freilich in großen Massen zu Tage gefördert, aber ohne Auswahl, ohne Kritik; die neuen Publicationen fügten nur immer mehr rohe Masse hinzu, in noch mangelhafterer Weise, und niemand verstand es, den Stoff zu bearbeiten. Im siebzehnten Jahrhundert erschienen bei dem Uebergewicht des Partikularismus fast nur noch Sammlungen für die Geschichte einzelner Reichslande. Eine neue Epoche beginnt dann mit Leibniz, dem Zeitgenossen Muratori's, und in noch viel höherem Grade würde dies der Fall gewesen sein, wenn nicht seine Forschungen unvollendet und großentheils unbekannt geblieben wären. Wie Muratori von der Geschichte des Hauses Este, so ging Leibniz von den Welfen aus, und wie Muratori wurde er durch diese Untersuchungen immer weiter geführt zu den ausgedehntesten Quellenforschungen, welche die ganze Reichsgeschichte umfaßten, Forschungen, die sich andererseits an seine philosophischen sowohl wie an seine staatsrechtlichen Studien anschlossen. Er durchsuchte alle ihm zugänglichen Archive und Bibliotheken, und ergriff mit dem lebhaftesten Eifer den Plan einer systematischen Sammlung und Ausgabe aller vorhandenen Quellen für die politische und die Rechts-und Kirchengeschichte, auf deren Wichtigkeit und die Nothwendigkeit ihrer gründlichen Erforschung zuerst Conring energisch hingewiesen hatte.
Wohl einsehend, daß die Aufgabe die Kräfte eines Einzelnen übersteige, versuchte man wiederholt, Gesellschaften zu diesem Zwecke zusammenzubringen. Schon Johann Christian von Boineburg, der Rathgeber des Churfürsten Johann Philipp von Mainz, der Freund Conrings, Leibnizens und Forsters, entwarf den Plan, ein Collegium universale Eruditorum in Imperio Romano mit vorzüglicher Rücksicht auf Geschichte zu stiften, und theilte denselben 1670 mehreren Gelehrten mit. Mainz, wo das Reichsarchiv sich befand, war zum Sitz desselben bestimmt, allein es blieb bei diesen Anfängen und hatte keinen weiteren Erfolg. Neue Anregungen zu Versuchen dieser [14] Art gab bald darauf die kräftige Entwicklung der schon 1651 gestifteten, 1677 vom Kaiser privilegirten Academia Leopoldina Naturae Curiosorum. Paullini in Eisenach faßte die Idee einer ähnlichen historischen Gesellschaft; er ließ 1687 eine Delineatio Collegii Imperialis historici gloriose et feliciter fundandi drucken und vertheilen. Mit vorzüglichem Eifer gingen Hiob Ludolf und Tentzel auf diesen Gedanken ein; Ludolf theilte Paullini seine unmaßgeblichen Bedenken mit und von ihm ging die förmliche Aufforderung zur Theilnahme aus, welche 1688 versandt wurde. Er war der Präses der neuen Gesellschaft, welcher mehrere namhafte Gelehrte sich anschlossen. Vor allem aber bedurfte man materieller Unterstützung, ohne die sich wenig ausrichten ließ; man wünschte den Kaiser, den Reichstag dafür zu gewinnen, man suchte nach vornehmen Patronen, aber man fand, wie Ludolf 1695 an Leibniz schrieb, keinen einzigen, welcher einen Pfennig daran wenden wollte[5]. Nur der Herzog von Württemberg gewährte Pregitzer die Kosten zu einer Reise durch Schwaben, die Schweiz, Burgund und Frankreich, um die Archive zu durchforschen; seine Reiseberichte befinden sich auf der Göttinger Bibliothek. Erfolg hatte also auch dieser Versuch nicht, und er konnte kaum Erfolg haben zu einer Zeit, wo die höheren Stände ganz der französischen Bildung hingegeben, und die Gelehrten größtentheils von geistloser Pedanterie erfüllt waren, wo lebhafte Theilnahme für die Erforschung der vaterländischen Geschichte eben so selten zu finden war, wie die Fähigkeit zum richtigen Verständniß der Quellen.
Leibniz hatte diesen Bestrebungen von Anfang an große Theilnahme zugewandt; er wies vornehmlich auf den unveränderten Abdruck der reinen Quellenschriften hin, während Ludolf mehr eine Bearbeitung der Reichsgeschichte ins Auge faßte. Leibnizen dagegen war um fremde Darstellungen wenig zu thun; er wußte wohl, daß Urkunden, in denen ein Anderer nichts finden konnte, ihm die bedeutendsten Aufschlüsse gewährten, und rieth deshalb ernstlich, daß man sich nicht bemühen solle, um eine Geschichte stylo florido et eleganti zu schreiben, sondern man solle die Documenta und Urkunden geben, ut praesens aetas thesaurum quendam relinquat. Er zuerst erhob sich über den Dilettantismus und die Vielwisserei und verband die ausgebreitetsten Kenntnisse mit staatsmännischem Blick und historischer [15] Einsicht. Und so leistete denn dieser außerordentliche Mann allein einen großen Theil desjenigen, was jene gutgemeinten Unternehmungen bezweckt hatten, ohne zur Ausführung kommen zu können.
Schon 1693 gab Leibniz seinen Codex juris gentium heraus, dem 1700 die zwei Folianten der Mantissa Documentorum folgten. Von 1707-1711 erschienen dann die Scriptores Rerum Brunsvicensium, welche theils die niedersächsische Landesgeschichte, theils die welfische Hausgeschichte erläutern sollten, und durch die großartige Stellung des welfischen Hauses, durch die Verflechtung desselben in alle wichtigsten Angelegenheiten des Reiches einen universellen Charakter erhielten, der sie von allen anderen Sammlungen für specielle Landesgeschichte unterscheidet. Eine Anzahl anderer wichtiger Schriftsteller war schon 1698 in den Accessiones historicae zuerst ans Licht gebracht. Aber von den überreichen Sammlungen Leibnizens war dadurch nur ein kleiner Theil erschöpft; nachdem er selbst vom Schauplatze abgetreten war, brachten seine Nachfolger Eckhart, S. Fr. Hahn, Jung, Gruber, Scheidt aus seinem Nachlaß das großartige Werk der Origines Guelficae zu Stande, welches noch jetzt einen ehrenvollen Namen behauptet, in Form und Inhalt aber ganz auf den Vorarbeiten von Leibniz ruht[6].
Aber Leibniz hinterließ auch noch ein anderes Werk, welches allein ausgereicht hätte, um einen gewöhnlichen Menschen berühmt zu machen, die Annalen des abendländischen Reiches, zu welchen ihn seine Forschungen über die Welfen ebenso hinführten, wie Muratori die Geschichte des Hauses Este zur Verfassung der Annalen Italiens veranlaßte. Dieses Werk, welches Leibniz viele Jahre lang vorzüglich beschäftigte, reicht von 768-1005, denn weiter ist er leider nicht damit gekommen. Es ist durchaus ein Meisterwerk, welches alle früheren Leistungen weit hinter sich läßt; auch hegten die Zeitgenossen große Erwartungen davon, und lange war von dem Druck desselben die Rede, der aber dennoch zum großen Schaden der Wissenschaft unterblieb, bis in neuester Zeit Pertz das fast [16] schon in Vergessenheit gerathene Werk herausgab[7], nachdem ein großer Theil der darin enthaltenen Forschungen von neuem gemacht worden war. Aber noch immer ist das Werk sehr brauchbar, da es mit der vollständigen Uebersicht und Benutzung des bis dahin bekannt gewordenen Stoffes gearbeitet ist, während die sichere Methode, der durchdringende Scharfsinn und die geistvolle Behandlung des großen Verfassers den Leser durchgehends fesseln und zur Bewunderung fortreißen.
Die Fehler der früheren Sammlungen, von denen auch die Leibnizsche nicht ganz frei ist, den Mangel an kritischer Sichtung des Stoffes, an systematischer Auswahl und Zusammenstellung, die Unzuverlässigkeit der Abdrücke, schilderte niemand schärfer und eindringlicher als Joh. G. Eckhart[8], Leibnizens Gehülfe, dann Convertit und fürstlich Würzburgischer Rath. Dennoch vermied er in seiner eigenen Sammlung, dem Corpus historicorum medii aevi (1723) keinen jener Fehler, vermehrte aber das vorhandene Material durch sehr werthvolle Beiträge.
J. B. Mencke veröffentlichte 1728 und 1730 noch eine sehr schätzbare Sammlung, B. G. Struve gab 1717 und 1726 die älteren Sammlungen von Pistorius und Freher neu heraus; immer mehr wuchs die Masse des größtentheils rohen, ungeordneten, ungesichteten Materials; immer schwieriger wurde es, eine Uebersicht über dasselbe zu gewinnen. Dieser Uebelstand veranlaßte das Erscheinen von Schriften, die als Wegweiser dienen sollten: J. P. Fincke's Index in Collectiones Scriptorum Rerum Germanicarum, Lips. 1737, 4 und das vielgebrauchte Directorium von Freher, zuletzt 1772 von Hamberger neu herausgegeben. Desselben Hambergers Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern, Bd. 3. 4. 1760, sind von geringer Brauchbarkeit, dagegen des trefflichen Joh. Alb. Fabricius Bibliotheca Mediae et Infimae Latinitatis 1734-1746, 8, und ed. Mansi 1754, 4 noch jetzt unentbehrlich und von großem Nutzen. Eine neue vermehrte Ausgabe derselben mit Berücksichtigung der seitdem erschienenen Sammlungen und Ausgaben wäre sehr wünschenswerth [17] und würde einem dringenden Bedürfniß entgegenkommen. Zurechtfinden aber können wir uns jetzt in der historischen Litteratur des Mittelalters mit großer Leichtigkeit, seitdem Potthasts Bibliotheca historica medii aevi (Berlin 1862, Supplement 1868) erschienen ist, ein höchst dankenswerthes Werk, das Product des angestrengtesten und mühsamsten Sammelfleißes, welches, obschon nicht frei von manchen Schwächen und Mängeln, doch als ein ungemein nützliches Hülfsmittel allgemeine Verbreitung und Anerkennung gefunden hat.
Immer lebhafter empfand man in Deutschland während des 18. Jahrhunderts das Bedürfniß einer planmäßig geordneten, kritischen Sammlung der echten und ursprünglichen Geschichtsquellen; das Beispiel von Muratori in Italien und den Maurinern in Frankreich reizte zur Nachfolge, aber alle Wünsche und Versuche scheiterten, wie jene eben erwähnten ersten Anfänge, an der Zerstückelung Deutschlands, an der Unmöglichkeit, ein Zusammenwirken vieler Gelehrten herbeizuführen, an dem Mangel ausreichender Geldmittel. Die Nachrichten über diese Bestrebungen findet man gesammelt im ersten Bande des Archivs der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde. Namentlich hatte der Hallische Theologe Semler einen solchen Plan, und bezeichnet in seinem „Versuch den Gebrauch der Quellen in der Staats-und Kirchengeschichte der mittleren Zeiten zu erleichtern“ (1761) scharf und treffend die Mängel der vorhandenen Sammlungen, die Nothwendigkeit, Originalquellen von Ausschreibern zu sondern, mit Sorgfalt und gesunder Kritik eine Reihe der bedeutendsten Autoren durchnehmend. Durch ihn angeregt gab 1797 sein College Krause den Lambert heraus als Anfang und Specimen einer solchen Sammlung; aber er starb bald nachher und es blieb bei diesem ersten Bande. Im folgenden Jahre 1798 gab Rösler in Tübingen eine kritische Bearbeitung der ältesten Chroniken des Mittelalters, allein die Aufgabe einer umfassenden Sammlung war für die Kräfte einzelner Männer viel zu groß, als daß etwas genügendes hätte zu Stande kommen können.
Die lange Fremdherrschaft in Deutschland und die Befreiung davon durch die vereinten Anstrengungen des ganzen Volkes weckten endlich in höherem Grade das Bewußtsein eines gemeinschaftlichen Vaterlandes. Mit neuer Liebe wandte man sich der Erforschung der Vorzeit zu; E. M. Arndt, die Gebrüder Grimm bestärkten in dieser Richtung durch die kräftigste Anregung. Eifrig und dringend wies Johannes von Müller auf die Nothwendigkeit des Quellenstudiums hin. [18] Auch der Freiherr vom Stein empfand das lebhafte Bedürfniß, eine genügende Anschauung der deutschen Geschichte sich zu verschaffen. Die vorhandenen Darstellungen reichten dazu nicht aus; er suchte die Kenntniß aus den Quellen selbst zu schöpfen, stieß aber dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten wegen des verwahrlosten Zustandes derselben. Es war nicht seine Art, wegen solcher Hindernisse einen Gedanken aufzugeben, und seine Entfernung von den Staatsgeschäften trug dazu bei, daß er ihn um so entschiedener festhielt und verfolgte. Der Gedanke an sich selbst, seinen eigenen Vortheil und Genuß, trat dabei bald völlig zurück; er hatte nur noch sein Volk im Auge, der Wunsch erfüllte ihn, „den Geschmack an deutscher Geschichte zu beleben, ihr gründliches Studium zu erleichtern und hierdurch zur Erhaltung der Liebe zum gemeinsamen Vaterland und dem Gedächtniß unserer großen Vorfahren beizutragen“. Mit der ganzen Energie seines gewaltigen Geistes faßte er den Plan, eine umfassende und kritisch bearbeitete Sammlung der deutschen Geschichtsquellen zu veranstalten, und er ließ nicht ab, bis er denselben zur Ausführung gebracht hatte[1]. Im Februar 1818 brachte er ihn zuerst zur Sprache; es gelang ihm, mehrere seiner westfälischen Freunde zu bedeutenden Geldbeiträgen zu bewegen; er selbst hat nach und nach an 10,000 Fl. darauf verwandt. Mehrere der damaligen Bundestagsgesandten gingen auf Steins Vorschläge ein, und am 20. Januar 1819 trat zu Frankfurt die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde zusammen. Der badische Legationsrath Büchler wurde zum Secretär, der Archivrath Dümge zum Redacteur bestimmt; beide begannen sogleich die Herausgabe der Zeitschrift, welche vom wesentlichsten Nutzen für das Unternehmen gewesen ist. Sie heißt das Archiv der Gesellschaft und führt mit Recht diesen Namen, weil darin alle Vorarbeiten für das große Unternehmen, Nachrichten über Handschriften, Untersuchungen über die einzelnen Quellenschriften niedergelegt wurden[2].
Der ungeheuere Umfang des Unternehmens, die Nothwendigkeit vieler und ausgedehnter Reisen, zeigten sich erst während der Arbeit in zunehmendem Maße; bald sah man, daß Privatmittel, so bedeutend [19] auch die Beitrage der Gründer waren, doch nicht weit genug reichten. Die Bundesversammlung war gleich anfangs um Unterstützung ersucht worden und hatte in Ermangelung eigener Geldmittel zu solchem Zwecke das Werk den einzelnen Regierungen zur Förderung empfohlen, allein fast ohne Erfolg. Man befürchtete von der einen Seite Mißbrauch des Unternehmens für revolutionäre Zwecke — denn die Geschichte könne ebensogut zum Umsturz der Monarchie, wie zu ihrer Erhaltung verwerthet werden — von anderer witterte man etwas Serviles darin, und der alte Voß sah darin eine große Verschwörung, die Geschichte für oligarchische und katholische Zwecke auszubeuten[3]. In Oesterreich galt das Unternehmen als revolutionär, und nachdem eine anfänglich beabsichtigte besondere Direction für Oesterreich fallen gelassen war, blieb für die einheimischen Gelehrten eine förmliche Betheiligung an der Gesellschaft unmöglich[4]. 1828 hatte man sogar Bedenken, den fertig gewordenen ersten Band der Bundesversammlung zu überreichen[5]. Der König von Baiern hatte noch 1829 gar nichts dafür gethan[6], während doch Baden die Dienste des Archivraths Dümge gleich anfangs auf einige Jahre der Gesellschaft überließ, und der König von Preußen von 1821 an einigemal einen Beitrag von 1000 Thalern bewilligte[7]. Mit Bitterkeit gedachte Stein daran, daß er schon im Herbst 1818 eine vom russischen Kaiser angebotene Unterstützung abgelehnt hatte[8], und erst nach des Stifters Tode (29. Juni 1831) scheinen die verschiedenen Regierungen sich nach und nach zu den Beiträgen entschlossen zu haben, welche den Bestand der Sache sicherten; auf einer Ministerconferenz in Wien 1834 hatte der Fürst Metternich sich dem Unternehmen günstig erwiesen.
In den gelehrten Kreisen fand das Unternehmen gleich anfangs lebhafte Theilnahme, aber lange dauerte es, bis ein ausführbarer Plan zu Stande kam. Ein Vorschlag nach dem andern wurde im Archiv veröffentlicht; während man sich zu orientiren suchte, fing man erst an, den Umfang der Arbeit zu übersehen, die Masse des Stoffes, die Schwierigkeit ihn zu bearbeiten, namentlich wegen der in so vielen Bibliotheken und Archiven zerstreuten Handschriften und Urkunden, welche sich viel zahlreicher erwiesen, als man anfänglich geglaubt hatte.
Nach dem ursprünglichen Plan vertheilte man die einzelnen Schriftsteller an verschiedene Gelehrte zur Bearbeitung, aber es zeigte [20] sich bald, daß auf diese Weise weder Einheit in Plan und Methode, noch ein rascher Fortschritt in der Ausführung zu erreichen war. Die ersten Bände des Archivs sind voll von Versprechungen und Anerbietungen, von denen aber die meisten ohne Resultat blieben.
Von entscheidender Bedeutung für die ganze Zukunft des Unternehmens war deshalb der Zutritt des Mannes, unter dessen Leitung es bald den kräftigsten Aufschwung nehmen sollte. G. H. Pertz aus Hannover hatte im Jahre 1818 in Göttingen seine Studien vollendet und 1819 die Geschichte der Merowingischen Hausmeier mit einer Vorrede und lebhaften Empfehlung seines Lehrers Heeren vom 4. September 1818 veröffentlicht. Eine Aufforderung Büchlers zur Theilnahme an den Arbeiten der Gesellschaft erwiderte er am 5. Juli 1819 mit freudiger Zustimmung und dem Erbieten zur Bearbeitung der wichtigsten Quellenschriften aus der karolingischen Periode[9]. Auf Büchlers Mittheilung nahm Stein dieses Anerbieten bereitwillig an, und forderte am 21. December Pertz nicht nur zur Uebernahme der Schriftsteller aus der karolingischen Periode, sondern auch zu einer Reise nach Wien auf, weil die Benutzung der auf der Hofbibliothek befindlichen Handschriften zunächst nothwendig war[10]. Diese Reise, welche den reichsten Ertrag gewährte, wurde nicht nur auf andere österreichische Bibliotheken, sondern auch auf Italien ausgedehnt. Hier war der Freiherr vom Stein bereits selbst gewesen, hatte von den Schätzen des Vatican vorläufige Kunde verschafft und Mitarbeiter zu gewinnen gesucht, auf deren Unterstützung damals noch stark gerechnet wurde. Diese Theilnahme der Italiener erwies sich indessen später als gänzlich illusorisch, und nicht viel mehr Erfolg hatten die Zusagen, welche Pertz in Oesterreich gemacht wurden. Seine Reise aber gewährte die erste feste Grundlage für das Unternehmen; allein aus den päbstlichen Regesten gewann er 1800 ungedruckte Briefe[11]. Seine Reiseberichte zeigten so entschieden eine meisterhafte Handhabung der Kritik in scharfem Gegensatze zu den vielen dilettantischen Beiträgen anderer, daß ihm nach seiner Rückkehr die Redaction sowohl des Hauptwerks als auch der Zeitschrift übertragen wurde, da Büchler und Dümge beide von ihrem Großherzog abberufen waren[12].
[21] Im Jahre 1824 wurde der definitive Plan des Werkes veröffentlicht, und 1826 erschien der erste Band desselben. Aus 5 Abtheilungen soll die ganze Sammlung bestehen, nämlich I. Schriftsteller, II. Gesetze, III. Kaiserurkunden, IV. Briefe, V. Antiquitäten. Für alle sind bedeutende Vorarbeiten gemacht worden, und während Pertz nur die beiden ersten Abtheilungen wirklich begonnen hatte, sind sie seit der neuen Organisation jetzt alle in der Ausführung begriffen.
Eigentlich hätten die ältesten Annalen des Mittelalters und die Geschichtschreiber der Gothen, Merowinger und Langobarden das Werk eröffnen sollen; die Vorarbeiten dazu waren aber so schwierig, und die Benutzung so unentbehrlicher Handschriften noch nachzuholen, daß diese ganze Abtheilung einstweilen übergangen wurde, um nicht zu lange mit dem wirklichen Beginn der Publicationen zögern zu müssen. Jetzt erst, nach wiederholten Reisen durch Frankreich, Belgien, England, Spanien, Italien, Rußland, sind die Vorbereitungen der Vollendung nahe gerückt, und die Herausgabe dieser sehnlich erwarteten Quellen ist ernstlich in Angriff genommen, größtentheils schon erfolgt.
Den Anfang machten also aus diesen Gründen die karolingischen Annalen[13], welche mit ihren Anfängen noch in die merowingische Zeit hinaufreichen und mit den Fortsetzungen zum Theil durch das ganze Mittelalter sich erstrecken. Nur wer die Verwirrung, den verwahrlosten Zustand kennt, in welchem sich früher diese Annalen befanden, an verschiedenen Orten und größtentheils in sehr fehlerhafter Gestalt gedruckt, ohne Unterscheidung ihres echten, gleichzeitig niedergeschriebenen Gehaltes und der späteren Zusätze, nur der kann sich eine richtige Vorstellung machen von dem außerordentlichen Gewinn, welcher der Geschichtsforschung daraus erwuchs, daß nun alle jene Annalen in einem Bande vereinigt, kritisch gesichtet und durch neue Entdeckungen bereichert, zur ungehinderten Benutzung bereitet vorlagen. Daß eben hierdurch auch die Möglichkeit gegeben wurde, über die ursprüngliche Arbeit hinauszugehen und die Kritik weiter zu führen, liegt in der Natur der Dinge.
[22] Nach einer neuen Reise des Herausgebers nach den Niederlanden, Paris und England erschien 1829 der zweite Band[14], welcher die Chroniken und Biographieen der karolingischen Periode enthält. Den Anfang aber bilden die Geschichtsquellen des Klosters St. Gallen, bearbeitet von Ildefons von Arx[15], welche mit dem alten Leben des Stifters beginnen und bis zum Jahre 1233 unzertheilt beisammen gelassen wurden. Das Leben des heiligen Ansgar bearbeitete für diesen Band Dahlmann.
Einen neuen sehr bedeutenden Fortschritt brachten die beiden Bände Leges 1835 und 1837. Auch hier wurden einstweilen die alten Volksrechte noch bei Seite gelassen; erst 1863 erschien der dritte Band, welcher die Gesetze der Alamannen und Baiern von Joh. Merkel, der Burgunden von Bluhme, der Friesen von Richthofen bearbeitet enthält; 1868 im vierten Band das von Fr. Bluhme und Alfred Boretius bearbeitete Recht der Langobarden; von diesen Volksrechten aber erscheinen jetzt neue Bearbeitungen in der Quart-Ausgabe. Die jüngeren Rechtsbücher blieben der Thätigkeit der Rechtshistoriker überlassen, während die Reichstagsacten seit König Wenzels Wahl von der historischen Commission übernommen sind. Von jenen beiden Bänden aber umfaßt der erste die Capitularien bis 921, der zweite außer neu aufgefundenen Supplementen Reichsgesetze, kaiserliche Verordnungen, Rechtsprüche, Verträge und andere wichtige Urkunden bis 1313; hier ist namentlich aus den Vaticanischen Regesten viel neues von erheblicher Bedeutung mitgetheilt. Ein Anhang enthält in völlig principloser Mischung unechte Capitularien, Synodalbeschlüsse, und einige päbstliche Bullen. Die verfälschte Capitularien-Sammlung des Benedictus levita ist hier von dem leider zu früh der Wissenschaft entrissenen Dr. Knust herausgegeben, welcher auf der Heimkehr aus Spanien in Paris am 9. October 1841 verstarb[16]. Seine Ausgabe wird ihren kritischen Werth behaupten, aber die in der vorausgeschickten Abhandlung niedergelegten Untersuchungen sind von Paul Hinschius in seiner Ausgabe der Decretales Pseudo-Isidorianae (1863) zum Theil widerlegt und berichtigt. Diese beiden ersten Bände der Leges sind längst vergriffen [23] und eine neue Ausgabe war um so nothwendiger, da die ursprüngliche Arbeit in hohem Grade durch Flüchtigkeitsfehler entstellt ist. Alfred Boretius, welcher in seiner Schrift: Die Capitularien im Langobardenreich (Halle 1864) diese Mängel nachgewiesen hatte, hat auch die neue Ausgabe der Capitularien besorgt; nach seiner schweren Erkrankung trat für ihn Dr. Krause ein. Mit der Bearbeitung der Reichsgesetze ist L. Weiland beschäftigt. Als eine überaus werthvolle Ergänzung ist die Ausgabe der Formeln von K. Zeumer hinzugetreten.
In besserer Weise wurde mit Benutzung tüchtiger jüngerer Kräfte die Reihe der Scriptores fortgeführt; in rascher Folge erschienen 1839 und 1841 der dritte und vierte Band, welche die Periode der sächsischen Kaiser enthalten. Bei diesen trat G. Waitz als Mitarbeiter ein, während Lappenberg, der die Geschichtsquellen der niederelbischen Lande übernommen hatte, hier als Erstling den Thietmar von Merseburg bearbeitete, dem später Adam von Bremen u. a. folgten. Für die Zeit der Karolinger hatten zwei Bände genügt und ebenso noch für die Zeit der Ottonen zwei von etwas stärkerem Umfange; die Salier dagegen, mit Lothar, erforderten acht Bände, die von 1844 bis 1856 erschienen; so sehr wächst um diese Zeit die Masse des Stoffes. Neben Waitz finden wir hier auch C. L. Bethmann thätig, der schon längere Zeit an den Vorarbeiten Theil genommen und namentlich in den Bibliotheken Frankreichs und Belgiens gearbeitet hatte; es gelang ihm u. a. die Urschrift der Chronik des Sigebert zu entdecken, welche mit allen ihren Fortsetzungen im 6. Bande erschien. Eine längere Reihe jüngerer Mitarbeiter hat sich den schon genannten angeschlossen, in den letzten Jahren häufiger wechselnd; von der ersten Generation ist nur G. Waitz fortwährend noch als Herausgeber einzelner Werke betheiligt geblieben. So ersprießlich nun auch für die rasche Ausführung des Unternehmens sich die thatsächlich durchaus monarchische Leitung anfänglich erwiesen hatte, so zeigte sich im Verlaufe desselben immer deutlicher, daß seine große Ausdehnung die Kräfte eines Mannes überstieg[17], wie denn auch die ursprünglichen Statuten eine ganz andere Form vorgeschrieben hatten. Nachdem schon am Bundestage nach dem Referate Roberts von Mohl eine Aenderung der Leitung in Angriff genommen war, nahm nach den Kriegsjahren der neue Bundesrath sich der Sache an, und im Januar 1875 ist unter der Vermittelung der Berliner Akademie der Wissenschaften [24] eine neue Organisation ins Leben gerufen. Die Leitung des ganzen Unternehmens hat jetzt eine Centraldirection, deren Vorsitzender bis an seinen Tod G. Waitz war, jetzt E. Dümmler; die einzelnen Abtheilungen sind besonderen Leitern selbständig übergeben. Waitz selbst übernahm die Scriptores und provisorisch die Leges, Th. Mommsen die 'Auctores antiquissimi' der Uebergangszeit als eigene Abtheilung, Sickel die Diplomata, Wattenbach die Briefe, Dümmler die Antiquitates. Als beschlossen war, auch die Concilien der Merowingerzeit aufzunehmen, übernahm Maaßen die Vorbereitung der Ausgabe. Für solche Serien, welche neu begonnen werden, ist ein bequemeres Quartformat eingeführt. Als Fortsetzung des Archivs der Gesellschaft erscheint das Neue Archiv, von welchem jährlich ein Band ausgegeben wird; dasselbe beginnt mit einem Bericht über die Neugestaltung der Direction und bringt regelmäßig Berichte über die jährlichen Versammlungen der Centraldirection und den Stand der Arbeiten.
Von dem Deutschen Reich und Oesterreich sind bedeutende Geldmittel bewilligt, welche eine gesteigerte Betreibung der Arbeiten durch zahlreiche Gelehrte ermöglichen.
Werfen wir nun einen Blick auf die Art der Ausführung, so treten uns besonders zwei Hauptprincipien entgegen, welche im Vergleich mit den älteren Sammlungen einen bedeutenden Fortschritt bezeugen: die genaue Wortkritik und die strenge Sichtung des Inhalts mit Bezug auf die Herkunft und Glaubwürdigkeit der Nachrichten.
Zum ersten Male sind hier die mittelalterlichen Schriftsteller mit einer Genauigkeit behandelt, wie sie früher nur classischen Autoren zugewandt wurde. Von Anfang an wurde der Grundsatz aufgestellt und in der Regel auch befolgt, für jeden Schriftsteller alle erreichbaren handschriftlichen Hülfsmittel zusammenzubringen, ohne Rücksicht auf frühere Drucke nur die beste Handschrift zu Grunde zu legen, und durch Vergleichung der übrigen die möglichste Reinheit und Sicherheit des Textes zu erstreben.
Wenn auch durch frühere Sorglosigkeit, durch die Verwüstungen der Bauernkriege und die stürmischen Zeiten am Ende des vorigen Jahrhunderts viel zu Grunde gegangen ist, so hat sich doch, wie die unternommenen Reisen nach und nach ergaben, mehr erhalten, als man irgend erwartet hatte. Und wenn auch jetzt manche Handschrift vermisst wird, welche den Maurinern noch vorlag, so bietet dagegen unsere Zeit den Vortheil, daß fast alle Bibliotheken und Archive der wissenschaftlichen Forschung zugänglich sind, während [25] jene noch häufig über die eifersüchtige Verweigerung des Eintritts Klage führten. Hat doch selbst Mabillon in Salzburg, so festlich er auch dort empfangen wurde, keine Handschrift zu sehen bekommen[18].
Von nicht geringerer Wichtigkeit als die Correctheit der Texte ist aber zweitens die genaue kritische Analyse der Quellen. Nicht nur sind dadurch mehrere früher allgemein benutzte Schriften als untergeschoben gänzlich ausgeschieden worden, sondern auch die echten Chronisten werden erst dadurch dem Geschichtsforscher recht brauchbar, daß ihm auf den ersten Blick entgegentritt, was jedem eigenthümlich, was von anderen entlehnt ist, und woher er es entnommen hat. Zuerst in der Ausgabe des Regino, und seit dem vierten Bande der Scriptores in consequenter Durchführung, wird alles von anderen unmittelbar entlehnte auch durch Petitdruck kenntlich gemacht, was die Benutzung ungemein erleichtert. Das wird jeder zu würdigen wissen, welcher irgend Gelegenheit gehabt hat, andere Sammlungen und Ausgaben zu benutzen, wo der gewissenhafte Forscher diese Arbeit stets von neuem vornehmen muß, während freilich viele es sich leichter machen und ohne Unterscheidung gleichzeitige, spätere und abgeleitete Nachrichten benutzen.
Die Reihenfolge der Quellen ist chronologisch, und zwar in zweifacher Weise, zuerst nach den angegebenen größeren Perioden und dann wieder innerhalb der kleineren Abtheilungen. In einer solchen Periode werden nämlich zuerst die Annalen gegeben, streng nach Jahren geordnete, oft gleichzeitige, in der Regel kurze Aufzeichnungen[19]. Darauf folgen die Chroniken und Geschichten, welche zum Theil noch die annalistische Form beibehalten, doch nur als äußere Gestalt, denn sie sind meistens nicht gleichzeitig und unterbrochen, sondern zusammenhängend, im Rückblick auf einen größeren Zeitraum aufgezeichnet, und versuchen, über die bloße Aufzeichnung der Thatsachen hinausgehend, deren pragmatische Verbindung und innere Entwicklung nachzuweisen. Den allgemeineren Werken dieser Art schließen sich die Localchroniken an, deren wir aus der älteren Zeit manche von Klöstern und Bisthümern besitzen, während später die Chroniken der Länder und Städte beginnen, und allmählich ganz das Uebergewicht gewinnen. Den Schluß bilden die Biographieen und kleineren Erzählungen verschiedener Art, welche nebst den Localchroniken in das lebendige Treiben der Zeit [26] einführen, und denen wir größtentheils das Fleisch und Blut zu dem chronologischen Gerüste der Annalen verdanken.
Es versteht sich von selbst, daß diese Gattungen durch keine scharfe Grenzen gesondert sind, und manches Stück so sehr in der Mitte steht, daß es nur nach zufälligen Umständen hier oder dort seine Stelle findet.
Innerhalb dieser Kategorieen ist die Anordnung wiederum chronologisch, nach dem Endjahr, doch wird dieser Grundsatz nicht pedantisch durchgeführt, sondern durch mancherlei Rücksichten beeinträchtigt. Nicht nur wird nachträglich mitgetheilt, was während der Arbeit neu entdeckt wird, sondern es bleibt auch oft das gleichartige zusammen. Namentlich wird die Fortsetzung nicht vom Hauptwerk getrennt, wenn sie nicht ganz selbständiger Art ist. So sind die Casus S. Galli bis 1233 beisammen geblieben, und Sigebert mit seinen Fortsetzern, so auch Cosmas und die österreichischen wie die schwäbischen Annalen.
Dom Bouquet und seine ersten Fortsetzer haben das entgegengesetzte Princip verfolgt. Sie gaben zu jeder Periode alles darauf bezügliche aus allen Schriftstellern, wodurch scheinbar ein großer Vortheil für den Geschichtschreiber erreicht wird, da er seinen ganzen Stoff übersichtlich vor Augen hat. Dagegen aber wird es ihm außerordentlich schwer, ein kritisches Urtheil über die Quellen zu gewinnen, weil er sie nirgends vollständig beisammen hat; und doch kommt bei der geschichtlichen Forschung gerade darauf so viel an: es ist wenig damit gewonnen, die Worte einer historischen Nachricht zu haben, wenn man nicht weiß, wie viel Glauben der Schriftsteller verdient, und wie die ganze Art und Weise seiner Auffassung und Darstellung beschaffen ist.
Während nun bei Bouquet z. B. der Sigebert in viele Bände vertheilt ist, bleibt in den Mon. Germ. jeder Schriftsteller so viel wie möglich in seiner Integrität; man hat auch nicht, wie Stenzel früher vorschlug, dasjenige weggelassen, was der Verfasser nur aus anderen bekannten Quellen entlehnt hat; sondern man hat es wenigstens bei den bedeutenderen Schriftstellern vorgezogen, diese Theile nur durch kleineren Druck kenntlich zu machen, weil es für uns auch von Wichtigkeit ist zu wissen, wie die Schriftsteller der Zeit die Vergangenheit behandelten, aus welchen abgeleiteten Quellen die Folgezeit ihre Kenntniß schöpfte, und wie auf diese Weise die Kunde der Geschichte allmählich verengt und entstellt wurde. So hat z. B. die Chronik des Martin von Troppau fast gar keinen eigenen [27] Werth, aber sein Compendium der Pabst-und Kaisergeschichte ist nichtsdestoweniger sehr wichtig, weil es Jahrhunderte lang die Hauptquelle der Geschichtskenntniß blieb.
In manchen Fällen jedoch war es nicht rathsam oder thunlich, die ganzen Werke aufzunehmen, und dann hat man sich auf Auszüge beschränkt; wenn nämlich die Hauptmasse der deutschen Geschichte fern liegt, fremde Länder oder zu entlegene Zeiten betrifft, wenn zwischen theologischen und anderen Betrachtungen sich nur vereinzelt geschichtliche Nachrichten finden, oder wenn eine wüste Compilation vorlag, welche keinen Anspruch darauf machen kann, als litterarisches Erzeugniß behandelt zu werden. Deutsche Hauptschriftsteller dagegen, welche durch ihre ganze Persönlichkeit bedeutend sind, haben ein wohlbegründetes Recht darauf, in ihrer ganzen Individualität aufgefaßt zu werden, und Männern wie Otto von Freising darf man ihre Werke nicht verstümmeln[20].
Von auswärtigen Geschichtsquellen sind von Anfang an nicht selten Auszüge mitgetheilt; in der Periode der Staufer haben diese einen sehr großen Umfang gewonnen. Es bedarf zu ihrer Bearbeitung einer sehr großen Arbeit voll Selbstverleugnung, da gewöhnlich zur Gewinnung der Auszüge das ganze Werk kritisch untersucht werden mußte. Für die Benutzung aber ist bei der oft schwierigen Zugänglichkeit der Ausgaben diese Zusammenstellung eine große Wohlthat, und ein gegen dieses ganze Verfahren gerichteter Angriff hat deshalb von vielen Seiten eine scharfe Zurückweisung hervorgerufen; es genügt hier, auf die Schrift von O. Holder-Egger zu verweisen: „Die Monumenta Germaniae und ihr neuester Kritiker“ (Hann. 1888).
Von manchen der bedeutenderen Quellen sind nun neben der großen Sammlung auch Octavausgaben veranstaltet, ursprünglich ohne den kritischen Apparat, jetzt aber mit demselben. Auch werden in dieser Form neue Ausgaben veranstaltet und einzelne ferner liegende Quellen vorläufig mitgetheilt.
Ueber diesen ganzen reichhaltigen, aber wegen verschiedener Umstände nicht systematisch geordneten und schwer zu übersehenden Inhalt gewährt jetzt ein ungemein dankenswerthes Repertorium die vortrefflichste Uebersicht, gemeinschaftlich verfasst von O. Holder-Egger und K. Zeumer[21].
[28] Sehr zu rathen ist, die wichtigeren, jetzt so leicht zugänglich gemachten Quellenschriften auch wirklich zu lesen, weil das bloße Nachschlagen und Benutzen einzelner Stellen zu so vielen Irrthümern und Mißverständnissen Anlaß giebt, und nur das Lesen im Zusammenhang die richtige Anschauung gewährt; nur dadurch gewinnt man ein lebendiges Bild von den einzelnen Schriftstellern, wie von der ganzen Zeit und der damals herrschenden Art der Anschauung und Auffassung.
Noch besser wird vielleicht in manchen Fällen dieser Zweck erreicht durch die schon von Stein gewünschten[22] Uebersetzungen aus denen uns der Inhalt der Schriften weit reiner entgegentritt, indem der Leser hier nicht durch die einzelnen Schwierigkeiten beschäftigt wird, die sonst leicht seine Aufmerksamkeit zerstreuen. Auch wird man durch die Uebersetzungen nicht selten auf Stellen aufmerksam gemacht, die man früher übersah, und wenn die Uebersetzung gelungen ist, bietet sie kein unbedeutendes Hülfsmittel dar zum richtigen Verständniß des Textes, welches häufig gar nicht so leicht ist, wie der erste Anschein glauben läßt. Denn das mittelalterliche Latein hat viel eigenthümliches, und nicht nur in diese Sprache überhaupt, auch in den Sprachgebrauch der einzelnen Schriftsteller muß man sich erst mit Sorgfalt hineinlesen, um ihn ganz zu verstehen.
Die Wichtigkeit dieser seit 1849 unter dem Titel der Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit erscheinenden Sammlung von Uebersetzungen ist deshalb unverkennbar, aber die Ausführung ließ viel zu wünschen übrig. Die Ungleichartigkeit der einzelnen Arbeiten ließ den Mangel einer eigentlichen Leitung sehr empfinden, und manche Uebersetzung war voll von Fehlern. Von den auf dem Titel genannten berühmten Namen hat nur Pertz sich der Sache wirklich angenommen, doch begreiflicher Weise nur als Nebensache. Jahrelang hat dann dieses Unternehmen gänzlich geruht, ist jedoch, seit einigen Jahren wieder in Angriff genommen. Die Nützlichkeit desselben bewährt sich auch dadurch, daß von vielen einzelnen Bänden neue Auflagen nöthig geworden sind, und gegenwärtig erscheint, von Wattenbach geleitet, eine chronologisch fortschreitende neubearbeitete Auflage der ganzen Sammlung.
[29] In weiten Kreisen hat das Unternehmen der Monumenta Germaniae anregend gewirkt, es hat als Vorbild gedient in Turin und in England; aber andererseits wurde es auch befördert durch mancherlei Bestrebungen verwandter Art, und durch die lebhafte Aufmerksamkeit, welche überhaupt für das Mittelalter einmal erweckt war und bald zu den gediegensten Untersuchungen führte. Raumer, Ranke, Stenzel wirkten in anregendster Weise sowohl mündlich wie schriftlich. Schon 1813 erschien von Fr. v. Raumer das Handbuch merkwürdiger Stellen aus den lateinischen Geschichtschreibern des Mittelalters, und die Geschichte der Hohenstaufen (1824) gab das Beispiel einer lebendigen Benutzung der Quellen, einer auf Leben, Verfassung, Sitte eingehenden Darstellung, welche nicht für den Gelehrten allein geschrieben ist. Ranke stellte in seiner Schrift Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber, welche 1824 als Beilage zu seinen Romanischen und Germanischen Geschichten erschien, das trefflichste Muster der Quellenkritik auf[1], während seine praktischen Uebungen, aus denen die Jahrbücher des deutschen Reichs unter den sächsischen Kaisern hervorgegangen sind, die Mehrzahl der älteren Mitarbeiter an den Monumenten ausgebildet haben.
Stenzel gab in seiner Geschichte der fränkischen Kaiser 1828 eine rein nach Originalquellen gearbeitete Darstellung, welche um so bewundernswerther erscheint, wenn man den damaligen Zustand der Quellen und den Mangel an guten Hülfsmitteln und Vorarbeiten bedenkt. Vorzüglich aber enthält der zweite Band treffliche Untersuchungen über einzelne Geschichtsquellen dieser Zeit, und eine ausgezeichnete Abhandlung über die bei ihrer Behandlung festzuhaltenden Grundsätze.
Seitdem haben sich diese Bestrebungen in immer weiteren Kreisen verbreitet; aller Orten sind historische Vereine thätig für die Bearbeitung der vorherrschend localen Quellen. Eine Zeit lang war man vielfach geneigt, alles von den Herausgebern der Monumenta zu erwarten, allein bald erkannte man doch, daß diese die späteren Zeiten noch lange nicht erreichen werden, und daß auch, je mehr mit der Zeit der Stoff anwächst und sich zersplittert, desto weniger alles ohne Ausnahme Aufnahme finden kann. Sehr zweckmäßig ist [30] es daher, daß man angefangen hat, die Quellen einzelner Gegenden selbständig herauszugeben, wobei dann auch das spätere Mittelalter und das sechzehnte Jahrhundert mehr Berücksichtigung gefunden haben. So erschienen von Mone die badischen Geschichtsquellen, von Grautoff die lübischen, von Lappenberg die bremischen, hamburgischen, holsteinischen, von Stenzel die schlesischen, von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz die Lausitzer[2], von Ficker, Cornelius, Janssen, Diekamp die münsterischen, von Endlicher die ungarischen, und vielfach sind einzelne Quellenschriften abgesondert herausgegeben. In Böhmen, wo schon früher eine rege Thätigkeit auf diesem Felde entfaltet war, legte Palacky durch seine Würdigung der böhmischen Geschichtschreiber den Grund zu einer erneuten kritischen Bearbeitung, und 1853 erschien von M. Töppen die Geschichte der preußischen Historiographie, als Vorläufer und Keim der ausgezeichneten Sammlung der Scriptores Rerum Prussicarum, welche jetzt in fünf Bänden vollendet vorliegt. Die Städtechroniken, ein ebenso wichtiges wie schwieriges Gebiet, hat die Münchener historische Commission unter ihre Aufgaben aufgenommen und unter Karl Hegels Leitung sind bereits zwanzig Bände erschienen.
Ueber das viele Material, welches in periodischen Schriften, besonders in den Zeitschriften der historischen Vereine niedergelegt ist, orientirt das Repertorium von Walther 1845 und das neuere und zugleich umfassendere von Koner (1856). Eine weitere Fortsetzung fehlt leider.
Doch noch eines Mannes haben wir zu gedenken, der allein mehr gewirkt hat, als die meisten Vereine, und von dem sich der anregendste lebendigste Einfluß nach allen Seiten verbreitete. J. F. Böhmer, Bibliothekar in Frankfurt a. M. und mit Pertz Director der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde[3], hatte anfangs die Redaction der Abtheilung der Kaiserurkunden übernommen, diese aber später wieder aufgegeben, und sich auf die ursprünglich als [31] Vorarbeit dafür begonnenen Regesten beschränkt. Diese haben in den neueren Bearbeitungen immer weitere Ausdehnung erhalten; die kurzen Urkundenauszüge sind vollständiger geworden und durch Auszüge aus den Geschichtschreibern und Annalen in Verbindung gebracht; das ganze historische Material einer Periode wird dem Geschichtsforscher geordnet vor Augen gelegt und in den Einleitungen die Quellen besprochen und gewürdigt. Der zuerst erschienene Theil, von 919 bis 1197, bedurfte begreiflicher Weise auch zuerst der Berichtigung und Ergänzung. Diese Aufgabe stellte sich K. F. Stumpf in seinem Werke: „Die Reichskanzler vornehmlich des X., XI. u. XII. Jahrhunderts“, dessen Abschluss J. Ficker nach dem frühen Tode des Verfassers in der Weise besorgte, daß durch Aufnahme von Böhmers Citaten das Buch selbständig geworden ist und man der alten Regesten nicht mehr bedarf. Außerdem aber ist eine Neubearbeitung des ganzen Regestenwerkes in erweiterter Form in Angriff genommen, wovon die Regesten der Karolinger von Engelbert Mühlbacher, und die der Staufer von 1198 bis 1272, von Ficker, ihrer Vollendung entgegen gehen.
Neben dieser, für die historischen Studien unendlich fruchtreichen Arbeit wurde Böhmer durch die Verwahrlosung der späteren Chroniken und den Besitz an reichem, aus Handschriften gewonnenem Stoff veranlaßt, in den drei Bänden seiner Fontes Rerum Germanicarum auch eine eigene Quellensammlung erscheinen zu lassen, welche für das zwölfte bis vierzehnte Jahrhundert vom ausgezeichnetsten Werthe ist. Mit mannigfachen Entwürfen beschäftigt, die nicht mehr zur Ausführung kamen, ist Böhmer am 22. October 1863 in Frankfurt gestorben; in seinem letzten Willen hat er für die geeignete Verwerthung seines handschriftlichen Nachlasses und die Fortführung seiner Arbeiten Fürsorge getroffen. Auch ist bereits durch Alfons Huber der vierte Band der Fontes herausgegeben, während eine große Fülle von werthvollem, urkundlichem Material durch Julius Ficker in den Acta Imperii Selecta verwerthet ist. Außer der schon erwähnten Neubearbeitung der Kaiser-Regesten aber sind von A. Huber die Regesten Karls IV, von C. Will die Regesten der Mainzer Erzbischöfe als Theile dieses großen Corpus erschienen.
Eine umfassendere Quellensammlung von strengerem wissenschaftlichen Charakter und mehr methodischer Art verdanken wir Philipp Jaffé, lange Zeit dem vorzüglichsten Mitarbeiter der MoMonumenta. Von diesen zurücktretend, begann Jaffé ein selbständiges Unternehmen unter dem Titel Bibliotheca Rerum Germanicarum. [32] Hinweisend auf den langsamen Fortgang der Monumenta Germaniae, auf die nach 40 Jahren noch gänzlich fehlenden drei Abtheilungen der Urkunden, Briefe und Alterthümer, gab der Herausgeber als seinen Zweck an, Quellen verschiedener Art, vorzüglich solche, welche in den Monumenten fehlen, zu einzelnen auch in sich abgerundeten Gruppen zu vereinigen, so daß ein Ort, eine bedeutende Persönlichkeit oder ein wichtiger Zeitraum den Mittelpunkt bilde. So sind zuerst 1864 Monumenta Corbeiensia erschienen, welche mit einer berichtigten Ausgabe der Annalen und anderer kleinerer Stücke die lange begehrten Briefe Wibalds verbinden, und schon 1865 folgten Monumenta Gregoriana, die erste kritische Ausgabe der Briefe Gregors VII nebst Bonitho's v. Sutri liber ad amicum. Trefflichkeit der Arbeit mit sauberer Ausstattung und handlichem Format verbindend, hat dieses neue Unternehmen überall freudige Aufnahme gefunden. In rascher Folge erschienen noch drei Bände, welche als Hauptstücke die Bonifazische Briefsammlung, den Codex Carolinus nebst Einhards Briefen und den Codex Udalrici brachten, bis ein plötzlicher Tod am 3. April 1870 der rastlosen Arbeit des Herausgebers ein Ziel setzte. Wie gewaltig diese Arbeit gewesen war, das wissen am besten diejenigen zu schätzen, welche den begonnenen sechsten Band vollendet haben, dessen Hauptinhalt die Briefe Alcuins bilden.
Nicht unerwähnt darf hier auch Jaffé's älteres Werk bleiben, die Regesta Pontificum Romanorum bis zum Jahr 1198. Im Jahr 1851 erschienen, ist es seitdem als unentbehrliches Hülfsmittel überall verbreitet und in seinem hohen Werthe anerkannt. Was bis dahin wohl lebhaft gewünscht war, aber nur durch gemeinschaftliche Arbeit einer gelehrten Körperschaft erreichbar schien, gewährt hier der eiserne Fleiß und die umfassende Gelehrsamkeit des einzelnen Mannes. Für den uns zunächst vorliegenden Zweck ist dieses Werk insofern von Bedeutung, als es wegen der Berücksichtigung von Chronisten und Biographieen auch einen Wegweiser durch die Litteratur der Pabstgeschichte darbietet. Diese ist in neuester Zeit noch durch eine umfassende Sammlung bereichert worden, durch Watterichs Ausgabe der Pontificum Romanorum Vitae von 872 bis 1198; der versprochene dritte Band bis auf Gregor X fehlt noch. Nicht eben einverstanden mit der Zusammenhäufung abgerissener Bruchstücke, verkennen wir doch nicht die Verdienstlichkeit dieser mühsamen Arbeit, und werden sie bei den einzelnen Abschnitten noch häufig zu erwähnen haben. Die weitere Fortführung der Regesten bis 1304 verdanken wir August Potthast.
[33] Von Jaffé's Regesten aber ist unter Wattenbachs Leitung eine neue sehr vermehrte Ausgabe erschienen, von welcher der erste Theil bis 590 von F. Kaltenbrunner, der zweite bis 882 von P. Ewald, der Haupttheil von 882 bis 1198 von S. Löwenfeld bearbeitet sind.
Es bleibt noch übrig, einige Worte über ältere Arbeiten auf dem uns vorliegenden Gebiete hinzuzufügen. Das Bedürfniß einer Darstellung der historiographischen Entwickelung des deutschen Mittelalters machte sich seit der immer wachsenden Beschäftigung mit diesem Zeitraum stets dringender geltend. Ludwig Wachlers kurze Skizze im Eingange seiner „Geschichte der historischen Forschung und Kunst“ (Gött. 1812) verdient als erster Versuch Erwähnung, kann aber doch jetzt nur noch dazu dienen, die seitdem gemachten Fortschritte recht lebhaft empfinden zu lassen, während das eigentliche Hauptwerk auch jetzt noch brauchbar ist. Willkommen als Hülfsmittel war Dahlmanns „Quellenkunde der deutschen Geschichte nach Folge der Begebenheiten“, zuerst 1830, dann 1838 in zweiter Ausgabe erschienen; 1869 in dritter, 1875 in vierter, 1883 in fünfter Ausgabe durch G. Waitz neu bearbeitet und bedeutend vermehrt, ist diese Quellenkunde als eine überaus dankenswerthe und werthvolle Gabe zu betrachten, aber Darstellung liegt dem Plane des Buches fern.
Ungemein verdienstlich war es, daß F. Baehr seine Geschichte der römischen Litteratur über die gewöhnliche Grenze fortführend, 1836 die christlichen Dichter und Geschichtschreiber Roms, 1837 die theologische Litteratur hinzufügte, 1840 die Geschichte der römischen Litteratur im karolingischen Zeitalter folgen ließ, mit derselben umfassenden Gelehrsamkeit, derselben Sorgfalt und Genauigkeit gearbeitet, welche das ganze Werk auszeichnet. Die neue Ausgabe wurde leider durch den Tod des Verfassers unterbrochen und nur die erste Abtheilung des vierten Bandes (Die christlichen Dichter und Geschichtschreiber bis auf Paulus Diaconus) ist 1872 in zweiter Ausgabe erschienen. Nicht minder umfassend ist die jetzt schon in fünfter Auflage (1890) vorliegende Geschichte der römischen Litteratur von W. S. Teuffel (besorgt von L. Schwabe). 1837 erschienen „Die Geschichtschreiber der sächsischen Kaiserzeit“ von Contzen, der sich durch die falschen Corveyer Quellen irre führen ließ; was sonst etwa für jene Zeit brauchbares in der Schrift enthalten war, ist durch die inzwischen erschienenen neuen Ausgaben der betreffenden Schriftsteller vollkommen veraltet. Auf einen anderen [34] Abweg war L. Haeusser gerathen, indem er durch die von Schlosser ihm mitgetheilten Briefe des Herrn Galiffe in Genf[4] sich verleiten ließ, auf dessen wunderliche Ideen von systematischer Fälschung der Quellen in großem Umfange einzugehen. Freilich bewahrte ihn sein richtiger kritischer Sinn vor völliger Zustimmung; vielmehr widerspricht er häufig den Behauptungen Galiffe's, doch ist er noch immer geneigt, ihnen zu große Bedeutung beizulegen. Uebrigens enthält diese Schrift „Ueber die Teutschen Geschichtschreiber vom Anfang des Frankenreichs bis auf die Hohenstaufen“ (Heid. 1839) manche treffende Bemerkung, beruht aber noch auf zu ungenügenden Studien, um das vorgesteckte Ziel erreichen zu können. Haeusser war damals noch Lehrer in Wertheim; er hat sich später anderen Gebieten zugewandt und diesen Gegenstand nicht wieder berührt. Noch war auch die Lage der Dinge so, daß fast nur in dem Kreise der Mitarbeiter an den Monumenta Germaniae die hinlängliche Vertrautheit mit dem ganzen Quellengebiet erreichbar war, welche die Lösung der vorliegenden Aufgabe möglich machte. Von hier aus trat nun G. Waitz mit einer Arbeit auf, welche zuerst einen bleibenden Werth in Anspruch nehmen kann. In Kiel gehaltene Vorträge weiter ausführend, gab er 1844 und 1845 in W. A. Schmidts Zeitschrift für Geschichtswissenschaft II, 39-58, 97-114, IV, 97-112 „Ueber die Entwickelung der deutschen Historiographie im Mittelalter“ eine Darstellung, welche als grundlegend auf diesem Gebiet betrachtet werden muß, und lange Zeit für diese Studien das vorzüglichste Hülfsmittel blieb. Die Absicht, den Gegenstand in einem größeren Werke eingehender zu behandeln, brachte Waitz jedoch nicht zur Ausführung und suchte dagegen durch eine von der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gestellte Preisfrage eine Bearbeitung von anderer Hand hervorzurufen. Schon früher mit dem Plane eines solchen Werkes beschäftigt, nahm ich hiervon Veranlassung zu der 1858 erschienenen ersten Auflage des hier vorliegenden Buches, welchem 1866 die zweite, 1873 die dritte, 1877 die vierte, 1885 die fünfte folgten. Eine sehr nützliche und willkommene Ergänzung desselben gewähren die von W. v. Giesebrecht in seiner „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ mit den einzelnen Abschnitten verbundenen Uebersichten der Quellen und Hülfsmittel, welche von anderem Gesichtspunkt ausgehen und über manche Quellenschriften sehr lehrreiche Bemerkungen enthalten. Untersuchungen [35] über einzelne Geschichtsquellen sind in reicher Fülle erschienen; sie werden in dieser neuen Ausgabe berücksichtigt werden, soweit sie in den betreffenden Zeitraum gehören. Ueber diese hinauszugehen, war meine Absicht nie gewesen, weil dazu ein Studium der Quellen allein kaum ausreicht; es ist fast unerläßlich, daß, wer eine solche Aufgabe lösen will, selbständig innerhalb dieses Zeitraums gearbeitet habe. Um so erfreulicher war es, dass Ottokar Lorenz, der Verfasser der freilich leider unvollendeten „Deutschen Geschichte im 13. und 14. Jahrhundert“, sich entschloß, diese gerade ihm so nahe liegende Arbeit zu unternehmen. Zuerst 1870 im Anschluß an mein Werk erschienen, ist auch dieses Werk 1876 in zweiter Auflage erschienen, in welcher es durchgängig vermehrt, verbessert, und auch bis zum Ausgang des Mittelalters fortgeführt ist. 1886 erschien die dritte Auflage in Verbindung mit Dr. Arthur Goldmann.
Von den ersten Anfängen bis zur Herrschaft der Karolinger. [36]
Tacitus berichtet uns, daß noch zu seiner Zeit die Germanen in ihren Liedern die Thaten des Arminius feierten[1]. Nicht unmöglich ist, daß noch in den Dichtungen der deutschen Heldensage, welche Karl der Große sammeln und aufschreiben ließ[2], dieser uralten Kämpfe gedacht wurde: was uns von einheimischer Sage erhalten ist, reicht nicht weit über die Zeiten Attila's hinauf, dessen gewaltige Hand mit so übermächtiger Kraft alles zerschmetterte, was ihm entgegentrat, daß auch das Gedächtniß der früheren Zeit erlosch. Von den Völkerschaften, deren Tacitus gedenkt, weiß die Sage nichts; auch die gothischen und langobardischen Heldenlieder, deren Inhalt uns zum Theil erhalten ist, sind früh verklungen. Etzel aber und Dietrich von Bern und die Könige der Burgunden lebten fort in der Erinnerung des Volks; wir haben die Lieder, welche von ihnen reden, aber wie unbestimmt und nebelhaft sind ihre Gestalten geworden: kaum erkennt man noch, ob es Menschen sind oder Götter. Das ist die Natur der mündlichen Ueberlieferung, in der es nichts festes und stätiges giebt, und schlimm würde es um unsere Kenntniß der Geschichte stehen, wenn wir auf jene allein angewiesen wären.
Kaiser Ludwig hatte keine Freude an den Liedern der Heimath, welche er in seiner Kindheit erlernt hatte[3]; mit heidnischen Vorstellungen und Anschauungen durchwebt, widerstrebten sie seinem kirchlichen Sinne, und wie dieser Kaiser, so verhielt sich auch die [37] ganze Kirche feindlich gegen diese Sagendichtung, so große Freude auch einzelne ihrer Diener daran haben mochten. Die Kirche aber führte damals, und bald für lange Zeit ausschließlich und allein, den Griffel und die Feder, welche sie nicht entweihen wollte durch die Aufzeichnungen halb heidnischer Gesänge; sie strebte vielmehr dahin, auch auf dem Felde der Dichtkunst das Christenthum zum Siege zu führen. Wir gedenken jetzt mit vergeblicher Sehnsucht der verlorenen Sammlung Karls des Großen; allein die Kirche, in welcher sich Jahrhunderte lang fast das ganze geistige Leben des Volkes uns darstellt, hat für diesen Verlust auch reichen Ersatz geboten, indem sie die wirkliche Geschichte der Zeit in fester, zuverlässiger Aufzeichnung überlieferte, freilich oft in dürrer und reizloser Form, aber um so treuer und wahrhaftiger.
Vor der Bekehrung zum Christenthum kann daher von einheimischen Geschichtsquellen nicht die Rede sein; von dem Deutschland, welches Arminius' Heldenkampf dem römischen Einflüsse entzogen hat, bringen uns nur die Werke der Römer und Griechen spärliche Kunde, und diese zu berühren, liegt außerhalb der Grenzen der vorliegenden Aufgabe. Aber auch westlich vom Rheine, südlich von der Donau und der Teufelsmauer liegt gegenwärtig viel deutsches Land, wohnte auch unter der Römerherrschaft manch deutscher Stamm, und nicht ganz ist der Faden zerrissen, welcher in diese Zeiten hinüberführt. Der Boden selber redet zu uns in vernehmlicher Weise. Noch stehen in Trier die gewaltigen Bauten der Römer; ihre Thürme und Wälle, ihre Landstraßen und Gräber, die zahlreichen Inschriften, welche die verschiedensten Verhältnisse des Lebens berühren, entrollen vor unsern Augen ein Bild jener Zeit, da das weltbeherrschende Volk sich auch hier häuslich niedergelassen hatte und manche blühende Stadt ein kleines Abbild der ewigen Roma darbot. Wir erkennen noch ihre Capitole, ihre Tempel, Theater und Gerichtshallen, ihre Bäder und Villen, ihre Fabriken, deren Stempel auf den Trümmern der Geräthe deutlich zu lesen sind. Allein das alles liegt wie eine fremde Welt hinter uns, eine gewaltige Kluft trennt uns von jener Zeit, erfüllt von allem Greuel der Verwüstung und vernichtenden Kriegszügen. Der bebaute Acker birgt Reste von Gebäuden, die mit der sinnvollsten Technik dem Klima gemäß zu behaglicher Bewohnung eingerichtet und mit reichem Schmuck der Kunst ausgestattet waren; aber was blieb außer diesen schwachen Spuren übrig von dem einst so volkreichen und betriebsamen Virunum? In Salzburg fand Sanct Rupert nur waldbewachsene Ruinen des alten Juvavum, wilde Thiere hausten in den [38] Räumen der Prachtgebäude. Andere Städte, wie Regensburg und Augsburg, wie Trier, Cöln und Mainz, sind bewohnt geblieben, ja man hat geglaubt, daß ganze römische Stadtgemeinden mit ihrer Verfassung und ihren Obrigkeiten sich hier erhalten hätten. Eitler Traum! Zu gründlich haben unsere Vorfahren hier aufgeräumt; wer durch Reichthum und ansehnliche Stellung hervorragte, fiel als Opfer oder entwich bei Zeiten der Gefahr: einzelne fanden bei den germanischen Fürsten als Tischgenossen des Königs Aufnahme, aber nur indem sie den alten Verhältnissen gänzlich entsagten und sich dem Gefolge des neuen Herrschers anschlossen. Und so wurden auch die übrigen Romanen, so viele ihrer am Leben und im Lande blieben, als Hörige, einzelne hin und wieder auch als Volksgenossen, in die Gemeinschaft der Einwanderer aufgenommen.
In den Grenzlanden, welche schon durch den langen Kampf verödet waren, welche dann die ganze Wucht der hereinbrechenden beutelustigen Heerschaaren traf, mag kaum ein römisch redender Bauer übrig geblieben sein; die Eroberer stürmten mit ihren Gefangenen weiter und ließen das Land verödet hinter sich. Auch war hier schon lange die Bevölkerung großentheils germanisch. Aber in den Gebirgen des Südrandes[4] finden wir noch nach Jahrhunderten wälsche Bauern erwähnt; wo der überfluthende Strom seine Dämme fand, blieb unter der Herrschaft des deutschen Kriegers auch die gewonnene Beute der unterworfenen Bevölkerung. Sie mußte dem neuen Herrn das Feld bauen und ihm dienen mit der sehr willkommenen und geschätzten Arbeit ihrer kunstfertigen Hände[5].
Aber wo der Knecht den Herrn an geistiger Bildung übertrifft, da bleibt auch die Rückwirkung nicht aus, daß dieser von seinem Diener lernt und manches von ihm annimmt. In Hauswirthschaft und Ackerbau wie im Handwerk haben sicher die Deutschen viel von den Wälschen gelernt; vorzüglich aber zeigt sich die Einwirkung der besiegten Bevölkerung in der raschen Annahme des Christenthums durch die Eroberer. In den Städten des Niederrheins und Lothringens scheint die Reihe der Bischöfe kaum unterbrochen zu sein, obgleich sich von der Fortdauer römischer Bevölkerung, so weit noch jetzt die Sprachgrenze reicht, keine Spur nachweisen läßt. In Noricum und Pannonien sind die alten Bischofsitze fast [39] gänzlich von der Erde verschwunden; dagegen hat sich aber die Verehrung eines Märtyrers, des heiligen Florian, wie es scheint durch bloße Tradition, unmittelbar an der alten Grenze erhalten.
Denn mit den römischen Legionen und Handelsleuten war auch in diese Gegenden schon frühzeitig das Christenthum eingedrungen, und als das alte Reich endlich den stets wiederholten Angriffen erlag, hatte die christliche Kirche bereits in allen Provinzen die unbestrittene Herrschaft errungen. Ueber diese frühesten Zeiten der Kirche in Deutschland, über ihre Glaubensboten und Blutzeugen, wußte das Mittelalter gar vieles zu erzählen; unmittelbar von den Aposteln und ihren ersten Schülern sollte die Predigt und die Stiftung der Bisthümer ausgegangen sein[6]. Es ist darüber eine so reiche Litteratur vorhanden, und diese Erzählungen nehmen in den Chroniken des Mittelalters eine so bedeutende Stelle ein, daß wir sie hier nicht ganz übergehen dürfen, wenngleich diese kirchliche Sage in noch weit höherem Grade als die weltliche, jedes festen Bodens entbehrt. Die Phantasie der Geistlichkeit, der Heldensage abgewandt, ergriff mit um so größerem Eifer die kirchliche, und aus den unscheinbarsten Anfängen erwuchsen da die wunderbarsten Gebilde: weit verzweigte, mit allen Einzelheiten ausgeführte Geschichten, welche sich immer üppiger entwickelten und auf die ganze Denkweise der Menschen den größten Einfluß gewannen. Den reichsten Baum der Dichtung trieb die Legende von der thebäischen Legion, von deren Führern Gereon in Cöln mit der heiligen Ursula und ihren 11,000 Jungfrauen zusammentrifft. Cöln wird nun vorzugsweise die heilige Stadt durch die Menge der Heiligenleiber, welche sie bewahrt, aber fast jeder Ort im Rheinthale hat seinen Antheil an dieser Geschichte und erhält dadurch eine geheimnißvolle Weihe. In anderen Gegenden sind mehr vereinzelte Legenden dieser Art, doch fehlen sie auf dem einst römischen Boden nirgends.
Der leider zu früh verstorbene F. W. Rettberg hat das große Verdienst, zum ersten Male alle diese Erzählungen einer zusammenhängenden, systematischen, strengen Kritik unterzogen zu haben[7]. [40] Den einzig richtigen Weg einschlagend, hat er das ganze ungeheuere Material kritisch untersucht, der Herkunft und Entstehung jeder einzelnen Nachricht nachgeforscht. Wohl hatte man schon früher einzelnes als unhaltbar aufgegeben, aber immer suchte man doch wieder historisches Material aus dem Wuste der Fabeln zu gewinnen; man konnte sich nicht entschließen auf dasjenige, dessen späte betrügliche Entstehung einmal nachgewiesen war, nun auch gänzlich zu verzichten, und auch jetzt noch ist für viele dieser Entschluß zu schwer: man will doch nicht alle scheinbare Ausbeute aufgeben für Zeiten und Gegenstände, von denen man sonst gar nichts weiß. So ist es nur zu gewöhnlich, daß man das gänzlich unhaltbare fortwirft, aber dasjenige, was nicht in sich unmöglich ist, behält — ein durchaus unhistorisches Verfahren[8].
Wenn es z. B. feststeht, daß man von S. Dysibod im zwölften Jahrhundert noch nichts als den Namen wußte, daß dann die Nonne Hildegard nach angeblichen Visionen seine Geschichte schrieb, die von chronologischen Widersprüchen strotzt, so sollte man doch denken, daß niemand dieses Märchen ferner als Geschichtsquelle benutzen werde. Und dennoch machte Remling in seiner Geschichte der Bischöfe von Speier davon Gebrauch, obgleich ihm Rettbergs Werk nicht unbekannt war. Jedem besonnenen und gewissenhaften Forscher aber gewährt die „Kirchengeschichte Deutschlands“ eine feste Grundlage für die Beurtheilung dieser Zeiten. Das Verfahren Rettbergs besteht darin, daß er die Entstehung der Legenden genau untersucht und nachweist, wie sie allmählich gewachsen sind, wie anfangs nur die Namen der Heiligen vorkommen, von denen einige wenige auf wirklich alter localer Verehrung beruhen; wie dann zuerst einzelne Umstände, dann allmählich mehr hinzugesetzt wird, bis die ganze Geschichte fertig ist. Die Legenden selbst sind großentheils ohne Zeitangaben über ihre Abfassung; einen ganz bestimmten Anhalt aber gewähren die Martyrologien[9], deren Verfasser bekannt sind, und die uns daher das allmähliche Anwachsen der Legenden auf das deutlichste und bestimmteste erkennen lassen. Daß aber solche [41] spätere Zusätze nicht etwa auf wirklicher, durch mündliche Ueberlieferung bewahrter Kenntniß beruhen, das zeigt uns, außer den inneren Widersprüchen, besonders die Vergleichung mit den späteren echten Legenden, mit den Lebensbeschreibungen der Heiligen aus geschichtlich bekannter Zeit, welche in den Legendarien ebenfalls fortwährend sich verändern und mit allerlei fabelhaften Zuthaten vermehrt werden.
Man hat freilich Rettbergs Verfahren als zu negativ angegriffen und es wird zuzugeben sein, daß er in einzelnen Fällen zu weit gegangen ist. Auch ist hin und wieder etwas aufgefunden, wodurch auf einzelne Fragen neues Licht fällt. Es war deshalb ganz gerechtfertigt und angemessen, daß Prof. J. Friedrich den Versuch machte, jenem Werke eine „Kirchengeschichte Deutschlands“ (I. Die Römerzeit 1867, II. Die Merovinger 1869) von mehr conservativer Richtung entgegen zu setzen. Allein es fehlt darin leider an jener strengen wissenschaftlichen Methode, durch welche Rettberg sich so sehr auszeichnet, und in Folge der übermäßigen Weitschweifigkeit ist von der Zeit der Merovinger nur der Anfang berührt. Eine weitere Fortsetzung ist nicht erschienen.
Das Ergebniß von Rettbergs Kritik aller jener Legenden über die Zeit der ersten Einführung des Christenthums in das römische Deutschland ist, daß sie alle späteren Ursprungs sind, daß für die wirkliche Geschichte jener Zeit nichts daraus zu lernen ist. Auch was Friedrich nachträglich zu retten versucht, ist nur sehr wenig, und es trägt für diesen Gegenstand wenig aus, ob in der Geschichte von dem Märtyrertode der Thebäer in Agaunum ein historischer Kern sich nachweisen läßt[10], ob das Martyrium einiger christlicher Jungfrauen zu Cöln glaubhaft bezeugt ist[11]. Etwas erheblicher ist [42] die wohl nicht unbegründete Vertheidigung der Legende von dem Martyrium der h. Afra zu Augsburg[12]. Rettberg fällt ein günstigeres Urtheil nur über die Leidensgeschichte des heiligen Florian[13]. Dieser, ein entlassener Veteran, soll in Folge der Verfolgungsedicte von Diocletian und Maximian (304) auf Befehl des Aquilinus, Präses von Ufernoricum, zu Lorch in die Ens gestürzt sein. Ungeachtet eines schweren Steins, der an seinen Hals gebunden ist, trägt ihn der Fluß auf einen hervorragenden Fels, von wo eine fromme christliche Frau ihn in Folge einer Vision zur Bestattung abholt. Diese Erzählung aber ist eine so deutliche Nachahmung dessen, was Hieronymus in seiner Chronik vom Bischof Quirin von Sissek erzählt, daß sich die absichtliche Erdichtung darin kaum verkennen läßt. Denn es ist eben eine Eigenthümlichkeit dieser späteren Legendenfabrikation, daß sich in benachbarten Gegenden immer dieselben Todesarten und Wunder wiederholen; die Phantasie des Mittelalters erscheint darin arm und dürftig. Auch finden sich diese Angaben über Sanct Florians Ende erst in Martyrologien des neunten Jahrhunderts, die Handschriften der Legende reichen nicht höher hinauf[14], und nichts weist darauf hin, daß sie etwa, wie das Leben Severins, in Italien aufbewahrt, und von dort zurückgebracht wäre.
Um so wahrscheinlicher ist es, daß wirklich eine ununterbrochene örtliche Ueberlieferung das Andenken dieses Märtyrers bewahrt habe. Denn wo sich jetzt mächtig und gebietend das schöne Chorherrnstift St. Florian erhebt, da galt schon vor mehr als tausend Jahren der [43] Boden für heilig, weil hier „der kostbare Märtyrer Sanct Florianus“ ruhe, lange bevor die Verfasser der Martyrologien den Ort seines Leidens kannten. Also selbst im Flachlande, vielleicht in den Resten der einst bischöflichen Stadt Lorch, haben Christen durch alle Stürme der Völkerwanderung das Andenken Sanct Florians bewahrt, und vielleicht die Kunde von seinem Stande und der Zeit seines Todes, während weiter oben im Gebirge von Maximilian nur der Name und der Ort seines Begräbnisses im Gedächtniß blieb, Severin aber gänzlich vergessen zu sein scheint, bis aus Italien Handschriften seiner Lebensbeschreibung nach Deutschland kamen und sein Andenken erneuten. Denn am festesten haftete immer die Erinnerung am Grabe der Heiligen.
Diesem Umstande verdanken wir auch die Erhaltung einer anderen Legende, der Leidensgeschichte der heiligen Vier Gekrönten, welche Rettberg unbekannt geblieben ist[15]. Sie berichtet uns von vier christlichen Arbeitern in den Steinbrüchen Pannoniens, welche noch einen ihrer Genossen bekehren; ihn tauft der in Ketten dorthin verbannte Bischof Cyrill von Antiochien. Das ist ein merkwürdiger Fingerzeig für die Ausbreitung des Christenthums. Rettberg, der nicht nur das spätere Fabelwerk mit schonungsloser Kritik zerstört, sondern auch den wirklichen Verlauf der Bekehrung dieser Lande mit größter Sorgfalt aus den einzelnen Anhaltpunkten nachgewiesen hat, ist zu dem Resultat gekommen, daß für dieselbe nicht sowohl eigentliche Missionare thätig waren, als vielmehr die christlichen Soldaten[16], Handelsleute und Arbeiter, welche hierher [44] kamen, während die späteren Legenden durchgehends die Gründung der Kirchen durch die Apostel und ihre ersten Schüler behaupten. Die Verbannung gefangener Christen in die Steinbrüche Pannoniens, und wohl auch anderer Lande, wird das ihrige dazu beigetragen haben. Es erklärt sich aber aus dieser unmerklichen und unscheinbaren Verbreitung auch zur Genüge, warum keine Schriftsteller das Andenken derselben aufbewahrt haben. Jene Arbeiter nun fielen dem Neide ihrer Gesellen durch Diocletians Spruch zum Opfer, so gerne dieser auch anfangs seine geschicktesten Arbeiter sich erhalten wollte (307?). Die Reliquien der fünf Arbeiter finden sich später zu Rom in der Kirche der heiligen Vier Gekrönten[17], mit denen sie nur hierdurch in zufällige Verbindung gebracht sind, und dies hat auch eine Verschmelzung ihrer Legenden zur Folge gehabt. Vielleicht erst hierdurch sind auch chronologische Widersprüche hineingekommen, aber alt ist die Legende sicher; sie muß geschrieben sein, bevor Pannonien von den Barbaren überschwemmt war, und das Treiben in den Steinbrüchen ist mit solcher Anschaulichkeit und auch mit so durchgängiger Beibehaltung der technischen Ausdrücke geschildert, daß der Verfasser selbst noch persönliche Kunde davon gehabt zu haben scheint. Als solchen nennt die alte Pariser Handschrift den Schatzungsbeamten Porphyrius, welchen De Rossi auch aus anderen Erwähnungen nachgewiesen hat[18]. Aber nur die ursprüngliche pannonische Legende können wir ihm zuschreiben.
Während nun also diese Legende noch die ungestörte Römerherrschaft in diesen Gegenden voraussetzt, führt uns eine andere so recht mitten hinein in die Stürme der Völkerwanderung, und wir können es uns daher nicht versagen, bei dieser etwas länger zu verweilen.
Ausgabe von Welser in Augsburg 1595, 4. (Opera p. 635) aus einer HS. des zehnten Jahrh. in St. Emmeram, der ältesten in Deutschland. Den hier fehlenden Brief Eugipps an Paschasius gab Canisius, Antiquae Lect. VI, 53, I, 411. Danach vollständig in der zweiten Ausgabe des Surius und Acta SS. Jan. I, 484 mit Commentar von Bolland. Nach den minder guten, wie es scheint überarbeiteten, östr. Handschriften in H. Pez SS. I, 64, und daraus bei Muchar, Das römische Noricum, II, 152-239, mit Commentar. Ausgabe von Ant. Kerschbaumer, Scaphus. 1862 nach dem angeblich ältesten und besten Lateran. Codex, unkritisch und wegen vieler Druckfehler unzuverlässig; [45] Rec. von Sauppe, Gött. Gel. Anz. 1862 S. 1544-1552. Nach Münchener Handschriften bei Friedrich, I, 431-489. Ausg. von Sauppe, MG. Auctt. antt. I, 2. 1877; vgl. NA. IV, 407, Waitz, GGA. 1879, S. 581. Gegen Sauppe's krit. Grundlage u. für d. Cod. Taurin. P. Knöll, Wiener SB. XCV, 445-498. Ausg. von Knöll im Wiener Corpus SS. eccl. VIII, 2. Uebers. v. C. Ritter, Linz 1853, v. K. Rodenberg, Berlin 1878 (Urzeit Bd. 4), v. S. Brunner, Wien 1879. — Eugippii opera, Migne 62. — Rinaudo p. 14-19. Vgl. Rettberg I, 226. Büdinger, Oesterr. Gesch. I, 47 ff. Pallmann II, 393-401. J. Jung, Römer und Romanen S. 132 und an vielen Orten. Hauck I, 328-332.
Die Lebensbeschreibung des heiligen Severin, von seinem Schüler Eugippius verfaßt, ist für uns von ganz unschätzbarem Werthe, indem sie einen hellen Lichtstrahl wirft in Zeiten und Zustände, von denen wir sonst gar nichts wissen würden, wie denn auch vorher und nachher tiefe Finsterniß diese Donauländer bedeckt. Keine andere Quelle giebt uns in so reichhaltiger Weise ein Bild des christlich gewordenen und bereits mit vollständiger kirchlicher Einrichtung versehenen Römerlandes im Süden der Donau; unmittelbar vor der Vernichtung zeigt ein günstiges Geschick uns das Bild dieser Gegenden und ihrer Bevölkerung in scharfen und lebensvollen Umrissen.
Attila war gestorben, und die frei gewordenen Völker wenden nun ihre Waffen gegen einander und gegen die kläglichen Ueberbleibsel des römischen Reiches. Alamannen und Thüringer hatten den Grenzwall durchbrochen und drangen in Rätien immer weiter gegen Süden und Osten vor. In Noricum hielt sich noch die römische Bevölkerung, aber in welchem Zustand! Von allen Seiten wurde sie schwer bedrängt durch die vorrückenden Barbaren — denn so nannten damals und noch lange nachher nicht nur die Römer, sondern auch die Deutschen selbst alle Nichtrömer. Jenseits der Donau schalteten die Rugier, durch häufige Streifzüge das Land bedrängend und bald auch diesseits festen Fuß fassend. Sie sowohl wie die Gothen in Pannonien waren Arianer, den katholischen Romanen fast noch verhaßter als die Heiden. In Commagena, einer bald darauf völlig verschwundenen Römerstadt unweit Tuln, hatten bereits Barbaren sich festgesetzt; unfähig sie zu vertreiben, schlossen die Römer ein Bündniß mit ihnen, und die Einwohner lebten nun wie Gefangene in ihrer eigenen Stadt. Da tritt plötzlich, ungehindert durch die Wachen, Severinus unter sie: eben war, wie er vorher verkündigt hatte, die benachbarte Stadt Astura gänzlich zerstört worden, und gläubig horchte man nun auf seine Worte, da er Rettung verhieß, fastete und betete, bis plötzlich in der Nacht ein Erdbeben die Barbaren in Schrecken setzt; voll Angst eilen sie aus den Thoren und morden sich gegenseitig in der Finsterniß und Verwirrung. So war die Stadt von ihren Drängern befreit, allein was war damit gewonnen!
[46] Nur von den Städten aus wurde noch das Feld gebaut, und nur zu häufig fielen Ernte und Schnitter in die Hände der Barbaren; Hunger verwüstete das reiche und fruchtbare Land, wenn die Zufuhr auf dem Inn ausblieb. Die Grenzsoldaten erhielten aus Italien keinen Sold mehr, und in Folge davon lösten ihre Schaaren sich auf; nur die batavische Cohorte in Passau hielt noch zusammen, und einige von ihnen machen sich auf, um den Sold über die Alpen zu holen, werden aber unterwegs erschlagen. Vor der Donaustadt Faviana, zwischen Passau und Wien, erscheinen plötzlich Räuber und führen alles hinweg, was sie außerhalb der Mauern finden, Menschen und Vieh. Der Tribun Mamertinus hat so wenig Mannschaft, daß er keinen Ausfall wagen will, bis Severin ihm den göttlichen Beistand verheißt; da zieht er muthig hinaus und gewinnt den Sieg.
Eine der wunderbarsten Erscheinungen ist dieser Severin. Nie hat er sagen wollen, wer er sei, woher er stamme; nur daß er aus dem fernen Osten komme, nahm man aus seinen Reden ab, doch erkannte man an der Sprache den geborenen Lateiner. Von vornehmer Abkunft, so schien es, hatte er sich in die Einsamkeit zu den heiligen Vätern, vermuthlich in die thebaische Wüste, zurückgezogen; dann aber trieb ihn, wie er selber andeutete, eine göttliche Stimme, den bedrängten Bewohnern des Ufernoricum Trost und Hülfe zu bringen. Seine Enthaltsamkeit erschien übermenschlich; bei der heftigsten Kälte ging er barfuß, und an die strengsten Fasten gewöhnt, schien er Hunger und Entbehrung nur in der Seele der Nothleidenden zu empfinden. So durchzog er das ganze Land, ermahnend, Buße predigend, tröstend, vor allem aber Hülfe bringend, so viel er vermochte. Förmliche Zehnten forderte er ein, um Gefangene loszukaufen, Arme zu unterstützen. Sein Ansehen war bald groß im Lande; unbedingte Herrschaft über die Natur maß man ihm bei, und Gottes Zorn traf jeden, der auf sein Wort nicht achtete.
Den merkwürdigsten Gegensatz bildet dieses Land, welches in seiner Bedrängniß sich willig der Leitung eines frommen gottbegeisterten Mönches hingiebt, zu den sittenlosen Grenzstädten Galliens, über deren Verderbtheit und Leichtsinn Salvian vergeblich eiferte, zu Trier, wo „selbst noch bei dem Sturme der fränkischen Sieger auf die Stadt Jung und Alt der zügellosesten Schlemmerei und Ausschweifung sich ergiebt, mit wahrer Raserei alles dem unausweichbaren Untergang trunken und prassend entgegenstürzt“[2].
[47] Severins Ansehen beugten sich auch die Fürsten der Barbaren, selbst jene böse Königin Giso, welche rechtgläubige Katholiken umtaufen wollte; halb aus Wohlwollen, halb aus Furcht erfüllten sie seine Bitten, achteten sie auf seine Ermahnungen; seinen Rathschlägen dankte der Rugierkönig Flaccitheus seine friedliche Regierung. Schützte Severin die Römer manchmal durch Ermuthigung zu kräftigem Widerstand und durch Vorhersagen feindlicher Angriffe, so wandte er doch häufiger durch seine Fürbitten Gefahren ab und erlangte die Freigebung der Gefangenen. An vielen Orten hatte er Klöster errichtet, die nach der Weise des Morgenlandes aus einer Vereinigung einzelner Hütten bestanden, das größte, in welchem er sich am häufigsten aufhielt, bei Faviana, einem jetzt spurlos verschwundenen Orte. Hier traten einst einige Barbaren zu ihm, die nach Italien zogen und ihn um seinen Segen baten; unter ihnen Odovacar, damals noch ein gemeiner Krieger und mit schlechten Thierfellen nothdürftig bekleidet, aber so hoch gewachsen, daß er sich bücken mußte, um nicht die Decke der Zelle zu berühren. Geh, sagte Severin zu ihm, geh nach Italien; jetzt deckt dich noch ein geringes Gewand, aber bald wirst du vielem Volke große Gaben auszutheilen haben. Als König gedachte Odovacar dieser Weissagung, und forderte Severin auf, sich eine Gnade auszubitten, worauf dieser für einen Verbannten Verzeihung erlangte.
Severin konnte es doch nicht hindern, daß Stadt auf Stadt in die Hände der Feinde fiel. Die Rugier bemächtigten sich der Stadt Faviana und der benachbarten Orte; ihre Herrschaft gewährte wenigstens Schutz gegen die wilderen Feinde, welche alle weiter aufwärts gelegenen Burgen und Städte zerstörten. Die geflüchteten Einwohner führte König Feva aus Lorch, wo sie sich gesammelt hatten, in die ihm unterthänigen Städte. Joviacum dagegen wurde von den Herulern gänzlich verheert, während Tiburnia in Oberkärnten, an dessen Namen noch Debern im Lurnfeld erinnert, eine Belagerung der Gothen glücklich überstand. Noch im sechsten Jahrhundert waren hier christliche Bischöfe; dann aber unterlag auch diese uralte Stiftung, sowie die alte Bischofstadt Pettau, den Slaven und Avaren.
Am 8. Januar 482 starb Severin. Feva's Bruder Friedrich plünderte gleich darauf sein Kloster; innere Kriege unter den Rugiern [48] und Odovacars Feldzug gegen sie mehrten die Bedrängniß der Römer, bis endlich sechs Jahre nach Severins Tod Odovacar die ganze römische Bevölkerung aus Noricum abrief und ihr in Italien Land anwies. Dadurch erklärt es sich, daß gerade hier von den alten und einst so bedeutenden Römerstädten fast jede Spur verschwand, und nur schwache Reste einer unterwürfigen romanischen Bevölkerung in den Gebirgen zurückblieben. Damals scheint auch der heilige Antonius Noricum verlassen zu haben; er war aus Pannonien zu Severin noch kurz vor dessen Tode gekommen, wie Ennodius in der Lebensbeschreibung des Antonius berichtet[1].
Severins Mönche folgten mit Freuden dem Rufe, welcher sie aus der Knechtschaft erlöste; der Anordnung ihres Meisters gemäß führten sie dessen Leiche mit sich bis nach Neapel, wo sie endlich Ruhe fanden. Hier richtete ihnen eine vornehme Frau, Namens Barbaria, ein Kloster ein im Castellum Lucullanum, dessen Name noch das Andenken der üppigen Gärten Luculls bewahrte; ebenda war kurz zuvor auch dem letzten römischen Kaiser sein Aufenthalt angewiesen worden[3].
In diesem Kloster nun war Eugippius[4] Abt, ein Schüler Severins, der nach Cassiodors Zeugniß von weltlicher Gelehrsamkeit nicht gar viel wußte, aber in den heiligen Schriften wohl belesen war[5], der Verfasser eines Auszuges aus den Schriften des heiligen Augustin[6]. Mit bedeutenden Kirchenschriftstellern der Zeit stand er im Briefwechsel. Diesen Eugippius nun forderte ein ungenannter Laie auf, ihm Materialien zu einer Lebensbeschreibung Severins zu geben; er zeichnete darauf auch wirklich seine Erinnerungen auf, sandte dieselben aber (511) nicht an jenen Laien, denn das erschien ihm unpassend, sondern an den gelehrten Diaconus Paschasius, mit der Bitte, sie zu einer förmlichen Lebensbeschreibung zu verarbeiten. Zugleich sandte er ihm in dem Boten einen Mann, der als [49] Augenzeuge über die Wunder berichten sollte, welche auf dem Zuge durch Italien an Severins Sarg geschehen waren. Paschasius aber lehnte jede Aenderung an Eugipps Aufzeichnungen ab, und in der That ist es auch sehr zweifelhaft, ob jene Bitte ernsthaft gemeint war, da uns ähnliche Aufforderungen, die nichts als Phrase sind, so häufig begegnen. Eugipps Aufzeichnungen sind durchaus nicht unfertig, nicht nachlässig und formlos, und gerade aus jenen italischen Wundern hebt er einige als die wichtigsten und statt aller genügend, sorgsam hervor. Auch giebt er als den wesentlichsten Grund, weshalb er den Wunsch jenes Laien, von dem eine andere Biographie ihm bekannt war, nicht erfüllt, die Besorgniß an, er möchte durch die Anwendung der rhetorischen Kunst den Gegenstand verhüllen und für den einfachen und ungebildeten Gläubigen geradezu unverständlich machen. Er war also kein Freund von den kunstgerechten Büchern jener Zeit, welche wie z. B. die Schriften des Ennodius und manche von Cassiodor, durch eine Ueberfülle gesuchter Antithesen und wortreichen Phrasenschwall so unerträglich schwülstig und geziert sind, daß man oft nur mit Mühe den Sinn der Worte enträthselt. Das galt in den Rhetorenschulen als schöner Stil.
Eugipps Aufzeichnungen dagegen sind ganz einfach und schmucklos, ohne strenge Reihenfolge und Ordnung, aber um so mehr der treue Ausdruck dessen, was ihm in seiner Erinnerung als das bemerkenswertheste erschienen war. Gerade darin liegt der Hauptvorzug dieser Lebensbeschreibung vor den zahlreichen Legenden, aus deren salbungsvollem Wortreichthum die wenigen geschichtlichen Nachrichten mühsam hervorgesucht werden müssen. Er selbst hatte Severin und den Schauplatz seiner Wirksamkeit gekannt; in den letzten Abschnitten bezeichnet er sich ausdrücklich als Augenzeugen, aber auch nur in diesen, während er sich übrigens auf die häufig gehörten Erzählungen, zuweilen auf bestimmte Gewährsmänner beruft.
Das Leben Severins finden wir schon bald nach seiner Entstehung bei dem sogenannten Anonymus Valesianus[7], im Anfange des siebenten Jahrhunderts von Isidor erwähnt, im achten von Paulus Diaconus benutzt; um dieselbe Zeit verfaßte man zu Neapel einen Hymnus, dem dasselbe zu Grunde liegt[8]. Bald wurde es [50] dann auch an dem Schauplatz seiner Wirksamkeit bekannt, denn schon im Jahre 903 erwarb die Passauer Kirche eine Handschrift desselben von dem Landbischof Madalwin[9]. Eigenthümlich sind die Wirkungen, welche hier von diesem Werk ausgingen. Man las darin von der großen alten Stadt Faviana, die man nirgends fand, und da man nun bei Wien alte Römersteine aufgrub, so zweifelte man nicht daran, daß hier einst Faviana gelegen habe; Otto von Freising und Herzog Heinrich von Oesterreich nahmen diese Meinung an, und sie hat sich bis auf die neusten Zeiten behauptet, bis endlich Blumberger sie siegreich widerlegte[10].
Viel schlimmere Folgen hatte es, daß man in Passau nun erfuhr, Lorch habe einst Bischöfe gehabt, lange bevor Salzburg den Krummstab führte. Es lag nahe, sich als Erben der benachbarten Stadt zu betrachten, welche jetzt zum Passauer Sprengel gehörte; aber der einmal angefachte Ehrgeiz strebte immer weiter; um dem Vorrang des jüngeren Salzburg nachdrücklicher entgegentreten zu können, wurde ein Erzbisthum Lorch erdacht und bald zu fabelhafter Größe ausgedehnt; neu angefertigte Legenden von St. Quirin und Maximilian mußten die Beweise dazu hergeben, untergeschobene Urkunden das Vorgeben unterstützen, und mit Hülfe dieser Waffen setzte Passau wirklich bei dem in geschichtlicher Kritik wenig erfahrenen Stuhle Petri seine Ansprüche durch, und wußte sich seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts der rechtmäßigen Salzburger Metropolitangewalt zu entziehen. Viel größer aber, oder doch für uns bedeutender, ist das Unheil, welches diese Fälschungen in der Geschichtsforschung angerichtet haben; noch Rettbergs Werk trägt bedeutende Spuren davon, und es wird noch eine gute Weile dauern, bis es gelingt, diesen häßlichen Spuk gänzlich aus der Geschichte zu verbannen. Aufgedeckt aber ist die ganze Sache jetzt, und mit ebenso unermüdlichem Fleiße wie besonnenem Scharfsinn nachgewiesen in E. Dümmlers Werk über Piligrim von Passau und das [51] Erzbisthum Lorch[11]. Nachdem dann die Fälschung wohl zugegeben, aber verschiedene Versuche gemacht waren, Piligrim von dem auf ihm lastenden Verdachte zu befreien, hat neuerdings Karl Uhlirz alle betreffenden Urkunden einer genauen Kritik unterzogen und ist zu dem Ergebniß gelangt, daß als Fälscher sich ein Beamter aus der Kanzlei Ottos II nachweisen läßt, welcher von Piligrim gewonnen sein muß.
Severins Leben ist der letzte Sonnenblick vor einer Zeit der äußersten Finsterniß, wie der Abendstrahl durch die Grotte des Posilipp. Erst viel später, und von der andern Seite, von Gallien aus werden wir Deutschland wieder erreichen können. Von dort wurde ihm aufs neue die litterarische Cultur gebracht, vermittelt durch diejenigen Stämme des deutschen Volkes, welche auf römischem Boden sich niedergelassen hatten, und hier die Schüler ihrer Feinde geworden waren. Die Geschichtschreibung, welche sich im römischen Reiche während der letzten Jahrhunderte entwickelte, bildet die Grundlage der mittelalterlichen, welche mit ihr im unmittelbaren Zusammenhange steht, und es ist deshalb nothwendig, daß wir sie auch hier etwas ausführlicher ins Auge fassen, da sonst die Entwickelung der deutschen Historiographie nicht verständlich sein würde.
Baehr, Geschichte der römischen Litteratur. Supplementband. Die christlich-römische Litteratur. I. Abtheilung. Die christlichen Dichter und Geschichtschreiber. 1836. In der zweiten Ausgabe 1872 als vierter Band bezeichnet. Teuffel, Gesch. d. röm Litt. 5. Aufl. 1890. Adolf Ebert, Allg. Gesch. d. Litt. des M. A. im Abendlande. I. Gesch. d. christl. lat. Litt. von ihren Anfängen bis zum Zeitalter Karls d. Großen. 2. A. 1890.
Das Mittelalter ist durch keine bestimmte Grenzlinie vom Alterthum geschieden; lange Zeit laufen beide gewissermaßen parallel nebeneinander her. Das unterscheidende Element ist das Christenthum, welches das antike Wesen zersetzt, und theils vernichtet, theils umformt; dann das Eintreten ganz neuer Völker in die Geschichte, welche nach und nach den Schwerpunkt ihrer Entwickelung zu sich hinüberziehen. Die classisch-heidnische Litteratur gehört einem anderen Gebiete an, und liegt unserer Aufgabe fern; allmählich erstarb in ihr das Leben, und auch die Geschichtschreibung [52] beschränkte sich immer mehr auf Auszüge aus den älteren Werken. Hieran konnte sich natürlich keine weitere Entwickelung anknüpfen. Den vorhandenen Stoff, wie ihn besonders Eutropius zubereitet hatte, faßte zuletzt noch einmal Paulus Diaconus in seiner römischen Geschichte zusammen, und machte ihn durch Verschmelzung mit der Kirchengeschichte für seine Zeit brauchbarer. So ging er in das Mittelalter hinüber, und bildete hier die Grundlage aller Kenntniß der römischen Welt. Aber ungeachtet der christlichen Zusätze und Fortsetzungen blieb doch dieses Werk nur eine todte Masse; die lebendige neue Entwickelung schloß sich an die christliche Geschichtschreibung, welche sich für die veränderte Auffassung und andere Bedürfnisse auch neue Formen erschuf.
Die römische Weltgeschichte konnte den Christen unmöglich genügen, die eigene Geschichte der römischen Republik sie nur wenig anziehen. Ihnen war das Wesentliche in der Weltgeschichte die Geschichte des Reiches Gottes, der Mittelpunkt lag ihnen in der jüdischen Geschichte, und davon meldeten die Werke der Römer nichts. Daher fand auch des Königs Desiderius Tochter Adelperga den Eutrop, welchen Paulus Diaconus ihr zu lesen gegeben, so ungenügend, und einige Zusätze konnten hier nichts helfen; es mußte eine ganz neue Weltgeschichte aufgestellt werden, die mit dem veränderten Standpunkte im Einklang war, die namentlich auch das hohe Alter der jüdischen Cultur, die spätere Entstehung der heidnischen Staaten nachwies. Um dieses möglich zu machen, kam es vor allem darauf an, das chronologische Verhältniß der heiligen und profanen Geschichte zu bestimmen, um dann eine Verschmelzung der beiderseitigen Nachrichten vornehmen zu können. Diese Aufgabe löste, nach dem Vorgange des Sextus Julius Africanus, welcher zuerst den Versuch machte, chronologisch das gesammte Alterthum mit der Bibel zu vereinigen[1], Eusebius (264-340); seine zwei Bücher Allgemeiner Geschichte enthielten zuerst in darstellender Form die Chronographie, dann tabellarisch den synchronistischen Kanon bis 325. Auf diesem großen Werke beruhen alle späteren Weltchroniken, der Byzantiner sowohl wie des Abendlandes, während zugleich aus seiner Kirchengeschichte das Mittelalter alle seine Kenntniß von den Anfängen der christlichen Kirche schöpfte. Dieses letztere Werk hatte für die Lateiner Rufinus bearbeitet und [53] fortgesetzt, die Chronik aber Hieronymus, welcher sie zugleich bis 378 fortsetzte[2].
Diese Chronik des Hieronymus finden wir vollständig oder im Auszug an der Spitze aller umfassenden Chroniken des Mittelalters; sie war ihre Grundlage und ihr Vorbild, und dadurch war die knappe Form der annalistischen Aufzeichnung gegeben. Darstellende Werke aller Art hatten daneben freien Raum, aber um eine übersichtliche Anschauung von dem chronologischen Zusammenhange der Weltbegebenheiten zu erhalten, war diese Form unstreitig die angemessenste, wie man ja auch heut zu Tage der Tabellen zu diesem Zwecke nicht entbehren kann. Sehr dürftig und ungenügend freilich erscheint uns diese Form, wo sie fast allein und ausschließlich zur Ueberlieferung der geschichtlichen Ereignisse verwandt wird, oder doch anderes uns nicht erhalten ist, wie dies in den nächsten Jahrhunderten nach Hieronymus der Fall war. Diese ersten mageren Fortsetzungen seiner Chronik sind für uns ihres Inhalts wegen wichtig; der Geschichtschreiber der auf römischem Boden angesiedelten deutschen Stämme ist großentheils auf diese dürftigen Quellen angewiesen, für die Entwickelung der Historiographie in Deutschland aber haben sie nur insofern Bedeutung, als durch ihre Vermittelung die unmittelbare Anknüpfung der späteren Chronisten an den Hieronymus möglich wurde[3].
Bemerkenswerth ist aber bei diesen Chronisten der allen gemeinsame römische Standpunkt, das ängstliche Festhalten am römischen Reich. Uns erscheint gegenwärtig der Gedanke, daß in den neuen Bildungen, den romanischen Staaten, der fruchtbare Keim einer neuen Zukunft enthalten war, als natürlich und naheliegend; damals aber fiel weit mehr die Zerstörung des alten Reiches ins Auge; man sah und beklagte überall nur den Verfall, und wer die Weltgeschichte zu betrachten versuchte, sah fortwährend nur in dem römischen Weltreich den Träger derselben. Boten doch die Jahre seiner Kaiser und seine Consulate die einzige vorhandene Zeitrechnung, denn weder die von Eusebius eingeführte Rechnung nach Jahren Abrahams noch auch die Jahre von Erbauung der Stadt Rom [54] erscheinen im Westreich je im praktischen Gebrauch, und Justinians Siege stellten noch einmal die Fortdauer aller der neu entstandenen Reiche in Frage. Mochte aber auch das abendländische Römerreich in Trümmer fallen, das morgenländische keinen Schatten von Macht über den Westen besitzen, für die Chronisten ist und bleibt es das Weltreich, der Faden, der sie leitet. Die in das Reich eindringenden deutschen Stämme sind und bleiben Barbaren, wenn auch der Schreibende, welcher jedoch immer der Kirche angehört, selber ihr Landsmann ist. Diese Auffassung beschränkt sich nicht auf diese Zeit, sie bleibt herrschend durch das ganze Mittelalter, denn sie war bedingt durch die seit Hieronymus allgemein angenommene Erklärung von dem Traume des Nebukadnezar, bei dem Propheten Daniel, nach welchem das römische Reich, das eiserne, welches die früheren zermalmt, bleiben soll bis zum Eintritt des himmlischen Reiches[4]. Die Fortdauer desselben war daher außer aller Frage. Demgemäß behandeln auch die späteren Weltchroniken die deutsche Geschichte niemals als etwas neues, selbständiges, sondern nur als eine Fortführung des römischen Reiches: sie führen nach dem Untergange des westlichen Reiches die byzantinischen Kaiser fort bis auf Karl den Großen und bewahren so seine scheinbare Continuität, wenn sie auch dazwischen die Volksgeschichten episodisch in ihr großes Fachwerk einschalten, wie Ekkehard.
Neben der großen Chronik des Hieronymus gab es nun aber auch noch eine andere, sehr dürftige und compendiarische, welche nur einige Anhaltpunkte zur chronologischen Orientirung gewährte. Sie läßt sich zurückführen auf ein älteres griechisches Werk des Hippolyt von Porto, das bis 235 reichte, ein Werk, welches auch dem Liber Generationis des sogenannten Fredegar zu Grunde liegt. Ueberarbeitet und bis 334 fortgesetzt, bildet es einen Theil jenes merkwürdigen römischen Staatskalenders, den Th. Mommsen in seiner Abhandlung über den Chronographus von 354 ausführlich behandelt hat[5]. Er hat nachgewiesen, daß dieser Kalender mit den nöthigen Veränderungen von Zeit zu Zeit neu herausgegeben wurde; doch war er viel zu kostbar, als daß sich, wer ihn einmal besaß, immer ein neues Exemplar davon angeschafft hätte, und da [55] die ganze Einrichtung des Werkes zur Eintragung geschichtlicher Ereignisse eine sehr passende Gelegenheit darbot, so ist seine Form nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung der verschiedenen Gattungen geschichtlicher Aufzeichnungen geblieben. Sein Inhalt bestand nämlich aus folgenden Stücken, welche die noch erhaltene Abschrift eines Exemplars vom Jahre 354 uns kennen lehrt:
In diesen Stücken läßt sich mehr als ein Keim erkennen, der später zu weiterer Entwickelung gelangt ist. Während aus dem letzten Theile jene so zahlreichen, immer neu aufgelegten Beschreibungen von Rom entstanden, hauptsächlich zum Wegweiser für die Pilger bestimmt, forderten die Consularfasten, sowie die Ostertafeln von selbst dazu auf, bedeutende Begebenheiten bei den betreffenden Namen und Zahlen einzutragen, wie es z. B. Cassiodor gethan hat, und in vollständigerer Weise Prosper. Ein solches Werk ist auch den späteren Exemplaren jenes Kalenders eingefügt; Fasten, die anfangs nur sehr vereinzelte Bemerkungen enthalten, für das fünfte Jahrhundert aber reichhaltiger, und wegen der genauen chronologischen Bezeichnung wichtig werden, ohne Zweifel, abgesehen von dem früheren Theil, in Ravenna geschrieben[9]. Und [56] zwar haben sie einen durchaus officiellen Charakter; es sind bedeutende Vorfälle in Betreff der kaiserlichen Familie, mit denen sie sich beschäftigen, dazu wichtige staatliche Begebenheiten und Naturerscheinungen, mit ausschließlicher Beschränkung auf Italien. Mit den Consullisten wurden sie von Zeit zu Zeit neu ausgegeben. Durch sehr sorgfältige und eingehende Untersuchungen von Pallmann, Waitz, G. Kaufmann, Holder-Egger ist die Benutzung dieser Annalen bei immer zahlreicheren Schriftstellern nachgewiesen, so daß Holder-Egger sogar den Versuch machen konnte, dieselben von 379 bis 572 wieder herzustellen. Seine Untersuchung ist so erschöpfend, daß ich mich darauf beschränken kann, auf dieselbe zu verweisen[10]. Nach dem Ergebniß derselben (S. 344) sind diese Fasti consulares für uns für volle zwei Jahrhunderte in chronologischer Beziehung eine Quelle vom höchsten Werthe. „Sie haben ganz außerordentliche Verbreitung gefunden: fast alle weströmischen und ein oströmischer[11] Chronist des fünften und sechsten Jahrhunderts haben sie benutzt, sie theilweise zur chronologischen Grundlage ihrer Werke gemacht. Zuletzt sind sie noch im neunten Jahrhundert von Theophanes, Agnellus und einem Mönch von St. Gallen benutzt. Sie müssen mehrmals redigiert und jedes Mal mit neuer Fortsetzung herausgegeben sein. Die erste Redaction fällt vor das Jahr 445, in welchem Prosper sie bereits für die erste Ausgabe seiner Chronik benutzt hat; dieselbe Redaction wird auch dem Chronicon imperiale vorgelegen haben. Eine zweite schloß, wie wir mit ziemlicher Sicherheit sagen können, mit dem Jahre 493; sie ist von Cassiodor und Marcellin benutzt. Die meisten Chronisten schöpften aus einer Vorlage, welche über dieses Jahr noch hinausreichte, so der Anonymus Valesianus[12], Marius, der langobardische Chronist (Cont. Prosperi [57] Havniensis), wahrscheinlich auch der Verfasser der Continuatio und des Auctarium Prosperi[13] in der vaticanischen Handschrift ... Wie weit deren Exemplare reichten, läßt sich nicht bestimmen; doch ist einiger Grund zu der Annahme vorhanden, daß im Jahre 526 eine neue Redaction abgeschlossen ist. Wahrscheinlich ist dann noch eine neue Fortsetzung etwa bis zum Jahre 572 in Ravenna hinzugefügt; diese letztere hätte dann Agnellus, möglicher Weise auch der Mönch von St. Gallen[14] benutzt.“
Leicht möglich ist es, daß Holder-Egger in seinen Folgerungen zu weit gegangen ist. G. Kaufmann hat dieselben angegriffen[15]; er bestreitet die Ableitung mancher Nachrichten aus dieser Quelle, beschränkt die Ravennater Fasten auf die Zeit von 455 bis 493, und bestreitet ihren amtlichen Charakter. Das Gewicht seiner Gründe ist nicht zu verkennen; ohne Zweifel hat es damals noch vielerlei Aufzeichnungen gegeben, welche sich meistens an Consullisten angeschlossen haben werden. Doch von allen unterscheiden sich die0 Ravennater durch ihre knappe Auswahl und Fassung, und durch die genauen Tagesdaten[16].
Auch von einer zweiten Consulliste mit stadtrömischen Nachrichten lassen sich Spuren nachweisen. Ein Exemplar der ravennatischen aber bis etwa 456 ist nach Holder-Eggers Vermuthung nach Arles gekommen, dort überarbeitet, mit gallischen Nachrichten verbunden und fortgesetzt worden. Diese so neu entstandenen Annalen sind von Gregor von Tours und dem sogenannten Severus Sulpitius[17] benutzt.
Die ursprünglich in Italien zusammengestellten und fortgesetzten Fasten kamen unter Constantin auch nach Constantinopel und wurden [58] hier fortgeführt; ein Exemplar, welches bis zum Tode Theodosius I. reichte, kam nach Spanien und ist uns, jedoch nur im Auszuge, von Hydatius mit seiner Fortsetzung und in engster Verbindung mit seiner Chronik bis 468 erhalten. Reichlichere Auszüge aus dem ursprünglichen und in Constantinopel fortgeführten Werk sind im Chronicon paschale bis 630 enthalten. Aus beiden hat Mommsen die Consularia Constantinopolitana (bis 468) zusammengestellt[18].
In gleicher Weise, wie diese Consultafeln zu einem chronologischen Anhalt für geschichtliche Notizen dienten, benutzte man auch die Folge der Kaiser, indem man entweder nur mit jedem Namen kurze Bemerkungen verband, oder auch die Regierungsjahre der Kaiser einzeln unterschied[19]. Weit zweckmäßiger für kurze annalistische Aufzeichnungen waren aber nach dem Aufhören der Consularfasten die Ostertafeln, welche sich ebenfalls in jenem Kalender fanden und auch ohne denselben bald in jeder bedeutenderen Kirche vorhanden waren. Im Abendlande fand nach manchen Versuchen, unter denen die Ostertafel des Aquitaniers Victurius eine gewisse Rolle spielt, besonders der von Dionysius Exiguus angenommene Kanon des Alexandrinischen Bischofs Cyrillus eine große Verbreitung, welche noch zunahm, als Beda die Tafeln desselben über die Cyklen von 1-532 und von da bis 1063 in sein Werk De ratione temporum aufnahm[20].
Doch hat es längere Zeit gedauert, bis man von der einmal herkömmlichen Rechnung nach Consulaten und Jahren der Kaiser abging; in England zuerst, wo man außerhalb des römischen Herkommens stand, sind Ostertafeln zu diesem Zweck benutzt, und von dort durch die Vermittelung der irischen und englischen Missionare nach Gallien und Deutschland gekommen[21].
Schon 354 hatte auch der römische Staatskalender ein Verzeichniß der römischen Päbste aufgenommen, welches seiner[59] Anlage nach um 230 entstanden ist. Dieses wurde in der Folge nicht allein immer weiter fortgesetzt, sondern auch durch allerlei Zusätze vermehrt. Man fügte die Amtsdauer der Päbste hinzu, ihre Bauten und andere Verdienste um die kirchliche Verwaltung, die von ihnen vorgenommenen Weihen, endlich auch geschichtliche Vorfälle, und so entstand das Pontificale Romanum, welches gewöhnlich nach dem päbstlichen Bibliothekar Anastasius benannt wird. Doch zeigen weit ältere Handschriften, daß schon im siebenten Jahrhundert der Anfang des Werkes vorhanden war[22], und auch Beda und Paulus Diaconus haben diese Aufzeichnungen bereits benutzen können. Eine übersichtliche Darstellung der Entstehung dieses Werkes und seiner Fortsetzungen hat Giesebrecht gegeben in der Allgemeinen Monatsschrift für 1852, April. Wie in Rom, so entstanden ähnliche Aufzeichnungen auch an anderen Bischofsitzen und in manchen Klöstern, und daraus erwuchsen später die ausführlichen Geschichten der Bisthümer und Klöster, welche in der geschichtlichen Litteratur des Mittelalters eine so bedeutende Stelle einnehmen.
Endlich aber enthält auch der Abschnitt des Kalenders, in welchem die Todestage der Märtyrer und Päbste verzeichnet sind, den Anfang eines ganz eigenthümlichen Zweiges der Litteratur, nämlich der Martyrologien, in welchen die dort verzeichneten Namen sich immer als die ersten wiederfinden, und gewissermaßen den Kern der immer mehr anwachsenden Verzeichnisse bilden, welche zu dem bloßen Namen bald auch Nachrichten über Leiden und Leben der [60] Märtyrer und Bekenner hinzufügen. Wir sahen schon, wie lehrreich diese Martyrologien in Rettbergs Händen für die Entstehungsgeschichte der kirchlichen Sage geworden sind; denn da die Zeit der Verfasser bekannt ist, so läßt sich darin die allmähliche Erweiterung der Legenden urkundlich nachweisen[23]. Die ältesten tragen den Namen des Hieronymus[24], obwohl mit Unrecht; besonders geschätzt ist das Martyrologium Gellonense[25]. Die größte Verbreitung fand, wie alle Schriften Beda's, auch dessen Martyrologium, das wir jedoch nicht in seiner ursprünglichen Gestalt besitzen, sondern nur mit den Zusätzen des Florus, eines Subdiaconus zu Lyon im neunten Jahrhundert[26]. So kam also auch dieser Zweig der Litteratur über England nach Gallien; hier wurde er im neunten Jahrhundert mit besonderer Vorliebe behandelt, und aus der mündlich sich fortbildenden Tradition kamen bei jeder neuen Ausgabe stets auch neue Zusätze hinzu. Ein Reichenauer, welches zwischen 837 und 842 entstanden ist, gab A. Holder kürzlich heraus[27]. Eine metrische Bearbeitung verfaßte um 850 Wandalbert, Mönch zu Prüm[28], andere in Prosa Hraban[29] zwischen 842 und 854, Ado von Vienne[30] (859-874) und auf Befehl Karls des Kahlen Husward[31] (Usuardus) im Jahre 875; am Ende des Jahrhunderts schrieben Notker der Stammler (896) auf der Basis des von Ado 870 den Mönchen von [61] St. Gallen geschenkten Exemplars seines Martyrologium[32], und in Versen Erchempert, der Mönch von Montecassino[33]; noch im elften Jahrhundert verfaßte Hermann von Reichenau ein Martyrologium[34]. Damit war nun aber auch dem Verlangen nach Martyrologien völlig genügt; man fragte nicht mehr so viel nach diesen immer noch kurzen und dürftigen Aufzeichnungen, da man bereits eine sehr große Zahl ausführlicher Legenden besaß, theils aus der Zeit der Merowinger, theils aber auch über eben jene alten Märtyrer, von denen die Martyrologien so wenig zu sagen wußten. Der Wunsch danach war zu dringend, besonders in den Klöstern, welche Reliquien von ihnen besaßen, als daß nicht eine reiche Auswahl nachgemachter Legenden hätte entstehen sollen, welche leicht genug Glauben fanden, oder doch in Ermangelung anderer benutzt wurden, wie z. B. die Legende vom Apostel Thomas, deren Unglaubwürdigkeit wohl bekannt war[35]. Bald hatte man Legenden für jeden Tag im Jahr, und eine Sammlung derselben veranstaltete schon im Anfange des zehnten Jahrhunderts Wolfhard, Mönch zu Herrieden[36]. Kleinere, unvollständige Legendarien hatte man schon früher, und sie finden sich in großer Zahl in den folgenden Jahrhunderten, bis sie endlich wiederum verdrängt wurden durch die in zahllosen Abschriften verbreitete Goldene Legende des Jacob von Genua[37], welche dem Gebrauch für das Leben und für die praktische Anwendung auf der Kanzel am meisten entsprach und in gedrängter Kürze den ganzen Kreis der Heiligengeschichte auf den Umfang eines Bandes beschränkte.
Geschichtlich ist Jacobs compendiarische Behandlung der Legenden unbrauchbar; die ausführlichen Lebensbeschreibungen der [62] Heiligen aber enthalten für manche Zeiträume die werthvollsten Nachrichten. Auch diese Aufzeichnungen finden ihre Vorbilder schon in den früheren Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit. Die christlichen Gemeinden theilten sich unter einander die Todestage der Märtyrer mit nebst den Umständen ihres Leidens, und solche Mittheilungen wurden bei ihren Zusammenkünften verlesen. Bald fing man auch an, das Leben anderer frommer Männer, der Bekenner, aufzuzeichnen. Cassians vielgelesenes Werk über die Einsiedler der Thebais, das Leben des Cyprian, Ambrosius, Augustin und ganz besonders das um 400 von Sulpicius Severus verfaßte und durch ganz Gallien verbreitete Leben des heiligen Martin von Tours[38] regten zu ähnlicher Thätigkeit an[39]. Benedict von Nursia, der eigentliche Begründer des abendländischen Mönchthums, fand einen Biographen in dem Pabste Gregor dem Großen, und dieses Werk fehlte natürlich in keinem Kloster seines Ordens; nebst den übrigen Büchern der Dialoge bot es der Wundersucht des Mittelalters reiche Nahrung und reizte zur Nachahmung. Daran also schließt sich nun eine überaus reiche Litteratur, und wenn auch vielfach der erbauliche Ton so sehr überwiegt, daß der geschichtliche Werth nur gering ist, so ist doch keine der wirklich echten gleichzeitigen Biographien ganz ohne Frucht, und für die Zeiten, wo die Heiligen zugleich Staatsmänner waren, gehören ihre Lebensbeschreibungen zu den wichtigsten Quellen der Geschichte. Mit dem dreizehnten Jahrhundert aber verlieren sie fast alle Bedeutung.
Ganz vereinzelt erscheint daneben die weltliche Biographie; nur einige Kaiser haben Lebensbeschreiber gefunden, und wenn Einhard den Sueton zum Vorbilde nahm, so ist das nur eine Frucht der durch Karl den Großen erneuten Einwirkung auch der heidnischen Classiker; eine lebendige Fortentwickelung knüpfte sich nur an die kirchliche Litteratur.
Zu erwähnen bleibt endlich noch eine Art der Aufzeichnung, [63] welche den Martyrologien sehr nahe steht und häufig damit verbunden ist, die Necrologien nämlich, in welchen die Todestage aller derjenigen verzeichnet wurden, deren Gedächtniß in der Kirche oder dem Kloster, dem diese Aufzeichnungen angehörten, gefeiert werden sollte. Da jeder angesehene Mann sich um seiner Seligkeit willen eine solche Gedächtnißfeier zu sichern pflegte, erfahren wir hierdurch ihre Todestage, deren Kenntniß für manche Fragen wichtig werden kann; auch für die verwandtschaftlichen Verhältnisse ist manches daraus zu entnehmen, und zuweilen sind auch einzelne geschichtliche Begebenheiten anderer Art darin verzeichnet. Zur geschichtlichen Litteratur kann man diese Namensverzeichnisse nicht rechnen, und ich beschränke mich daher auf diese Erwähnung und auf ein Verzeichniß der mir bekannt gewordenen, gedruckten Necrologien, welches im Anhange zu finden ist.
Eine Zeitbestimmung ist nicht hinzugefügt, weil auch in jüngere Necrologien einzelne ältere Angaben herübergenommen sind, und ältere durch die fortgesetzten Eintragungen werthvoller zu werden pflegen. Doch ist es nicht unwichtig, die Zeit der ersten Anlage zu erkennen; bei dem lobenswerthen Versuche, dahin zu gelangen, begegnet aber stets wiederholt ein Fehler, vor dem ich deshalb ausdrücklich warnen möchte. Die Herausgeber glauben nämlich, zu dieser Bestimmung die Ansetzung des Osterfestes benutzen zu können und lassen sich dabei auch durch den auffallenden Umstand nicht stören, daß dieser überall derselbe ist, nämlich der 27. März; auch nicht dadurch, daß es ja gar keinen Sinn haben würde, das zufällige Datum eines einzelnen Jahres einzutragen. Es ist aber dieser 27. März ein festes Datum, welches man für dasjenige der wirklichen Auferstehung hielt.
Den vollen Nutzen für geschichtliche Forschung werden diese Necrologien erst gewähren, wenn sie systematisch gesammelt, durchgearbeitet und zusammengestellt sind. Das ist jetzt geleistet von Baumann für die Sprengel von Augsburg, Constanz und Chur[40], von Herzberg-Fränkel für Salzburg[41].
Geschichtlich noch wichtiger sind die Todten-Annalen, in welchen Jahr für Jahr die Todesfälle eingetragen sind. Solche sind aus Fulda von 779 bis 1065 erhalten[42], und an diese sich anschließend, [64] aber weit weniger reichhaltig, aus Prüm, von 1039 bis 1104[43], aus St. Blasien von vor 1036 bis 1474[44].
Verschieden davon sind die Verbrüderungsbücher, in welche Lebende eingetragen wurden; bei weitem das wichtigste darunter ist das von Karajan, jetzt aber mit wesentlichen Verbesserungen von Herzberg-Fränkel herausgegebene von Sanct Peter in Salzburg[45]; von einer systematischen Bearbeitung sind die von Sanct Gallen, Reichenau und Pfävers erschienen[46]. Sie geben über die Verbindungen der Klöster untereinander Nachricht und sind durch die Fülle alter Eigennamen für die Sprachforschung von Bedeutung. Auch von den Roteln späterer Zeit, durch welche man von den Todesfällen verbundenen Klöstern Nachricht gab, und welche theils nur mit Empfangsbescheinigung, theils sogar mit längeren Gedichten versehen wurden, hat sich namentlich in Frankreich eine große Anzahl, wenn auch meistens nur fragmentarisch, erhalten, welche von L. Delisle gesammelt und herausgegeben ist[47].
Eine besondere Erwähnung verdienen endlich noch die alten Diptycha, in welche Namen ohne Daten eingetragen wurden, um sie der Fürbitte theilhaftig werden zu lassen, wobei auf die Ordnung nichts ankam; aus Fulda, Trier, Novara haben sich dergleichen erhalten. In Ermangelung anderer Denkmäler hat man daraus Bischofslisten entnommen, deren Lückenhaftigkeit und Umstellungen sich aus solchem Ursprung erklären. Ein Liber vitae ecclesiae Dunelmensis (jetzt Cott. Domit. A. VII) aus der Mitte des neunten Jahrhunderts und bis in späte Zeit fortgeführt, lag im Prachtband auf dem Altar[48], herausgegeben von Stevenson 1841.
Eine besondere Art von Namensverzeichnissen entstand durch die Sitte, in Evangelienbücher Namen einzutragen, wovon man [65] sich gute Folgen für das Seelenheil versprach. So schrieb nach einer Mittheilung von K. Lamprecht in d. Westd. Ztschr. IV, 156 in einem Evangeliar des Castorstifts in Coblenz der Schreiber selbst hinzu: „Waniggus peccator nomen habeo. in vitae libro mei memoriam condo“. Darauf folgen andere Namen. Beispiele davon kommen auch sonst vor[49]; geschichtlich wichtig sind die Eintragungen im Evangeliar von Aquileja für die Anfänge des Christenthums unter den Bulgaren, während Theodelinde und andere Namen später betrügerisch zugesetzt sind, was Bethmann entdeckt und nachgewiesen hat[50].
Manso, Geschichte des ostgothischen Reiches in Italien, Breslau 1824. Aschbach, Geschichte der Westgothen, Frankf. 1827. Waitz, Ueber das Leben und die Lehre des Ulfila, Hannov. 1840, 4. Bessell, Ueber das Leben des Ulfilas und die Bekehrung der Gothen zum Christenthum, Gött. 1860. Max Müller, Lectures on the Science of Language, 2. ed. 1862, p. 179 ff. Bessell, Art. Gothen in der Encyklopädie von Ersch und Gruber I, 75. S. 98-242 (1862). Raszmann, Goth. Sprache und Litteratur, ib. 294-348. Wietersheim, Geschichte der Völkerwanderung, bes. II, 137 ff. Pallmann, Die Geschichte der Völkerwanderung, I, Gotha 1863. II, Weimar 1864. F. Dahn, Die Könige der Germanen, Abth. II. 1861. Wackernagel, Geschichte der deutschen Litteratur. S. 15-22. Bernhardy, Grundriß der römischen Litteratur, § 60. A. Thorbecke, C. Senator, Progr. d. Heidelb. Lyceums 1867. Ad. Franz, C. Senator, ein Beitr. z. Gesch. d. theol. Litt. Bresl. 1872. Teuffel § 475. Ebert S. 498 bis 542. Balzani p. 1-19. Rinaudo p. 25-31. — Ueber Cassiodor und Jordanis: Papencordt, Geschichte der vandal. Herrschaft in Afrika (1837), S. 383-388. Freudensprung, De Jornande sive Jordane et libellorum eius natalibus, Monaci 1837. H. v. Sybel, De fontibus libri Jordanis de origine actuque Getarum, Berol. 1838; Entstehung d. D. Königthums, 2. Ausg. (1881) S. 134-208. Waitz, GGA. 1839, S. 769-781. Joh. Jordan, Jordanes Leben und Schriften. Progr. des Gymnasiums zu Ansbach. 1843. J. Grimm, Ueber Jornandes. Abh. der Berliner Akademie, 1846 (Kleinere Schriften III, 171-235). Cassel, Magyarische Alterthümer, 1848, S. 293 bis 310. Stahlberg. Jornandes, Programm der höheren Bürgerschule zu Mühlheim a. R. 1854. C. Schirren, De ratione, quae inter Jordanem et Cassiodorium intercedat commentatio, Dorp. 1858; vgl. die Rec. von A. v. Gutschmid. Jahrbücher für classische Philologie, 1862, S. 124-151. R. Köpke, Deutsche Forschungen, Berl. 1859. Bessell, Art. Gothen, S. 101-116, recapitulirt die ganze Frage. Waitz, Gött. Nachrichten 1865 N. 4, über das Verhältniß zum Anon. Cuspiniani. Baehr S. 247-262. Mommsen, Praef. Jord. p. XL-XLIV. — Cassiodori Opera ed. Garet, Rothomagi 1679. fol. Frammenti di orazioni panegiriche, raccolti ed illustrati di Carolo Baudi de Vesme, Memorie della Real Acad. delle Scienzie, Serie II, Vol. VIII; vgl. Reifferscheid, SB. 68, 483, Fragm. d. Lobrede auf K. Theodahat, viell. von Cassiodor nach Arbois de Jubainville, Bibl. de l'École des chartes, V. 3, 139, vgl. M. Haupt in Hermes VII, 377. H. Usener, Festschrift zur Philol. Vers. in Wiesbaden 1877 (Anecdoton Holderi, Excerpt aus der früher unbekannten Schrift C.'s über die Schriftsteller in seiner Familie); vgl. aber Schepss, im NA. XI. 125-128. F. Rühl. Ein Anecdoton zur Goth. Urgesch. im Jahrb. f. class. Philol. 1880, S. 549-576 (Barbarischer Auszug aus Cass. über Skythen und Amazonen).
Das ostgothische Reich, so kurz es dauerte, bildete doch ein sehr wichtiges Mittelglied zwischen der antiken Welt und dem Mittelalter, welche sich in ihm auf merkwürdige Weise berühren.
[66] Der gothische Stamm war einer der begabtesten, bildungsfähigsten deutschen Stämme. Er allein, nebst den Angelsachsen, hat von Anfang an auch die Muttersprache ausgebildet, nicht nur in Lied und Gesang, sondern auch zu wissenschaftlichem Gebrauch; außer Vulfila's Bibelübersetzung haben sich auch Fragmente einer Evangelienharmonie erhalten. Getrennt von der herrschenden Kirche, feierten sie den Gottesdienst in ihrer eigenen Sprache[1], und deren Gebrauch war dadurch bei ihnen, wie später bei den Slaven, besser gesichert als in der römischen Kirche. Dennoch hätten auch die Ostgothen, wäre ihrem Reiche längere Dauer beschieden gewesen, sich der Uebermacht römischer Cultur wohl sicher ebenso wenig zu erwehren vermocht, wie die Westgothen in Spanien und später die Angelsachsen.
Denn mit der größten Empfänglichkeit wandten die Gothen sich auch der antiken Bildung zu; Theoderichs Reich ist merkwürdig als ein Versuch, die neuen Elemente mit den alten zu vereinen und die Herrschaft in den alten Formen fortzuführen; an seinem Hofe hörte man noch die alten gothischen Heldenlieder, aber es sammelten sich dort auch die noch übrigen Träger der alten Bildung; hier entstanden mehrere der Werke, welche die Elemente der alten Cultur dem Mittelalter überlieferten, aus denen es seine Kenntniß des Alterthums schöpfte und zugleich den gezierten dunklen Stil lernte, der damals in den Schulen der Rhetoren und Grammatiker für schön galt.
Den Schriftstellern des vierten Jahrhunderts, Donat, Macrobius, Marcianus Capella, reiht sich Priscianus an, Theoderichs Zeitgenosse und mit Cassiodor bekannt; doch lebte er in Constantinopel. Einer der Hauptlehrer des Mittelalters aber, dem es zunächst die Kenntniß der Aristotelischen Philosophie verdankte, war Boethius[2], der mit seinem gelehrten Schwiegervater Symmachus am Hofe zu Ravenna lebte. Die Familie der Symmacher, die domni Symmachi, werden uns ganz besonders genannt unter den Männern, welche in genauer Verbindung mit den Schulen der Grammatiker und Rhetoren noch einmal das sinkende Heidenthum neu zu beleben suchten, durch Auffrischung der Mysterien, der Philosophie, und namentlich auch durch angelegentliche Beschäftigung mit der alten Litteratur, deren Werke sie durch sorgfältige Verbesserung der verwahrlosten Handschriften in diejenige Gestalt brachten, in welcher sie uns jetzt vorliegen[3]. [67] Das Christenthum war nun freilich bereits zum unbestrittenen Siege durchgedrungen, dennoch aber stehen diese Männer noch ganz auf dem Boden der alten heidnischen Bildung. Auch Cassiodor gehört dazu; erst in seinem Alter gab er sich immer mehr einer kirchlich frommen Richtung hin.
Dieselbe Mischung römischer und deutscher, heidnischer und christlicher Elemente, wie an Theoderichs Hofe, finden wir nun auch in der geschichtlichen Litteratur, die uns leider nur theilweise erhalten ist. Was es für eine Bewandtniß mit den gothischen Philosophen habe, mit Athanarit, Hildebald und Markomir, auf die sich der Ravennatische Geograph beruft, ob sie existirt haben oder nicht, ist bis jetzt noch dunkel[4]. Auch der von Jordanis[5] benutzte und gelobte Ablavius, der „treffliche Geschichtschreiber des gothischen Volks“, bleibt in zweifelhaftem Dunkel; Mommsen vermuthet, daß er an Theoderichs Hofe nicht lange vor Cassiodor geschrieben und, der gothischen Sprache kundig, ihre Ueberlieferungen und Lieder mit den Nachrichten des Priscus u. a. verbunden habe. Er ist geneigt, einen sehr wesentlichen Theil des Cassiodorischen Werkes ihm zuzuschreiben, aber Schirren hat sich mit guten Gründen von neuem sehr nachdrücklich dagegen erklärt. Der Name ist in jener Zeit häufig und lautet correct Ablabius, doch folge ich lieber der damals üblichen, durch Jordanis bezeugten Aussprache.
Der rechte Repräsentant dieses Uebergangsreiches ist Magnus Aurelius Cassiodorius[6] Senator, ein vornehmer Römer von [68] angesehener Familie, aus Bruttien, vielleicht aus Squillace gebürtig. Dem Beispiele seines Vaters folgend, stellte er sich der Herrschaft der Barbaren nicht feindselig oder schmollend gegenüber, sondern war als Staatsmann und als Gelehrter aufrichtig und unablässig bemüht, die widerstrebenden Elemente friedlich zu verbinden und auszugleichen; als Minister Theoderichs und seiner Nachfolger suchte er die Regierung in den alten Formen fortzuführen, und als Geschichtschreiber verkündete er den erstaunten Römern, daß das Volk der Gothen und das Königsgeschlecht der Amaler ihnen an Alter und Adel, ja sogar an uralter Cultur mindestens ebenbürtig sei.
Schon die Chronik Cassiodors[7] dient der Verherrlichung Theoderichs und seines Eidams Eutharich, dem sie in seinem Consulatsjahre überreicht wurde; der Schwall der Lobrede belebt 496 bis 519 das dürftig und ungeschickt zusammengestoppelte chronologische Gerippe, dessen Mangelhaftigkeit und willkürlich leichtsinniges Machwerk Th. Mommsen schonungslos aufgedeckt hat. Auch die wenigen früheren historischen Notizen zur Consulartafel, die er aus Hieronymus, Prosper, Eutrop, von 456-493 aus den Ravennater Fasten schöpfte[8], hat er in gothischem Interesse verändert[9]. Von weit größerem Werth, fleißiger gearbeitet und der schulmäßigen Gelehrsamkeit jener Zeit entsprechend waren Cassiodors zwölf Bücher Gothischer Geschichten, ein früh verlorenes Werk, über welches jedoch der Auszug des Jordanis ein Urtheil gestattet, denn nach den Untersuchungen von Schirren und Koepke kann man es jetzt wohl als festgestellte Thatsache betrachten, wie es denn auch von Mommsen angenommen ist, daß der ganze wesentliche Inhalt dieses Werkes mit Einschluß des gelehrten Apparats von Cassiodor herrührt[10]. Außerdem finden sich in der Sammlung seiner Briefe [69] mehrere Aeußerungen, welche sich auf sein Geschichtswerk beziehen; so legt er gleich in der Vorrede einem Freunde die Worte in den Mund[11]: „Du hast in zwölf Büchern die Geschichte der Gothen in einer Blüthenlese ihrer glücklichen Thaten niedergelegt“. Varr. XII, 20 wird eine Stelle über die Einnahme Roms durch Alarich daraus angeführt, welche beweist, daß auch die Geschichte der Westgothen darin behandelt war.
Wichtiger aber und lehrreicher sind die Worte des Königs Athalarich in dem Schreiben (Varr. IX, 25), durch welches er dem römischen Senat Cassiodors Erhebung zum Praefectus praetorio für das Jahr 534 anzeigt. Nicht damit habe er sich begnügt, heißt es da, die lebenden Herren zu loben: „auch in das Alterthum Unseres Geschlechtes ist er hinaufgestiegen und hat durch Lesen erkundet, was kaum noch in dem Gedächtniß unserer Altvorderen haftete. Er hat die Könige der Gothen, welche lange Vergessenheit barg, aus den Schlupfwinkeln der Urzeit hervorgezogen. Er hat die Amaler mit dem vollen Ruhm ihrer Herkunft wieder ans Licht gestellt, indem er klärlich nachwies, daß Wir bis in die siebenzehnte Generation von königlichem Stamme sind. Er hat die Herkunft der Gothen zu einer römischen Geschichte gemacht, und die Blüthenkeime, welche bis dahin auf den Gefilden der Bücher hier und dort zerstreut waren, in einen einzigen Kranz gesammelt[12]. Bedenkt, welche Liebe zu euch er durch Unser Lob bewiesen hat, da er nachwies, daß eueres Herrschers Stamm von Uranfang her wunderbar gewesen ist, so daß, wie ihr von eueren Vorfahren her immer für edeler Art gegolten habt, so nun auch ein altes Königshaus über euch die Herrschaft führt[13].“ Und weiterhin wird Cassiodor gerühmt, [70] weil er gleich den Anfang von Athalarichs Herrschaft gleichmäßig mit den Waffen und mit gelehrter Thätigkeit (litteris) gefördert habe; von der tiefen Ruhe litterarischer Beschäftigung aufgescheucht[14], habe er ohne Zaudern zu den Waffen gegriffen.
Cassiodor selbst ist es, der diesen Brief verfaßt hat, und klar genug hat er darin Zweck und Absicht seines Werkes ausgesprochen. Der übergroße Abstand zwischen dem kräftigen, aber noch den Römern als barbarisch geltenden Gothenvolke und den auf ihre Geschichte und Bildung stolzen Römern sollte ausgeglichen werden, das war der leitende Gedanke in Cassiodors ganzer Thätigkeit. Dazu mußte ihm nun auch seine Gelehrsamkeit dienen; daß Gothen und Geten dasselbe Volk wären, war eine längst geläufige Annahme[15], aber noch hatte niemand es versucht, den Zusammenhang nachzuweisen. Cassiodor that es und zwar, wie jetzt durch das von Holder entdeckte Fragment bekannt geworden ist, im Auftrag des Königs Theoderich, doch erst nach dem Tode desselben gelang ihm die Vollendung[16]. Er verflocht zu diesem Zwecke, was er über die Gothen wußte und bei Ablavius las, mit dem, was er bei Römern und Griechen über die Geten vorfand, und da diese wie jene von den Griechen häufig Skythen genannt wurden, zog er auch die ganze Urgeschichte der Skythen heran, und machte sogar die Amazonen ohne Bedenken zu gothischen Weibern. So erschienen die Amaler, deren Glanz die gothische Sage verkündete, nun als unmittelbare Nachfolger des Zamolxis und Sitalkes, und die Römer konnten darin einen Trost finden für die Bitterkeit der fremden Herrschaft[17]. Es war das ein Gedanke, der wohl Anerkennung verdient, wenn auch der Zweck unerreicht blieb, die Grundlage irrig war, wenn auch zur Verherrlichung der Amaler er ihren Stammbaum [71] selbst mit freier Dichtung über alle Gebühr verherrlicht haben mag[18].
Als Cassiodor oder Senator, denn das war sein eigentlicher Name, alle seine Bestrebungen vereitelt sah, als das Gothenreich dem Angriff der Mächte, mit welchen er es hatte aussöhnen wollen, unterlag, da zog er sich, vermuthlich nach Vitigis Sturz (um 540) von der Welt zurück und gründete ein Kloster (monasterium Vivariense) in Bruttien, wo er das Ende seines Lebens in stiller Beschaulichkeit und schriftstellerischer Thätigkeit als hochbetagter Greis erwartete. Hier ließ er unter seiner Aufsicht die im Mittelalter vielgelesene Kirchengeschichte[19] zusammenstellen und übersetzen; hier schrieb er in seinem 93. Jahre eine Abhandlung über die Orthographie, zum Frommen seiner Mönche, denen er die Vervielfältigung der Bücher durch Abschriften ganz besonders zur Pflicht machte. Er zuerst hat die wissenschaftliche Arbeit grundsätzlich in die Klöster eingeführt und dadurch einen weitreichenden segensreichen Anstoß gegeben[20]. Ist er, wie Thorbecke annimmt, erst um 570 gestorben, so erlebte er noch die neue Verwüstung Italiens durch die Langobarden, sah er, wie die blutigen Lorbern Justinians fruchtlos hinwelkten.
Von vorzüglichem Werthe für uns sind unter seinen erhaltenen Werken[21] die 538 verfaßten zwölf Bücher seiner Briefe (Variae), in welchen er die Kanzleiformen der Zeit und viele auch durch ihren Inhalt wichtige Briefe aus der königlichen Kanzlei der Gothen aufbewahrt hat. Das Zureden seiner Freunde, sagt er in der Vorrede, habe ihn zu dieser Sammlung veranlaßt, welche einen Vorrath fertiger Formeln darbieten und zugleich zur Bildung junger Staatsmänner dienen sollte, während sie auch das Andenken der von ihm gelobten trefflichen Männer der Nachwelt erhalte. Alles habe er hier vereinigt, was er aus der Zeit seiner Quästur, seines Magisteriums und seiner Präfectur in den öffentlichen Actenstücken von ihm herrührend habe finden können. Doch nicht selten sei es ihm begegnet, daß er wegen übergroßer Eile bei der Ertheilung von [72] Würden und Ehren hastige und schmucklose Schreiben erlassen habe: davor wolle er nun andere bewahren, und deshalb habe er die, im sechsten und siebenten Buche enthaltenen Formulare für die Verleihung aller Würden nun mit Sorgfalt überarbeitet[22]. Denn reden können wir alle ohne Unterschied; nur der Schmuck ist es welcher den Gelehrten vom Ungelehrten unterscheidet[23].
Das war der Grundsatz und die Richtschnur der damaligen Schulen, und demgemäß hat denn auch Cassiodor den oft geringfügigen Inhalt seiner Briefe unter einem solchen Wortschwall und so vielem Zierrath der gesuchtesten Phrasen verborgen, daß es häufig nicht leicht ist, ihn herauszufinden.
Im höchsten Grade trifft dieser Vorwurf auch die Schriften des Ennodius, Bischofs von Pavia[24], unter denen besonders sein Panegyricus auf Theoderich geschichtlich wichtig ist[25].
Baehr S. 249-260. Teuffel § 477. Ebert S. 556-562. Dahn, A. D. B. XIV, 522-526. Rinaudo p. 31-36. Balzani p. 19-21. S. d. neuere Litt. zu § 4. Anstatt der älteren Ausgaben genügt es jetzt, die Ausgabe der MG. von Mommsen zu nennen, Berl. 1882, 4. (Auctorum antiquiss. V, 1.) Rec. von Schirren, Deutsche LZ. 1882, [73] S. 1420-1424, von L. Erhardt, GGA. 1886, S. 669-708. Bemerkungen v. Manitius, NA. XIII, 212. 213. — Ausg. der Getica v. Holder 1882 mit selbständ. Benutzung d. Heidelb. Hs. 1882. 3. Ausg. v. Closs 1889. Emendationen v. Fröhner, Philologus, Suppl. V, 55 (1884). Uebers. v. W. Martens, 1884, Geschichtschr. 5 (VI, 1).
An jene Vertreter der antiken Bildung, welche Theoderich an seinem Hofe versammelte, reiht sich nun der erste und einzige gothische Schriftsteller, dessen Werke wir besitzen, Jordanis; denn so wird sein Name in den besten Handschriften geschrieben, mit so überwiegender Autorität, daß die durch Peutingers Ausgabe von 1515 gebräuchlich gewordene Form Jornandes sich dagegen nicht behaupten kann. Jakob Grimm freilich hat sie sehr nachdrücklich in Schutz genommen, und unmöglich ist es nicht, daß in der entscheidenden Stelle (Cap. 50) ursprünglich gestanden hat: Jordanis sive Jornandes. Dann wäre nach Grimms Vermuthung der kriegerischer lautende gothische Name Jornandes d. i. Eberkühn, beim Eintritt in den geistlichen Stand mit dem griechisch-römischen Namen Jordanis vertauscht worden[1]. Wie dem nun auch sein möge, sicher gestellt ist allein der letztere, durch das ganze Mittelalter gebräuchliche Name, den wir deshalb auch hier vorgezogen haben.
Jordanis rechnet sich selbst zum gothischen Volke[2]. Er stammte aus einem sehr angesehenen Geschlechte, das mit den Amalern verschwägert war; sein Großvater war Notar oder Kanzler des Alanenkönigs Candac in Mösien, er selbst ebenfalls Notar: leider wissen wir nicht wo und unter welchen Verhältnissen[3]; später ist er in den geistlichen Stand eingetreten. Seiner, wie es scheint, alanischen Abkunft entsprechend, zeigt er für dieses Volk eine deutliche Vorliebe[4], während er die Vandalen nicht leiden kann[5].
[74] Die eigentliche grammatische Bildung der Schule war ihm fremd, wie er selbst sagt, doch konnte es ihm nicht schwer fallen, griechische und lateinische Schriftsteller zu lesen, und damit hat er sich denn auch, wohl besonders in der späteren Zeit seines Lebens, eifrig beschäftigt, wenn gleich die umfassende Belesenheit, welche seine Gothengeschichte zu zeigen scheint, nur als erborgtes Gut gelten kann.
Seine Schreibweise ist entstellt durch den gesuchten, sententiösen Charakter der Zeit, doch nur da, wo er seiner cassiodorischen Vorlage folgt; er selbst drückt sich ungeschickt und unbehülflich aus und klammert sich ängstlich an seine Quellen; die volle Barbarei der damals gewöhnlichen Schreibweise einer Bevölkerung, welche fast alles Gefühl für grammatische Formen verloren hatte, bis dahin nur aus den im Original uns erhaltenen Urkunden bekannt, ist nun auch bei ihm nach den ältesten und besten Handschriften hergestellt[6].
Die Vorrede seiner Getica hat Jordanis mit geringen Aenderungen wörtlich von Rufin entlehnt[7]. Natürlich eignete er sich auch die römisch christliche Weltanschauung an; dahin führte ihn sein Stand, dahin auch die ganze Richtung seines Volkes. Vollkommen theilt er die Verehrung des Kaiserthums, und wenn er es unternahm, die Folge der Weltreiche in gedrängter Uebersicht darzustellen, so konnte ihm doch der Gedanke niemals nahen, daß etwa auch das römische Reich sein Ende erreicht habe und andere an seine Stelle treten würden. Eben war er, wie er uns berichtet, mit der Abfassung eines solchen Handbuches beschäftigt, als sein Freund Castalius oder Castulus ihn aufforderte, Cassiodors Geschichte der Gothen in einen Auszug zu bringen[8]. Diese Aufgabe, sagt er, sei für ihn um so schwieriger gewesen, da ihm das Werk nicht einmal vorliege, sondern er es nur einmal in früherer Zeit auf drei Tage zum Lesen erhalten habe. Doch glaube er sich des wesentlichen Inhalts noch vollständig zu erinnern[9]. Damit habe er nun [75] verschiedenes aus griechischen und lateinischen Geschichten verbunden, den Anfang und das Ende aber, wie auch mehreres in der Mitte von seinem Eigenen dazu gethan. Später, im Verlauf der Geschichte, nennt er den Cassiodor nie, ebenso wenig aber auch den gegen das Ende benutzten Marcellinus. Es unterliegt nun wohl kaum noch einem Zweifel, daß er, wie schon Cassel angenommen hatte, bis auf wenige unbedeutende Zusätze eben nur den Cassiodor ausgezogen hat, was ihm ja auch aufgetragen war, und die Ungenauigkeit der gelehrten Citate bestätigt, daß auch sie mit herüber genommen sind[10]. Man muß also annehmen, daß er sich schon früher schriftliche Auszüge gemacht hatte, die er jetzt, ohne das Werk selbst wieder einsehen zu können, verarbeitete, eine in der That schwierige Aufgabe, welche wohl von einer zu harten Beurtheilung des ungeschulten Gothen abhalten sollte. Doch läßt sich freilich nicht leugnen, daß seine Benutzung der Annalen des gleichzeitigen Marcellinus Comes[11] nicht befriedigender ausgefallen ist. Denn nach diesem Führer erzählt er mit auffallender Kürze von den Siegen Belisars, und die Vergleichung mit den knappen aber genauen und zuverlässigen Angaben dieses Schriftstellers fällt nicht günstig für unseren Autor aus, der sich offenbar mit größerer Vorliebe den alten Ueberlieferungen zuwendet, und wie das bei den Anfängen einer gelehrten Geschichtschreibung so häufig ist, gerne eine unverdaute Gelehrsamkeit auskramt, von der sorgsamen Gewissenhaftigkeit aber, welche die Nachwelt am höchsten schätzt, kaum einen Begriff hat. Indem er nun hierin gegen gleichzeitige und spätere Annalen zurücksteht, zeichnet er sich dagegen vor den einfachen Chronisten aus durch das Festhalten eines leitenden Gedankens, welcher die Darstellung beherrscht. Man hat Jordanis eine gänzliche Entfremdung von seinem Volke zum Vorwurf gemacht. Nicht zum Ruhme der Gothen, sagt er schließlich, habe er dieses geschrieben, sondern um den Ruhm des Siegers zu erhöhen. Allein darauf darf man nicht zu viel Gewicht legen. Die Liebe zu seinem Volke, der Stolz auf die Tapferkeit der Gothen, auf die Herrlichkeit der Amaler, treten vielmehr mit großer Lebhaftigkeit überall hervor, und eben deshalb [76] hielt Jordanis es für nöthig, durch eine solche Wendung in der damaligen Zeit des Krieges dem Argwohn der Herrscher zu begegnen. Denn als er dieses schrieb, war der Krieg noch keineswegs beendigt, sondern vielmehr mit neuer Wuth entbrannt. Jordanis aber hatte allerdings für diesen letzten Todeskampf der Gothen keine Theilnahme; dem stand in ihm theils seine politische Ansicht, theils das Blut der Amaler entgegen, welches mächtiger war als das Volksbewußtsein. Er setzte seine Hoffnungen auf Germanus, den Gemahl der Matasuinth, dem ja auch von seinen Landsleuten so viele sich zuwandten, und nach dessen frühem Tode auf den letzten Sprossen der Amaler, auf das Kind Germanus: der sollte sein Volk wieder sammeln und beherrschen, im engsten Anschluss an das Römerreich, so wie einst Theoderich. An drei Stellen gedenkt er dieses Kindes, und an der letzten spricht er ausdrücklich die Hoffnungen aus, welche er an diesen Erben der vereinigten Anicier und Amaler knüpft.
Denn das ist eben, wie Sybel nachgewiesen, und Stahlberg weiter ausgeführt hat, der leitende Gedanke des Jordanis, daß er, was ja auch richtig war, nur in der friedlichen Einfügung des Gothenvolkes in das römische Reich die Möglichkeit und Hoffnung einer gedeihlichen Zukunft für dasselbe erkennt. Ihm konnte es nur als ein hoffnungsloses und frevelhaftes Unternehmen erscheinen, wenn die letzten Gothenfürsten, die dem Stamm der Amaler fremd waren, sich dem letzten Weltreich gegenüber feindlich behaupten wollten, um so mehr, da er katholisch war, und dadurch im Gegensatze zu seinen arianischen Volksgenossen mit der Einheit der Kirche auch die Einheit des weltlichen Reiches erstreben mußte. Daher legt er überall besonderes Gewicht auf die friedlichen Beziehungen der Gothen zum Ostreiche, und seine Theilnahme und Hoffnung konnten sich nur dem Germanus zuwenden. Dieser Auffassung konnte sich damals niemand entziehen, der in den Bildungskreis der römischen Kirche eingetreten war, und sie blieb herrschend, bis die Franken stark genug waren, um sich selbst als die wahren Träger des erneuten römischen Reiches betrachten zu können. Vollkommen zutreffend bezeichnet daher L. v. Ranke[12] sein Werk als eine „zwar auf historische Vorstudien basierte, aber zugleich auf den Moment angelegte politisch-historische Arbeit über die Geschichte der Gothen“. Auch ist es richtig, daß er ganz im Sinne Cassiodors geschrieben hat, aber wenn dann die Vermuthung hinzugefügt wird, dass Cassiodor selbst als der intellectuelle Urheber des Werkes zu betrachten sei, so läßt [77] sich das weder mit den Verhältnissen vereinigen, noch ist zu erklären, weshalb Jordanis das so sorgfältig hätte verbergen sollen.
Von großer Wichtigkeit aber ist es, festzustellen, wo und unter welchen Verhältnissen Jordanis sein Werk geschrieben hat. Da finden wir nun bei Mommsen die Behauptung, dass er als Mönch in einem mösischen oder thracischen Kloster gelebt und geschrieben habe. Er beruft sich auf seine besonders genaue Kenntniß des unteren Donaulaufes und der benachbarten Gegenden, und daß er bei dem Auszug aus Cassiodor gerade, was sich auf Mösien und Thracien bezog, bevorzugt habe, was sich indessen durch die Angaben über seine Herkunft leicht erklären läßt. Weit wichtiger ist die Frage, ob aus den Worten „ante conversionem meam“ mit Nothwendigkeit zu schließen ist, daß er Mönch geworden sei. Das wird behauptet, aber ich finde keinen Beweis dafür, daß nicht auch der Eintritt in den geistlichen Stand so bezeichnet werden könne. Wir haben ja aus späterer Zeit Mönche genug, welche geschichtliche Werke geschrieben haben, aber aus diesen Jahrhunderten ist mir keiner bekannt. Ihre Stellung zur Welt hat sich im Laufe der Zeit und vorzüglich durch die eigenthümliche Entwickelung der Kirche im Abendland völlig verändert. Wer damals in ein Kloster eintrat, zog sich in vollem Ernst aus der Welt zurück und erfuhr, wie noch jetzt orientalische Mönche, sehr wenig von ihr. Cassiodor zuerst scheint seine Mönche überhaupt auf litterarische Beschäftigung hingewiesen zu haben. Ich halte es für vollkommen undenkbar, daß ein Mönch in einem Kloster in Mösien ein solches Werk hätte zu Stande bringen, daß er das neueste Annalenwerk hätte erhalten und über die politischen Angelegenheiten der Gegenwart hätte schreiben können.
Deshalb halte ich fest an der Entdeckung Jakob Grimms, der in dem Vigilius, welchem Jordanis sein zweites Werk gewidmet hat, den damaligen römischen Pabst erkannt und mit überzeugenden Gründen nachgewiesen hat[13]. Schon früher hatte Cassel auf einen Jordanis, Bischof von Kroton, aufmerksam gemacht, welcher in einem Schreiben des Pabstes Vigilius erwähnt wird; seine Vermuthung, [78] daß er mit unserm Autor identisch sei, fand Zustimmung. Es erklärt sich nun dadurch leicht, daß er von dem Verwalter der unfern gelegenen Güter Cassiodors dessen Werk auf kurze Zeit erhielt, auch daß er sich nicht selbst im Gothenreiche befand, als er schrieb. Schirren freilich hat einen anderen Jordanis vorgezogen, den Pabst Pelagius in einem Schreiben vom Jahre 556 als Defensor der römischen Kirche erwähnt; allein mit Recht hat Bessell hervorgehoben, daß doch nur ein Bischof den römischen Pabst frater anreden könne, und daß auch der ganze Inhalt des Trostschreibens nur für einen Amtsbruder angemessen sei. Auch bezeichnen ihn als solchen nicht geringe Handschriften[14]. Noch erheblicher aber ist der Umstand, daß nach jenem Schreiben des Vigilius Jordanis von Kroton sich im Jahre 551 mit ihm in Constantinopel befand, daß er also zu denjenigen gehörte, welche ihn in seinem Exil (547 bis 554) begleiteten. Dasselbe nimmt auch Schirren von dem Defensor Jordanis an, und hat deshalb die Vermuthung, welche auch Stahlberg wahrscheinlich fand, ausführlich begründet, daß nämlich Jordanis seine Gothengeschichte 551 in Constantinopel verfaßt habe[15]; darin stimmen Bessell und Gutschmid mit ihm überein, und in der That ist die Wahrscheinlichkeit dafür so groß, daß sie fast zur Gewißheit wird. Nun erklärt es sich sehr einfach, weshalb Jordanis sich Cassiodors Buch nicht wieder verschaffen konnte, während Marcellins Annalen ihm zugänglich waren; man begreift, daß Vigilius und seine Anhänger eines Buches bedurften, welches ihnen die gothische Geschichte kurz und übersichtlich vorführte, die ältere vorzüglich, weil die Ereignisse der letzten Jahrzehnte noch in frischem Gedächtniß waren. Die Worte Jordanis, in welchen er seinen Freund Castalius als Nachbar der Gothen (vicinus genti) im Gegensatz zu seiner eigenen Lage bezeichnet, sind nun nicht mehr auffallend, und der politische Standpunkt, die ängstliche Behutsamkeit des Verfassers, seine geringe Kenntniß der Kämpfe in Italien, der Mangel an Theilnahme für die neue Erhebung unter Totila, die lebhafte Hoffnung, welche er an den Sprößling der Anicier und Amaler knüpft, so wie die Vertrautheit mit den in Byzanz getroffenen Maßregeln und erst begonnenen Unternehmungen, alles das tritt in ein helleres Licht, so daß an der Richtigkeit dieser Annahme kaum zu zweifeln ist.
[79] Bald nach der Vollendung der Gothengeschichte konnte Jordanis auch dem Vigilius seine Chronik überreichen, die, wie er selbst sagt, im 24. Jahre Justinians (welches am 1. April 551 begann)[16], beendigt war. Die erneuten Kämpfe der Gothen sind hier mit sichtlicher Abneigung gegen Totila berührt, die letzte Katastrophe aber war noch nicht zur Kenntnis des Verfassers gekommen. Uebrigens ist dieses Werk, welches gewöhnlich De regnorum successione genannt wird, richtiger (nach Mommsen) De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum betitelt wird, eine unbedeutende und ungeschickte Compilation; es ist großentheils aus Florus entlehnt, so wörtlich, daß die neuesten Herausgeber desselben, Jahn und Halm, aus Jordanis den Text des Florus bedeutend berichtigen konnten; später benutzt er den Eutrop, Orosius und andere, welche in der Ausgabe von Mommsen nachgewiesen sind. Wichtig ist diese Schrift fast nur als höchst charakteristisch für den Standpunkt des Verfassers, denn die Weltgeschichte ist ihm eben nur die römische, angeknüpft an die aus der Chronik des Hieronymus entlehnten Generationen des alten Testaments und die Regentenreihen der früheren Weltreiche; er beruft sich ausdrücklich auf die Prophezeiung des Daniel, daß diesem Reich die Herrschaft bis ans Ende der Welt beschieden sei.
Aschbach, Geschichte der Westgothen, Frankf. 1827. Lembke, Geschichte von Spanien, Hamb. 1831. F. Dahn, die Könige der Germanen, Abth. V. 1870. Teuffel § 487.
Spanien gehörte, wie Gallien, in den letzten Zeiten des römischen Reiches zu den blühendsten Provinzen und war von der römischen Bildung der damaligen Zeit vollkommen durchdrungen. Unendlich viel ging hier zu Grunde in den verheerenden Kriegen des fünften Jahrhunderts, wo Spanien unausgesetzt der Kampfplatz verschiedener deutscher Völkerschaften war; die Westgothen aber, welche allmählich ihr Reich dort befestigten, zeigten sich der römischen Bildung ebenso wenig abgeneigt wie die Ostgothen, und während sie die unterworfenen Romanen mit großer Milde behandelten, erhielt sich auch unter ihnen noch ein Nachklang des wissenschaftlichen Lebens der besseren Zeit; sie selbst jedoch haben nicht in namhafter Weise an dieser Thätigkeit Theil genommen.
[80] Den Anfang der barbarischen Heimsuchung Spaniens erlebte noch Orosius, der Augustins Geschichte des Reiches Gottes auf dessen Wunsch die Schilderung des Elendes dieser Welt zur Seite stellte. Er wollte darin nachweisen, daß nicht das Christenthum, wie die Heiden behaupteten, das Elend über die Welt gebracht habe, sondern daß es zu allen Zeiten viel Trübsal und Leiden gegeben: eine Auffassung, welche in den Zeiten des Unglücks und der Verwirrung überall Anklang fand und großen Einfluß auf die Ansichten der mittelalterlichen Geschichtschreiber geübt hat, ganz besonders auf Otto von Freising, dessen Chronik sich unmittelbar an Augustin und Orosius anschließt. Für uns mindert die unhistorische Auffassung des Orosius, die dadurch bedingte einseitige Benutzung und Entstellung seiner Quellen, und sein ziemlich leichtfertiges Verfahren, den Werth, welchen sein Werk sonst durch die Benutzung jetzt verlorener Schriften, namentlich des Livius, haben würde. Im Anfang legt auch er den Eusebius in der Bearbeitung des Hieronymus und des Rufin zu Grunde, schreibt dann vorzüglich den Justin aus und geht endlich zu einer ganz überwiegenden Darstellung der römischen Geschichte über. Das römische Reich ist ihm nach der erst kurz zuvor, wenn auch nicht zuerst, von Hieronymus aufgestellten Deutung die vierte Weltmonarchie; als die vorhergehenden aber sieht er, abweichend von den späteren Chronisten, das babylonische, macedonische und karthagische Reich an. Am Schlusse seines Werkes giebt Orosius die Geschichte seiner Zeit bis 417, in welchem Jahre er seine Geschichte schrieb, und dieser Abschnitt hat, obschon dürftig und ganz erfüllt von dem engherzigen Geiste der pfäffischen Hofpartei, welcher so eben der Sturz des großen Stilico gelungen war, doch selbständigen Werth, und enthält namentlich gute Nachrichten über Spanien und die Geschichte der Westgothen[1].
Unter der westgothischen Herrschaft entstanden ferner mehrere jener wortkargen annalistischen Aufzeichnungen, welche sich an die Chronik des Hieronymus anschlossen, und in den späteren Weltchroniken regelmäßig den Uebergang vom Hieronymus zum Beda [81] bilden, weshalb eine Zeit lang westgothische, später angelsächsische Namen vorherrschen. Die wichtigste dieser Chroniken, für viele Begebenheiten unsere einzige Quelle, ist das Werk des Aquitaniers Tiro Prosper, wie er an einigen Stellen genannt wird, oder kurzweg Prosper, wie er gewöhnlich heißt[2]. Um 400 geboren, hat Prosper sich eine für jene Zeit hervorragende Bildung erworben, und zwar haben ihn, obgleich er Laie war und blieb[3], ganz vorzüglich theologische Studien beschäftigt. Als eifriger Verehrer und Bewunderer Augustins kämpfte er wacker gegen Pelagianer und andere Ketzer, und erwarb sich als Schriftsteller einen angesehenen Namen. Im Jahre 440 scheint er den Pabst Leo nach Rom begleitet zu haben; er wird als Verfasser von Briefen genannt, welche Leo's Namen tragen, und blieb fortan, vermuthlich als Notar, am römischen Hofe, wo er die Angst vor Attila und den Schrecken der vandalischen Eroberung erlebte. Hier, wie es scheint, hat er sein Chronicon geschrieben, oder doch vollendet, welches in erster Redaction bis 445 reicht[4], in zweiter bis 455 fortgeführt ist[5]. Er beginnt mit der Erschaffung der Welt, beschränkt sich aber im ersten Theile ganz auf einen grundschlechten Auszug aus Hieronymus, welcher dessen eigenthümlichen Vorzug, die chronologische Bestimmtheit und Uebersichtlichkeit, ganz zerstört. Von Christi Tod an beginnt bei ihm das Verzeichniß der Consuln, welches er einem Exemplare der Ravennatischen Fasten entlehnte. Auch finden sich Zusätze, welche sich vorzüglich auf die verschiedenen Ketzereien beziehen und aus Augustins Schriften entlehnt sind. Weiterhin sind auch andere Quellen benutzt, darunter die Geschichte des ihm geistesverwandten Orosius. Spätestens von 425 an berichtet er als Zeitgenosse, und zwar über einen Zeitraum, aus welchem andere Quellen [82] fast ganz mangeln. Flüchtig und nachlässig, in dürftiger Kürze berichtet er auch hier, aber werthvoll ist in hohem Grade, was er mittheilt. Dem Interesse des römischen Stuhles zeigt er sich überall eifrig ergeben, und verändert sogar Nachrichten des Hieronymus in solcher Tendenz.
Verständiger Weise hat man schon früh den ersten Theil bis 378 als werthlos fortgelassen, und nur den zweiten als Fortsetzung mit der Chronik des Hieronymus verbunden. In dieser Gestalt wurde die Chronik als bequemstes Handbuch der Weltgeschichte schon sehr früh allgemein benutzt, und noch im 16. Jahrhundert häufig gedruckt, jedoch mit Zusätzen, welche den ursprünglichen Text verdunkeln. Man verband damit die Fortsetzung des Matthaeus Palmerius bis 1449, die weitere des Matthias Palmerius bis 1482, und fügte noch eine Fortführung bis zum Druckjahre hinzu, weil man den praktischen Gebrauch im Auge hatte.
Eine Ueberarbeitung der Chronik des Prosper bis 445, mit einer römischen Fortsetzung bis 451, die noch Verwandtschaft mit dem Text des Prosper zeigt, ist in Afrika, wahrscheinlich in Karthago, verfaßt und bis 457 fortgeführt, mit Benutzung der Consularfasten. Hinzugefügt ist eine Uebersicht der Geschichte des vandalischen Reiches von der Einnahme von Karthago bis zum Untergang des Reichs 533[6].
Irrthümlich Prosper zugeschrieben ist das Chronicon imperiale oder Pithoeanum (379-455), welches am Anfang und am Ende mit Prosper übereinstimmt, übrigens aber in Form und Inhalt ganz verschieden ist. Als Zeitrechnung dienen hier die Regierungsjahre der Kaiser. Verfaßt ist es, wahrscheinlich vom Autor selbst, als Fortsetzung des Hieronymus; wenigstens findet es sich nur mit diesem verbunden. Geschrieben ist es auf Grundlage der Consularfasten mit Benutzung des Rufinus und anderer unbekannter Quellen im südlichen Gallien, vielleicht in Marseille, mit besonderer Verehrung des Klosters Lerins. In scharfem Gegensatz zu Prosper erscheint der Verfasser zwar auch von lebhaftem kirchlichen Interesse erfüllt, aber Augustin abgeneigt und semipelagianistisch gesinnt. Holder-Egger vermuthet, daß die Chronik vielleicht unvollendet [83] blieb und von anderer Hand aus Prosper ergänzt wurde, um den Uebergang zum Marius zu bilden. Benutzt ist es nur von dem sog. Severus Sulpicius und später von Sigebert, durch den es allgemein bekannt und verbreitet wurde. Es ist voll von chronologischen Irrthümern, aber enthält wichtige Nachrichten über die Geschicke der germanischen Völker in Gallien[7].
Von erheblichem Werthe und namentlich durch gute Nachrichten über die Sueven und Westgothen sehr schätzbar ist die Chronik des galizischen Bischofs Idatius oder Hydatius (gebürtig aus Lamego, daher Lemicensis), welcher den Hieronymus fortsetzte, und nach seiner eigenen Angabe bis 427, in welchem Jahre er Bischof wurde, aus Büchern und den Berichten der Zeitgenossen schöpfte, von da an bis 467 aus eigener Erfahrung von den Begebenheiten berichtete, in welchen er als angesehener Bischof eine nicht unbedeutende Rolle spielte[8].
Eine grundschlechte, doch durch ihren Inhalt wichtige Chronik schrieb Victor, Bischof der unbekannten Stadt Tunnuna in der afrikanischen Proconsularprovinz. Er scheint von der Schöpfung begonnen zu haben, aber erhalten ist sein Werk nur als Fortsetzung des Prosper (444-566)[9]. An dasselbe schließt sich die Fortsetzung eines Gothen, Johannes von Biclaro, der aber in Constantinopel seine Bildung erhalten hatte, bis zum Jahre 590. Er stiftete 586 das Kloster Biclaro am Fuße der Pyrenäen, wo er auch seine Chronik geschrieben hat; 591 ist er Bischof von Gerona geworden[10].
Eine Fortsetzung des Prosper bis 581 schrieb in Burgund der Bischof Marius von Avenches, auf welchen wir noch zurückkommen. Eine eigenthümliche Umgestaltung des Textes mit werthvollen Zusätzen und Fortsetzung bis 641 bietet uns der Continuator Prosperi Havniensis, [84] so genannt, weil die Handschrift 1836 von G. Waitz in Kopenhagen entdeckt wurde. Lange nur durch spärliche Mittheilungen bekannt, wurde sie endlich von G. Hille abgeschrieben und 1866 in einer Berliner Dissertation herausgegeben. Der Verfasser schrieb im Langobardenreich, vielleicht in Mailand, gehörte aber der romanischen Bevölkerung an. Er versah schon Hieronymus und Prosper mit Zusätzen aus Isidor, einem Pabstkatalog und den Consularfasten; auch hat er gallische Annalen benutzt. Der Fortsetzung fehlen die Jahre 458-474. Beim Jahre 523 hört die Rechnung nach Consuln auf, und die Regierungen der Kaiser treten an die Stelle, wie bei Isidor, welcher von nun an dem Verfasser als Leitfaden dient[11].
Näher auf diese Werke einzugehen, deren Werth nur in ihrem materiellen Inhalt besteht, würde hier nicht am Orte sein; sie durften nicht ganz übergangen werden, weil sie den Uebergang zu den späteren Chronisten bildeten, denen vorzüglich Prosper und Idatius ganz allgemein als Grundlage für diese Zeiten dienten: die weiteren Quellen der westgothischen Geschichte aber dürfen wir hier wohl unbedenklich bei Seite lassen[12]. Dagegen haben wir noch eines Mannes zu gedenken, der, wie jene Vertreter der alten grammatischen Bildung am Hofe von Ravenna, alles was von der überlieferten Schulbildung noch übrig war, in sich aufgenommen hatte, und durch seine Schriften einer der einflußreichsten Lehrer des Mittelalters geworden ist, nämlich Isidor von Sevilla[13].
Isidor war der Sohn des Severian, eines Provinzialen aus dem District von Karthagena. Er folgte seinem Bruder Leander auf dem bischöflichen Stuhle von Sevilla, und starb 636. Außer vielen anderen Werken, brachte er die Summe aller Kenntnisse, welche er sich vermittelst der damals noch vorhandenen Hülfsmittel erworben [85] hatte, in ein Compendium, die 20 Bücher Originum sive Etymologiarum, welche eine außerordentliche Verbreitung erlangten und allgemein gelesen und benutzt wurden[14]. Heut zu Tage ist man geneigt diese Bestrebungen gering zu schätzen, ja ihnen zu zürnen, weil dadurch die älteren und besseren Werke verdrängt wurden. Allein es war damals schwer sich eine Bibliothek zu sammeln; nur wenige von denen, welche sich mit Wissenschaften überhaupt beschäftigten, konnten sich die umfangreichen Handschriften der alten Classiker verschaffen, und deshalb gewannen die leicht zugänglichen Auszüge eine so rasche Verbreitung. Es ist sehr fraglich, ob sich die reineren Quellen besser erhalten haben würden, wenn auch niemand Auszüge daraus verfaßt hätte; diese dagegen setzten auch unbemittelte Schüler in den Stand, wenigstens etwas zu lernen.
In jenem umfassenden Werke, welches freilich auch die mäßigsten Ansprüche unbefriedigt läßt, ist nun auch eine kurze Chronik oder chronologische Uebersicht, liber de discretione temporum, enthalten, ein Auszug aus der zwölf Jahre früher verfaßten Chronik, welche in gedrängtester Kürze eine Uebersicht der Begebenheiten von der Erschaffung der Welt bis zum fünften Jahre des Heraklius, dem vierten des Sisebut (615) giebt[15]. Eigenthümlich ist Isidor die Eintheilung nach den sechs Weltaltern, entsprechend den sechs Schöpfungstagen; das letzte beginnt mit Christi Geburt und Augusti Kaiserthum. Es ist das ein bei Augustin wiederholt vorkommender Gedanke[16], welcher hier zuerst chronistisch verwerthet wurde und später durch Beda allgemeine Verbreitung fand.
So sehr nun auch Isidor von der kirchlichen Auffassung der Geschichte erfüllt war, so hatte er doch auch ein lebhaftes Gefühl für sein Land und für das Volk der Westgothen, von deren Milde und Menschenfreundlichkeit er ein schönes Zeugniß ablegt. Denn nachdem er die Einnahme Roms durch Alarich und die dabei geübte Schonung beschrieben hat, fügt er hinzu: „Deshalb lieben auch [86] bis auf den heutigen Tag die Römer, welche im Reiche der Gothen leben, die Herrschaft derselben so sehr, daß sie es für besser halten, mit den Gothen in Armuth zu leben, als unter den Römern mächtig zu sein und die schwere Last der Abgaben zu tragen.“ Das steht in der Volksgeschichte der Westgothen, welche er verfaßt hat, kurz zwar und dürftig für uns, die wir nach eingehenderer Darstellung verlangen, aber doch nicht ohne Geschick zusammengefaßt und mit Wärme erzählt. Kurze Geschichten der Vandalen und der Sueven schließen sich daran. Vorangeschickt aber ist ein überschwengliches Lob Spaniens, das jetzt von dem blühenden Volke der Gothen in Reichthum und glücklicher Sicherheit beherrscht werde. Dieses Stück fehlt jedoch in den meisten Handschriften und ist nicht von Isidor[17].
Außerdem aber haben wir endlich noch ein Werk des Isidor zu erwähnen, welches ebenfalls große Verbreitung gefunden und manchen zur Nachahmung gereizt hat. Das ist sein litterarhistorisches Buch De scriptoribus ecclesiasticis. Er selbst folgte darin dem Vorgange des Hieronymus und des Gennadius, eines Marseiller Priesters im fünften Jahrhundert. Ihm schloß sich dann zunächst Ildefons von Toledo an und darauf nach langem Zwischenraume im zwölften Jahrhundert Sigebert, Honorius, Petrus Diaconus und der ungenannte Mönch, welcher nach dem Fundort der Handschrift von Melk (Anonymus Mellicensis) genannt wird[18], aber dem Inhalt nach vielmehr nach Regensburg gehört, alle dürftig und mager, aber schätzbar durch einige nur von ihnen aufbewahrte Nachrichten. Im dreizehnten Jahrhundert folgte ihnen Heinrich von Gent[19] und endlich am Schlusse des Mittelalters der vielbelesene, aber unzuverlässige Johann von Trittenheim[20]. Denselben [87] Gegenstand behandelte im 12. Jahrhundert Conrad von Hirschau in seinem Dialogus super auctores[21], und im Jahre 1380 Hugo von Trimberg, Lehrer zu St. Gangolf in Bamberg, in Versen, in seinem Registrum multorum auctorum, dessen nicht eben reicher Ertrag von M. Haupt geprüft ist, in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1854, S. 142 ff.; vollständig herausgegeben von Joh. Huemer[22].
Histoire Littéraire de la France, 1733 ff. Guizot, Histoire de la Civilisation en France depuis la chute de l'Empire Romain, zuerst 1830 erschienen. Ampère, Histoire Littéraire de la France avant le douzième siècle. 3 Vol. 1839, 1840. Aug. Thierry, Récits des temps Mérovingiens, 1840. Löbell, Gregor von Tours und seine Zeit, 1839. Zweite Ausg. 1869. Ozanam, Études Germaniques, 1845-1849; 3. Ausg. 1861. Junghans, Die Gesch. d. Fränk. Könige Childerich u. Chlodevech, 1857. Diss. traduite par M. Gabriel Monod, augmentée d'une introduction et de notes nouvelles, 1879. G. Monod, Bibliographie de l'histoire de France, 1888.
Die Gothen waren ohne Zweifel ein wohlbegabter, bildungsfähiger Stamm und ihre Anfänge vielversprechend; aber die Westgothen zeigen nach Isidor keine fortschreitende Entwickelung in der Litteratur, und der Ostgothen Reich war in vollster Auflösung begriffen, als es den Feldherren Justinians erlag. Keines der deutschen Reiche, welche auf römischem Boden errichtet wurden, vermochte die innere Festigkeit und Ordnung zu gewinnen, welche allein die Grundlage einer dauernden und fortschreitenden Geistesbildung und litterarischen Entwickelung darbieten kann. Einen ganz ähnlichen Verlauf der Dinge sehen wir auch bei den Franken: auch sie finden einige Reste der alten Bildung vor, welche sich eine [88] Zeit lang kümmerlich erhalten; in der Kirche regt sich dann einige litterarische Thätigkeit, aber zuletzt droht doch alles in der allgemeinen Auflösung und Verwirrung rettungslos unterzugehen, und es bedarf einer Neubelebung der fast ganz erstorbenen Keime, um ein besseres Zeitalter herbeizuführen auf der Grundlage festerer staatlicher Bildungen.
Hochberühmt waren in den letzten Jahrhunderten der Kaiserherrschaft die Schulen der Grammatiker und Rhetoren in Gallien, die französischen Schriftsteller gefallen sich darin, das Bild dieser Zeiten auszumalen, und es tritt uns in den Werken von Guizot und Ampère lebendig entgegen. Diese Studien, welche noch in den letzten Jahrzehnten des Reiches so eifrig betrieben wurden, waren aber, wie sich das bei dem Charakter dieser Zeiten nicht anders erwarten läßt, dem wirklichen Leben gänzlich entfremdet, und bewegten sich nur auf dem Boden der Schule. Die Prosa war bis auf einen unerträglichen Grad verkünstelt; die gesuchte, kaum verständliche Schreibart, deren wir schon bei Ennodius und Cassiodor gedachten, ist hier auf die Spitze getrieben. Die Poesie war vorherrschend epigrammatisch und diente fast nur dem Zeitvertreib der vornehmen Welt; durch Gelegenheitsgedichte suchten die Poeten die Gunst hoher Gönner, oder diese griffen auch selbst zur Feder, und bewiesen ihre feine Bildung durch allerhand poetisches Spielwerk, wie Ausonius aus Bordeaux, der nach der Verwaltung bedeutender Staatsämter in Muße der Litteratur lebte und bald nach 392 gestorben ist[1]. Weniger glücklich als dieser, sah sich Apollinaris Sidonius schon verdammt, unter den Barbaren zu leben, und deshalb sind seine Gedichte und Briefe von um so größerem Werthe für uns: sie zeigen uns nicht nur den damaligen Zustand der Schulen und des Lebens in Gallien, sondern gewähren auch manche Kunde von den Burgunden und Westgothen, denen er mit seiner Kunst dienen mußte. Innigst verabscheut er diese Barbaren, und bei mancher Gelegenheit spricht er das unverhohlen aus, aber bewundern und feiern ließ er sich doch recht gerne von ihnen. Auch das große Hochzeitsfest der Franken, bei welchem diese von Aëtius überfallen wurden, hat Sidonius zum Preise des Siegers geschildert. Zuletzt wandte er sich der Kirche zu, welche allein noch einen [89] sicheren Hafen darbot, wurde 471 Bischof von Clermont in der Auvergne und starb bald nach 484[2].
Einst hatte Constantin die fränkischen Gefangenen den wilden Thieren vorwerfen lassen, weil sie ihm zu wild und treulos erschienen, um sich wie andere Barbaren zum Anbau des Landes, zum Kriegsdienst oder als Sclaven verwenden zu lassen: nur der Schrecken, meinte er, vermöge sie zu bändigen. Aber die vielfache, wenn auch feindliche Berührung mit den Römern milderte allmählich ihre Wildheit; bald finden wir Franken in ansehnlichen Aemtern bei den Römern, und schon am Ende des vierten Jahrhunderts war der Franke Arbogast Befehlshaber der Heeresmacht im westlichen Reiche. In der Mitte des fünften Jahrhunderts sind die salischen Franken von den Römern abhängig, sie führen ihre Kriege und schlagen ihre Schlachten. Mit den Römern verbündet, durchzieht der König Childerich ganz Gallien nach allen Seiten; er besiegt mit ihnen die ketzerischen Westgothen, die britischen und sächsischen Seeräuber, die plündernden Alamannen. Obgleich noch Heide, ist Childerich mit seinen Franken doch bereits dem ganzen Lande wohlbekannt, aber nicht mehr als der wildeste aller Feinde, sondern als Retter und Beschützer. Man freute sich des alten Hünen, wo man ihn sah, hoch zu Roß, in reicher und prächtiger Rüstung: der Königsmantel, in welchem seine Getreuen ihn zu Tournay bestattet haben, bestand aus purpurner golddurchwirkter Seide, wahrscheinlich besetzt mit den goldenen Bienen, die man in so großer Zahl in seinem Grabe fand und die Napoleon von ihm entlehnt hat. Natürlich war das alles von römischer Arbeit, auch sein Siegelring führte die lateinische Inschrift: CHILDIRICI REGIS[3].
[90] Da ist es denn nicht zu verwundern, daß auch daheim im Salierlande schon Römer wohnen konnten, als Gäste und Hausgenossen des Königs, ja daß auch die Salier selbst ihr eigenes Volksrecht in lateinischer Sprache aufzeichneten — denn noch wagte oder verstand man es nicht, die fränkische zur Schriftsprache zu machen, und erst an eben dieses Rechtsbuch lehnten die ersten noch unbeholfenen Versuche sich an[4] — und andererseits erklärt es sich auch, wie bald darauf die Vermischung der Franken mit den schon halb barbarisch gewordenen Provinzialen so leicht und rasch von Statten gehen konnte; war man doch beiderseitig schon längst daran gewöhnt, mit einander zu leben und zu verkehren.
In lateinischer Sprache ist auch das älteste uns erhaltene Denkmal einheimischer Poesie der Franken verfaßt, der Prolog zum Volksrecht der Salier, wo das Volk der Franken hoch gepriesen wird, das schöne, kluge, tapfere und treue, das jetzt auch den katholischen Glauben empfangen habe und von jeder Ketzerei rein sei. Die frühere Abhängigkeit von den Römern erschien ihnen in der Erinnerung als die härteste Knechtschaft, deren Joch sie mit ihrer gewaltigen Kraft abgeworfen hätten, und voll Stolzes rühmen sie sich der reichen Gaben an die Kirchen der heiligen Märtyrer, gegen welche die Römer einst mit Feuer und Schwert gewüthet hätten.
Dieser letzte Satz, welcher erst lange nach der Bekehrung geschrieben sein kann, hat aber nicht mehr die rhythmische Form, welche für den Anfang dieses Prologs zuerst von Bethmann-Hollweg nachgewiesen hat[5], und dieser erste Theil, in welchem die neulich geschehene Bekehrung des Volkes erwähnt wird, scheint älterer Zeit anzugehören. Doch ist das sehr unsicher und die genauere Zeitbestimmung des Prologs viel umstritten.
So wie die Franken das Christenthum sogleich mit dem orthodoxen Eifer ergriffen, welcher sich in jenen Worten ausspricht, so waren sie auch der übrigen römischen Bildung durchaus nicht feind; ja Chlodovechs Enkel Chilperich, der auch für byzantinischen Hofstaat und römische Staatseinrichtung große Vorliebe zeigte, versuchte sogar das lateinische Alphabet durch Erfindung neuer Buchstaben [91] zu verbessern, und machte selbst lateinische Verse nach dem Vorbilde des Sedulius, aber wie Gregor von Tours berichtet, wollte es ihm mit der Metrik nicht recht gelingen[6].
Höchst charakteristisch für diese erste Zeit der Vermischung des Alten und Neuen ist die Persönlichkeit des Venantius Fortunatus[7]. Noch in den alten Rhetorenschulen gebildet, ist er einer der letzten Repräsentanten jener verkünstelten Schulgelehrsamkeit. Er stammte aus Italien und kam um das Jahr 565 nach Gallien, an König Sigiberts Hof, wo man viel Gefallen an dieser Poesie fand. Ueberall bei den fränkischen wie bei den römischen vornehmen Herren und Bischöfen war er ein gern gesehener Gast und auf ein Lobgedicht von ihm legte man den größten Werth. Aber mehr als alles dieses fesselte ihn die Freundschaft der heiligen Radegunde, die ihn zuletzt bewog, in den geistlichen Stand einzutreten und sich ganz nach Poitiers zurückzuziehen. Hierhin hatte Radegunde, aller Herrlichkeit der Welt entsagend, sich begeben, um ihr Leben in dem von ihr gestifteten Kloster bei den Werken der Frömmigkeit und Demuth zu beschließen, sie, einst die Gemahlin Chlothars, den sie aber nach der Ermordung ihres Bruders, des letzten Sprossen der thüringischen Königsfamilie, verlassen hatte. Nur ein Vetter von ihr war noch übrig, der in Constantinopel lebte, und an diesen schrieb nun Fortunat in ihrem Namen eine wahrhaft schöne poetische Epistel, in welcher er den Untergang des thüringischen Reiches in ergreifender Weise schildert. Ebenso schön ist ein zweites langes Gedicht über das traurige Geschick der Galswintha, Tochter des Westgothenkönigs Athanagild, der Schwester der Königin Brunhilde, die mit König Chilperich vermählt, aber bald nach der Hochzeit auf Anstiften der Fredegunde ermordet wurde[8].
Wo Fortunat in solcher Weise einen bedeutenden Gegenstand aus dem wirklichen Leben zu behandeln unternimmt, zeigt er wahres [92] Gefühl und ungewöhnliches Talent. Aber bei weitem die Mehrzahl seiner Gedichte bewegt sich ganz in der spielenden Weise seiner Zeit; er bedichtet jede gute Mahlzeit, die Radegunde ihm zukommen läßt, und widmet jedem kleinen Vorfall ein Epigramm. Vollends unerträglich ist seine Prosa, schwülstig, geziert, kaum verständlich; nur in den von ihm verfaßten Heiligenleben redet er einfach und natürlich. Das findet sich überhaupt fast durchgehends, nur wenige derselben sind in dem gesuchten Stil der Schule geschrieben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie zur Erbauung, zum Vorlesen bestimmt waren, und deshalb allgemein verständlich sein mußten.
In den Heiligenleben, die Fortunat verfaßte, herrscht übrigens der moralisch-theologische Zweck und Standpunkt zu sehr vor, als daß sie einen bedeutenden historischen Werth haben könnten; am anziehendsten und am lehrreichsten ist das Leben der Radegunde († 13. Aug. 587), worin das Klosterleben der damaligen Zeit anschaulich geschildert wird, doch waren auch hier so bedeutende und für das Kloster wichtige geschichtliche Vorgänge ganz übergangen, daß schon von der damaligen Aebtissin Dedimia der Nonne Baudonivia die Abfassung einer zweiten Biographie aufgetragen wurde, was sie gewissenhaft, wenn auch in ungeschickter Weise, bald nach 600 ausgeführt hat[9].
Wie nun die Legenden sich schon durch ihre einfache Sprache als dem Leben näherstehend bewähren, so zeigt es sich überhaupt bald, daß die kirchliche Litteratur die einzige wahrhaft lebensfähige war. In die Kirche flüchteten sich alle, welche noch Sinn und Neigung für litterarische Bildung hatten, die in dem wilden Getümmel des weltlichen Lebens keine Stätte mehr fand. Das sahen wir an Ennodius, der auch im südlichen Gallien geboren und in den dortigen Rhetorenschulen gebildet war, an Cassiodor, Jordanis, Apollinaris Sidonius, und auch Fortunat wurde in seinem hohen Alter noch Bischof von Poitiers, wo er zu Anfang des siebenten Jahrhunderts gestorben ist.
Jene innerlich leblose gekünstelte Litteratur der Grammatiker starb mit ihren letzten, von den Franken noch vorgefundenen Repräsentanten ab, und nur die Kirche bewahrte von nun an die Keime des geistigen Lebens, welche sie naturgemäß für ihren Dienst [93] verwandte. Freilich konnte auch sie dem Druck dieser Zeiten nicht unversehrt widerstehen; die früher in Gallien sehr bedeutende speculativ-theologische Thätigkeit hörte gänzlich auf, da man zu gewaltsam vom Drange des praktischen Lebens ergriffen wurde; aber in diesem bewahrte die Kirche eine bedeutende Stellung. Politisch war die Macht der Bischöfe im fränkischen Reiche bald größer, als sie je gewesen war, und wenn sie auch von der immer mehr überhand nehmenden Verwilderung stark ergriffen wurden, so ging der tiefere sittliche Gehalt in der Kirche doch niemals völlig verloren, und mitten in dem allgemeinen Verderben erschienen immer aufs neue einzelne Männer, welche durch Reinheit der Gesinnung und durch rückhaltlose Hingabe ihrer eigenen Person für die Gebote des Evangeliums die Verehrung ihrer Zeitgenossen und die Bewunderung der Nachwelt erzwangen. Zu keiner Zeit nach den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche finden wir eine größere Zahl von Heiligen als gerade damals, Männer und Frauen, großentheils von hervorragender äußerer Stellung, die durch Entsagungen aller Art, durch aufopfernde Wohlthätigkeit, durch unerschrockenes Auftreten gegen die Verbrechen der Großen und Mächtigen, sich die dankbare Verehrung des Volkes erwarben. Das äußere Leben nahm gebieterisch alle ihre Kräfte in Anspruch; für wissenschaftliche Bestrebungen war kein Raum in dieser Zeit, und die geringe litterarische Thätigkeit, welche noch Statt findet, beschränkt sich auf Predigten, moralische Schriften und Legenden, die ebenfalls als Vorbilder zum Zweck der unmittelbaren Einwirkung auf die Zeitgenossen verfaßt wurden.
Auf diesem Felde schloß sich an Sulpicius Severus eine reiche Litteratur an, und auch der Mann, mit dem wir uns zunächst zu beschäftigen haben, der bedeutendste Schriftsteller der merowingischen Zeit, Gregor von Tours, wandte der Legende seine Thätigkeit hauptsächlich zu.
Opera ed. Ruinart, Paris 1699, fol. Migne LXXI. SS. Meroving. I. 1885 (Hist. Fr. ed. W. Arndt, de miraculis S. Andreae ed. M. Bonnet, die übr. Schriften v. Br. Krusch). Rec. v. Bonnet, Revue crit. 1885 N. 9 (vgl. NA. X, 603), 1886 N. 8 (vgl. NA. XI, 632). Differenzen zw. Krusch u. Bonnet NA. XII, 309-314. XVI, 432. XVII, 199-203. Krusch: Chlod. Sieg über die Alamannen, gegen Vogel, NA. XII, 289-302; zu Greg. de cursu stell. NA. XII, 303-314.
In Not. et Doc. publ. p. la Soc. de l'hist. de France (1884) giebt H. Omont S. 1-18 Nachricht von einem durch L. Delisle in Kopenhagen entdeckten Fragment e. Hs. d. Hist. in Uncialen u. einer zweiten saec. IX. Auch sind die Leid. u. Vat. Fragmente (A2 [94] bei Arndt) abgedruckt. — L. I-VI e cod. Corb. mit den Zusätzen d. 2. Ausg. v. H. Omont 1886. Album pal. pl. 12 codd. Belvac. Corb. pl. 13 Camerac. mit von Bethmann übersehenen Correcturen.
Uebersetzung der Gesch. mit vortrefflicher Einleitung von W. Giesebrecht. Berlin 1851, 2. Aufl. 1878 (Geschichtschr. 8. 9. VI, 4. 5). Kries, De Greg. Tur. vita et scriptis, Vratisl. 1838. Löbell, Gregor von Tours und seine Zeit, Leipzig 1839, 1869. Haeusser S. 8-17. R. Koepke in der Allg. Monatsschrift, 1852 Sept. S. 775-800. Kl. Schr. S. 289 ff. Waitz in den Gött. Gel. Anz. 1839, S. 781-793, in Schmidts Zeitschrift für Geschichte II, 44. Dazu jetzt die vortreffl. Monographie von G. Monod: Études critiques sur les sources de l'hist. Mérovingienne (Bibl. de l'Écol. des hautes études, 8 Fasc. 1872) p. 21-146 (vgl. seine oben S. 39 angeführte Recension), rec. v. Dümmler, Lit. Centr. 1872, 819; v. Waitz, GGA. 1872, 903-909; v. W. Arndt, Hist. Zeitschr. 23, 415-422. Ebert S. 566-579. Alfred Jacobs, Géographie de Grégoire de Tours et de Frédégaire, Paris 1861, u. bei der Ausg. von Guizots Uebersetzung. Longnon, Géographie de la Gaule à l'époque de Gr. de T. 1878. Le Mire, Études archéolog. sur Gr. de T. Lons-le Saulnier 1879. Bonnet, Le Latin de G. de T. Paris 1890.
Gregor von Tours stammte aus einer sehr vornehmen römischen Familie, der fast alle Bischöfe von Tours und viele Heilige angehörten. Um das Jahr 540 in Clermont-Ferrand (Arverni) geboren, erhielt er nach seinem Vater und seinem Großvater die Namen Georgius Florentius; Gregor hat er sich erst später genannt, nach seinem mütterlichen Ahnherrn, dem heiligen Gregorius, Bischof von Langres. Seinen Vater scheint er früh verloren zu haben; erzogen wurde er an seinem Geburtsort von seinem Oheim, dem heiligen Bischof Gallus, und nach dessen Tode von dem Priester Avitus, der im Jahre 571 ebenfalls Bischof von Clermont wurde. Er selbst nennt nur diesen, der ihn nicht in weltlicher, sondern in kirchlicher Wissenschaft unterwiesen habe. Doch hat er natürlich in der Schule einige Kenntniß des Vergil und Sallust bekommen, weiß auch von Marcianus Capella, aber seine Citate beschränken sich auf das erste Buch der Aeneide und den Prolog des Catilina, wie G. Kurth nachgewiesen hat, welcher daraus den Schluß zieht, daß eine Chrestomathie dieser Art damals im Schulgebrauch gewesen sei[1].
Im Jahr 573 erhielt Gregor von König Sigebert das Bisthum Tours, und Fortunat versäumte nicht, sein Gedicht dazu zu machen; Gregor, der ihm nahe befreundet war, hat ihn später sogar mit einem Landgütchen beschenkt.
Der Bischof von Tours, der Nachfolger des heiligen Martin, war eine der ansehnlichsten Personen im fränkischen Reiche, ein Kirchenfürst von bedeutender Macht, und mehr noch wegen der ungemeinen Verehrung des heiligen Martin ein Mann, auf den die Blicke vieler Menschen gerichtet waren und dessen Stimme bei allen Staatshändeln von Gewicht war. Bei den inneren Kriegen unter den Merowingern konnte es daher nicht fehlen, daß Gregor sehr [95] bald in schwierige Verwickelungen hineingezogen wurde, und gleich anfangs sah er sich in sehr gefährdeter Lage, als Chilperich die Stadt Tours seiner Herrschaft unterwarf. Er benahm sich aber stets mit Klugheit und Festigkeit, und wußte sich selbst gegen erbitterte und mächtige Feinde zu behaupten. Nach Chilperichs Tode (584) stieg sein Ansehen, und von nun an war er einer der einflußreichsten Männer im Reiche. Allgemein geachtet starb er am 17. Nov. 594, und hinterließ ein dankbares Andenken in seinem Sprengel, für den er in jeder Beziehung mit unermüdlichem Eifer thätig gewesen war; man verehrte ihn sogar als einen Heiligen. Seine im zehnten Jahrhundert in Tours verfaßte Biographie hebt nur diese Seite hervor, und gewährt fast keine neue Belehrung über ihn[2].
Vieles hatte Gregor erlebt und gesehen, von seiner Kindheit an, wo die Auvergne der Schauplatz des Kampfes zwischen Chlothar und Childebert war, bis zu dem blutigen Streite der Königinnen Brunhilde und Fredegunde; seitdem er zu den Bischöfen des Reichs gehörte, konnte kein bedeutendes Ereigniß eintreten, ohne ihn unmittelbar zu berühren; von allem erfuhr er, und an vielen wichtigen Staatsgeschäften nahm er persönlich Theil; einen großen Theil des Reiches kannte er aus persönlicher Anschauung. Da erwachte in ihm der Wunsch, die Kunde dieser Dinge auch der Nachwelt zu überliefern, und während er das Leben der Heiligen beschrieb und reiche Sammlungen von Wundergeschichten verzeichnete, arbeitete er zugleich unablässig an dem Geschichtswerke, welchem wir fast allein unsere Kenntniß von dem Reiche der Merowinger verdanken. Noch trägt es die Spuren seiner allmählichen Entstehung, man erkennt spätere Nachträge, und es fehlt ihm die letzte Vollendung. Um so größer ist deshalb die Glaubwürdigkeit der letzten Bücher, in welche er den Ereignissen gleichzeitig die Zeitgeschichte eintrug.
Häufig nennt man dieses Werk die Kirchengeschichte der Franken, und in manchen Handschriften trägt es nach dem Vorbild des Beda diesen Titel (Historia ecclesiastica Francorum). Allein so sehr auch dem Charakter der Zeit entsprechend das kirchliche Element vorwiegt, der Inhalt zeigt doch, daß jene Ueberschrift den Grundgedanken des Werkes nicht ausdrückt und also nicht von Gregor [96] herrühren kann. Richtiger nennt man es: Zehn Bücher fränkischer Geschichten.
Gregor hatte bereits Vorgänger gehabt; er selbst, und nur er allein, hat uns (II, 8. 9) Namen und Bruchstücke von zwei verlorenen Historikern aufbewahrt, von Renatus Profuturus Frigeridus[3], dessen zwölftes Buch der Geschichten er anführt, und Sulpicius Alexander. Aber diese scheinen beide noch den Zeiten der letzten Kaiser angehört zu haben, und niemand versuchte mehr das Andenken dieser trüben Zeiten aufzuzeichnen. Mit der Klage darüber beginnt Gregor sein Werk. Jetzt, da die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens vernachlässigt, ja sogar gänzlich in Verfall gerathen sei[4], so lauten die inhaltsschweren Worte, jetzt finde sich kein Gelehrter, dem die Kunst der Rede zu Gebote stände[5], der in Prosa oder Versen die Begebenheiten der Gegenwart der Nachwelt aufbewahre. Laut klage das Volk: Wehe über unsere Tage, daß die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist und niemand sich findet, der, was zu unsern Zeiten geschehen, berichten könnte! Deshalb also, weil kein anderer auftrete, habe er es auf sich genommen, das Gedächtniß dieser Tage den Nachkommen zu überliefern.
Die Geschichte seiner Zeit also ist sein Gegenstand; aber um dafür eine chronologische Grundlage zu gewinnen, schickt er im ersten Buche eine Uebersicht der Weltgeschichte, hauptsächlich der biblischen, seit der Schöpfung voran[6]; die Erzählung von der Stiftung der gallischen Kirchen, zuletzt von seinem Schutzheiligen Sanct Martin, giebt dann den Uebergang zur fränkischen Geschichte. Allein er führt doch auch noch einen anderen Grund an für die Berechnungen, mit denen er sein Werk beschließt, nämlich damit diejenigen, welche wegen des herannahenden Endes der Welt in Sorgen sind, genau wissen möchten, wie viele Jahre seit der Erschaffung der Welt verflossen wären. Denn diese Vorstellung beherrschte auch ihn, so wie alle, die auf das untergehende römische Reich, das letzte Weltreich, ihre Blicke gerichtet hatten. Und in der That [97] bot diese Zeit kaum etwas anderes dar, als Zeichen des Verfalles und des Unterganges; Keime neuen Lebens mußten dem Frankenreiche in Gallien erst von außen wieder zugetragen werden, für die Neugestaltung des Staates von Austrasien, für die Kirche von den britischen Inseln.
Vor allem findet nun Gregor es durchaus nothwendig, sein Glaubensbekenntniß an die Spitze des Buches zu stellen, damit kein Leser an seiner Rechtgläubigkeit zweifeln könne; denn ein Hauptgegenstand seines Werkes würden die Kämpfe der Kirche mit den Ketzern sein. Höchst charakteristisch ist dies für eine Zeit, die seit Jahrhunderten von dem Gegensatze der Katholiken und Arianer erfüllt war, wo der Name des Orthodoxen der höchste Ehrentitel der Fürsten war, und die Franken ihren größten Stolz darin fanden, von jeder Ketzerei frei zu sein. Das gesteht ihnen auch der Mönch Jonas im Leben des Columban zu; den katholischen Glauben finde man bei ihnen, nur leider von den Werken auch gar keine Spur.
Es ist aber dieser Standpunkt für die Beurtheilung von Gregors Werk sehr wichtig; seine ganze Auffassung Chlodovechs beruht darauf. Nicht nach schriftlichen Aufzeichnungen schildert ihn Gregor; für die ersten Zeiten hat er wohl die schon erwähnten Autoren und den Orosius benutzt, auch einzelne annalistische Notizen und Heiligenleben, vorzüglich das Leben des Remigius, nebst Briefen und Aktenstücken[7]; aber seine Hauptquelle für die Urgeschichte der Franken, und bald seine einzige, ist doch die lebendige Ueberlieferung, und die Darstellung Chlodovechs sowie seiner nächsten Nachfolger ist darum schon durchaus sagenhaft; in diesem Abschnitt hat man sich sehr zu hüten, Gregors Autorität nicht zu überschätzen[8].
[98] Chlodovech ist ihm der Streiter der Kirche, ihr Vorkämpfer gegen die Arianer; als solchen faßt er ihn vorzugsweise auf, und deshalb kann er auch (II, 40) von ihm sagen: „Gott aber warf Tag für Tag seine Feinde vor ihm zu Boden und vermehrte sein Reich, darum, daß er rechten Herzens vor ihm wandelte, und that was seinen Augen wohlgefällig war“.
Unmittelbar vorher hat Gregor erzählt, wie sich Chlodovech durch Mord und Verrath des ripuarischen Reiches bemächtigte, und man hat ihm daher jenen Ausspruch sehr zum Vorwurf gemacht. Diese Worte fassen aber den Inhalt nicht des einen Capitels allein, sondern auch der vorhergehenden zusammen, in welchen die Bekämpfung der arianischen Westgothen erzählt ist, der Kreuzzug, welchen die Kirche als Chlodovechs größtes Verdienst betrachtete. Ein feines Gefühl für Recht und Unrecht darf man freilich bei den Schriftstellern dieser Zeit nicht suchen; wie bei den Italienern des fünfzehnten Jahrhunderts war durch die täglich sich wiederholenden Greuelthaten das Gefühl dafür abgestumpft worden. Mord und Hinterlist waren so gewöhnliche Werkzeuge geworden, daß wer sie nicht selber anwandte, ihnen zum Opfer fiel; es kam daher für die Beurtheilung nur noch darauf an, ob sich ein lobenswerther Zweck damit verband, oder ob sie bloß der Selbstsucht und anderen schlechten Leidenschaften dienten. So erzählt denn auch Gregor zahlreiche Geschichten derart mit einer Kälte, die uns unheimlich berührt, ohne irgend etwas von dem Abscheu zu äußern, welcher den heutigen Leser dabei ergreift. Eben dadurch aber gewinnt er um so mehr an Glaubwürdigkeit; ganz in seiner Zeit stehend, gewährt er uns das treueste Bild derselben, und indem er nur einfach berichtet, was geschehen war, verdient er ohne Zweifel vollen Glauben, so weit seine eigene Kenntniß der Begebenheiten reicht, und so weit nicht etwa leidenschaftliche Erregung, so weit nicht seine eifrig kirchliche Denkungsart, sein Haß gegen die Ketzer, sein Urtheil trüben, oder seine übergroße Leichtgläubigkeit ihn irre führt. Sehr mit Unrecht hat man ihm absichtliche Entstellung Schuld geben [99] wollen; von Flüchtigkeit und Ungenauigkeit dagegen ist er im ersten Theile seines Werkes nicht frei, und daran wird es auch wohl in den späteren Abschnitten, wo es unsere einzige Quelle ist, nicht fehlen.
Die Darstellung Gregors ist einfach und kunstlos; er selbst bittet um Entschuldigung deshalb: „Ich bitte die Leser vorher um Verzeihung,“ sagt er, „wenn ich im großen oder geringen gegen die Grammatik fehlen sollte, denn ich bin nicht recht bewandert in dieser Wissenschaft.“ Die Schulgelehrsamkeit der Zeit mangelte ihm, und das ist ein Glück für uns, ebenso wie bei Eugippius. Gregor selbst sagt darüber nicht ohne Ironie, daß er sich zu dieser Arbeit entschlossen habe, weil kein Gelehrter sie auf sich nehme, und weil er häufig verwundert habe vernehmen müssen, daß einen Schriftsteller von gelehrter Bildung nur wenige verständen, des schlichten Mannes Rede aber viele[9]. Einige Stellen seines Werkes, wo er sich in dieser Schreibart versucht hat, zeigen uns die Gefahr, vor welcher sein Mangel an Schulbildung uns bewahrt hat. In der Regel aber ist seine Schreibart diejenige, welche sich damals für die Legende ausgebildet hatte, und nach und nach allgemein herrschend wurde; schlicht und einfach, weil sie allgemein verständlich sein mußte, und erfüllt von biblischen Ausdrücken und Anspielungen, dem Standpunkt der Verfasser und dem Zweck ihrer Werke angemessen, da sie ja sämmtlich Geistliche sind und auch in der Darstellung der Geschichte die kirchliche Bedeutung derselben fast überall vorherrscht; dabei dem verfallenen Zustand der damaligen Umgangsprache entsprechend, erfüllt von den ärgsten grammatischen Verstößen; das Gefühl für die Bedeutung der Flexionsendungen hatte sich fast ganz verloren[10].
Die kunstlose, einfache Sprache Gregors, seine behagliche, memoirenartige Erzählung, welche Geschichten aller Art, die größten Staatsbegebenheiten und unbedeutende Vorfälle des gewöhnlichen [100] Lebens bunt durch einander mischt, das ist es eben, was seinem Werke einen so großen Reiz verleiht, und es zu einem so treuen Spiegel seiner Zeit macht, daß ihm in dieser Hinsicht kein zweites zu vergleichen ist.
Vorzüglich zeigt uns Gregors Werk auch, wie besonders Loebell schlagend nachgewiesen hat, die völlige Verschmelzung der fränkischen und der romanischen Bevölkerung; von einem feindlichen Gegensatze beider Elemente ist nichts darin wahrzunehmen, und die römische Abkunft des Verfassers hat durchaus keinen Einfluß auf seine Darstellung ausgeübt.
Was er hörte, was er sah, das erzählte er, ohne weiteren Zweck, als das Andenken der Dinge zu erhalten; er dachte keineswegs gering von dieser Aufgabe und dem Werthe derselben, denn ausdrücklich beschwört er am Ende des letzten Buches seine Nachfolger auf dem Stuhle des heiligen Martin, sie unverkürzt und unversehrt der Nachwelt aufzubewahren, und nichts daran zu ändern. Und wenn auch nicht durch ihr Verdienst, so ist uns doch wirklich Gregors Werk in seiner ursprünglichen Gestalt überliefert worden, und seit Jahrhunderten hat man diese ungeschminkte Darstellung einer fernen Zeit hoch geschätzt und in Ehren gehalten. Wir können ihm keine hohe Stelle unter den Geschichtschreibern einräumen, denn ihm fehlen die wesentlichsten Eigenschaften, welche dazu gehören, die Beherrschung des Stoffes, das tiefere Eindringen in den Zusammenhang der Dinge; aber um so mehr ist es auch dankbar anzuerkennen, daß er nicht versucht hat, was ihm nicht gelingen konnte, sondern sich in Bescheidenheit begnügte, eine reiche Fülle des mannigfaltigen Stoffes in seinen Werken zusammenzufassen. Von vorzüglichstem Werthe ist darunter für uns seine Geschichte der Franken, doch enthalten auch seine Wundergeschichten und Heiligenleben viele für die Charakteristik der Zeit wichtige Züge.
In seinen letzten Jahren, als die blutigen Stürme, die das Frankenreich zerrissen hatten, eine Weile ruhten, als Childebert und König Gunthram den Frieden aufrecht hielten, hat Gregor seine Erzählung fortgeführt bis zum Jahre 591; am Ende fügte er noch eine kurze Geschichte der Bischöfe von Tours[11], und zuletzt einen Abriß seines eigenen Lebens hinzu: ein Schlußwort, welches Monod als Epilog zu allen seinen Werken, nicht zur Geschichte allein betrachtet. Dann begann er, wie es scheint, sein Werk noch einmal zu [101] überarbeiten; die sechs ersten Bücher enthalten Einschiebungen, welche um diese Zeit geschrieben sind, und diese sechs Bücher sind denn auch, so scheint es, zuerst allein bekannt geworden; nur sie finden sich in der ältesten Handschrift, und sie allein wurden später in einen Auszug gebracht.
Bei weitem nicht mehr in dem Grade wie Isidor, hatte Gregor in sich aufgenommen, was von der alten Bildung noch übrig war; doch war sie auch auf ihn nicht ohne Einfluß geblieben; hoch überragt er die nun folgende Zeit der tiefsten Barbarei, wo kaum noch einzelne Funken litterarischen Lebens zu finden sind, wo die aus der alten Welt herübergenommene Bildung fast vollständig abstarb, während zugleich politisch die ärgste Verwilderung und Auflösung eintrat: im siebenten Jahrhundert, sagt O. Abel, nach Brunhilde und Fredegunde verliert im merowingischen Königshause auch das Laster seine Größe, in wachsender Jämmerlichkeit schleppt sich das entartete Geschlecht noch anderthalb Jahrhunderte durch die Geschichte.
Erwähnt habe ich vorher (S. 97), daß Gregor auch annalistische Notizen benutzt habe, welche im Anfang seiner Geschichte sehr deutlich zu erkennen sind. Mit diesen hat man sich neuerdings sehr eingehend beschäftigt[12]. Schon oben S. 57 ist der Annalen von Arles gedacht worden, welche mit Consularfasten verbunden sind. Holder-Egger hat ihre Benutzung nachgewiesen in einer Weltchronik, welche fälschlich den Namen des Severus Sulpicius trägt[13], und bis 511 reicht, nach seiner Ansicht aber wahrscheinlich erst 733 in Südgallien verfaßt ist; nicht unwichtig für die westgothische Geschichte von 450 bis 500. Er findet außerdem ihre Spuren bei Isidor, Marius, Jordanis, und in Verbindung mit den Ravennater Fasten bei Gregor[14] und in der Fortsetzung des Prosper bis 641. Gregor hat außerdem noch Annalen benutzt, welche wahrscheinlich aus Angers stammen, und burgundische, welche auch Marius hatte, und deren Verwerthung bei beiden ihre Uebereinstimmung erklärt, wie W. Arndt nachgewiesen, und Monod, welcher früher Benutzung des Marius bei Gregor angenommen hatte, ihm zugegeben hat.
[102] Der Bischof Marius von Avenches, ein Zeitgenosse Gregors, ist zu erwähnen, als Verfasser einer Fortsetzung des Prosper, oder vielmehr des Chronicon imperiale (oben S. 82) bis 581. Marius scheint ein vortrefflicher Mann und exemplarischer Bischof gewesen zu sein, dazu ein geschickter Goldschmidt, welcher kunstreiche Geräthe für seine Kirche selbst verfertigte. Im Jahre 530 oder 531 aus edlem Geschlecht im Sprengel von Autun geboren, wurde er 574 Bischof der alten Römerstadt Avenches, welche sich von der Zerstörung durch die Alamannen niemals recht erholt hatte, und deshalb verlegte er den Sitz des Bischofs nach Lausanne, wo er am 31. December 594 gestorben ist[15].
In seiner Schulbildung stand er nicht höher als Gregor. Es verdient Anerkennung, daß er in dieser Zeit den Versuch machte, die Weltchronik fortzusetzen, aber dürftig genug ist der Versuch ausgefallen. Er besaß ein Exemplar der Ravennater Fasten, mit annalistischen Notizen aus Arles vermehrt, und benutzt, ihnen folgend, die Consulreihe, zu welcher er die Indictionen hinzufügt, später die Jahre p. c. Basilii und die Regierungsjahre Justins II und Tiberius II, als einzige brauchbare Chronologie; inmitten der vorübergehenden und durch innere Kriege erschütterten neuen Reiche ist ihm die „res publica“ das einzig bleibende, und ganz außerhalb ihres Bereiches, scheint er doch die Kaiser als die wahren Herren der Christenheit zu betrachten. Uebrigens berichtet er doch vorzüglich die ihn näher berührenden Vorgänge des burgundischen und des fränkischen Reiches, und was er mittheilt, hat für uns großen Werth. Bis 467 lassen sich bei ihm (nach W. Arndt) die Annalen von Arles, bis 526 die Ravennater verfolgen. Vom Jahre 500 an schöpft er aus burgundisch-fränkischen Annalen, vielleicht bis 570 oder 571. Endlich nimmt Arndt noch „byzantinische, wohl in Mailand verfaßte Annalen“ an, welche bis 568 nachweisbar wären, und auch von Marcellin benutzt.
Verbunden mit diesen Annalen ist ein Anhang von 581 bis 624, welcher mit Unrecht von Brosien verdächtigt[16], von G. Monod [103] in Schutz genommen ist[17], in Uebereinstimmung mit G. Kaufmann[18] und H. Hertzberg[19]. Nach letzterem ist der erste Theil desselben aus Isidor entnommen; der zweite ist original, erzählt in fließender Darstellung, und geht bald völlig in die fränkische Geschichte über. Dieser Anhang wäre benutzt in der Fortsetzung des Isidor bis 636 im Cod. Urbinas, und diese wieder in der Fortsetzung des Prosper bis 641. Vollständig aufgenommen ist er in der Fortsetzung des Isidor von 1017 (MG. SS. XIII, 261).
Im burgundischen Reiche ist ebenfalls schon in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts die Vita sanctorum abbatum Agaunensium (von St. Maurice im Wallis) geschrieben, welche W. Arndt nach einer Abschrift des Jesuiten P. Fr. Chifflet herausgegeben hat[20]. Ist hier nun auch der Text vielleicht etwas geglättet, so zeigt doch der ganze Periodenbau noch eine anspruchsvolle Schulbildung, und sowohl die halb in Prosa aufgelöste Grabschrift des Tranquillus c. 10, wie die Distichen auf Ambrosius c. 12 zeigen metrisches Verständniß[21], während die Verse auf Probus S. 3 geradezu jeder Metrik hohnsprechen. Demselben Jahrhundert gehört das Leben eines Einsiedlers an, des Hostianus, welcher ein Verwandter des Königs Sigismund war; geschichtliche Thatsachen sind aber nicht daraus zu entnehmen[22].
Nach Gregor versiecht im Frankenreich die geschichtliche Aufzeichnung der Begebenheit fast völlig, und nur in Burgund entstehen noch Schriften, welche uns über die folgenden Zeiten dürftige Kunde gewähren[23].
[104] Ausgabe v. Br. Krusch, MG. SS. Rer. Merov. II. 1888, vgl. Br. Krusch, Die Chronicae des sog. Fredegar, NA. VII, 247-351. 421-516. Auszug des fünften Buches in Giesebrechts Uebersetzung des Gregor. II, 265-281. Die Chronik-Fredegars (Buch 6) und der Frankenkönige übersetzt von Otto Abel, Berl. 1849. 1876. 1888 mit d. Forts. (Geschichtschr. 11. VII, 2). Ebert S. 606. Palacky, Ueber den Chronisten Fredegar und seine Nachrichten von Samo. Jahrb. des Böhm. Museums I, 387-413. Herm. Brosien, Kritische Untersuchung der Quellen zur Gesch. Dagoberts I, Gött. 1868. Alfr. Jacobs, Géographie de Frédégaire, de ses Continuateurs et des Gesta Francorum, Paris 1859. G. Monod, Revue Crit. 1873 N. 42. Ders. Du lieu d'origine de la chronique dite de Frédégaire, im 3. Bd. d. Jahrb. f. Schweiz. Gesch. 1878. Ders. Sur un texte de la compilation dite de Fr. relatif à l'établissement des Burgundions dans l'empire Romain, in: Mélanges publiés par l'École des hautes études, 1878 (NA. IV, 418), Abdr. des cod. 10910, von Monod besorgt, Bibl. de l'École des hautes études. fasc. 63. Paris 1885. Facs. v. Harl. 5251 im Catal. of anc. Mss. pl. 52; des cod. Clarom. im Album pal. pl. 13, wo H. Omont 678 berechnet.
Das einzige Geschichtswerk, welches uns aus dem siebenten Jahrhundert aufbewahrt ist, trägt den Namen des Scholasticus Fredegar; aber dieser Name findet sich nur bei J. Scaliger im Jahre 1598 und in den Antiquités Gauloises et Françoises von Claude Fauchet 1599, in den uns erhaltenen Handschriften dagegen nirgends[1]. Doch ist es zweckmäßig ihn beizubehalten, wie ja auch allgemein üblich ist. Allein durch die scharfsinnigsten Untersuchungen hat Bruno Krusch, gestützt auf die früher noch nicht bekannt gewordenen Kapitel des Liber generationum, der ganzen Untersuchung über den räthselhaften Schulmeister eine neue Wendung gegeben, und unter seinem kritischen Messer hat das scheinbar einheitliche Werk sich in ganz verschiedene Bestandtheile aufgelöst.
Zunächst treten uns Annalen entgegen, die in Burgund, im „pagus Ultrajoranus“, vielleicht in Avenches, von wo Marius nach Lausanne fortgezogen war, bis in den Anfang des 7. Jahrh. fortgeführt wurden, und deutlich zu erkennen sind in der Compilation eines Aventicensers, welcher im J. 613 dieselben bis auf seine Zeit fortsetzte[2], und um den Zusammenhang der Weltgeschichte zu gewinnen, den im J. 235 von Hippolyt verfaßten Liber generationis[3] und einen Auszug aus Hieronymus und Idacius voranstellte[4]. Seine [105] Arbeit reicht bis zum 39. Cap. des sog. Fredegar, und dieser Anfang gewinnt also durch diese Entdeckung bedeutend an Gewicht. Der eigentliche Fredegar aber, von welchem man bisher allgemein annahm, daß er vor dem J. 660 nicht geschrieben haben könne, nahm, wie Krusch jetzt das ganz überzeugend nachgewiesen hat, im J. 642, bis wohin er seine Arbeit geführt hat, das ältere Werk vor; auch er war in derselben Gegend heimisch. Er versah die beiden ersten Bücher mit Anhängen, und fügte einen Auszug aus den, ihm allein bekannt gewordenen, sechs ersten Büchern des Gregor von Tours hinzu[5], nicht ohne Einmischung von allerlei Fabeln, namentlich im dritten Buche nach dem wirklichen Idatius jene über die Vorzeit der Franken, von welchen Gregor noch frei ist, die uns aber von nun an aller Orten begegnen, und bald weiter ausgesponnen wurden: Erzeugnisse einer kindischen Gelehrsamkeit und kecker Erfindung, echter Sage völlig fremd, die aber nach und nach bei Halbgelehrten und Ungelehrten Eingang fanden[6].
Für die Fortführung der Geschichte benutzte Fredegar eine Relation über das inhaltreiche Jahr 613, wie man wegen des genauen Berichtes Cap. 40-44 annehmen muß, und erzählte treu, wenn auch mit geringem Geschick, was er erlebt hatte.
Dasselbe nun, was Fredegar, für seine Zeit und Bildung gut genug, geleistet hatte, versuchte um 658 ein dritter Bearbeiter, ein Austrasier, den Krusch vermuthungsweise nach Metz setzt; er ergänzte das Werk durch einen Auszug der Vita Columbani, und fügte verschiedene Supplemente über austrasische, westgothische, oströmische Geschichte, auch über Samo hinzu; von ihm muß auch der Absatz vom Schluss des Cap. 84-88 mit entschieden austrasischem Charakter herrühren. Seine Zuthaten sind es, welche früher zu der Annahme führten, das ganze Werk könne nicht vor 660 geschrieben [106] sein. Eine weitere Fortsetzung aber hat er nicht zu Stande gebracht.
Wie nun später diese Sammlung fortgesetzt, vermehrt und umgestaltet ist, werden wir noch zu betrachten haben. Unbehülflich und dürftig war diese Schriftstellerei, aber es kommt auch Fredegar gar nicht in den Sinn, große Ansprüche zu machen; er empfindet lebhaft den traurigen Zustand der Zeit, und sieht nach der damals herrschenden Vorstellung das Ende der Welt als nahe bevorstehend an. „Wir stehen jetzt im Greisenalter der Welt, sagt er; darum hat die Schärfe des Geistes nachgelassen, und niemand vermag es in dieser Zeit den früheren Schriftstellern gleichzukommen.“ Sich selbst legte er nur einen bäurischen und ganz beschränkten Sinn bei[7], und diese rührende Bescheidenheit sollte wohl den Spott über den ehrlichen Mann entwaffnen, welcher mit aller Anstrengung geleistet hat, was er vermochte, und der sich dadurch um die Nachwelt ein unsterbliches Verdienst erworben hat.
Merkwürdig wäre es allerdings, wenn Fredegar wirklich einer Schule vorgestanden hätte; denn seine und seiner Genossen Kenntniß des Lateinischen war unglaublich gering, seine Sprache ist über die Maßen barbarisch, aber freilich nicht verschieden von derjenigen, welche wir auch in den Urkunden der Zeit, und in Italien bis ins elfte Jahrhundert finden. Entschieden falsch ist es, wenn man diese Sprache als die des romanischen Volkes bezeichnet, sie kann nie gesprochen worden sein. Alle Flexionsendungen sind nämlich darin vorhanden, sie werden aber nur noch aus Convenienz gebraucht, da das Gefühl für ihre Bedeutung sich fast ganz verloren hat[8]. Das Volk wirft in solchem Falle die Endungen ab, und bildet sich neue; nur wer gelehrt scheinen will, braucht sie noch, ohne aber ihre Bedeutung recht zu kennen. Treffend vergleicht einmal Kausler diese Schreibart mit schriftlichen Aufsätzen, die einer aus der niederen Klasse in der Sprache der Gebildeten, welcher er nicht recht mächtig ist, niedergeschrieben hat. Wir finden sie deshalb nur da, [107] wo die Volksprache der lateinischen noch nahe genug stand, daß man lateinisch schreiben konnte, ohne es schulgemäß erlernt zu haben, besonders in Italien, wo sich ein solches Kauderwelsch bei den Notaren am längsten erhielt. Dort zeigt es sich auch deutlich, daß die Schreiber weit davon entfernt waren, in der Volksprache schreiben zu wollen, denn mitten in solchen Urkunden kommen Zeugenaussagen in ausgebildetem Italienisch vor.
Fredegar stand übrigens mit seinem Latein durchaus nicht allein unter der fränkischen Geistlichkeit des siebenten Jahrhunderts; das zeigt uns das Leben des um 665 verstorbenen Wandregisil, des Stifters von Fontenelle, welches W. Arndt genau nach der schönen Uncialhandschrift hat abdrucken lassen, die der Abfassung sehr nahe stehen muß und gewiß mit aller Sorgfalt geschrieben ist[9]. Hat doch jetzt G. Waitz nachgewiesen, daß auch noch Paulus Diaconus nicht viel anders schrieb, und Jordanis und Gregor von Tours scheinen ebenfalls schon auf diesen Weg geführt zu haben.
Wiederum verging nach Fredegar mehr als ein halbes Jahrhundert, in dem, außer einigen Heiligenleben, unter denen jedoch mehrere nicht gering anzuschlagen sind, das ganze Frankenreich keine Spur von Geschichtschreibung darbietet. Erst in den letzten Zeiten der Merovinger, als in Austrasien schon die ganze litterarische Thätigkeit dem aufstrebenden Geschlecht der Hausmeier sich zugewandt hatte, wurde in Neustrien ein Werk verfaßt, welches sich Gregor und Fredegar anschließt, und in seiner Armseligkeit dem Zustande des absterbenden Reiches vollkommen entspricht. Es ist daher auch kaum möglich anzunehmen, daß bei den darin Cap. 44 angeführten scriptores, wie Krusch S. 217 annimmt, an wirkliche Geschichtschreiber zu denken ist; mit Recht hebt Kurth hervor, daß mit dem ganz unbedeutenden Chlodwig II sich nicht mehrere Geschichtschreiber beschäftigt haben werden, dagegen in Saint-Denis, wo er ihrem Heiligen einen Arm genommen hatte, verschiedentlich über ihn geschrieben sein mag.
Gesta Francorum, Bouquet II, 580. Migne XCVI, 1421 aus Duchesne. Neue Ausg. unter dem Titel Liber historiae Francorum von Br. Krusch, SS. Merov. II, 215-328. Vgl. Cauer, De Karolo Martello, Berol. 1841, p. 11-28. Brosien p. 41-44. Breysig, Karl Martell S. 112. G. Monod, Les Origines de l'historiographie à Paris (Mémoires de la Société de l'histoire de Paris et de l'Ile de France, Tome III, p. 219-240). G. Kurth, Etude crit. sur le Gesta Rerum Francorum, Bull. de l'Acad. r. de Belg. 3 sér. t. [108] XVIII (1889) p. 261-291. Auszugsweise Uebersetzung des ersten Theils von W. Giesebrecht, hinter Gregor von Tours II, 282-302. Vollständig von 639 an, von Abel, hinter Fredegar, s. oben → S. 104.
Die Anfänge, die Herkunft und die Thaten des Frankenvolkes und seiner Könige will ich erzählen — so beginnt nicht ohne Kühnheit der Verfasser sein Werk, aber genannt hat er sich nicht, und obgleich er für seine Zeit außerordentliches leistete und im ganzen Mittelalter sein Buch viel gelesen wurde, so hat doch niemand seinen Namen uns überliefert. Ohne Zweifel war er ein Neustrier. E. Cauer glaubte, wegen der besonderen Verehrung, mit welcher er des heiligen Bischofs Audoenus gedenkt, daß er der Kirche zu Rouen angehört habe[1], und dieser Ansicht hat auch Krusch sich angeschlossen, und einige Stellen für seinen Aufenthalt in dieser Gegend geltend gemacht. Die von G. Monod aufgestellte Vermuthung, daß der Verfasser ein aus Spanien geflüchteter westgothischer Mönch in Paris gewesen sei, kann wohl als ausreichend widerlegt betrachtet werden, aber seine Beziehungen zu Paris sind auch von Kurth wieder schärfer betont; er hält ihn für einen Mönch von Saint-Denis. Seine Heimath vermuthet er in der Gegend von Laon und Soissons, von wo er allerlei zu berichten und Oertlichkeiten zu nennen weiß.
Neustrien ist das Land, von dem der Verfasser des liber historiae berichtet; Austrasien erwähnt er nur gelegentlich, er liebt es nicht, und von dem Neuen, was sich dort bildet, ist er unberührt; während man in Austrasien wenig mehr von den Merovingern weiß, sie in den Annalen kaum noch nennt, stehen sie bei ihm überall im Vordergrunde. Er gehört ganz der alten Zeit an, und bezeichnet durch seine den Fredegar weit übertreffende Dürftigkeit und Armuth den fortgehenden Verfall, wenn auch sein Latein weniger barbarisch ist. Dafür aber fehlt ihm auch die gelehrte Belesenheit Fredegars. Er hat für die alte Zeit, außer dem Prologus legis Salicae[2], nur eine Quelle, die ersten sechs Bücher Gregors, und hierauf gestützt unternahm er es im sechsten Jahre Theuderichs IV d. i. im Jahre 727[3], die Geschichte seines Volkes zu schreiben. Mit mageren Auszügen aus Gregor verbindet er wie Fredegar die halb volksthümlichen, halb gelehrten Sagen über die Anfänge der Franken; dann fährt er selbständig fort, nicht Jahr für Jahr berichtend, sondern in kurzen Umrissen, [109] wie sie sich allenfalls durch mündliche Ueberlieferung erhalten konnten. Fredegars Chronik war ihm nicht bekannt, und soweit diese reicht, ist sein Werk kaum zu benutzen; dann aber ist es für lange Zeit die einzige zusammenhängende Erzählung, welche wir besitzen, und wie er seiner eigenen Zeit näher kommt, wird seine Darstellung, wenn sie gleich immer dürftig bleibt, doch zuverlässig. Die besseren Heiligenleben, aus denen einzelne Abschnitte sich ergänzen lassen, bestätigen seine Angaben.
Wenige Jahre nachher, noch bei Lebzeiten Theuderichs IV, der 737 gestorben ist, hat ein Austrasier eine neue Bearbeitung dieses Buches (B) unternommen, welches er für ein Werk Gregors von Tours hielt und dem er daher den Titel gab „Liber sancti Gregorii Toronis episcopi gesta regum Francorum“. Daher der gewöhnliche Titel, an welchem man als an einem gewohnten und allgemein verständlichen wohl auch ferner festhalten wird. Der Verfasser ergänzte einiges aus Gregors Geschichte, auch aus Isidor; schon 736 wurde dazu eine Fortsetzung geschrieben, welche wir nur in überarbeiteter Gestalt als erste Fortsetzung des Fredegar kennen.
Damit ist nun die Zahl der merovingischen Historiker erschöpft, denn die Thaten Dagoberts[4] sind eine unzuverlässige Compilation aus dem neunten Jahrhundert, von einem Mönch zu Saint-Denis verfaßt, um das Kloster und seinen Stifter zu verherrlichen, mit Benutzung sowohl mündlicher Tradition als auch der vorhandenen Urkunden, unter welchen schon falsche sich befanden. Hat man früher sie in das Ende des neunten Jahrhunderts gesetzt[5], so weist dagegen Krusch (S. 396) nach, dass sie 835 schon vorhanden war. Entschiedener hat Julien Havet ihre Glaubwürdigkeit in Schutz genommen, natürlich abgesehen von den nur wiedererzählten Fabeln, vorzüglich in Bezug auf die Thatsache, daß wirklich Dagobert I, wenn auch bei Lebzeiten seines Vaters, das Kloster gestiftet hat, während Mabillon eine viel frühere Stiftung annahm[6].
Der so viel benutzte und oft angeführte Aimoin aber ist gar [110] erst aus dem Anfange des elften Jahrhunderts und ohne allen Werth. Es war die Roheit der Form, welche zur neuen Bearbeitung trieb, wie Aimoin ausdrücklich sagt, und aus demselben Grunde zog man später diese Bearbeitungen vor. Für geschichtliche Untersuchungen aber darf man sich auf Aimoin so wenig wie auf den noch späteren Rorico berufen[7].
Actenstücke, Gesetzbücher und Formeln[8] liegen unserer Aufgabe fern, aber gedenken müssen wir doch der Briefe, welche theils einzeln und ihrer besonderen Wichtigkeit wegen, theils, und vorzüglich, in Sammlungen, die als Muster gebraucht wurden, sich erhalten haben. Für diesen Zeitraum schließen sie sich an die berühmten Namen der Bischöfe Avitus von Vienne, Remigius von Reims, Desiderius von Cahors[9]. Von besonderer Wichtigkeit ist die Sammlung der Epistolae Austrasicae, welche, mit einigen Schreiben des Remigius beginnend, in großer Zahl amtliche Correspondenzen der Könige Sigebert und Childebert II (bis 585) enthält, und zwar nach Concepten, so daß die Entstehung nothwendig in der königlichen Kanzlei zu suchen ist. Hier hatte der von Fortunat besungene Gogo gewirkt, gefeiert als ein neuer Cicero wegen seiner Beredsamkeit, Vorsteher der Hofschule und aus weiter Ferne aufgesuchter Lehrer; zweimal wird er als Concipient genannt. In der kritisch gereinigten Ausgabe von Gundlach, der ersten seit Freher, werden diese Briefe erst recht benutzbar sein[10].
[111] Sehr eigenthümlicher Art ist die Correspondenz zwischen einem Bischof Frodebert, vermuthlich von Tours, und Importunus von Paris (um 666), welcher jenem u. a. vorwirft, daß er des Hausmeiers Grimoald Frau entführt habe. In höchst barbarischem Latein verfaßt, aber durchgehends gereimt, können diese Schmähschriften unmöglich als wirkliche Briefe betrachtet werden, sind aber um so merkwürdiger als ein boshaftes Pasquill des 7. Jahrhunderts[11].
Von jenen halb verklungenen, halb durch Zuthaten der Schulgelehrsamkeit entstellten Stammsagen der Franken finden sich Spuren auch in dem schon früher (S. 90) erwähnten Prolog des Salischen Gesetzes, und an diesen erinnert ein seltsames Werk des siebenten Jahrhunderts, die poetische Weltbeschreibung eines ungenannten Verfassers, der in ganz ähnlicher Sprache und Weise einige Capitel des Isidor in Verse brachte, und nur über die Franken einige selbständige Zusätze anbrachte, in denen sich das stolze Selbstgefühl jenes Prologs wieder erkennen läßt[12]. Es sind dreizeilige Strophen mit sehr ungenauen Endreimen, rhythmische Langzeilen von 15 Silben mit einer Caesur nach der achten Silbe, eine in jener Zeit häufige Form. Für den Verfasser dieses Kunstwerkes hält Dümmler denselben Theodofridus, welcher ein anderes, nicht minder rohes Gedicht über die 6 Weltalter verfaßt hat; beide sind von demselben Winitharius abgeschrieben; auch einen dritten, chronologischen Rhythmus vom J. 718 fügt er hinzu. In Theodofrid aber erkennt er den ersten, bald nach 657 aus Luxeuil gekommenen Abt von Corbie, welcher um 681 Bischof wurde, wahrscheinlich von Amiens[13].
[112] Höchst eigenthümlich ist eine andere Dichtung, die vielleicht ebenfalls noch dem siebenten Jahrhundert angehört, nämlich ein Lied, welches sich auf Chlothars II Sieg über die Sachsen i. J. 622 (?) bezog, wovon uns aber leider nur ein kleines Bruchstück erhalten ist. Es bestand ebenfalls aus je drei gereimten Zeilen, die aber iambischen Rhythmus haben und je vier Hebungen enthalten. Der eigentliche Held des Liedes ist der heilige Faro, Bischof von Meaux, welcher die Gesandten der Sachsen gegen die beabsichtigte Ermordung von Seiten des Königs beschützt hatte, und ihm zu Ehren wurde nach dem Zeugniß des Biographen des h. Faro, Bischof Hildegars, der zu Karls des Kahlen Zeit schrieb, dieses Lied allgemein von Männern und Frauen zum Tanze gesungen[14].
Ein anderes, noch weit merkwürdigeres Lied glaubte Lenormant entdeckt zu haben[15], ein historisches Volkslied des sechsten Jahrhunderts zur Feier von Childeberts I Feldzug gegen Saragossa i. J. 542. Dieses sollte nämlich paraphrasiert sein in dem Leben des h. Droctoveus, ersten Abtes von St. Germain-des-Prés, einer Stiftung jenes Childebert, und sich daraus zum Theil wieder herstellen lassen. In der That erinnern Ausdrücke darin, wie torrens pulchritudinis[16], an jene alte fränkische Poesie, und es ist nicht unmöglich, daß wirklich die Spur eines alten Liedes darin zu erkennen ist; im übrigen aber ist die Erzählung von der angeblichen Erwerbung der Stola des h. Vincenz auf jenem Feldzuge ganz den „Thaten der Franken“ entnommen, und deshalb die Herstellung jenes Liedes aus den Worten der Lebensbeschreibung ein verfehltes Unternehmen.
Außer den bis jetzt erwähnten Geschichtswerken ist uns aus der Zeit der Merowinger noch eine bedeutende Menge von geschichtlichem Material erhalten in den Legenden der Heiligen, deren Zahl in diesen Zeiten außerordentlich groß ist. Die meisten von ihnen sind kirchliche Würdenträger und dadurch auch in die weltlichen Händel verflochten; ihre Lebensbeschreibungen würden unschätzbar sein, wenn sie nicht erstlich zu ausschließlich bloße Lobreden [113] wären, und namentlich die weltlichen Beziehungen der Heiligen nur ganz oberflächlich berührten, zweitens auch zum größten Theile in späterer Zeit verfaßt wären[1]. Auch wo eine wirklich gleichzeitige Aufzeichnung vorhanden war, besitzen wir doch häufig nur eine spätere Ueberarbeitung; noch weit häufiger aber hat man das Leben des Heiligen erst später nach unsicherer Ueberlieferung beschrieben und wenige bekannte Züge zu einer ausführlichen Geschichte ausgemalt. Natürlich wurden dann die Vorstellungen der späteren Zeit auf diese schon weit entlegene Vergangenheit übertragen, und die unkritische Benutzung solcher Quellen trägt einen großen Theil der Schuld an den falschen Ansichten, welche bis auf die jüngste Zeit über die Zeit der Merowinger herrschend waren.
Der 5. Ausgabe dieses Buches war ein alphabetisches Verzeichniß aller dieser Legenden mit möglichst vollständigem Nachweis der Litteratur, von Br. Krusch, beigegeben; schon ein Blick darauf genügt, um zu zeigen, wie fern die große Mehrzahl unserm Zwecke liegt, während allerdings für vollständige Durchforschung der Merowingerzeit alle wenigstens geprüft werden müssen. Auch für die MG. kann nur eine Auswahl in Betracht kommen, und jede Berührung zeigt, wie viel hier noch für die Kritik zu thun ist. Br. Krusch hat die von Venantius Fortunatus herrührenden Legenden herausgegeben und die ihm fälschlich zugeschriebenen damit verbunden; SS. Meroving. II blieb noch Raum für die Heiligen, welche der königlichen Familie angehören. Derselbe ist gegenwärtig mit systematischer Durchforschung des übrigen Vorraths beschäftigt, und bevor die Ergebnisse dieser außerordentlich großen und mühsamen Arbeit bekannt werden, ist es besser, sich auf die Hervorhebung einiger der wichtigsten Heiligenleben zu beschränken.
Eine der geschichtlich wichtigsten, die Vita Vedasti († 540) ist schon oben S. 97 erwähnt; das Leben von Chlodwigs Gemahlin Chrothildis[2] († 548) ist aus den Gestis Francorum geschöpft, kaum vor dem zehnten Jahrhundert geschrieben und geschichtlich unbrauchbar. Von Chlodovald (Saint Cloud, † c. 550), einem Sohne Chlodomirs, den seine Großmutter vor dem Schicksal seiner gemordeten Brüder bewahrte und der dann ein frommer Priester wurde, giebt es eine ganz aus Gregor geschöpfte Lebensbeschreibung; eine zweite, im zehnten Jahrhundert in St. Cloud verfaßte[3] ist werthlos. Nicht so inhaltlos, wenn auch hauptsächlich Wundergeschichten [114] berichtend, ist das von Fortunat beschriebene Leben des Bischofs Germanus von Paris[4] († 576). Des Lebens der h. Radegunde († 587) wurde schon oben S. 92 gedacht. Von der Passio des Bischofs Desiderius von Vienne († 608) ist erst kürzlich die älteste Fassung aus dem siebenten Jahrhundert bekannt geworden[5]. Durch ziemlich gleichzeitige Entstehung und noch unverfälschte Ueberlieferung ausgezeichnet ist die erst kürzlich wieder aufgefundene älteste Lebensbeschreibung des Bischofs Gaugerich von Cambrai († zw. 623 u. 629), welche manche culturgeschichtlich wichtige Züge und auch geschichtlich brauchbare Nachrichten bietet[6]. Arnulf und Gertrud werden weiter unten noch zu erwähnen sein. Zu den geschichtlich wichtigsten gehört wegen der Gleichzeitigkeit und der hervorragenden Bedeutung des Mannes das Leben des Bischofs Desiderius von Cahors († 654)[7].
Von ausgezeichnetem Werth sind die Lebensbeschreibungen von drei Männern, welche in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts auch politisch bedeutend hervortreten, Eligius (St. Eloy, † zw. 659 und 665), zuletzt Bischof von Noyon, besonders hervorragend als kunstreicher Goldschmidt, und deshalb auch Schutzpatron dieser Künstler[8], Audoenus (St. Ouen, † 683), Bischof von Rouen, sein Freund und Biograph[9], Leodegar (St. Léger, † 678), Bischof von Autun[10], nur ist der kritische Zustand dieser Werke bis jetzt noch ein wenig befriedigender. Zu diesen nicht gering zu schätzenden Leistungen des siebenten Jahrhunderts gehört auch noch das Leben der Balthildis, der Gemahlin Chlodwigs II[11] († c. 680), der Stifterin von Corbie an der Somme und von Chelles, wo wahrscheinlich diese Schrift zur Feier ihres Andenkens verfaßt ist. Wie elend dagegen das in viel späterer Zeit im Kloster Sathonay geschriebene Leben Dagoberts III[12] († 716), den aber der Verfasser für den [115] Zweiten hält, ausgefallen ist, das möge man in dem Vorwort von Krusch nachlesen. Es hat nur dadurch eine relative Bedeutung, dass es von Theofrid von Echternach und von Alberich als Quelle benutzt worden ist. In Betreff des Lebens der h. Odilia († c. 720) ist nur zu warnen vor den als Fragmente eines angeblich ältesten Lebens veröffentlichten Fragmenten, welche eine Fälschung Vigniers sind, während die echte Vita doch auch nicht älter als das zehnte Jahrhundert ist und geringen Werth hat[13]. Von den Lütticher Heiligen Hubert und Lambert wird weiter unten die Rede sein.
Zunächst aber wollen wir uns hier noch einer Betrachtung derjenigen Legenden zuwenden, welche eine nähere Beziehung auf Deutschland haben und die erneute Pflanzung des Christenthums auf deutschem Boden berühren.
Die Franken haben sich damit nicht viel befaßt; es kümmerte sie wenig, daß so viele ihrer Landsleute noch Heiden waren; im alten Frankenlande an der Schelde fand noch im siebenten Jahrhundert Amandus viel Heidenthum auszurotten[14]. War doch bei den christlichen Franken selbst nicht viel mehr als die äußere Form der Rechtgläubigkeit übrig geblieben; fromme Männer fanden zu Hause Spielraum genug für ihre Thätigkeit. Die Mission finden wir daher in diesen Jahrhunderten fast ausschließlich in den Händen Schottischer, d. h. nach dem Sprachgebrauch des früheren Mittelalters Irländischer Mönche, welche damals alle Länder durchzogen. In dieser Insel, welche allein ihre keltische Bevölkerung ungemischt bewahrt hatte, die allen fremden Welthändeln ferne lag, war das Christenthum mit dem hingebendsten Eifer aufgenommen worden, und hier war bald nicht nur die strengste, mönchische Frömmigkeit, sondern auch eine ernstliche wissenschaftliche Thätigkeit zu Hause; während im ganzen Abendland die gelehrte Bildung unterzugehen und zu verschwinden drohte, fand sie hier sorgsame Pflege[15] freilich nur im Dienste der Kirche. Man schrieb die heiligen Schriften ab, man lernte, um sie zu verstehen, lateinisch und griechisch, man beobachtete die Sterne, um die kirchlichen Feste berechnen zu können, man übte die Musik für den Gottesdienst, baute Kirchen und Glockenthürme, man schmückte die Bücher der Kirchen mit kunstreicher Malerei und ihre Altäre mit köstlichen [116] Gefäßen. Doch auch die profanen Schriftsteller erschienen hier nicht, wie in Italien, gefährlich; freilich sind die Columban zugeschriebenen Gedichte, worin die alten Dichter viel benutzt und angeführt werden, von zweifelhafter Echtheit. Vorzugsweise aber äußerte sich die Frömmigkeit dieser Mönche in weiten Pilgerfahrten, in dem Verlassen der Heimath, um in entlegener Fremde als Einsiedler zu leben oder Klöster zu gründen, um unter Christen und Heiden das Evangelium zu predigen[16]. Das Frankenreich war erfüllt von ihnen: was gäben wir darum, wenn sie aufgeschrieben hätten, was sie sahen; wenn sie uns über ihre Thätigkeit und ihre Schicksale zuverlässige Berichte hinterlassen hätten! Allein das lag ihnen ferne; sie, die Meister im Schreiben, hatten für geschichtliche Aufzeichnungen keinen Sinn, und nur wo sie so bedeutend wirkten, daß dauernde Gründungen ihr Gedächtniß bewahrten, hat ihr Andenken sich erhalten. Aber in völlig nebelhaften Umrissen würde ihr Bild uns verschwimmen, wenn nicht glücklicher Weise einer von ihnen, und wohl von allen der hervorragendste, in Italien einen Biographen gefunden hätte. Das ist S. Columban, der Stifter von Bobio[17].
[117] Nach der Gewohnheit dieser Schottenmönche zog Columban, gebürtig aus Leinster, gegen das Ende des sechsten Jahrhunderts[18] mit zwölf Gefährten aus von dem Kloster Benchuir oder Bangor; staunend und tief ergriffen lauschte das Volk im Frankenreiche ihrer feurigen Beredsamkeit, die entartete Geistlichkeit aber scheute die strengen Bußprediger und fürchtete ihren Einfluß auf die Menge. Die Könige dagegen nahmen sie willig auf, ihr Eifern gegen die ganz verfallene Kirchenzucht war ihnen willkommen und auf Childeberts Wunsch ließ Columban sich mit seinen Begleitern in den Vogesen nieder; zahlreiche Schüler strömten ihnen zu, und bald erhoben sich Klöster in der Wildniß, vor allem Luxeuil. Es waren dies nicht großartige Gebäude, wie in der späteren Zeit, sondern wie einst S. Severins Ansiedelungen Haufen unscheinbarer Hütten, in deren Mitte eine kleine Kirche sich erhob; neben ihr der runde Thurm, der die Glocken trug, und im unteren Geschoß, von der Erde nur auf Leitern zugänglich, eine Zuflucht in Zeiten der Gefahr darbot.
Aber Columbans Feuereifer schonte auch der Könige nicht; keine menschliche Rücksicht konnte ihn bestimmen, zu dem sittenlosen Treiben des burgundischen Hofes zu schweigen, und furchtlos trat er den Ausschweifungen Theuderichs entgegen. Den Bischöfen war er längst zuwider; schon die bloße Anwesenheit dieser Mönche im Lande veranlaßte zu Vergleichungen ihres ascetisch strengen Lebens mit dem lockeren Wandel der merowingischen Prälaten. Die Abweichung der irischen Kirchengewohnheiten von den gallischen und die Unabhängigkeit der Klöster von bischöflicher Aufsicht, welche nach irischer Weise in Anspruch genommen wurde, boten eine Waffe dar; man erklärte sie für ketzerisch, und so vertrieb denn endlich um 610 Brunhilde, deren Zorn er verachtet hatte, den Columban sammt seinen Genossen. Ueber Nantes sollten sie nach Irland geschafft werden, aber ein Sturm warf sie wieder an die Küste; Chlotar II und Theudebert nahmen sie ehrfurchtsvoll auf; hier wählte [118] er zu seinem Aufenthalt Bregenz in Alamannien, wo ungeachtet der Frankenherrschaft und der Bestimmungen des Volksrechts doch das Heidenthum noch stark war. Drei Jahre lang blieb Columban zur Bekämpfung desselben in Bregenz. Dann aber verließ er das Frankenreich gänzlich und wanderte in das Langobardenreich, wo Theudelinde, die Freundin Gregors des Großen, ihn mit Freuden aufnahm. Hier stiftete er nun das Kloster Bobio zur Vertilgung der Reste arianischer Ketzerei, und noch jetzt zeigen die zerstreuten Handschriften dieses Klosters die alten irischen Schriftzüge und Erinnerungen an die Heimath wie die Versiculi familiae Benchuir[19]. Mit vollem Eifer überließen sie sich hier ihrer Lieblingsneigung zum Schreiben, die unverständlich gewordenen Ueberbleibsel der gothischen Litteratur und Fragmente von alten Prachthandschriften der Klassiker benutzten sie, um auf das reingewaschene Pergament die Werke der rechtgläubigen Kirchenväter zu schreiben[20]. Sie retteten jene Pergamentblätter dadurch vom Untergang, und es war auch nicht etwa ein fanatischer Haß gegen die heidnischen Schriftsteller, welcher sie zur Vertilgung derselben antrieb. An Handschriften derselben war damals noch kein Mangel, und sie selber benutzten dergleichen zur Erlernung der Sprache; finden wir doch unter den Schulbüchern zu Bobio auch den Ovid.
Am 21. November, wahrscheinlich im J. 615, ist Columban gestorben. Drei Jahre nach seinem Tode kam Jonas aus Susa in das Kloster Bobio. Dieser beschrieb zuerst, noch auf Veranlassung des Abtes Bertulf, das Leben des Columban, welchem er das Leben seiner Schüler Eustasius und Attala, die ebenfalls als Missionare von Luxeuil ausgingen, folgen ließ; dann des Bertulf, Abtes von Bobio, und der Burgundofara, welche Columban zur Nonne geweiht [119] hatte. Jonas verräth seine italische Herkunft und den Unterricht der Grammatiker durch seine unerträglich schwülstige Schreibart, aber er hat uns außerordentlich schätzbare Nachrichten aufbewahrt. Auf den Wunsch der Königin Balthilde ist er, der inzwischen irgendwo Abt geworden war, auch nach Chalon-sur-Saone gekommen, und hat im Nov. 659 im Reomaenser Kloster auf Verlangen des Abts das Leben des 540 gestorbenen Gründers des Klosters Johannes beschrieben[21].
Einer von jenen ursprünglichen zwölf Gefährten, die mit Columban von Bangor auszogen, war Gallus, in älterer Form Callo, Gallunus, der in Alamannien zurückblieb, als sein Meister über die Alpen zog, und zuerst die Bekämpfung des Heidenthums am Bodensee fortsetzte, später aber als Einsiedler in das wildeste Gebirge sich zurückzog, wo er um die Mitte des siebenten Jahrhunderts gestorben ist. Als dann nach seinem Tode das Grab des Heiligen immer häufiger von irischen Pilgern aufgesucht wurde und immer mehrere von ihnen, sowie auch von den Alamannen, sich hier niederließen, erwuchs aus dem unscheinbarsten Anfang das Kloster St. Gallen, und so wie die kleine Zelle des Gottesmannes der Kern und Anfang dieser reichen Stiftung ist, so schloß sich in gleicher Weise an die Lebensbeschreibung des Stifters[22] die später so bedeutende Litteratur von St. Gallen. In ihrer ursprünglichen Form ist uns diese aber nicht erhalten; sie war nach einer alten Aufzeichnung a Scotis semilatinis corruptius scripta, und enthielt nach Walahfrids Zeugniß häufig die Form Altimannia, welche in der uns erhaltenen ältesten nicht vorkommt[23]. Der Verfasser dieser Biographie war ein Alamanne, welcher die alte barbarisch geschriebene überarbeitet hat; sein Name ist uns aber erst jetzt bekannt geworden[24], [120] indem Fr. Bücheler in dem unglaublich barbarischen metrischen Prolog das Acrostichon erkannte: Cozberto patri Wettinus verba salutis. Wetti also ist es, der 824 nach seiner bekannten Vision gestorben ist, und dem Abt Gozbert (816-837) sein Werk widmete. Es ist daher noch bedeutend jünger als man früher annahm, wenn man auch schon erkannt hatte, daß es erst nach 771 geschrieben war. Mancher merkwürdige, namentlich culturgeschichtlich bedeutende Zug ist darin aufbewahrt, aber erst fast zwei Jahrhunderte nach dem Tode ihres Helden geschrieben, darf diese Biographie, wenn auch eine alte Grundlage vorhanden war, doch nur mit Vorsicht benutzt werden. Vorzüglich auf die Wunder, überhaupt aber auf Verherrlichung des Stifters ist das Bestreben des Verfassers gerichtet; im Anfang benutzt er das Leben Columbans, später nur die Tradition nicht ohne erhebliche chronologische Verstöße. Seine Sprache zeigt gegen die frühere Zeit einen erheblichen Fortschritt, doch ist sie für karolingische Zeit recht roh und fehlerhaft; hin und wieder fällt rhythmischer Klang mit Reimen auf.
Von Columbans Stiftung Luxeuil ging auch das Kloster Granval im Baseler Sprengel aus, und das Leben des ersten Abtes Germanus[25], der um die Mitte des siebenten Jahrhunderts erschlagen ist, wurde bald nachher von Bobolen beschrieben.
Noch andere Klöster Alamanniens und des Elsasses führten ihren Ursprung auf irische Mönche zurück und haben es auch nicht an Lebensbeschreibungen ihrer Stifter fehlen lassen, die aber erst später entstanden und völlig unbrauchbar sind. Merkwürdig ist, daß man in späterer Zeit in diesen Gegenden so gewohnt war, die Begründer der Klöster aus der merowingischen Zeit als Schotten zu betrachten, daß man sie in den Legenden unbedenklich dafür ausgab, wenn auch gar kein Grund dazu vorhanden war; auch Franken, wie Arbogast[26], Trudpert und Landelin[27], erscheinen da als [121] Schotten, und sogar S. Rupert, der Apostel der Baiern, wird ihnen zugezählt.
Freilich sind in Baiern ebenfalls Schotten thätig gewesen, obwohl hier die namhaftesten Missionare Franken waren. Die Kirchengründungen aber entstanden nach irischer Weise in der Form von Klöstern, deren Aebte auch zugleich das bischöfliche Amt verwalteten. So war es in Salzburg, Regensburg und Freising, und die Rivalität zwischen den Bischöfen und den Klöstern von St. Emmeram und St. Peter zieht sich fort bis in die neueste Zeit.
Es ist kaum glaublich, daß nicht im Laufe des siebenten Jahrhunderts einzelne Missionare, Franken und Iren, in Baiern sollten thätig gewesen sein; das Christenthum war äußerlich durch die Frankenkönige eingeführt, aber wenig ins Volk eingedrungen und nach der Lockerung des staatlichen Bandes völlig verfallen, die Herzogsfamilie selbst, heißt es, ungetauft[28]. Da berief der Herzog Theodo i. J. 696 den Bischof Rupert von Worms zu sich, um das kirchliche Wesen einzurichten[29]. Er wurde der Begründer des nun fest und bleibend gepflanzten Christenthums in Baiern, der Stifter von St. Peter in Salzburg, von wo sein Nachfolger Virgil (743 als Abt, als Bischof 767 bis 784), ein Irländer, das Evangelium auch zu den karantanischen Slaven trug[30].
[122] Auch ein fränkischer Bischof, Emmeram von Poitiers, verließ, vermuthlich im Anfang des achten Jahrhunderts, seine Heimath, um auf diesem Felde zu wirken, und sein Grab wurde der Grundstein der Regensburger Kirche; Corbinian, ebenfalls ein Franke, legte den Grund zu der Freisinger Kirche.
Unsere Nachrichten über diese Begebenheiten sind aber leider sehr unzulänglich; für den zuverlässigsten galt der kurze Bericht über S. Rupert, welcher den Eingang der Schrift über die Bekehrung der Baiern bildet, ihm schienen alte Aufzeichnungen zu Grunde zu liegen[31]. Und diese, nämlich die ursprüngliche Form der Vita, glaubte Franz Martin Mayer in einer Grazer Hs. gefunden zu haben, worin freilich von Sprache und Stil des 8. Jahrh. nichts zu spüren ist[32]. Hiergegen aber hat sich J. Friedrich erhoben[33], und aus alten Salzburger liturgischen Büchern nachgewiesen, daß man noch lange im 9. Jahrh. kein Leben Ruperts besaß und daß man den 24. Sept. als seinen Todestag feierte[34]. Nur durch ein Mißverständniß hielt man später den Sonntag, an welchem er gestorben, für den Auferstehungstag. Die Grazer Vita erklärt Friedrich für die aus der Conversio entnommenen Lectionen, beiden aber spricht er allen historischen Werth ab, worin er denn doch wohl etwas zu weit gehen möchte. Denn so frei man auch in der Ausschmückung, ja Erfindung von Legenden verfuhr, man machte doch nicht leicht seinen Heiligen zum Bischof von Worms und setzte seine Ankunft in ein bestimmtes Jahr eines ganz verschollenen Königs, wenn dafür nicht Notizen vorlagen.
[123] Die Legenden von Emmeram[35] und Corbinian[36] sind zuerst vom Bischof Aribo von Freising[37] (764-783), letztere auf Ansuchen des Bischofs Virgil von Salzburg, nach der mündlichen Ueberlieferung verfaßt und von sehr geringem Werthe. Ein anstößiger Umstand darin ist die Reise der beiden Missionare nach Rom; denn erst die Angelsachsen hielten es für nothwendig, sich von dort die Vollmacht zur Missionsthätigkeit zu holen, während vorher den Franken wie den Iren ein solcher Gedanke ganz fern lag, ja selbst Bonifaz noch zu seiner ersten Mission unter den Friesen eine solche Vollmacht nicht eingeholt hat. Später aber galt diese Erlaubniß für so unerläßlich, daß die Legendenschreiber sie auch für die ältere Zeit ganz unbedenklich als selbstverständlich annahmen. Sie erzählen daher eine solche Reise als Thatsache, und nennen den Pabst, der nach ihrer Berechnung der Zeitverhältnisse damals regiert hatte. Die neueren Gelehrten haben dann wieder umgekehrt nach dem Namen des Pabstes die Zeit des Heiligen bestimmt und dadurch die Verwirrung vollständig gemacht; ein Fehler, von dem auch Rettberg nicht frei ist. Daß die Sache sich aber wirklich so verhielt, zeigt sich deutlich an den Legenden, die in ihrer älteren noch erhaltenen Form nichts von einer solchen Reise nach Rom wissen, während sie in den späteren Bearbeitungen eingeschoben ist. Das ist der Fall bei dem heiligen Patricius, bei S. Rupert; auch Gregor von Tours läßt sein späterer Biograph nach Rom reisen.
Denselben Umstand finden wir auch im Leben des heiligen [124] Kilian[38], des ersten bekannten Missionars unter den Ostfranken. Auch er war gegen das Ende des siebenten Jahrhunderts mit mehreren Begleitern aus Irland gekommen, und seine Wirksamkeit ist bezeugt durch die hohe Verehrung seines Namens; wie an S. Gallus Grabe, so scheinen sich auch in Würzburg seine Landsleute zahlreich eingefunden zu haben, und noch jetzt finden wir ihre Spuren in den irischen Schriftzügen der dortigen Handschriften. Die Lebensbeschreibung aber ist erst im zehnten Jahrhundert verfaßt und fast ganz werthlos.
Diese irischen und fränkischen Missionare bereiteten den Boden vor für die Angelsachsen, mit deren Auftreten ihr Stern erlischt. Ihre Pflanzungen waren zu vereinzelt, um sich erhalten zu können, es fehlte ihnen die feste Organisation, durch welche jene so stark waren, und die vereinzelten Mönche konnten sich von Entartung und Verwilderung nicht freihalten. Ihre Eigenthümlichkeiten in Lehre und Gebräuchen brachten sie bald in Streit mit den Angelsachsen, und es ist ferner nicht mehr die Rede von ihnen. Nur als Pilger erscheinen sie noch, geschätzt wegen ihrer strengen Entsagung, wegen ihrer Fertigkeit im Schreiben, und häufig auch noch wegen ihrer Gelehrsamkeit; aber als Missionare finden wir sie nur zur Zeit der Merowinger genannt.
Geschichtliche Nachrichten aus dieser Zeit haben sie selbst uns durchaus nicht überliefert; man sollte meinen, daß ihnen der Sinn für historische Aufzeichnung der Begebenheiten gänzlich fehlte. In der Heimath aber verfaßten sie doch Jahrbücher, deren Anfänge sehr alten Zeiten zugeschrieben werden, und sie mögen wohl nicht ganz ohne Einfluss auf die Entstehung der jetzt im Frankenreiche aufkommenden Klosterannalen gewesen sein, da wir an der Spitze derselben hin und wieder irische Namen finden, doch ist eine irgend erhebliche Betheiligung von Schottenmönchen an den weiteren Aufzeichnungen nicht nachweisbar. Andere Annalen gehen auf Lindisfarne zurück, eine britische Stiftung in England; aber diese sind nicht unmittelbar, sondern über Canterbury ins Frankenreich gekommen, [125] wie denn überhaupt diese Annalen von den Angelsachsen, nicht von den Irländern ihren Anfang nehmen.
Die Schotten stehen in der genauesten Beziehung zu der alten fränkischen Kirche, und gehören mit dieser wesentlich der merowingischen Periode an; sie haben manche Keime gelegt und anregend gewirkt, aber eine neue frische Entwickelung war im merowingischen Reiche und auf dem alten Boden nicht mehr möglich; schon in den letzten Zeiten der Merowinger knüpft sich alles wirklich lebensfähige an das neue Geschlecht der Arnulfinger, und wir beginnen deshalb mit seinem Auftreten einen neuen Zeitraum.
Vom Anfang des achten bis zum Anfang des zehnten Jahrhunderts. [126]
Ausgaben mit Fredegars Chronik. Uebersetzung von O. Abel ebend. und von 735 an bei Einhards Annalen; vereinigt u. nach der neuen Ausg. v. Krusch berichtigt 1888. — Cauer, De Carolo Martello, Berl. 1846. Breysig, De continuato Fredegarii scholastici chronico, Berl. 1849. Oelsner, De Pippino rege, Vratisl. 1853. p. 24-34 De Chronico Fredegarii continuato. Breysig, Karl Martell S. 112. Hahn, Einige Bemerkungen über Fredegar, Arch. XI, 805-840. G. Monod, Revue crit. 1873, I, 153. Br. Krusch, NA. VIII, 495-515.
Das Haus der Karolinger bewies von Anfang an seine Berechtigung zur Herrschaft dadurch, daß es allein im Stande war, das Reich herzustellen, dem weit vorgeschrittenen Verfall Einhalt zu thun und auf neuen Grundlagen ein neues Zeitalter zu begründen. Auch das Wiedererwachen der Geschichtschreibung knüpft sich an sein Auftreten: mit dem Jahre 687, mit dem entscheidenden Siege Pippins, beginnen die Annalen von St. Amand.
Fredegars Chronik war in Burgund, das Buch von den Thaten der Franken in Neustrien geschrieben, in Austrasien fanden beide ihre letzte Bearbeitung und Fortsetzung. Viel ist über die Beschaffenheit dieser, über die Arbeit der verschiedenen dabei thätigen Personen geschrieben worden; ich halte mich jetzt an die Resultate von Br. Krusch, welcher genauer, als zuvor geschehen war, namentlich auch in Bezug auf die Sprache, die Prüfung durchgeführt hat.
Als unter Pippin das Frankenreich in seiner neuen Gestaltung glänzend befestigt war, unternahm es sein Oheim Childebrand, auch für das dauernde Andenken dieser merkwürdigen Begebenheiten zu sorgen. Er ließ ein Exemplar der alten Chronik des Fredegar sorgfältig abschreiben, aber er oder der von ihm Beauftragte begnügte sich nicht mit einfacher Abschrift: er ließ den Liber generationis weg, und setzte an dessen Stelle den Hilarianus de cursu temporum [127] ein, welchen er in seiner Vorlage an anderm Orte fand, und erweiterte die Stammsage im Hieronymus durch ein Excerpt aus Dares Phrygius. An den Fredegar knüpfte er einen Auszug von cap. 43 bis 52 der Gesta Francorum nebst ihrer 736 geschriebenen Fortsetzung; recht mangelhaft gearbeitet und voll chronologischer Verwirrung, aber bereichert mit Zusätzen, welche das Haus der Arnulfinger hervorheben, während er manches wegließ, was das Haus der Merowinger betraf, das ihn nicht mehr kümmerte; anfangs dürftig, dann von erheblichem Werthe. Das ist die sog. erste Fortsetzung (cap. 1-17) bis zur Mitte von cap. 109, an welche bis cap. 117 incl. die zweite (cap. 18-33) sich reiht, innerhalb welcher stilistische Gründe einen Wechsel des Schreibers (nach cap. 109) annehmen lassen. So weit, bis 752, war unter Childebrands Leitung das Werk geführt, da übernahm dessen Sohn Nibelung[1] die weitere Fortsetzung (cap. 34-54), welche uns in noch schlechterem Latein einen schon ausführlicheren, nach Jahren genau geordneten und wohl theilweise gleichzeitig aufgezeichneten Bericht über die königliche Herrschaft Pippins darbietet.
Als vereinzelte sehr schätzbare Notiz reiht sich an diese Fortsetzer des Fredegar eine Aufzeichnung aus Saint-Denis über die Königsweihe Pippins und seiner Söhne (754) durch Pabst Stephan II[2], welche sich am Schluß einer Handschrift von Werken Gregors von Tours befindet, von anderer Hand mit blasserer Dinte geschrieben und offenbar aus einer älteren Handschrift herübergenommen, und Clausula de Pippino genannt wird[3].
[128] So wie das ganze Reich von den Merowingern an die Karolinger überging, so wurde auch die einzige Chronik der Franken zu einer Familienchronik des karolingischen Hauses. Sie gewinnt dadurch gewissermaßen einen officiellen Charakter und damit eine gewisse Glaubwürdigkeit; andererseits leidet sie aber auch an den Mängeln solcher amtlicher Aufzeichnungen. Je näher die Verfasser den Karolingern standen, je besser sie unterrichtet waren, um so mehr hüteten sie sich auch etwas aufzunehmen, was den Machthabern unangenehm war. Es genügt in dieser Beziehung den einen Umstand hervorzuheben, daß die bedeutenden und gefährlichen Unruhen, welche Grifo, Karl Martels Sohn von der Swanhilde, nach des Vaters Tod erregte, und welche dem Verfasser doch unmöglich unbekannt geblieben sein konnten, hier mit gänzlichem Stillschweigen übergangen werden. Ebensowenig ist andererseits von der ganzen Wirksamkeit des Bonifatius und überhaupt von den kirchlichen Angelegenheiten die Rede. Eine vollständige und unparteiische Uebersicht der Begebenheiten darf man daher bei diesen Fortsetzern des Fredegar nicht suchen[4].
Ebenso wenig unparteiisch, zur Verherrlichung der Arnulfinger geschrieben und namentlich in den ältesten Theilen irreführend, übrigens aber aus guten Quellen geschöpft, reichhaltig auch über Grifo, ist die Geschichte von 687 bis 692, welche den Anfang der Annales Mettenses bildet[5], wo bis 768 eine Compilation aus Fredegar u. a. Annalen sich anschließt. Früher gering geschätzt, ist sie von L. Ranke nachdrücklich in Schutz genommen und ihr Werth ins Licht gestellt[6]. Es kommt hinzu, daß das Fragmentum de Pippino duce[7], welches Bonnell für ein schlechtes Excerpt aus den Mettenser Annalen erklärt hatte, in dem Cod. Arundel. 375 [129] saec. XI. des Brit. Museum aufgefunden ist[8] und, da es nun als Quelle anerkannt ist, ein höheres Alter dieser Darstellung verbürgt.
Natürlich ist es, daß man bei fortschreitender litterarischer Bildung bald sowohl an der rohen Form des Fredegar und seiner Fortsetzer, als auch an dem dürftigen Inhalt dieser Aufzeichnungen Anstoß nahm. Zu Karls d. Gr. Zeit entstand eine Compilation, in welcher die Chronik des Beda verbunden ist mit Zusätzen aus Hieronymus, Orosius, Fredegar und seinen Fortsetzern, den Gestis Francorum und Jahrbüchern, die mit den Lorscher große Aehnlichkeit haben, bis 741. Wir werden auf dieses sowie auf andere ähnliche Arbeiten später zurückzukommen haben.
Mit dem kriegerischen Ruhme vereinigte das karolingische Haus, wie es zu einer hervorragenden Stellung damals fast unerläßlich war, auch den kirchlichen. Klosterstiftungen und klösterlich frommer Lebenswandel schmücken ihren Stammbaum mit Heiligen, wie Gertrud und Begga, und auch dem Ahnherrn, Bischof Arnulf von Metz, wurde mit gutem Recht die dankbare Verehrung der Nachkommen zu Theil. Sein Leben ist auch von einem Zeitgenossen beschrieben worden, und was hier über ihn berichtet wird, ist werthvoll, aber dem Verfasser[9], einem der Mönche, welche den h. Romarich nach Metz begleiteten, als er den weltmüden Bischof 629 nach seiner Einsiedelei in Remiremont abholte, hatte begreiflicher Weise wesentlich den Zweck und Gesichtspunkt, seine kirchlichen Tugenden zu preisen[10].
Als Werk eines Zeitgenossen und Augenzeugen schätzbar ist auch das Leben der h. Gertrud, Pippins I Tochter, der Stifterin des Klosters Nivelle, wo sie am 17. März 659 starb. Ganz ohne Grund von Bonnell verdächtigt, ist ihre Lebensbeschreibung von Friedrich in ihrem Werth erkannt, und von Krusch nach einer Handschrift des achten Jahrhunderts herausgegeben[11].
Einige gute Nachrichten enthält auch das noch zu König Pippins Lebzeiten geschriebene Leben des Stifters des Klosters Laubach [130] oder Lobbes, Ermino († 737) vom Abt Anso[12]. Die schon für diese Zeit nicht unwichtige Lütticher Litteratur werden wir später noch zu berühren Anlaß haben.
Ganz unverändert werden uns ausser diesen sehr wenige Legenden erhalten sein; dafür ist ihre Form zu glatt, zu abweichend von den authentischen Denkmälern. Zum Vorlesen bestimmt und gebraucht, mußten sie der zunehmenden Bildung angepaßt werden, und leicht verbanden sich damit Zusätze und Aenderungen, welche auch den Inhalt berührten.
Die zahlreichen Missionen der irischen Mönche vermochten doch nichts dauerndes zu schaffen, und auch in der Heimath konnte diese alte vereinzelte Kirche sich der römisch-englischen Uebermacht nicht erwehren. Sie unterlag überall, aber nicht etwa der äußern Uebermacht allein; in jeder Weise wurden die Angelsachsen ihrer alten Lehrer Meister. In den großen Weltchroniken des Mittelalters finden wir kaum eine Erwähnung von Irland; die Reiche der Angelsachsen aber treten auffallend in den Vordergrund für lange Zeit. Das ist der Einfluß des Beda († 735), dessen Schriften diese Angaben entnommen wurden. Einen Mann wie diesen Beda hat die gesammte irische Kirche nicht hervorgebracht; er war der Lehrer des ganzen Mittelalters. Durch mathematische Kenntnisse haben gerade die Schottenmönche sich ausgezeichnet, auf ihren Unterricht mag ein bedeutender Theil der Gelehrsamkeit Beda's sich, wenn auch nur mittelbar, zurückführen lassen, ihm aber war es vorbehalten, durch die Gediegenheit und Faßlichkeit seiner Lehrbücher für Jahrhunderte in jedem Kloster die Anleitung zu den nöthigen astronomischen Kenntnissen zu geben; wo man es verschmähte, tiefer einzudringen, benutzte man wenigstens seine Ostertafeln als unentbehrliches Hülfsmittel der kirchlichen Zeitrechnung, in welcher durch ihn die für leicht übersichtliche Chronologie so förderliche dionysische Era üblich wurde. Sein Martyrologium ist die Grundlage aller späteren Umarbeitungen; seine kleine Chronik von den sechs Weltaltern (bis 726) war überall bekannt, und die Kirchengeschichte Englands (bis 731) wurde um so eifriger gelesen, weil man hierin den Ursprung der eigenen Kirche erkannte, sowie sie andererseits das Bewußtsein dieser [131] Verbindung wach erhielt[1]. Hatten die irischen Missionare nicht durch Frömmigkeit allein, sondern auch durch mancherlei Kenntnisse und Gelehrsamkeit die Bewunderung der Franken erregt, so überragten doch nun die Angelsachsen noch in weit höherem Maße alles, was man bis dahin gekannt hatte.
Ein älterer Zeitgenosse des Beda, ein Northumbrier aus dem Kloster Streoneshalch (Whitby), an Bildung und Wissen ihm weit nachstehend, hat seiner Verehrung für den Begründer des Christenthums in England, Pabst Gregor den Großen, ein merkwürdiges Denkmal gestiftet, indem er, so gut er es vermochte, eine Lebensbeschreibung desselben verfaßte, mit nicht unwichtigen Nachrichten über die Bekehrung seiner Heimath Wundergeschichten und den Preis der Werke Gregors verbindend. Dieses merkwürdige Werkchen ist erst durch P. Ewald in einer alten Sanctgaller Handschrift entdeckt, der wesentliche Inhalt mitgetheilt, und mit grossem Scharfsinn nachgewiesen, dass dieses die von Beda, Paulus Diaconus und Johannes Diaconus benutzte angelsächsische Legende ist[2].
Schon vor Beda hatte auch die angelsächsische Mission begonnen, welche sich hauptsächlich den stammverwandten Sachsen und Friesen zuwandte. Ein charakteristischer Unterschied dieser Mission von der irischen liegt in ihrem Verhältniß zum römischen Stuhl: seitdem S. Augustin, von Gregor dem Großen gesendet, die englische Kirche begründet hatte, war diese in der engsten Verbindung mit Rom geblieben, und von da aus geleitet, wurde die Kirchenverfassung fest und sicher organisirt. Dadurch gewann diese Mission einen ganz anderen Boden, und war nicht der Vereinzelung und der daraus folgenden Verwilderung ausgesetzt, welche den Erfolg der Schottenpredigt auf einzelne Klosterstiftungen beschränkte.
An zuverlässigen Lebensbeschreibungen der älteren unter diesen [132] Glaubensboten fehlt es freilich auch, und ihre Wirksamkeit würde uns in nicht minder zweifelhaftem Dämmerlichte erscheinen, als die der Schottenmönche, wenn nicht die englische Kirche, von der sie ausgingen, in helleren Umrissen vor uns stände, und vor allem Beda uns so manche sichere Nachricht aufbewahrt hätte.
Augustin, der erste Erzbischof von Canterbury, starb um das Jahr 604. Schon sein Schüler Livin soll in Friesland gepredigt haben, seine Lebensbeschreibung aber ist ein späteres betrügliches Machwerk. Da sie fälschlich dem Bonifatius zugeschrieben wird, findet sie sich in der Sammlung seiner Schriften[3].
Auch Wilfrid, Erzbischof von York, der im J. 709 gestorben ist, hat unter den Friesen gepredigt, als er auf einer Reise nach Rom 678 an ihrer Küste landete, um den Nachstellungen des Hausmeiers Ebroin zu entgehen[4]. Besonderes Verdienst um die Mission erwarb sich aber Egbert, der Abt des Klosters Hy, in welchem er die bis dahin dort herrschende irische Weise durch die siegreiche römisch-englische verdrängte. Er entsandte zum Friesenfürsten Radbod den Wigbert[5], und nach dessen Heimkehr im Jahre 690 Willibrord mit elf Gefährten. Dieser, 695 in Rom zum Bischof geweiht, begründete 698 das Kloster Echternach, aber nicht allein als Stätte eines stillen beschaulichen Lebens, sondern als Ausgangspunkt für seine Thätigkeit, und mit Karl Martels Hülfe gelang ihm sodann auch die Stiftung des Bisthums Utrecht, wo er im Jahre 738 als erster Bischof verstorben ist. Sein Leben ist erst lange nach seinem Tode von Alcuin aus fast ausschließlich erbaulichem Gesichtspunkt beschrieben worden[6]; die ältere Lebensbeschreibung, welcher er [133] gewiss wesentlich folgte, von einem Schottenmönch rustico stilo verfaßt, wie die älteste Vita des h. Gallus, ist leider, wie diese verloren, aber sie wurde noch benutzt von Thiofrid, Abt von Echternach (1083-1110), dessen Werk deshalb nicht ohne Werth ist[7].
Gleichzeitig mit ihm predigte auch Suitbert, der Stifter von Kaiserswerth, von dem jedoch nur wenig bekannt ist. Als das merkwürdigste Andenken, welches er uns hinterlassen hat, sehr bezeichnend für die höhere und feinere Bildung, welche diese Angelsachsen in der Heimath pflegten und von da ins Frankenreich verpflanzten, galt bisher die schöne Handschrift des Livius, welche er mitgebracht haben sollte, und die jetzt zu den kostbarsten Schätzen der Wiener Hofbibliothek gehört. Doch wird die Inschrift jetzt richtiger anders gelesen, die Bedeutung der Handschrift aber ist nicht geringer, wenn sie aus der Utrechter Schule stammt[8]. Suitberts Biographie dagegen, angeblich von Liudgers Genossen Marchelm oder Marcellinus verfaßt, ist ein grober Betrug späterer Zeit[9].
Unter den Sachsen predigten der weiße und der schwarze Ewald, deren Lebensbeschreibung aus Beda entnommen, aber völlig sagenhaft ist[10]. Später folgte ihnen Liafwin, jedoch erst um 770, nachdem vielleicht schon mancher Glaubensbote vergeblich, und ohne das Andenken seines Namens zu hinterlassen, versucht hatte, das starre Heidenthum der alten Sachsen zu überwinden. Das Leben [134] Liafwins, von Hucbald von St. Amand, ist nicht ohne Werth, aber doch erst in viel späterer Zeit, im zehnten Jahrhundert verfaßt[11].
In Franken finden wir Burchard, den Bonifaz zum ersten Bischof von Würzburg weihte, wo S. Kilian mit seinen Genossen den Boden bereitet hatte. Auch seine Lebensbeschreibung aber ist erst im 9. Jahrh. von einem Würzburger Cleriker verfaßt und völlig werthlos; die wenigen Thatsachen, welche darin berichtet werden, sind theils entstellt, theils mit oder ohne Absicht erfunden[12].
Die erste wirklich gleichzeitige Lebensbeschreibung besitzen wir von Winfrid, dem Stifter der neuen fränkischen Kirche, der alle die einzelnen Pflanzungen seiner Vorgänger zusammenfaßte in eine mächtige Organisation, und ihnen dadurch die Kraft zum dauernden Bestehen gab, der zugleich die alte verfallene fränkische Landeskirche emporrichtete, und so im Verein mit den karolingischen Herrschern das gewaltige Gebäude aufführte, in dem die neu hervorsprießende geistige Bildung für viele Jahrhunderte eine gesicherte Stätte finden sollte, mitten unter allen Stürmen und Drangsalen der kampferfüllten Zeiten. Allein die Schilderung seines Lebens und seiner Wirksamkeit liegt unserer Aufgabe fern; wir müssen uns hier begnügen, auf die ausführliche Darstellung Rettbergs I, 331 ff. zu verweisen, wo auch genauere Nachweisungen über seine Biographen zu finden sind[13].
Sein kirchlicher Name war Bonifatius, ohne Zweifel von bonum fatum abzuleiten, aber nach einer richtigen Bemerkung von Loofs scheinen die Zeitgenossen den Namen vielmehr von bonum fari hergeleitet zu haben[14]. Er besaß eine für jene Zeit hervorragende [135] Bildung, und wir besitzen noch von ihm eine Grammatik und Metrik[15], und nicht ohne Geschick und Gewandtheit verfaßte Gedichte mit der Vorliebe für Akrostichen und andere Spielereien, welche der Zeit und besonders seinen Landsleuten eigen ist[16].
Von weit größerem Werthe für uns ist die Sammlung von Bonifazens eigenen Briefen und den päbstlichen Schreiben an ihn[17]; aber auch die bald nach seinem Tode, vielleicht noch zu Pippins Lebzeiten[18], sicher vor 786 verfaßte Biographie enthält schätzbare Nachrichten, und erhebt sich weit über die früheren Leistungen der Art. Der Verfasser war ein Priester Namens Willibald, wohl ein Landsmann, der bei der Kirche St. Victor bei Mainz lebte, und auf Veranlassung der Bischöfe Lullus von Mainz und Megingoz von Würzburg seine Arbeit unternahm. Lullus besonders versah ihn mit Nachrichten, so wie auch andere Schüler Winfrids, den Willibald selbst nicht gekannt hatte. Dieser ist freilich hinter einer genügenden Behandlung seiner großen Aufgabe zurückgeblieben; anfangs sorgfältig und genau, scheint er bei der großartigen Entfaltung der Wirksamkeit seines Helden, bei den verwickelteren politischen Verhältnissen unter Pippins Regierung zu ermatten, er wird verwirrt und ungenau, übergeht gänzlich die wichtigsten Vorfälle und eilt weiter zu dem Märtyrertode des Bonifaz[19], bei welchem er in [136] frommem Phrasenschwall verweilt. Aehnliche Erscheinungen sind auch in Biographien der späteren Zeit häufig; wo ein Bischof aus dem engen Kreise der Ascetik und bescheidener Pastoraltugenden heraustritt, wo er als Staatsmann zu schildern war, entzieht er sich dem Gesichtskreis seines Biographen. Hier aber ist der Abstand der §§ 30-32 von Anfang und Ende so auffallend, namentlich auch der Mangel aller bestimmten Angaben über Bonifatius Erhebung auf den Mainzer Stuhl, die plötzlich als fertige Thatsache erwähnt wird, sowie über die Stiftung des Klosters zu Fulda so unerklärlich, daß der Verdacht, Lullus Censurstriche möchten hier verwirrend und verstümmelnd eingewirkt haben, kaum abzuweisen ist[20]. Auch der Streit über die Beerdigung des Märtyrers in Mainz oder in Fulda ist mit keinem Wort berührt. Willibalds Sprache ist noch weit entfernt von der Reinheit der karolingischen Latinität, aber er bezeichnet doch schon den Anfang einer besseren Zeit; er hat in der Schule seine Classiker gelesen, und sein Hauptfehler besteht darin, daß er es zu gut machen will, daß er im Streben nach einem gewählten Stil in Verkünstelung verfällt, während er doch in den Grundregeln der Grammatik noch keineswegs sicher ist[21].
[137] Von Lullus, Bonifatius Schüler und Nachfolger, besitzen wir ebenfalls eine Biographie, in welcher kürzlich Holder-Egger ein Werk Lamberts erkannt hat, und welche deshalb als solche später zu erwähnen sein wird. Ihr geschichtlicher Werth ist unbedeutend[22].
Dagegen ist als ein merkwürdiges Denkmal dieser Zeit noch das Leben der beiden Brüder Willibald und Wynnebald zu nennen[23], verfaßt von einer Nonne des Klosters Heidenheim, welches Wynnebald um 751 gestiftet hatte und bis zu seinem Tode (19. Dec. 761) leitete, während Willibald 741 von Bonifaz zum ersten Bischof von Eichstedt geweiht war. Wie diese Brüder, so stammte auch die Verfasserin, welche mit ihnen verwandt war, aus England, von wo sie erst nach Wynnebalds Tod nach Heidenheim kam. Ihr Werk zeigt uns, was auch aus Bonifatius Briefsammlung hervorgeht, wie sehr lebhaft dort auch die Nonnen an den gelehrten Studien Antheil nahmen. Freilich wurde auch sie, wie es leider so häufig vorkam, durch ihre Gelehrsamkeit zu einer sehr gezierten und schwülstigen Schreibart verleitet und vor fehlerhaftem Ausdruck nicht bewahrt; ja der Ausdruck ist, wie er in der neuen Ausgabe nach der ältesten Handschrift hergestellt ist, sogar in unglaublichem Maaße barbarisch, aber gelehrt barbarisch, d. h. mit griechischen und anderen seltsamen Worten beladen. Den Hauptinhalt und den werthvollsten Theil bildet in dem Leben Willibalds der Bericht über seine Pilgerfahrt nach dem gelobten Lande, welcher darin besonders hervortritt und den größten Raum einnimmt. Er ist offenbar nach den Mittheilungen Willibalds am 23. Juni 778 über seine Pilgerfahrten und die daran sich schließenden Umstände aufgezeichnet.
Nach Wynnebalds Tod übernahm seine Schwester Waldburga die Leitung des Klosters zu Heidenheim, von welcher nur im neunten Jahrhundert Wolfhard von Herrieden in dem Werk über ihre Wunder etwas berichtet[24].
Zu diesem Kreise gehören ferner noch Wigbert, den Bonifaz in Fritzlar als Abt einsetzte, Sualo oder Solus, und Leobgyth oder Lioba, die Aebtissin von Bischofsheim[25], deren Biographen Lupus von Ferrières und Rudolf von Fulda später zu erwähnen sein werden.
[138] In dem Abschnitte, bei welchem wir jetzt verweilen, in den Anfängen der karolingischen Periode, beginnt zuerst ein Zweig der Geschichtschreibung ans Licht zu treten, welcher sich aus den unscheinbarsten Anfängen zu einer wahren Kunstform entwickelte, und dem wir großentheils die festen Grundlagen der älteren Geschichte des Mittelalters verdanken, nämlich die Jahrzeitbücher oder Annalen. Augenscheinlich durch die Mission veranlaßt, kommen sie jetzt an verschiedenen Orten zum Vorschein. Es bedurfte eben keiner neuen Erfindung, um Jahr für Jahr die wichtigsten Ereignisse gleichzeitig mit wenigen Worten aufzuzeichnen; wir haben ähnliches schon aus der römischen Zeit zu erwähnen gehabt, und es mag auch hin und wieder im merowingischen Reiche geschehen sein, aber erhalten haben sich keine Beispiele davon. Einst hatten die Verzeichnisse der Consuln den passendsten Raum dazu dargeboten, jetzt waren es die überall verbreiteten Ostertafeln, deren Rand schon von selbst dazu aufforderte, neben der Jahreszahl kurze Nachrichten einzutragen. Wir finden diese Aufzeichnungen zuerst in England, und die Missionare, denen Beda's Ostertafeln wohl selten fehlten, behielten die heimische Sitte bei. Mit den Ostertafeln selbst wurden nun auch die Randbemerkungen abgeschrieben, und gingen so von einem Kloster ins andere über; bald fing man an darauf Werth zu legen, schrieb die noch ganz kurzen und mageren, völlig formlosen Annalen auch abgesondert ab, setzte sie fort, verband sie mit anderen, und machte sich endlich auch an die Arbeit, die dürftige Kunde über die frühere Vorzeit durch Benutzung anderer Quellen, aus Schriftstellern aller Art, aus der Sage und gelehrter Berechnung zu ergänzen.
Daraus ergiebt sich nun, wie verschiedenartig, von wie ungleichem Werthe der Stoff ist, welchen diese Jahrbücher uns darbieten. Vielfache Fehler konnten schon beim Abschreiben nicht ausbleiben. Der Rand der Ostertafeln hatte häufig nicht ausgereicht; dann waren Bemerkungen unten, oben, an verschiedenen Stellen nachgetragen[1], durch Zeichen auf das betreffende Jahr bezogen, und oft ist es selbst, wenn das Original noch erhalten ist, schwer sich darin zurecht zu finden. Gedankenlose Abschreiber haben dann [139] nicht selten die allergrößte Verwirrung angerichtet, zuweilen gar die Jahreszahlen ganz fortgelassen[2].
Um diese Annalen also mit Sicherheit benutzen zu können, um an ihnen wirklich eine zuverlässige Grundlage für die Zeitrechnung zu gewinnen, kommt natürlich alles darauf an, ihre Herstammung und Abkunft zu erforschen, spätere Zusätze auszuscheiden, ihrem Ursprung so nahe wie möglich zu kommen, wenn man nicht das Original selbst noch aufzufinden vermag.
Das ist es, was für die gesammte Masse der Annalen aus karolingischer Zeit zum ersten Male von Pertz im ersten Bande der Monumenta geleistet worden ist, und zwar in so ausgezeichneter Weise und mit so umfassender Benutzung des bis dahin bekannt gewordenen handschriftlichen und gedruckten Materials, daß hier für alle weiteren Forschungen die sicherste Grundlage gegeben ist[3].
Es ist jedoch gleich hier auf eine Unterscheidung hinzuweisen, welche erst durch die fortgesetzte Beschäftigung mit dieser eigenthümlichen Form der Geschichtschreibung sich immer deutlicher herausgestellt hat. Zu allgemein hat man anfangs, von späteren Zuständen rückschließend, die Klöster für die Ursprungstätte dieser Aufzeichnungen angesehen; man suchte in allen Annalen nach localen Andeutungen, welche in irgend ein Kloster führen. Auch giebt es wirklich viele Annalen, welche sich dazu eignen; sie verbinden in buntem Gemisch die Hausgeschichte mit Vorfällen von allgemeinerer Bedeutung, die aber in diesem Falle keine zusammenhängende Folge darstellen. Findet sich dagegen eine Reichsgeschichte, welche, wenn auch noch so dürftig, doch das Bestreben nach vollständiger Mittheilung dessen zeigt, was vom Mittelpunkt aus gesehen das ganze Reich betrifft, so wird man den Ursprung schwerlich in einem Kloster zu suchen haben, und wenn hin und wieder eine locale Notiz sich findet, ist sie wahrscheinlich, oft nachweisbar, einer Abschrift zugesetzt. Den Klöstern lag ein solcher Gesichtspunkt ursprünglich ganz fern, während der Hof damals noch wirklich den lebendigen Mittelpunkt des Reiches bildete, an dessen Bewegungen und Heerfahrten auch die Bischöfe mit ihren Caplänen fortwährend sich betheiligen mußten. Die Aebte aber, welche in denselben Strudel hineingezogen wurden, waren entweder geradezu Laienäbte, oder sie entfremdeten sich doch durch solch unklösterliches Leben der Genossenschaft der Mönche. Es hat freilich neuerdings H. v. Sybel für die klösterliche Herkunft von neuem das Wort ergriffen[4], [140] und namentlich behauptet, daß man, was in den sog. Königsannalen steht, im Kloster Lorsch recht gut in Erfahrung bringen konnte. Ich gebe das gerne zu, kann mir aber nicht vorstellen, daß schon im achten Jahrhundert der Sinn der Mönche in so hohem Grade den weltlichen Dingen zugewandt war, was doch auch später nur ausnahmsweise der Fall gewesen ist. Nur für wenige Klöster hatten die jährlichen Feldzüge ein unmittelbares Interesse.
Es hatte nun wohl den Anschein, als ob man die allmähliche Entstehung der geschichtlichen Ueberlieferung aus den unscheinbarsten Anfängen, die Verbindung verschiedener Aufzeichnungen und ihre nun schon besser gelungene Fortführung deutlich vor Augen habe; man glaubte eben jene ersten Anfänge in ursprünglicher Gestalt zu besitzen, und bezweifelte, daß es in jener Zeit des wenig federfertigen achten Jahrhunderts viel mehr und bessere Aufzeichnungen gegeben habe, als uns noch jetzt vorliegen. Allein die fortgesetzte Beschäftigung mit diesen Annalen zeigt in so hohem Grade Uebereinstimmung derselben in vielen Notizen, während doch andere Sätze sich nur in dem einen Exemplar, zugleich jedoch in anderen ganz entlegenen Annalen finden, auch Spuren alter guter Ueberlieferung, die plötzlich in jüngeren Compilationen auftauchen, daß hier, wie in manchen Fällen aus späterer Zeit, kein anderer Ausweg möglich zu bleiben scheint, als die Annahme verlorener Aufzeichnungen, aus welchen nur Excerpte uns vorliegen; wir besitzen nur Bruchstücke einer einst vorhanden gewesenen reicheren Litteratur, die wir uns aber doch hüten müssen, uns zu bedeutend vorzustellen. Große Vorsicht ist hier nothwendig, und eben diese Vorsicht vermisse ich bei Is. Bernays[5], dessen Zusammenstellungen häufig gerade den entgegengesetzten Eindruck machen, indem nur die notorischen Thatsachen übereinstimmen, im Ausdruck aber die größtmögliche Verschiedenheit geradezu aufgesucht sein müßte. Weit vorsichtiger dagegen ist R. Arnold[6] verfahren, und doch scheint auch dessen Annahme von Hofannalen von 771 oder 772 an eine unbegründete zu sein, indem ihr von Waitz[7] die erheblichsten [141] Gründe entgegengestellt sind. Ein solches Werk müßte deutlichere Spuren hinterlassen haben, und als Regel werden wir doch festzuhalten haben, daß man mühsam die dürftigen Aufzeichnungen zusammen arbeitete, und mit einer uns oft unbegreiflichen Sorglosigkeit häufig einzelne Sätze aus einer zugänglich gewordenen Quelle herübernahm, andere bedeutendere Nachrichten aber unberührt ließ.
Als erste Quellen dieser Art können wir zwar nicht mehr die Ann. S. Amandi und Ann. Mosellani, wie sie uns vorliegen, betrachten, aber doch die etwas reichere Quelle der Ann. S. Amandi bis 769 und die Aufzeichnungen, welche den wesentlichen Inhalt der Mosellani ausmachen, bis 764 (oder 760?) annehmen. Nach Arnolds Ansicht wären diese in oder bei Metz (Gorze?) compiliert und im siebenten Jahrzehnt des achten Jahrhunderts mit eigenen, ziemlich reichhaltigen Zusätzen vermehrt, die bis c. 771 reichten. Dieses nicht mehr vorhandene Werk betrachtet Arnold als die gemeinsame Quelle der Annales Petaviani, die nebenbei bis 737 noch ein Exemplar der Ann. S. Amandi oder ihrer Quelle benutzten, und seit 760 einen officiellen Charakter tragen, der Annales Maximiniani, die nebenher noch andere Quellen benutzten, und wieder eines verlorenen Werkes, das im ersten Theile durch Notizen über Angelsachsen vermehrt war, und fast ganz rein vorliegt in den Ann. Mosellani und den Ann. Laureshamenses. Doch hat in Betreff der Annales Maximiani G. Waitz dieser Annahme sehr entschieden widersprochen und dadurch das ganze künstliche Gebäude erschüttert.
Die Annales S. Amandi[8] haben diese Benennung von Pertz [142] erhalten, weil 782 und 809 Beziehungen auf das Kloster Saint-Amand vorkommen; dem früheren Theile fehlen sie und der Inhalt ist durchaus reichsgeschichtlich. Die Ursprünglichkeit ihrer jetzt vorliegenden Form ist angegriffen, eine verlorene Quelle oder etwas reichere Form angenommen, aber als ein ziemlich treues Abbild dieser eben beginnenden Annalistik werden wir sie doch betrachten dürfen.
Vom ersten Anfang an sind diese Annalen karolingisch. Sie beginnen mit der dauernden Festsetzung dieses Hauses im Besitz der Macht, mit der Begründung einer neuen Ordnung der Dinge, der Morgendämmerung einer besseren Zeit, welche wieder Hoffnungen erweckte und die Seelen nicht mehr mit dem trostlosen Gedanken von dem nahe bevorstehenden Untergange der Welt erfüllte.
Die am Eingang stehende Nachricht von der Schlacht bei Tertri 687 ist nachträglich zugesetzt; die regelmäßig fortgesetzten Aufzeichnungen beginnen erst 708, und auch von da an möchte ich noch nicht behaupten, daß gleich von Anfang an alles gleichzeitig eingetragen wäre; die Form der kurzen und noch sehr dürftigen Bemerkungen, wenn man z. B. zu dem Jahr 708, wo Ostern auf den 15. April fiel, an den Rand schrieb: (Das war damals) als Drogo im Frühjahr starb[9] — deutet eher auf ein späteres Besinnen und Ueberdenken der Vergangenheit. Auch ist das ganz natürlich; so lange der Eindruck noch frisch ist, fühlt man kein Bedürfniß ihn künstlich festzuhalten, und erst später macht sich das Verlangen geltend, die verschiedenen Erinnerungen aus einander zu halten und zu ordnen. Wenn aber nun eine Reihe solcher Aufzeichnungen beisammen ist, dann ändert sich der Gesichtspunkt, man legt Werth auf diese Zusammenstellung und setzt sie um ihrer selbst willen fort, trägt Jahr für Jahr die wichtigsten Begebenheiten ein, um für spätere Zeiten ein Denkmal zu hinterlassen. Jene Annalen nun, welche in ihrer Fortsetzung bis 810 deutliche Beziehungen zu Saint-Amand enthalten, entbehren in ihrem früheren Theile bis 771 und noch darüber hinaus jeder Hinweisung auf dieses Kloster oder dessen Umgegend; sie verzeichnen nur die großen Reichsbegebenheiten, die Feldzüge jedes Jahres und zuweilen einen Todesfall oder einen anderen merkwürdigen Vorfall, so kurz, daß die eigentliche Kenntniß von den Dingen vorausgesetzt wird; an Erzählung ist kein Gedanke, nur an chronologische Ordnung der Erinnerungen. Giesebrecht hält die Aufzeichnung dieser Notizen im Cölnischen für sehr wahrscheinlich [143] und möchte den Schottenmönchen zu St. Martin, Pippins von Heristal Stiftung in Cöln, dieses Verdienst zuschreiben. Allein daß 713 Suitberts Tod, 716 Radbots Vordringen bis nach Cöln erwähnt wird, daß 753 gerade wie in den Annales Mosellani der Tod des Bischofs Hildegar von Cöln, auf dem Feldzug gegen die Sachsen angemerkt wird, das berechtigt uns noch nicht zu einer bestimmteren Annahme über die Herkunft dieser Jahrbücher. Vorzüglich in den Klöstern Belgiens weit verbreitet, sind sie durch Zusätze und Fortsetzungen immer mehr angewachsen, bis sie endlich Sigebert von Gembloux zur Grundlage seiner gewaltigen Chronik dienten, aber in ihren Anfängen weist nichts nach einer bestimmten Gegend. Nichts tritt dagegen so sehr in den Vordergrund, wie die Familie der Hausmeier, und man kann sie daher wohl mit besserem Rechte, als irgend einem Kloster, einem Mitglied der Hofgeistlichkeit zuschreiben.
Ganz denselben Charakter tragen auch die gleichzeitigen Annales Mosellani[10], deren Entdeckung in Petersburg durch Lappenberg ein unerwartetes Licht auf das Verhältniß der ältesten Annalen zu einander geworfen hat, vorzüglich nachdem Giesebrecht in seiner scharfsinnigen Abhandlung über die fränkischen Königsannalen[11] die Folgerungen, welche dem ersten Herausgeber noch entgangen waren, daraus gezogen hat. Weiter ist dann, wie schon oben erwähnt, durch R. Arnold das gegenseitige Verhältniß der Annalen eingehend untersucht.
An der Spitze der Annales Mosellani (welche nach Arnold, wie sie uns vorliegen, schon aus einer Vermischung mit denen von St. Amand hervorgegangen sind) stehen von 704 bis 707 irische Namen. Diese bilden den Uebergang von Bedas kleiner Chronik in der Schrift de temporibus, an welche sie sich anschlossen, zu der Nachricht von Drogo's Tod 708, die auch hier die fränkischen Eintragungen eröffnet. 713 ist der Tod einer englischen Prinzessin, eines Königs von Ostangeln bemerkt, 726 und 729 unbekannte irische Namen. Erwähnt wird ferner 726 der Tod Martins, welcher nach den Ann. Petav. ein Mönch von Corbie und Karls Beichtvater war, 736 Audoins des Bischofs von Constanz, dessen Name so wenig etwas für die Herkunft der Annalen beweisen kann, wie 728 die [144] Erwähnung Haldulfs von Cambrai, der zugleich Abt von St. Vaast war. Dagegen finden sich von 761 an Beziehungen zu Chrodegang von Metz, dessen hervorragende Stellung im Reiche ganz geeignet war, die Abschrift solcher, vielleicht in Metz ursprünglich entstandener Aufzeichnungen und ihre Fortführung zu veranlassen, war er doch am Hofe Karl Martels aufgewachsen und hatte 742 von Pippin das Bisthum erhalten[12]. Pückert hat darauf hingewiesen, daß sein Bruder Gundeland Abt von Lorsch war, was auf das in Lorsch so früh hervortretende Interesse für Geschichte eingewirkt haben mag.
Kaum waren diese ersten Versuche geschichtlicher Thätigkeit gewagt, so begann man auch schon ihren Werth sowohl wie ihre Unvollkommenheit zu empfinden; man copirte sie und bereicherte sie zugleich durch Verbindung der verschiedenen Exemplare, ohne sich jedoch noch eine redigirende Thätigkeit zu erlauben, welche das nothdürftigste Maß überschritten hätte. Diese Gewissenhaftigkeit sowohl wie die ersten Regungen einer combinierenden wissenschaftlichen Thätigkeit liegen uns, wenn wir Arnold glauben dürfen, nicht mehr in dem ursprünglichen Product vor, wohl aber in verschiedenen Ableitungen, vorzüglich in den Annales Petaviani, welche von dem früheren Besitzer der Handschrift ihren Namen haben[13]. Sie verbinden nämlich bis 771 die beiden bisher betrachteten Annalen, an welche sich von da an eine schon wirklich erzählende, völlig gleichzeitige und zuverlässige[14] Fortsetzung bis 799 anschließt, die bei dem Mangel aller localen Färbung wiederum nur für den Königshof, den Mittelpunkt aller Unternehmungen, in Anspruch genommen werden kann. Eine Abschrift, welche nur bis 796 reicht (Cod. Masciacensis), gewährt Zusätze, welche aus dem Martinskloster zu Tours zu stammen scheinen, während die beiden anderen specielle Angaben über die karolingische Familie hinzufügen[15]. Arnold freilich (S. 28) bestreitet die Richtigkeit jener Bezeichnung als gleichzeitig und zuverlässig, weil der Verfasser schlechtes Latein schrieb, worin [145] ich einen Gegengrund nicht zu erkennen vermag. Erheblicher sind einige Ungenauigkeiten, welche er nachweist, und mehr noch die Uebereinstimmung in manchen Angaben und Ausdrücken mit den Ann. Laureshamenses. Aehnliche Spuren in anderen Annalen führen ihn zu der Annahme von verlorenen Hofannalen (S. 52), welche 771 oder 772 nach dem Beginn der Alleinherrschaft Karls angefangen, etwa bis 803 (Ende der Lauresham.) oder 801 (Ende der Guelferbyt.) fortgeführt wurden, ziemlich umfangreich waren, und deshalb in sehr verschiedener Weise ausgenutzt wurden, ihre Spuren aber in vielen Annalen hinterlassen haben. Vielleicht durch die überwiegende Autorität und Verbreitung der sog. Königsannalen (Laurissenses) wäre das ältere Werk in den Hintergrund gedrängt und endlich verloren. Einen geradezu officiellen Charakter und Ursprung will Arnold nicht annehmen, wohl aber Entstehung am Hofe, welche auch mir unzweifelhaft ist. Als Auszug aus diesen Annalen hätten wir also auch den letzten Theil der Petaviani zu betrachten, welcher durch ceremonielle Ausdrucksweise deutlich höfischen Ursprung zeigt. Beginnt diese schon 760, so kann sie auf diese Strecke durch Ueberarbeitung übertragen sein. Doch wird, wie schon erwähnt, von Waitz die Existenz solcher Hofannalen bestritten, und wir werden wenigstens nur mit großer Vorsicht von einem solchen Werke reden dürfen.
Neben dieser Fortführung der Annales Petaviani wurden nun auch jene Ann. Mosellani in gleicher Weise fortgesetzt, ebenfalls schon von dem ersten Hauch der karolingischen Zeit berührt und von räthselhaften Notizen zur Erzählung übergehend; doch lassen auch hier auffallende Uebereinstimmungen anstatt ganz selbständiger gleichzeitiger Aufzeichnung vielmehr Benutzung einer gemeinsamen Quelle voraussetzen. Wenn nun in diesem Theile zweimal der Tod eines Abtes von Lorsch erwähnt wird, so darf das nicht auffallen bei einem Kleriker, der etwa im Gefolge des Bischofs von Metz dem Hoflager folgte; ein Mönch aber hätte wohl schwerlich so ausschließlich seinen Blick auf den König und die allgemeinen Reichsbegebenheiten richten können. Nach dem Jahre 785 sind diese Annalen wiederum durch Abschriften verbreitet; diejenigen, welche Pertz wegen einiger localer Zusätze Annales Laureshamenses genannt hat[16], eine aus gemeinsamer Quelle stammende Nebenform [146] der Mosellani, erhielten von da ab zwei verschiedene ausführliche Fortsetzungen bis 803 und 806; in den Annales Mosellani aber fehlen die Jahre 786 und 787, und die weitere Fortsetzung bis 798 ist um ein Jahr verschoben, also da sie doch offenbar gleichzeitig verfaßt ist, erst nachträglich hier eingetragen.
Eine andere Fortsetzung von 786 bis 796 hat G. Waitz nachgewiesen in den Annalen von 741 bis 811, welche nach dem Fundort der Handschrift von dem ersten Herausgeber, Baron von Reiffenberg, Maximiniani genannt sind[17].
Auch diese hat Arnold als Auszug aus den von ihm angenommenen Hofannalen in Anspruch genommen und gerade auf sie großes Gewicht gelegt; er glaubte nicht, daß dieser Annalist so viele verschiedene Annalen, wie Waitz annahm, benutzt und doch wieder so viele wichtige Dinge, die auch darin standen, übergangen haben könne. Allein hier ist ihm Waitz scharf entgegengetreten, indem er nachwies, daß die Ableitung aus verschiedenen Elementen sich durch das Verhältniß zu anderen Quellengruppen mit voller Sicherheit darthun läßt. Aufgeklärt wurde die ganze Sachlage freilich erst durch die neue von Waitz gegebene Ausgabe und die Sonderung der Annalen von der Chronik bis 741, an welche sie sich anschließen und zu deren Fortsetzung sie bestimmt zu sein scheinen. Diese, schon oben S. 129 kurz erwähnt, wird später zu besprechen sein. Die Annalen sind eine um oder bald nach 811 verfaßte Compilation, zu welcher die Gesta Pontificum Romanorum (doch noch nicht die Vita Leonis III) mit verschiedenen Annalen in ziemlich freier Weise, mit einigen willkürlichen Zusätzen, verbunden sind. Als solche hier [147] benutzte Annalen sind nachgewiesen die Mosellano-Laureshamenses, d. h. die gemeinsame Quelle beider, und die Petaviani noch 778, vielleicht 779, dann die Laurissenses mit Zusätzen aus einer unbekannten Quelle, bis 811, wo ein Abschnitt derselben, das Ende einer Bearbeitung, wahrscheinlich ist. Eigenthümlich aber ist von 786 bis 796 die Benutzung von Annalen, welche wegen besonders hervortretender Berücksichtigung von Baiern dort geschrieben zu sein scheinen, und welche wie B. Simson zuerst bemerkt, ebenfalls und ebensoweit in den Annales Xantenses benutzt sind. Ebensoweit reicht auch die von Arnold nachgewiesene Verwandtschaft mit den Juvavenses minores, welchen die Mos. Laur. fremd sind; sie tritt aber auch schon früher, schon 743, und überall da hervor, wo nicht die Mos. Laur. Quelle sind, so daß also die Existenz einer anderen, den Laurissenses majores verwandten Redaction fränkischer Annalen anzunehmen ist, an welche die Fortsetzung von 786 bis 796 sich anschloß. Berührung ist auch mit den Ann. Juvav. maj. und S. Emmerammi maj. vorhanden, welche nach Waitz von den Maximiniani direct oder mittelbar abhängig sind[18]. Wir werden auf dieses Werk noch zurückkommen.
Andere gleichzeitige Aufzeichnungen, welche nach dem Fundort der Handschrift Guelferbytani genannt werden, beginnen erst mit Pippins Regierung 741. Sie weisen durch die Folge der Aebte deutlich auf das 727 gegründete Kloster Murbach in den Vogesen, und verfolgen die Reichsbegebenheiten nicht so gleichmäßig wie jene anderen Annalen, welche wir mit ihnen gemischt bis 768 in den Annales Alamannici und Nazariani wiederfinden, deren Anfang von 708 an ebenfalls den Annales Mosellani entnommen ist. Von 771 bis 790 folgt hier eine weitere Fortsetzung, von ganz allgemeinem Charakter, welche in den Annales Nazariani am vollständigsten erhalten, im Wolfenbüttler Codex allein noch bis 805 weitergeführt ist[19], während die Annales Alamannici eine selbständige Fortsetzung [148] 790 bis 799 erhielten[20]. Diese Annalen verbreiteten sich weithin durch die Klöster Schwabens und gelangten auch nach Hersfeld, wo an diesen Anfang Lamberts Geschichtswerk sich anlehnte, während auf den aus gleicher Quelle stammenden Reichenauer Annalen Hermann der Lahme seine Chronik erbaute.
Besonders merkwürdig sind die von Pertz in einer Handschrift des Klosters St. Germain-des-Prés entdeckten Annalen[21], welche im Anfang des neunten Jahrhunderts aus einer älteren Handschrift abgeschrieben sind, und wie gewöhnlich zur Eintragung der dortigen Annalen benutzt wurden. An der Spitze stehen hier ganz kurze Annalen von Lindisfarne (643-664), einem Bisthum auf einer der kleinen Inseln an der Ostküste von Northumberland, jetzt Holyisland bei Berwick, welches von Hy aus begründet war. Darauf folgen von 673 bis 690 Notizen aus Canterbury. Nach Pertz' Vermuthung war es Alcuin, welcher diese Handschrift mit sich an Karls Hof brachte, wo er von 782 bis 787 (792) die Namen der Orte eintrug, an welchen Karl in diesen Jahren das Osterfest feierte. Daran haben nun die Mönche von St. Germain ihre eigenen Annalen gefügt[22], als deren Grundlage jetzt Annalen von Saint-Denis bis [149] 887, mit einer Fortsetzung 919-997 erkannt sind[23]. Jene Notizen über die Osterfeier von 782 bis 787 aber finden wir auch in einer anderen Handschrift wieder, jedoch ohne die Bemerkungen aus Canterbury. Dieses Exemplar nämlich hat Arn, der Freund Alcuins, nach Salzburg mitgenommen; die Orte der Osterfeier sind hier bis 797 genannt, und dann schließen sich Salzburger Nachrichten daran[24]. In Salzburg selbst hatte man damals aber bereits einheimische ältere Annalen, deren Spuren sich in den späteren Jahrbüchern vorfinden[25]. Scheinbar bieten sich uns in diesen viel reichere und vollständigere Aufzeichnungen dar, allein es läßt sich mit Bestimmtheit nachweisen, daß diese erst im zwölften Jahrhundert nach Vermuthungen und gelehrter Berechnung zusammengestellt wurden, um die Dürftigkeit der alten Annalen zu ergänzen. Wie bedeutende alte Quellen aber verloren, und so lange sie noch vorhanden waren, unbeachtet geblieben sind, zeigen uns die von Riezler nachgewiesenen, sehr wichtigen Fragmente, welche Aventin aus einem Buch von „Herzog Thessels Kanzler mit Namen Crantz“ gerettet hat[26].
Namen aus Lindisfarne finden wir auch an der Spitze der Jahrbücher [150] von Fulda und von Corvey; letztere stammen aus der angelsächsischen Stiftung Werden oder aus Münster, aber die 809 beginnenden Notizen reihen sich den alten Namen des siebenten Jahrhunderts nur ganz äußerlich an[27]. Anders in Fulda, wo diese irischen und angelsächsischen Namen nur in zwei Abschriften an die Spitze gestellt sind, im Original aber schon um 760 der Rand der Ostertafel mit den leider fast ganz erloschenen Notizen von angelsächsischer Hand versehen wurde, welche seit 790 von anderen Händen fortgeführt von 742-822 reichen. In einer anderen, jetzt Casseler Handschrift, finden sich diese Annalen bis 814 angereiht an einen Kaiserkatalog, dem auch jene altenglischen Annalen eingefügt sind; diese, ohne die Kaiser, und eine Fortführung bis 833 hat auch die dritte, jetzt Münchener Handschrift aus St. Emmeram[28]. Hier also, wie in so vielen ähnlichen Fällen, sehen wir recht deutlich, wie auch die mangelhaftesten Aufzeichnungen sich verbreiteten und als werthvoll betrachtet wurden, bessere also, auch nachdem sie schon in größerer Anzahl vorhanden waren, doch wenig Verbreitung gefunden haben müssen.
Die weitere Entwickelung dieser Annalen gehört einem späteren Abschnitte an; hier waren, wenn auch manchmal schon vorgegriffen wurde, vorzüglich nur die ersten Anfänge zu betrachten, welche noch im höchsten Grade dürftig und armselig sind, wie sie denn auch in ihrer ursprünglichen Gestalt als Randbemerkungen zu Ostertafeln durchaus nicht den Anspruch machen für litterarische Erzeugnisse zu gelten. Erst der lichteren Zeit des großen Karl gehört der Gedanke an, diese Notizen mit anderen Nachrichten zu einem Ganzen zu verbinden, und sie dann mit Absicht und Bewußtsein als gleichzeitige Aufzeichnung der Geschichte weiter zu führen.
Bethmann, Paulus Diaconus Leben und Schriften, Arch. X, 247-334. C. F. Baehr, De litterarum studiis a Carolo Magno revocatis ac schola palatina instaurata, Heidelb. 1855, 4. Desselben Geschichte der römischen Litteratur im Karol. Zeitalter, Carlsr. 1840. Phillips, Karl der Grosse im Kreise der Gelehrten, im Almanach der Kais. Akad. d. Wiss. 1856. S. 173-221. (Vermischte Schriften III, 93 ff. 415 ff.) F. Dahn, Urgeschichte der germ. u. rom. Völker IV (1889). Litteratur unter Karl d. Großen. Dümmler, Gedichte aus dem Hofkreise Karls des Großen in Haupts Zeitschrift XII, 446 bis 460. S. auch Waitz in Schmidts Zeitschrift für Geschichte II, 48 ff. Bernhardy, Grundriß der römischen Litteratur § 61. Wilh. Scherer, Ueber den Ursprung [151] der deutschen Litteratur, Berl. 1864, vgl. Centralblatt Sp. 572. M. Büdinger, Von den Anfängen des Schulzwanges, Zür. 1865. Ger. Meyer von Knonau, Ueber die Bedeutung Karls d. Gr. f. d. Entwicklung der Geschichtschreibung im 9. Jahrh. Züricher Probevorlesung 1867. — Jahrbücher des Fränk. Reichs unter Karl d. Gr. I. v. S. Abel 1866 (2. Ausg. v. Simson 1888). II. von B. Simson 1883. Dümmler, Poetae Latini aevi Carolini, I. 1881, II. 1884.
Eine lange Zeit der Finsterniß liegt hinter uns. Nur geringe und dürftige Spuren haben uns Zeugniß gegeben, daß auch in diesen traurigen Jahrhunderten das Bedürfniß historischer Aufzeichnungen nicht ganz erstorben war; wir haben gesehen, daß mit der beginnenden besseren Ordnung der Dinge, der Herstellung des Reiches durch die karolingischen Hausmeier, auch einiges Leben auf diesem Felde sich regte, daß lebensfähige Keime zum Vorschein kamen. Aber noch ist fast alles namenlos; seit Venantius Fortunatus und Gregor von Tours ist uns nirgends eine bedeutende Persönlichkeit entgegengetreten. Das Frankenreich stand noch immer an Bildung weit zurück hinter seinen Nachbarn, als Karl der Große zum Throne gelangte, und die erste Hälfte seiner Regierung war auch noch viel zu sehr vom Kriegeslärm erfüllt, als daß er seine Aufmerksamkeit viel nach dieser Seite hin hätte wenden können. Doch hat er in Italien schon im Jahre 776 den Grammatiker Paulinus[1] mit einem Landgut beschenkt, und wir finden diesen an seinem Hofe in Gemeinschaft mit Petrus von Pisa, befreundet mit Alcuin, der Angilbert als ihren gemeinsamen Zögling bezeichnet. Wahrscheinlich 787 wurde er zum Patriarchen von Aquileja erhoben. Verschiedene Gedichte kirchlichen Inhalts haben sich von ihm erhalten und ein Buch der Ermahnung, das er an den trefflichen Herzog Herich von Friaul richtete, welcher mit ihm in treuer Freundschaft verbunden war und dessen Tod 799 er eine tiefgefühlte Todtenklage widmete. Am 11. Januar 802 ist er selbst gestorben.
Ohne Zweifel hat der Aufenthalt in Italien die Veranlassung gegeben, daß Karl aufmerksam wurde auf die unverkennbare Ueberlegenheit, welche den Italienern ihre höhere geistige Bildung verlieh; er faßte den Entschluß seine Franken von dem Joche der Unwissenheit zu befreien, und von da ab finden wir ihn unablässig bemüht, mit allen Mitteln nach diesem Ziele zu streben[2]. Der feste Grund [152] geordneter äußerlicher Verhältnisse und einer neu gekräftigten, von sittlichem Eifer erfüllten Kirche war bereits vorhanden, und auf diesem Boden gediehen die Pflanzungen Karls mit dem überraschendsten Erfolge.
Schon regte sichs auch im Frankenreich. Adam, Haynhards Sohn aus dem weinreichen Elsaß, Abt von Masmünster, copirte 780 zu Worms des alten Grammatikers Diomedes Werk de oratione et partibus orationis, und widmete es dem Könige in Versen, die metrisch freilich mangelhaft, übrigens aber leidlich sind[3]. Im folgenden Jahre 781, als Karl das Osterfest in Rom feierte, und Pabst Hadrian seinen Sohn Pippin aus der Taufe hob, begann Godesscalc jenes Wunderwerk der Kalligraphie, das auf Purpurpergament mit Uncialschrift ganz in Gold und Silber geschriebene Evangeliarium, welches Karl und Hildegard zum dauernden Andenken dieser Feier anfertigen ließen. Providus ac sapiens, studiosus in arte librorum heißt Karl in den Versen, durch welche Godesscalc seinen Namen verewigt hat[4].
In diesem denkwürdigen Jahre traf auch Karl in Parma mit Alcuin zusammen, den er schon früher als Boten des Yorker Erzbischofs kennen gelernt hatte, und veranlaßte ihn an seinen Hof zu kommen; von demselben Heereszuge brachte er Paulus Diaconus und den Grammatiker Peter von Pisa mit nach Frankreich[5]; er lehrte am Hofe Grammatik, unter welcher Bezeichnung [153] die ganze Beschäftigung mit der lateinischen Litteratur verstanden wurde. In Freundschaft mit Paulus wechselte er scherzhafte Verse mit ihm, und Karl selbst genoß seinen Unterricht und bediente sich seiner, wenn er an diesem poetischen Verkehr theilnahm. Aus Spanien flüchtig, wie es scheint, kam Theodulf zu Karl, dessen geistreiche und formgewandte Dichtungen das lebhafteste Bild von Karls Hof gewähren, während er als Staatsmann und Bischof von Orléans eine bedeutende Wirksamkeit entfaltete. Sein Gedicht an Karl nach dem Sieg über die Avaren 796 gewährt uns die eingehendste Schilderung des Hofes[6], während das lange und ausführliche Gedicht an die Richter[7] für die Zustände der Zeit ungemein lehrreich ist, und sein Capitulare[8] die Ermahnungen und Vorschriften für die Geistlichkeit seines Sprengels enthält, welche uns die reformatorischen Bestrebungen dieser Zeit zeigen. Unter Ludwig in Ungnade gefallen und der Theilnahme an Bernhards Aufstand beschuldigt, verlor er sein Bisthum und ist um 821 gestorben.
Eine etwas sagenhafte Nachricht über Computisten und Grammatiker, welche Karl aus Rom in sein Reich berief, giebt Ademar von Chabanne (SS. IV, 118). Schotten aus Irland hat er, wenn wir dem Mönch von St. Gallen glauben dürfen, schon früher an sich gezogen[9]; hervorragend unter ihnen ist Dungal, der unter Waldo's Obhut zu Saint-Denis lebte, und 810 an den Kaiser über die Sonnenfinsterniß dieses Jahres schrieb, vielleicht derselbe, welcher 825 in Pavia lehrte und 827 gegen Claudius schrieb[10]; einer von ihnen lebte am Hofe in heftiger Feindschaft mit Theodulf und Angilbert. Joseph, schon in England Alcuins Schüler und mit [154] Liudger befreundet, richtete an Karl als König einige sehr gekünstelte Verse mit Akrostichen[11]. Er ist vor Alcuin, also vor 804, gestorben.
Vielleicht gehört zu ihnen auch Dicuil, in dessen 825 verfaßter Schrift de mensura orbis terrae[12] der von Harun an Karl geschenkte Elephant erwähnt wird. Er verfertigte auch Verse grammatischen Inhalts und ein poetisches Handbuch der Astronomie in 4 Büchern, welches er in den Jahren 814 bis 816 vollendete und Kaiser Ludwig überreichte. Dieses ist bis jetzt noch ungedruckt geblieben.
Auch Baiern hatte unter den Agilolfingern, in enger Verbindung mit Italien, bereits einen höheren Grad der Bildung erreicht. Herzog Odilo hatte Cassinenser Mönche nach Mondsee berufen, und Reichenauer nach Nieder-Altaich; von hier entnahm Tassilo den ersten Vorsteher seiner herrlichen Stiftung Kremsmünster. Vor allem aber glänzte Freising unter seinem Bischof Arbeo oder Aribo (764 bis 783) durch die Pflege der Wissenschaft[13]. Aribo selbst verfaßte in ungelenker und schwülstiger, aber von angestrengtem Studium zeugender Schreibart die Lebensbeschreibungen der alten Glaubensboten Emmeram und Corbinian, deren wir oben (S. 123) schon gedachten; als Diaconen aber finden wir an seiner Kirche Arn und Leidrad, und auch diese folgten einem Rufe des großen Frankenkönigs. Arn erscheint in den Freisinger Urkunden zuletzt 778; 782 erhielt er die Abtei von St. Amand. Leidrad schrieb noch 782 eine Urkunde für Tassilo[14], dann finden wir auch [155] ihn im Frankenreiche wieder, wo er neben Theodulf das Amt eines königlichen Sendboten verwaltete, und von 799 bis 813 dem Bisthum zu Lyon vorstand, welches er dann seinem Schüler Agobard überließ, um sich in das Kloster des h. Medardus zurückzuziehen, wo er am 28. Dec. 816 gestorben ist. In Lyon war Claudius bei ihm und begann seinen Commentar zur Genesis, den er an des jungen Ludwigs Hof in Aquitanien vollendete, in Casanolio palatio bei Poitiers, wo 811 Faustinus das Buch abschrieb[15].
So zog also Karl um das Jahr 782 von allen Seiten die Träger wissenschaftlicher Bildung an sich und arbeitete von nun an unablässig und unverwandt hin auf eine Wiederherstellung der antiken Cultur, deren Herrlichkeit seinen Geist erfüllte[16]. Wie er die alten Kunstwerke nach Aachen führte und seine Bauten nach den Regeln des Vitruv und den Mustern der Kirchen zu Ravenna und Rom ausführen ließ, so ließ er auch die alten Schriftsteller nach den alten Handschriften mit der sorgsamsten Genauigkeit abschreiben. Staunend bewundern wir die Prachtwerke seiner Kalligraphen, und nichts ist vielleicht so charakteristisch für das was man damals erstrebte, wie diese Handschriften[17] mit ihrer Uncialschrift, ihren vollkommen nach antiken Mustern nachgeahmten Verzierungen und Bildern. Ja so wie Eigil von Fulda Modelle der antiken Säulen sich [156] verschafft hatte, welche Einhard benutzte, so wurden auch Sammlungen alter Inschriften mit größter Sorgfalt zusammengestellt und die Siglen der Juristen gesammelt und erklärt[18].
Am Hofe hatte sich aus alter Zeit immer eine Hofschule erhalten[19]. Diese wurde durch Karl neu belebt; er selbst, seine Kinder, seine Hofleute, nahmen an dem Unterrichte und den Uebungen Theil. Es erwuchs daraus neben der eigentlichen Schule eine förmliche Akademie, welche Karl und seine vertrauteren wissenschaftlichen Freunde zu regelmäßigen Sitzungen vereinigte[20]. In ähnlicher Weise wie an den arabischen Höfen dieser Zeit, wurden hier poetische Episteln gewechselt, wissenschaftliche Aufgaben gestellt und beantwortet, Räthsel aufgegeben und gelöst. Alle führten hier Namen aus der Vorzeit, in denen heidnische und christliche Erinnerungen in seltsamer Mischung erscheinen. So hieß Karl selbst David, Alcuin Flaccus, Einhard Beselecl nach dem kunstreichen Erbauer der Stiftshütte, Riculf Damoetas, Beornrad von Sens Samuel, Angilbert Homer; Audulf der Seneschalk und der Kämmerer Meginfrid führten die idyllischen Namen Menalcas und Thyrsis. Naso nannte sich selbst ein Dichter Modoin oder Muadwin, der von 815 bis nach 840 Bischof von Autun gewesen ist. In sehr ungelenken Idyllen feierte er David, den Kaiser, als Friedensfürsten und bewarb sich um dessen Gunst[21]. Die Standesverschiedenheiten der Gegenwart wurden durch solche Verhüllung auf diesem Gebiete in [157] den Hintergrund gestellt. Nicht zu bezweifeln ist, daß Karl selbst eine für jene Zeit nicht unbedeutende Bildung sich angeeignet hatte, aber Einhards ausdrückliches Zeugniß, daß es ihm nicht mehr gelingen wollte, schreiben zu lernen, dürfen wir doch auch nicht unterschätzen. Seine gelehrten Briefe an Alcuin schrieben, gewiß nach seiner Anweisung, die palatini pueri[22].
Man wird durch dieses Treiben erinnert an die platonische Akademie zu Florenz, allein es ist zwischen beiden doch ein großer Unterschied. Karl lag der Gedanke fern, die Litteratur nur wie einen Gegenstand des Luxus zu seinem Vergnügen zu pflegen; sein Briefwechsel mit Alcuin zeigt uns, daß seine Akademie auch praktisch wichtige Fragen behandelte, und oft einem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten ähnlich wird. Der Herstellung des alten Glanzes und der Reinheit der Kirche mußten alle seine gelehrten Freunde mit ernstlicher Arbeit dienen[23]. Allein das war doch auch wieder nur eine Seite der Bestrebungen des Königs; ihm war es voller Ernst, sein ganzes Volk auf eine höhere Stufe der Bildung zu heben, und deshalb legte er überall Schulen an, und sorgte unermüdlich für die Pflege und Hebung derselben[24]. Sogar von Alcuin trennte er sich aus diesem Grunde, und verlieh ihm 796 die Abtei des heiligen Martin zu Tours, wo er von nun an als Leiter einer blühenden Schule wirkte. Fast alle bedeutenderen Bisthümer und Abteien des Frankenreiches erhielten von hier aus ihre Vorsteher, und wo in der nächsten Folgezeit von litterarischer Thätigkeit etwas zu melden ist, da können wir mit Sicherheit darauf rechnen, einen Schüler Alcuins zu finden. Weit genug erstreckte sich der Wirkungskreis dieser Schule; doch errichtete Karl für die entfernteren Theile seines Reiches auch eigene Mittelpunkte, welche von seinem Scharfblick Kunde geben, wie alles was er gethan. In Italien besaß Pavia schon von Alters her gefeierte Lehrer, und diese Schule erhielt jetzt neuen Glanz durch den Schotten Dungal[25]; ihr Fortleben und bleibendes Gedeihen bezeugt [158] der erst später durch Bologna verdunkelte Ruhm der Rechtschule von Pavia.
Ein echt karlischer Gedanke war die Stiftung des Erzbisthums Hamburg an der Nordgrenze seines Reiches, die jedoch erst unter seinem Nachfolger zu Stande kam; aber gerade in den fernsten Osten ließ er Alcuins ebenbürtigen Freund, Arn, den Abt von St. Amand, ziehen, dem Tassilo 785 das Bisthum Salzburg verlieh[26]. 798 errichtete er hier dann ein Erzbisthum, welches bestimmt war, ein fester und segensreicher Mittelpunkt in politischer, kirchlicher und litterarischer Beziehung zu werden. Arn erfüllte seine Mission in vollem Maße; aus den Urkunden wie aus den Briefen Alcuins an ihn[27] tritt uns das Bild des bedeutenden, nach allen Richtungen thätigen Staatsmannes und Kirchenfürsten klar entgegen, und wenn ihm auch zu schriftstellerischer Thätigkeit kaum Zeit blieb, so zeugen doch seine Bemühungen für die Sammlung eines Bücherschatzes durch Abschriften von seiner Sorge für Schule und Lehre[28], wobei ihm von 797 bis 801 Alcuins Schüler Wizo hülfreich zur Seite stand. Die feindliche Erhebung des mährischen, dann des ungrischen Reiches, die Errichtung selbständiger Metropolen im Osten, haben Salzburg nicht zu seiner vollen Entwickelung gelangen lassen, doch auch in dieser Beschränkung ist die Stiftung des bairischen Erzbisthums von den bedeutendsten Folgen gewesen.
Ein wunderbarer Erfolg krönte diese Bemühungen Karls, und [159] er hatte das Glück, die Früchte seiner Mühen noch selbst zu erleben. Wie ein Phänomen in dunkelster Nacht erscheint plötzlich die Litteratur des neunten Jahrhunderts; nicht nur Geistliche, auch Laien schrieben Bücher, was seit Jahrhunderten nicht vorgekommen war, und Jahrhunderte lang nicht wieder vorkommt[29].
Denn von Dauer war dieser Glanz nicht; er verschwand fast eben so plötzlich wie er gekommen war, aufs neue bedeckte Finsterniß das Land, aber gerade in dieser Finsterniß bewährte sich die feste Begründung von Karls Schöpfungen. So viel auch wieder verloren ging, es blieb noch immer genug übrig, um als Grundlage für alle Folgezeit zu dienen. Wir haben schon oben bemerkt, daß Karl sein Werk nicht erst begann, daß er den Boden vorbereitet fand durch die Befestigung und Ordnung des Staates, durch die Herstellung der Kirchenzucht, und daß er nur dadurch im Stande war, so fest zu bauen. Es regten sich auch bereits einige Keime litterarischer Thätigkeit, als er auftrat, aber ihre rasche und glänzende Entfaltung ist doch ganz sein Werk, und nicht mit Unrecht sagte man im Mittelalter von ihm, daß er den Sitz der Studien von Rom nach Paris verpflanzt habe[30]. Zu einer Zeit, wo die Pariser Universität als der Mittelpunkt der Wissenschaft betrachtet wurde, galt er für den Stifter derselben. In dieser Form sprach sich der richtige Gedanke aus, daß Karl der Stifter einer neuen Culturperiode gewesen war.
Alcuini Opera ed. Frobenius (Froben Forster, Fürst-Abt zu St. Emmeram), 4 Bände, fol. Ratisb. 1777. Danach bei Migne, C. CI. Neue Ausgabe der Briefe u. hist. Schriften nach Jaffé's Vorarbeit von Dümmler und Wattenbach, Bibl. VI. 1873. Alcuins Leben von F. Lorentz, Halle 1829. Monnier, Alcuin et Charlemagne, Paris 1853. 1863. J, Bass Mullinger, The schools of Charles the Great and the restoration of education in the ninth century, London 1877. A. F. Théry, l'École et l'Académie Palatines. Alcuin, Amiens 1878. Dümmler, Art. Alcuin, Allg. D. Biogr. I, 343-348. K. Werner, Alcuin u. sein Jahrh. 2. Ausg. 1881. Ganz fabelhafter Brief über die Herkunft der Beneventaner unter Alcuins Namen NA. I, 169-172. — Vgl. Ebert II, 12-36. Cantor, Gesch. f. Mathematik I, 712-721. Hauck II, 119-145.
[160] Alchuine, wie die ursprüngliche Form lautete, oder Alcuin, nannte sich gern in mehr lateinisch klingender Form Albinus. Verwandt mit Willibrord, dessen Leben er auch beschrieben hat, wurde er um das Jahr 735 in York geboren. Seine Bildung verdankte er der ausgezeichneten Domschule in seiner Vaterstadt unter der Leitung Egberts, der seit 732 Erzbischof war, und Aelberts, der Alcuin mit sich nach Rom nahm, als er nach der Sitte dieser Angelsachsen dahin reiste, um Handschriften auf dem dortigen Markte zu erwerben, der noch immer bedeutend und damals wohl der einzige im Abendland war. Im Jahre 766 wurde Aelbert zum Erzbischof erhoben, und Alcuin folgte ihm in der Leitung der Domschule. Der Auftrag, für Eanbald das erzbischöfliche Pallium vom päbstlichen Hofe zu holen, führte ihn 781 wieder nach Rom, und auf dieser Reise war es, wo er zu Parma mit Karl zusammentraf, an den er schon früher einmal eine Botschaft gebracht hatte[1], und von ihm die Einladung erhielt, welche ihn vermochte, im folgenden Jahre mit seinen Schülern Wizo[2], Fridugis[3] und Sigulf[4] an Karls Hof [161] zu kommen; die Einkünfte der Abteien zu Ferrières und des heiligen Lupus zu Troyes sicherten ihm hier eine ansehnliche Stellung, während er in der Hofschule vor alten und jungen Zuhörern seine Vorträge hielt. Auch hier war es durchaus nicht allein auf dilettantische Belehrung der Hofleute abgesehen, sondern die vielen Söhne vornehmer Franken, welche nach alter Sitte zur Erziehung an den Hof gebracht wurden, erhielten hier allen Ernstes ihre Ausbildung zu Staatsmännern und Bischöfen. Nach Alcuins eigener Angabe war sein vorzüglichster Beweggrund nicht etwa wissenschaftlicher Eifer, sondern die Sorge für Aufrechterhaltung der kirchlichen Orthodoxie im Frankenreiche[5], wie denn überhaupt der kirchliche Standpunkt bei ihm durchaus maßgebend ist.
Im Jahre 789 kehrte Alcuin nach England zurück; aber die heftigen Streitigkeiten über Adoptianismus und Bilderverehrung veranlaßten Karl, ihn von neuem dringend einzuladen, und die inneren Unruhen, welche England zerrissen und Alcuin sogleich wieder in die ihm verhaßten politischen Händel verflochten hatten, machten diesen geneigt, seine Heimath zu verlassen. Er erschien 794 auf dem zu Frankfurt gegen Felix und Elipand versammelten Concil als Abgesandter der englischen Kirche und bewährte sich durch mehrere Schriften als tapferer Streiter gegen die Irrlehren[6]; noch zog es ihn zurück in sein Vaterland, aber die Ermordung Ethelreds 796 verleidete ihm die Heimkehr, und von nun an widmete er sich ganz dem Frankenreiche. Nach Iterius Tod erhielt er 796 die Abtei des heiligen Martin zu Tours, der er bis zu seinem Tode, am 19. Mai 804, vorstand. Dem unruhigen Getreibe des Hofes fern, entfaltete er hier die segensreichste Thätigkeit und bildete eine außerordentliche Zahl von Zöglingen, welche im ganzen weiten Reiche Karls neue Stätten wissenschaftlicher Thätigkeit begründeten. Seinen Schüler Wizo schickte er nach England, um Bücher zu holen, die er zu Tours durch zahlreiche und sorgfältige Abschriften vervielfältigen ließ. Zugleich aber blieb er in fortwährender Verbindung mit Karl, der ihm das größte Vertrauen schenkte. Als unschätzbares Denkmal ist uns seine Briefsammlung erhalten, welche zu den wichtigsten Quellen für die Geschichte dieser Zeit [162] gehört, wenn gleich der stoffliche Inhalt geringer ist, als wir wünschen möchten. Die größte Masse ist aus den letzten Jahren, in welchen Alcuins Frömmigkeit immer mehr überhand nahm, und fromme Ermahnungen sind in hohem Grade vorherrschend. Eben diese gaben in jenen Zeiten Anlaß, sie als Vorbilder zu sammeln und abzuschreiben; es zeugt aber von der hohen Bedeutung des Mannes, daß nicht wie bei anderen Briefsammlungen, die Hauptmasse einem Conceptbuch des Verfassers entstammt, sondern wie Sickel nachgewiesen hat, seine Schüler und Verehrer, ein Arno, Adalhard, Angilbert, dazu Angelsachsen es gewesen sind, welche die ihnen zugänglichen Briefe sammelten und dadurch vor dem Untergang bewahrten[7].
Viel und gern versuchte Alcuin sich auch in Gedichten, welche freilich sehr incorrect, aber doch nicht ohne Leichtigkeit im Ausdruck und gefällige Anmuth sind[8]. Sie bieten uns manchen Einblick in die Zustände der Zeit, und das umfangreichste darunter, über die Bischöfe der Kirche zu York, reich an schönen Stellen und belebt durch die warme Liebe zur Heimath, gewährt mannigfache Belehrung über die Stiftschule zu York und Alcuins Leben vor seiner Berufung nach Frankreich[9]. Seine übrige schriftstellerische Thätigkeit dagegen war mehr auf Theologie, Philosophie[10] und Grammatik[11] gerichtet als auf Geschichte. Sein lateinischer Stil, der noch sehr fehlerhaft ist und von seinen eigenen Schülern bald übertroffen wurde, fand bei seinen Zeitgenossen hohe Bewunderung; [163] und auf Bitten Angilberts bearbeitete er das Leben des h. Richarius, auf den Wunsch des Abtes Rado[12] das Leben des h. Vedastus. Bei beiden beschränkte er sich auf Glättung und Ausschmückung der überlieferten Darstellungen, und der erbauliche Zweck ist die Hauptsache, wie nicht minder auch in dem schon oben (S. 132) erwähnten Leben des h. Willibrord. Daß man ihm auch ein Leben Kaiser Karls zugeschrieben hat, beruht auf einer Verwechselung mit Einhard.
In seinen alten Tagen versank Alcuin mehr und mehr in Frömmelei, und das Studium Vergils, den er selbst einst eifrig nachzuahmen gestrebt hatte, verwarf er später als höchst gefährlich, wenigstens für Mönche[13].
Fast zwanzig Jahre waren schon seit Alcuins Tod vergangen, als auf den Wunsch eines Abtes, wahrscheinlich des Abtes Alderich von Ferrières, der unter Alcuin dort Mönch geworden war, und 829 das Erzbisthum Sens erhielt, nach Benedicts von Aniane Tod (11. Feb. 821), ein Schüler Sigulfs, dem nach Alcuins Tod die Abtei zugefallen war, es unternahm, das Leben Alcuins zu beschreiben. Gesehen hatte er selbst ihn nicht mehr, aber Sigulf hatte ihm viel erzählt, und das ist, außer dem Briefwechsel über den Adoptianismus, seine einzige Quelle. Daher ist es nicht zu verwundern, daß wir hier viel von Alcuins Frömmigkeit, von Askese und von Wundern finden, keineswegs aber ein Bild seiner fruchtreichen Thätigkeit in den Jahren seiner Kraft. Erbauung für Mönche ist der Zweck des Büchleins, und dem entspricht es leider nur zu sehr. Doch finden sich darin auch manche nicht unwichtige Nachrichten vorzüglich über seine Jugendzeit, welche wir dankbar annehmen müssen. Die Sprache ist im damaligen Schulgeschmack gesucht und mit frommem Schmuck überladen[14].
Sein Leben ist erst genauer bekannt geworden durch die von Lebeuf entdeckten und in der Dissertation sur l'histoire de Paris 1739 herausgegebenen Gedichte. Bethmann, Paulus Diaconus Leben und Schriften, Archiv X, 247-334. Bethmann, Die Geschichtschreibung der Langobarden, ib. 335-414. Langob. Regesten, nach Bethmanns Nachlaß bearb. v. Holder-Egger, NA. III, 225-318. L. Ranke, P. D. Ges. Werke LI, 77-92. F. Dahn, Des Paulus D. Leben u. Schriften, 1876 (die Gedichte [164] in sehr schlechten Texten). Vgl. die Anz. von G. Waitz, GGA. 1876 S. 1513-1523. Ebert II, 36-56. Bursian, Gesch. d. Philol. I, 19. Balzani S. 66-90. Pasq. Del. Giudice 1880, wiederholt in: Studi di storia e diritto (1890) S. 1-43. — Die Gedichte Poet. Lat. I, 27-86, vgl. NA. IV, 102-112. 573. X, 165. XVII, 397-401. Traube, Karol. Dicht. S. 62. 63. NA. XV, 199 (Die Verse „Multa legit“ zu streichen). Ein grammat. Gedicht Poet. lat. I, 625-628, vgl. II, 698. Der Lobgesang auf den h. Mercur kann nach Dümmler nicht von P. D. herrühren, vgl. Dahn S. 17.
Wie die Gothen, so bewahrten auch die Langobarden ihres Volkes Urgeschichte, die alten Sagen, die Großthaten der Väter, besonders aber, worauf sie den größten Werth legten, die Folge und Verwandtschaft der Geschlechter, in ihren Liedern, die sich mündlich vom Vater auf den Sohn vererbten. Sie aufzuzeichnen, keine leichte Arbeit, mochte überflüssig erscheinen, so lange sie noch im Volke lebten; doch gegen das Ende des siebenten Jahrhunderts, um 670 hat ein Langobarde aus ihnen die Geschichte seines Volkes entnommen, und der Langobarden Herkunft, wie man davon sagte und sang, in kurzen und schlichten Worten berichtet; in Umrissen nur, nicht in ausführlicher Erzählung, aber was er uns giebt, ist unberührt von der fremden Gelehrsamkeit, welche die gothischen und fränkischen Sagen entstellt hat[1]. Man hatte darin doch etwas mehr als in dem kahlen Königsverzeichniß, welches König Rothar 643 seinem Gesetzbuch vorangestellt hatte; des Volkes Aelteste, welche das Recht sprachen und das Andenken der Vergangenheit festhielten, trugen darum auch dieses Schriftchen in ihr Rechtsbuch ein, wie wir das so häufig wiederfinden in den Handschriften des Mittelalters, bei den Gesetzen der Westgothen und Franken so gut wie beim Sachsenspiegel.
Es gab freilich damals bereits auch eine andere Geschichte der [165] Langobarden, verfaßt von dem Knechte Gottes Secundus, Abt in Trient († 612), aller Wahrscheinlichkeit nach, wie R. Jacobi bemerkt, demselben, welcher in Pabst Gregors I Briefe vorkommt[2]; wir kennen sie aber nur, weil Paulus ihrer gedenkt, und sie scheint wenig Verbreitung gefunden zu haben. Ein so frommer Mann römischer Abkunft erzählte schwerlich von Wodan und Freia, und mit der römischen Bildung haben die Langobarden sich nur sehr langsam befreundet. Ein Römer scheint es auch gewesen zu sein, der im Jahre 641 die oben S. 84 erwähnte Fortsetzung des Prosper verfaßte. Von litterarischer Thätigkeit im langobardischen Reiche finden sich weiter keine Spuren, man müßte denn etwa des Abtes Jonas von Susa Schriften, deren wir schon oben (S. 118) gedachten, dazu rechnen, der aber auch ein Romane war. Sonst liegt noch ein um 698 verfaßtes rhythmisches Gedicht in rohester Form vor, in welchem ein Magister Steffan den König Kunincpert feiert, der das Schisma von Aquilegia beendigt hatte; auch seiner Vorfahren, die Arianer und Juden verfolgten, wird rühmend gedacht[3]. Nicht minder roh in der Form ist eine bald nach 738 verfaßte rhythmische Beschreibung von Mailand, worin König Liutprand und Bischof Theodor gepriesen werden[4].
Die Grammatiker jedoch, welche trotz aller Ungunst der Zeiten ihre Thätigkeit in Italien immer fortgesetzt hatten, fanden allmählich auch unter den Langobarden Schüler, und als deren Herrschaft sich ihrem Ende nahte, da hatten sie dem fremden Volke bereits seinen Geschichtschreiber erzogen, der, wie Jordanis, nach dem Sturze des Reiches wenigstens das Andenken desselben für die Nachwelt bewahrte.
Paulus, des Warnefrid Sohn, aus einem edlen Langobardengeschlechte, das im Friaul begütert war, um 720 geboren, wurde wahrscheinlich nach alter deutscher Sitte am Hofe des Ratchis (744-749) zu Pavia erzogen; als seinen Lehrer nennt er den Grammatiker Flavianus, dessen er noch in seinem hohen Alter mit Liebe [166] gedenkt[5]. Auch dem König Desiderius soll Paulus lieb und werth gewesen sein, und wenn auch die Zeugnisse dafür unzuverlässig sind, so ist es doch an sich sehr wahrscheinlich, daß er in der königlichen Kanzlei Beschäftigung fand und eben dadurch in ein so nahes Verhältniß zu der Herrscherfamilie trat. Im J. 763 verfaßte er rhythmische Verse über die sechs Weltalter, welche akrostichisch die Worte Adelperga pia enthalten[6], den Namen der Tochter des Desiderius, welche seine Schülerin war; dieser und ihrem Gemahl Arichis war er mit der wärmsten Anhänglichkeit und Freundschaft ergeben, und an ihrem Hofe zu Benevent fand er eine Zuflucht nach dem Falle des Reiches von Pavia, wenn er nicht schon früher die Königstochter dahin begleitet hatte. Für sie verfaßte er hier seine Römische Geschichte bis auf Justinian, deren wir schon oben (S. 52) gedachten[7]. Er hatte der wißbegierigen Königstochter den Eutrop zu lesen gegeben, in welchem sie aber jede Erwähnung der jüdischen und christlichen Geschichte vermißte. Deshalb versah er das Werk mit Zusätzen und mit einer Fortsetzung aus verschiedenen Quellen, und das Geschick nebst der umfassenden Litteraturkenntniß, womit er diese Arbeit ausführte, hat lebhafte Anerkennung bei Th. Mommsen gefunden, auf dessen Anordnung die Ausgabe von H. Droysen die Gestalt von Zusätzen zum Eutrop erhalten hat[8]. Den zusammenhängenden Text des Paulus dagegen finden wir in der Octavausgabe.
Um diese Zeit dichtete Paulus auch für Arichis die Inschriften, womit dieser seine glänzenden Bauten zu Salerno schmückte, und die Grabschrift auf die Königin Ansa[9], welche 774 nach Frankreich [167] abgeführt war, und deren Todesjahr unbekannt ist. Noch feiert er darin Adelchis als die Hoffnung der Langobarden.
Wann Paulus in den geistlichen Stand eingetreten ist, dem er seinen Beinamen Diaconus verdankt, wissen wir nicht; ebenso wenig, wann er in dem großen Mutterkloster des Abendlandes zu Montecassino das Mönchsgelübde abgelegt hat; vielleicht führte ihn dorthin die Anhänglichkeit an König Ratchis, der hier als Mönch seinen Weinberg baute, vielleicht die Noth nach der Confiscation der Güter seiner Familie. Das stille Klosterleben aber gewann bald einen solchen Reiz für Paulus nach den traurigen Zeiten, die er durchlebt hatte, daß er die heilige Stätte wohl nicht wieder verlassen haben würde, wenn nicht die politischen Ereignisse ihm auch hier keine Ruhe gelassen hätten.
Im Jahre 776 nämlich war im Friaul ein Aufstand gegen die Franken ausgebrochen, dem vielleicht Paulus selbst nicht fremd war, und wohl ohne Zweifel war dies die Veranlassung, weshalb sein Bruder Arichis gefangen fortgeführt wurde und sein Vermögen verlor. Lange scheint sich Paulus jeder Annäherung an die Franken enthalten zu haben; als aber Karl 781 nach Rom gekommen war, und in der Ordnung der italischen Verhältnisse seine Mäßigung und Milde bewährt hatte[10], da richtete Paulus, sechs Jahre nach jenem Ereigniß, eine Elegie an den König, worin er ihn um Gnade für seinen Bruder bat[11]. Damit begab er selbst sich zum Könige, und schrieb am 10. Januar 783 von den Ufern der Mosel einen Brief an seinen Abt Theudemar[12], worin er noch den festen Entschluß ausspricht, in sein Kloster, nach welchem lebhafte Sehnsucht ihn erfüllte, heimzukehren, sobald er den Zweck seiner Fürbitte erreicht habe. Er rühmt aber sehr die gute Aufnahme, welche er gefunden habe. Es war gerade die Zeit, in welcher Karl die Gelehrten aller Länder an seinem Hofe versammelte, und Paulus ließ sich doch bestimmen, einige Jahre an dieser ersten frischen Entfaltung litterarischer Thätigkeit sich zu betheiligen. Noch haben sich Verse erhalten, welche in Karls Namen Peter von Pisa an ihn richtete[13], wo in scherzhafter Uebertreibung seine Gaben und Kenntnisse gefeiert werden. Eben wolle er seine Tochter nach Griechenland verheirathen, sagt Karl, und Paulus solle ihre Begleiter in dieser Sprache unterweisen. Bescheiden [168] und aufrichtig lehnt Paulus die Lobsprüche und den Auftrag ab, und ebenso wenig wird er, was ihm in ähnlicher Weise zugemuthet wurde, die Bekehrung des Dänenkönigs Siegfried versucht haben. Einige Kenntniß der griechischen Sprache, welche man bei der Nachbarschaft nicht gut entbehren konnte, hatte er, wie er selbst sagt, in der Schule erworben, aber weit wird dieselbe nicht gereicht haben. Er dichtete aber Grabschriften für die Königin Hildegard († 783) und für deren so wie für Pippins Töchter, und verfaßte auf Karls Befehl die Homiliensammlung, welche der Unwissenheit der Geistlichen in wirksamer Weise zu Hülfe kam[14]. Diese wird er jedoch, wie Dahn nachgewiesen hat, erst in Montecassino ausgearbeitet haben.
In eben dieser Zeit schrieb Paulus auch auf Bitten des Bischofs Angilram von Metz die Geschichte von dessen Vorfahren auf dem Stuhl des heiligen Clemens[15]. „Mit besonderer Ausführlichkeit behandelte er darin die Familie und die Ahnen Karls des Großen, vielleicht,“ wie Bethmann sagt, „auf dessen eigenen Wunsch oder wenigstens ihm zu Gefallen, und nicht undeutlich blickt die Absicht [169] durch, die Thronbesteigung der Karolinger zu rechtfertigen und sie als ein durch Heilige gleichsam legitimes Herrscherhaus darzustellen.“ Doch hat gegen diese Auffassung Bonnell[16] nicht unerhebliche Gründe geltend gemacht, und nur die Verherrlichung des Ahnherrn Arnulf im Anschluß an dessen ältere Lebensbeschreibung bestehen lassen.
Paulus gab in diesem Werke das erste Beispiel und Vorbild der Bisthumsgeschichten. Auch eine Biographie Gregors des Großen hat Paulus nach seiner eigenen Angabe geschrieben[17]; daß er aber auch derjenige Paulus gewesen wäre, welcher eine kritisch verbesserte Auswahl aus Gregors Briefen an Adalhard schickte, ist mindestens sehr unsicher[18]. Dagegen bemerkt Dümmler, daß er wohl der in einem Schreiben Hadrians I (Bibl. IV, 274) erwähnte Paulus grammaticus sein könne, welcher Gregors I Sacramentar für Karl von ihm erbeten hatte.
So wahrhaft und innig auch die Liebe gewesen zu sein scheint, welche den langobardischen Mönch mit dem Besieger seines Volkes verband, auf immer ließ er sich doch nicht am Hofe fesseln. Die immer zunehmende, endlich bis zum Kriege gesteigerte Feindschaft zwischen Arichis und Karl mag ihm wohl zuletzt den Aufenthalt daselbst vollends verleidet haben, obwohl sein persönliches Verhältniß zum Könige auch durch diese Vorfälle nicht gestört wurde. Doch finden wir ihn 787 wieder in Montecassino, wo er die schöne Grabschrift für den am 25. August verstorbenen Fürsten Arichis verfaßte[19]. Den Abend seines Lebens widmete er von nun an in ungestörter Ruhe frommen Betrachtungen und der Geschichte seines Volkes. Er schrieb eine ausführliche Erläuterung der Klosterregel[20] und verfaßte die sechs Bücher seiner Geschichte der Langobarden[21], die er leider unvollendet hinterlassen hat. Er erfüllte [170] damit das schon in der Widmung der Römischen Geschichte der Adelperga gegebene Versprechen, sie bis auf seine Zeit fortzusetzen.
Als einen bedeutenden Historiker können wir Paulus freilich nicht betrachten. Die Sprache weiß er in seinen Gedichten mit Leichtigkeit und Anmuth, wenn auch nicht fehlerfrei, zu behandeln[22] und in der Erzählung zieht uns ihre schmucklose Einfachheit an. Von der gesuchten Gelehrsamkeit und Ueberkünstelung so wie von der barbarischen Rohheit des siebenten Jahrhunderts ist er frei, und für sein Zeitalter ist seine gelehrte und sprachliche Bildung außerordentlich hoch anzuschlagen[23]. Allein historische Kunst oder tiefere Auffassung dürfen wir bei ihm nicht suchen. In der Geschichte der Bischöfe von Metz berichtet er anfangs die fabelhafte Localtradition, ohne ein Urtheil darüber auszusprechen, als Sage, dann schöpfte er seine Nachrichten aus Gregor, Fredegar und dem Leben Arnulfs; was er aus der neueren Zeit hinzufügt, ist wenig bedeutend, wie denn auch dieses ganze Werk über einen ihm fernliegenden Gegenstand, auf den Wunsch seines Gönners verfaßt, zu keinen höheren Ansprüchen berechtigt.
Anders verhält es sich mit der Geschichte der Langobarden. Leider reicht sie nur bis zum Tode Liutprands (744), und es fehlt uns also die Darstellung der Zeit, welche der Verfasser selbst durchlebt hat. So weit er aber mit seiner Arbeit gekommen ist, finden wir auch hier nur einfache Erzählung, zusammengesetzt aus der mündlichen Ueberlieferung und schriftlichen Quellen, wie der Origo, [171] Gregor von Tours, Beda, den Leben der Päbste u. a. m.[24]. Aus diesen nimmt er ganze Stücke auf, ohne sie eigentlich zu einem Ganzen zu verarbeiten; in der Kritik, sogar in der Sorgfalt und Genauigkeit bei Benutzung seiner Gewährsmänner erscheint er schwach, höchst verwirrt in der Chronologie, und obwohl seine eigentliche Aufgabe die Volksgeschichte der Langobarden ist, nimmt er ohne rechtes Maß doch auch fernerliegendes auf. Läßt er aber demnach als gelehrter Geschichtschreiber viel zu wünschen übrig, so entschädigen uns doch dafür andere sehr wesentliche Vorzüge, die einfache Klarheit seiner Darstellung, die lautere Wahrheitsliebe, die ihn von allem in ungeschminkter Geradheit berichten läßt, die Wärme des Gefühls für sein Volk, welche sich auch ohne ruhmredige Verherrlichung besonders in der Aufzeichnung der alten Sagen kundgiebt. Sehen wir nun aber vollends auf den materiellen Werth seiner Geschichte, so ist derselbe unbedenklich als ganz unschätzbar anzuerkennen, wir verdanken ihm eben die Bewahrung jenes reichen, durch keine spätere Gelehrsamkeit verfälschten Sagenschatzes, und über die Geschichte der Langobarden, was er aus dem Secundus von Trident und anderen verlorenen Quellen schöpfte sowohl wie die Aufzeichnung mündlicher Ueberlieferung: rettungslos würde alles dieses nach dem Sturze des Reiches dem Untergang verfallen sein, wenn nicht des alten Mönches Hand es mit treuer Liebe aufgezeichnet hätte.
Angilberti Carmina ed. Dümmler, Poet. Lat. I, 355-381; vgl. NA. IV, 140-142. Die älteren Drucke, gesammelt bei Migne XCIX, 849-854, dadurch veraltet. Herm. Althof: Angilberts Leben und Dichtungen (übersetzt). Wiss. Beilage z. Progr. des Realprogymn. u. Progymn. zu Münden. Bes. Abdr. Hann. Münden 1888. Traube, O Roma nobilis (Abh. d. Münch. Akad. I. CI. XIX, 2) S. 326-331. Verz. seiner Gedichte. Ein Abt Angilbert von Corbie zugeschriebenes Gedicht ihm zugesprochen. Ders., Karol. Dicht. I, 51-60 gewinnt Gedichte Angilberts aus denen des Bernowin (Poet. Lat. I, 413-425), der sich als Plagiator A.'s Gedichte angeeignet hat.
[172] Wie Paulus am langobardischen, so war Angilbert, der ebenfalls aus vornehmem Geschlechte stammte, am fränkischen Hofe aufgewachsen[1]. Wohl wenig jünger als Karl selbst, war er mit diesem durch innige Freundschaft verbunden und stand zu der ganzen königlichen Familie im vertraulichsten Verhältniß. Er scheint sich schon früh mit wissenschaftlichen Studien beschäftigt und eine ansehnliche Stellung in Karls Kapelle erlangt zu haben. Als Alcuin an den Hof kam, ergriff er mit demselben Eifer, wie sein königlicher Freund, die Gelegenheit zu höherer Ausbildung; er wurde ein Schüler Alcuins, des Paulinus und Peters von Pisa, und nahm an der Akademie den lebhaftesten Antheil; hier erhielt er wegen seiner poetischen Begabung den Namen Homer. Aus dieser frühen Zeit der achtziger Jahre haben sich einige, in der Form zum Theil noch sehr unvollkommene Gedichte erhalten, welche Dümmler kürzlich aus einer gleichzeitigen Handschrift herausgegeben hat[2]. In dem einen, welches aus versus serpentini besteht, grüßt Angilbert mit seinen Genossen Angelram und Riculf den nach Italien heimgekehrten Lehrer Peter von Pisa, und sendet zugleich ein von ihm erbetenes Gedicht Karls des Großen an ihn. In dem Gedicht eines räthselhaften Fiducia an Angelram werden Angilbert und Theodulf als divini poetae erwähnt. Diese Verse scheinen früher angesetzt werden zu müssen, als Angilberts Sendung nach Italien, wo ihm, gewiß ein Zeichen hohen Vertrauens, eine bedeutende Stellung am Hofe des Kindes Pippin in dem neugewonnenen italienischen Königreiche anvertraut wurde. Auch war er mit Alcuin schon vorher befreundet[3].
Zurückgekehrt trat Angilbert wieder in den Kreis seiner alten Freunde ein, und genoß in hohem Grade Karls Vertrauen, der ihn 796 in einem Briefe an Leo III manualem nostrae familiaritatis auricularium, in dem an ihn selbst gerichteten Brief seinen auricularius nennt[4]. Er gehörte zur königlichen Kapelle, und auch seine Würde [173] am italienischen Hofe war vielleicht schon eine geistliche[5]. Wie bedeutend und einflußreich seine Stellung gewesen ist, zeigen die wichtigen Gesandtschaften an den römischen Pabst, welche ihn noch dreimal (792, 794, 796) nach Italien führten; auch soll er im Jahre 800 den König nach Rom geleitet haben, und im Jahre 811 unterzeichnete er Karls Verfügung über seinen Schatz zu Gunsten der Kirchen seines Reiches.
Noch hatte sich am fränkischen Hofe aus Karl Martels Zeit die Sitte erhalten, daß die Einkünfte reicher Abteien zum Unterhalt der Hofleute verwandt wurden, und auch Angilbert war 790 Abt von Centula oder Saint-Riquier in der Picardie geworden[6]. Er betrachtete aber diese Würde nicht als eine bloße Pfründe, sondern stellte es sich vielmehr zur Aufgabe, dieses Kloster so herrlich wie möglich auszustatten. Unterstützt durch Karls fürstliche Freigiebigkeit, mit Hülfe königlicher Baumeister und Künstler, baute er es von Grund aus neu, und auch hierher kamen antike Säulen und Marmorstücke aus Italien. Angilbert selbst hat darüber einen Bericht geschrieben, der fast vollständig in Hariulfs Chronik aufgenommen ist[7]. Die vollendete Kirche schmückte er in glänzendster Weise mit jedem Zubehör des prachtvollen Kirchendienstes; namentlich ließ er sich, wie Arn, die Pflege der Bibliothek angelegen sein und bereicherte diese mit 200 Büchern. Vielleicht das köstlichste unter diesen für die Mönche von Centula war das Leben ihres Stifters, des h. Richarius, welches auf Angilberts Bitten sein Freund Alcuin nach den gesteigerten Anforderungen der Zeit neu bearbeitete[8]. Im Jahre 800 hatte Angilbert die Freude, seinen königlichen Freund in den Mauern seines Klosters als Gast zu empfangen, der bei ihm am 19. April das Osterfest feierte, und wie er diesem Zeit seines Lebens in treuester Freundschaft zugethan war, so folgte er ihm auch am 18. Februar 814 im Tode nach.
[174] Daß Angilbert nach solchen Verdiensten um das Kloster später daselbst als Heiliger verehrt ward, versteht sich von selbst[9]; Anscher, sein Biograph im zwölften Jahrhundert, weiß auch viel von seinem strengen und erbaulichen Wandel zu erzählen, allein das war gleichfalls so unvermeidlich, wenn man nach Jahrhunderten über das Leben des Stifters berichtete, daß darauf durchaus kein Gewicht zu legen ist. Einem Staatsmanne Karls des Großen stand mönchische Askese übel an, und Angilberts Thätigkeit scheint mehr auf eine tüchtige praktische Wirksamkeit gerichtet gewesen zu sein; unmöglich ist es aber nicht, daß er in seinen alten Tagen sich getrieben fühlte, für ein früher allzu freies Leben Buße zu thun. Hatte er sich doch schon von Alcuin einreden lassen, daß die Schauspiele, an denen er so viele Freude hatte, sündlich wären, und wenn auch Alcuin seinen Wandel im übrigen würdig und angemessen nennt[10], so wissen wir doch von einem Verhältniß, welches den mönchischen Sittenpredigern nicht gefallen konnte, so wenig es auch an Karls Hofe auffallen und Anstoß erregen mochte. Denn Angilbert war der glückliche Geliebte von Karls schöner Tochter Bertha, die ihm zwei Söhne, Nithard und Harnid, geboren hat: ein Verhältniß, welches vielleicht durch eine naheliegende Verwechselung Anlaß gegeben hat zu der bekannten Sage von Eginhard und Emma[11]. Die [175] Thatsache ist unzweifelhaft; Nithard, der eigene Sohn, erzählt sie, und wir haben Einhards ausdrückliches Zeugniß dafür, daß Karl sich nicht entschließen konnte, eine von seinen Töchtern zu verheirathen. Daß er ihnen dafür um so größere Freiheit gestattete und daß manches anstößige Verhältniß an seinem Hofe geduldet wurde, ist ebenfalls bekannt genug. Wie Hariulf, der 1088 seine lehrreiche Chronik von Centula vollendete, diesen Umstand behandelt hat, wissen wir nicht, da gerade hier zwei Blätter aus der Handschrift ausgeschnitten sind; der Interpolator sagt kurz, daß Angilbert die Bertha zur Ehe erhalten habe und mit ihr den Ducat des Küstenlandes[12]. Wahrscheinlich aber war die Darstellung hier ähnlich wie in der zweiten Biographie, welche nebst drei Büchern Mirakel von dem Abt Anscher verfaßt ist, um die Canonisation Angilberts zu erwirken. Im Jahr 1110 hatten die Wunder an dem vergessenen Grabe Angilberts neu begonnen, und Anscher überreichte das Werk dem Erzbischof Radulf von Reims, vielleicht auch dem Pabste, um die Heiligsprechung zu erreichen. Ungeachtet dieses Zweckes aber erzählt er unbefangen, gewiß alter Ueberlieferung folgend, daß Bertha in heißer Liebe zu Angilbert, der schon zum Priester geweiht war und ein Bisthum erhalten sollte, entbrannte; ungern habe Karl nachgegeben. Angilbert aber, ausgestattet mit dem Ducat, den Anscher schon nach den Begriffen seiner Zeit als ein Herzogthum auffaßt, schlägt die Dänen[13] mit S. Richarius Hülfe, wird dann Mönch und führt zur Buße das strengste Mönchsleben, während Bertha ebenfalls zu Saint-Riquier den Schleier nimmt. Das ist nicht richtig, noch bei der Zusammenkunft Karls mit Pabst Leo zu Paderborn 799 erscheint Bertha in voller weltlicher Herrlichkeit, und hat nach Einhards Zeugniß bis zu des Kaisers Tod den Vater nicht verlassen; auch 826 bei der Ankunft des h. Sebastian finden wir sie bei ihrem Bruder in Soissons. Da sie ferner erst um 780 geboren ist[14], war Angilbert schon Abt, als sie sich in ihn verliebte, und daß er auch noch viel später, noch im J. 800 nach Karls Osterfeier in St. Riquier, sein Familienleben am Hofe nicht aufgegeben hatte, zeigt uns das [176] anmuthige Gedicht, welches zuerst von Docen an dem Dichternamen Homer als ein Werk Angilberts erkannt ist[15], ein Gruß an Karl und den engeren Kreis der Seinen aus der Ferne. Hier gedenkt er nach der Schilderung der königlichen Pfalz und ihrer Bewohner, zuletzt auch seines nahe gelegenen Hauses mit dem Garten, in welchem seine Knaben spielen; die zärtlichste Liebe und Sorge spricht sich darin aus, aber von der Mutter ist keine Rede. Dagegen begrüßt er unter Karls Töchtern Bertha mit besonderer Verehrung[16], und die Weise, wie er den König als seinen süßen David, dessen Kinder als seine Lieben grüßt, deutet auf ein sehr vertrauliches Verhältniß.
Aehnlicher Art wie dieses ist ein anderes Gedicht Angilberts, verfaßt als er 796 nach Italien eilend, dem siegreichen jungen Könige Pippin in Langres begegnete; er schildert die Freude des Wiedersehens, die ungeduldige Erwartung am Hofe, und voraus schauend die zärtliche Begrüßung des jungen Helden im Kreise der Seinen[17].
Geglaubt hat man, daß uns auch noch aus einem größeren Werke Angilberts ein Bruchstück erhalten sei. Sein Dichtername Homer, den ihm Karl selbst 796 beilegt, in dem Briefe, welcher die wichtigsten Aufträge für seine römische Gesandtschaft enthält[18], deutet auf große Erwartungen, die sich an ihn knüpften, die Erwartung, daß er Karls Thaten in einem Epos feiern werde. Wenn wir daher einem solchen Epos wirklich begegnen, so ist wohl die Vermuthung gerechtfertigt, daß kein anderer als Angilbert der Verfasser sein könne. Hegewisch hat deshalb bereits diese Vermuthung ausgesprochen, und Pertz das Gedicht unter Angilberts Namen herausgegeben[19]. Allein der Abstand von Angilberts Werken in der Beherrschung [177] der Sprache und der Behandlung des Verses zu Gunsten dieser Dichtung ist doch zu groß, um beide demselben Verfasser zuschreiben zu können. Auffallend ist es, da wir doch im Ganzen über diese Zeit so genau unterrichtet sind, von einem so bedeutenden Werke gar keine Erwähnung zu finden. Vermuthlich ist es unvollendet geblieben, und deshalb weder vollständig erhalten, noch hinlänglich beachtet, um von anderen genannt zu werden. Doch würde Angilberts Dichtername Homer wenigstens eine Hindeutung enthalten, die für andere, wie Theodulf, den Dümmler vermuthungsweise genannt hat, gänzlich fehlt. Ein Citat freilich ist uns jetzt bekannt geworden: in der oben S. 156 angeführten Ecloge des Naso wird ein Dichtergreis eingeführt, den er Micon nennt, und dieser verwendet einen Vers aus jenem Epos zum Preise des Kaisers (p. 389, v. 74). Doch kann er ihn sich ebenso wie so manchen Vergilvers angeeignet haben. Vorher spricht Naso von dem Dichterruhm des Alcuin, Theodulf, Einhard, und setzt hinzu: "Nam meus ecce solet magno facundus Homerus Carminibus Carolo studiosis saepe placere." Daß aber nun dieser Homer eben der Micon sei, darauf deutet nichts, und wir dürfen es kaum annehmen. Wir ersehen hieraus nur, daß schon wenige Jahre nach der Kaiserkrönung das Gedicht vorhanden war. Sicher war der Verfasser ein Mann von ungewöhnlichem Geiste und großer dichterischer Begabung, der sich den Unterricht der Hofschule mit bestem Erfolge zu Nutze gemacht hat. Dafür zeugt die fleißige, man muß wohl sagen übermäßige, Benutzung des Vergil, Ovid, Lucan, und wie B. Simson nachgewiesen hat[20], Venantius Fortunatus, zu denen Manitius noch mehrere hinzugefügt hat, welche ihm an sich so wenig zum Vorwurf gemacht werden kann, wie Einhard die Nachahmung des Sueton, und bei seinen Zeitgenossen gewiß eher Bewunderung als Tadel erregte, wenn er auch in übergroßem Eifer nach dem Vorbild von Karthago sogar von Hafenbauten bei Aachen dichtete. Auch zu Karls Akademie muß der Dichter gehört haben, da er ihn immer David nennt, was ein anderer sich gewiß nicht hätte erlauben dürfen, und die lebendige Schilderung verräth sowohl den Augenzeugen als auch einen Mann, der Karls Hofe nicht fern stand, was freilich bei einem so ausgezeichneten Dichter ohnehin mit voller Sicherheit anzunehmen ist.
[178] Erhalten ist uns der Anfang des dritten Buches oder vielleicht das ganze, 536 Verse, vermuthlich ein Stück, welches seiner besonderen Schönheit wegen einzeln in eine Blumenlese aufgenommen war, denn es steht mitten zwischen anderen Bruchstücken. Die Geschichte der Gegenwart episch zu behandeln, ist stets ein Mißgriff, und immer werden es die einzelnen Schilderungen sein, welche einem solchen Werke seinen Reiz verleihen. Aber auch die Anlage ist hier doch sehr geschickt entworfen. In voller Pracht wird Karls Hofhaltung uns vor Augen geführt; eine Lobrede auf den großen König eröffnet das Buch, dann werden die Bauten zu Aachen und eine große Jagd mit reichen Farben und lebendiger Anschaulichkeit geschildert: mit besonderer Vorliebe verweilt der Dichter bei den Töchtern Karls, zu denen wohl kein anderer Dichter der Zeit in so nahem Verhältniß stand wie Angilbert. In der Nacht läßt dann der Dichter den König im Traume die Mißhandlung erblicken, welche der Pabst Leo 799 in Rom erfuhr; er weicht darin von der Wirklichkeit ab, aber wenn man einmal die Geschichte episch behandeln will, so ist eine solche Wendung geschickt genug, um ohne lange Vorbereitungen die Hauptereignisse einander nahe zu rücken[21]. Ohne von den umständlichen Gesandtschaften, welche in der Wirklichkeit dazwischen lagen, berichten zu müssen, gelangt so der Dichter sogleich zu der Zusammenkunft Karls mit dem Pabste im Lager bei Paderborn, welche den eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung bildet.
Niemand wird dieses Fragment aus der Hand legen, ohne zu bedauern, daß uns von diesem Werke nicht mehr erhalten ist; es weht uns darin gleichsam die frische Luft jenes kraftvollen Lebens an, und wir fühlen uns auf einen Augenblick entrückt aus der einförmigen Atmosphäre der geistlichen Chronisten, ja selbst der seelenlosen Schulpoesie. Ueber den Verfasser aber werden wir uns bescheiden müssen, unsere Unwissenheit zu bekennen.
Pertz, MG. SS. II, 426-430. Baehr S. 200-216. O. Abel, Kaiser Karls Leben von Einhard, S. 1-18. Eug. Bacha bei Kurth: Dissertations acad. Liège 1888. Opera ed. Teulet, Par. 1840, 1843, 8. 2 Bände. Jaffé, Bibl. IV, 487-506; vgl. die zweite Ausgabe der Vita Caroli M. cur. W. Wattenbach, 1876. Vita Caroli ed. Waitz, 1880. Ebert II, 92-104. Bursian, Gesch. d. Philol. S. 21. M. Manitius, Einharts Werke und ihr Stil, NA. VII, 517-568. Nachtrag VIII, 193. XI, 64-73.
[179] Dem Kaiser Karl wurde das Glück zu Theil, so lange die Herrschaft zu führen, daß er noch selbst den Erfolg seiner Bestrebungen und Einrichtungen erlebte. Haben wir bisher mit den Männern uns beschäftigt, welche er als Gehülfen seiner Thätigkeit an sich zog, seinen gleichaltrigen Zeitgenossen, so haben wir dagegen jetzt in Einhard den ersten der jüngeren Generation zu betrachten, der schon ganz unter dem Einfluß von Karls Zeitalter erwachsen war, und selbst den schönsten Beweis gab für den gesegneten Erfolg dieses Strebens. Kein mittelalterlicher Schriftsteller ist den classischen Vorbildern, welchen sie nacheiferten, so nahe gekommen; er erfreut sich deshalb eines guten Namens und findet selbst vor philologischen Augen Gnade.
Und doch zeigt sich auch gerade darin wieder eine Gefahr der damaligen Richtung; so viel anziehendes Einhard auch hat, es fehlt ihm die frische Natürlichkeit anderer, er schreibt fast wie Sueton, aber es war nicht das richtige Ziel des Mittelalters, zu schreiben wie Sueton, so wenig wie am Beginn der neueren Zeit diejenigen das Höchste erreicht haben, welche fast wie Cicero schrieben.
Man hätte in die Gefahr kommen können, nichts als ein mattes Abbild der römischen Kaiserzeit darzustellen, wenn nicht doch dagegen das widerstrebende Element der Kirche immer geschützt hätte, welches sich in dieser Form nicht fesseln lassen konnte, und das unvertilgbare frische Leben der Völker, welches nicht ruhte, bis es sich seine eigenen neuen Formen geschaffen hatte.
Für das Leben Einhards haben wir die werthvollste Bereicherung unserer Kenntniß dem Prologe Walahfrids zu Kaiser Karls Leben zu danken, dessen früher bezweifelte Echtheit durch die Auffindung der Kopenhagener, einst Kirschgarter Handschrift gesichert ist; daraus ist er fehlervoll Arch. VII, 372, correcter von Jaffé herausgegeben[1], und mit Benutzung desselben hat Jaffé in sorgfältigster Weise Einhards Leben neu bearbeitet. Eine zweite Handschrift in Freiburg i. Br. hat B. Simson entdeckt und die Varianten mitgetheilt[2].
Einhard — denn so, nicht Eginhard, wird der Name von seinen [180] Zeitgenossen urkundlich geschrieben[3] — ist um das Jahr 770 in Ostfranken im Maingau von edlen Eltern[4] geboren, und erhielt seine früheste Erziehung im Kloster Fulda[5], zu dem er auch immer in freundschaftlicher Beziehung blieb: noch bewahren sechs von ihm unter Abt Baugulf (779-802) geschriebene Urkunden, wenn gleich nicht im Original erhalten, das Andenken an jene Zeit. Darunter ist eine Schenkung der Ehegatten Einhart und Engilfrit, höchst wahrscheinlich seiner Eltern; zwei vom 19. April 788 und vom 12. September 791 dienen zur Zeitbestimmung[6]. So sehr zeichnete er sich durch seine Fähigkeiten und Fortschritte aus, dass Abt Baugulf ihn an den Hof des Königs schickte, denn dieser, das wußte Baugulf, trachtete eifrigst danach, die fähigsten und gelehrtesten Männer aus dem ganzen Reiche um sich zu versammeln. In der Hofschule also vollendete er seine Ausbildung, und erwarb sich bald die Anerkennung, welcher beim ersten Anblick seine kleine Gestalt hinderlich war. Homuncio nennt ihn deshalb Walahfrid, nam statura despicabilis videbatur. Und Theodulf sagt 796 in dem oben erwähnten Gedicht an Karl v. 155 ff. von ihm:
Denn von der Bissigkeit dieses Schottenmönchs (vgl. oben S. 153) hatte er nicht minder als Alcuin und Theodulf selbst zu leiden. Alcuin aber verfaßte folgende scherzhafte Verse als Inschrift auf Einhards Haus:
Und für seine Hausthür:
[181] Seine volle Anerkennung für Einhard aber spricht er in diesem hübschen Epigramm aus:
Als schon in späteren Jahren 829 Walahfrid Kaiser Ludwigs Hof schilderte, schrieb er von Einhard (mit dem Lemma de Einharto magno)[9]:
Daß aber auch Einhard zu den Dichtern des Hofes gehörte, erfahren wir erst aus jenem Gedicht des Naso, wo es zugleich mit hoher Anerkennung seiner hervorragenden Stellung von ihm heißt:
Durch seine Klugheit und Gelehrsamkeit, sowie durch seine Rechtlichkeit und Treue erwarb sich Einhard das vollste Vertrauen Karls, der fast keinem seiner Räthe so rücksichtslos seine geheimsten Gedanken mittheilte; den jüngeren Mann liebte er wie einen Sohn, und Einhard erwiderte diese Zuneigung mit der hingebendsten Verehrung[11]. Ganz besonders zeichnete sich Einhard auch durch seine Kunstfertigkeit aus, durch seine Kunde der Baukunst, welche er durch eifriges Studium des Vitruv und der alten Denkmäler auszubilden suchte, und durch Geschicklichkeit in mancherlei Arbeit. Er erhielt deshalb unter den Hofgelehrten den Beinamen Beseleel, nach dem kunstreichen Werkmeister der Stiftshütte, und wurde vom Kaiser zum Aufseher seiner großartigen Bauten ernannt[12]. Auch in [182] anderen wichtigen Angelegenheiten bewies ihm der Kaiser sein Vertrauen; er sandte ihn im Jahre 806 an den Pabst, um dessen Zustimmung zu seiner Anordnung über die Reichstheilung zu erlangen, und 813 war es Einhard, dessen Rath und Bitte Karl bestimmt haben soll, seinen Sohn Ludwig zum Kaiser zu ernennen. Da ist es denn nicht zu verwundern, daß er auch bei diesem sehr in Gunst stand; die großen Bauten hörten auf, aber nun wurde dem kunstreichen und gelehrten Manne eine ganze Reihe der ansehnlichsten Abteien übertragen. Allein mehr als diese zog ihn der abgelegene und einsame Fleck Landes zu Michelstadt im Odenwald an, den er 815 für sich und seine Gemahlin Imma vom Kaiser zum Geschenk erbat. Mehr und mehr zog er sich hierin zurück, und nachdem er sich im Jahre 827 den nach den Begriffen der Zeit unschätzbaren Besitz der Gebeine der heiligen Märtyrer Marcellinus und Petrus verschafft hatte, gedachte er hier ein Kloster zu gründen; doch veranlaßte eine Vision ihn, die Reliquien nach Mühlheim am Main zu führen, wo er ihnen eine stattliche Kirche erbaute, und die Abtei stiftete, welche den Namen des Ortes allmählich in Seligenstadt verwandelte.
Noch konnte Einhard sich nicht ganz den Staatsgeschäften entziehen, deren unruhiges und kriegerisches Getreibe allen denen, welche sich zu litterarischer Beschäftigung hingezogen fühlten, unerträglich war[13]. Im Jahr 817 gab ihn Ludwig dem jungen Kaiser Lothar als Rathgeber, und 830 finden wir ihn eifrig bemüht, den Ausbruch der Empörung zu verhindern, die Aussöhnung zwischen Vater und Sohn zu bewirken; Walahfrid rühmt ganz vorzüglich die Klugheit, mit welcher Einhard weder vorzeitig den alten Kaiser verlassen, noch auch sich ohne Nutzen ins Verderben gestürzt habe. Als aber die inneren Zustände des Reichs immer unheilbarer wurden, auch niemand mehr auf seinen weisen Rath achtete, da zog er sich ganz in seine Waldeinsamkeit zurück. Noch war ein harter Schlag [183] des Schicksals ihm vorbehalten, der Tod seiner innig geliebten Gemahlin Imma, die nach Jaffé's scharfsinniger Vermuthung eine Schwester des Bischofs Bernhar von Worms war[14]. Sie starb im Jahre 836; der alte Kaiser hat ihn damals in seiner Zurückgezogenheit aufgesucht, um ihm seine Theilnahme zu bezeugen, und Lupus, der sich gerade seiner Studien wegen in Fulda aufhielt, wo er eben mit lebhafter Bewunderung die Vita Caroli gelesen hatte, schrieb ihm in herzlichem Mitgefühl einen Trostbrief[15]. Nicht lange darnach, am 14. März 840, starb er selbst[16]; eine schöne Grabschrift von Hrabans Hand zierte seine Ruhestätte[17]. In der Abtswürde folgte ihm sein Schüler Ratleik, einst sein Schreiber, jetzt Ludwigs des Deutschen Kanzler[18].
Eine reiche Quelle für die Geschichte des letzten Jahrzehnts von Ludwigs des Frommen Regierung, leider nicht für die frühere Zeit, bieten uns die Briefe Einhards und anderer an ihn, oder die auf irgend eine Weise in seinen Besitz gekommen waren[19], welche in seinem Genter Kloster als Muster gesammelt wurden; die Eigennamen wurden als überflüssig meistens beseitigt. Die Handschrift kam mit den vor den Normannen flüchtenden Mönchen nach Laon, wo sie in stark beschädigtem Zustande geblieben ist, bis Pertz sie 1827 dort entdeckte, worauf sie wenig später nach Paris gebracht wurde. Nachdem zuerst Teulet die Handschrift wieder benutzt hatte, liegt nun von Jaffé eine zu bequemem Gebrauche kritisch bearbeitete Ausgabe vor[20].
[184] Einhards berühmtestes und vollendetstes Werk ist:
Das Leben Karls.
Ausgabe von Pertz MG. SS. II, 426-463. Besonderer Abdruck, 3. Ausgabe 1863, mit einem Anhang von Gedichten. Ueber später gefundene Handschriften NA. VI, 195. Cod. Monac. 17134 aus Scheftlarn mit Interpolationen aus den Annalen über Tassilo, s. Graf Hundt in d. S. 154 angef. Abh. S. 191. Cod. Paris 4937 ist mit dem Fonds Barrois wieder erworben. Eine Hds. im Catalog von 1412 des Kl. Amelungsborn, Dürre im Progr. d. Gymn. zu Holzminden 1876 S. 22. Ideler: Leben und Wandel Karls des Großen von Einhard (Text mit Commentar und Beilagen), 2 Bde. 1839. Ausg. von Jaffé, Bibl. IV, 487-581, und bes. Abdruck, 1867; 1876 cur. W. Wattenbach. Ed. Waitz. 1880; A. Holder 1881. Uebers. v. O. Abel, Geschichtschr. 16 (IX, 1) 1850, 1880. Verbesserungen von Fröhner, Krit. Analecten, Philologus, Suppl. Bd. V, S. 93. Fr. Schmidt De Einhardo Suet. imitatore, Progr. 1880. Manitius, Anklänge an Vergil, NA. IX, 617, an Sulpicius Severus, Vellejus u. Curtius ib. XII, 205. 206; an Justin XIII, 213. E. Bernheim, Waitz-Aufsätze S. 73-96, über das Verhältniß zu Sueton und zu den Ann. Einhardi, die er benutzt habe, vgl. NA. XII, 427.
„Einhard“, sagt Ranke zur Kritik fränkisch-deutscher Reichsannalisten S. 416[22], „hatte das unschätzbare Glück, in seinem großen Zeitgenossen den würdigsten Gegenstand historischer Arbeit zu finden; indem er ihm, und zwar aus persönlicher Dankbarkeit für die geistige Pflege, die er in seiner Jugend von ihm genossen, ein Denkmal stiftete, machte er sich selbst für alle Jahrhunderte unvergeßlich.“
„Vielleicht in keinem neueren Werke tritt nun aber die Nachahmung der Antike stärker hervor, als in Einhards Lebensbeschreibung Karls des Großen. Sie ist nicht allein in einzelnen Ausdrücken und der Phraseologie, sondern in der Anordnung des Stoffes, der Reihenfolge der Capitel, eine Nachahmung Suetons. Wie auffallend, daß ein Schriftsteller, der eine der größten und seltensten Gestalten aller Jahrhunderte darzustellen hat, sich dennoch nach Worten umsieht, wie sie schon einmal von einem oder dem anderen Imperator gebraucht worden sind. Einhard gefällt sich darin, die individuellsten Eigenheiten der Persönlichkeit seines Helden mit den Redensarten zu schildern, die Sueton von Augustus, oder Vespasian, oder Titus, oder auch hie und da von Tiberius gebrauchte. Er hat gleichsam die Maße und Verhältnisse nach dem Muster der Antike eingerichtet, wie in seinen Bauwerken: aber damit noch nicht zufrieden, wendet er wie in diesen, auch sogar antike Werkstücke an. Wenn wir auch überzeugt sind, daß hiebei die Wahrheit nicht [185] verletzt wurde, so konnte doch die ganze Originalität der Erscheinung auf diese Art nicht wiedergegeben werden. Ueberhaupt suchen wir in der Geschichte nicht allein Schönheit und Form, sondern die exacte Wahrheit, deren Ausdruck die freieste Bewegung fordert und dadurch eher erschwert wird, daß man sich ein bestimmtes Muster vor Augen stellt.“
„Ohne Zweifel war die Absicht Einhards mehr auf eine angenehm zusammenfassende Darstellung, als auf strenge Genauigkeit in den Thatsachen gerichtet. Das kleine Buch ist voll von historischen Fehlern.“
„Nicht selten sind die Regierungsjahre falsch angegeben, z. B. bei Karlmann, der nur zwei Jahre regiert haben soll, während er doch über drei Jahre als König neben Karl dem Großen lebte; über die Theilung des Reiches zwischen den beiden Brüdern wird eben das Gegentheil von dem behauptet, was wirklich stattgefunden hat: Schlachten, die ohne besondere Wirkung vorübergingen wie die an der Berre, werden als entscheidend bezeichnet; Namen der Päbste werden verwechselt, die Gemahlinnen sowohl, wie die Kinder Karls des Großen nicht richtig aufgeführt; es sind so viele Verstöße zu bemerken, daß man oft an der Aechtheit des Buches gezweifelt hat, obwohl sie über allen Zweifel erhaben ist.“
So weit Ranke, zu dessen scharfer Charakteristik ich nur wenig hinzuzufügen habe. Gerade in diesem Werke tritt die Eigenthümlichkeit der karolingischen Bildung am deutlichsten hervor; unmöglich kann der fränkische Volkskönig in diesen suetonischen Ausdrücken zur vollen Erscheinung kommen. Nur darf man auch nicht vergessen, dass Einhard eben den Volkskönig kaum noch kannte, sondern hauptsächlich nur den alternden Kaiser, der selber nach der Wiederbelebung des antiken Wesens trachtete, dessen Streben in vieler Hinsicht auf die Herstellung des alten Imperatorenreiches gerichtet war, und der, wenn ihm auch die Einführung der staatlichen Formen jener Zeit fern lag, doch durch seine große persönliche Ueberlegenheit so ehrfurchtgebietend dastand, und so sehr die Seele der ganzen Herrschaft war, daß es nicht so ganz unpassend war, ihn dem Augustus zu vergleichen und die Farben des Bildes von dem Biographen der Imperatoren zu borgen. Auch dankt er, und wir mit ihm, dem Sueton mehr als nur die Ausdrücke. Keine Biographie des Mittelalters stellt uns ihren Helden so vollständig und plastisch nach allen Seiten seines Wesens dar. Das ist die Frucht der Kategorien, welche Einhard bei seinem Vorbilde fand. Indem er diesen gewissenhaft folgte, wurde er, wie Jaffé [186] (S. 501) richtig bemerkt, veranlaßt viele Umstände zu erwähnen, welche er sonst wahrscheinlich übersehen haben würde.
Daß Einhard sich bei diesem Werke nicht eine eigentliche geschichtliche Darstellung zur Aufgabe gewählt hatte, bemerkt auch Ranke; er wollte ein Lebensbild entwerfen, eben nach der Weise des Sueton, und diesen Zweck hat er vollständig erreicht. Er verfaßte dieses Werk unmittelbar nach des Kaisers Tod; schon 821 finden wir es im Reichenauer Bibliothekskatalog genannt[23], um 830 von einem Zeitgenossen erwähnt und benutzt. Noch stand das Bild seines väterlichen Freundes in voller Frische vor seinem Geiste, und die etwas kalte Eleganz der Form wird durchwärmt von der kindlichen Verehrung und Anhänglichkeit, von welcher der Verfasser ganz erfüllt ist, und die sich überall ausspricht, ohne daß doch das Lebensbild in eine Lobrede ausartete. Vielmehr tritt die ruhige Mäßigung, welche Einhards Charakter eigen ist, auch hierin deutlich hervor, und seine reine Wahrheitsliebe ist unverkennbar, wenn er auch die Schwächen seines Helden mit leichter Hand berührt.
Ein Werk, welches diesem an Vollendung der Form, wie an ansprechendem Inhalte zu vergleichen wäre, hatten die germanischen Nationen noch nicht hervorgebracht, und so ist es denn auch nicht zu verwundern, daß es rasch die größte Verbreitung fand und Jahrhunderte lang zu den beliebtesten und gelesensten Büchern gehörte; bald nach seiner Vollendung wird es von dem jungen Lupus, der es in Fulda gelesen hatte, mit warmer Begeisterung gepriesen (oben S. 183); Walahfrid theilte es in Capitel und schrieb dazu jenen so werthvollen Prolog, dem wir die wichtigsten Lebensnachrichten über Einhard verdanken. Noch jetzt sind mehr als 80 Handschriften davon uns bekannt, und seit den Biographen Ludwigs des Frommen sind die Chronisten nicht müde geworden, es auszuschreiben.
Nachdem die Vita Caroli schon 1521 (oben S. 5) und dann sehr häufig gedruckt war, hat Pertz 1829 mit übergroßer Fülle von Varianten eine Ausgabe gegeben, deren Text nicht überall den Vorzug vor den älteren Ausgaben verdient[24]. Jaffé hat in seiner neuen Ausgabe 1867 eine früher übersehene Pariser Handschrift zu Grunde gelegt, und endlich Walahfrids Prolog damit verbunden, welchen Pertz mit der ihm eigenen Starrheit auch noch in der neuesten Ausgabe unberücksichtigt gelassen hatte[25]. Doch hat auch diese [187] Grundlage sich nicht zu bewähren vermocht. Waitz hat die Ueberschätzung der nicht mustergültigen Pariser Hs. nachgewiesen, und endlich mit Benutzung neuer Hülfsmittel, und Unterscheidung verschiedener Recensionen, die vielleicht an Einhard selbst hinanreichen, einen neuen besser gesicherten Text hergestellt.
Häufig finden sich in Handschriften das Leben Karls und die Reichsannalen als erstes und zweites Buch mit einander verbunden; als drittes tritt dann die Schrift des Mönches von St. Gallen[26] hinzu, in welchem man jetzt Notker den Stammeler erkannt hat[27], der im Jahre 883, veranlaßt durch Kaiser Karl III, den reichen Schatz von Erzählungen und Sagen aufzeichnete, welche sich im Munde des Volkes an Karl, an seinen Sohn und den Enkel, Ludwig den Deutschen, knüpften. Da ist nun nichts mehr von Einhards klassischer Form zu finden, die Sprache ist roh und unbehülflich und der Inhalt keine Geschichte; nur selten und mit großer Vorsicht ist ein Vorfall, der hier erzählt wird, als wirkliche Thatsache hinzunehmen.
Aber um keinen Preis möchten wir doch diese Sammlung entbehren. Sie zeigt uns das Bild des großen Kaisers, wie es im Volke lebte und bis dahin sich gestaltet hatte, und mancher höchst charakteristische Zug hat sich nur hier erhalten. Der gute alte Mönch, der uns so lebendig mitten unter das Volk und seine Erzählungen führt, hat deshalb den größten Anspruch auf unsere Dankbarkeit, und wir müssen sehr bedauern, daß er sein Werk, wie es scheint, nicht vollendet hat.
Der Uebersetzer dieser Schrift hat sich bemüht, die Anfänge [188] karolingischer Sage weiter zu verfolgen, und die Spuren davon zu sammeln; ihm war dabei in der ersten Ausgabe eine merkwürdige Stelle entgangen, die Angabe in dem Leben der Königin Mahthild, daß der Krieg zwischen Karl und Widukind durch einen Zweikampf beider entschieden sei: nach langem Widerstand besiegt, habe Widukind sich taufen lassen[28].
Mit den Kreuzzügen artete die Karlssage aus und verlor allen geschichtlichen Inhalt; besonders die Aachener Reliquien brachten die Erzählung von Karls Kreuzfahrt zu allgemeiner Geltung, und fortan treten die Lügen des falschen Turpin an die Stelle von Einhards treuer Schilderung. Wie daneben im Munde der fahrenden Sänger das Andenken Karls sich erhielt und umwandelte, darüber genügt es, auf das schöne Werk von Gaston Paris Histoire poétique de Charlemagne (Paris 1865) zu verweisen.
Eine Schrift Einhards bleibt uns noch zu erwähnen, sein Bericht nämlich von der Uebertragung der Gebeine der heiligen Märtyrer Marcellinus und Petrus von Rom nach Seligenstadt[29]. Im Jahr 827 geschah die Ueberbringung, und 830 verfaßte Einhard die sehr anziehend geschriebene Darstellung derselben. Wir sehen [189] darin, wie er sich mehr und mehr von dem weltlichen Leben abwandte und der kirchlichen Richtung hingab, wundergläubig in hohem Grade und ganz mit der Pflege seiner Pflanzung im Odenwald beschäftigt; ganz vorzüglich betrübte ihn, daß bei der Krankheit seiner geliebten Imma die Zuversicht auf die Wunderkraft der Reliquien ihn so völlig getäuscht hatte. Diese hohe Verehrung der Reliquien theilte er mit allen seinen Zeitgenossen, und eben wegen dieser Verehrung haben die zahlreichen Uebertragungen solcher Gebeine für uns auch geschichtlichen Werth. Auf ihnen beruhte großentheils der Einfluß der Kirchen; besonders verehrte Reliquien verschafften ihnen unermeßlichen Zulauf: der Ruf von geschehenen Wundern verbreitete sich weithin, und ohne Zweifel wurde dadurch die Ausbreitung des Christenthums, z. B. in Sachsen, sehr wesentlich befördert. Aus den genauen Beschreibungen der Reise, wie aus den Erzählungen von den Wundern, ist zugleich vieles für die Sittengeschichte wie für die Topographie nicht unwichtige zu entnehmen, wie das namentlich in Bezug auf die damalige Art zu reisen, aus Einhards Werk kürzlich von W. Matthaei nachgewiesen ist[30]. Merkwürdig ist auch die Unverschämtheit, womit man im 11. Jahrh. im Medarduskloster versucht hat, mit entsprechender Verfälschung von Einhards Schrift sich die Leiber der hh. Tiburtius, Marcellinus und Petrus anzueignen[31].
Ob nun auch die in rhythmischer Form bearbeitete Passio der Märtyrer Einhard zuzuschreiben sei, wie Teulet meint, und wie eine aus Fleury stammende Handschrift angiebt, ist zweifelhaft, da seine ganze Richtung der antiken Form zugewandt war. Es wäre jedoch nicht gerade unmöglich, und Dümmler hält es für wahrscheinlich, daß er für diesen Gegenstand die mehr populäre Form vorgezogen hätte[32].
Es bleibt uns nun noch die Besprechung der Annalen übrig, wobei zu bemerken ist, daß F. Kurze, während er die Autorschaft der großen Reichsannalen Einhard entschieden abspricht, dagegen der Meinung ist, er habe für sein Genter Kloster die sog. Annales Sithienses, für Fulda die Fuldenses verfaßt.
Quem Carolus princeps propria nutrivit in aula,
Per quem et confecit multa satis opera.
Waitz fügt dazu die Stelle des Odilo in der Transl. S. Tiburtii, wo E. „palatii regalis domesticus“ genannt wird. Verfassungsgesch. III (2. Aufl.) S. 528 Anm. 1.
[190] MG. SS. I, 124-218; besonderer Abdruck 1845. Cod. Steinveld. (9) ist jetzt Brit. Mus. Add. 21109. Frese, De Einhardi Vita et Scriptis Specimen, Diss. Berol. 1845 (gegen die Autorschaft Einhards). O. Abel, Einhards Jahrbücher, Berl. 1850. 1880 (Geschichtschr. 17, IX, 2). L. Ranke, Zur Kritik fränkisch-deutscher Reichsannalisten, Abh. der Berliner Akademie 1854 S. 415-435; vermehrt Ges. Werke LI-LII. G. Waitz, Zu den Lorscher und Einhards Annalen, Goett. Nachrichten 1857 S. 46-52. B. Simson, De statu questionis: sintne Einhardi necne sint quos ei ascribunt, Annales Imperii, Diss. Regiom. 1860. W. Giesebrecht, Die fränkischen Königsannalen und ihr Ursprung, im Münchener Hist. Jahrb. (1864) S. 186-238. G. Monod, Revue Crit. 1873 N. 42. Fr. Ebrard, Reichsannalen 741-829 u. ihre Umarbeitung, Forsch. XIII, 425-472. E. Dünzelmann, Beiträge zur Kritik der Karol. Annalen, NA. II, 475-537. H. v. Sybel, HZ. XLII, 260-288 (Kl. Schr. III, 1 ff). Entgegnung Simsons, Forsch. XX, 205-214. Replik von Sybel, HZ. XLIII, 410. Duplik v. Simson, Karl d. Gr. II, S. 604-611. Harnack, Das Karol. u. das byz. Reich (1880), Excurs. Manitius, Die Ann. Sithienses, Lauriss. min. u. Enharti Fuld. (Diss. Lips. 1881). Manitius, Einhards Werke u. ihr Stil, NA. VII, 517-568. Is. Bernays, Zur Kritik Karol. Annalen. Straßb. 1883. Dorr, NA. X, 241-305. Nachwort v. Sybel S. 305 bis 307. Dorr, (Ann. Laur. 796-829 doch von E.) XI, 475-488. Sybel dagegen S. 489. Horst Kohl (Ueberblick) in G. Richters Ann. d. Deutschen Gesch. II. Abth. S. 697-714 (1887). B. Simson, Karl d. Gr. I (1888) S. 1-5, 657-664. Progr. v. Seraphim, Fellin 1887 s. NA. XIII, 654. Bemerkungen von Manitius, Mitth. d. Inst. X, 417 ff. (NA. XV, 211); ib. XIII, 225-238. Facs. d. Wiener Hs. v. Ann. Einh. in E. Berners Gesch. d. pr. Staats, I. 1890.
Die Bestrebungen der gelehrten Männer an Karls Hofe richteten sich vorzugsweise theils auf das Studium der älteren Litteratur und die formelle Ausbildung, theils auf theologische und philosophische Probleme; mit geschichtlichen Forschungen beschäftigten sie sich wenig. Dem Kaiser jedoch entging die Wichtigkeit derselben nicht, er sorgte wenigstens dafür, das Andenken seiner eigenen Zeit zu erhalten. Er verordnete, daß die Gesetze und die Beschlüsse der Reichstage seiner Zeit in mehreren Exemplaren an verschiedenen Orten sorgfältig aufbewahrt werden sollten; die Schreiben der Päbste und der griechischen Kaiser an ihn, seinen Vater und Großvater ließ er, im vollen Bewußtsein der überwiegenden Wichtigkeit dieser Verhältnisse, in einem eigenen Buche zusammenfassen, dem Codex Carolinus, dessen erster Theil uns noch erhalten, und eine der wichtigsten Geschichtsquellen ist[1]. Außerdem aber vergaß er auch nicht die Fürsorge, welche, wie wir oben (→ S. 126) sahen, das karolingische Haus schon in früherer Zeit der Aufzeichnung seiner Haus- und Landesgeschichte gewidmet hatte. Wie Paulus Diaconus in seiner Geschichte der Bischöfe von Metz den Ahnherrn der Arnulfinger [191] verherrlichte, ist schon erwähnt. Dagegen finden wir keine Spur davon, daß etwa die Fredegarische Chronik weitere Fortsetzungen erhalten hätte, sie scheint vielmehr damals fast vergessen zu sein. Es hatte aber inzwischen die anfangs so gar dürftige annalistische Aufzeichnung schon begonnen, sich zu einer Art von Reichsgeschichte auszubilden; es waren nach der § 3 entwickelten Ansicht hauptsächlich die Bischöfe, vielleicht auch weltliche Große, welche bei der Pflicht regelmässiger Theilnahme an den Reichstagen und Heereszügen das Bedürfniß empfanden, die Reihenfolge der Begebenheiten übersehen zu können, und deshalb ihre Kleriker zu Aufzeichnungen veranlaßten, die nach und nach zusammenhängende Gestalt gewannen und aus anderen Annalen auch in ihrem älteren Theile ergänzt wurden. Vorzüglich Chrodegang von Metz (742 bis 766) scheint zu solcher Thätigkeit angeregt zu haben. Unter den Annalen dieser Art zeichnen sich aber in ganz besonderer Weise die sogenannten Annales Laurissenses majores[2] aus, welche in gedrängter Kürze freilich, aber doch mit vollständiger Uebersicht aller Begebenheiten die ganze Regierung Karls begleiten; schrieb man früher ihren Ursprung dem Kloster Lorsch zu, wo die älteste Handschrift gefunden ist, so können sie doch unmöglich dort oder überhaupt in der stillen Zurückgezogenheit eines Klosters entstanden sein. L. Ranke ist es, welcher zuerst mit sicherem Scharfblick dieses Verhältniß erkannte, und jene Annalen zum Gegenstand einer eindringenden Untersuchung machte, deren Resultate seitdem nicht nur fast allgemeine Zustimmung gefunden, sondern auch in hohem Grade anregend auf die weitere Forschung gewirkt haben. Aus der Abhandlung, welche einen wichtigen Fortschritt für unsere Kenntniß der mittelalterlichen Geschichtschreibung bezeichnet, erlaube ich mir die betreffende Stelle wörtlich auszuheben[3]. Ranke sagt nämlich in Bezug auf diese Jahrbücher: „Bei dem alten Annalisten fällt nun zweierlei auf, einmal, was wir eben berührten, daß er große Unglücksfälle verschweigt; auch von den inneren Stürmen, den dann und wann auftauchenden Verschwörungen giebt er keine oder nur ungenügende Nachricht, — sodann aber, daß er über das, was er berührt, ausnehmend gut unterrichtet ist. Ein Mönch in seinem Kloster konnte unmöglich die Dinge so genau erkunden, wie sie [192] hier beschrieben sind; wir haben Kloster-Annalen dieses Landes, aus derselben Zeit, allein wie sehr sind sie verschieden! Sie berichten nur das ganz Allgemeine der auffallendsten Thatsachen. Hier aber haben wir einen Autor vor uns, der die Züge der Heere, ihre Zusammensetzung und Führung, die einzelnen Waffenthaten kurz aber sicher angiebt, und der auch von den Unterhandlungen bis auf einen gewissen Grad zuverlässige Kenntniß hat. Niemand konnte über die Unternehmungen gegen Benevent und Baiern so gute Nachrichten mittheilen, der nicht dem Rath des Kaisers nahestand. Diese beiden Eigenschaften zusammen, gute Kunde und große Zurückhaltung, scheinen fast auf eine officielle Abfassung zu deuten, die aber freilich von einem Geistlichen herrühren müsste: jede Phrase bezeichnet einen solchen. Es würde ein in den Weltgeschäften erfahrener, und mit dieser Thätigkeit vielleicht speciell beauftragter Geistlicher gewesen sein, der diese Notizen am Hofe selbst aufgesetzt hätte; in rohem Stil, wie ihn die Zeit, welche der Einrichtung der Hofschule voranging, wohl erlaubte; ein Mann der alten Art und Weise, die sich hier durch die Nachwirkung der Ereignisse allein höher erhob als je zuvor.“
Ranke hat in diesen Worten eine Ansicht, die er mündlich bereits weiter ausgeführt hatte, nur leicht angedeutet; die Ansicht, daß nicht nur diese, sondern auch ein Theil der späteren Reichsannalen amtlicher Natur waren, daß auf Veranlassung des Hofes die Zeitgeschichte officiell verzeichnet wurde, und daraus die ungemein rasche und bedeutende Entwickelung der Annalistik sich erklärt, welche später auch anderen zum Vorbild diente, die nur aus eigenem Antrieb die Ereignisse, welche sie erlebten, darzustellen versuchten.
Diese Thatsache selbst in ihrer Allgemeinheit, die Thatsache, daß nach dem Vorgange Childebrands und Nibelungs auch Karl für eine zuverlässige Aufzeichnung der Begebenheiten Sorge trug, daß daraus die Jahrbücher entstanden, welche wie die Vorzüge, so auch die Fehler und Schwächen aller officiellen Geschichtschreibung aufweisen, habe ich früher geglaubt als erwiesen und anerkannt betrachten zu dürfen, allein diese Auffassung hat seitdem in H. v. Sybel einen gefährlichen Gegner gefunden. Er leugnet die Bedeutung der Reticenzen, die man auch ebenso gut nur einem allzu lebhaften und loyalen Patriotismus zuschreiben könne, und findet, daß der Verfasser doch nur sehr oberflächlich unterrichtet gewesen ist. Er findet eben nichts darin, was nicht ein Mönch des Klosters Lorsch mit Leichtigkeit habe in Erfahrung bringen können. Das möchte [193] auch ich nicht gerade leugnen, nur habe ich von dem Klosterleben der damaligen Zeit eine andere Vorstellung und kann nicht glauben, daß ein Mönch so anhaltend und in so gleichmäßiger Weise durch viele Jahre hindurch der Erforschung und Darstellung der weltlichen Vorgänge seine Aufmerksamkeit zugewandt haben sollte. Und mit Recht bemerkt Bernays, daß er ja für diese Annalen eine gleichzeitige Aufzeichnung vor 788 nicht annehme, und daß für die vergangenen Jahrzehnte besagter Mönch doch schwer die Kunde der Begebenheiten sich habe verschaffen können[4]. Am Hofe, das möchte ich auch jetzt zuversichtlich behaupten, müssen die Annalen geschrieben sein; was aber den amtlichen Charakter betrifft, so muß vor allen Dingen betont werden, daß wir durchaus den unwillkürlich stets sich einschleichenden Gedanken an Zustände und Verhältnisse unserer Zeit zu verbannen haben, wo jedes officielle Wort sorgsam geprüft und gesichert wird. In solcher Weise amtlich sind die Lorscher Annalen gewiß nicht gewesen, und in dieser Beziehung kann ich H. v. Sybel u. Bernays[5] vollkommen zustimmen. Wenn wir aber doch wissen, daß Pippins nächste Angehörige dergleichen Aufzeichnungen veranlaßten, und daß eine Annalistik dieser Art im Westfrankenreiche unzweifelhaft bestand, wenn wir lesen, daß Smaragd, der 843 gestorben ist, von der uralten und bis auf seine Zeit bestehenden Sitte der Könige redet, die Begebenheiten ihrer Zeit aufzeichnen zu lassen[6], so kann ich mir nicht vorstellen, daß Karl nicht ebenfalls dafür Sorge getragen habe. Darunter verstehe ich aber nur, daß er einen solchen Auftrag ertheilte, und daß man nun ein Buch hatte, welches in der Kanzlei verwahrt und gelegentlich vom Könige selbst angesehen wurde, wie wir durch einen Brief Hinkmars wissen, daß Karl der Kahle die Annalen des Prudentius bei sich hatte, wie später auch Friedrich I die ihm übersandte Chronik des Otto von Freising benutzte. Es ist dabei durchaus nicht ausgeschlossen, daß nicht einmal Jahre lang die Arbeit liegen blieb und der betreffende Autor auch manchmal nachlässig und flüchtig arbeitete. Eine amtliche Nachprüfung seiner Arbeit wird [194] nicht stattgefunden haben. Hinkmar sagt ausdrücklich, daß die Jahrbücher des Prudentius schon in vieler Menschen Hände gekommen seien, und da eine Einwirkung auf die öffentliche Meinung beabsichtigt war, wird an Geheimhaltung nicht zu denken sein.
Sicher ist es nicht dieses Buch gewesen, welches der Verfasser der Vita Rigoberti meinte, als er über Karl Martell schrieb: „De hoc etenim, non rege sed tyranno, ita legitur ad locum in Annalibus diversorum regum: Iste Karlus omnibus audacior episcopatus regni Francorum laicis hominibus et comitibus primum dedit, ita ut episcopis nihil potestatis in rebus ecclesiarum permitteret[7]“. Diese Stelle ist bisher nur nach dem Auszug in Flodoards Hist. Rem. II, 12 angeführt und deshalb gänzlich mißverstanden worden. Der Verfasser stand der Zeit, über welche er schrieb, schon sehr fern, und kann nicht sehr viel älter sein, als Flodoard selbst; er wird vermuthlich eine jüngere Compilation benutzt haben.
Anders verhält es sich mit der von Simson (S. 33) aus Hincmar de villa Novilliaco angeführten Stelle über den Beginn der Regierung Karls und Karlmanns „sicut in annali regum scriptum habemus“. Sie findet sich wörtlich in den Ann. Lauriss. mit Ausnahme eines Satzes, der aus der Cont. Fred. mit Leichtigkeit zu entnehmen war. Hincmar kann also eine der Bearbeitungen der Lauriss. vor sich gehabt haben, und ob er hier eine amtliche Quelle hat bezeichnen wollen, ist ganz zweifelhaft. Abgesehen also von der Frage, ob und wie weit den Ann. Lauriss. ein amtlicher Charakter beizulegen ist, bleibt die Frage, ob es noch außerdem, wie Bernays behauptet, Hofannalen, ein Werk von viel größerer Bedeutung und Zuverlässigkeit, gegeben habe, eine ungelöste und vermuthlich unlösbare; mir wenigstens scheint der Beweis der Existenz nicht geführt, wenn ich auch nicht mit H. v. Sybel den bekannten Worten Einhards am Eingang seiner Biographie über den Mangel einer Aufzeichnung der Thaten Karls ein solches Gewicht beilegen möchte, daß er nicht einmal die Ann. Lauriss. gekannt haben dürfte. Dem Versuch aber, die in ihnen nicht enthaltenen Nachrichten, welche hier oder da einmal auftauchen, für dergleichen Hofannalen in Anspruch zu nehmen, vermag ich eine ernsthafte Bedeutung nicht beizumessen; meiner Meinung nach hätte ein solches Werk, wenn es wirklich vorhanden war, deutlichere Spuren hinterlassen müssen.
Indem ich nun also an einer gewissen Beziehung der Lauriss. oder Königsannalen zum Hofe festhalte, habe ich jetzt der Frage [195] über ihre Abfassung näher zu treten. Schon L. Giesebrecht[8], dann B. Simson haben den Beweis geführt, daß die Annales Laurissenses, wie sie uns jetzt vorliegen, nicht gleichzeitig Jahr für Jahr entstanden sind, was Pertz nur für den ersten Theil bis 768 zugab, und W. Giesebrecht hat in der angeführten Abhandlung diesen Punkt als sichergestellt angenommen, die Abfassung des ganzen zusammenhängenden ersten Theils um das Jahr 788 behauptet und dafür allgemeine Zustimmung gefunden[9]. Er knüpft daran die Frage nach der Veranlassung zu einem solchen Werke, und findet dieselbe in dem eben damals eingetretenen, für Karls Reich hochwichtigen Ereigniß, der Entsetzung des Baiernherzogs Tassilo, dessen Verhalten gegen die Franken durchweg mit auffallender Ausführlichkeit behandelt ist; er glaubt deshalb auch die Entstehung des Werkes in Baiern suchen zu müssen und erkennt den Urheber in dem Bischof Arn von Salzburg, dem am meisten daran gelegen sein mußte, diese Vorfälle aufzuklären und sein früheres Verhalten, sowie seinen Anschluß an die Franken zu rechtfertigen, während kaum ein anderer so vollständig in diese Verhältnisse eingeweiht war. Auch die noch rohe und fehlerhafte Sprache kann bei ihm oder bei einem Geistlichen seiner Umgebung nicht auffallen, während sie am Hofe auch damals schon befremdlich wäre.
Diese Beweisführung Giesebrechts ist allerdings sehr gewinnend, und daß der Sturz des bairischen Herzogs zu dieser officiösen Darstellung der Reichsgeschichte den Anstoß, einem guten Theil derselben die Färbung gegeben, scheint einzuleuchten; auch ist die dienstbeflissene Gesinnung des Schreibers, seine durchgängige Verherrlichung des Königs augenscheinlich. Allein die Autorschaft Arns vermag ich weder mit dem Bericht über seine Sendung nach Rom 787 zu vereinigen, noch kann ich glauben, daß jemand, der auch über lange vergangene Dinge so gut unterrichtet war, nicht zu den älteren Räthen des Königs gehört haben sollte. An solchen Materialien, wie Giesebrecht sie für Arn nachzuweisen sucht, den Ann. S. Amandi und Petaviani nebst dem Verzeichniß der Orte, wo Karl Ostern gefeiert, hätte Arn wenig Anhalt gefunden; ein alter Hofbeamter aber, dessen Gedächtniß noch in Pippins Zeit reichte, konnte dergleichen zum chronologischen Leitfaden benutzen, und daneben verwerthen, was von allerhand Aufzeichnungen in der Kanzlei doch vorhanden gewesen sein muß; denn das Gedächtniß allein [196] wird kaum ausgereicht haben. Mit Recht hebt M. Manitius[10] die Vertrautheit des Autors mit der Rechts-und Urkundensprache, die vielen romanischen Wörter, die Benutzung von Actenstücken hervor, wodurch sich auch irrige Angaben über angesagte, später aber verlegte Festfeiern erklären. Denken könnte man z. B. an Angilram von Metz (769-791), welcher Paulus Diaconus zur Bischofsgeschichte von Metz, den Diacon Donatus zur Abfassung der Lebensbeschreibung des h. Trudo veranlaßte und jetzt Erzkaplan des Königs war[11]. Ihn könnte man sich in ähnlicher Stellung zu dem gewiß nicht leichten Unternehmen vorstellen, wie einst Childebrand und Nibelung. Daß ihm dabei die Fortsetzungen Fredegars fehlten, ist auffallend, wäre es aber für Arn, wenn ihm doch sonst so gute Quellen zu Gebote standen, nicht minder. Auch fällt das Hauptgewicht bei diesen Annalen offenbar auf Karls eigene Regierung. Ihm also glaube ich die Anregung zu diesem Werke, welchem wir die eingehende Kunde von seiner Thätigkeit wesentlich verdanken, nach Ranke's Vorgang vindiciren zu müssen; als Privatarbeit in Salzburg kann es nicht entstanden sein. Das ältere Material aber, was hier verarbeitet ist, wird eben durch diese bequeme Zusammenfassung, die späterhin auch sprachlich und stilistisch noch zeitgemäß überarbeitet wurde, bald verdrängt und in Vergessenheit gebracht sein, besonders wenn es nur in der königlichen Kanzlei vorhanden war, während sich hin und wieder in Domstiftern und Klöstern zufällig auch viel unbedeutendere Sachen erhielten.
Abweichend hiervon hat Dünzelmann versucht nachzuweisen, dass um das Jahr 780 eine Compilation entstanden sei, welche auf einer Combination Fredegars mit eigenartigen Nachrichten beruhe, und für die Zeit Pippins von nicht unbedeutendem Werthe sei; diese verlorene Quelle sei uns in den Annales Mettenses zum großen Theil erhalten, und in den Ann. Lauriss. majores und minores benutzt[12]. Indem er vorzugweise nach sprachlichen Gesichtspunkten die Annalen untersucht, findet er, daß der erste Abschnitt derselben von 741-791 reiche, der zweite von 792-796, wo in fast allgemeiner Uebereinstimmung ein Abschnitt angesetzt wird. Doch [197] behauptet wieder Bernays, daß nur bei 789 und 801 ein Wechsel der Verfasser anzunehmen sei.
In der leider verlorenen Lorscher Handschrift schloß sich nun eine Fortsetzung bis 793 an, die nur ein Bruchstück aus den Ann. Laureshamenses ist. In den übrigen Handschriften sind die nächsten Jahre zum Theil auffallend kurz, übrigens aber in wenig veränderter Weise und vermuthlich von demselben Autor behandelt[13], die Verschwörung Pippins 792 ist in derselben höfischen Weise, die wir aus dem ersten Theile kennen, ganz verschwiegen. Manitius findet hier noch dieselbe Ausdrucksweise, wie im früheren Theile, und auch noch Spuren derselben compilatorischen Thätigkeit, welche er für den Anfang nachweist. Dann tritt mit dem Jahre 796 ein völlig veränderter Stil, eine neue Art der Auffassung ein, und diese Fortsetzung fließt nach der Ansicht von Pertz allmählich so vollständig zusammen mit Einhards Werk, daß seine Hand auch im Anfang nicht zu verkennen sei. „Nachher, sagt auch Ranke, mußte die Historiographie in litterarisch geschicktere Hände kommen, wie die Einhards waren, der die alten Annalen überarbeitete und neue abfaßte, wie es scheint im Palast zu Aachen in eben den Jahren, von denen er handelte.“ Während der Arbeit selbst schritt er an Bildung und namentlich an Gewandtheit in der Sprache und Darstellung weiter vor, und fand zuletzt die alten rohen Jahrbücher und seine eigene Arbeit so ungenügend, daß er sie noch einmal überarbeitete. Ueber die Art wie dies geschah, genügt es, auf Ranke's Untersuchung zu verweisen. Nicht die tief eindringende Kenntniß der früheren Geschichte war es, die ihn auszeichnete, oder die ihn zu dieser Arbeit veranlaßte; seine Arbeit war vorzugsweise stilistisch, und nicht selten hat er dadurch auch beachtenswerte Züge des älteren Annalisten verwischt: ja er hat an einigen Stellen eine unrichtige Auffassung der Ereignisse hineingetragen, weil er die ihn erfüllende Vorstellung von der alles andere überragenden Hoheit des Kaisers unwillkürlich auch schon auf die früheren Zeiten übertrug. Wichtig aber ist uns dennoch auch seine Ueberarbeitung nicht nur wegen einzelner Zusätze, und weil es für uns Werth hat, auch seine Auffassung kennen zu lernen, sondern auch deshalb, weil er so wenig zu ändern fand; die alten Lorscher Annalen, sagt Ranke, erhalten dadurch eine nicht geringe Beglaubigung, daß Einhard, was die [198] Sache anbelangt, nur eine und die andere Einschaltung über ein Paar einzelne merkwürdige Begebenheiten beizubringen hatte.
Einhards eigene selbständige Arbeit reicht nach Ranke bis zum Jahre 829, bis zu der Zeit, wo er sich vom Hofe zurückzog, voll Trauer über die zunehmende Verwirrung und Auflösung des Reiches. Für solche Zeiten war weder er selbst noch seine Feder geeignet. Mit ruhiger Würde hatte er, so lange das Reich nach den kriegerischen Zeiten des achten Jahrhunderts für immer befestigt schien, und durch den gewaltigen Kaiser auch noch von seinem Grabe aus zusammengehalten wurde, Jahr für Jahr die Ereignisse registrirt: den helleren feiner gebildeten Zeiten verlieh sein reines fehlerfreies Latein den angemessenen Ausdruck, und kurz und gedrängt zwar, aber doch vollständig in allem wesentlichen liegt die Reichsgeschichte in seinen Jahrbüchern vor uns, in edler Einfachheit, frei von aller Leidenschaft und Parteilichkeit. Als es unmöglich wurde, inmitten der heftig erbitterten Feinde in solcher Weise fortzufahren, da überließ er anderen die Fortsetzung seines Werkes.
Ich habe diese Stelle aus der ersten Ausgabe unverändert gelassen, weil sie die durch Pertz herrschend gewordene Ansicht ausdrückt, und weil die Autorschaft Einhards, wenn auch nicht gesichert und durch wiederholte Angriffe zweifelhaft gemacht, doch nicht mit Sicherheit widerlegt ist, wie denn auch Ebrard es nicht unwahrscheinlich findet, daß Einhard die Fortsetzung verfaßt habe. Neuestens haben Monod und Dünzelmann, H. v. Sybel und Bernays in entschiedenster Weise die Möglichkeit von Einhards Autorschaft geleugnet, während Manitius und Dorr auf sprachliche Untersuchung gestützt sich dafür aussprechen. Dabei fällt vorzüglich die Frage ins Gewicht, ob der nach dem Muster der Alten gebildete Stil und der im Verhältniß zum achten Jahrhundert so sehr viel reichere Wortschatz ausschließlich für Einhard Zeugniß ablegen und als sein besonderes Werk zu betrachten sind, und ich kann mich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß durch die Untersuchungen von Dorr und Manitius fast bis zu voller Evidenz nachgewiesen ist, nur in diesen Annalen und im Leben Karls finde sich dieser, aus einer großen Anzahl alter Autoren mit unvergleichlicher Sorgfalt gesammelte Wortschatz, diese Mannigfaltigkeit der Satzbildung. Es ist aber auch bei dieser Untersuchung niemals außer Acht zu lassen, daß Einhard nicht eigentlich Historiker, seine Aufmerksamkeit in weit höherem Grade der Formvollendung, als der geschichtlichen Bedeutung der Thatsachen zugewendet war, wie wir es ähnlich auch bei Lambert beobachten können.
[199] Daß Einhard der Verfasser dieser Annalen sei, hatte zuerst Du Chesne behauptet, gestützt auf eine Stelle in der Translatio S. Sebastiani, wo Einhard ausdrücklich als Verfasser eines Annalenwerks unter dem Titel: Gesta Caesarum Caroli Magni et filii ipsius Hludowici genannt und eine Stelle daraus angeführt wird, welche sich in unseren Annalen beim Jahre 826 wiederfindet[14]. Dieses Zeugniß aus dem zehnten Jahrhundert schien bedeutend genug, um die dagegen geltend gemachten kleinen Widersprüche zwischen den Annalen und Einhards Vita Caroli übersehen zu können: man darf von jener Zeit nicht die Genauigkeit der Arbeit und des Ausdrucks verlangen und findet sie auch nicht, welche heutiges Tages gefordert wird. Auch wurde für keinen anderen Namen auf dieses bedeutende, seit alter Zeit bekannte und viel benutzte Werk Anspruch gemacht; Stil und Auffassung schienen für Einhard wohl zu passen. Auch in der neuesten Untersuchung von W. Giesebrecht ist dieses zugegeben; die ruhige völlig objectiv gehaltene Darstellung, in welcher die bis dahin stets wiederholten preisenden Beiwörter Karls verschwinden, die an Einhards Werke erinnernde Reinheit der Sprache, scheinen auch ihm die Autorschaft desselben wahrscheinlich zu machen, allein bei dem Tode des Kaisers ist nach seiner Ansicht eine Unterbrechung eingetreten, die weitere Fortsetzung von der vorhergehenden zu scheiden. Fragen wir nach der Begründung dieser Behauptung, so beschränkt sich dieselbe wesentlich darauf, daß die fragmentarische Handschrift Christ. 617 mitten in der Erzählung des Jahres 813 [200] abbricht[15] und in dieser unfertigen Gestalt einmal abgeschrieben worden ist, während ein anderer Schreiber sich auf das Leben Karls des Großen beschränkte, gerade so wie Pithou das zweite Buch von Ademars Chronik abgesondert vorfand und als Leben Karls vom Monachus Engolismensis herausgab. Allerdings soll auch im Ausdruck eine Verschiedenheit bemerklich sein, die aber wenig bedeutend ist; es fällt ferner auf, daß die Wunder des h. Sebastianus im Medarduskloster zu Soissons sehr gepriesen, die von Einhard so hoch geschätzten Reliquien seiner Heiligen kaum genannt werden. Die chronologischen Schwierigkeiten jedoch, welche sich an diese Uebertragung der hh. Marcellinus und Petrus anknüpfen, hat Giesebrecht selbst zu beseitigen versucht, und der Bescheidenheit Einhards, vielleicht auch seiner so gerühmten Klugheit gegenüber dem mächtigen Hilduin, mochte jene kurze und doch immer rühmende Erwähnung um so eher genügen, da er gerade mit einer besonderen Schrift über diesen Gegenstand beschäftigt war.
Auch jetzt kann ich, wie gesagt, nicht umhin, die Gründe für Einhards Autorschaft als überwiegend anzusehen; die Verschiedenheit einzelner Theile kann durch eingetretene Unterbrechung und flüchtigere Arbeit Erklärung finden. Dünzelmann meint, daß die vortreffliche Darstellung von 797 bis zur Mitte des Jahres 801 von Einhard herrühren, die Ueberarbeitung der Annalen bis dahin in den ersten Jahren des neunten Jahrhunderts von ihm verfaßt sein müsse, weil nur er so habe schreiben können und wir von ihm kein anderes Werk vor der Vita Caroli kennen, die nicht sein Erstlingswerk sein könne.
In der Mitte des Jahres 801 aber setzt er, und hierin hat er allgemeine Zustimmung gefunden, einen Abschnitt an[16]; nur so weit waren die Annalen dem Poeta Saxo bekannt, und nur so weit reicht auch die Ueberarbeitung. Die folgende dritte, erheblich schlechtere Fortsetzung reicht nach Dünzelmann bis 806, eine vierte bis 815, die fünfte bis 820, worauf der Schluß bis 829 wieder von anderer Hand sei; Bernays dagegen will zwischen 801 und 829 keinen Wechsel zugeben. Müßten wir in der That auf die Kenntniß der Persönlichkeit verzichten und andererseits doch den höfischen Ursprung festhalten, so scheint mir mit dieser Unterscheidung sehr wenig gewonnen zu sein.
[201] Von der Ueberarbeitung, den sogenannten Annales Einhardi, war schon oben S. 197 die Rede; es konnte nicht anders sein, als daß der Anfang der alten Annalen dem feiner entwickelten Sprachsinn geradezu unerträglich erschien. Es hat aber Dünzelmann wohl richtig bemerkt, daß diese Bearbeitung nur bis 801 reicht und auch damals ausgeführt sein wird; die Uebereinstimmung mit einzelnen Stellen in Einhards Vita Caroli wird dann einfach durch Benutzung der Annalen in dieser zu erklären sein[17]. Bei dieser Bearbeitung haben sich einige Mißverständnisse eingeschlichen, es sind aber auch nicht unbedeutende neue Thatsachen hinzugekommen und es ist wahrscheinlich, daß hierfür auch schriftliches Material benutzt ist[18], wozu Pückert (S. 157 ff.) das gleich zu erwähnende verlorene Werk bis 805, Kurze die bis 796 reichende Quelle desselben rechnet. Pückert (S. 167 ff.) hebt die seltsame Eigenheit des Verfassers hervor, die Ereignisse in ganz unzulässiger Weise als übermäßig beschleunigt darzustellen, und ferner, daß in höherem Maaße, als es den Thatsachen entspricht, Karl als der stets allein wissende und handelnde hervortritt.
Wir sehen also hier, wie man schon von der einfachen und schmucklosen, nur auf den sachlichen Inhalt gerichteten Aufzeichnung der Zeitbegebenheiten fortschritt zu litterarischer Bearbeitung. Natürlich mußte, da die Reichsannalen erst mit 741 begannen, der Wunsch lebendig werden, auch für die vorhergehende Zeit, über welche nur ein sehr ungenügendes und schwer genießbares Material vorlag, ein Handbuch zu gewinnen, welches den Zusammenhang mit der Weltgeschichte herstellte. Gerade auch um das Jahr 801 ist ein solches verfaßt[19], und da es nur bis 741 reicht, liegt die von Waitz ausgesprochene Vermuthung nahe, daß es zur Ergänzung der Reichsannalen bestimmt war. Doch finden wir es handschriftlich nicht mit ihnen verbunden; es scheint keine große Verbreitung gefunden zu haben, da das schwierige Unternehmen doch nur sehr unvollkommen gelang und die Sprache des Verfassers durch ihre Unbehülflichkeit [202] und Fehlerhaftigkeit verräth, daß er der früheren Barbarei wohl entwachsen, aber doch von der höheren Bildung eines Einhard noch weit entfernt war. Doch verdient er ohne Zweifel Beachtung und Anerkennung: es ist, wie Waitz bemerkt, die erste Weltchronik, die seit Fredegar im fränkischen Reich geschrieben wurde. Dieses Werk, dessen wir oben (S. 129) schon kurz gedachten, ist in zwei Handschriften erhalten, welche stark von einander abweichen, und es scheint, daß der Verfasser selbst sein Werk überarbeitet und mit weiteren Zusätzen aus seinen Quellen vermehrt hat. Er legte die kurze Chronik des Beda zu Grunde, in welche er Auszüge aus Hieronymus, Orosius, Fredegar mit den Fortsetzungen und den Gesta Francorum einschob, weiterhin benutzte er auch Isidor, den Liber pontificalis, und die Annales Mosellani et Laureshamenses. Die wenigen ihm eigenthümlichen Stellen zeigen Verwandtschaft mit den Annales Flaviniacenses, welche sich in derselben Hs. befinden, und da hierzu auch die Nachricht von der Zerstörung der Stadt Autun durch die Sarracenen 725 gehört, so ist die Vermuthung gerechtfertigt, daß der Verfasser im Sprengel von Autun, vielleicht eben in Flavigny, lebte.
Diese Chronik bildet in einer Hs. den Anfang der schon oben S. 146 erwähnten Annales Maximiani, welche jedoch keine innerliche Verbindung mit ihr haben, und ist in ihrer älteren Form großentheils aufgenommen in das Chronicon Moissiacense.
Eine andere, im J. 805 oder vielleicht 806 abgeschlossene Compilation ist uns nicht im Original erhalten, aber aus verschiedenen Ableitungen nach und nach mit wachsender Sicherheit kenntlich geworden. In Beziehung dazu stehen verschiedene, erst in neuerer Zeit zum Vorschein gekommene Bruchstücke von Bearbeitungen der Reichsannalen. Dazu gehören die Wiener Blätter von 784 und 785[20], welche nebst einem aus Werden stammenden Fragment in Düsseldorf von 759 bis 762, von Pertz, der sie irrig für ursprüngliche Aufzeichnungen hielt, SS. XX, 1-15 als Fragmenta Werthinensia gedruckt sind. Hiermit verwandt ist ein anderes in Bern von Gerold Meyer von Knonau gefundenes Fragment von 783 bis 785[21]. Diesen beiden Versionen muß schon eine ältere zu Grunde gelegen haben, und diese glaubt Giesebrecht (Forsch. XIII, 627 bis 633) gefunden zu haben in einem Bruchstück von 769 bis 772, welches J. Bächtold [203] im Anzeiger für Schweizerische Geschichte 1872 S. 245-246 veröffentlicht hat. Es enthält die Capitelzahlen 56 bis 59, woraus Giesebrecht auf ein größeres Werk schloß, welches bis 714 rückgreifend, mit Benutzung des Fredegar im J. 802 ausgearbeitet, auch in den Annales Mettenses benutzt wurde, und mit einer in diesen erhaltenen eigenthümlichen Fortsetzung von 803 bis 805 versehen war. Wegen einiger Beziehungen auf Reichenau vermuthete Giesebrecht in Haito den Verfasser dieses Werkes, aber diese Stellen gehören nur den Annales Mettenses an und sind aus Regino entlehnt. Dagegen ist durch weitere Untersuchung festgestellt, daß dieses Werk, in seinen älteren Theilen auf den Fortsetzungen des Fredegar beruhend, weiterhin aus den Reichsannalen geschöpft ist, aber durch einige Zusätze und namentlich durch die Fortsetzung sehr werthvoll. Pückert[22], welcher sich sehr eingehend damit beschäftigt hat, hebt namentlich (S. 165) die Nachrichten über Grifo hervor, welche seiner Ansicht nach von hier in die Annales Einhardi übergegangen sind. Er sucht den Ursprung in Saint-Denis nachzuweisen, und nimmt eine Ueberarbeitung in Metz um 900 mit Zuziehung der Vita Caroli an, welche den Ann. Mett. und auch dem Poeta Saxo zu Grunde liege. Benutzung dieses Werkes ist außer in den Mettenses nachgewiesen in den Ann. Lauriss. minores, Lobienses, Guelferbytani, im Chron. Vedastinum und Moissiacense, Fontanellense, und Waitz hat SS. XIII, 26-33, die erwähnten Fragmente nebst dem betreffenden Abschnitt der Annales Mettenses herausgegeben[23].
Neuestens hat nun Fr. Kurze[24], an diese Ergebnisse anschließend, hervorgehoben, daß aus den uns bekannten Bruchstücken dieser Compilation sich doch nicht alle Nachrichten in den Ableitungen [204] belegen lassen, namentlich nicht in den Fulder Annalen, weshalb man genöthigt war, eine unwahrscheinliche Heranziehung verschiedener Quellen anzunehmen. Er kommt dadurch zu der Schlußfolgerung, daß schon um 796 aus den Fortsetzungen des Fredegar, den Reichsannalen und anderen Quellen, der Vita Bonifatii, dem Pabstbuch, ein ausführlicheres werthvolles Werk zusammengestellt sei, welches in der Compilation von Saint-Denis nur auszugsweise enthalten sei. Es ist nach Kurze kein anderes, als das schon S. 146 erwähnte, in den Ann. Maximiani kenntliche, welches auch den Ann. Sithienses zu Grunde liegt. Als ein Stück dieses verlorenen Werkes betrachtet er auch das Fragmentum Chesnii, als eine Ableitung die Continuatio Romana der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus. Indem wir nun den Scharfsinn des Verfassers dieser Untersuchungen vollkommen anerkennen, können wir ihm doch durchaus nicht folgen, wenn er (S. 128) in diesem, seiner Ansicht nach sehr bedeutenden Geschichtswerk das oben (S. 149) erwähnte verlorene Werk des Crantz erkennen will, da Aventins Angabe über den Inhalt desselben durchaus nicht dazu paßt.
Vermissen wir nun hier irgend eine gesicherte locale Anknüpfung, so werden wir dagegen bestimmt nach Lorsch gewiesen durch die Annales Laurissenses minores, welche jedoch Waitz jetzt als die kleine Lorscher Frankenchronik bezeichnet hat[25], ein mageres, nach Regentenjahren geordnetes Compendium der Geschichte des Frankenreiches, an Beda sich anlehnend und ganz aus der oben erwähnten Compilation bis 805 geschöpft, mit Ergänzungen aus den Ann. Laureshamenses und einigen Erweiterungen und Zusätzen; nach Kurze bis 789 aus der von ihm angenommenen Quelle. Nur das Jahr 806 gehört nach Waitz dem Verfasser, wenn er nicht doch vielleicht auch dieses schon in der Compilation fand. Die als Regierungsjahre betrachteten, überaus ungenauen Zahlen hält Pückert für Abschnitte, die vielleicht schon in der Vorlage gewesen, wodurch der Vorwurf großer chronologischer Verwirrung beseitigt würde[26]. Er hebt ferner die ausserordentlich starke, gegen die Vorlage noch sehr verstärkte kirchliche Färbung, die Betonung der geistlichen [205] Autorität und Leitung hervor, was der Strömung der Zeit entspricht. — Von 807 an beginnt eine sehr magere Fortsetzung bis 817, während ein anderes nach Fulda gekommenes Exemplar dort eine andere mit deutlich localer Färbung, ebenfalls bis 817, erhielt[27].
Die lebhaft erwachende Thätigkeit in dieser Richtung bezeugen ferner die Chronik der sechs Weltalter, welche bis 810 reicht, von einem ungenannten Verfasser[28], ein mageres chronologisches Gerippe, ohne selbständigen Werth, die oben S. 146 erwähnten Ann. Maximiani von 710 bis 811, die Fulder bis 814 (S. 150) und die Flaviniacenses von 816 (S. 146).
Bis 818 reicht das Chronicon Moissiacense[29], eine große unverarbeitete Compilation, welche aus der vorher erwähnten Chronik bis 741, der Compilation bis 805, den Reichsannalen und anderen bekannten Werken geschöpft ist, deren Bekanntschaft, wie Pückert bemerkt, Abt Benedict von Aniane vermittelt haben kann, aber doch hin und wieder auch eigenthümliches aus jetzt verlorenen Quellen hat; darunter hat Dorr[30] Aquitanische Annalen und ein Chronicon Aquitanicum ohne genaue Chronologie auszuscheiden und zu sammeln versucht. Der Verfasser ist so unselbständig und schreibt so gewissenhaft seine Vorlagen wörtlich ab, daß ihm auch der werthvolle letzte Theil der Chronik von 813 bis 818 nicht zuzutrauen ist. Dieser schließt sich vielmehr in der ganzen Weise der Erzählung so genau den bis dahin benutzten Ann. Laureshamenses (s. oben S. 145) an, daß wir mit L. Giesebrecht annehmen müssen, es habe dem Schreiber der Handschrift ein vollständigeres Exemplar [206] vorgelegen, dessen Schluß uns nur hier erhalten ist. Die Herkunft der Chronik ist südfranzösisch, es sind aber, wie G. Monod[31] bemerkt, von ihr zwei ganz verschiedene Bearbeitungen vorhanden, von denen die eine aus Moissac stammt, ihr fehlen die Jahre 716-777. Die andere stammt aus Aniane und hat Zusätze, in denen die Geschichte ganz willkürlich behandelt wird, z. B. 779 und 780 spanische Namen an die Stelle der sächsischen gesetzt sind. Zu einer mit diesen verwandten Chronik gehört nach der wichtigen Entdeckung von Pückert[32] die sog. Notitia de servitio monasteriorum, welche überall arglos benutzt ist, hier aber als eine spätere Fälschung, vermuthlich aus Aniane, nachgewiesen wird.
So stellt sich uns also eine lebhafte litterarische Thätigkeit dar, bei welcher zunächst die Sorge für die bis dahin in so hohem Grade vernachlässigte Form der Darstellung in den Vordergrund tritt, mit welcher sich aber nicht minder auch das Streben nach Ergänzung der geschichtlichen Thatsachen verbindet. Am Ende des Jahrhunderts werden die Annalen bis 801 von dem sog. Poeta Saxo sogar in Verse gebracht.
Die Fortführung der Annalen bis 829 ist vom höchsten Werthe und gewährte ein noch lange befolgtes klassisches Vorbild der gleichmäßigen Darstellung der Zeitgeschichte. Hatte schon Einhard den früheren Theil der Annalen für sein Leben Karls zu Rathe gezogen, so finden wir den folgenden Abschnitt von 814 an zu einer Biographie Ludwigs verwandt, nicht unbedeutend verändert, aber nicht verbessert, mit Einhards Werk gar nicht zu vergleichen[33].
Funck, Ludwig der Fromme, Frankfurt a. M. 1832. B. Simson, Jahrbücher des Fränkischen Reichs unter Ludwig dem Frommen. 2 Bde. Leipz. 1874. 1876.
Ein Jahrhundert lang hatte das karolingische Haus daran arbeiten müssen, das zerfallende merowingische Reich wieder zur Ordnung und Festigkeit zu bringen, bevor Karl daran denken konnte, auch den Wissenschaften hier eine neue Heimath anzuweisen. Als dann Ludwigs ungeschickte Hände den stolzen Bau im Laufe weniger Jahre in seinen Grundfesten erschütterten, als von neuem Raub und Gewaltsamkeit aller Art ungehindert geübt wurden, da wurde auch [207] diese zarte Blüthe geknickt. Es half nichts, daß Ludwig persönlich litterarischen Bestrebungen geneigt war[1], daß er die Klosterzucht herstellen half, was auch den Schulen zu Gute kam; wir wollen ihm nicht den Ruhm schmälern, das schöne altsächsische Gedicht des Heliand veranlaßt zu haben, aber unter dem Waffenlärm konnte die Wissenschaft nicht gedeihen, und über ihre Mißachtung wird schon bald nach Karls Tod geklagt[2]. Schon 829 baten die zu Worms versammelten Bischöfe dringend um die Errichtung von mindestens drei öffentlichen Schulen, um dem Verfall Einhalt zu thun: die Ausführung wird bei der wachsenden Zerrüttung des Reiches unterblieben sein[3].
Die Hofschule blieb jedoch bestehen, der Ire Clemens und andere Lehrer wirkten daran, und unter Karl dem Kahlen gewann sie noch einmal einen glänzenden Aufschwung. Auch die Reichsannalen wurden nicht unterbrochen, sondern in gleichmäßiger Weise weiter fortgeführt. Es sind die nach ihrem Fundort genannten Bertinianischen Annalen, deren Schreibart den amtlichen Charakter nicht verkennen läßt; wir werden auf dieselben noch später zurückzukommen haben. Alle die traurigen Vorfälle der Zeit werden hier mit möglichster Schonung berührt; der Herr Kaiser erscheint stets in seinem Rechte, aber auch gegen die Gegner, welche ja ebenfalls seinem Hause angehörten, wird anständige Mäßigung beobachtet. Im Jahre 835 übernahm der Bischof Prudentius von Troyes die Fortsetzung, und führte sie bis zum Jahre 861, wo der Erzbischof Hinkmar die Arbeit aufnahm; schon war nicht mehr der königliche, sondern der erzbischöfliche Hof zu Reims der wahre Mittelpunkt des Reiches. Der genaue Zusammenhang der karolingischen Reiche aber tritt in diesen Jahrbüchern noch deutlich hervor, [208] indem auch die italienischen und die deutschen Begebenheiten sorgfältig berücksichtigt werden.
Der vornehmen Kürze der Reichsannalen treten für die frühere Zeit Ludwigs die Gedichte des Ermoldus Nigellus[4] zur Seite; schmeichlerische Lobgedichte, die zwar als solche kaum zu den eigentlichen Geschichtsquellen gerechnet werden können, aber doch von mancher Einzelheit uns Kunde geben, und durch ihre Schilderungen vielerlei Aufschluß gewähren über Zustände und Personen der Zeit. Aquitane von Geburt, war Ermold ein Günstling des Königs Pippin; er geleitete ihn, obwohl Mönch, auf der Heerfahrt des Jahres 824 gegen die Bretonen mit Schild und Speer: doch scherzt er darüber selbst, und sein Herr lachte ihn aus. Der Kaiser aber gab ihm Schuld, daß er Pippin verführe, und verbannte ihn deshalb nach Straßburg, wo Bischof Bernald ihn unter seine Aufsicht nahm. Hier nun schrieb er seine vier Bücher, in Distichen, über die Thaten des Kaisers, mit Ludwigs aquitanischem Königthum beginnend bis auf Heriolds Taufe 826, und es liegt in der Natur der Dinge, daß er ihm sowohl wie der Kaiserin Judith um so ärger schmeichelte, je mehr er sich seiner Verbindung mit ihren Gegnern bewußt sein mochte; er erreichte jedoch seinen Zweck nicht, und sandte deshalb noch zwei Elegien an König Pippin, deutlich Ovid nachahmend, hinter dem er doch in Sprache und Versbau unendlich weit zurückbleibt[5]. Seine Befreiung aber mag er wohl dem Siege der Verschworenen im Jahre 830 verdankt haben[6].
Kaum minder lobrednerisch für Ludwig, als die Verse Ermolds, sind die beiden Lebensbeschreibungen, welche wir von ihm besitzen. Die eine, welche nur bis 835 reicht, ist schon zu seinen Lebzeiten verfaßt, von Thegan oder Degan, einem vornehmen Franken und Landbischof der Trierer Kirche, auch Probst des Cassiusstifts in Bonn, von welchem sonst nichts bekannt ist, als sein freundschaftlicher [209] Verkehr mit Walahfrid und einigen anderen, den ein Paar noch erhaltener Briefe und Verse bezeugen. Er ist von ganz besonderem Eifer gegen die aus unfreiem Stande erhobenen und dann übermüthig gewordenen Bischöfe erfüllt, von denen er jedoch nur Ebo von Reims nennt; man vermuthet deshalb, daß er vielleicht in dessen Sprengel ansäßig war und persönlich von ihm zu leiden gehabt hat. Walahfrid rühmt (um 825) seine stattliche Erscheinung, seine gigantische Statur, und seine Gelehrsamkeit. Jene Schrift nun ist vielleicht durch Einhards Werk über Karl angeregt, verfolgt aber, wie es B. Simson wahrscheinlich macht, einen bestimmten politischen Zweck, indem wohl nicht ohne Absicht neben scharfem Tadel Lothars und seiner Anhänger die Verdienste Ludwigs des Deutschen sehr hervorgehoben werden. In der Form sehr unvollkommen, und größtentheils in magerer annalistischer Weise verfaßt, gewährt sie uns doch einige gute Nachrichten; der Aufgabe einer wirklichen Biographie aber konnte der Verfasser schon deshalb nicht genügen, weil er von Leidenschaftlichkeit gegen Ludwigs Gegner, vorzüglich gegen Ebo von Reims, erfüllt war, und die wahren Ursachen der Unruhen und inneren Kriege verschweigt[7]. Walahfrid freilich, ein ebenso eifriger Anhänger Ludwigs, lobt, indem er die Mängel des Ausdrucks mit der seelsorgerischen Thätigkeit des Mannes entschuldigt, gerade die Wahrhaftigkeit desselben; er theilte das Büchlein in Capitel und versah diese mit Ueberschriften, um sich und andere an den Thaten des Kaisers Ludwig, heiligen Andenkens, um so besser und häufiger erbauen zu können.
Mit geringerer Heftigkeit, doch mit nicht minderer Parteilichkeit für Ludwig, ist die zweite größere Lebensbeschreibung desselben[8] geschrieben, welche ein unbekannter Geistlicher vom Hofe [210] bald nach dem Tode des Kaisers verfaßt hat; man pflegt ihn den Astronomen zu nennen, wegen einiger Bemerkungen, welche sich auf diese Wissenschaft beziehen. Tiefere geschichtliche Einsicht dürfen wir bei einem Anhänger Ludwigs überhaupt nicht suchen, und auch der Stil dieses Biographen ist entstellt durch übertriebenes Streben nach phrasenhaftem Schmuck. So hat er in dem mittleren Theile seines Werkes von 814 bis 829 fast nur die Reichsannalen ausgemalt und durch seine Schönrednerei entstellt[9]. Schätzbarer ist der erste Abschnitt, wo Ludwigs Jugendzeit nach den Erzählungen oder, wie Ebert vermuthet, nach einer schriftlichen Aufzeichnung des Mönches Adhemar geschildert ist, der mit dem Kaiser auferzogen war. Im letzten Theile endlich giebt der Verfasser aus eigener Kenntniß Nachricht von dem was er erlebt, und wenn auch seine Darstellung wenig zu loben, die Chronologie sehr verwirrt ist, so ist doch der Inhalt von großem Werthe für uns.
Diesen Schriften reihen wir noch das Leben des Abtes Benedict an, des Stifters des Klosters Aniane († 821), der das Vertrauen des Kaisers in so hohem Grade besaß; zuletzt Abt des für ihn erbauten Klosters Inden oder Cornelimünster, wurde er zugleich Obervorsteher aller Klöster im Frankenreich, und entfaltete eine große Wirksamkeit für die Reform des Mönchswesens und Herstellung der Schulen. Sein Leben wurde ein Jahr nach seinem Tode (821) von Ardo, genannt Smaragdus, seinem Nachfolger als Abt von Aniane, in anschaulicher Weise liebevoll geschildert, mit besonders genauer Kenntniß der früheren Zeit, wie er, damals Witiza genannt, ein edler Gothe, Sohn des Grafen von Maguelonne, ein tapferer Kriegsmann, Mönch wurde und sich zuerst einer ganz übertriebenen Askese hingab, bis das Leben ihn erzog, und nun seine [211] reformatorische Thätigkeit weithin wirksam wurde. Auch die Bekehrung des Grafen Wilhelm von Toulouse wird darin berichtet, dessen Leben später fabelhaft ausgeschmückt ist[10].
Ein merkwürdiges Denkmal aus dieser Zeit ist der liber manualis Dodanae, die von Dhuoda, der Witwe des Grafen Bernhard von Septimanien, im J. 841 für ihren Sohn Wilhelm verfaßten Rathschläge und Unterweisungen, woraus einst Mabillon und Baluze Auszüge gegeben haben, welche jetzt mit Benutzung einiger neugefundenen Fragmente von E. Bondurand neu herausgegeben sind[11].
In einer Zeit der erbittertsten Parteiungen konnte die Geschichtschreibung nicht den Charakter ruhiger, unparteilicher Schilderung bewahren, den wir in den Reichsannalen wahrnehmen; jede Erzählung nimmt eine bestimmte Farbe an nach dem Standpunkt des Verfassers, und es treten nun auch die politischen Streitschriften hinzu, in welchen die Gegner ihr Verfahren zu rechtfertigen, die Widersacher anzuschuldigen sich bemühen. Dahin gehört aus dieser Zeit namentlich das beredte Manifest des Erzbischofs Agobard von Lyon, welches das Auftreten der Söhne gegen ihren Vater rechtfertigen sollte[12], und von der anderen Seite die Klage des Herrn Kaiser Ludwig, angeblich von ihm selbst verfaßt, in Wahrheit aber doch wohl nur eine Stilübung aus dem Kloster des h. Medardus[13].
Den Tod des Kaisers und die darauf folgende Zwietracht beklagte in einer Elegie Florus, der bekannte Diakonus von Lyon[14].
[212] Nithardi Historiarum libri IV. ed. Pertz, MG. SS. II, 649-672. Besonderer Abdruck Hann. 1839; 2. Ausg. mit neuer Benutzung der Pariser Handschrift, sonst ohne Zusatz, 1870; von Holder mit wiederholter Benutzung derselben 1880. Uebersetzung von Jasmund, Berl. 1851. 1889 (Geschichtschr. 20. IX, 5; S. 67 l. fünften statt 15). — Die Eidesformeln jetzt auch bei Müllenhoff und Scherer S. 197 (3. Ausg. I, 231), vgl. S. 479 (II, 365). Brakelmann in Hoepfners und Zachers Zeitschr. f. d. Philol. III, 85-95. Arbois de Jubainville: Le Text Franc etc. Bibl. de l'École de chartes XXXII, 321-340. Facs. bei G. Paris: Les plus anciens Monuments de la langue Française (1875) pl. 1. Chr. Pätz, De vita et fide Nithardi, Diss. Hal. 1865. Gerold Meyer von Knonau, Ueber Nithards 4 Bücher Geschichten, Leipz. 1866, 4. O. Kuntzemüller, Nithard u. sein Geschichtswerk, Diss. Jen. 1873. Ebert II, 370-374. Die Handschrift stammt aus Saint-Magloire in Paris, Hist. Zeitschr. XXXI, 220. Delisle, Note sur le Catalogue général p. 37. Manitius, Parallelstellen, NA. IX, 618. XI, 69-73.
Wir haben schon früher gesehen, wie am Anfang des Mittelalters diejenigen Männer, welche sich durch litterarische Bildung auszeichneten, wenn sie auch ihre Bildung noch nicht der Kirche verdankten, doch zuletzt dieser sich zuwandten, und dasselbe wiederholt sich auch in Karls Zeit. Die fränkischen Ritter verschmähten jede gelehrte Bildung, und die Bemühungen Karls in dieser Beziehung blieben ohne dauernde Wirkung. Die Kirche war gar bald wieder alleinige Hüterin des Griffels und der Feder. Auch Einhard hatte sich klösterlichem Leben zugewandt, wenn er auch nicht in den geistlichen Stand getreten war, und kriegerische Waffen hatte er nie geführt. Auch Angilbert, wenn er jemals, wie man später erzählte, ein Kriegsheld gewesen war, zog doch die Kutte an; sein Sohn Nithard aber bietet uns das einzige Beispiel eines vornehmen und tapferen Streiters, der wirklich das Schwert aus der Hand legte, um auch mit der Feder die Sache seines Herrn zu vertheidigen. Freilich hat seine Rede nicht mehr den Wohlklang von Angilberts Muse; man fühlt ihr die Zeit an, wo schon über den Verfall der Schulen geklagt wird, sie ist rauh und hart, aber dafür entschädigt der tüchtige Sinn des Mannes, seine Einsicht und Kenntniß der Dinge. Daß auch seine Schrift durchaus parteiisch ist, versteht sich von einem Manne, der mitten in den heftigsten Kämpfen stand, von selbst; es konnte nicht anders sein[1].
[213] Nithard war ein eifriger Anhänger Karls des Kahlen, und theilte mit ihm alle Wechselfälle des Kriegs. Im Jahre 840 übernahm er eine Gesandtschaft an Lothar, und als diese vergeblich blieb, zog er mit Karl dem Heere Lothars entgegen; da, als sie eben im Begriff waren, in Châlons-sur-Marne einzureiten, gab Karl ihm den Auftrag, die Geschichte seiner Zeit zu schreiben, um sein Recht aller Welt darzulegen. Doch war ihm zunächst noch Nithards Schwert wichtiger, als seine Feder; am 25. Juni 841 wurde die Entscheidungsschlacht bei Fontenoy geschlagen, wo auch Nithard, wie er selbst erzählt, tapfer kämpfte. Dann griff er wieder zur Feder; im ersten Buch stellte er einleitend die Ereignisse dar, welche zu diesen Kämpfen geführt hatten, die Reichstheilungen, und die Verwirrung, welche daraus entstanden war, zweckmäßig und übersichtlich erzählt[2]. Mit Ludwigs Tode hebt im zweiten Buch die ausführliche Darstellung an; das Unrecht Lothars und die Verwerflichkeit seines Benehmens gegen die Brüder sind der vorzügliche, auch in dem an Karl gerichteten Vorwort ausdrücklich bezeichnete Gegenstand. Die Schilderung des entscheidenden Kampfes, mit dem das Buch schließt, unterbricht Nithard durch die Bemerkung, daß eben jetzt, während er schreibe[3], am 18. October desselben Jahres, die Sonne sich verfinstere. Das dritte beginnt er voll Unmuth: er habe gar nicht weiter schreiben wollen, weil es ihn schmerze und ihm zuwider sei, von seinem Volke schmähliches zu berichten; doch damit nicht etwa jemand sich erkühne, die Sachen anders zu berichten als sie sich ereignet hätten, habe er sich entschlossen, noch ein drittes Buch hinzuzufügen über dasjenige, woran er selber Theil genommen, die Verhandlungen nämlich, die ihn fortwährend in Anspruch nahmen. Mit ähnlichen Worten beginnt er auch das vierte Buch, das letzte, welches leider nur bis zum Anfange des Jahres 843 reicht; dann scheint er in sein Kloster zurückgekehrt zu sein, vermuthlich eben deshalb, weil es ihm als Laienabt verliehen war. Ich hatte früher ganz bezweifelt, daß er Abt gewesen sei, allein da die Grabschrift wirklich von dem Zeitgenossen Mico zu sein scheint, so müssen wir ihm glauben, daß Nithard kurze Zeit (paucissimis diebus sagt Hariulf) Abt gewesen und als solcher im Kampf gefallen sei. Da schon im Sept. 844 Ludwig Abt ist, so muß er vor diesem eingeschoben werden, und [214] es mag die Vermuthung von Traube richtig sein, daß Richbod, nachdem er noch 842[4] die feierliche Erhebung Angilberts besorgt hatte, ihm den Platz hat räumen müssen, was in diesem Kloster mehrmals vorkam. Wir hören nichts weiter von ihm, als daß im elften Jahrhundert, als Angilberts Grab in St. Riquier eröffnet wurde, man darin die Leiche Nithards fand, in Salz gelegt, in dem hölzernen, mit Leder bedeckten Sarge, worin er einst vom Schlachtfelde heimgetragen war, an seinem Haupt die Wunde, welche ihm den Tod gegeben. Damals hat man ihn als Abt gemalt, und der Klosterdichter Mico verfaßte dazu ein Epitaph[5]. Als Todestag wird XVIII. Kal. Jun. angegeben, was richtiger durch Id. Mai bezeichnet wäre. Dümmler schlägt deshalb vor, Jul. zu setzen, und so kämen wir auf den 14. Juni. Merkwürdiger Weise aber ist nach Prudentius der Abt Richbodo von St. Riquier am 14. Juni 844 am Agout gefallen, und ist auch dieser ein Enkel Karls des Großen gewesen. Leider fehlt es uns an jeder zuverlässigen Nachricht zur Aufklärung dieser Verhältnisse; wenn Nithard mit ihm zugleich gefallen wäre, so muß man doch annehmen, daß er sicherlich auch hätte erwähnt werden müssen. Wir beschränken uns also darauf, das Epitaph hier mitzutheilen. Es lautet:
EPYTAFIUM.
[215] Ungern trennen wir uns von diesem Büchlein, dem Werke eines wackern Kriegshelden und einsichtigen Staatsmannes, welcher so recht aus der Mitte der Begebenheiten mit Ernst und Wahrheitsliebe berichtet, was er selbst durchlebt, woran er selbst den bedeutendsten Antheil genommen hat. Unwillkürlich knüpft sich daran der Gedanke, wie ganz anders die Geschichtschreibung sich hätte entwickeln können, wenn die Laien der folgenden Jahrhunderte es nicht verschmäht hätten zu schreiben, wenn nicht die Feder ausschließlich der Geistlichkeit überlassen wäre, der wir zwar viel schöne und treffliche Werke zu danken haben, die aber mit Nothwendigkeit ihre kirchliche Auffassung in alle Verhältnisse übertrug. Wir möchten ihre Werke nicht missen, aber gar gerne hätten wir daneben auch die Stimmen einsichtiger Laien.
Doch ist Nithard nicht der einzige von den Kämpfern in der Schlacht bei Fontenoy, dessen Worte uns vorliegen; auch von Lothars Seite ist uns eine Schilderung der Schlacht erhalten in dem Klagelied jenes Angilbert, der, im ersten Treffen kämpfend, von Vielen allein übrig geblieben war. Voll tiefen Grames sind seine Worte, nirgends tritt uns so lebendig der bittere Schmerz entgegen über diese allzu harte Nacht, in welcher die Tapfersten gefallen sind, die Kundigsten des Krieges[8]. Die Form dieser Verse ist rhythmisch, die Sprache diejenige, welche uns schon aus der merowingischen Zeit bekannt ist, lateinisch wie es ein Romane sprechen und schreiben konnte, ohne es schulmäßig erlernt zu haben. Daher haben wir auch dergleichen Dichtungen nur aus Frankreich[9] und Italien[10], aus Deutschland [216] nur Kunstpoesie gelehrter Geistlicher[11]. Daneben sang das Volk seine deutschen Lieder, die wohl gelegentlich erwähnt werden, die aber niemand aufschrieb. Nur der Ludwigsleich, gedichtet auf die Normannenschlacht bei Saucourt (881), bildet davon eine Ausnahme[12].
Ein höchst eigenthümliches Product jener traurigen Zeiten, wo durch die Zwietracht der Brüder alle Ordnung gestört war und besonders die Kirchen fortwährender Beraubung und Mißhandlung ausgesetzt waren, wo dann auch Karl der Kahle die anfangs noch an ihn geknüpften Hoffnungen in zunehmender Weise täuschte, sind die Schriften und vorzüglich die Revelationen des Audradus Modicus aus dem Martinskloster zu Tours, der 847 vom Erzbischof Wanilo zum Landbischof von Sens eingesetzt wurde, im Nov. 849 [217] aber mit seinen meisten Collegen diese Stelle wieder verlor. Im März 849 überreichte er seine gesammelten Schriften in Rom dem Pabst Leo IV, welcher sie im Archiv von St. Peter niederlegte; die angeblichen Visionen aber setzte er noch bis 853 fort. Diese nur fragmentarisch erhaltenen Schriften sind kürzlich durch neugefundene Fragmente verständlicher geworden und von L. Traube in scharfsinniger Weise erläutert; sie enthalten nicht unbedeutende Beiträge zur Geschichte der Zeit[13].
Wir haben oben § 10 →2 die ersten, noch recht unvollkommenen Versuche betrachtet, die fast verlorene Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen. Die Ereignisse der Gegenwart nahmen zunächst die Aufmerksamkeit in Anspruch und mit ihrer Aufzeichnung begann man; doch regte sich auch bald das Bedürfniß in den größeren Zusammenhang einzutreten und einen Ueberblick über die Weltgeschichte zu gewinnen. Bei der raschen Ausbildung formaler Gewandtheit konnten die in der Form noch halb barbarischen und innerlich unverarbeiteten Compilationen sehr bald nicht mehr genügen, und es ist begreiflich, daß man sich dieser großen und schwierigen Aufgabe von neuem und mit besserem Erfolge zuwandte.
Ganz anderer Art nun, als jene Compilationen, und das Werk eines wirklich bedeutenden Mannes ist die Weltchronik des Bischofs Frechulf von Lisieux. Unbekannter Herkunft nennt er Helisachar, den vielvermögenden Kanzler Kaiser Ludwigs[1], seinen Lehrer, und die Freundschaft, welche ihn mit Hraban verband, wird wohl schon damals geschlossen sein, als dieser zu Alcuins Füßen saß[2]. Vermuthlich aus dem Kreise der Hofgeistlichkeit wurde Frechulf auf den Bischofstuhl erhoben; in Lisieux fand er eine in tiefe Unwissenheit versunkene Herde zu weiden, und einen solchen Büchermangel, daß nicht einmal die Bibel vorhanden war. Er wandte sich deshalb [218] an seinen Freund Hraban, seit 822 Abt von Fulda, mit der Bitte um einen Commentar zum Pentateuch, der die Erklärungen der alten Kirchenlehrer mit Beifügung ihrer Namen enthalten sollte, und Hraban erfüllte seine Bitte. Wohl bald nachher sandte der Kaiser ihn 824 an den Pabst Eugen II wegen des damals lebhaft geführten Streites über den Bilderdienst; bis 852 wird noch seine Theilnahme an verschiedenen Synoden erwähnt[3], 853 aber erscheint sein Nachfolger Eirard.
Ohne Zweifel hat Frechulf seine Verbindungen und wohl auch die Reise nach Rom benutzt, um dem Büchermangel abzuhelfen, so daß er bald im Stande war, auf Helisachars Wunsch und Antrieb mit einer für die damalige Zeit nicht unbedeutenden Gelehrsamkeit und Kunst ein Werk über die alte Geschichte zu Stande zu bringen, in welchem die ausgehobenen Stellen der benutzten Autoren zu einer ausführlichen Darstellung nicht ungeschickt verbunden sind. Zu diesem ersten Theile fügte er bald noch einen zweiten, welcher die Geschichte des römischen Reiches von Christi Geburt bis zur Vertreibung der römischen und gothischen Obrigkeiten aus Gallien und Italien und der Aufrichtung völlig selbständiger Reiche durch die Franken und Langobarden fortführt; die Geschichte der christlichen Kirche fand ihren Abschluß durch Gregors des Großen Pontificat. Diese zweite Abtheilung seines Werkes überreichte er 830 oder etwas früher der Kaiserin Judith, deren Gelehrsamkeit auch von Hraban und Walahfrid gepriesen wird[4], um davon für den Unterricht des noch zarten Knaben Karl Gebrauch zu machen. Ueberaus merkwürdig ist es, daß Frechulf hierdurch die sonst so ängstlich festgehaltene Continuität des römischen Reiches gänzlich aufgab, daß er es wagte, die neuen Reiche auf römischem Boden als etwas wirklich neues, ihre Stiftung als den Beginn einer neuen Zeit zu betrachten[5]. Nachfolger hat diese Abweichung von dem herrschenden [219] Systeme nicht gefunden; nur Notker, der Mönch von St. Gallen (I, 1) ist kühn genug, die Bildsäule als zertrümmert, das römische Reich als vergangen zu betrachten, und Kaiser Karl als den Herrscher eines neuen Weltreichs hinzustellen.
In dem herkömmlichen Geleise blieb auch Ado, Erzbischof von Vienne († 874), der Verfasser des Martyrologiums, welcher sich auch an einer Weltchronik versuchte[6]. Er verband zu diesem Zwecke mit der Chronik des Beda Auszüge der gewöhnlichen Quellen, die er jedoch stilistisch zu einer zusammenhängenden Erzählung überarbeitete. Den Faden für die Verbindung des Ganzen gab ihm die Folge der Kaiser; an Constantin und Irene knüpft sich unmittelbar Karl der Große, dann Ludwig, Lothar, Ludwig II: so wird der Gedanke der Einheit des römischen Reiches durchaus festgehalten. Die Erhebungen der Söhne gegen Ludwig den Frommen erscheinen nur als unberechtigte Revolutionen; dann wird Karl der Kahle als trefflicher und weiser Regent gepriesen, alle aber überstrahlt die Hoheit des Pabstes Nikolaus. Es ist die Geschichte vom Standpunkte der Autorität und der vorgefaßten Meinungen, der sie so lange beherrscht hat und eine unbefangene Auffassung der Ereignisse unmöglich machte.
Auch eine Volksgeschichte der Franken liegt uns vor, wahrscheinlich aus dem Jahre 816, die einem übrigens unbekannten Erchanbert, doch ohne genügende Sicherheit, zugeschrieben wird[7]. [220] Doch ist kein großer schriftstellerischer Ruhm daran zu verlieren oder zu gewinnen; sie beruht ganz und gar auf den Gesta Francorum, und der angehängte Schluß ist über alle Maßen dürftig; nur die sagenhafte Erzählung über die Beseitigung des letzten Merowingers zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich, weil sie uns zeigt, wie früh sich eine, der Wirklichkeit nicht entsprechende, stark kirchlich gefärbte Auffassung ausbildete.
Die Localgeschichten, welche später zu so bedeutender Entwickelung gelangten, zeigen sich in dieser Zeit noch kaum in ihren ersten Anfängen. Wir erwähnten schon des Paulus Diakonus Geschichte der Bischöfe von Metz; außerdem ist nur noch die Geschichte der Aebte von St. Wandrille zu nennen[8], bis zum Jahre 833, mit einer Fortsetzung bis zum Jahre 850. Sie enthält mancherlei merkwürdiges, z. B. über Einhards Stellung als Aufseher der königlichen Bauten, und ist besonders ausführlich über die Thätigkeit des Abtes Ansegis, jenes bedeutenden Mannes, dessen Capitulariensammlung so großes Ansehen gewann.
Mit dem äußersten Widerstreben hatten die deutschen Stämme sich der Herrschaft der Franken unterworfen, welche von ihrer niederrheinischen Heimath aus sowohl am Oberrhein wie am Main festen Fuß faßten und in größeren Massen sich ansiedelten, während einzelne Herren dieses herrschenden Stammes überall im ganzen Lande zu finden waren. Mit ihnen kam die fremde, römische Kirche, und die rein deutsche, ureigne Entwickelung wurde durch das Uebergewicht der fremden Bildung erdrückt. Doch ist es fraglich, [221] ob wir überhaupt berechtigt sind, hier von einer Entwickelung zu sprechen; so lange wir von den Deutschen Nachricht haben, ist eine solche, wo sie unberührt blieben, kaum wahrzunehmen, und gerade das am spätesten unterworfene sächsische Heidenthum ist völlig starr und jeder Veränderung widerstrebend; das waren Zustände, die ungestört viele Jahrhunderte ohne merkliche Entwickelung fortbestehen konnten.
Gewaltsam wurden die Schwaben, Baiern, Sachsen dem Frankenreiche einverleibt; aber nachdem bei ihnen die Kirche durch Bonifatius sicher gegründet und durch Karls feste Hand auch über Sachsen ausgebreitet war, nahmen sie nun auch an dem Leben innerhalb derselben, an der Entwickelung aller der durch Karl gelegten und gepflegten Keime, den lebhaftesten selbstthätigsten Antheil. Als das große Reich zerfiel, hatte diese Pflanzung bereits so tiefe Wurzeln bei ihnen geschlagen, daß die Trennung keinen nachtheiligen Einfluß darauf äußerte; auch blieb ja die Einheit der Kirche, welche die einzelnen Glieder schützte gegen das Schicksal jener alten, in ihrer Vereinzelung verkommenden Gemeinden der irischen Glaubensboten.
Ludwig dem Deutschen fehlte es nicht an Bildung[1]; er fand Freude und Geschmack daran und scheint namentlich auch, wie sein Vater, den Wunsch gehabt zu haben, den Deutschen das Christenthum durch Werke in der Volkssprache näher zu bringen. Ihm selber glaubt man die Aufzeichnung des deutschen Gedichtes vom Jüngsten Tage in einer ihm gewidmeten Handschrift zuschreiben zu dürfen[2]; ihm übersandte auch Otfrid um 865 sein Evangelienbuch. Nicht minder nahm aber auch Ludwig, wie sein Vater und seine Brüder, lebhaften Antheil an den Fragen und Untersuchungen, welche die gelehrten Theologen seiner Zeit beschäftigten, in so eingehender Weise, wie es nur bei der gründlichen Schulbildung der Karolinger möglich war. Der Erzbischof Adalram von Salzburg (821-836) übersandte ihm die Abschrift einer Predigt des heiligen Augustin, dieselbe, welcher die eben erwähnten deutschen Verse beigefügt sind; ein Priester Regimar mehrere Schriften des h. Ambrosius[3]. Besonders aber stand er in lebhaftem Verkehr mit Hraban, [222] der ihm mehrere seiner Werke theils aus eigenem Antriebe, theils auf ausdrückliche Aufforderung des Königs überreicht hat; im Prolog zum Daniel erwähnt er peritissimos lectores an seinem Hofe[4]. Auch zu der Unterredung mit seinem Bruder Karl im Jahre 865 führte Ludwig den Bischof Altfrid von Hildesheim mit sich und benutzte die Anwesenheit des gelehrten Hinkmar, um diesen beiden Männern einige schwierige Stellen der heiligen Schrift zur Erklärung vorzulegen. Dadurch veranlaßt, verfaßte Hinkmar seine Auslegung des 17. Verses des 103. Psalmes, welche er dem Könige übersandte[5]. Auch fehlte es am ostfränkischen Hofe wohl nicht ganz an einer Hofschule für die vornehmen Jünglinge, welche nach alter Sitte dort sich auszubilden suchten. Erzkanzler war von 829-833 der gelehrte Abt Gozbald von Nieder-Altaich, welcher später (841-855) das Bisthum Würzburg erhielt. Ihn nennt Ermanrich von Ellwangen seinen Lehrer, vorzüglich aber kann er nicht Worte genug finden zum Preise des weisesten der Lehrer, des Erzkaplans Grimald, der noch an Karls Hofe gebildet war, man sagte sogar, daß er noch Alcuins Unterricht genossen habe, dann in der Reichenau höhere Ausbildung suchte, und von 833 bis 870, wenngleich nicht ohne Unterbrechung, der Kanzlei, bald auch der Kapelle Ludwigs vorstand. Mit drei Abteien, Weissenburg, St. Gallen und Ellwangen[6] bedacht, hielt er sich doch noch immer vorzüglich am Hofe auf, wo die wichtigsten Geschäfte ihm anvertraut wurden. Er war ein Neffe des Erzbischofs Hetti von Trier, und der Bruder von dessen Nachfolger Thietgaud[7]. Zu den bedeutendsten Gelehrten der Zeit stand er in freundschaftlichen Beziehungen; so übersandte Hraban ihm sein Martyrologium mit einer poetischen Widmung[8], und nie versäumte Grimald über den Staatsgeschäften die Pflege der Wissenschaft. Veranlaßt war Hraban zu jenem Werke durch Ratleik, einst [223] Einhards Schreiber, dann dessen Nachfolger als Abt von Seligenstadt und von 839 bis 853 Kanzler an Grimalds Stelle[9]. Auch Witgar, Abt von Ottobeuern, der von 858-860 Kanzler war, dann Bischof von Augsburg wurde, zeichnete sich durch Liebe zu gelehrten Studien aus; nicht minder auch Grimalds Nachfolger Liutbert, der Erzbischof von Mainz[10].
Allein der Königshof war doch nicht mehr wie in Karls Zeit der Mittelpunkt aller litterarischen Bestrebungen, welche sich nun vielmehr an die Orte anschlossen, wo die bedeutendsten Lehrer der Zeit wirkten, und namentlich bei dem bald nachher eintretenden Verfall des Reiches kann man es nur als eine glückliche Entwickelung betrachten, dass diese Studien in voller Unabhängigkeit an den verschiedensten Orten feste Wurzeln getrieben hatten. Naturgemäß verbreiteten sie sich im ganzen Reiche, erblühten bald hier bald da zu reicher Entfaltung, und folgten so derselben Richtung der Vereinzelung und Absonderung, welche im deutschen Reiche sich überall und immer von neuem geltend macht. Daher ergiebt sich denn auch die Betrachtung nach landschaftlichen Gruppen als die einzige für die deutsche historische Litteratur anwendbare.
Aber wie überhaupt die Zeit der deutschen Karolinger sich aufs genaueste den Zuständen des Frankenreichs anschließt, so finden wir auch unter Ludwig und seinen Söhnen noch eine Fortsetzung der alten Reichsannalen. Denn wenn auch die Annalen von Fulda[11] aus einem Kloster hervorgegangen sind und diesen localen Ursprung nicht verleugnen, so umfaßt doch auch ihr Gesichtskreis das ganze Reich, und die Klostergeschichte erscheint ganz als Nebensache. [224] Die Verfasser müssen in naher Verbindung mit dem Hofe gestanden, unter dem Einfluß desselben geschrieben haben, wenn sich auch kein Zeugniß dafür beibringen läßt; sie zeigen sich außerordentlich gut unterrichtet und beobachten auch als officielle Reichshistoriographen dieselben Rücksichten, welche schon in den Fortsetzungen des Fredegar und in den Lorscher Annalen wahrzunehmen sind. Uebrigens haben sie vortrefflich geschrieben in jener schon an Karls Hofe festgestellten Weise; dieselbe, in ruhiger Würde völlig objectiv gehaltene Darstellung, von Jahr zu Jahr fortschreitend, mit der deutlichen Absicht, der Nachwelt Kunde von den Ereignissen zu hinterlassen und zugleich ihr Urtheil zu bestimmen. Nicht jedes Jahr ist daran geschrieben, aber doch immer ziemlich bald nach den Ereignissen, und deshalb haben wir an ihnen eine unschätzbare Quelle ersten Ranges, bei der wir nur die Absichtlichkeit der Darstellung nicht außer Acht lassen dürfen. Die Form ist anspruchslos, und doch muß man bei näherer Betrachtung die Kunst anerkennen, welche dazu gehörte, in diesen wirren Zeiten alles im Auge zu behalten, sich durch Nebensachen nicht abwenden zu lassen, und mit knapper Beschränkung das Wichtigste übersichtlich zusammen zu stellen.
Ein allem Anschein nach fuldischer Mönch war es, der zuerst die Aufgabe übernahm, die 829 abgebrochenen Königsannalen für Ludwigs Reich weiter zu führen. Er besaß jedoch dieselben, wie es scheint, nicht vollständig, sondern wie in der Wiener Handschrift 612 (hist. prof. 989, cod. 6 bei Pertz) nur von 771 an; dazu die Laurissenses minores von 714 an und die Sithienses 741 bis 823. Gewiß war es wünschenswerth, hieraus ein übersichtliches Handbuch zusammen zu stellen, und zu diesem Zwecke empfahlen sich ihm vorzüglich die Sithienses durch ihre knappe und nicht incorrecte Form: die für ihn nothwendige Aufgabe, die alten Lorscher Annalen zugleich zusammen zu ziehen und ihrer rohen Gestalt zu entkleiden, war hier bereits erfüllt; nur für den Anfang hatte er es noch nachzuholen. Der übergroßen Kürze und Dürftigkeit wurde durch Zusätze aus der kleinen Lorscher Frankenchronik, von 771 an überwiegend und bald ausschließlich aus den Reichsannalen abgeholfen; diesen vertraut er sich nun ganz an, ohne doch bis 823 die Führung der Sithienses völlig zu verlassen. Als weitere Quellen weist Kurze sowohl die von ihm construirte Chronik bis 796, wie die nach Saint-Denis benannte Compilation bis 805 nach, der vielleicht schon eine Fortsetzung sich anschloß; auch die Annales Bertiniani zieht er heran. Aus der Translatio SS. Marcellini et Petri (826 und 828) [225] ist einiges zugesetzt[12]; vorzüglich aber verfehlte er nicht, die Hausgeschichte seines Klosters mit Hülfe der alten Annalen in die Reichsgeschichte zu verflechten. Die wenig reichhaltige Fortsetzung bis 838 berührt jedoch nur die allgemeinen Angelegenheiten, aber von einer Einwirkung des Hofes ist noch nichts zu spüren, ein eigenes Urtheil nur leise angedeutet. Der Verfasser hatte wohl nur die Belehrung seiner Klosterbrüder im Auge, und nachdem einmal die völlig ausgebildeten Annalen vorlagen, mußte auch ohne einen äußeren Antrieb überall, wo man eine Abschrift besaß, der Wunsch sich geltend machen, diese werthvolle Quelle wichtiger Belehrung weiter zu führen. Für diese Zeit und in einem Kloster von hervorragender Bedeutung war eine solche Arbeit auch für Mönche nicht mehr zu schwierig.
Das Verhältniß zu den Annales Sithienses, wie es hier angenommen ist, beruht auf dem von B. Simson gegebenen Nachweis, daß den Annales Sithienses gerade alles dasjenige fehlt, was die Annales Fuldenses wörtlich den Laurissenses minores entnommen haben, da doch unmöglich angenommen werden kann, daß gerade alle diese Zusätze bei einem Auszuge weggelassen wären; zugleich weist der Zusatz zu der Notiz über die Rinderpest 810 auf einen Zeitgenossen im letzten Theile[10].
Ich sehe mich hier leider wieder genöthigt, wie schon in den früheren Ausgaben, von dem sonst immer so schwerwiegenden Urtheil von Waitz abzuweichen, obgleich sich derselbe Forsch. XVIII, 354 ff. speciell an mich gewandt hat, um mich von der entgegengesetzten Sachlage zu überzeugen. Es war auch bei mir nicht etwa eine aus Simsons Paralleldruck hervorgegangene „Täuschung des Auges“; ich hatte mir vielmehr selbst den Text der Fulder Annalen für diesen ganzen Abschnitt in seine Elemente zerlegt, und war dadurch zu demselben Resultate gekommen, welches Simson gewonnen hat, und welches durch Is. Bernays von neuem mit großer Schärfe begründet ist. Die Ueberspringung so vieler sicher aus den Lauriss. [226] min. entnommener Stellen in den Sithienses scheint mir unleugbar, und mit der Annahme, daß diese aus den Fuldenses excerpirt wären, unvereinbar. Die vorhandenen Schwierigkeiten müssen deshalb auf andere Weise erklärt werden, wie es in mehreren Fällen Bernays mit Erfolg versucht hat. Fr. Kurze, welcher sich diesem Standpunkt durchaus angeschlossen hat, vermuthet die Benutzung einer besseren und vielleicht etwas reichhaltigeren Handschrift, welche auch weiter fortgesetzt sein konnte. Uebrigens ist die ganze Frage sachlich ohne Bedeutung.
Die Annales Sithienses haben diesen Namen nur deshalb erhalten, weil sie von Mone in einer Handschrift des Klosters Sithiu oder Saint-Bertin entdeckt und daraus veröffentlicht sind[11]. Locale Beziehungen aber fehlen durchaus. Sie beginnen mit Königsnamen von 548 bis 726; von 741 bis 823 liegen fortlaufende Reichsannalen vor, von welchen schon Mone richtig bemerkte, daß sie anfangs zum Theil auf den Ann. Petav. beruhen, übrigens aber durchgehende Verwandtschaft mit den Ann. Lauriss. und Einhardi zeigen. Der Text schwankt zwischen beiden Texten. Das aber, und der Anklang an verschiedene andere Quellen wird von Kurze zurückgeführt auf die Benutzung der oft erwähnten Compilation bis 796. Der Auszug ist nicht ohne Geschick gemacht, aber sehr dürftig, so daß der Fulder Annalist, wie bereits erwähnt, aus anderen Quellen sich reicheren Stoff verschaffte.
Ueber die kühnen Hypothesen Dünzelmanns glaube ich jetzt weggehen zu dürfen, da seine Ansicht von einer Theilung der Annales Fuldenses in einen schon um 793 verfaßten und einen späteren Theil widerlegt wird durch die zweifellose Benutzung der Lauriss. min. und den von Waitz geführten Beweis, daß diese erst um 806 verfaßt sind.
Ueber den Verfasser dieser Annalen nun werden wir belehrt durch eine Randnote in dem um 900 geschriebenen Schlettstadter Codex zum Jahre 838: hucusque Enhardus. Daß hiermit kein anderer gemeint ist, als der berühmte Einhard, können wir als sichergestellt betrachten; ein Mönch Enhard ist weder in den Fulder Todtenannalen noch im Reichenauer Nekrolog zu finden. Für seine Autorschaft hat sich nun in bestimmtester Weise Kurze erklärt[12], indem er sich besonders darauf stützt, daß zum Jahre 836 in das Itinerar des Kaisers die Angabe eingeschoben ist, derselbe sei „ad [227] sanctos Marcellinum et Petrum“ gekommen. Darum müßten die Annalen in Seligenstadt geschrieben sein. Allein ich denke, der Ruf dieser Heiligen und ihrer Wunderthaten müßte damals weit verbreitet und auch in Fulda wohlbekannt gewesen, der Besuch des Kaisers auch da als sehr denkwürdig erschienen sein. Deshalb erscheinen mir Pückerts (S. 158) Gegengründe gegen die Fulder Ueberlieferung doch überwiegend, die Abfassung nur in Fulda selbst anzunehmen. Und daß derselbe Mann nun auch noch die Ann. Sithienses für seine Genter Mönche verfaßt haben sollte, damit scheint mir ihm wirklich zu viel zugemuthet zu werden. Sieht man in ihm den Verfasser der großen Reichsannalen, so kann man vollends diese annalistische Vielgeschäftigkeit nicht glaubhaft finden.
Von der Fortsetzung der Annalen war schon längst erkannt worden, daß sie nicht aus dem Kloster Fulda herstammen können, obgleich der Verfasser der ersten Fortsetzung (838-863) Rudolf uns als Mönch des Klosters bekannt ist; wir werden noch auf ihn zurückkommen. Er ist aber so sehr in die Denkweise, die Gesichtspunkte und Absichten des Hofes eingeweiht, so gleichmäßig unterrichtet über die wichtigeren Begebenheiten in allen Theilen des Reiches, daß ein näheres Verhältniß zum König nicht zu verkennen ist; er stellt denselben stets in das günstigste Licht, und zählt z. J. 858 sich selbst zu den „consiliorum regis conscii“. Aber andererseits findet sich doch keine Spur eines Aufenthaltes am Hofe, etwa der Zugehörigkeit zur Kanzlei, und wir finden ihn auch später wieder im Kloster. Hatte nun schon Duchesne bemerkt, daß Einige den Mainzer Ursprung dieser Annalen behaupten, und in der That tritt die Beziehung zu Mainz oft sehr stark hervor, so hat doch erst A. Rethfeld in seiner scharfsinnigen Abhandlung[13] die richtige Lösung gefunden. Nachdem eine Urkunde vom 27. Jan. 849 (Mühlb. 1350), worin Rudolf vom König als sein Beichtvater, zugleich aber auch als Vorsteher der Schule zu Fulda bezeichnet ist, schon längst als unecht beseitigt war, zeigen uns die Urkunden des Klosters, daß Rudolf in denselben zwar häufig vorkommt, aber nur bis 841. Unzweifelhaft, dürfen wir wohl sagen, hat er in der Folgezeit sich lange auswärts aufgehalten, und es ist höchst wahrscheinlich, daß Hraban 847 bei seiner Erhebung zum Erzbischof ihn nach Mainz mit sich nahm. Aber für die Zwischenzeit fehlt jeder Anhalt. Kurze hat jedoch auf den Bericht der Annalen von dem Aufenthalt [228] K. Ludwigs 838 in Frankfurt hingewiesen, welcher schon auf eine vertrauliche Beziehung hindeutet: es scheint, daß Rudolf selbst anwesend war, und schon damals nach der löblichen Sitte der älteren Könige den Auftrag erhielt, Reichsannalen zu schreiben. Durch seine gelehrte Bildung, einen lateinischen Stil, der sich mit Einhard wohl vergleichen läßt, und eine besonnene und billige Denkweise war er dazu besonders geeignet; möchten wir allerdings gern sehr viel mehr von ihm erfahren, so darf man nicht vergessen, daß seine Aufgabe eine knappe und übersichtliche Darstellung, verbunden mit vorsichtiger Discretion erforderte. Setzte nun sein Aufenthalt am erzbischöflichen und öftere Berührung mit dem königlichen Hofe ihn in den Stand, vielerlei Nachrichten zu erfahren, so mag ihm doch oft auch die Ruhe zur Ausarbeitung gefehlt haben, denn man brauchte seine Feder auch für andere Aufgaben; nicht jedes Jahr schrieb er seine Fortsetzung, und Kurze hat wahrscheinlich gemacht, daß er gerade, wenn er sich einmal wieder in Fulda aufhielt, seine Notizen sorgfältig ausgearbeitet hat, so 853, wo er die seit 849 gelassene Lücke ausfüllte. Zuletzt 860 zog er sich, wohl durch seine Kränklichkeit veranlaßt, ganz nach Fulda zurück.
Vermuthlich von dem Fortsetzer rühren die Randnoten her, welche Enhard und Rudolf als Verfasser der früheren Theile nennen; ihn selbst kennen wir nicht, aber es ist höchst wahrscheinlich, daß es Meginhard war, der auch Rudolfs anderes unvollendetes Werk vollendete und mit einer gleichlautenden Randbemerkung versah. Die Gegengründe von Pertz sind durch Rethfeld und Kurze widerlegt. Er schrieb ganz in derselben Weise und in demselben Geiste, wie sein Vorgänger, wenn auch mit geringerer Kunst des Ausdrucks, gleichmäßig die Reichsgeschichte nach allen Richtungen verfolgend, auch nicht minder beflissen, die Könige in günstigem Lichte erscheinen zu lassen. Einen merkwürdigen Gegensatz bildet daher eine, wie es scheint, besondere Aufzeichnung, nicht das Fragment eines größeren Werkes, über Ludwigs des Jüngeren Krieg gegen die Söhne Ludwigs des Stammlers, welches Boehmer auf dem letzten Blatt einer aus Augsburg stammenden Handschrift saec. IX. in München fand[14]. Daß Meginhard in Mainz seine Annalen geschrieben hat, ist vollkommen klar; 869 erscheint er zuletzt in den Urkunden von Fulda; 870 wurde der Erzbischof Liutbert Erzkaplan, und damals wird er Meginhard den Auftrag gegeben haben, die Annalen, welche seit Rudolfs Tod liegen geblieben waren, fortzusetzen. Er besorgte zu dem Zweck eine Abschrift von Rudolfs Werk, worin drei Stellen [229] geändert, die nach Rudolfs Tod 864 und 865 in Fulda gemachten Zusätze freier überarbeitet sind, und verfaßte nun den Bericht, über die Zwischenzeit, welcher dürftig und lückenhaft, auch nicht fehlerfrei ausgefallen ist; dann aber schrieb er von Jahr zu Jahr und zeigt sich vollkommen gut unterrichtet. Liutberts Persönlichkeit steht durchaus im Vordergrunde, allein als 882 Ludwig der Jüngere starb, behielt Karl III seinen früheren Erzkaplan Liutward, und Liutbert mußte zurücktreten; das Original der noch immer als königlich betrachteten Reichsannalen wird abgegeben sein. Nun besorgte sich Meginhard, von dem wir wohl als erwiesen ansehen können, daß auch die weitere Fortsetzung von ihm ist, eine Abschrift, in welcher fünf größere Stellen geändert sind (Red. II. bei Kurze), und schrieb weiter, jetzt aber ohne alle höfische Rücksicht, mit scharfem Tadel des Königs und seiner Räthe, vorzüglich Liutwards. Im Jahre 887 wurde dieser gestürzt, aber auch Arnulf hatte schon seinen Erzkaplan, den Erzbischof Theotmar von Salzburg, und Liutbert wurde wieder in den Hintergrund gedrängt. Da ist die Mainzer Annalistik erlahmt; Meginhard selbst starb 888 und im folgenden Jahr auch Liutbert.
Aber auch Karl blieb bei dem alten Herkommen, und auch er fand einen Historiographen, der sich kein tadelndes Wort über den Kaiser entschlüpfen läßt, und ihm schließlich seine Belohnung im Himmel anweist. Auch die Absetzung des Kaisers wird von ihm noch mit loyalem Unwillen berichtet, Arnulf jedoch mit großem Geschick geschont, und von dem Augenblicke seiner Erhebung an tritt dieser in die gebührende Stellung des rechtmäßigen Königs ein. Der Verfasser, dem bei dem raschen Verfall der Schulen bereits alles Gefühl für grammatische Correctheit abhanden gekommen ist, muß dem Hofe nahe gestanden haben, seine Heimath aber scheint Baiern zu sein. Ueber dieses Land sind seine Nachrichten ausführlich und genau, die Mährer trifft sein leidenschaftlichster Haß. Ungeachtet der rohen Sprache, der Mangelhaftigkeit der Darstellung, wird doch von ihm, und den 897 eintretenden Fortsetzern, so lange Arnulf lebt, die Würde der Reichshistoriographie ungemindert aufrecht gehalten. Man versuchte sogar auch unter dem Kinde Ludwig in alter Weise fortzufahren, allein bei der rasch überhand nehmenden Zerrüttung verschwand auch diese Erbschaft aus dem Reiche des großen Karl, und mit dem Jahre 901 erlischt die Fackel, welche bis dahin unserem Wege so treulich leuchtete. Adam von Bremen hatte eine bis 911 reichende Handschrift, führt jedoch aus dem letzten Theile nichts mehr an.
[230] Dieser letzte Theil ist uns nur in einer aus dem Kloster Niederaltaich stammenden Handschrift erhalten, welche von 897 ab Autograph zu sein scheint. Hier hat merkwürdigerweise der ältere Theil eine ganz besondere Beschaffenheit (Red. III), indem die ursprüngliche Aufzeichnung Rudolfs, welche vielleicht nach Kurze's Vermuthung bei einem Besuch des Klosters Fulda im August 897 dem Hofe bekannt geworden war, mit der 2. Redaction verbunden ist, so daß wir an einigen Stellen nur hieraus den alten Text erkennen können. Da diese Handschrift Pertz noch unbekannt war, konnte mit Hülfe derselben Fr. Kurze seine Ausgabe auf einer besser gesicherten Grundlage ausarbeiten.
Kunstmann, Hrabanus Magnentius Maurus, Mainz 1841. Rettberg I, 370-374. 605-633.
Die litterarische Thätigkeit der Mönche zu Fulda beschränkte sich nicht auf die Reichsannalen; sie ist umfangreich genug, um einen eigenen Abschnitt in Anspruch zu nehmen, und die Bedeutung des Klosters für die Anfänge gelehrter Bildung auf deutschem Boden ist so groß, daß wir auch seiner Geschichte eine etwas umständlichere Betrachtung widmen müssen.
Die Gründung Fuldas wurde veranlaßt durch Bonifaz, welcher sich seine Ruhestätte dort erwählte, und wohl auch noch bei Lebzeiten sich dahin zurückgezogen hätte, wenn nicht schon früher die Märtyrerkrone ihm zu Theil geworden wäre. In schmuckloser, aber ausführlicher Erzählung wird uns mit anmuthiger Schlichtheit die Geschichte der ersten Gründung berichtet in dem Leben des ersten Abtes Sturmi, der, von Geburt ein Baier, schon als Jüngling Bonifaz übergeben, in Fritzlar von Wigbert unterwiesen war, und nach dreijähriger Wirksamkeit als Pfarrer, von der Sehnsucht nach dem klösterlichen Leben in der Einsamkeit ergriffen wurde. Bereitwillig förderte Bonifaz sein Streben, und sandte ihn, nachdem in Fulda die neue Stiftung begründet war, nach Italien, um an der Quelle die rechte Einrichtung des Klosterlebens kennen zu lernen; er hielt sich deshalb längere Zeit in Montecassino auf[1], welches als des Abendlandes Mutterkloster von fränkischen Pilgern häufig aufgesucht wurde. Unter königlichen und päbstlichen Schutz gestellt und bald auch durch den Leib des hochverehrten Apostels der Deutschen geheiligt, gewann das Kloster Fulda rasch eine kräftige Entwickelung [231] und nahm zu an Glanz und Reichthum. Sturm vertheidigte, nach manchen Wechselfällen doch zuletzt mit glücklichem Erfolge, die Freiheit und Unabhängigkeit des Stiftes gegen den Erzbischof Lull; sein Nachfolger Baugulf (779-802) schmückte es mit Bauwerken, und erst jetzt begann auch das wissenschaftliche Leben in seinen Mauern sich zu entwickeln, obwohl es an einer Schule von Anfang an nicht gefehlt hatte. Alcuin hat damals Fulda besucht, und Karls berühmtes Rundschreiben über die Nothwendigkeit gelehrter Bildung für die Geistlichen ist uns gerade in der an Baugulf gerichteten Ausfertigung erhalten; er ist es auch, der Einhards glückliche Anlagen früh erkannte, und ihn deshalb an des Königs Hof sandte. Die ältesten Fulder Annalen (oben S. 150) beginnen mit angelsächsischen Namen und in ihren Handschriften begegnen uns die Schriftzüge der Angelsachsen; es kann nicht ohne günstigen Einfluß geblieben sein, daß diese höher gebildeten Mönche gerne bei den Reliquien ihres gefeiertsten Landsmanns weilten, und auch gelehrte Schotten fanden sich schon bald, des alten Gegensatzes ihrer Kirche vergessend, an Winfrids Grabe ein, wie Probus, der Freund des Lupus und Walahfrids. Baugulfs Nachfolger Ratgar (802-817) sandte die fähigsten Mönche seines Stiftes zu den berühmtesten Lehrern der Zeit, Hraban und Hatto nach Tours zu Alcuin, Brun zu Einhard, Modestus nebst mehreren anderen zu dem Schotten Clemens[2]. Vielleicht schon dieser Zeit gehört der Johannes Fuldensis didasculus an, welcher in ungeschickten Versen als grämlicher Alter gegen den Heiden Vergil eiferte und dagegen des Arator christliches Gedicht pries[3].
Es zeigt sich uns hier der Gegensatz, in welche die der Geistlichkeit zu ausschließlicher Pflege überwiesene Gelehrsamkeit zu dem ursprünglichen Zweck des Klosterlebens trat, und nicht minder litt [232] die stille Beschaulichkeit desselben durch den fürstlichen Hofhalt, den Fremdenverkehr, die Unruhe und den Lärm der Bauten. Ratgar warf man ungemessene Baulust, Härte und Hoffart vor; heftige innere Zerwürfnisse waren die Folge[4], und der Frieden kehrte erst wieder, als 817 Ratgar abgesetzt wurde. Es war das Jahr, in welchem der Kaiser sich ernstlich der Reform der Klöster annahm und auf der Aachener Versammlung die Kapitel verordnete, welche lange Zeit fast gleiches Ansehen mit der Regel selber genossen. Zwei westfränkische Mönche, Aaron und Adalfrid, führten diese Reform auch in Fulda ein; als sie sich hinlänglich befestigt hatte, erlaubte der Kaiser eine neue Wahl, und Eigil übernahm die Leitung des Stiftes. Dieser, den wir aus Einhards Briefen als dessen Freund kennen lernen, war noch ein Schüler Sturms; ein Baier, wie er, und sein Verwandter, war er schon als Kind nach Fulda gebracht und der Klosterschule übergeben: über 20 Jahre hatte er unter Sturms Zucht gelebt, und in dankbarer Erinnerung schrieb er das Leben seines Meisters[5], auf Bitten der Angildruth, vielleicht einer Nonne von Bischofsheim, dem ebenfalls von Bonifaz gestifteten großen Nonnenkloster. Die Sprache Eigils ist nicht frei von Germanismen, sie trägt noch den Stempel der älteren, vor Alcuins Wirksamkeit liegenden Zeit. Doch verletzt sie nicht mehr durch die groben Fehler der merowingischen Zeit, und reichlich entschädigt für die Mängel des Stils der einfach fromme Sinn des Mannes, seine ansprechende und ungesuchte Erzählung dieser Begebenheiten, welche er theils noch selbst erlebt, theils aus dem Munde der älteren Brüder und seines Meisters erfahren hatte. Nach seiner Anordnung wurde diese Legende jährlich an Sturms Gedenktage (17. Dec.) während der Mahlzeit den Mönchen vorgelesen.
Das Leben des zweiten Abtes Baugulf schrieb, durch Eigil veranlaßt, Bruun, mit dem Beinamen Candidus, wohl derselbe, [233] den Ratgar zu Einhard gesandt hatte, noch in seiner ersten, guten Zeit, als er erst kürzlich in wunderbarer Einigkeit von den Brüdern zum Abt erwählt war, wie Bruun berichtet. Leider ist dieses Leben Baugulfs verloren[6]; erhalten aber ist uns das Leben Eigils[7], von demselben Verfasser auf Hrabans Veranlassung geschrieben, als dieser noch Abt war, also vor 842. Der Verfasser war schon hochbetagt, 845 ist er gestorben. Er befand sich auf einer einsamen Pfarre, und Hraban hatte ihn ermahnt, sich im Lesen zu üben und etwas Nützliches zu schreiben. Die Lebensbeschreibung ist nicht ohne Geschick verfaßt, und wenn auch nicht fehlerfrei, lässt sie doch in der anspruchsvolleren Form den Schüler Einhards wohl erkennen. Besonders gelungen ist die sehr lebensvolle Schilderung der Bewegung, welche die Abtswahl im Kloster hervorruft; die Ansichten und Aeußerungen der verschiedenen Wortführer werden in der gewöhnlichen Umgangsprache wiedergegeben, und ein Kampf der Meinungen und Wünsche, wie er sich ohne große Veränderungen noch heutiges Tages bei solcher Gelegenheit beobachten läßt, stellt sich uns mit großer Lebendigkeit dar. Darauf versucht sich der Verfasser in langen Reden, die man nun einmal nach dem Vorbilde des Alterthums als nothwendig betrachtete, wenn man schön schreiben wollte, Reden des Kaisers und des Erzbischofs von Mainz, in denen Bruun die Betrachtungen niedergelegt hat, zu welchen ihn Ratgars Amtsführung und die dadurch hervorgerufenen Wirren veranlaßten. Zu Grunde gelegt sind hier nach Eberts Ansicht wirkliche Ansprachen des Kaisers. Der Verfasser sagt es im Vorwort, und auch, daß er sie so, wie sie gehalten wurden, doch nicht wiederzugeben vermöge. Vollkommen zutreffend hat aber dagegen Waitz bemerkt, daß eine solche Rede voll gelehrter Citate der Kaiser nicht halten konnte, daß ferner Bruun nicht zugegen und Jahrzehnte seitdem vergangen waren. Den Hauptinhalt dessen, was er dann von Eigils eigener Thätigkeit berichtet, bilden wiederum dessen Bauten, namentlich die noch jetzt stehende achteckige Rotunde, die uns wieder an die Freundschaft mit Einhard erinnert; Bruun, Einhards [234] Schüler, nahm selbst an diesen Arbeiten Theil: die Apsis über dem Grabe des h. Bonifaz hatte seine Hand mit Gemälden geschmückt.
Der prosaischen Biographie schließt sich eine zweite in Hexametern an, welche früher geschrieben zu sein scheint[8]; der Inhalt ist fast ganz derselbe, und die Form giebt ein neues Zeugniß von der im früheren Mittelalter so sehr verbreiteten Fertigkeit in dieser Kunst, deren wir schon bei Karls Zeitgenossen häufig zu gedenken hatten. In jeder Schule bildete die Hebung im Versemachen einen stehenden Theil des Unterrichts, und dadurch entstand die Vorliebe für die poetische Einkleidung, die so oft dem inneren Gehalte nachtheilig geworden ist.
Zugeeignet hat Candidus oder Bruun sein Werk dem Modestus, oder mit deutschem Namen Reccheo, der die Unthaten des Ratgar, des Einhorns, welches in die fromme Herde eingebrochen war, durch beigefügte Zeichnungen noch anschaulicher machte; leider ist die Handschrift verloren und wir kennen nur die Abbildungen in Brauers sehr dankenswerthem Buch[9].
Am 15. Juni 822 starb Eigil; ihm folgte sein Freund Hraban, der bis dahin der Klosterschule vorgestanden hatte, einer der größten Gelehrten seiner Zeit[10], dessen Ruhm sich schon durch das ganze Frankenreich verbreitet hatte. Man bewunderte namentlich auch seine Verse, obgleich sie gegen diejenigen mancher Zeitgenossen sehr zurückstehen, arm an Inhalt sind, und voll von grammatischen und metrischen Fehlern, wie man sie bei ihm nicht erwarten sollte, voll auch von Plagiaten, die er u. a. auch an seinem Lehrer Alcuin verübt hat. Er war ein Schüler Alcuins; Ratgar hatte ihn, wie [235] oben erwähnt, nach Tours gesandt, nachdem er im Jahre 801 zum Diaconus geweiht war[11]; und kurze Zeit genügte, um ein warmes Freundschaftsband zwischen ihm und dem allverehrten Lehrer zu knüpfen. Alcuin nannte ihn Maurus nach dem Lieblingsjünger des heiligen Benedict, und nach seiner Heimkehr schrieb er ihm einen Brief, in welchem er erwähnt, dass er einst (olim) eine Schrift unter seinem und seines Mitschülers Samuel Namen verfaßt habe[12]: sehr bald darauf (19. Mai 804) muß Alcuin gestorben sein. Mit Hatto, seinem Nachfolger als Abt, damals seinem Mitschüler in Tours, noch erfüllt von Verehrung gegen Alcuin, der auf dem Widmungsbild für den h. Martin segnend neben ihm steht, verfaßte Hraban in seinem dreißigsten Jahr sein Werk zum Preise des h. Kreuzes, dessen versbildliche Spielereien im Mittelalter viel bewundert wurden. In Prachthandschriften schickte er es dem Pabste, Erzbischof Otgar u. a. und es haben sich deren mehrere erhalten[13]. Als Alcuin ihm zuletzt schrieb, stand Hraban bereits der Klosterschule in Fulda vor, welche nun eine Pflanzstätte gelehrter Bildung für ganz Deutschland wurde, denn ungestört durch die Bedenklichkeiten seines alternden Lehrers erklärt Hraban in seiner Schrift de institutione clericorum auch das Studium der heidnischen Autoren für unentbehrlich zum Verständniß der heiligen Schrift; bei Lupus und in den Annalen von Fulda findet sich nach Vogel zuerst wieder nach langer Zeit Bekanntschaft mit den Schriften Sallusts, welche jetzt [236] einen rasch wachsenden Einfluß auf den Stil gewannen[14]. Auch durch die Ungunst der Zeiten unter Ratgar wurde die Schule nur theilweise in ihrer segensreichen Wirksamkeit gehemmt. Fuldische Mönche finden wir bald in den angesehensten Stellungen; so wurde Baturich (817-848) Bischof von Regensburg und Erzcaplan, Haimo (840-853) Bischof von Halberstadt; Hrabans Schüler war Otfrid, der Mönch von Weißenburg, mit seinen Gefährten Werinbert und Hartmut aus St. Gallen[15]. Einhard sandte ihm den Vussinus, den er seinen Sohn nennt, doch vielleicht nur in kirchlichem Sinn; Alderich, Abt von Ferrières, später (829-841) Erzbischof von Sens[16], den Lupus, der später als Abt von Ferrières im Sprengel von Sens einen großen Namen gewann, und von dem eine Briefsammlung[17] voll reicher Belehrung sich erhalten hat; auf seine Bitte schrieb Hraban ein Collectarium in epistolas Pauli. Auch Frechulf von Lisieux war mit Hraban befreundet, doch vermuthlich schon seit seiner Lehrzeit in Tours (oben S. 217). Ermanrich von Ellwangen übersandte seinem Lehrer Rudolf, der Hraban zur Seite stand, das von ihm verfaßte Leben des heiligen Solus. Vor allem aber glänzt unter Hrabans Schülern Walahfrid, der Abt von Reichenau, der bald selbst das Haupt einer neuen Schule wurde. Auch Bernhard, [237] der unglückliche König von Italien, war ihm zur Erziehung übersandt worden. Nicht zu den unbedeutendsten Schülern des Hraban gehört endlich auch der Mann, der ihm und der ganzen Reichsgeistlichkeit in der Folge so viel zu schaffen machte, der Mönch Godschalk, der ungeachtet seines Standes den Muth hatte, eine unabhängige Ueberzeugung auszusprechen und zu verfechten[18].
Wie glückliche Erfolge für das eigene Kloster Hrabans Wirksamkeit hatte, haben wir schon an den Verfassern der Annalen gesehen. Unter seinen eigenen Werken sind keine geschichtliche, wenn man nicht etwa das schon früher erwähnte Martyrologium so bezeichnen will; wohl aber enthalten seine Vorreden, Widmungen[19] und Gedichte viele schätzbare Nachrichten über sein Kloster und über seine mitstrebenden Zeitgenossen, und mehrere seiner Schriften stehen in Verbindung mit den Zerwürfnissen der kaiserlichen Familie. Nach Eigil wurde er Abt des Stifts; da er aber dem Kaiser Ludwig treu ergeben, Lothar befreundet war[20], verließ er 842 sein Kloster, wo statt seiner Hatto, genannt Bonosus, einst sein Mitschüler in Tours, erwählt wurde, und widmete sich nun ungestört seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die ihm ohnehin mehr zusagten. Mit den Fuldern blieb er in freundschaftlichem Verkehr, und söhnte sich bald auch mit König Ludwig aus, der ihn gegen seine Neigung nach Otgars Tod zum Erzbischof von Mainz (847-856) erhob. Wie diese Beförderung den Reichsannalen zugute gekommen ist, haben wir oben schon gesehen.
In hohem Grade theilte Hraban das eifrige Streben der deutschen Geistlichkeit, den an solchen Schätzen noch armen Boden dieses Landes mit Gebeinen der Heiligen zu bereichern; die italienischen Reliquienkrämer hatten an ihm ihren besten Kunden. Seit alter Zeit bewahrte Fulda den Leib der heiligen Lioba oder Leobgyth; [238] diesen ließ Hraban nach dem Petersberge bringen, und veranlaßte schon vorher Rudolf, ihr Leben zu beschreiben[21]. Ihm standen dazu die Aufzeichnungen des fünf Jahre vorher (831) verstorbenen Priesters Mago zu Gebote, welche die Erzählungen von Schülerinnen der Heiligen enthielten. Anderes hatte sich noch in mündlicher Tradition erhalten. Leobgyth war eine Verwandte des Bonifaz, und von ihm aus England berufen, um in dem Kloster Bischofsheim (oben S. 137) einen Mittelpunkt geistlicher Belehrung für Nonnen zu errichten; auch ihnen waren die lateinische Sprache und mancherlei andere Kenntnisse unentbehrlich zum Verständniß der heiligen Schriften und des Gottesdienstes. Rudolfs Nachrichten geben daher eine erwünschte Ergänzung für die Kenntniß von der Wirksamkeit des Bonifaz; später war Leobgyth auch mit der Königin Hildegard befreundet. Diese Nachrichten sind nun verbunden mit einer Fülle von Wundergeschichten; so wenig in Rudolfs Annalen der kirchliche Standpunkt hervortritt, so sehr zeigt er sich hier von der die Zeit beherrschenden Richtung erfüllt. In noch höherem Grade tritt das hervor in seiner Schrift über die Wunder der unter Hraban nach Fulda gebrachten Reliquien[22], welche auch einige geschichtliche Nachrichten enthält, übrigens aber eine Fülle jener sich immer und überall in ermüdendster Eintönigkeit wiederholenden Wundergeschichten, welche nur durch die Namen der Personen und Ortschaften und gelegentliche Angaben über Sitten und Gebräuche der Zeit einigen Werth erhalten. Die Zeit der berichteten Geschichten fällt in die Jahre 835 bis 838; geschrieben ist das Buch zwischen 842 und 847, als Hraban in seiner Zelle auf dem Petersberge lebte; vielleicht jedoch etwas später, da die Schilderung von Hrabans litterarischer Thätigkeit daselbst im letzten Capitel im Praeteritum gehalten ist, und der letzte Schluß fehlt.
Dieses Werk Rudolfs war es wohl, welches Waltbraht, den Enkel Widukinds, der im Jahre 851 den Leib des h. Alexander von Rom nach Wildeshausen brachte, zu dem Wunsche und der Bitte veranlaßte, daß Rudolf auch diesen Gebeinen eine ähnliche [239] Schrift widmen möchte[23]. Aber erst, als er im Alter sich wieder in sein Kloster zurückzog, kam er zur Ausführung. Die Art, wie er diese Aufgabe erfaßte, zeigt seinen geschichtlichen Sinn; erfüllt davon, daß hauptsächlich diese Uebertragungen von Reliquien das Christenthum unter den Sachsen ausbreiteten und befestigten, ging er zurück auf die alte Heidenzeit, um zu zeigen, von welchen Irrthümern das Volk durch die Einführung des Christenthums befreit sei. Er begann mit einem kurzen Abriß der Stammsage, die Widukind von Corvey ausführlicher erhalten hat; dann aber entlehnt er die näheren Angaben über Glauben und Sitten der Sachsen aus der Germania des Tacitus[24]. Das ist ein guter Beweis für die gelehrten Studien der Fuldischen Klosterschule; zugleich aber ist es auch charakteristisch für Rudolf nicht allein, sondern für die mittelalterlichen Gelehrten überhaupt, daß er in Fulda, wo doch noch kürzlich das Hildebrandslied aufgeschrieben war, über das sächsische Heidenthum nichts aus eigener Kunde und Beobachtung mittheilt, sondern sich genau an die Worte des Tacitus hält.
Rudolf fügte noch eine kurze Uebersicht der Bezwingung der Sachsen durch Karl den Großen nach Einhard hinzu; dann rief ihn der Tod am 8. März 865 ab von dem wohlangelegten Werke. In den Annalen ist ihm ein kurzer Nachruf gewidmet, wo er als Historiker und Dichter gefeiert wird, und man vermuthet, daß auch der Maler Rudolf, dessen Werk Hraban in einem Epigramm rühmt, kein anderer gewesen ist. Die Fortsetzung des begonnenen Werkes übernahm sein Schüler Meginhard. Die Taufe Widukinds, mit der Rudolfs Erzählung abbricht, gab diesem den Uebergang auf dessen Enkel Waltbraht, der, an Lothars Hofe erzogen, sich mit vollem Eifer dem Christenthume zuwandte, und um das Christenthum in Sachsen besser zu befestigen, auszog, um aus Rom Reliquien zu holen. Die Empfehlungsbriefe, welche ihm Kaiser Lothar mitgab, hat Meginhard vollständig aufgenommen, hält sich dann aber bei den Vorfällen der Reise nicht lange auf, sondern geht bald zu seinem eigentlichen Gegenstande, den Wundern, über. Eine zweite Schrift ähnlicher Art, über den heiligen Ferrutius und dessen Uebertragung [240] von Castel nach Bleidenstadt, nördlich von Wiesbaden, durch den Erzbischof Lull[25], ist eine Predigt und hat deshalb einen ganz überwiegend erbaulichen Charakter; eine große Fülle von Phrasen verdeckt den Mangel an geschichtlichem Inhalt, der nur aus den Inschriften von Bleidenstadt stammt.
Meginhard, der sich in der Widmung einer theologischen Abhandlung an den Erzbischof Gunther von Coeln als Schulmeister bezeichnet[26], ist, wie wir schon oben sahen, ohne Zweifel auch der Fortsetzer der Reichsannalen gewesen. Nur aus diesen sehen wir, daß die litterarische Thätigkeit in diesem Kloster noch nicht ganz erstarb. Nur aus dem Anfange des folgenden Jahrhunderts haben wir noch eine kurze Geschichte der Aebte von Fulda[27], einen sehr kurzen und gedrängten, aber recht hübsch geschriebenen Bericht, der jedoch nur mit Vorsicht zu benutzen ist, da er durchaus panegyrischer Natur und keineswegs geschichtlich wahrhaftig ist. Der Abt Huoggi (891-915) erlangte von Kaiser Arnulf die berühmte, noch jetzt erhaltene Evangelienhandschrift, deren Randglossen Bonifatius zugeschrieben werden[28]. Sonst aber ist von litterarischer Thätigkeit in diesem Kloster nichts auf uns gekommen. Es hat jedoch schon Waitz[29] erkannt, daß den Hersfelder Annalen bis in die Mitte des neunten Jahrhunderts eine in Fulda verfaßte Compilation zu Grunde liegt, welche aus den ältesten Lorscher Annalen, der kleinen Frankenchronik (Lauriss. min.) und einheimischen Aufzeichnungen zusammengesetzt war, und auch von Marianus Scotus benutzt wurde. H. Lorenz hat das weiter ausgeführt und glaubte das Endjahr zwischen 830 und 840 ansetzen zu können[30], wogegen G. Buchholz[31] geltend machte, daß dann der Mangel einer Verwandtschaft mit dem älteren Theil der sog. Ann. Fuld. nicht zu erklären sei. Fr. Kurze bemerkte, daß die Uebereinstimmung mit Marianus [241] sich noch weiter erstrecke, und andererseits, daß für die erste Hälfte des zehnten Jahrhunderts dem Fortsetzer des Regino eine Fulder Quelle vorgelegen habe; beide schienen zusammen zu gehören[32]. So kommen wir auf eine Fulder Compilation des ausgehenden neunten oder des zehnten Jahrhunderts mit annalistischer Fortsetzung, Klosterannalen, in denen, wie es bei diesen Jahrbüchern der Fall zu sein pflegt, einzelne geschichtliche Nachrichten mit Begebenheiten aus der Hausgeschichte verbunden waren. Dafür wird der erste Theil der Annales S. Bonifacii von 716 bis 830 in Anspruch genommen[33]. Eine ausführlichere Geschichte des Klosters, die spurlos verschwunden ist, erwähnt und lobt Lambert in der Vorrede zu seiner Hersfelder Geschichte, SS. V, 137.
Litterarische Thätigkeit finden wir auch in dem nahe gelegenen, ebenfalls hessischen Kloster Hersfeld, welches um 770 von Lullus begründet wurde, als Fulda mit Erfolg seine Selbständigkeit gegen ihn behauptete, und bald zu kräftiger Entwickelung gelangte[34]. Auch von seiner Schule, seinen gelehrten Mönchen würde wohl manches zu berichten sein, wenn nicht die Ueberlieferungen dieses Klosters ein besonders ungünstiges Geschick betroffen hätte; die Hersfelder Annalen, Lamberts Geschichte von Hersfeld, sind verloren, und auch von Lamberts Jahrbüchern ist keine alte Handschrift vorhanden; da mag noch anderes spurlos für uns verschwunden sein. Der Abt Balthard († 796) kann vielleicht derselbe sein, an welchen zwei Briefe seiner Schwester Berthgyth in der Bonifazischen Sammlung sich erhalten haben[35]. Abt Bun bewog 836 den gelehrten Lupus, ein Leben Wigberts zu schreiben[36], den Bonifaz als Abt von Fritzlar eingesetzt hatte; seine Gebeine waren nach Hersfeld übertragen, und in den Wundergeschichten finden sich einige geschichtliche Nachrichten. Eine Handschrift, welche leider verschollen ist, enthielt auch eine poetische Bearbeitung dieser Vita in sehr barbarischer Sprache, von einem Hersfelder Mönch, welcher sie Buns Nachfolger Brunwart (843-875) gewidmet hatte[37]. Dieser Brunwart war befreundet mit Hraban, welcher an ihn, als er noch Chorepiscopus [242] war, Verse richtete[38]. Die Annalen, welche von besonderer Wichtigkeit für uns sind, gehören erst der folgenden Periode an.
Beide Klöster, Fulda und Hersfeld, blieben in engster Verbindung mit dem Erzbisthum Mainz; ihr Theil war die Pflege der Wissenschaft, während die Metropole zu sehr in die politischen Händel verwickelt wurde, um in litterarischer Beziehung eine hervorragende Stelle einzunehmen, wenn wir von den Reichsannalen absehen. Auf Lulls Nachfolger Riculf (786 bis 813), den der Mönch von St. Gallen als dumm und hochmüthig schildert, wohl übertreibend, da er unter dem Namen Damoetas zu Karls Hofgelehrten gehörte[39], folgte zuerst Lulls Schüler Haistulf (813-825), dann bis 847 Otgar, ein Verwandter Riculfs und eifriger Parteimann. Er ist es, welcher den Diaconus Benedict zur Ergänzung der Capitulariensammlung des Ansegis veranlaßt haben soll, und man hat ihn deshalb für den Mitschuldigen der hierin enthaltenen Fälschungen gehalten, eine Ansicht, welche jetzt von P. Hinschius als unbegründet widerlegt ist, da Benedicts Werk erst nach Otgars Tod vollendet worden ist, und die ganze Notiz ist vielleicht nur betrüglich erfunden. Zu verdanken haben wir ihm wahrscheinlich den Abschluß der Mainzer Briefsammlung, in welcher der Correspondenz des Bonifatius Briefe von Lull und Otgar sich anschließen[40]. Für seine Metropole brachte Otgar von seiner Gesandtschaft an Lothar nach Pavia 836 die Reliquien des h. Severus, Bischofs von Ravenna, nebst Frau und Tochter heim; ein französischer Speculant, der solch kostbare Waare durch Lug und Trug sich diebischer Weise zu verschaffen und dann theuer zu verkaufen pflegte, fand an Otgar einen Kunden, denn um so heiligen Besitz zu gewinnen, galt auch den frömmsten Männern Meineid und Diebstahl für zulässig[41]. Groß war die Freude in Mainz und in Erfurt, wohin zur Beförderung des Christenthums in Thüringen S. Severus abgelassen wurde, allein man hatte noch keine Kunde von dem Leben des Heiligen, bis der Priester Liudulf eine Pilgerfahrt nach Rom mit einem Besuche in Ravenna verband, und die dort gewonnene Auskunft mittheilte; hinzugefügt ist von ihm die geschichtlich nicht ganz unwichtige Erzählung von der Erwerbung der Reliquien durch Otgar[42]. Er schrieb unter Hrabans [243] Nachfolger Karl (856-863), dem aquitanischen Prinzen, von dessen gelehrten Studien nichts bekannt ist. Die Bedrängniß der Kirchen durch die Vertheilung ihrer Güter an Kriegsleute veranlaßte einen Mainzer Geistlichen zur Aufzeichnung der Visio Caroli (S. 188), welche er noch mündlich von Hraban erfahren haben wollte. Nach Karl verwaltete Liutbert 26 Jahre lang das Erzbisthum, ein wohlgesinnter und nicht ungelehrter Herr, der sich auch der Reichsannalen wieder annahm, aber die wirren Zeiten, die immer schrecklicheren Einfälle der Normannen, drängten alle wissenschaftliche Beschäftigung in den Hintergrund: im Kampfe gegen diese Unholde verlor 891 Liutberts Nachfolger Sunderold oder Sunzo nach kurzer Amtsdauer das Leben, ein Fulder Mönch, dem einst, da er noch einfacher Priester war, Meginhard die Erzählung von der Uebertragung des h. Alexander gewidmet hatte. An seiner Statt erhob Kaiser Arnulf Hatto, den Abt von Reichenau, berühmt durch seine Klugheit und Thatkraft, auch wegen seiner kirchlichen Gelehrsamkeit hoch gefeiert, aber die äusseren Sorgen für Kirchenzucht und Reichsregierung nahmen ihn vollständig in Anspruch; diesen Zwecken diente auch das Werk de synodalibus causis, welches Regino ihm gewidmet hatte[43].
Als Sturm zuerst in Hersfeld sein neues Kloster gründen wollte, verwarf Bonifaz diesen Vorschlag wegen der Nähe der heidnischen Sachsen. Karl aber zog auch dieses Volk in den Kreis der christlichen Bildung, und so gewaltsam auch die neue Pflanzung begründet wurde, sie schlug doch bald kräftige Wurzeln, und die Söhne der Bekehrten gaben sich bereits mit regem Eifer der neuen Lebensrichtung hin. Lange schon hatten die Angelsachsen sich danach gesehnt, hin und wieder auch versucht, ihren alten Stammesbrüdern das Evangelium zu bringen; jetzt drangen sie unter dem Schutze Karls vor, und pflanzten den Baum der neuen Lehre, der in dem frischen Erdreich bald kräftig und segensvoll gedieh.
Einer der hervorragendsten unter ihnen war Liudger, von [244] Geburt zwar ein Friese, aber ein Schüler der angelsächsischen Glaubensboten. Er selbst hat uns in dem Leben seines Lehrers, Gregor von Utrecht[1], die Werkstatt geschildert, wo ein großer Theil der Lehrer für das Sachsenvolk ausgebildet wurde; ergänzt werden seine Nachrichten durch seine eigene Lebensbeschreibung von Altfrid.
Liudgers Großvater Wursing, ein reicher und vornehmer Friese, hatte sich, von Radbod vertrieben, zu den Franken geflüchtet und die Taufe angenommen; als dann Karl Martell nach der Besiegung des Landes das Bisthum Utrecht begründete, siedelte er auch Wursing mit den Seinen dort an, und an ihnen fand Willibrord die kräftigste Stütze. Nach Willibrords Tode nahm Bonifaz sich des verwaisten Bisthums an; dann ward es der Pflege Gregors übergeben, der lange Zeit ein treuer Begleiter und Gehülfe seines Lehrers Bonifaz gewesen war und nun als Abt dem Martinstifte vorstand. Die bischöflichen Geschäfte versah neben ihm der Angelsachse Aluberht. Dieser war wie so viele seiner Landsleute zur Mission gekommen, und kehrte auf Gregors Wunsch mit Utrechter Geistlichen heim nach York, wo er 767 vom Erzbischof Aethelberht ad Ealdsexos zum Bischof geweiht wurde, mit ihm Liudger zum Diaconus. Durch diese Verbindung sind, wie R. Pauli nachgewiesen hat, Nachrichten über Karls des Großen Sachsenkriege, dann auch durch Alcuin andere nicht unwichtige Angaben, in die nordenglischen Annalen gekommen[2].
Liudger hatte sich, wie mehrere von Wursings Nachkommen, der Kirche gewidmet, er genoß schon damals Alcuins Unterweisung, und kehrte später dieses Unterrichtes wegen noch einmal nach York zurück, bis ihn nach drei Jahren und sechs Monaten ein Streit zwischen den Friesen und Angeln nöthigte, nach Utrecht heimzukehren, wo Gregor zahlreiche Schüler aus allen deutschen Stämmen, nach Liudgers Angabe auch Sachsen, um sich versammelte. Unter [245] Gregors Neffen und Nachfolger Alberich war die Leitung dieser Schule in solcher Weise vertheilt, daß abwechselnd Alberich selbst, Liudger, Adalgar und Thiatbrat[3], jeder ein Vierteljahr, derselben vorstanden. Die übrige Zeit verwandten sie auf die Seelsorge und die weitere Ausbildung des Volkes. Der Aufstand der Sachsen unter Widukind 782 brachte auch in Friesland das Heidenthum wieder zum Siege, und Liudger begab sich damals nach Montecassino, dessen klösterliche Einrichtung er später auf seine Stiftung Werden übertrug. Karl der Große aber vertraute ihm die geistliche Leitung von fünf friesischen Gauen an und verband damit im Anfange des neunten Jahrhunderts das neu errichtete Bisthum Mimigardeford in Westfalen, für welches seit dem 11. Jahrh. der Name Münster üblich wurde. Am 30. März 804 geweiht[4], wirkte er hier für die Befestigung der neuen Lehre bis zu seinem Tode am 26. März 809.
Die von ihm verfaßte Biographie Gregors ist in dem gewöhnlichen Legendenstil geschrieben, aber die stereotypen Phrasen sind hier von wirklicher Wärme erfüllt, von inniger Liebe zu seinem Lehrer und einer kindlichen Demuth, wo er seines eigenen Wirkens gedenkt. Es finden sich darin einige schätzbare Nachrichten über Bonifaz sowie über das Bisthum Utrecht; geschichtlicher Sinn zeigt sich jedoch wenig, es kommen arge Fehler vor, und auch die Sprache ist schwerfällig und gesucht. Als Geschichtsquelle ist Liudgers eigenes Leben von Altfrid[5] weit vorzuziehen, obgleich auch dieses von dem Verfasser, Liudgers Verwandtem und zweitem Nachfolger (839-849), auf Bitten der Mönche von Werden zunächst zum Zweck der Erbauung geschrieben wurde. Die Darstellung ist einfach und ansprechend, und die ganze Missionsthätigkeit tritt hier mit besonderer [246] Anschaulichkeit uns entgegen. Noch in demselben Jahrhundert wurden in Werden zwei neue Bearbeitungen derselben verfaßt. Auch von Altfrids Vorgänger Gerfrid hat man eine Biographie gehabt, von welcher aber eine Erwähnung in der Bisthumschronik die einzige Spur ist[6]. Altfrids Nachfolger Liutbert, ein geborner Lothringer († 871), war vielleicht der Bischof Leutbert, welchem Sedulius eine sapphische Ode gewidmet hat[7].
Dem Kreise dieser Männer gehört auch Liafwin oder Lebuin an, ein Angelsachse, der zu Gregor nach Utrecht kam und sich, nachdem er eine Zeit lang an der Yssel gewirkt hatte, nach Sachsen begab, wo er auf dem Landtage zu Marklo unerschrocken das Christenthum verkündete. Seine Legende, welche besonders durch die Nachricht über diese Landtage und die Verfassung der Sachsen merkwürdig ist, wurde jedoch erst am Anfange des zehnten Jahrhunderts von Hucbald von St. Amand verfaßt, nicht in Münster, dessen wir nach diesen so viel versprechenden Anfängen nicht wieder zu gedenken haben werden[8].
Ueber die Stiftung des Klosters Werden an der Ruhr ist eine eigenthümliche Aufzeichnung vorhanden, welche trügerisch zwei Begleitern Liudgers in den Mund gelegt, in den wesentlichen Thatsachen aber richtig, und in ihrem ältesten Theil vielleicht schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts geschrieben ist, als nach Altfrids Tod die Familie des Stifters vom Bisthum abkam und die Unabhängigkeit des Klosters bedroht war[9].
Ein anderer Angelsachse war Willehad aus Northumberland, der ebenfalls seine Missionsthätigkeit in Friesland begann und 780 von Karl dem Großen über den Gau Wihmodia gesetzt wurde. Auch ihn vertrieb der Aufstand Widukinds 782, dem ein großer [247] Theil seiner Schüler und Gehülfen zum Opfer fiel. Er selbst flüchtete nach Friesland und pilgerte nach Rom; dann lebte er eine Zeit lang in stiller Zurückgezogenheit in Echternach; Karl aber rief ihn nach der Besiegung der Sachsen zu seiner früheren Thätigkeit zurück, und erhob ihn 787 zum Bischof von Bremen, wo er am 8. November 789 gestorben ist. Sein Leben[10] ist in einer kurzen und einfachen Darstellung beschrieben, welche von seinem berühmteren Nachfolger Anskarius, dem Apostel des Nordens, verfaßt sein soll, wie Adam von Bremen berichtet. Doch hat G. Dehio[11] darauf aufmerksam gemacht, daß die beiden Bücher (Vita und Miracula) nicht von einem Verfasser sein können, und nur das zweite von Anskar sein wird. Er hat ferner nachgewiesen, daß die einzigen chronologisch bestimmten Nachrichten 787 und 789 wörtlich ebenso im Chron. Moissiacense stehen, einige Worte über Widukind aber nicht nur da, sondern auch in den Ann. Laureshamenses. So ergiebt sich auch hieraus, daß dem Chron. Moissiac. ein vollständigerer Text der Ann. Lauresham. vorgelegen hat; die Herkunft der speciellen sächsischen Nachrichten aber vermuthet Dehio in einer Aufzeichnung, welche auch in den von Adam angeführten liber donationum Bremensis ecclesiae aufgenommen sein möchte, ein Buch, welches nach V. Ansk. c. 41 von Anskar angelegt sein dürfte. Doch vermuthet Simson, Forsch. XIX, 134, einfach die Lauresham. in vollständigerer Form als Quelle.
Wir gedachten schon oben der großartigen Idee Kaiser Karls, an den äußersten Grenzen seines Reiches Metropolen zu errichten, welche das Christenthum weit über die Marken hinaus tragen und den geistlichen Einfluß des Kaiserthums dahin erstrecken sollten, wo man seine Waffen nicht mehr fürchtete. Das Heidenthum war der christlichen Kirche unversöhnlicher Feind, es hing genau zusammen mit der alten freien Gemeindeverfassung, und aus beiden entsprangen die unablässigen Raubzüge, von denen die germanischen Nationen jetzt abgelassen hatten, vor denen sie nun aber in ihren gefährdeten Grenzen keine Ruhe fanden, bis die Ausbreitung des Christenthums dem alten Unwesen ein Ende machte.
Hamburg war dazu bestimmt, der kirchliche Mittelpunkt des [248] Nordens zu werden[12]. Ludwig achtete nicht auf den unausgeführt gebliebenen Gedanken seines Vaters; als aber der flüchtige Dänenkönig Harald die Taufe verlangte und Anskarius oder Ansgarius, der ihn als Lehrer der Seinen begleitete, bald auch auf Schweden seine Wirksamkeit ausdehnte, da wurde der alte Plan wieder aufgenommen und Anskar 831 zum Erzbischof von Hamburg geweiht. Doch fehlte Karls starke Hand zum Schutze der neuen Schöpfung, welche dem in Dänemark und Schweden neu erstarkten Heidenthume gegenüber keine erhebliche Wirksamkeit gewinnen konnte. Die Reichstheilung entzog Anskar die Einkünfte der ihm angewiesenen Zelle Turholt in Flandern, und 845 wurde Hamburg selbst von den Dänen verwüstet. Da vereinigte Ludwig der Deutsche 847 das erledigte Bisthum Bremen mit dem Erzbisthum und sicherte dadurch dessen Bestand. Anskarius konnte nun mit ausreichenden Mitteln seine Wirksamkeit fortsetzen und starb nach einem Leben voll rastloser Thätigkeit am 3. Febr. 865. Einst hatte er in seiner Zelle Turholt in Flandern einen Knaben bemerkt, der ihm besonders hoffnungsreich erschien: es war Rimbert, den er zum Geistlichen erziehen ließ, und der dann bald als sein treuester und liebster Jünger sein unzertrennlicher Gefährte, zuletzt sein Nachfolger wurde. Dieser ist es, der mit einem andern Schüler Anskars zusammen[13] in Hamburg das Leben des Meisters bald nach dem Tode desselben geschrieben hat[14], voll warmer und inniger Liebe, zugleich aber reicher an Inhalt als die Mehrzahl der übrigen Biographieen ähnlicher Art. Anskars Leben gehört ohne Frage zu den bedeutendsten Quellenschriften des Mittelalters; die ganze reiche Wirksamkeit des glaubensstarken Erzbischofs, das volle Bild seiner großartigen, [249] kindlich demüthigen und doch so verständigen Persönlichkeit tritt uns lebensvoll darin entgegen, und über die Zustände des Nordens verbreiten die einfachen und zuverlässigen Aufzeichnungen Rimberts das erste Licht. Daß auch Träume, Visionen, Wunder einen großen Raum darin einnehmen, liegt in der Natur der Verhältnisse; geschrieben wurde das Buch für die Mönche des Klosters Corbie, aus dem Anskar hervorgegangen war, dessen Mönche ihn begleitet hatten, und diesen lag mehr daran, ihren großen Klosterbruder als einen Heiligen geschildert zu sehen, als von den nordischen Heiden genaue Nachrichten zu erhalten. Man darf es bei der Beurtheilung dieser Litteratur nie vergessen, daß, was wir am meisten darin zu finden wünschen, gewöhnlich von den Verfassern wie von den Lesern als Nebensache betrachtet wurde.
Hier aber brachte es die ganze Art der Thätigkeit Anskars mit sich, daß auch die äußeren Verhältnisse, in denen er sich bewegte, geschildert werden mußten, und uns zum Glück hat Rimbert vieles von dem, was er berichtet, selbst mit durchlebt und gesehen. Darum reiht sich dieses Leben dem früheren Severins, dem späteren des Otto von Bamberg an. Unbedeutend dagegen ist des wackeren Rimbert eigene Lebensbeschreibung[15], von unbekanntem Verfasser. Geschrieben ist sie zu Lebzeiten seines Nachfolgers Adalgar, der von 888 bis 909 Erzbischof war.
In Fulda, wie in Friesland, in Münster und Bremen, waren es Angelsachsen, welchen die Grundlagen der neuen Entwickelung verdankt wurden; bei Anskar aber war ein solcher Einfluß nicht nachzuweisen. Von Kindheit an im Kloster Corbie an der Somme erzogen, übernahm er dort schon früh die Leitung der Klosterschule und wurde dann der erste Vorsteher der Schule in dem neu gegründeten Tochterkloster Corvey in Sachsen.
Diese Stiftung war eine Frucht der nicht bloß äußerlich durch Zwang und Eroberung, sondern auch innerlich vollzogenen Einigung des fränkischen und des sächsischen Stammes. Schon König Pippins Bruder Bernhard hatte eine sächsische Gemahlin und Bernhards [250] Söhne, Adalhard und Wala, nahmen sich eifrigst der Bekehrung und Belehrung ihres Volkes an.
Adalhard hatte Karls Hof verlassen, als dieser die Tochter des Königs Desiderius verstieß, war in Corbie Mönch geworden, und weil hier die Besuche seiner vornehmen Verwandten die klösterliche Ruhe störten, nach Montecassino entwichen. Aber Karl rief ihn von da zurück; er wurde Abt von Corbie und mußte von neuem an den Reichsgeschäften Theil nehmen. Namentlich hat er längere Zeit hindurch eine sehr bedeutende Stellung in Italien eingenommen. Wala aber war, als Karl starb, über Sachsen gesetzt.
Karl wünschte aus den Sachsen selbst Lehrer des Christenthums zu erziehen, und deshalb hatte er gefangene und als Geiseln übergebene Sachsenknaben in verschiedene Klöster vertheilt; viele derselben waren Adalhards Obhut in Corbie übergeben, und dieser gedachte in Sachsen selbst ein Kloster zu gründen, aber seine Sendung nach Italien verhinderte die Ausführung. Als Ludwig zur Regierung kam und mit dem kleinlichsten Hasse die Staatsmänner seines Vaters verfolgte, wurde Adalhard nach Noirmoutiers verbannt[1], Wala aber Mönch in Corbie. Dieser betrieb nun mit dem größten Eifer die Stiftung eines Klosters unter dem Volke, dem er durch seine Mutter angehörte; schon 815 wurde zu Hethis im Solling[2] eine Celle erbaut, aber der Ort war ungünstig und das neue Kloster fing erst an zu gedeihen, als Adalhard wieder Einfluß gewonnen hatte und Kaiser Ludwig 822 die Stiftung und den Neubau auf dem Königshofe Höxter gestattete[3]. Hier erblühte nun die neue Corbeja, wohin auch Ansgar damals als Lehrer ging, rasch und kräftig; nach Adalhards Tod (2. Januar 826) wurde Warin[4] zum [251] Abt erwählt. Auch er hatte bereits das Schwert geführt und erst im späteren Alter mit der Mönchskutte vertauscht. Im Jahre 830 empfing er in seinem Kloster einen vornehmen Gast, Hilduin, den Abt von St. Denis, der nach Corvey verbannt war. Die liebevolle Aufnahme, welche dieser bei Warin fand, dankte er ihm später nach seiner Rückkehr durch ein kostbares Geschenk, den Leib des heiligen Veit, der 836 nach Corvey gebracht und hinfort als der Hort und Schutz des sächsischen Volkes betrachtet wurde.
Ueber diese Ereignisse berichtet uns ein ungenannter Mönch von Corvey in der Erzählung von der Uebertragung des heiligen Veit[5], der er selbst beigewohnt hatte. Es kann wohl, obgleich Jaffé es nicht gelten lassen wollte, nicht zweifelhaft sein, daß dem Bericht von der Uebertragung und den Wundern die Erzählung der Stiftung des Klosters erst nachträglich vorangestellt ist, doch vermuthlich von demselben Verfasser oder mindestens einem Zeitgenossen. In Corbie dagegen schrieb Radbert, mit dem Beinamen Paschasius, einer der bedeutendsten unter den gelehrten Theologen dieser Zeit[6], das Leben der Brüder Adalhard und Wala, jedoch so überladen mit rednerischem Schmuck, daß die Thatsachen nur mühsam herauszufinden sind. Adalhards Leben[7] ist bald nach seinem Tode, noch bei Lebzeiten des Wala geschrieben; es ist eigentlich nur eine Todtenklage, nach Traube's Vermuthung mit dem Rotulus an die verbrüderten Klöster versandt, und nachträglich, als Wala nicht, wie er gewünscht, Abt von Corvey geworden war, mit Zusätzen versehen. Die hinzugefügte Egloga, ein Wechselgesang der alten und der neuen Corbeja, ist ohne die Vita unverständlich und gehört nothwendig dazu. Schwülstiger und schwer verständlich ist [252] das Leben des Wala[8] († 836), welches in Nachahmung des Cicero[9] in Gesprächsform verfaßt und aus Furcht vor dem Kaiser und Karl dem Kahlen in absichtliche Dunkelheit gehüllt ist; außerdem war der Verfasser nichts weniger als unbefangen und folgte zur Verherrlichung seines Helden und zur Erbauung seiner Leser, wie billig, kirchlichen Gesichtspunkten, politische lagen ihm fern.
Natürlich begannen schon unter Adalhard Schenkungen dem neuen Kloster zuzuströmen; diejenigen Traditionen, über welche eigene Urkunden nicht ausgestellt waren, was damals noch selten geschah, wurden bis 1037 auf eine Rolle geschrieben und von dieser durch den Bruder Johannes abgeschrieben. Es begegnete ihm aber dabei das Unglück, daß er mit der Rückseite anfing, weshalb die ältesten Traditionen unter Adalhard erst § 225 beginnen[10].
Verloren sind uns leider Adalhards Briefe, und nur in einem Auszuge Hinkmars erhalten seine Schrift über die Hofordnung Karls des Großen[11], welche auch so noch zu den lehrreichsten Denkmälern dieser Zeit gehört, deren Zuverlässigkeit aber durch die Ueberarbeitung ungewiß geworden ist. Hinkmar war nämlich damals aus seiner einflußreichen Stellung verdrängt und sehr unzufrieden; er kämpfte vergeblich für die Unabhängigkeit der Bischofswahlen und klagte über den ungeordneten Einfluß von Günstlingen. Deshalb stellte er hier Karlmann, dem Sohne Ludwigs des Stammlers, 882 ein ideales Bild der guten alten Zeit vor Augen. Mit der Wahrheit nimmt Hinkmar es auch sonst nicht eben genau, und Vorsicht ist daher dringend geboten. Im allgemeinen aber entspricht die Darstellung den wirklichen Verhältnissen, wie sie uns, freilich unvollkommen genug, aus Karls Zeit bekannt sind.
Das Andenken Wala's hat sich, wie R. Wilmans sehr scharfsinnig nachgewiesen hat, in dem Nonnenkloster Herford, einer von [253] derselben Familie ausgegangenen Stiftung, erhalten. Man nannte ihn Walder oder Waltger, und Wigand, ein Landpfarrer, vielleicht von Kirchdornberg, schrieb im 13. Jahrh. seine Legende, in welcher freilich von der wirklichen Geschichte nur noch schwache Spuren geblieben sind[12].
Das Leben der Ida, der Mutter Warins (welche Verwandtschaft aber sehr zweifelhaft ist), ist erst auf Anlaß ihrer Erhebung 980 durch den Bischof Dodo von Münster unter Abt Liudolf von Uffing, einem Werdener Mönche, geschrieben und erscheint wenig glaubwürdig[13].
Einige Nachrichten über diese ersten geistlichen Stiftungen im Sachsenlande sind uns ferner noch erhalten in den Berichten über die Erwerbung und Uebertragung der Reliquien, welche zu ihrem Gedeihen nun einmal unerläßlich waren; so erhielt Herford 860 die heilige Pusinna[14], Paderborn schon 836 aus Le Mans den h. Liborius[15]; die Erzählungen davon sind aber erst gegen das Ende des neunten Jahrh. verfaßt, die letztere durch den Bischof Biso, einen Zeitgenossen des Kaisers Arnulf veranlaßt, während die Uebertragung ein Werk des Bischofs Badurad war. Ein gleiches Verhältniß beider Bischöfe begegnet uns darin, daß zu Badurads Zeit Mainulf, ein vornehmer Sachse, Canonicus in Paderborn geworden war und das Nonnenkloster Boeddeken gestiftet hatte, Biso aber dessen Leib feierlich erheben ließ, vermuthlich auch eine Lebensbeschreibung veranlaßte. Diese ist jedoch verloren; wir besitzen nur eine Ueberarbeitung, welche von dem Verfasser Sigeward einem nicht näher bezeichneten Albinus zugeeignet ist. Der Herausgeber C. Byeus vermuthet in jenem den Abt von Fulda (1039 bis 1043) vor seiner Erhebung zur Prälatur, wofür, wie Holder-Egger bemerkt, keinerlei Gründe vorhanden sind, in Albin den berühmten Lehrer Albwin von Hersfeld, welcher 1043 Abt von Nienburg wurde. Die Sprache ist jener Zeit angemessen, Reimprosa mit übertriebenem Streben nach Schönrednerei, mit Brocken aus Horaz und Vergil [254] geschmückt; es war nicht des Verfassers Schuld, daß ihm geschichtliche Thatsachen fast gar nicht vorlagen, und die Wundergeschichten, welche er zu berichten hatte, noch alberner waren als gewöhnlich[16]. Auch das Leben der heiligen Liutbirg[17], einer Klausnerin bei Halberstadt, die bis zu den Zeiten König Ludwig des Jüngeren (876-882) lebte, giebt Kunde von dem Eifer, mit welchem die Neubekehrten sich der Kirche zuwandten, und ist merkwürdig durch die darin enthaltenen Angaben über die Nachkommen jenes Hessi, des Fürsten der Ostfalen, welcher sich 775 Karl dem Großen unterworfen hatte.
Aus Corvey aber sind uns noch Ostertafeln erhalten, im achten Jahrhundert von angelsächsischer Hand geschrieben und mit wenigen Bemerkungen versehen, zu welchen die Mönche des Klosters im Laufe der Zeiten andere hinzugefügt haben; als Geschichtswerk kann man diese kurzen Notizen nicht betrachten, und auch der materielle Inhalt ist für die vorliegende Periode fast ohne Bedeutung[18]. Dagegen hat der Abt Bovo (879-890), ein Neffe Warins, oder nach Wilmans' Vermuthung vielmehr Bovo II (900-916) ein Werk geschrieben, aus welchem Adam von Bremen (I, 41) ein werthvolles Bruchstück über die Normannenschlacht von 884 erhalten hat[19]. Er führt es ein mit den Worten: „de sui temporis actis scribens non reticuit dicens“, und danach möchte man an ein Werk über die Geschichte seiner Zeit denken, doch fällt es auf, daß nirgend sonst sich eine Spur davon findet, auch Adam nur diese eine Anführung hat. Die Hauptsache ist das Verdienst des Erzbischofs Rimbert, von welchem ein Brief über denselben Vorfall in die Fulder Annalen aufgenommen war, aber leider in unserer Handschrift ausgelassen ist. Adam bezeichnet den Vorgang als ein Wunder, und vielleicht waren Wundergeschichten der Inhalt des Werkes. Derselbe [255] Bovo II zeichnete sich durch seine Kenntniß des Griechischen aus, und erregte allgemeines Erstaunen, als er dem König Konrad ein griechisches Schreiben auszulegen vermochte, vermuthlich 913, als der König das Kloster besuchte[20]. Wir besitzen aber noch ein Werk von ihm, welches durch Gelehrsamkeit und vortreffliche Latinität der besten karolingischen Schule vollkommen würdig ist, und auch griechisch geschriebene Wörter enthält, welche Kenntniß der Sprache zeigen, nämlich einen Commentar zu Boeth. de consol. phil. III metr. IX. Diesen schrieb er auf den Wunsch des Bischofs Bovo, seines viel jüngeren Blutsverwandten, der unter ihm in Corvey Mönch geworden[21], und jetzt durch weite Länderstrecken (longinqua nimis terrarum intercapedine) von ihm getrennt war; er schrieb ihm trotz schwerer Sorgen, „inter miserias et aerumnas, quas inter civilia bella et paganorum, ut prophetice loquar, velociores aquilis incursiones sine cessatione patimur“[22].
Begreiflich ist es, daß bei noch wachsender Bedrängniß auch hier die Feder ruhen mußte, daß von Bovo's Ruhm und seinen Werken nur eine dunkle Erinnerung blieb, und daß eine neue Zeit erst anbrach, als die Thaten der Ottonen neuen Anstoß zu schriftstellerischer Thätigkeit gaben.
Dasselbe war der Fall in einem andern Kloster, welches den Ludolfingern noch näher stand als Corvey, in Gandersheim, wo Graf Ludolf selbst um 850 eine ältere Stiftung erneuert hatte und Prinzessinnen seines Hauses als Aebtissinnen walteten. Die erste, bis zum Jahre 874, war Ludolfs Tochter Hathumod, deren Leben von ihrem Bruder Agius beschrieben wurde, der nach einer Vermuthung von Pertz wahrscheinlich Mönch in dem nahe gelegenen Kloster Lammspring war, aber, wie Dümmler bemerkt, ebenso gut Corvey angehört haben kann. In der Form ahmte er, wie Traube bemerkt[23], das Vorbild des Paschasius Radbertus nach, indem er zu der in Prosa geschriebenen Biographie Elegieen hinzufügte, die [256] eine tiefgefühlte rührende Todtenklage enthalten[24]. Sowohl die reine und fehlerfreie Sprache, die gewandte Ausdrucksweise, der fließende, wenn auch nicht ganz correcte Versbau, wie das zarte und sinnige Gemüth des Verfassers, den die innigste Liebesgemeinschaft mit seiner Schwester verbunden hatte, verleihen diesen Schriften einen ganz besonderen Reiz; die mancherlei Nachrichten über die verschiedenen Mitglieder dieser zahlreichen und ausgezeichneten Fürstenfamilie geben ihnen außerdem noch einen größeren Werth für den Geschichtsforscher.
Pertz hat die Vermuthung ausgesprochen, daß wohl derselbe Agius jener sächsische Dichter sein möge, welcher Einhards Jahrbücher metrisch bearbeitete. Dieselben Vorzüge des Ausdruckes finden sich darin wieder, und die einzige vorhandene Handschrift stammt aus dem Kloster Lammspring[25]. Doch ist sie kein Original, und jene Annahme nicht ohne Bedenken. Deutlich aber bezeichnet der ungenannte Dichter sich als einen Sachsen, den in den ersten Jahren der Regierung Königs Arnulfs die Dankbarkeit gegen den großen Sachsenbekehrer, welchem er nicht allein den Glauben, sondern auch die litterarische Bildung allein verdankte, zu dem Unternehmen getrieben habe, Karls Leben und Thaten in Versen zu verherrlichen. Er hält sich dabei ganz genau an die Einhardischen Annalen und an das ausdrücklich citirte Leben Karls von Einhard, welchem das letzte, in Distichen verfaßte Buch entnommen ist; nur wenige Schilderungen aus eigener Kenntniß beleben die reizlose Paraphrase. Von 801 an haben ihm jedoch, wie Bernhard Simson nachgewiesen hat, jene Annalen nicht mehr vorgelegen, sondern dürftigere, den Hersfelder verwandte, vermuthlich Halberstädter Annalen, aus welchen die falsche Angabe über den 803 zu Salz mit den Sachsen abgeschlossenen Frieden sich erklärt[26]. Pückert (S. 172 [257] bis 180) nimmt Benutzung des verlorenen Werkes (oben S. 226) in einer Metzer Bearbeitung und Angehörigkeit des Verfassers zu St. Arnulf in Metz an.
Richbod von Trier (795-804) ist als Schüler Alcuins bekannt, und wird als ein Mann von gründlicher Gelehrsamkeit und Bildung gerühmt; Alcuin warf ihm vor, daß er die Aeneide besser kenne, als die Evangelien. Ohne Zweifel wird er sich um die Schulen in seinem Sprengel verdient gemacht haben. Auch Amalarius (809 bis 814) machte sich als Schriftsteller bekannt[1]; an seinen Nachfolger Hetti (814-847) schickte Einhard mit einem freundschaftlichen Briefe (ep. 10, bei Jaffé 23) einen Theil seiner kostbaren Reliquien, vermuthlich für die von ihm gestiftete und 836 eingeweihte Castorkirche zu Koblenz. Von ihm hat sich eine Anleitung zum kirchlichen Unterricht in Gesprächform erhalten[2]; ihm zur Seite stand als Landbischof Thegan, der schon erwähnte Biograph Ludwigs des Frommen. Sein Neffe und Nachfolger war Thietgaud (847-863), Grimalds Bruder, aber sehr unvortheilhaft bekannt durch seine Mitschuld an Lothars II Scheidungsgeschichte. Am Ende des Jahrhunderts, nach der entsetzlichen Verheerung durch die Normannen 882, war Ratbod Erzbischof (883-915), welcher den vertriebenen Abt von Prüm, Regino[3], zu gelehrten Arbeiten veranlaßte.
Dieser Regino war von Jugend auf im Kloster Prüm erzogen, wo schon unter dem Abte Markward (829-853) litterarische Thätigkeit bemerkbar wird. Verwandt mit Lupus, war nämlich auch Markward in Ferrières Mönch geworden, wo damals Alderich, später Erzbischof von Sens, Abt war, und nach Markwards Erhebung zum Abt von Prüm folgte sein Klosterbruder Ado, der als Erzbischof von Vienne seine Neigung zur Geschichtschreibung bewährt hat, der Einladung, eine Zeit lang in Prüm zu wirken. Markward selbst war Hüter und Lehrer Karls des Kahlen gewesen, als dieser 833 nach dem Siege Lothars nach Prüm verwiesen war[4]; Lupus (ep. 85) sendet ihm Grüße von demselben und schickte ihm Knaben zur Ausbildung. Schon bevor er Abt wurde, hatte Lupus 839 das Leben des h. Maximin verfaßt und seinem Freunde Waldo gewidmet, vielleicht demselben, welcher später Abt von St. Maximin wurde (oben S. 236).
[258] In Prüm verfaßte auf Markwards Veranlassung Wandalbert (geb. 813) 839 die geschichtlich nicht ganz unwichtigen Wunder des heiligen Goar, welche er zu der Ueberarbeitung der alten Legende hinzufügte; den Schluß bildet ein ausführlicher Bericht über die Erwerbung der Cella S. Goaris durch Verleihung Pippins und Bestätigung Karls des Großen[5]. Auch besitzen wir von Wandalbert das schon oben (S. 60) erwähnte metrisch bearbeitete Martyrologium, welches er auf Antrieb eines sonst nicht bekannten Otricus begann, als er sich in Cöln aufhielt, und nachdem es vollendet war, mit einer Commendation an Lothar versah, 5 lustra nachdem dieser Kaiser geworden, also 848. Die künstlichen Versmaße der dazu gehörigen Gedichte zeugen von seiner Gelehrsamkeit, und während die Hauptmasse ihrer Natur nach fast reine Prosa ist, bieten uns namentlich die Beschreibungen der Monate anziehende Schilderungen ländlicher Beschäftigung in leicht fließenden Versen[6]. Markward aber übertrug im Jahre 844 die Gebeine der heiligen Chrysanthus und Daria nach Münstereifel, welches damals zu Prüm gehörte; Theganbert oder Thegan war es, der sie hier am 25. October feierlich beisetzte, und der Abt versäumte nicht, für die Aufzeichnung dieser Begebenheit zu sorgen oder, wie Holder-Egger vermuthet, sie selbst aufzuzeichnen[7]. Unter Abt Eigil (853-860) brachte der Tod des Kaisers Lothar in der Kutte eines Prümer Mönches dem Kloster hohen Ruhm und reiches Gut; Eigil selbst, ein gelehrter Mann, an den Hraban eine Abhandlung gerichtet hat, entsagte 860 seiner [259] Würde, vielleicht, wie Mabillon vermuthete, weil er die Entscheidung gegen Thietberga unterzeichnet hatte. Er folgte dann einer Einladung Karls des Kahlen und erhielt die Abtei Flavigny, wohin er 864 von Alise-Sainte-Reine die h. Regina übertrug; die Geschichte der Uebertragung sammt den Wundern ließ er aufzeichnen, nachdem er 865 Erzbischof von Sens geworden war[8].
Auch Annalen sind um diese Zeit in Prüm geschrieben; anfangs aus älteren Annalen ausgezogen, bringen sie locale Nachrichten bis 860, bis zu welchem Jahre sie in Stablo ausgeschrieben sind, und wurden dann in Prüm bis 922 fortgeführt; damals hat sie, wie es scheint, der zum Bischof von Lüttich erhobene Abt Richarius nach Lüttich mitgenommen, wo sie weiter fortgesetzt wurden. Aus der Chronik des Regino sehen wir, daß es ein ausführlicheres Exemplar dieser Annalen gegeben haben muß, welches Regino benutzte[9].
Allein im Jahre 882 und noch einmal 892 erlag auch dieses herrliche Kloster den räuberischen Dänen; der Abt Farabert legte nach der Zerstörung desselben sein Amt nieder, und zu seinem Nachfolger wurde Regino gewählt. Aber die Parteikämpfe, welche damals Lothringen zerrissen, ließen auch ihm keine Ruhe; er mußte 899 seinen Gegnern weichen, und fand eine Zuflucht in Trier, wo er im Kloster St. Maximin 915 bestattet ist[10]. Der Erzbischof übergab ihm das ebenfalls von den Normannen verwüstete Martinskloster, welches unter seiner Leitung hergestellt sein soll[11]; vorzüglich aber scheint er sich seiner Gelehrsamkeit bei der Verwaltung seines kirchlichen Amtes bedient zu haben. Oft, sagt Regino, habe er gesehen, wie der Erzbischof sich erzürnt habe über den unmelodischen und fehlerhaften Gesang in den Chören seiner Sprengel, zu welchen er ihn also vermuthlich auf Visitationsreisen begleitet hat. Und wie er diesem Mangel durch seine Schrift de harmonica institutione[12] abzuhelfen suchte, so verfaßte er auf Ratbods Wunsch sein [260] umfassendes und lehrreiches Werk über die Kirchenzucht zu dem praktischen Zwecke, bei Visitationen, welche wegen der argen Verwilderung der Geistlichkeit wie der Laien dringend nothwendig waren, alle erforderlichen Vorschriften des canonischen Rechtes in mäßigem Umfang darzubieten[13]. Diese um 906 unternommene Schrift widmete er Hatto von Mainz, dem damaligen Regenten des Reichs; an den Erzieher des jungen Königs, den gelehrten Bischof Adalbero von Augsburg, sandte er 908 seine Chronik von Christi Geburt bis zum Jahre 906. Dieses Werk verdient unsere Beachtung als einer der frühesten Versuche die Weltgeschichte in einer ziemlich ausführlichen Erzählung zusammenzufassen, eine Aufgabe, an welche sich damals nicht leicht jemand wagte und deren Schwierigkeiten außerordentlich groß waren. Die Ausführung ist freilich auch sehr mangelhaft geblieben und namentlich die Chronologie in der höchsten Verwirrung; auch versucht er gar nicht wie Frechulf eine Verarbeitung seiner Quellen, sondern begnügt sich mit wörtlichem Ausschreiben, was von nun an immer mehr üblich wurde. Beda, die Thaten der Frankenkönige, und andere bekannte Quellen bilden die Grundlage seines Werkes, welches anfangs nach den Regierungen der Kaiser angeordnet ist; weiterhin geht er, der Natur seiner Quellen folgend, in die annalistische Form über und fährt auch selbst in dieser Weise fort. Darin ist seine Chronik den auch von ihm benutzten Reichsannalen ähnlich, aber sie unterscheidet sich sehr wesentlich dadurch, daß er nicht gleichzeitig mit den Begebenheiten schrieb und deshalb auch gerade in der chronologischen Anordnung derselben wenig zuverlässig ist[14].
In dieser Beziehung hat bei ihm wie bei manchem anderen das Vorbild der Annalen nachtheilig gewirkt; denn für die Aufzeichnung unbestimmt gewordener Ueberlieferungen ist die annalistische Form nicht nur hinderlich, sondern die scheinbare Bestimmtheit verleitet auch dazu, den Angaben mehr Gewicht beizulegen, als ihnen zukommt. [261] Bis zum Jahre 814 hat Regino die Lorscher Annalen benutzt; von da an aber fehlten ihm außer den oben erwähnten kurzen Annalen seines Klosters schriftliche Hülfsmittel, was wohl nur durch die Verheerungen der Normannen zu erklären ist, und er mußte sich zur Ausfüllung der großen Lücke von Karls des Großen Tode bis auf seine Zeit allein auf die so unsichere mündliche Tradition verlassen; nur über die Händel, welche Lothars II ärgerliche eheliche Verhältnisse veranlaßten, standen ihn Urkunden zu Gebote[15].
Auffallend und für die Stellung Lothringens charakteristisch ist es dabei, wie wenig Regino von dem Ostfrankenreiche zu sagen weiß, während er von den Westfranken viel und eingehend erzählt, und namentlich die Bretagne besonders berücksichtigt, ein Umstand, den Dümmler durch die dort gelegenen Besitzungen der Mönche von Prüm erklärt. Ueber das, was er selbst mit erlebt hat, giebt Regino sodann ausführliche und schätzbare Nachrichten. Daß er von den entfernteren Ereignissen nur unsichere Kunde erhalten hat, wird man ihm nicht zum Vorwurfe machen; über Lothringen aber war er genau und zuverlässig unterrichtet, und würde gewiß noch tiefer in die dortigen Verhältnisse blicken lassen, wenn ihn nicht die Besorgniß vor dem Zorne der Machthaber verhindert hätte, die ganze Wahrheit zu sagen. Als diesen Machthaber, welchen er fürchtet, hat Harttung mit Wahrscheinlichkeit Karl den Einfältigen nachgewiesen, der nach einer Angabe des Trithemius seine Absetzung veranlaßte, weil er ein Anhänger von K. Odo's Bruder Robert war. Sein Rival war Richar, der Bruder von Gerhard und Matfrid, später Bischof von Lüttich; durch verleumderische Angaben über schlechte Verwaltung soll er ihn verdrängt haben, nach Inhalt eines Briefes von Regino, der den Magdeburger Centuriatoren noch bekannt und wahrscheinlich in einem Exemplar der Chronik abgeschrieben war. Zur Zeit aber, als Regino seine Chronik schrieb, gehörte Lothringen zu Karls Reich[16]. Seine Zurückhaltung hat Regino jedoch nicht davor schützen können, daß aus seinem Werke z. J. 892 ein bedeutendes Stück, in welchem er von seinen eigenen Schicksalen erzählte, ausgeschnitten und vernichtet wurde.
[262] Seine Schreibart ist einfach und dem Gegenstande angemessen, und wenn es ihm auch keineswegs gelungen ist, die Weltgeschichte in wirklich historischer Weise zu bearbeiten, so zeigt er doch für die ihm näher liegenden Zeiten und Verhältnisse einen freien Blick und gesundes Urtheil; die eigenen Erfahrungen und die freundschaftliche Beziehung zu einem hochstehenden Kirchenfürsten erhoben ihn über die gewöhnlichen Annalisten, und sein Werk steht am Ende der karolingischen Zeit als eine bedeutende Erscheinung da, der sich wohl weitere Fortschritte angeschlossen haben würden, wenn nicht gerade jetzt die äußere Noth für lange Zeit alle wissenschaftlichen Bestrebungen erdrückt hätte.
Als die bei allen ihren Mängeln doch bei weitem beste umfassende Behandlung der Weltgeschichte ist Regino's Chronik bis ins zwölfte Jahrhundert viel benutzt worden und hat große Verbreitung gefunden, wobei denn auch seine großen chronologischen Irrthümer manchen irre geleitet haben.
Man kann wohl nicht bezweifeln, daß Lothringen mit seinen bedeutenden Kirchen und Klöstern noch manches andere Geschichtswerk hervorgebracht hat, welches in den furchtbaren Verheerungen des Landes durch Normannen und Ungarn zu Grunde gegangen ist; die blühendsten Klöster verödeten und kamen in Laienhände, so daß eine Periode tiefer Dunkelheit eintrat, welche später der kecken Erdichtung freien Spielraum darbot. Merkwürdig sind auch in dieser Beziehung die Annalen von Xanten[17], weil sie nirgends erwähnt oder benutzt sind, und völlig spurlos verschollen sein würden, wenn nicht Pertz sie 1827 in einer angebrannten Handschrift der Cottonschen Bibliothek entdeckt hätte. So war auch dieser vereinzelte Rest der höheren Ausbildung jener Periode dem gänzlichen Untergange schon ganz nahe gewesen. Nach Xanten sind diese Annalen benannt, weil die Zerstörung des Stiftes durch die Normannen 863 ausführlich erzählt ist, aber sonst ist gar nicht von Xanten die Rede, und auch hier findet sich die falsche Jahreszahl 864, wie überhaupt eine Verschiebung der Jahreszahlen, welche [263] annehmen läßt, daß nur eine Compilation uns vorliegt. Einem Auszug aus den Reichsannalen schließt sich hier eine selbständige Fortsetzung von 831 bis 873 an, von verschiedenen Verfassern gleichzeitig aufgezeichnet, hin und wieder ziemlich ausführlich. Reichsgeschichte zu geben war die Absicht, aber es fehlte die Verbindung mit dem Hofe; Zusammenkünfte der Könige werden erwähnt, aber die Beschlüsse bleiben dem Schreiber unbekannt; zu gleichmäßiger Berichterstattung fehlen ihm die Hülfsmittel. Viel ist von Himmelserscheinungen, Ueberschwemmungen, Heuschrecken die Rede, vom Elend der Zeiten sind die Verfasser sehr erfüllt. Der Cölner Sprengel wird vorzüglich berücksichtigt, daneben der benachbarte von Münster. Vielleicht hat einer der vertriebenen Xantener Chorherren, die nach Cöln flüchteten, dort Aufzeichnungen vorgefunden und fortgesetzt.
In Cöln hat Karls des Großen Erzkaplan Hildebald[18], der von Theodulf unter dem Namen Aaron gefeiert wird, wissenschaftliche Studien begründet. Er ließ die vom Pabst an Karl geschickten Manuscripte für seine Kirche abschreiben; viele davon sind noch vorhanden und jetzt dem Cölner Domcapitel zurückgegeben[19]. Es sind auch kurze Annalen daraus gewonnen[20]. Die Erzbischöfe Hilduin (842-849) und Gunthar (863 entsetzt) werden von Sedulius gepriesen, Gunthar machte selbst Verse und bei ihm erhielt sein Neffe Radbod, später Bischof von Utrecht, den ersten Unterricht[21]. Willibert (870-889) ließ für sich den Codex Carolinus abschreiben[22], und sorgte auch für die Aufbewahrung der Correspondenz, welche durch Gunthars Entsetzung und die folgenden Ereignisse veranlaßt war[23]. Aber von litterarischen Erzeugnissen, wozu jene kleinen [264] Annalen kaum zu rechnen sind, ist nichts auf uns gekommen, wenn nicht vielleicht die Xantener Annalen hierher gehören.
Etwas mehr hat sich aus Lüttich erhalten, dessen später so berühmte Schule in ihren ersten schwachen Anfängen schon jetzt hervortritt. Noch war es ein unbedeutender Ort, als ihm der Leib des um 672 erschlagenen Bischofs Theodard von Mastricht, welchen sein Nachfolger Landebert oder Lambert dort bestatten ließ, ein höheres Ansehen gab. An seinem Grabe wurde Lambert selbst 708 (?) erschlagen: er hatte Pippin und seiner Concubine Alpais Vorwürfe gemacht, Pippin war erschüttert und dachte daran, seine rechtmäßige Gemahlin Plectrudis wieder zu sich zu nehmen, da vollbrachte Dodo, der Bruder der Alpais, die Blutthat. Nachdem eine Kirche dort erbaut und die Gebeine des Märtyrers feierlich erhoben waren, mußte eine Legende geschrieben werden, aber noch fehlte es an geeigneten Kräften. Der Autor, welcher die Ausführung nach dem Maße seiner schwachen Kräfte in barbarischem Latein unternahm, griff zur Vita Eligii und brachte mit starker wörtlicher Ausnutzung derselben sein Werk zu Stande[24]. Der erbauliche Zweck ist durchaus vorherrschend. Aber noch regierte Karl Martell, der Sohn der Alpais, und aus Furchtsamkeit verschwieg er den wahren Anlaß des Todes. Auch Godesscalc, ein Lütticher Domherr, welcher auf Befehl des Bischofs Agilfrid sein Werk um 770 überarbeitete, folgt einfach seiner Vorlage und beschränkt sich auf stilistische Verbesserung. Aber im Volke erhielt sich die Erinnerung der That, und Ado in seinem Martyrologium hat sie kurz berichtet, vielleicht kannte er schon eine Aufzeichnung, deren später Anselm von Lüttich gedenkt, und deren Inhalt durch ihn überliefert, nun auch in die späteren Bearbeitungen überging; auch schon der Verfasser einer poetischen Version im Anfang des 10. Jahrh. deutet darauf hin. Lange Zeit ist der Hergang in entgegengesetzter Weise aufgefaßt; man glaubte hier ein recht deutliches Beispiel davon zu [265] haben, wie die Legenden mit der Zeit wachsen und tendenziös entstellt werden, bis God. Kurth in, wie mir scheint, durchaus schlagender Weise, gestützt auf den aus einer neugefundenen Handschrift ergänzten Text des Anselm[25], den richtigen Sachverhalt nachgewiesen hat[26]. Dieselbe Reticenz finden wir auch in der Vita Theodardi, obgleich sie erst um die Mitte des 8. Jahrhunderts geschrieben wurde[27].
Lambert aber wurde nun der Schutzheilige von Lüttich, wohin von Mastricht der Sitz des Bisthums verlegt wurde. Auch das Leben seines Nachfolgers, des 727 verstorbenen Bischofs Hugbert oder Hubert, ist von einem Zeitgenossen beschrieben und noch in seiner ursprünglichen, sehr barbarischen Form vorhanden[28], nebst dem Bericht über seine erste Translation 743. Wie darin die Vita Arnulfi und Vita Lamberti ausgeplündert sind, haben Demarteau und Krusch gezeigt.
Bischof Waltcaud (810-831) übertrug 825 den h. Hubert nach dem neugestifteten Kloster Andagium, später Saint-Hubert in den Ardennen, und nun bedurfte man einer Biographie, welche den gesteigerten Anforderungen der karolingischen Zeit genügte. Dazu gelang es ihm, den Bischof Jonas von Orléans zu bewegen, der zugleich auch diese neue Translation beschrieb[29]. In der Widmung sagt Jonas zu ihm: cum assit vobis palatina scolasticorum facundia. [266] Doch ist das vielleicht nur Phrase, oder bezieht sich, wie Dümmler, Ostfr. III, 650 annimmt, auf die Hofschule. Lüttich war eine Station für die nach Rom pilgernden Irländer, und es haben sich noch Bittschreiben solcher Wanderer erhalten[30]. Wenn aber in dem einen der Bittsteller, auf die Empfehlung des Kaisers, vermuthlich Karls des Kahlen, sich berufend, mit bitterer Klage über die allzu schmale Kost, den Brüdern der Kirche gleichgestellt zu werden wünscht, so ist auf einen dauernden Aufenthalt und Verwendung der gelehrten Fremdlinge für den Unterricht zu schließen.
Schon Bischof Hartgar (840-854), der Erbauer eines neuen, mit Gemälden schön geschmückten Bischofshofes, nahm in Lüttich den Iren Sedulius und mehrere seiner Landsleute auf; wir werden sie oder ihre Genossen in Mailand wiederfinden, und vielleicht machten sie unterwegs Station in Salzburg. Sedulius, der Verfasser verschiedener theologischer Werke und eines Fürstenspiegels[31], war nicht ohne mancherlei Gelehrsamkeit und metrische Gewandtheit, des Griechischen kundig, aber doch incorrect, oft schwülstig und dunkel, ein Freund willkürlich neugebildeter Worte. Seine adulatorische Hofpoesie, der es zuweilen nicht an ergötzlichem Humor fehlt, feiert Hartgar und seinen Nachfolger Franco (854-901), Gunther von Cöln, bei dem er sich auch einige Zeit aufgehalten hat, Adventius von Metz, den gelehrten Markgrafen Eberhard von Friaul und andere Zeitgenossen; auch Kaiser Lothar und dessen Familie. Ohne Zweifel gebührt ihm und seinen Genossen ein Antheil an der späteren Blüthe der Lütticher Schule, aber auch an der gesuchten und verkünstelten Schreibart, welche dort lange herrschend blieb[32].
Bischof Franco erhob in Eika (Alteneyk bei Maaseyk) die ersten Aebtissinnen Harlindis und Reinila, welche angeblich von Willibrord und Bonifatius geweiht waren, deren Leben bald darauf, noch vor der Verwüstung durch die Normannen, beschrieben ist, und [267] für den Mangel an geschichtlichem Inhalt durch culturhistorische Züge entschädigt[33].
Einen merkwürdigen Mann finden wir in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts in der Brüderschaft der Klöster Stablo und Malmédy, Christian, nach Sigebert aus Aquitanien stammend, einen würdigen Vertreter karolingischer Bildung. Mit umfassender Gelehrsamkeit, auch der griechischen Sprache nicht unkundig, hat er mit merkwürdig freier Denkweise und nüchterner Verständigkeit einen Commentar zum Matthaeus geschrieben, aus welchem Dümmler allerlei für die Zeitgeschichte lehrreiche Aeußerungen zusammengestellt hat[34]. Ausserdem besitzen wir eine bald nach 850 geschriebene Beschreibung der Wunderthaten des h. Remaclus, zu welcher, nachdem das Kloster von der Zerstörung durch die Normannen 881 sich erholt hatte, weitere Zusätze gemacht sind[35].
Außer der kurzen, vom Probst Liuthard verfaßten Erzählung von der Uebertragung des h. Justus bald nach 900 nach Malmédy[36] ist schließlich nur noch die Bisthumsgeschichte von Verdun[37] zu erwähnen, von Berthar, der erste Versuch einer Localgeschichte, an denen später Lothringen so reich war, nach der traurigen Zeit der feindlichen Verwüstungen, denn der Verfasser schrieb erst nach dem Brande der Domkirche im Jahre 916 oder 917; sein Werk reicht aber nur bis in die Zeit des Kaisers Arnulf und ist wegen des fast gänzlichen Mangels an älteren Quellen sehr dürftig[38]. Veranlaßt war er zu seinem Unternehmen durch den Bischof Dado (880-923), den Freund Salomons III von Constanz, von dessen eigenen Aufzeichnungen über seine und seiner Vorgänger Geschichte ein Fragment sich erhalten hat. Aus Metz besitzen wir Briefe und [268] ein Epitaphium des Bischofs Adventius (858-875), den auch Sedulius gepriesen hat[39]; aus Toul sind uns einige Briefe des Bischofs Frothar (813-848) erhalten[40].
Stälin I, 235-240. Baehr S. 118-122. Ild. v. Arx, Geschichte von St. Gallen. Weidmann, Geschichte der Bibliothek von St. Gallen, 1841. G. Scherrer, Verz. der Handschriften d. Stiftsbibl. Halle 1875. F. Keller, Bilder und Schriftzüge in den irischen Manuscripten der Schweizer Bibliotheken, in den Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich VII, 3. 1851. Dümmler, Das Formelbuch des Bischofs Salomo III von Constanz, 1857. Derselbe, St. Gallische Denkmale aus der Karolinger Zeit, Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft XII, 6. 1859. G. Meier, Gesch. d. Schule von St. G. im Mittelalter, im Jahrb. f. Schweizer Gesch. X. St. Gallische Geschichtsquellen, neu herausgeg. v. G. Meyer von Knonau. 1870-1877. Rec. von Dümmler, HZ. XXXVIII, 327-343. Uebers. von Ekk. Casus nebst Proben aus den übrigen Theilen, von M. v. Knonau, 1878, Geschichtschr. 38 (X, 11). Ueber Sanct-gall. Formelsammlungen Zeumer, NA. VIII, 505-553.
Wenden wir unsern Blick nach dem Süden Deutschlands, so zieht vor allem St. Gallen unsere Aufmerksamkeit auf sich, nebst dem nahe gelegenen Reichenau. Hatten wir früher schon in dem alten Leben des heiligen Gall wenigstens einen ersten Versuch litterarischer Thätigkeit zu erwähnen, so finden wir nun auch hier einen Schüler Alcuins, Grimald, als Abt (841-872); Sanctgaller Mönche, wie Werinbert und Hartmut, Otfrids Mitschüler, besuchen, wie es scheint, die berühmte Schule des Klosters Fulda, und Hrabans Schüler Walahfrid wird Abt von Reichenau (842-849). Hierzu kommt noch der Unterricht gelehrter Iren, welche auch die Kenntniß des Griechischen hier heimisch machen, während der lebhafte Verkehr mit Italien nicht minder anregend wirkt. Die Sanctgaller Schule war vielleicht von allen die bedeutendste, und glücklicher Weise besitzen wir zugleich von ihr das lebendigste Bild in der reichhaltigen Klosterchronik[1], welche von verschiedenen Verfassern bis 1330 fortgeführt [269] wurde. Die Schule war hier lange Zeit der Mittelpunkt des Klosterlebens, der Stolz und die Freude der Sanctgaller Mönche, und die Lebensnachrichten von den bedeutenderen Lehrern nebst mannigfachen Schulgeschichten verschiedener Art nehmen einen sehr hervorragenden Raum in der Chronik ein. Doch die Aufzeichnung dieses Theiles derselben gehört einer späteren Zeit an; von Ekkehard (IV) im elften Jahrhundert nach mündlicher Ueberlieferung aufgezeichnet, ist er in allen Einzelheiten unzuverlässig, giebt aber doch ein culturhistorisch unschätzbares, im Gesammteindruck auch sicher zutreffendes Bild. Der erste Theil dagegen bis zum Jahre 883, von Ratpert verfaßt, ist erfüllt von den äußeren Schicksalen des Klosters, den langen Kämpfen um seine Unabhängigkeit und Selbständigkeit, welche den Bischöfen von Constanz nur mit Mühe abgerungen war, und gegen verschiedene Anfechtungen vertheidigt wurde. Das Verhältniß zu den Bischöfen, welche formell völlig im Rechte waren, hat Ratpert, der schon ganz entstellten Klostertradition folgend, durchaus umgekehrt dargestellt, wie kürzlich Sickel auf die Urkunden gestützt nachgewiesen hat[2]; seine Aufmerksamkeit aber war diesem Gegenstand so vorwiegend zugewandt, daß er auch aus der späteren Zeit der Blüthe wenig über das innere Leben des Klosters berichtet.
Die ersten Zeiten des angestrengten und oft unglücklichen Kampfes waren der litterarischen Entwickelung nicht günstig. Eine Zierde des Klosters war jedoch schon damals Waldo, der zum Abt erhoben, nach Ratperts Darstellung wegen der Bedrängung durch den Bischof nach 1-1/2 Jahren (784) die Abtei Reichenau erhielt, welcher er 22 Jahre vorstand, endlich aber als Abt von Saint-Denis bis an seinen Tod 813 an dem litterarischen Treiben des Hofes Theil nahm[3].
[270] Die neugewonnene Freiheit unter dem selbständigen Abte Gozbert (816-837) erwies sich für das Gedeihen des Klosters sehr förderlich; 830 begann Gozbert den Bau der neuen Kirche, zu welcher er den noch vorhandenen Grundriß[4] entwerfen ließ; der Urheber desselben, welcher den Musterplan eines großen Benedictinerklosters darstellt, ist unbekannt, eine Widmung, gerichtet, wie es scheint, an den jüngeren Gozbert, des Abtes gleichnamigen Neffen. Dieser beschrieb um diese Zeit das Leben des ersten Sanct Galler Abtes Othmar, welcher am 16. November 759 in der Verbannung gestorben war, und fügte auch zum Leben des heiligen Gallus, welches der Reichenauer Wetti für Gozbert bearbeitet hatte (oben S. 120), ein Buch über die Wunder desselben hinzu. Doch genügten ihm selber diese Arbeiten nicht, und er bat den berühmten Abt von Reichenau, Walahfrid, beide zu überarbeiten[5]. Uns liegt daher das Leben Othmars nur in Walahfrids reiner Sprache vor; es enthält einige schätzbare Nachrichten über die damaligen Verhältnisse von Alamannien, doch tilgte leider Walahfrid die Namen der Gewährsmänner als zu barbarisch. Begreiflich ist es, daß man daneben auch des heiligen Gallus Leben in seiner schlichten unsauberen Gestalt nicht mehr ertragen konnte: wenn es bei der Mahlzeit oder am Gedächtnißtage des heiligen Mannes verlesen wurde, störten die Germanismen und Sprachfehler die Andacht der Zuhörer. Walahfrid mußte deshalb auch dieses Buch nebst den dazu gefügten Wundergeschichten in eine zeitgemäße Form bringen[6]; doch hat sich auch Wettins Arbeit erhalten. Auch in Versen wollte Walahfrid denselben Gegenstand behandeln, ist aber nicht mehr dazu gekommen. Dagegen hat es auf das ungestüme Andrängen des jüngeren Gozbert, des Kahlkopfs, ein ungenannter Mönch unternommen [271] und in der That Walahfrids Werk im Jahre 850 in Hexameter umgesetzt, doch stand sein Können bei weitem tiefer und entsprach nicht seinem guten Willen[7].
Nach dem Bürgerkriege verlieh Ludwig der Deutsche die Abtei seinem Erzkaplan Grimald (841-872), der sich das Wohl derselben sehr angelegen sein ließ, so daß jetzt die rechte Blüthezeit des Klosters und namentlich der Schule beginnt[8]. Da er selbst nicht Mönch war und in der Regel am Hofe lebte, vertraute er Hrabans Schüler Hartmut die unmittelbare Verwaltung des Klosters an, und nach Grimalds Tod stand dieser demselben bis 883 als Abt vor. Beide sorgten eifrig für die Bereicherung der Bibliothek, und als der erste bedeutende Lehrer wird unter ihnen Iso genannt[9]; ihm zur Seite der Schotte Moengal, auch Marcellus genannt[10], welcher in der inneren Schule die für das Mönchskleid bestimmten Knaben unterwies, während jener in der äußeren Schule die Söhne des Adels für ihren Beruf als Domherrn und Bischöfe vorbereitete.
Im Jahre 864 wurde Othmars Leib erhoben und in der neuen Kirche des heiligen Gallus feierlich beigesetzt, bis 867 die ihm bestimmte eigene Kirche vollendet war, welche auch Grimalds Ruhestätte wurde, der 870 zuletzt als Kanzler erscheint, und den Rest seiner Tage in St. Gallen zubrachte. Von jener Erhebung Othmars mit den Wundern, die dabei natürlich nicht fehlten, berichtet uns eine bald nachher verfaßte Schrift Iso's[11]. Später soll dieser jedoch das Kloster verlassen, und als Lehrer im Kloster Grandval eine große Wirksamkeit und außerordentlichen Ruf erlangt haben, bis er am 14. Mai 871 starb.
Die volle geistliche Bildung der inneren Schule erhielten zwei [272] Schüler des Iso, welche Marcellus von ihm übernahm, und nicht minder als in der Wissenschaft, auch in der Musik und anderen Künsten unterwies, deren er als Irländer Meister war. Diese waren der berühmte Erfinder der Sequenzen, Notker der Stammler[12], später Marcellus' Gehülfe, Verfasser des oben erwähnten Martyrologiums und anderer Werke, die wir gleich zu erwähnen haben werden, und der kunstreiche Tutilo[13]. Als dritten nennt Ekkehard auch Ratpert, einen Züricher, der aber vielmehr sein Zeitgenosse war, und bis an das Ende des neunten Jahrhunderts der Klosterschule vorstand. Dieser hat, wie schon erwähnt, den ersten Theil der Klosterchronik verfaßt. Die Einweihung der von der Aebtissin Bertha, Ludwig des Deutschen Tochter, neu erbauten Fraumünsterkirche in Zürich verlockte ihn zu einer Wallfahrt, die er in Versen ausführlich beschrieb[14]; übrigens aber war er so eifrig in seinem Amte, daß er jede Entfernung vom Kloster dem Tode gleich achtete, und nicht mehr als zwei Schuhe im Jahre verbrauchte; selbst die Messen und Gebete versäumte er darüber, denn sagte er, wir hören die besten Messen, wenn wir andere lehren sie zu feiern. Unnachsichtig handhabte er den Stock, der überhaupt in diesen Jahrhunderten eine große Rolle in der Erziehung spielte, und doch wußte er sich durch seine Berufstreue und wahres Wohlwollen auch die Liebe seiner Schüler zu gewinnen. Als er auf seinem Todbette lag, hatte gerade das Fest des heiligen Gallus (Oct. 16) die Geistlichkeit Alamanniens im Kloster versammelt, und 40 seiner Schüler umgaben das Sterbelager ihres Lehrers[15].
[273] Als Karl III 883 das Kloster besuchte[16], fand er in St. Gallen einen alten Mönch, dessen Gedächtniß noch in die Zeit des großen Karl reichte und der die Geschichten zu erzählen wußte, welche er einst von des tapferen Gerolds Waffengefährten, von Adalbert und dessen Sohne, dem Priester Werinbert, gehört hatte. Karl III, von dem sonst wenig löbliches zu berichten ist, hatte an diesen Geschichten solche Freude, daß er den guten Alten veranlaßte, sie aufzuschreiben; emsig ging er an die Arbeit, scheint sie aber nicht vollendet zu haben. In diesem Mönche hat man schon früh Notker den Stammler erkannt, aber Pertz widersprach dieser Annahme, weil der Stil gar zu roh und grammatisch fehlerhaft ist, und weil Notker damals noch nicht alt genug war, um durch Zahnlosigkeit zum Stammler geworden zu sein. Es scheint jedoch, daß er durch einen Naturfehler gestammelt hat, und die Vergleichung der Ausdrucksweise hat den vollkommen überzeugenden Nachweis gestattet, daß wirklich Notker der Verfasser dieses anmuthigen Buches gewesen ist, an welchem man schon früh und vielfach Gefallen gefunden und es trotz seiner mangelhaften Form mit Einhards Meisterwerk verbunden hat.
Ferner aber ist es wegen der auffallendsten Uebereinstimmungen in Ausdruck und Auffassung als vollkommen sichergestellt anzusehen, daß Notker auch der Fortsetzer der oben S. 219 erwähnten Chronik Erchanberts gewesen ist[17]. Er fügte nämlich eine kurze Uebersicht über die Theilungen und die Regentenfolge im karolingischen Reich hinzu, bald nach der Kaiserkrönung Karls III (881), von dem er mit lebhafter Verehrung spricht, wie denn auch damals noch kein Grund war, an seinen guten Erfolgen zu zweifeln.
Des Kaisers Besuch erschien als ein Höhepunkt der Blüthe des Klosters, und nicht ohne Wahrscheinlichkeit vermuthet Meyer von Knonau, daß eben hierdurch Ratpert zur Abfassung der Gesta veranlaßt sei, welche mit diesem Besuche abschließen. Auch mit des Kaisers Günstling, Bischof Liutward von Vercelli, einem geborenen [274] Schwaben, standen die Mönche in gutem Vernehmen und Notker widmete ihm seine Sequenzen[18].
Am Schlusse dieser Periode steht Notkers berühmtester Schüler[19] Salomo III, von 890-920 Bischof von Constanz und zugleich Abt von St. Gallen, ein Mann von den glänzendsten Geistesgaben, der kluge und gelehrte Freund Hatto's von Mainz, der das schöne und blühende Kloster wie seinen Augapfel liebte und hegte. Mehrere uns erhaltene Briefe und Gedichte zeugen von Notkers Liebe zu ihm und zugleich von der Sorge des treuen Lehrers um das Seelenheil seines Schülers in den Gefahren der Welt, denen er am Königshofe ausgesetzt war. Eine Mustersammlung von Urkundenformeln und Briefen[20], in welcher uns einige auch für die Geschichte der Zeit wichtige Briefe aufbewahrt sind, während die Urkunden über mannigfache Verhältnisse reichen Aufschluß gewähren, schrieb Dümmler Salomo um das Jahr 896 zu, während nach Zeumers Ansicht Waldo mit seinem Bruder Salomo sie 877 und 878 während ihres Aufenthalts bei Salomo II von Constanz und Liutbert von Mainz zusammengebracht haben, Notker nachträglich noch einige Briefe hinzugefügt [275] hat. Schon war man in Reichenau[21] und an andern Orten mit ähnlichen Sammlungen vorangegangen, aber die Sanctgaller Sammlung läßt sie durch ihren Inhalt wie durch ihre Form weit hinter sich. Aus der späteren Zeit besitzen wir von Salomon zwei schöne poetische Episteln an den Bischof Dado von Verdun, deren ansprechender, von wahrem Gefühl getragener Inhalt die ziemlich incorrecte Form übersehen läßt; die Ueberschrift „Versus Waldrammi ad Dadonem episcopum a Salomone episcopo missi“ läßt jedoch vermuthen, daß sie nur im Auftrag und nach Anweisung Salomons in dessen Namen von Waldram verfaßt sind. In der einen[22] beklagt der Bischof in elegischer Form voll tiefer Trauer den Tod seines letzten Bruders, des Bischofs Waldo von Freising (906), an den nach Zeumer mehrere der Briefe in der Formelsammlung gerichtet sind; in der anderen[23], schon früher geschriebenen, schildert er mit den lebhaftesten Farben das Unglück des Vaterlandes, dessen König ein Kind ist, dessen Gaue erfüllt sind von allgemeiner Zwietracht, von innerem Kampfe in allen Ständen des Volkes, während die Ungern ungehindert das Land verheerend durchziehen. Auch St. Gallen wurde von ihnen 926 verheert.
Ekkehards lebendige Schilderung hat die Sanctgaller Schule unsterblich gemacht; ohne ihn würden wir nicht so gar viel davon wissen, und ohne Zweifel herrschte in manchem andern Kloster ein ganz ähnliches Treiben, von dem nur niemand uns Nachrichten aufbewahrt hat. So vor allem in Reichenau, welches schon in hoher Blüthe stand, als St. Gallen noch schwach und unbedeutend war[24]. [276] Abt Waldo (784-806), ein vornehmer Herr, mit Grimald nahe verwandt und vorher Abt von St. Gallen (oben S. 269), hatte schon den Mönch Wadilcoz nach dem Martinskloster zu Tours geschickt, der von dort Bücher für die Bibliothek übersandte, welche Waldo mit großem Eifer zu bereichern bestrebt war[25]; unter ihm begann der fleißige Reginbert seine musterhafte Thätigkeit für dieselbe, welche er bis an seinen Tod 846 rastlos fortsetzte, theils durch eigene Arbeit, theils durch Geschenke die Sammlung zu sehr ansehnlichem Umfang vermehrend[26]. Ihm übersandten seine Schüler Grimald und Tatto die Klosterregel nebst den Beschlüssen des Reichstages von 817, der wohl ihre Aussendung veranlaßt hatte[27]. Auf seinen Antrieb schrieb Walahfrid das bedeutende Werk de rebus ecclesiasticis, wie dieser es in den Worten ausspricht: Dura Reginberti jussio adegit eum. Als Lehrer war neben ihm Heito thätig, ein Bruder jenes Wadilcoz, Waldo's Nachfolger als Abt und Bischof von Basel, welches Bisthum Waldo ebenfalls verwaltet hatte. Karl der Große sandte ihn 811 nach Constantinopel, und über diese Sendung verfaßte er eine Reisebeschreibung[28], die leider verloren ist; [277] 823 entsagte er seinem Bisthum und zog sich in sein altes Kloster zurück, wo er 836 gestorben ist. Die Abtei übergab er Erlebold (823-838), der bei einem leider ungenannten Schotten große Gelehrsamkeit erworben, und Heito auf seiner Reise begleitet hatte. Der Schule standen jetzt Tatto († 847) vor, den Walahfrid seinen Lehrer nennt, in dessen Namen er Verse an Ebo von Reims und an Thegan richtete[29], und Wetti, ein naher Verwandter Grimalds und Waldo's. Wie mangelhaft jedoch noch seine grammatische und metrische Bildung gewesen ist, haben wir jetzt erst mit Verwunderung erfahren, da durch das von Bücheler entdeckte Akrostichon (oben S. 120) festgestellt ist, daß er der Verfasser der Vita S. Galli und ihrer Widmung in ganz barbarischen Hexametern ist, welche man für viel älter gehalten hatte. Wetti hatte kurz vor seinem Tode am 3. November 824 eine Vision, indem er, wie so viele andere vor und nach ihm, Himmel und Hölle zu durchwandern glaubte, und was er in diesen Regionen gesehen zu haben vermeinte, den gläubigen Brüdern berichtete. Heito hatte diese Vision in Prosa[30], [278] Walahfrid in Versen bearbeitet[31], und der Eindruck derselben auf die Zeitgenossen war außerordentlich groß; hatte er doch sogar den großen Kaiser Karl im Fegefeuer Schlimmes leiden gesehen, auch Waldo. Beide werden, nebst einigen anderen, von Walahfrid nur durch Anacrosticha bezeichnet. Unter den Märtyrern dagegen erscheint darin Gerold, der Königin Hildegard Bruder, welcher im Kampfe gegen die Avaren gefallen war, ein geborner Alamanne, und des Klosters Hort und Beschirmer. Eine vielleicht von Walahfrid verfaßte Grabschrift auf ihn[32] findet sich in einer Handschrift neben dem Epitaph des Bernald, an den die Reichenauer ebenfalls mit Stolz zurückdachten. Dieser Bernald war nämlich ein geborner [279] Sachse, aber in Reichenau erzogen; er kam dann in die kaiserliche Capelle, und erhielt um das Jahr 821 das Bisthum Straßburg. Zu den treuen Anhängern des alten Kaisers gehörend, wurde er 825 als Gewaltbote nach Rätien, 832 nach Rom gesandt, und starb am 17. April 840. Man rühmte ihn als einen klugen und gelehrten Mann, der auch die deutsche Sprache zur Unterweisung des Volkes verwandte[33].
Den größten Glanz aber verbreitete über Reichenau der Abt Walahfrid, mit dem Beinamen Strabo oder Strabus, einer der besten Lateiner seiner Zeit, ein viel bewunderter Gelehrter und gewandter Dichter[34]. Ueber sein Leben haben wir leider nur wenig sichere Nachrichten, und so befreundet er auch mit den Sanctgaller Gelehrten war, wird er doch in der Klosterchronik gar nicht genannt; doch ist nach und nach durch neugefundene Verse mehr Licht über ihn gewonnen. Er war ein Schwabe von armer und geringer Herkunft, um 807 geboren; früh ins Kloster gekommen, dichtete er schon mit 15 Jahren eine Epistel an Ebo von Reims im Namen seines Lehrers Tatto[35], aber dieser war hart und strenge, und auch der Abt Erlebold war ihm nicht gewogen. In Wetti verlor Walahfrid seinen väterlichen Freund und Wohlthäter; nach dessen Tod (824) litt er sogar an Nahrung und Kleidung Mangel, und hatte häufig Schläge zu erdulden. Er klagte seine Noth an Grimald, dessen Wohlwollen er schon früher gewonnen hatte, und dieser forderte ihn auf, die Vision Wettins, welche wahrscheinlich er selbst auf Wachstafeln aufgezeichnet hatte, dichterisch zu bearbeiten. Dieselbe Aufforderung kam auch von dem Priester Adalgis, wie wir wissen, seitdem K. Plath das Akrostichon der seiner Antwort[36] zugefügten Verse: Adalgiso danda erkannt und die ganze Sachlage [280] scharfsinnig entwickelt hat[37]. Walahfrid bat ihn um bessere Kleidung und um Pergament, da er das Werk heimlich ausführen müsse; er bat ihn, selbst zu kommen, und Adalgis kam. Unter hartem Drängen vollendete er sein Werk[38], in welchem er reichliche Lobsprüche auf Haito, Erlebold und Tatto anbrachte, und übersandte es Grimald. Nach solcher Leistung und mit solchen Fürsprechern wird er nun auch im Kloster, und bei dem Abt, obgleich dieser kein Freund von Visionen war, mehr Anerkennung gefunden haben. Grimald hat er auch das anmuthige Gedicht de cultura hortorum gewidmet, und in dem Gedicht de imagine Tetrici (v. 228) feiert er ihn unter dem Namen Homer. Später hat er in Fulda Hrabans Unterricht genossen. Im Sommer 829 finden wir ihn am Hofe zu Aachen; von Kaiser Ludwig, sagt er einmal, sei er „paupere de fovea protractus“[39], mag sich das nun auf diese Zeit seines Hoflebens oder auf die Verleihung der Abtei Reichenau 839 beziehen. In Aachen beschrieb er damals in einem merkwürdigen Gedichte die aus Ravenna hingeführte Reiterstatue Theodorichs[40], der hier als Tyrann aufgefaßt wird im Gegensatz zu Ludwig, feiert Hilduin, Grimald, Einhard, widmet aber vor allem dem Kaiser, der Kaiserin Judith und dem kleinen Karl überschwengliches Lob; er wird als Caplan der Kaiserin und als Lehrer des kleinen Karl bezeichnet. Den Rodbern, welcher 834 dem Kaiser zuerst Nachricht von der in Tortona gefangenen Judith unter großen Gefahren brachte, feierte er in einem längeren Gedicht[41]. Mit Thegan, dem Diacon Florus und anderen der classisch und kirchlich gebildeten Männer jener Zeit war er befreundet, Prudentius rühmt er als seinen Lehrer, [281] bittet ihn aus der Ferne um Bücher und eigene Gedichte; zugleich übersendet er ihm Gedichte „Modoini magni“, den er auch in andern an ihn selbst gerichteten Versen feiert[42]. Kaum hatte er die Abtei Reichenau erhalten — bei seiner geringen Herkunft eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung —, so wurde er auch in die politischen Wirren hineingezogen; als eifriger Anhänger Lothars und der Reichseinheit, deren Herstellung er noch von ihm hoffte, flüchtete er nach Ludwigs Tod und der Ueberwältigung Alamanniens durch Ludwig den Deutschen nach Speier, wo er ein Gedicht voll Lobpreisung an Lothar richtete, in welchem er seinen Klagen und seinen Hoffnungen Ausdruck gab[43]. Lothar hatte in früheren Zeiten einmal persönlich den vermeintlichen Leib des h. Januarius nach Reichenau gebracht, was merkwürdiger Weise im Kloster ganz vergessen wurde und nur durch eine sehr schöne Sapphische Ode Walahfrids bekannt ist[44].
Sehr bald hat sich Walahfrid doch auch mit Ludwig dem Deutschen ausgesöhnt, und vielleicht durch Grimalds Einfluß erhielt er 842 die Abtei Reichenau von neuem; im Jahre 849 wurde ihm eine Botschaft des Königs an dessen Bruder Karl anvertraut. Auf dieser Reise starb er, kaum vierzigjährig, am 18. August durch einen Unfall beim Ueberschreiten der Loire[45].
Die von Walahfrid überarbeiteten Lebensbeschreibungen des Gallus und Othmar, sein Vorwort zu Einhards und zu Thegans Werken erwähnten wir schon; selbständige geschichtliche Werke hat er so wenig wie Hraban verfaßt, aber sein Buch über Ursprung und Entwickelung der kirchlichen Einrichtungen enthält viel beachtenswerthes über die Verfassung der Kirche in jenen Zeiten, ähnlich dem Werke Hrabans, aber noch lehrreicher, weil er durchgängig die kirchlichen Einrichtungen mit den weltlichen vergleicht[46].
Eines der merkwürdigsten Zeugnisse für den ernstlichen Eifer, mit welchem man in diesen Klöstern damals das Studium des classischen Alterthums betrieb, bietet uns die durch Mabillon bekannt gewordene Handschrift von Einsiedeln, deren Urschrift aus Reichenau zu stammen scheint. Wohl ein Schüler Walahfrids, im [282] vollen Besitz der damaligen Schulbildung und auch des Griechischen kundig, hat mit einer Beschreibung des damaligen Rom und des Ceremoniels der kirchlichen Feste auch antike Inschriften aus Pavia und Rom mit größter Genauigkeit und Sorgfalt nach älteren Vorlagen hier zusammengestellt[47].
Durch besondere Lernbegierde zeichnete sich auch Ermenrich aus, ein Ellwanger Mönch, dessen Leben uns recht anschaulich die Beweglichkeit der jungen mönchischen Studenten in jener Zeit vor Augen führt[48]. Wie Walahfrid, ging auch er nach Fulda, wo er Hrabans und Rudolfs Schüler wurde. Besondere Freundschaft verband ihn mit Hrabans Neffen, dem Diacon und königlichen Caplan Gundram, welcher der fuldischen Zelle Solenhofen an der Altmühl im Eichstädter Sprengel vorstand, und diesem, der den Stifter seiner Kirche, Sualo, feierlich erhoben hatte, zu Liebe, schrieb er das Leben desselben und übersandte es Hraban zur Durchsicht[49]; Rudolf, den er als seinen Lehrer preist, sollte die Fehler verbessern. Sualo, den Ermenrich willkürlich Solus nannte, gest. 3. Dec. 794, gehörte zu den Begleitern des h. Bonifaz; Ermenrich standen aber nur mündliche Erzählungen über ihn zu Gebote, und der geschichtliche Werth seiner Nachrichten ist daher unbedeutend. Wo er, damals noch Diaconus, dieses Werk geschrieben hat, wissen wir nicht; es ist sehr wahrscheinlich, daß er auch zu den Hofcaplänen gehört hat, und von dieser Zeit her den Erzkanzler Gozbald (829-833) als seinen Lehrer bezeichnet, sowie er auch Grimald als seinen Herrn und Meister verehrt[50].
An Gozbald, jetzt (841-855) Bischof von Würzburg, sandte er, schon als Priester, eine kleine Schrift, in Form eines Dialoges der Consolatio des Boethius nachgebildet, dem Inhalt nach völlig sagenhaft, über die Gründung seines Klosters Ellwangen, das Leben des [283] Stifters Hariolf, König Pippins Zeitgenossen, Bruders und später Nachfolgers des Bischofs Erlolf von Langres, und die Wunder, welche man ihm zuschrieb[51]. Er gehörte nämlich zu Gozbalds Familie.
Im Jahre 849 finden wir Ermenrich wieder im Kloster Reichenau als Schüler Walahfrids; als dieser seine unglückliche Reise nach Frankreich antrat, schickte ihn Grimald nach St. Gallen, um dort seine Studien fortzusetzen. Hier verfaßte er zum Dank für die gute Aufnahme, die er in beiden Klöstern gefunden und zum Preise Grimalds ein Sendschreiben an denselben, geschrieben zwischen 850 und 855, in welchem er seine ganze Gelehrsamkeit, die nicht unbedeutend, aber schlecht verarbeitet war, zur Schau trägt, von Philosophie, Grammatik und vielen anderen Dingen handelt, in der schwülstigen, gezierten Weise vieler Gelehrten der damaligen Zeit; eine Schreibart, die auch das Leben des h. Solus entstellt und am wenigsten in dem Leben Hariolfs hervortritt[52]. Er prahlt mit Griechisch, das er aber offenbar nicht versteht, und eignet sich aus Alcuin, Priscian und Ausonius falsche Gelehrsamkeit an, kennt aber Pindarus Thebanus und Lucretius nebst vielen anderen Schriften. Verse von Theodulf und Naso verwendete er ohne Scheu. Es enthält aber dieser Brief auch einige wichtige geschichtliche Daten und eine Lobpreisung Grimalds und der gelehrten und kunstreichen Sanctgaller Mönche, welche zur Ergänzung der dortigen Klosterchronik dient. Am Schluß geht er in Verse über, und feiert den h. Gallus, wozu auch ihn Gozbert, der Kahlkopf, gedrängt hatte. Doch ist dieser Theil mehr entworfen und begonnen als wirklich ausgeführt[53].
[284] In der Aufschrift dieses Briefes hat eine etwas spätere Hand zu dem Namen Ermenrich das Wort Bischof gesetzt, und man hat deshalb nicht ohne Wahrscheinlichkeit geschlossen, daß der Verfasser identisch ist mit dem gleichnamigen Bischof von Passau, den Ludwig der Deutsche 867 zu den Bulgaren sandte, und dessen Tod am 26. Dec. 874 sich in alamannischen Jahrbüchern und im Todtenbuche von Reichenau verzeichnet findet[54].
Ermenrichs Name ist auch gemißbraucht in einer häßlichen Betrügerei, dem angeblichen Leben des h. Magnus, eines der Genossen von Columban und Gallus, von Theodorus, das bei der Uebertragung der Gebeine in der Mitte des neunten Jahrhunderts in St. Magnus Grab soll gefunden sein. Der Bischof Lanto von Augsburg soll dann den Ellwanger Mönch Ermenrich veranlaßt haben, das kaum noch lesbare Denkmal zu erneuern. So wird dort erzählt; die Art, wie Ermenrichs Name erwähnt wird, macht es aber nicht wahrscheinlich, daß wirklich er selbst zu dieser Fälschung seine Hand geboten habe. Dümmler vermuthet, Forsch. XIII, 475, daß doch etwas daran sei und Ermenrich an der formalen Bearbeitung Theil habe, doch bemerkt er selbst, daß die Legende nichts von dem ihm eigenthümlichen Gepräge zeige. Ich halte die angebliche ältere Legende überhaupt für leeres Vorgeben des Fälschers, welcher ein von den gröbsten chronologischen Fehlern erfülltes Plagiat aus den Vitae Columbani und Galli für das Werk eines Zeitgenossen ausgab[55].
Auch Reichenau bezog wie Fulda seine Reliquien aus Italien, doch scheint man damit wenig Glück gehabt zu haben. Die älteste dieser Geschichten (Miracula S. Genesii) ist von Dr. A. Holder in Carlsruhe in einem von Reginbert herrührenden Codex entdeckt, und von mir in der Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins XXIV, 1-21 herausgegeben[56]. Sie berichtet von der Uebertragung der [285] heiligen Genesius und Eugenius aus Jerusalem durch den Grafen Gebahard von Treviso, der 798 seine Boten aussandte, aber vor deren Rückkunft starb. Der heimkehrende Diacon fand in Porto seinen Bruder, der den Grafen Scrot von Florenz[57] nach Rom begleitet hatte; mit Einwilligung des Pabstes Leo erhält Graf Scrot den rechten Schenkel des Genesius, während der Rest nach dem bei Treviso dafür schon bereiteten Kloster gebracht wird. Graf Scrot aber bringt seinen Theil in seine Heimath am Bodensee, und stiftet hier das Kloster Schienen, welches durch Ludwig das Kind an Reichenau gekommen ist. Da Wunder nicht ausblieben, veranlaßte Abt Erlebold (822-838) einen ungenannten Mönch zur Aufzeichnung dieser denkwürdigen Begebenheiten. Während nun aber von diesen Reliquien weiterhin nicht mehr die Rede ist, behauptete man später in Reichenau, daß die ganzen Leiber der hh. Senesius und Theopompus, welche in unklarer Weise an die Stelle von Genesius und Eugenius getreten sind, 830 durch Bischof Ratolf von Verona nach Radolfzell übertragen seien, da doch ganz unbekümmert darum dieselben 911 von Treviso aus dem inzwischen durch die Ungern zerstörten Kloster nach Nonantula übertragen wurden. Ebenso wenig wollte man ihnen glauben, daß der heilige Valentin, von dem ihre alten Annalen noch allein reden, der heilige Marcus selber sei, welcher, wie sie behaupteten, in demselben Jahr 830 aus Venedig zu ihnen gebracht sein sollte; und ihre eigene Erzählung läßt den Betrug deutlich genug erkennen[58]. Den h. Januarius sollte, wie wir oben S. 281 sahen, Kaiser Lothar selbst gebracht haben; davon verlautet weiter nichts, dagegen aber ein Bericht, nach welchem ihn und seine Genossen im Jahre 871 ein wackerer Reitersmann aus Schwaben auf einer Heerfahrt unter Kaiser Ludwig II aus einer verödeten Kirche geraubt und nach der Reichenau gebracht haben sollte. Man traute ihm aber dort vermuthlich selbst nicht, da in jüngeren Handschriften anstatt ihrer die h. Fortunata mit ihren Brüdern in derselben Erzählung erscheint. Aber auch diese waren bereits 780 nach Neapel in das Nonnenkloster des h. Gaudiosus übertragen, wo sie fortfuhren die schönsten Wunder zu thun[59]. Unbestritten blieb [286] den Reichenauern nur ein Krug von der Hochzeit zu Cana, den ein griechischer Mönch ihnen aufgeschwatzt hatte[60].
Sehr deutlich tritt uns in diesen Geschichten die lebhafte Verbindung mit Italien entgegen, welche in hohem Grade anregend wirken mußte[61]; Reichenau lag gerade an einer der besuchtesten Pilgerstraßen nach Rom, und auch Schottenmönche werden nicht gefehlt haben, wenn sie auch in Reichenau selbst kein Andenken hinterlassen haben. Dagegen wurde in Rheinau gegen das Ende dieses Jahrhunderts das Leben eines Schottenmönches, des h. Findan, aufgezeichnet († 878), welches für das Treiben dieser fremden Pilger charakteristisch und durch einige Stellen in irischer Sprache merkwürdig, übrigens aber sehr fabelhaft und geschichtlich wenig bedeutend ist[62]. Größerer Ruhm ist dem h. Meginrat zu Theil geworden, dessen Leben, wie aus dem Alter der Handschriften hervorgeht, schon im zehnten Jahrhundert ein Reichenauer Mönch beschrieben hat[63]. Er wurde nach dessen Bericht in Reichenau von Erlebold unterrichtet, und als dieser als Abt auf Heito folgte, als Mönch eingekleidet. Der Abt schickte ihn nach einer Reichenauer Zelle am Züricher See, nach der Tradition Bollingen, um da Schule zu halten. Er aber ging statt dessen als Eremit ins Gebirge, wo Räuber ihn 861 erschlugen. Das noch jetzt blühende Kloster Meinradszell oder Einsiedeln bewahrt sein Andenken.
Fast überall finden wir theils die ascetische, theils die formale Richtung vorherrschend in der Litteratur dieser Zeit, den historischen Sinn aber noch wenig entwickelt.
Doch fehlte es auch in St. Gallen und Reichenau nicht ganz an Annalen. Die in ihrem älteren Theil aus Murbach stammenden Annales Alamannici (oben S. 147) enthalten 802-858 dürftige Reichenauer Notizen; 860-926 werden sie mit zunehmender Reichhaltigkeit in St. Gallen fortgesetzt. Die aus denselben Annalen entnommenen [287] Annales Sangallenses breves 708-815[64] gewährten den Anfang (bis 791) der Annales Augienses, welche bis 939 in Reichenau fortgesetzt wurden. Sie waren auf den Rand der Ostertafeln geschrieben, welche Reginbert in seine oben S. 276 erwähnte historisch-mathematische Sammlung aufgenommen hatte, die er von 820 bis gegen sein Todesjahr 846 zusammengebracht hat. Diese jetzt verlorene Handschrift benutzte Hermannus Contractus. Für Friedrich von Mainz abgeschrieben, wurde sie zu 937 mit einer Notiz über Friedrichs Weihe, 953, 954 mit Aufzeichnungen des Erzbischofs Wilhelm vermehrt; benutzt wurde diese Handschrift vom Fortsetzer des Regino, von Marianus Scottus, und nebst den eingehefteten Annales S. Albani vom Verfasser der Disibodenberger Annalen[65]. Wir finden ferner die Annales Augienses bis 939 benutzt in den Annales Colonienses, jedoch so, daß einzelne Eintragungen vielmehr auf die Ann. Alamannici, Sangallenses und Hermann deuten, wodurch die Vermuthung entsteht, daß eine reichhaltigere Aufzeichnung allen zu Grunde liegt[66].
Auch in der Bischofstadt Augsburg war ein gelehrter und ausgezeichneter Bischof, Adalbero (887-910), der Erzieher Ludwigs des Kindes, ein vertrauter Freund der Sanctgaller Lehrer, und ohne Zweifel derselbe, welchem Regino, der seiner mit großem Lobe gedenkt, seine Chronik widmete; wir haben eine Biographie von ihm, sie ist aber erst im zwölften Jahrhundert von Udalschalk geschrieben und gewährt uns keine Belehrung[67].
Im Elsass beschrieb ein ungenannter Mönch von Neuweiler bei Zabern die Uebertragung des Bischofs Adelphus von Metz, den ihnen Erzbischof Drogo abgelassen hatte, mit Wundern, worin viele Ortsnamen vorkommen[68].
VISIO CUIUSDAM PAUPERCULAE MULIERIS.
Fuit namque in Laudonico pago quaedam mulier paupercula, quae in extasi rapta rediens multa ac miranda narravit. Ducebat autem illam, ut ipsa referebat, quidam homo in monachico habitu constitutus, ubi requiem sanctorum et poenam iniquorum cernebat, talem qualem Paulus apostolus in epistola sua scribit: quod oculus non vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascendit. Ibi etiam videbat quendam principem Italiae (Karl d. Gr. ganz ähnlich wie in der Visio Wettini) in tormentis, multosque alios notos, quosdam in poena, quosdam in gloria. Interrogavit illa eundem ductorem illius, si ille ad aeternam ultra vitam redire debuisset. At ille: Utique debet. Nam si Hlodouuicus, inquit, imperator, natus ejus, septem agapes pro illo pleniter dispensat, resolutus est. Pichonem (al. Picconem) vero hujus regis qui quondam fuit amicus, supinum jacere in tormentis, taetrosque spiritus duos aurum liquefacere et in os ejus infundere dicentes: Hinc sitisti in saeculo nec saturari potuisti; modo bibe ad saturitatem! Irmingartam namque reginam aeque in tormentis, quae super se habebat cautes tres quasi molares, unum super caput, alterum super pectus, tertium super dorsum, qui semper eam in profundum mergebant. Mira namque dicturus sum. Clamavit namque ad istam dicendo: Vade et dominum meum roga imperatorem, ut me misellam adjuvare dignetur. Et da ei signum ut sciat a me missam te fore, istud quod meae depositionis (desponsationis?) tempestate sola cum ipso loquebar in uno pomerio, et hoc statim bene cognoscet, quia adhuc hodie cunctos latet eadem locutio nisi nos tantum. Cumque inde pergerent, ostendit ei ductor illius murum cujus cacumen coelum usque tendebat, et post eum alterum qui totus scriptus erat aureis caracteribus. Interrogavitque illa quid hoc esset. Terrestris, inquit, paradisus est, ubi nullus intrabit nisi qui hic scriptus reperitur. Imperavitque illi ut legeret. At illa ait: Non didici litteras. Scio inquit, sed tamen lege. Legit namque illa, et invenit nomen Bernharti quondam regis tam luculentis litteris exaratum sicut nullius ibidem fuit. Postea Hlodouuici regis tam obscurum et oblitteratum, ut vix agnosci potuisset. At illa: Quid est, inquit, quod istud nomen tam oblitteratum est? Antequam, ait, in Bernhartum homicidium perpetrasset, nullius ibi nomen clarius erat. Illius interfectio istius oblitteratio fuit. Vade et cave diligenter, ne horum quid regem celaveris. Illa vero non ausa conticuit. Non post multum rursum ammonuit eam, que ut prius conticuit. Tertia vero vice venit et dixit: Quid est quod non gestis obsecundare verbo Domini? Quae respondit: Domine, vilis sum persona, et ista non audeo in medum proferre. Ex hoc ait illi: Luminum tuorum non gaudebis, donec ea coram rege exponis. Cujus ilico pupilla caligine obducta est. Post dies multos venit in praesentiam regis, cuncta tradidit, lumenque recepit.
Diese Visio ist wieder abgedruckt bei Malfatti: Bernardo rè d'Italia, Firenze 1876 (Nuova Antologia). Irmgard st. den 3. October 818; ihr schreibt auch Andreas Berg. c. 8. Bernhards Tod zu, der in den Ann. Aug. 817 und im Necrol. zum 17. Apr. verzeichnet ist. Daß Irmgard sich zur Zeit ihres Todes mit Ludwig gerade in einem Baumgarten unterhalten habe, scheint mir kaum wahrscheinlich. Ueber Picho oder Bego s. B. Simson, Ludwig d. Fr. I, 11 Anm. 8. Nach freundl. Mittheilung des H. Prof. Sievers in Jena steht die Visio auch im cod. Aug. 111 (Carlsr. 185) saec. X mit dem Schluß: Hinc quedam que mihi narravit minus commoda supersedenda sunt, ut ea introducantur, unde tota oratio sumpsit exordium. Danach scheint es ein Bruchstück aus einem unbekannten Werk zu sein. Es folgt auch hier die Visio Wettini, im cod. Sangall. die Visio Baronti von 680 (Acta SS. Martii III, 570). Mit dieser ist in einer Petersb. Hs. verbunden die Visio Rotcharii, viell. aus Fleury, worin Karl unter den Seligen erscheint, s. Anz. d. Germ. Mus. XXII, 73; Auszug bei Mabillon, Act. IV, 1, 667. Aehnlicher Art ist die Visio Bernoldi von Hincmar, s. Ebert II, 256, der, wie Dümmler bemerkt, bei der Aufzählung der Visionen Alcuin de Sanctis Euboric. eccl. v. 875-1006 übersehen hat. — Inhaltsangaben bei C. Fritzsche, Die lat. Visionen des Mittelalters, in Vollmöllers Roman. Forsch. II.