Title: Aus der Schweiz
Author: Ida von Düringsfeld
Release date: January 2, 2022 [eBook #67083]
Most recently updated: October 18, 2024
Language: German
Original publication: Germany: Verlag von Franz Schlodtmann
Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This transcription was produced from images generously made available by Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.)
Von
Ida von Düringsfeld,
Verfasserin von »Schloß Goczyn«.
Bremen,
Verlag von Franz Schlodtmann.
1850.
Es schäumen und es rauschen |
Die grünen Wellen des Rheins, |
Wir horchen, und wir lauschen |
Dem Steigen des Mondenscheins. |
Der Mondschein wiegt im Rheine |
Glühend, wie feurig Gold, |
Ueber die schwarzen Steine |
Das duftige Silber rollt. |
Wir blicken ernstlich nieder, |
Es dünkt uns so bekannt, |
Als wären wir schon wieder |
Im theuren Vaterland. |
Am Rheinfall, den 28. September 1849. |
vor diesem meinem ersten Wort »Aus der Schweiz« in die Heimath, um Täuschungen nicht erst entstehen zu lassen. Man möchte erwarten, ich hätte »die Schweiz« geschildert – dem aber ist nicht so, – ich schrieb nur »Aus der Schweiz«. Darum frage man mich nicht: wo ist Interlaken, wo Bern, wo Vevey? Ich habe gewählt aus dem Gesehenen. Und wenn das Gewählte ungleich erscheint, hier ganz modern, dort barock veraltet, so ist es eben wieder »aus der Schweiz«, und diese nicht nur eine Eidgenossenschaft von Cantonen, sondern auch von Contrasten. Meine persönlich-politische Empfindung mag denn auch mit gefärbt haben, Andere würden vielleicht anders sehen als ich. Ich habe mich zwar ernsthaft bemüht, so unparteiisch wie möglich zu sehen, aber Sympathie und Antipathie sind unsichtbare Brillen – wer weiß, sind sie mir nicht zwischen das Auge und meine Gegenstände geschoben worden? Wie dem nun sei, möge mein kleines Buch von meinen Schweizer Freunden freundlich und arglos aufgenommen, in der Heimath aber gern gelesen werden, wenn man sich nämlich nach der langen Zeit eines Jahres einer armen Verschlagenen dort noch erinnert.
Seite | |
Mauricy W***. | 1 |
Von Genf nach Baden. | 25 |
Die beiden Wittwen. | 43 |
Waadtländerin und Pariser. | 56 |
Tagebuch in Schwyz. | 111 |
Im Mätteli. | 126 |
Mys lieb Beat. | 132 |
Die Urschweiz. | 178 |
Ein Sonnenaufgang auf der Rigi. | 186 |
Im Hotel Weber. | 191 |
Die Heimathlosen. | 201 |
Gleich zu Anfang unseres Aufenthaltes in der Schweiz wohnten wir einen Monat lang in Horgen am Zürchersee.
Der Meierhof ist eigentlich keine Pension: außer uns hielt sich nur noch ein Pole dort auf, derselbe, dessen Namen diese Skizze trägt. Wir wußten jedoch damals seinen Namen noch nicht, sondern nur, daß er an der Brust leide, den Sommer über in Interlaken zur Molkenkur gewesen sei und jetzt in Horgen die Traubenkur gebrauchen wolle. Warum er zu diesem Zwecke nicht lieber in die französische Schweiz ging? Eine polnische Familie, welche in der Nähe von Zürich ein Landhaus besaß, hatte einen sehr geschickten Arzt bei sich. Mit diesem war Mauricy in Interlaken bekannt geworden und hatte solches Vertrauen zu ihm gefaßt, daß er noch länger in seiner Behandlung zu bleiben wünschte. Die Familie hatte mit jener Herzlichkeit, welche die Polen unter sich verbindet und sie gleichsam zu Gliedern einer Familie macht, dem kranken Landsmann ihr Haus angeboten, aber er wollte weder geniren, noch genirt sein, und so kam es, daß wir ihn in Horgen kennen lernten. Von hier aus konnte er mit den vielen Dampfschiffen, welche den Zürichersee durchfurchen, täglich nicht nur ein, sondern mehrere Male hinüber.
Ich will unsern Hausgenossen schildern. Sein Aeußeres war sonderbar, doch für uns wenigstens gleich auf eine gewisse Art einnehmend. Wir sahen ihn zum ersten Male, als er die Treppe hinaufstieg, welche zu seinen und unsern Zimmern führte. Groß und schlank ging er langsam, gebückt und nachlässig, die Augen gleichgültig vor sich hin gerichtet, ohne irgend Etwas, folglich auch ohne uns zu bemerken. Sein glattes Haar war dunkel und tief auf die Stirn gekämmt, welche, gleich dem ganzen zusammengefallenen Gesichte, eine wachsgelbe Farbe hatte. Die Kleidung war grau, aber auch vom Kopf bis zu den Füßen so vollständig grau, daß wir Mauricy später nie anders nannten, als unsern grauen Geist. Indessen in dieser wunderlich schlotternden Umhüllung und trotz seines völligen Sichfallenlassens sah man in ihm den ächten Edelmann. Nie wäre es Einem eingekommen, den schlichten, blassen, grauen Menschen für einen commis voyageur zu halten. Sein Alter schätzte ich damals auf sechs- bis achtunddreißig Jahre, später sagte er uns, daß er achtundzwanzig sei.
Am Abend wurde uns gemeinschaftlich der Thee im Salon servirt, wo ein vortrefflicher Flügel stand. Horgen wird blos durch die Reisenden belebt, welche von Arth kommen, oder dorthin fahren – wir waren allein mit Mauricy. Er war anfangs ein stummer Gesellschafter; ich bemühe mich sonst gewöhnlich auch nicht um Bekanntwerden; was bewog mich denn, einen Versuch zum Gespräche mit dem bleichen Polen zu machen und mich durch seine Einsilbigkeit nicht zurückschrecken zu lassen? War es ein Vorgefühl, daß ein künftiger Freund zwischen uns Beiden sitze?
Er ließ sich allmählich gewinnen und zum Sprechen bringen. Ohne gut französisch zu können, verstand er es genug, um sich hinreichend über Alles auszudrücken. Bald glitt unser Gespräch in die Politik hinein, eine damals, wie noch jetzt, gefährliche Bahn. Ich hatte ein Gemälde von dem Glücke entworfen, wie ich es mir wünsche. Ein Landhaus unter schönem Himmel, einen Garten voll Schatten und Stille, mit mir mein Mann und mein Kind, das Meer nicht weit, im Hause Bücher, Musik und Frieden. – Unser Pole lächelte ein Wenig, schüttelte das Haupt – »das würde mir nicht genügen. Wenn ich mein Vaterland nicht wieder glücklich sähe –« Hier war die Gefahr zum Streit da. Polen und Preußen haßten sich eben wie vielleicht noch nie. Die Polen warfen den Preußen vor, Verheißungen gemacht und nicht erfüllt zu haben – die Preußen beschuldigten die Polen, daß sie gewährtes Vertrauen gemißbraucht. Bald versicherte Mauricy mir, daß er die Preußen weit mehr verabscheue als die Russen. Ich erwiederte eifrig und heftig: »Das habe ich schon vorausgesetzt, übrigens schätze ich jetzt die Polen so gering wie möglich.« Genug, wir stritten und sagten uns böse Dinge mit den bittersten Mienen und den lebhaftesten Geberden. Ich hatte über den Armen den Vortheil einer gesunden Brust und brachte ihn glücklich außer Athem. »Ich kann nicht mehr,« seufzte er, »Sie machen mich ganz schwach.« – »Warum haben Sie denn angefangen?« entgegnete ich trotzig. »Ich hätte Sie wahrlich in Ruhe gelassen, denn ich kenne die Polen schon.« Er nahm sein Licht, schlich davon, drehte sich jedoch in der Thür noch einmal um. »Wenn einst Krieg wird,« sagte er komisch-böse, »so schieße ich Ihnen Ihren Mann dort todt.« – »Ehe Sie das können, schieße ich Sie nieder,« war meine unumwundene Antwort. – »Oder ich Sie.« – »So, Sie würden also auch meiner nicht schonen?« – »Nein, aber vorher würde ich sehr höflich meinen Hut abnehmen und um Erlaubniß bitten.« – »O, bis Sie das gethan hätten!«
So war unsere erste Berührung mit Mauricy. Wunderlich, wird man sagen. Vielleicht, doch nicht ganz so, wie es scheinen mag. Ich sage immer: einmal zankt man sich doch mit Jedermann; da ist's denn viel besser, mit Zank anfangen, als damit aufhören.
Wenigstens bestätigte es sich hier. Die ausgetauschten zärtlichen Erklärungen störten nicht im Geringsten unser gutes Vernehmen, ja, sie schienen durch den unwillkürlichen Humor, welchen sie hervorgerufen, es im Gegentheil recht befördern zu wollen. Die gegenseitigen Fragen, wann wir uns todtschießen würden, ob wir einander dann beklagen würden und dürften, und andere, gleich harmlos-alberne, machten uns lachen, und wenn man erst über- und miteinander lacht, ist man auf gutem Wege zur Vertraulichkeit.
Nicht daß wir uns nicht mehr gestritten und selbst erboßt an einander geärgert hätten –, alle Tage! Wir alle Drei, und insbesondere noch Mauricy und ich, waren zu aufgeregt durch die Zeit, um nicht das nachmittagliche Lesen der Zeitungen mit lauten Anmerkungen begleiten zu müssen. Und aus diesen Anmerkungen wurden Kämpfe zwischen Demokratismus und Royalismus, wie sie schwerlich selbst in der durch politische Haltung sich wenig auszeichnenden Paulskirche erbitterter und hitziger durchgefochten worden sind. Jeder, der nur auf einer Barrikade gekämpft hatte, war für Mauricy ein Held, für uns – es ging Mauricy's Helden schlecht von uns! Dagegen schleuderte er die heftigsten Ergüsse seines Hasses gegen Alles, was auf Thronen saß, oder das unverzeihliche Verbrechen beging, in Amt oder Würden zu sein. Alle Könige und Fürsten müßten ermordet werden, das war sein unaufhörlich wiederkehrender Satz. Und wenn er könnte, setzte er jedes Mal hinzu und nahm sein Messer in die Hand, so würde er selbst immer Einen nach dem Andern niederstoßen. Wir, wieder nicht träge, ließen himmelhohe Galgen für die Radikalen errichten, kurz, es war schrecklich, was wir Alle wüthend und blutdürstig waren!
Die Polen sind durch eine ganz eigene nationale Liebenswürdigkeit begünstigt, das hat man oft geäußert, und ich kann es nur bestätigen. Je mehr ich verschiedene Nationalitäten kennen lerne, je abstechender gegen alle, je bestechender für mich finde ich die Polen. Wäre ich ein Mann, ich würde mich gewiß nur in eine Italienerin oder eine Polin verlieben. Wenn Mauricy mich dadurch gekränkt hatte, daß er seine schonungslosen Angriffe vorzüglich auf Preußen richtete, so durfte er mir nur seine kalte Hand bieten und mich mit seinem guten Blicke um Verzeihung bitten, und ich war versöhnt.
Der arme Mauricy, – er hatte immer so kalte Hände! Und so blasse, – noch nie hatte ich solche farblose Hände gesehen. Das Blut schien schon fremd in ihnen geworden zu sein, sich ganz nach den Lippen zu drängen, über die es täglich kam. Mauricy war krank, und wie er selbst glaubte, zum Tode. Auch ich war krank, an der Krankheit unseres Jahrhunderts, bei welcher das Leben lange währen kann, aber eigentlich nur eine lange Qual ist. Wir sahen uns gegenseitig leiden und bemitleideten einander. Er litt frömmer, geduldiger, als ich. Die Resignation, gegen welche ich mich noch sträubte, als müßte ich mit ihr das Leiden unwiderruflich annehmen, er hatte sie schon – hatte sich unter dem Kreuze gebeugt. Wir fragten einander eines Tages: wie lange wir schon krank wären. Vier Jahre, sagte er, ich sechzehn. »Dann,« sprach er sanft, »werden Sie zuerst gesund – ich kann warten.«
Dieses Wort war keine Phrase – Mauricy kannte die Phrase nicht. Die Geselligkeit war ihm deswegen zuwider, weil in ihr so viel – Schicklichkeiten – stattfinden müssen. »Was soll ich da?« fragte er, und ich konnte ihm das nicht sagen. Denn auch ich habe mich oft gefragt: was soll ich, wenn ich mich den Menschen so ganz überflüssig sah, und die Menschen mir.
Wir, Otto, ich und Mauricy, waren einander nicht überflüssig. Wir suchten uns. Wir hatten uns oft auch Nichts zu sagen, aber wir saßen zusammen und waren still. Während des Stillschweigens gewannen wir uns noch lieber, als während des Zankens. Und jeden Abend wünschten wir uns mit besserm Herzen gute Nacht.
Wenn wir Beide uns fragten, was eigentlich Mauricy zu uns führe, und uns bewege, für ihn Raum zu machen in unserm sonst so verschlossenen Zweileben, so wußte es am Ende Keiner. Er war nicht geistreich; – was er auf den Universitäten von Kiew und Moskau gelernt – ich hatte ihn stark in Verdacht, Alles wieder vergessen zu haben. Wie er das Examen zu seinem Proforma im russischen Staatsdienst gemacht, will mir noch jetzt nicht recht einleuchten. Uebrigens fehlte es ihm durchaus an nichts Wesentlichem, er wußte genug, dachte klar und klug, urtheilte richtig, nur glänzende Gaben hatte er nicht, und suchte sie auch nicht. Er hatte es sich wohl aus meinem Wesen und meinen Reden herausbuchstabirt, ich müsse eine geniale Frau sein, und wenn ich es ihm ausreden wollte, sagte er doch: ich denke mir das so, aber er fragte weiter nicht nach der genialen Frau. Ich ließ im Geplauder mit Mauricy Geist ganz ruhig Geist sein – ihn kümmerte auf der ganzen Welt Nichts weniger. Das führte ihn also nicht zu uns.
Ebensowenig das Bedürfniß, Erinnerungen auszutauschen, was bei Vielgereisten bisweilen so lebhaft ist, daß sie es selbst um den Preis befriedigen müssen, andere Gereiste und Nichtgereiste zu langweilen. Mauricy war am Rhein, in Belgien, in Frankreich und in Italien gewesen, aber er war eben auch nur dagewesen – Eindrücke aufgenommen, Beobachtungen gesammelt, Studien gemacht, das Alles hatte er nicht. Aus Rom erzählte er ein einziges Mal von St. Peter, von Belgien äußerte er, es wären schöne Kirchen da, von Ems erfuhren wir, daß er alle Abende bei einer Familie Thee getrunken und dabei in einem sehr bequemen Lehnstuhl gesessen habe, von Schlesien bemerkte er, es gäbe in Reinerz so schrecklich häßliche alte Frauen. Von der übrigen Welt sagte er – Nichts, Polen ausgenommen; aber Polen war auch nicht die Welt: Polen war das Paradies.
Unsern Geschmack, unsere Neigungen theilte er auch nicht. Die Natur war ihm gleichgültig. Wenn ich das Glühen der Appenzeller Alpen betrachtete, oder das lichtdurchschimmerte Abendwerden auf dem See, kam er wohl langsam zu mir und fragte: »Aber wie können Sie sich das so lange ansehen?« Nicht minder kalt ließ ihn die Literatur. Von Le Maistre hatte ihm die »Reise um meine Stube« gefallen, mit sich führte er außer der Bibel und Thomas a Kempis nur noch die »Gedanken« des Obersten Weiß, ein Buch in der Art, wie Oxenstierna es geschrieben, sonst habe ich ihn nie weder etwas lesen sehen, noch erwähnen hören. Lamartine's Reise in den Orient hatte er angefangen, als ich sie begehrte, überließ er sie mir gleich – »ich schlafe, statt sie zu lesen,« sagte er. Was endlich die Musik betraf, so hörte er mich gern, besonders in dem böhmischen Liedchen: ach neni, neni! aber auch nur mit Melancholie, nicht mit Kennerschaft. Was führte uns denn also zusammen bei getrennten politischen Gesinnungen, ganz verschiedenen Neigungen, Anlagen und Charakteren?
Das Menschlichste, Innerlichste, die Seele des Herzens – das Gemüth.
Mauricy's innerstes Wesen war Güte, keine sentimentale, keine moralisch erkämpfte, nein, eine einfache, naturgemäße, unbewußte Güte. Er war nicht schwächlich-nachgiebig, tadelte was zu tadeln war, mochte recht wild werden können, wenn sich gerade eine Gelegenheit dazu fand, hatte ganz unbefangen seine Fehler, aber dabei kannte er weder Neid, noch Gehässigkeit, noch Rache, noch Parteilichkeit – er hatte eben zur Natur die Güte.
Güte haben, man redet davon gemeiniglich ganz so leicht hin, wie von gut sein, und wie oft findet man denn Güte?
Güte ist Gottes Gabe, sie lernt sich nicht und verlernt sich nicht – wer sie hat ist Gottes Liebling, denn er lindert Leiden. Sie ist die Grazie der Seele und das Genie des Gemüthes – als Grazie liebkos't und schmeichelt sie, erfreut und erquickt, erhellet und entzückt; als Genie hat sie den Drang, das gebeugte Rohr aufzurichten, Verirrten nachzueilen in die Wildniß, sich mit starker Kraft zwischen Verfolgte und Verfolger zu werfen, wider Ungerechte zu zürnen, Sinkende gewaltig zu erfassen, über Verlorene schmerzlich zu weinen. Sie ist nicht himmlisch, sie ist auch nicht irdisch – von der Erde aufgestiegen als Hauch, fällt sie wieder herab als Thau; so schwebt sie immerfort zwischen Himmel und Erde und ist dadurch menschlich. Und wie das Veilchen den Rosenpurpur und das Irisblau in seiner köstlichen Weichheit verschmilzt, so athmet aus ihr als Wohlwollen das Süßeste der Innigkeit und das Feinste der Milde.
Ich will nicht sagen, daß in Mauricy diese göttliche Erscheinung sich in voller Glorie offenbarte – zu einem so auserwählten Gefäß war er nicht stark genug – aber ein schöner, reiner Strahl leuchtete aus seinem weichen, dunkelblauen Auge. Vielleicht wirft man mir hier spottend ein: »und die umzubringenden Könige alle – fiel auf die der Strahl auch?« da antworte ich denn ganz unbekümmert: »wenn ein verfolgter König Schutz und Stärkung bei Mauricy gesucht hätte, würde Mauricy ihm seinen eigenen Mantel gegeben und seinen letzten Becher Wein an ihn abgetreten haben.«
Das dachte ich damals schon und lächelte, wenn er seine Philippiken herausseufzte, denn um sie kräftig hören zu lassen, war seine Brust zu müde. Wie er zur Erwiederung von uns dachte, sagte er eines Tages, als er uns sein Album brachte. »Man findet überall brave Leute, die man achten kann,« sprach er in seinem schleppenden Französisch, welches sich immer besann, ehe es über seine Zunge gekrochen kam. »Und darum bitt' ich Sie, sich Beide einzuschreiben.«
Das Album war noch fast leer, obgleich bereits im vorigen Winter zu Rom gekauft. Mauricy war nicht eine Natur, die sich leicht und viel hingab – er konnte seine Freunde mit eins, zwei, drei, vier, fünf zählen. Auch das machte ihn mir werth; ich schätze solche Mäßigkeit in Freundschaften: viele intime Freunde sind in meinen Augen ein wahrer embarras de richesse, und was am schlimmsten ist, de richesse factice.
Da etwas Schickliches nicht immer vom Himmel fällt, hatten wir einige Tage später noch Nichts eingeschrieben, als Mauricy das Buch auf wenige Stunden zurückverlangte. Er wollte es den drei Töchtern jener Familie bringen, die so gut wie seine eigene war, ja, noch besser als oft eine eigene ist. Ich hatte ihn schon einige Male wegen dieser jungen Mädchen geneckt, die er als sehr liebe, zugleich natürliche und ausgebildete Wesen schilderte. Jetzt reichte ich ihm das Buch mit einem bedeutungsvollen Blicke und einem sehr weisen Kopfnicken. Er lächelte und schüttelte langsam den Kopf. Noch aus keinem Antlitz hatte ich das Lächeln eine so wunderbare Erleuchtung hervorbringen sehen, wie auf dem Mauricy's. Es war ganz, als strömte plötzlich ein schimmernder Sonnenblick auf ein dunkles Gemälde. Für gewöhnlich war er nicht einmal hübsch, und kaum hob er seine Oberlippe ein wenig und ließ unter dem kleinen dunklen Bart zwei glänzende Zähne sehen, so mußte man ihn mindestens so gut wie schön finden.
Gegen Abend brachte er das Buch wieder. »Sie haben sich nicht verlobt?« fragte ich. Abermals machte ein stummes und langsames Kopfschütteln die Verneinung aus. Wir waren im Garten; der See mit seiner lieblichen Heiterkeit, das weiße Zürich links, die weißbläulichen Alpen rechts, rings herum die weißen Ortschaften, welche sich wie ein dichter Kranz von Margueriten durch das Grün der Ufer winden, der Mond im reinen Himmel – es war ein Bild voll Anmuth. Mauricy saß, den Kopf an einen Baum gelehnt. Er ruhte sich gern so aus und glich dann einem kranken Kinde. Auf Otto's Arm gestützt, stand ich vor ihm und fragte: »warum wollen Sie denn allein bleiben? Sie haben mir gesagt, Ihr Herz müßte noch sechs Monate lang, bis Sie heimkehren könnten, wie gestorben liegen – warum soll es das? Gönnen Sie ihm Leben – die Liebe kann Sie noch gesund machen.« – »Sollte ich ein junges Mädchen an mich ketten?« erwiederte er. – »O, Sie wissen nicht, wie gern ein junges Mädchen sich ganz aufopfert und darin Glück findet.« – »Wenn sie dafür geliebt wird,« sprach er. – »Nun –« sagte ich ermuthigend. Er blickte melancholisch zu mir auf und zeigte mir einen Ring, schwarz emaillirt. »Das ist das Andenken meiner letzten Liebe.« Er küßte das weiße Kreuz auf dem schwarzen Email. »Ist sie gestorben?« fragte ich leise. – »Für mich,« antwortete er ruhig. »Aber nie mehr werd' ich geliebt werden, wie von ihr – nie nach ihr noch lieben.«
Man hört fast Nichts seltener, als daß ein Mann eine – ich will das so oft verspottete Wort muthig nennen – eine unglückliche Liebe unbefangen ausspricht. Wohlverstanden, wenn er keine Verse macht. In Versen ist es ebenso Styl, es zu thun, wie es im Leben nicht Styl ist. Im Leben gilt ein solches Gefühl oft für ein Verbrechen, welches das Herz wider den Stolz begeht, im besten Falle für eine beschämende Weichlichkeit. Mauricy aber fürchtete nicht sich bloßzugeben, denn er war nicht eitel, und auch als weichlich meinte er nicht zu erscheinen, weil er stark und tief empfand. Und er hatte Recht. Was beweist mehr für unsere innere Macht, als die Fähigkeit zu einer großen Liebe?
Mauricy trug die seine still in sich, zugleich mit dem Tod, mit dem Gram um sein Vaterland, mit der Trauer um seine jüngste Schwester. Diese hatte achtzehn Jahr alt und seit sechs Wochen verheirathet, ihren Mann nach Sibirien führen sehen und war nur so lange noch in der Heimath geblieben, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen. Als es geboren war, übergab sie es ihrer Schwester und folgte dem Gatten nach Sibirien. Das erzählte uns Mauricy an demselben Abend, und ebenso schlicht, wie er das von seiner ersten Liebe erzählt. Ich machte die Augen zu, um die Thränen zurückzudrängen. Mauricy sah mich still an und war dann still fort; sein Mund dankte mir nicht, ich denke aber sein Herz. Mein Gott, ich weiß ja, wie ich der einzigen Freundin, die mir einst schrieb, sie habe um mich geweint, wie ich ihr ernst und gerührt gedankt habe!
Wo ein Wort erst den Weg gefunden hat, da finden ihn leicht mehrere. Oefter, wenn gleich nicht oft, redete Mauricy nun von dem, was sein Leben gefärbt und wieder entfärbt hatte, und wie wir wohl einsahen, ihn so gleichgültig dagegen machte. Leise, wie durch halbe Striche gelegentlich hingeworfen, gestaltete sich vor uns eine Skizze dieser einfachen, aber tiefbegründeten Begebenheit. Die Freundin war es gewesen, an deren Theetisch Mauricy jeden Abend in Ems den Lehnstuhl bereit gefunden. In Rom hatten sie in einem Hause gewohnt. Sie war verheirathet, dennoch hatte Mauricy Hoffnungen hegen dürfen: ihre Liebe wenigstens hatte sie ihm geschenkt. Warum nicht auch sich selbst? fragte ich ihn. Ehen können gelöst werden – in Rom ist der Pabst. Sie hatte es gewollt, antwortete er. Aber sie hatte dann wieder anders gethan. Sie war zurück nach Polen, zum Gatten. »Sie hat es vorgezogen, Gottes Gebot zu erfüllen, statt ihr Herz zu befriedigen,« sagte Mauricy. »Gottes Gebot!« rief ich erregt. »Glauben Sie, Gott würde sie gestraft haben, wenn sie sich Ihnen gegeben, der Sie ihrer so ganz bedurften? Denn sagen Sie mir – als Sie Hoffnung hatten, durften Sie da nicht die Genesung noch für möglich halten?« Er bejahte. »Und seit Sie von ihr getrennt sind, fühlen Sie sich nicht wieder um Vieles kränker?« – »Das ist wohl natürlich,« sagte er sanft. – »Nun denn, warum da Sie verlassen, nicht lieber ihr Heil selbst wagen, wenn ihr Glaube so streng ist, obgleich wahrlich Gott nicht gezürnt hätte?« Ich war unwillig. Beschwichtigend sprach er: »Ich denke vielleicht wie Sie und würde wahrscheinlich gehandelt haben, wie Sie sagen. Aber hatte ich das Recht, sie zu Etwas zu verleiten, was sie für Sünde hielt? Nein; obgleich sie mich aufgegeben, ich sage doch, sie hat gut gethan.«
Ich schwieg, aber ich grollte der Frau im Stillen, besonders als ich vernahm, daß sie noch im Briefwechsel mit ihm stehe. »Sie hat einen Roman mit ihm gespielt,« eiferte ich später gegen Otto, »und damit er ihr ja nicht entgehe, hält sie ihn an den Briefen wie an einem Faden. Das mag für sie recht hübsch und unterhaltend sein, aber für den armen Menschen ist's tödtlich.« Otto antwortete mir: die Frau könne es doch ernstlich meinen; er halte die Polinnen einer solchen religiösen Ueberspannung ganz für fähig. »Der Geliebte ist das Opfer, welches sie Gott bringt,« setzte er hinzu, »und je schmerzlicher sie es fühlt, und je größer es ist, um so heiliger handelt sie.«
Mochte das sein – ich hätte Mauricy gar zu gern durch eine der drei jungen Polinnen getröstet gesehen. Was ich thun konnte, um ihn zu zerstreuen, das that ich, schon jener Frau zum Trotz, die den armen Kranken sich verzehren ließ, um mehr Himmel zu gewinnen. Halb gelang mir, was ich wollte – Mauricy ließ sich zerstreuen, er konnte heiter, ja manchmal sogar ein klein wenig toll werden. So entsinn' ich mich eines Abends, wo eine niedliche junge Bernerin zum Besuch bei den Töchtern des Wirthes war. Wir trafen sie im Garten, und Mauricy trug sich dem armen verlegenen Kinde äußerst dringend zum Manne an. Die Hände gefaltet, saß er beweglich bittend vor ihr und spielte den schüchternen Liebhaber so natürlich, daß die kleine Bernerin sich zuletzt keinen andern Rath wußte, als ihm feierlich zu sagen: Monsieur, mon père n'a pas l'honneur de vous connaître. Das gute Kind hatte Alles für bittern Ernst genommen, ging ihm den ganzen nächsten Tag sorgfältig aus dem Wege und war seelenfroh, als sie wieder abreisen konnte, denn, sagte sie zufrieden: »Maintenant monsieur le Polonais ne pourra plus me taquiner.«
Ein andermal versicherte Mauricy mir mit der höchsten Ernsthaftigkeit, da er ein Demokrat sei, wolle ich seinen Tod – er werde mir daher das Vergnügen machen, sich diese Nacht vor meiner Thür zu hängen, und biete mir nur vorher noch die Hand zum ewigen Abschied. Ich glaubte nun zwar nicht, ihn am andern Morgen als Zierde meiner Thür zu finden, hielt es aber doch für möglich, daß der barocke Abschied eine nächtliche Abreise bedeuten könne. Aber er war am nächsten Morgen in höchsteigener grauer Person am gewohnten Platze und lachte mich vergnügt aus.
So weit hatte ich es gebracht, – vergaß er darum? Als ich ihn einmal danach fragte, küßte er statt aller Antwort wieder das weiße Kreuz auf dem schwarzen Grunde. Und am Abend, als ich sang, weinte er.
Und fort wollt' er auch – nach Rom. Umsonst suchte ihn sein Arzt zu bewegen, die lange, anstrengende Reise nicht zu unternehmen, lieber mit der Familie an den Genfersee zu kommen. Sie war nicht mehr in Rom, aber sie war dort gewesen. Er sagte das nicht, aber wir erriethen's. Ihre Spuren wollt' er suchen. Sie beherrschte ihn unumschränkt; er betete in ihr eine Heilige an.
Da wir sahen, daß er fest war, versuchten wir nicht erst, ihn zu erschüttern. Am Ende – was lag ihm am Leben?
Den letzten Abend kam er noch spät zu uns, still und gut. Ich wünschte das Bild seiner Freundin zu sehen – er brachte mir's. Es war kein schönes, aber ein liebes Gesicht, welches mit einem traurigen Ausdruck aus sanften schwarzen Augen blickte. Ich befragt' es ernstlich und prüfend – nein, es gehörte keiner Kokette – ich hatte der Frau Unrecht gethan – wie sie auch gehandelt, aus Ueberzeugung war's gewesen.
Wir sprachen noch lange von ihr. Gut, gut, himmlischgut, dieser Lobspruch ging immer wieder über Mauricy's bleiche Lippen. Es ist süß, geliebt zu werden, weil man als gut erkannt wird. Dieser Frau ward also ein lieblich Loos, und Mauricy – wenigstens ging er nicht in der Anbetung eines Götzenbildes unter.
In wie langen Zügen er das Gift getrunken, vernahmen wir erst jetzt. Nachdem er die Freundin in Ems kennen gelernt, hatten sie gemeinschaftlich einen Ausflug an den Rhein und nach Belgien, dann die Reise nach Rom gemacht. Noch erinnerte er sich, mit welcher Sorgfalt sie über ihn gewacht. Sie war fest entschlossen, die Scheidung von ihrem Gatten nachzusuchen und sobald Mauricy genesen, diesen zu heirathen. Ihr Gatte war alt, ruinirt, ein früherer Anbeter ihrer Mutter, welche die reiche Tochter mit achtzehn Jahren an ihn verheirathet hatte, dann aber, als diese ihn zu fesseln gewußt, eifersüchtig und die Störerin der Ehe geworden war. Als die Tochter nun aber in Rom die nöthigen Schritte zur völligen Aufhebung dieser unglücklichen Heirath thun will, bemächtigen sich ihrer die Priester, drohen mit Sünde und Strafe, schrecken und verwirren ihre fromme Seele, und sie entsagt dem Geliebten, weiht ihn der Verlassenheit, sich selbst abermals dem Gatten. Doch um den Abschied noch recht zu genießen, läßt sie sich von Mauricy über den Lago maggiore in die Schweiz begleiten. In Interlaken bleiben sie den Sommer, dann bringt er sie bis Zürich und bleibt allein. Acht Tage später lernten wir ihn kennen.
Wir schwiegen und dachten nach; da sagt' er plötzlich zu mir: »Sie haben mich manchmal wegen der jungen Mädchen da drüben geneckt – nun, als ich heute Adieu sagte, wurde die Eine etwas bewegt, und da« – sein schönes Lächeln zeigte sich – »da sah ich, daß sie hübsch war.« Ich wollte aus dieser Wahrnehmung geschwind einen Schluß ziehen, aber er sagte wieder ernst: »Mon mariage sera avec la mort, madame.« Dann stand er auf, bot mir die kalte Hand. »Gott segne Sie,« sagte er. »Gott geleite Sie,« sprach ich. Otto begleitete ihn noch in sein Zimmer.
Am andern Morgen sahen wir die Thür zu diesem offen, es wurde gefegt, gescheuert. Als wär's das Zimmer eines Todten! Ein beklemmender, peinlicher Eindruck.
Was uns anfänglich auch etwas verstörte – wir waren so gewöhnt, die graue Gestalt zu sehen, die müden, langsamen Schritte zu hören, daß wir sie noch immer zu sehen, zu hören glaubten. Ja, bisweilen war mir's gerade, als müßte unser grauer Geist schleichend hereinkommen, mich ernsthaft grüßen und mir mit seiner schwachen Stimme sagen: Madame, je viens vous dire, que je suis mort.
Briefe wollten wir gegenseitig nicht. Was nützen Briefe? Wir hörten einige Male durch die polnische Familie, daß er in Rom kränker und kränker werde. Schwerlich lebt er noch.
Am Genfersee aber dichtete ich zur Erinnerung an ihn eine Romanze, die heißt:
Abschied, sehr vergnügt und friedfertig. Die halbe Familie ist gerade heute auf dem Lande. Ich lasse Empfehlungen zurück – das genügt meinem Herzen vollkommen. Die alte Tante allein ist betrübt – sie allein hat mich liebgewonnen. Ich gebe ihr den einzigen Kuß, welchen ich bisher in der Schweiz gegeben, und verspreche ihr, sie in zehn Jahren wieder zu besuchen. »Ach, da bin ich gewiß todt!« ruft sie. Ich glaub' es auch – entweder sie, oder ich. Im Augenblicke, wo wir in den Kahn steigen, fällt uns noch ein Bullenbeißer an, natürlich ein menschlicher, ächte Genfer Race, fünfter Klasse. Er entgeht durch meine Gegenwart einem freundschaftlichen Stockschlage. Ich denke bei solchen Gelegenheiten nicht oft genug, aber doch bisweilen an Sokrates: wenn dich ein Esel anrennt u. s. w. Ein wärmerer Abschied findet zwischen uns und François statt. Er ist unser Ruderlehrer gewesen, ist der Portier der nicht zu vergessenden Campagne du Port. Wenn wir wieder nach Genf kommen, miethen wir den Pavillon unter den Platanen, meine stille Neigung, meine schmerzliche Leidenschaft – aber wir kommen nicht wieder nach Genf. Die Bise leidet das Zelt nicht. Der Leman langweilt mich noch einmal ungebührlich. Alles sitzt voll Engländer und Engländerinnen, diese sind wieder unglaublich garstig. Ich weiß nicht, wie sie's anfangen, grüble darüber, warum man überhaupt auf Reisen so selten ansprechende Gesichter sieht, sondern fast immer Langeweile, Verdrossenheit, Abspannung, Geistlosigkeit. Das Reisen muß häßlich machen. Von Morges aus sehen wir, hoffentlich nur für jetzt, zum letzten Male den Gletscherdiamanten, den Montblanc. In Ouchy drängt so gut wie Alles sich in die Kähne – wie es hineinkommt? »Frage die Sterne,« die glücklicher Weise noch nicht scheinen. Im Omnibus werden wir unaufhörlich aufgefordert: »Messieurs et mesdames, serrez-vous, serrez-vous, messieurs et mesdames; encore un peu, un tout petit peu encore!« Wir rücken zusammen und rücken zusammen, bis es endlich nicht mehr geht. Dabei fange ich an zu lachen, und Alles lacht mit, ausgenommen ein Hündchen, das ehrbar aus dem Fenster schaut. Die Kathedrale von Lausanne sehe ich mir im Vorüberfahren an und beschwichtige mein Gewissen mit der Versicherung: ich habe sie genug gesehen. Im Hotel de France essen wir mit tragischer Freude – denn sie offenbart, wie sehr wir in Genf gehungert haben – ein vortreffliches Zweifrankmittag. Ich habe mich über die guten Waadtländer so abscheulich lustig gemacht, und bekomme gleich in Lausanne eine wirkliche Brühsuppe, die erste seit drei Monaten – ich schäme mich recht. Herren und eine Dame aus Yverdun essen mit uns; sie sind freundlich, fragen, ob man sich in Genf sehr vor den Preußen fürchte. Ich bejahe, setze aber hinzu, die Genfer wollten mit den Preußen ein Ende machen. »Sie sollen's doch versuchen,« sagt der jüngere Herr. Der Kellner nimmt das Wort und ruft: »Les Génevois ont beaucoup de paroles et peu de coeur; c'est ce qu'ils ont montré dans la guerre du Sonderbund.« Die brüderliche Liebe der Cantone unter sich ist rührend. Wir fragen: »Wird man uns als Preußen unangefochten durch Neufchatel lassen?« Die Antwort ist: »Tous les honnêtes gens sont pour la Prusse.« Im Coupé des Omnibus fahren wir durch flach, aber fruchtbar Land. Man begreift, woran man im Canton Genf irre wird, wie die Schweizer Brod essen können. Eine junge Person, Tochter eines Genfer Vaters und einer englischen Mutter, erzogen in England, zum Besuch bei Verwandten in Genf, fährt mit uns und erfreut unsere Abneigung, indem sie die Genfer durch und durch hechelt. Ich helfe ihr; dieses Vergnügen hält den ganzen Weg über vor. Sie versichert, die Genfer seien den letzten Tag einer Bekanntschaft noch ebenso eisig, wie den ersten – »you can't make any impression upon them.« In Yverdun gehen wir spazieren, zuerst unter den Pappeln und Kastanien der Promenaden, nachher am Seeufer, da, wo die Zill einfließt. Die Wellen spielen auf dem dünenartigen Sande, junge Pappeln stehen im Mondlicht, Erlengebüsche scheinen undurchdringlich, es ist feucht, warm, ein Schiff mit hohem Segel kommt den Strom herauf, der Jura liegt dunkel umher, der See ist ein neuer, ein preußischer.
Im Speisesaale finde ich erst heute Morgen heraus, daß auf den Tapeten Tankred und Clotilde, Rinald und Armide sind. Das kleinste Dampfbötchen, l'Industriel, kommt pünktlich an; wir fahren heute unter einem Zelte. Mit uns sind ein Engländer mit zwei Töchtern, eine höfliche, aber etwas verblichene Familie. Ein einsamer, schwerfälliger, gelblicher Engländer. Ein junges Ehepaar. Die jungen Ehepaare sind unverkennbar. Schweizer. Einer von diesen, klug Gesicht über blauer Blouse, unter schwarzem Hut, giebt uns Erläuterungen. Links ist Granson mit seinem erhaltenen Schlosse, rechts im Freiburgischen Estavayer – Otto von Granson und die schöne Dame von Estavayer, der feinste Intriguenstoff in der ganzen Schweizergeschichte. Drüben in der Ferne scheinen silbern die Alpen des Tessins. Schlösser des Grafen Pourtales liegen hinter Granson; der Graf besitzt deren mehrere auch in Genf und Waadt, aber beide Cantone haben verboten, ihm noch welche zu verkaufen, »denn er kauft die schönsten, und werden da die Fremden nach Genf und Waadt kommen, wenn sie nicht länger die schönsten Schlösser bewohnen können?« So mein Gewährsmann in der blauen Blouse. Neufchatel hat, neutral wie es sich gehalten, im Sonderbundskriege, der vorletzten großen Begebenheit der Schweiz, auf Handelswege durch den »Industriel« den Freiburgern Schießbedarf zukommen lassen – Waadt legt in Yverdun Beschlag auf den »Industriel« und zwingt ihn, sechs Wochen lang nur in waadtländischen Staatsdiensten zu fahren. Auf waadtländisch heißen die Neufchateller Aristokraten und Jesuitenfreunde. Nachbarlich und freundschaftlich. (Immer mein Gewährsmann in der blauen Blouse.) Wir trinken vortrefflichen Wein aus Neufchatel. Die Stadt gekrönt mit Schloß und Kathedrale, unter beiden gelb und geräumig das Gymnasium. Vorher haben wir noch in das Val-de-Travers und in den Tunnel gesehen, durch welchen der Seyon genöthigt worden ist, anders als bisher in den See zu fließen. Am Lande fallen Kutscher über uns her. Wir sollen nach Basel, und Bern. Mit dem Omnibus sollen wir dahin, wohin wir wollen – nach Biel. Aber nicht im Coupé – darauf hat bereits die verblichene Familie Beschlag gelegt. Im Innern mögen wir nicht – wir nehmen für zehn Franken einen char-à-côté. Der Omnibusführer findet das unerhört; er zeigt auf uns: »die Leute da nehmen einen eigenen Wagen, weil sie nicht im Coupé fahren können!« Dazu Geberden. Ohne seine Erlaubniß also fahren wir fort, zwischen dem Oertchen St. Blaise und dem Sanct Blasisee hindurch an den Bieler See. Da ist links auf malerischer Waldhöhe Neustadtschloß, Ruine – rechts unter malerischer Felshöhe am See Neuville. Ich laufe durch den Weingarten des Gasthauses an das Ufer; Rohr wächst im Wasser, ein Badhäuschen steht, ein Kahn wiegt sich im Rohre; das Städtchen hat sechs Thürme, einen immer spitzer als den andern; der See ist mit dunklen Waldbergen eingefaßt; rechtshin im Laubwerk sehe ich den Thurm des Schlosses von St. Jean. Rousseau hat guten Geschmack gezeigt, als er auf St. Pierre saß, obgleich man seinen Schilderungen nach mehr Erhabenheit hier erwartet. Ich gucke auch in ein Sommerhäuschen; da überrasch' ich einen Herrn, der sich gebadet hat und wie eine Leiche in ein weiß Laken gewickelt ist; er erschrickt nicht, ich erschrecke ebenfalls nicht, lass' ihn sich weiter abtrocknen und komme zum Kaffee zurück in das Gasthaus. Dort hat es ein Erkennen zwischen Otto und einem Kutscher gegeben, der uns vorigen Herbst in Bern gefahren und »die Fru« gleich wiedererkannt hat. Der Mann hat eine rothe Weste an, raucht aus einer kurzen Pfeife und fährt nach Genf. Wir haben in Genf eine leere Kiste stehen lassen, die nach Bern gehört – wir fragen den Mann, ob er sie mitnehmen wolle? Lauter Bereitwilligkeit, aber als es ans Bezahlen geht, lauter Schwierigkeit. Der Mann verlangt drei Franken – die ganze Kiste ist nur zwei werth. Wir danken dem Manne freundlich; er ist ganz kurz geworden, erwiedert kaum unser Lebewohl. Vor uns her fährt mit einem Kutscher und einem Passagier ein anderer char-à-côté. Als wir aus Neuville heraus sind, wendet der vorausfahrende Kutscher sich um, ruft unserm Etwas zu, beide Chars halten, beide Kutscher springen ab, der vordere Kutscher wirft unserm seine Zügel zu, kommt an unsern Char, macht auf: »Vite, faites-moi place pour ce jeune homme« – seinen Passagier. Wir starren ihn an – »Mais, monsieur –« – »Eh, parbleu! faites; il faut qu'il soit à Bienne avant le départ de la diligence.« – »Eh bien, qu'il aille à Bienne, mais pas dans notre voiture.« – »Mais si, dans votre voiture, il-y-a trois places.« – »Nous les avons prises.« – »Eh non, vous n'avez payé que deux – je veux la troisième. Rangez-vous.« – »Mais, monsieur, la voiture est-elle donc à vous?« – »Parbleu, si elle est à moi! Je veux conduire ce jeune homme à Bienne. Vous rangerez vous?« – »Pas du tout. Nous avons pris la voiture et nous la garderons.« – »Eh, ne faites donc pas tant de façons – en quoi ce jeune homme peut-il vous gêner?« – »Mais assurément il nous gênerait et même beaucoup. Enfin nous ne voulons pas.« – »Oh, quels gens! quels gens!« Er schwingt sich auf den Kutschersitz, nimmt den jungen Menschen auf seine Knie und in seinen Arm, und fort geht's, während unser bisheriger Kutscher dasteht und uns nachschaut. Sein Trinkgeld ist's, was davonfährt; der Herr ist ihm und uns nachgefahren, um ihn und uns einzuholen, statt seiner zu kutschiren, den zu befördernden Burschen zwischen uns einzuschieben und so von Neuville aus einen Char zu ersparen. Schönen Dank, das ist, wie da wir nach Mornex fuhren. Da wurde der Kutscher angerufen, hielt, fragte zu uns herein: »Wollen Sie zwei Personen mitfahren lassen?« Wir sahen hinaus – da standen zwei ungeheure Bonnen mit drei Kindern – die wollten zwei Personen vorstellen. Nun, jetzt kommen wir, Dank dem jungen Menschen, der nach Basel soll, wenigstens nicht zu spät nach Biel. Der Herr-Kutscher ist ganz geschmeidig geworden, seit wir beharrlich waren – erklärt uns die Eile des jungen Menschen – zum Begräbniß der Schwester soll er. Das thut uns sehr leid, aber darum können wir doch nicht – der Kutscher sagt zustimmend: »N'en parlons plus.« Sein geschwindes Fahren hat uns ganz wirr gemacht, besonders weil wir die heißen Felsenwände vor uns hatten. Es ist ein beliebtes On-dit in der Schweiz, daß ein Engländer einst in einem char-à-côté um den ganzen Genfer See gefahren sei, ohne den See einmal gesehen zu haben. In Biel empfängt uns ein Omnibuskutscher und verspricht uns für vierzig Batzen einen schönen Wagen, in welchem wir ganz allein fahren sollen. Wir treten an das glückselige Fuhrwerk hinan – da steht unser junges Ehepaar vom »Industriel« und wartet, daß unser Kutscher es in dem schönen Wagen ganz allein nach Solothurn fahre. Der Omnibuskutscher sagt ganz vergnügt: »Ja, ich habe Sie allein fahren wollen, denn ich wußte ja nicht, daß noch mehr Personen kommen würden; nun diese zwei Personen gekommen sind, können Sie nicht allein fahren – nein, das geht nicht – ich bin ein Omnibus – ich fahre Alles.« Der junge Ehemann sagt: »Ich mag dem Manne seinen Verdienst nicht schmälern; es ist mir nur des Prinzips wegen.« – »Eben des Prinzips wegen würd' ich uns nicht nehmen,« sagt Otto. Der Kutscher wiederholt: »Ich bin ein Omnibus – ich fahre Alles.« Also wir sollen fahren, selbst gegen das Prinzip, aber erst müssen wir essen – wir sterben Hungers. Im Speisesaale sitzt die verblichene Familie. Der Vater kommt zu Otto. Er hat für jeden Platz im Coupé sechs Franken zahlen müssen. »Ist das nicht zu theuer?« – »Ja wohl, der Platz im Coupé ist immer nur einen Frank mehr, als der im Innern und für einen solchen hat man mir in Neufchatel nur vier Franken abverlangt.« – »Entschuldigen Sie, hier hat die Person fünf und einen halben zahlen müssen.« Es ist klar – die Gesellschaft hat für uns Beide mitbezahlt – die Kutscher in Neufchatel und Biel scheinen sich das Wort gegeben zu haben, an diesem dritten August zu prellen. Wir verschlucken ein Beefsteak und eilen hinab – da sitzt das junge Ehepaar auf den beiden Vordersitzen. Ich soll rückwärts fahren, nachdem ich so lange seitwärts gefahren – dazu ist mein Kopf zu müde – wir wollen wieder abladen lassen. Der Neufchateller Kutscher räth dem Bieler dringend, das junge Ehepaar in Biel zu lassen – »am Ende, sie zahlen nicht zwanzig Franken!« Das will sagen, wir zahlen zehn Batzen mehr. Der Bieler Kutscher aber macht am Wagenschlage so eindringliche Vorstellungen über die Rücksichten gegen das Frauenzimmer, daß der junge Ehemann den Kopf heraussteckt und frägt: »Madame, können Sie nicht gut rückwärts fahren?« Meine Antwort ist Nein. »Nun gut,« sagt er, »ich kann's auch nicht gut, aber wir wollen's versuchen.« Wir versuchen's, es geht, und wir schwatzen recht angenehm bis Solothurn. Das junge Ehepaar besitzt einen Schatz, um welchen ich es aufrichtig beneide – den allernachgiebigsten Magen. Des Morgens braucht es kaum zu frühstücken, des Mittags geradezu gar nicht zu essen, und nie ist es hungrig. In Solothurn muß es erst noch einen Spaziergang machen, um Eßlust zu finden! Nun frag' ich, kann man angenehmer reisen, als immer gesättigt, ohne je vor Abend zu essen? Wir haben immer Hunger, Morgens, Mittags und Abends auch noch, müssen immer in Eile sein, unsern innern Despoten zu befriedigen, können immer erst nach dem Beefsteak an den Mondschein denken. Glückseliges junges Ehepaar, in deiner poetischen Bedürfnißlosigkeit! Während es endlich irdisch genug fühlt, um zu Abend zu speisen, kommt unser einzelner Engländer vom Morgen. Er setzt sich langsam neben mich, unterhält und amüsirt sich langsam, spricht aber beileibe kein Wort Englisch außer auf Französisch. Nachdem er sich lange genug so amüsirt hat, steht er langsam auf, sagt uns langsam, er werde morgen nach Schinznach fahren, bietet uns langsam guten Abend und schreitet langsam aus dem Saale.
Als wir im vorigen October in Solothurn übernachteten, war's winterkalt und der große Ofen wurde erst am andern Morgen warm, während das Kamin unermüdlich rauchte. Heute ist's wärmer, aber der Röhrbrunnen an der Kathedrale rauscht so lebendig, daß er uns wach erhält und uns nöthigt, noch um Mitternacht im schlafenden Hause auf eigne Hand ein anderes Zimmer aufzusuchen. Am Morgen giebt es einen Retoureinspänner nach Aarau. Der Einspänner ist das nationale Fuhrwerk der Schweiz. Der Koffer will nicht recht darauf gehen – ich benutze den Augenblick und gehe still in die Kathedrale. Das Gebäude ist weiß und hell von innen und außen. Auf den Beichtstühlen sind hingeworfene reuige Gestalten – Petrus nach der Verleugnung eine von ihnen. Mir ist's nach dem ultrareformirten Genf herzlich wohl, wieder einmal zwischen heiligen Bildern und knieenden Betern zu wandern. Man betet besser unter einem Gewölbe, welches ausschließlich bestimmt ist, Gebet und Gesang zu Ehren des Herrn zu hören, als in der Stube, wo alle die Kleinlichkeiten der Häuslichkeit gethan werden. Ein Oratorium allein kann das tägliche Gebet im Hause gesammelt machen. Als ich meine Wanderung vollbracht, fahren wir – das junge Ehepaar fährt nach Basel. Wie malerisch ist hier der Jura! Voriges Jahr war er so überbunt, wie ich noch kaum weder Gebirg noch Wald gesehen. Ich hab' ihn liebgewonnen den langen, einförmigen und doch mannigfachen Jura, vielleicht weil er sowohl in der Ferne, wie in der Nähe so schöngeschwungene Linien hat, vielleicht auch, weil ich so oft auf ihm die ersten und letzten Lichter der Sonne und in der Mondnacht den leuchtenden Schnee blinken sah. Die Luft von ihm weht rauh; heute ist sie ein Sturm. Wir wenden uns endlich an der Stelle von ihm ab, wo wir damals von Basel her über ihn kamen. Den ganzen Tag bis Abends um sechs fahren wir durch die frischesten Hügellandschaften, welche für mich mit den Alpengegenden der Schweiz wetteifern. Aarau liegt geradezu allerliebst; es ist die erste Stadt in der Schweiz, wo zu wohnen mir gefallen könnte. Wir gehen vom Ochsen hinunter an die Aar, über ein Bächlein, das hineinschießt, die Aar hinauf. Jenseits liegt das Thal voll Landhäuser; Fähren gehen hinüber und kommen herüber; der Abend ist kühl, aber nicht rauh, Wiesenduft füllt ihn. Wie wohl thut das, wenn man so lange kalkige Luft geathmet. Auf einer Brücke, die, ich weiß nicht worüber führt, kehren wir in die Stadt zurück; ein zahm Starmätzchen sitzt auf dem Geländer, guckt uns an, springt vor uns herum, dreht klug und neugierig das Köpfchen und fliegt endlich in einen Gasthof neben der Brücke. In unserm Ochsen schiebt mich der lange, trockne, regungslose Kellner am Ellenbogen an den Speisetisch; es ist das seine Beförderungsart: allein läßt er einen nicht gehen. Der Ochse ist etwas ältlich, aber der Wirth einer der artigen Wirthe, wie man sie eben in den älteren schweizer Gasthäusern findet, Stube und Betten sind kolossal, auf der Gallerie blüht ein schöner Granatenbaum, und es gefällt mir in Aarau.
Alterthümertag, ohne unser Verdienst. Der lange Kellner weckt uns nicht, der Kutscher thut's, der natürlich wieder ein Retoureinspänner ist und zwar aus Baden am Stein. Dabei ein großer, starker, hübscher Mensch, in kurzer blauer Jacke und niedrigem grauen Troddelhut, mit krausem röthlich-blondem Bart und geradem, regelmäßigem Profil, Tell, wie man ihn sich nur denken kann, Xaver genannt, und so voll Kraft, daß er den schweren Koffer mit einem Ruck aus allen Fugen reißt. Er sieht bei dieser Heldenthat sehr gelassen darein – wir sind weniger zufrieden damit, indessen was soll man sagen? Wir setzen uns zum Frühstück und sehen die Begrüßung zweier eidgenössischen Lieutenants, die einander genannt werden. Sie bleiben in einem Bückling vorgebogen stehen, lächeln sich verlegen an, wissen sich nicht ein Wort zu sagen und setzen sich endlich stillschweigend gleich uns zum Frühstück. Wir fahren mit Xaver – der Wagen ist gut genug, aber das Pferd, das Pferd! Xaver hat es verzogen, wie eine Großmutter ihr jüngstes Enkelkind. Jeder seiner Neigungen wird nachgegeben, und es hat deren unendlich viele. Es will in jedes Thor, in jeden Seitenweg, in jedes Wirthshaus. Kein Grashalm steht am Wege, ohne daß es den Braunen danach gelüstet, und liegt nun gar ein Kleefeld da, so will er förmlich mit Gewalt hinein. Zugleich erschrickt er vor jedem Nichts; ein Karren, ein Haufen Flachs, ein Hund, ein Vogel sind sämmtlich ungeheuerliche Dinge, vor denen der Braune ebenfalls rechts oder links will. Xaver blickt bei jeder dieser gentilesses sich freundlich lächelnd nach einem um, als wollt' er sagen: seht, was das für ein Pferd ist! Dazu fehlt noch ein Nagel im linken Vorderrade; Xaver hat ein Hölzchen geschnitzt, es in die Lücke geschoben und spricht nun von Zeit zu Zeit: »Wenn das Nägli herausginge, würde das Rad rückwärts gehn, aber das Nägli geht nicht heraus.« In Folge aller dieser kleinen Hemmnisse kommen wir nur gemessen weiter; die Gegend wenigstens ist reizend. Rechts auf Höhen Wildeck und Habsburg, Schloß und Ruine; links im Thale Wildenstein, Schloß, auf ferner Höhe Schenkenberg, Ruine. Habsburg unstattlich. Der Erbauer borgt sich das Geld dazu von seinem Bruder, dem Bischof von Constanz. Wie's fertig, kommt der Bischof, besieht, wiegt das Haupt. »Für so viel Geld ein so klein Schloß mit so schlechten Mauern!« Der Besitzer zeigt hinunter vor das Schloß. Da stehen einige tausend Mann in Waffen. »Das sind meine Mauern; für die hab' ich euer Geld verwandt.« Schinznach, moderner Halbmond in Gehölzen zum Spazierengehen. Bei Brugg wird der Aar der Rücken gedreht. Links liegen Gebäude in einem fensterlosen Viereck, über das ein Thurm ragt. »Was ist denn das?« – »Kloster Königsfelden.« Agnesens Rachedenkmal. Man muß es doch sehen. Militair im Hofe. Hindurch. Ein Thor. Die Kirche schwer, rauh. Rechts die Mönchs-, links die Nonnenwohnung. Diese leer, wüst, Bohnen im Kreuzgange. Agnesens Zimmer voll von römischen Töpfen und Schüsseln – Alles zerbrochen, nur ein Löwenkopf und ein Säulenfuß anständig. In der Zelle alte Malerei und neben dem Fremdenbuch römische Münzen. Die Kirche Holzschuppen. Zwischen Balken und Brettern das Denkmal der Kaiserfamilie. Ueber Grabsteine von Berner Herren in den Chor. Schöne bunte Fenster. Ueber den Stühlen die bei Sempach gefallenen Ritter. Alle knieen; einer sieht genau wie der andere aus. Von der Reuß an die Limmath, von der Limmath nach Baden.
In Baden am Stein ist der »Hinterhof« das letzte, älteste und stillste der Hotels, wirklich wie sein Name andeutet, ein Hof hinter allen andern Höfen, hinter dem »Raben«, dem »Ochsen« und dem »Bären«, hinter dem »Schiff«, hinter der »Blume«, ja sogar hinter der »Sonne«. Ein großer Hof, eingefaßt von Gebäuden, deren neuestes zweihundert Jahr zählt. Treppen hier und da, viel Thüren, viel Ecken. Eine Gallerie. Kürzlich umhergepflanzt Kastanien, Ahorn, Liliodendron, Kugelakazien. Dazwischen in großen Kübeln Granatbäumchen und schöne Fuchsien. Grüne Persiennen an Fenstern, von denen kaum eines so groß wie das andere ist, kaum zwei in gleicher Reihe und gleicher Entfernung von einander ausgebrochen sind. Hineinschauend, als gehörte er auch zum Hause, der Thurm einer kleinen Kirche, welche sich von Außen vertraulich an die Scheune legt. Das ist der Hof des »Hinterhofes« und hier saß ich an dem schönen Sonntagnachmittag, wo wir nach Baden kamen, während Otto die Stuben musterte. Da näherte sich eine alte Frau mit freundlicher Miene, rothen Wangen und buntem Anzug, machte mir einen höflichen Knix und fragte: »Spreche Sie dütsch?« Ich antwortete der Wahrheit gemäß, und wir waren gegenseitig bereits sehr verbindlich und freundschaftlich, als Otto mir Bericht erstatten kam. Wie öfter sprachen wir italienisch; die alte Frau machte ein noch freundlicher Gesicht und fragte auch auf italienisch: ob ich aus Bergamasco oder aus Mailand sei. Zu Ehren meines Italienisch muß ich bemerken, daß diese beiden Städte die einzigen italienischen waren, welche die alte Dame kannte. Ich erklärte ihr, wie es komme, daß wir diese schöne Sprache so liebten – »O, ich war auch in Italien,« sagte sie mit Stolz, »fünfundzwanzig Jahre bin ich da gewesen, ja, meine Signora. In Locarno bei dem Signor Governatore. Und wenn ich Italienisch höre, fühl' ich's im Herzen.«
So hatten wir eine Bekanntschaft, ehe wir noch in den »großen König« eingezogen. Diesen erhabenen Namen führte nämlich die älteste und häßlichste Stube in dem ganzen alten Hause. Lang, niedrig und dunkel hatte sie nur ein vernünftiges Fenster, das andere war eine Art Schießscharte, mit kleinen runden Scheiben in Blei. Eine fehlte – wir klebten Papier vor das Loch. Ein schwerer Tisch stand auf gekreuztem Balken, auf den Dielen stolperte man immerfort, ebenso auf der hohen Schwelle. An der Thür fehlte Nichts als die Klinke, und unser Doctor pflegte zu sagen, die Stube wäre noch von unsern Vorfahren, den alten Regensburgern, eingerichtet. Der sogenannte Alkoven daneben hatte ebenfalls eine Hügelschwelle und eine Schießscharte, außerdem mittelalterliche Wandnischen und endlich einen blaugestrichenen Kleiderschrank, an dessen Thür angeschrieben stand: Herr so und so aus Bern habe den und den Tag hier hinein seine Röcke gehangen. Grauer, veralteter, ja verfallener hätten wir gar keinen Raum finden können, und er gefiel uns natürlich ungemein.
Die Gesellschaft an der Table d'hote war ungefähr wie die Stube und das ganze Haus. Mir wollte es beim Anhören der Gespräche immer vorkommen, als läse ich Goethe über den Elsaß. Da war ein Herr Wölflin, jetziger Tabacksfabrikant aus Rheinfelden, ehemaliger Napoleonischer Soldat ohne Enthusiasmus. Da war aus Mühlhausen, Fabrikant auch von Etwas, Herr Wangern, der an Regentagen als Liebhaber drosch und durch die That bewies, »was für eine Eßlust man dabei bekomme.« Da war der Herr Steiger aus Bregenz, jung, glatt gekämmt, Sonntags im Frack, Wochentags im grauen Rock mit grünem Sammtkragen. Da war Herr Kyslin, Lithograph aus Basel, dem die Thränen in die Augen drangen, wenn er an den nahen Untergang der Welt dachte, ein armes Opfer frommer Traktätchen. Da war endlich Herr Kaiser, Eisenhändler in Solothurn, gebürtig aus dem Schwarzwalde, krank an einem Halsleiden, das allerbeste Gemüth auf Erden, und, wie Herr Wölflin meinte, »halt etwas blindköpfig,« weßwegen den ganzen Mittag über immer gewetteifert wurde, wer den armen Mann am besten schrauben könne. Man sprach z. B. von der Verschiedenheit der Kartoffeln und der pommes de terre. Herr Kaiser sah schlau aus und meinte, das sei wohl dasselbe, nur auf französisch und auf deutsch. »Behüte,« wurde ihm geantwortet, »pommes de terre sind Erdäpfel, und diese, wie gesagt, völlig verschieden von den Kartoffeln. Es wäre eine gute Speculation, wenn man pommes de terre auf- und als Kartoffeln wieder verkaufte. Die Pflanze ist sonderbar, hat Blätter wie die Sonnenrose und wächst wie ein Strauch, manchmal ungeheuer hoch.« Herr Wangern versicherte: in Mühlhausen wachse die Cichorie auch oft neun Schuh hoch und zwar mit dem Hopfen zusammengezogen. Der Ertrag beider wunderbarer Pflanzen werde meistens über Neuenburg im Badischen verführt. Otto antwortete: Wir in Preußen bezögen auch fast alle Waaren über dieses Neuenburg. Folgte nun die Unterhaltung über die Stadt. Sie war klein, so gut wie gar keine Straßen, kaum Häuser, aber ein ungeheuerer Verkehr. Herr Kaiser hörte Alles an und – glaubte Alles.
Ganz offen – diese Gesellschaft machte mir die eine Stunde immer außerordentliches Vergnügen. Sie war so vollkommen neu für mich. Am oberen Ende des Tisches saßen mehrere Französinnen und elegante Waadtländerinnen, aber von ihnen hielt ich mich mit äußerster Sorgfalt entfernt – ich hatte noch genug von Genf. Meine Elsässer und Schwarzwälder mit ihrem kernigen Humor waren mir weit lieber. Außerhalb des Tisches freilich hörten unsere Beziehungen zu ihnen fast gänzlich auf, nur mit meiner ersten Bekanntschaft gab es bei jeder Begegnung einen Austausch von Höflichkeit und Italienisch.
Sie war 78 Jahr alt, dabei frisch, fett und froh, blos der Kopf zitterte ihr etwas. Seit acht Jahren lebte sie im Hinterhofe, Winters mit der Familie, Sommers mit den Fremden. Ihr »Herr« war hier im Bade gestorben – sie liebte, seinem Grabe nahe zu sein. Sie trocknete sich die Augen, als sie uns das erzählte, »wie eine junge Wittwe,« sagte ich damals zu Otto. O, ihr »Herr« war so süß gewesen und ihr so theuer! Er war Seckelmeister in Einsiedeln gewesen und ganz besonders um sie zu heirathen nach Italien gekommen. Sie war auch aus Einsiedeln, hatte dort Brüder als Conventualen und ich glaube gar einen Onkel als Fürstabt gehabt – o, sie war von Familie und so aristokratisch, wie man es nur in der Schweiz noch ist. Mir, der fast 30 Jahr jüngeren Frau, küßte sie trotz meines Sträubens immer die Hand, denn ich war eine Signora, und sie verstand das. Ihr »Herr« war auch ein Signor gewesen, sonst hätte sie, obwohl bereits 50 Jahre zählend, da er um sie gefreit, ihn gewiß nicht als Gemahl angenommen. Und im Hinterhofe würde sie auch nicht wohnen, wenn es nicht eine gute Familie wäre, aber die Dorers waren eine der ältesten Familien in Baden – ihre Mutter, eine Baldinger, war mit ihnen verwandt. Freilich schätzten sie den Vorzug ihres Geschlechtes nicht genug – sie verständen es nicht besser – flüsterte sie vertraulich. Sie hatte Recht – Herr Dorer, dick, untersetzt und stumpfsinnig, dachte weit mehr an das Rindfleisch, welches er immer eigenhändig herumreichte, als an seinen Ahn, den Schultheiß, der einst die Mauern von Baden so tapfer vertheidigt. Sein Erbe schlachtete ihm nach – weder der jetzige, noch der »Fideicommissair«, – denn der Hinterhof im Canton Aargau ist ein Fideicommiß – sah im Geringsten patricisch aus. Aber die Seckelmeisterin wußte, aus welchem Blute Beide stammten, und dieses Wissen tröstete sie über das plebejische Aussehen und machte es ihr angenehm im Hinterhofe. Sie selbst war allgemein beliebt; besonders schrie die kleine Amalie, das Schwesterchen des jüngeren Fideicommissairs, schon auf zwanzig Schritte mit ihrem hellen Stimmchen: »Scheckelmei! Scheckelmei!« Scheckelmei kam dann herbei und hieß Amalie vor den Fremden ihre »Kneikerle« machen. Scheckelmei war ihrer Manieren und ihrer Sprachkenntniß wegen Gouvernante bei den Fräulein Töchtern des Herrn Gouverneurs gewesen und wußte, was Lebensart heißt. Sie redete immer wohl und immer mit Feierlichkeit, ganz wie in Goldoni's Komödien geredet wird. Damit konnte sie uns inmitten des Hofes ganze Viertelstunden aufhalten. Wenn ich endlich durchaus entschlüpfen wollte, gab ich ihr geschwind einen Kuß; darüber war sie so erfreut, daß sie uns fortließ. Bei Tische machte sie immer die Wirthin und nöthigte einem Jeden weit mehr vom Nachtisch auf, als er essen wollte. Sie war gar gut die Scheckelmei, und ich hatte sie sehr lieb, und sie mich auch. Dann freute sie sich immer über meinen »dulce signore,« pries die Süßigkeit der Freundschaft, die Süßigkeit der Keuschheit und das Paradies der Liebesfreuden, sprach von ihrem »Herrn«, trocknete sich die Augen und wartete auf die Wiedervereinigung, wenn gleich vielleicht ohne sie besonders zu wünschen.
Eine Table d'hote in einem Badeorte ist eines der treuesten Bilder des Lebens – täglich verschwinden bekannte Gesichter, um fremden Platz zu machen. Wir hatten bald nicht mehr Herrn Wölflin, Herrn Wangern und selbst unsern guten Herrn Kaiser, dafür hatten wir eine »enorme« Jungfer aus Stäfa, die jeden Tag in einem anderen prachtvollen Seidenkleide erschien, eine Madame aus Chur mit einem vierjährigen Knaben, welcher durch seine grenzenlose Unbändigkeit bald den ganzen Hinterhof zur Verzweiflung brachte. Schweizer Officiere mit ihren Frauen, Professoren, Räthe und endlich ein Paar, das uns auffiel, weil der Mann noch so jung und so hübsch war und die Frau so bleich und so krank aussah. Auch trug sie Trauer und der Mann nicht. Dabei schienen sie sich sehr zu lieben; man sah Beide nie anders als miteinander; er führte sie stets. Wir machten eine Art Bekanntschaft mit ihnen auf einem Spaziergange, wo wir von verschiedenen Seiten zusammentrafen. Sie waren Beide in St. Gallen und Heidelberg so gleich gut bekannt, daß wir meinten, er sei irgend ein Rath oder dergleichen aus St. Gallen, der in Heidelberg studirt habe. Am Abend suchten wir in der Fremdenliste, konnten aber weder aus Heidelberg, noch aus St. Gallen ein Ehepaar entdecken und wunderten uns. Doch nur wie man sich über Dinge wundert, die einen wenig oder eigentlich gar nicht interessiren. Den nächsten Tag war der Mann abgereist; ich fragte natürlich die Frau, ob er ihr nicht sehr fehle. Sie lächelte verlegen. »Sie haben auch gedacht, das sei mein »Herr«, nicht wahr?« fragte sie. »Aber das ist nicht; ich bin Wittwe und in Trauer um meinen Mann, und Karl ist nur mein Bräutigam.«
Ja, es war auch eine Wittwe, wirklich und wahrhaftig eine Wittwe – wir hatten zwei Wittwen im Hinterhofe, eine alte und eine junge, eine treue und eine getröstete, eine Wittwe zum Beispiel, und eine Wittwe zur Warnung. Eine Figur aus Goldoni, und eine Frau aus Boccaccio. Ich fiel ein Mal um das andere aus den Wolken in die naivsten, freudigsten Verwunderungen darüber, daß die Mannheimerin mir eine jener frischen, verliebten Frauen so lebenswahr vorspielte, denn sie war aus Mannheim unsere verlobte Wittwe, sie war aus Mannheim und seit acht Jahren in St. Gallen äußerst glücklich verheirathet gewesen. O, ihr Mann war noch viel schöner gewesen als Karl, und wie sie ihn geliebt, und wie beweint hatte – es ließ sich nicht sagen! Ganz St. Gallen war auch, als sie ihn verloren – es war zu Neujahr gewesen, also jetzt gerade sieben und einen halben Monat – ja, ganz St. Gallen war lauter Mitleid gewesen; obgleich eine Fremde, hatte sie sich völlig wie unter Landsleuten glauben können, so hatte man sich beeifert, ihr Theilnahme zu bezeigen, sie zu trösten! Die guten St. Gallener hatten vermuthlich gemeint, einen St. Gallener zu verlieren, müßte für eine Mannheimerin ein geradezu unermeßlicher Verlust sein! Einer der angesehensten Männer war zu ihrem Schutzvogt ernannt worden – die Interessen der armen Verlassenen mußten doch als heilig betrachtet werden. Die arme Verlassene, die so allein auf der Welt war, hatte den Winter über einsam ihrer Trauer gelebt und im Frühjahr eine Landsmännin aus Heidelberg nur darum aufgenommen, weil die unglückliche Frau sich vor den Wirren aus Baden geflüchtet und nicht gewußt hatte, wohin. Diese unglückliche Frau war zufälliger Weise die Mutter von Karl gewesen, und Karl natürlich zu seiner Mutter gekommen, als er mit seinem Bruder nicht in den Aufstand gewollt hatte. Und da hatten sie sich Monate lang täglich gesehen, und so – o, sonst hätte sie's gewiß nimmer gethan, versicherte die Wittwe-Braut. Natürlich, wenn sie Karl nicht kennen gelernt hätte, würde sie sich nicht in ihn verliebt haben. Jetzt war sie's ordentlich, ein junges Mädchen, welches den ersten Bräutigam hat, kann's nicht ärger sein. Karl kam immer zugleich mit dem seligen Mann aus ihrem Munde. Diese Hoffnung auf ihren Künftigen zugleich mit der Trauer um ihren Seligen machte sie ungemein belustigend. Man wußte immer nicht, wen man hörte – ob die Wittwe oder die Braut. Dazu kam, daß dieser lebendige Widerspruch alle seine Empfindungen mit süddeutscher Offenheit herausplauderte. Wir erfuhren alle ihre Angst, daß die St. Gallener merken könnten, wie es mit ihrer Wittwenschaft aussähe, alle ihre Entschlüsse, so lange sie dieses Kleid trage, nicht wieder zu heirathen, alle ihre Furcht vor dem vornehmen Schutzvogt, der ihr jetzt ein wahrer Luxus von Ehre schien, unnütz, sehr unnütz, endlich die Noth, welche sie hier im Hause, in unserm scheinbar so soliden Hinterhofe gehabt. Die Leute waren schrecklich, aber schrecklich neugierig gewesen; immer hatten sie gelauscht, gelacht und bedeutungsvolle Mienen gemacht; selbst der Joseph war anzüglich geworden. Joseph war der Badewärter des Hinterhofes und eine der gelassensten Individualitäten, welche mich je um die Geduld gebracht. Aller Welt hätte ich boshafte Bemerkungen zugetraut, nur nicht dem Joseph, und dieser selbige Joseph hatte doch mit zweideutiger Miene gefragt: ob der Herr denn nicht mit in's Bad gehe. Um diese Frage nicht gar zu impertinent zu finden, muß man wissen, daß hier unter Eheleuten die Sitte des gemeinschaftlichen Badens herrscht, aber freilich nur unter Eheleuten, unter Verlobten nicht. Der heillose Joseph schien indessen Karl und die Wittwe nicht blos für Verlobte halten zu wollen, denn auf ihre Erwiederung: der Herr sei nicht krank, hatte er trocken gemeint: ach, die Herren gingen doch mit, auch wenn sie nicht badeten. Das war denn der armen Wittwe doch zu arg geworden und sie hatte den Bräutigam beschworen, das ungestörte Zusammensein, welches sie hier in Baden gehofft hatten, fahren zu lassen und sie in St. Gallen zu erwarten. Karl war ein vernünftiger junger Mann gewesen und resolut abgereist, aber, ach, was es jetzt der Wittwe leid that, daß sie nicht lieber den Joseph hatte schlaue Bemerkungen machen lassen, ohne den Bräutigam fortzuschicken! Sie wußte sich nicht mehr zu finden, sie brauchte ihre Kur wie im Traume, sie versicherte, daß sie nicht aus dem Fieber herauskomme. Endlich hielt sie's nicht mehr aus – der Doctor mußte ihr die Abreise erlauben. Sie kam zu uns herüber gelaufen, sie war wie elektrisirt, nie habe ich ein glückseliger Geschöpf gesehen. Sie wollte einen Antheil an dieser Freude ihrer kleinen Tochter zuschreiben, aber ich fürchte sehr, die Wonne war einzig und allein für Karl.
Die beiden Wittwen waren von einander verschieden, wie eine graue, moosige Epheuranke, welche sich auf einem Grabstein eingewurzelt, und ein leichtsinniger Finke, der, wenn sein Nest auf einem Baume zerstört wird, sich zwitschernd einen andern sucht, um sich ein neues zu bauen.
Die hübsche Madame Picard lag auf dem Sopha und hatte einen heftigen Nervenzufall. Ihr Mann ging verdrießlich und unruhig hin und her und begriff nicht, wie bei einer vernünftigen Frau ein so unvernünftiger Zufall möglich sei. Herr Picard war an Nervenzufälle bei seiner Frau gewöhnt, aber so einer! Wie gesagt, konnte man einen solchen Nervenzufall haben?
Die hübsche Waadtländerin ließ den ernsthaften Genfer nicht lange darüber in Ungewißheit. Sie schrie höchst erbärmlich, daß er sie nicht mehr liebe.
»Aber, meine Theure,« fing der Gatte an.
»Nein, lassen Sie mich,« schluchzte sie. »O, ich weiß es seit lange. Glauben Sie, daß solche Veränderungen dem Herzen einer Frau nicht fühlbar werden? Angebetet, wie ich war, glaubst Du, ich empfinde nicht, Grausamer, daß Du kalt geworden bist, trostlos, ganz und gar kalt?«
»Pauline, wir sind dreizehn Jahr verheirathet.«
»Und das ist ein Grund, um uns nicht mehr zu lieben? Nun wohl, wie Sie wollen, Monsieur, wie Sie wollen.«
Der Mann sprach von Uebertreibung und unbilligen Forderungen, so vernünftig, wie ein Genfer Kaufmann nur sprechen kann. Die Frau aber geberdete sich vor dieser unwillkommenen Vernunft immer krankhaft unverständiger, so daß dem Manne zuletzt Nichts übrig blieb, als der Bonne zu schellen und nach dem Doctor zu schicken.
Die Bonne erhob, als sie ihre Herrin in einem solchen Zustande sah, die Augen gen Himmel, zuckte tragisch die Achseln und verkündete, indem sie durch die Küche eilte, Monsieur bringe Madame noch um, das sei ganz klar.
Die Köchin und ein eben anwesendes Nähtermädchen umarmten den kleinen dreijährigen Emil, der ihrer besondern Sorgfalt anvertraut war, schüttelten traurig die Köpfe und seufzten: »armes Kind!« Emil begehrte noch eine Butterschnitte; unter neuen schweren Seufzern empfing er sie von den bewegten Dienerinnen. Er biß hinein, beschmierte sich beide Backen und watschelte in dieser wahrhaft kindlichen Verfassung hinaus auf die Gallerie, ohne im mindesten zu wissen, daß seine Mutter als ein Gegenstand des tiefsten Mitleidens auf ihrem Sopha am Rande des Grabes lag.
Die Mutter schien es zu wissen, denn sie wehklagte über ihre armen Kinder und beschwor ihren Mann, wenigstens diese zu lieben. Der Mann murrte: das verstehe sich ja von selbst.
Nein, das verstand sich nicht von selbst. Wer die Mutter nicht mehr liebte, wie leicht konnte der auch der Kinder vergessen.
Herr Picard griff sich mit allen zehn Fingern langsam in das Haar. Es war ihm dies seit zehn Jahren nicht begegnet, aber seine Frau hatte sich auch noch nie so aufgeführt.
Sie lag starr und sprachlos, als der Doctor kam. Herr Picard fand diese Sprachlosigkeit recht gut – der Doctor war anderer Meinung. Kaum hörten das die Bonne, die Köchin und das Nähtermädchen, so erhoben sie einstimmig ein Geschrei von solcher Stärke, daß Herr Picard fürchtete, die ganzen Eaux-vives könnten aufrührerisch werden. In dieser Vorstadt von Genf stand nämlich das Häuschen, welches einen kleinen Hof, einen kleinen Garten und zwei kleine Gallerien hatte und von Herrn Picard nebst Frau und Kindern bewohnt wurde.
Nachdem Madame zu Bett gebracht und mit Essenzen gerieben worden war, bekam sie die Sprache wieder und verlangte nach ihren Kindern. Die beiden ältesten Jungen konnten nicht aufgefunden werden – sie fischten irgendwo, wahrscheinlich in nicht kleiner Gefahr, aus dem Kahn in den See zu fallen. Der kleine Emil wurde von der Bonne herbeigeführt – die Mutter küßte ihn und verzog den Mund, weil sie mit dem Kusse Butter auf die Lippen bekommen hatte. Die Bonne, ziemlich hart über ihre wenige Sorgfalt für den Kleinen angelassen, rümpfte die Nase und versicherte dann draußen in der Küche: man könne es Madame nie recht machen; Monsieur möge es manchmal schwerer mit ihr haben, als man glaube. Die Köchin und das Nähtermädchen stimmten der Bonne völlig bei, und Madame schlief ein, ohne länger bedauert zu werden.
Unterdessen las der Doctor dem gelangweilten Ehemanne Moral. Eine so reizbare Frau müsse geschont werden, oder man könne der übelsten Folgen gewärtig sein. Herr Picard rief mit unterdrückter Erbitterung: »Wenn ich nur erst wüßte, wie ich sie schonen soll!« – »Wissen Sie's nicht?« fragte der Doctor. »Nein, ich weiß es nicht,« erwiederte der verdrossene Mann. »Nun, das müssen Sie wissen,« schloß der Doctor phlegmatisch.
Herr Picard wäre beinah heftig geworden, obgleich er ein Genfer war. »Sie können gut reden – Sie haben auch eine Frau –« – »Aber die hat keine Nervenzufälle,« ergänzte der Doctor.
»Das war's, was ich sagen wollte. So haben Sie leicht predigen, was Sie nicht zu thun brauchen.«
»Ich predige nur, was nöthig ist. Denn ich wiederhole Ihnen – schonen Sie Ihre Frau, oder – Sie möchten sie nicht gern verlieren, nicht wahr?«
»Was für eine Frage!«
»Nun, Sie können sie verlieren, wenn dergleichen Auftritte sich öfter wiederholen. Widersprechen Sie ihr nie, sie mag verlangen, was sie will.«
»Zu verlangen versteht sie,« sagte Herr Picard mit einem Seufzer, der vielfachen Erinnerungen galt. »Man sollte meinen, sie wäre statt am See von Joux in Paris geboren worden.«
»Was wollen Sie?« antwortete kaltblütig der Doctor. »Es giebt Frauen, die haben das Genie der Caprice, wie andere das Genie der Liebe. Ihre Frau ist eine von den ersteren.«
Also im Jouxthal war sie geboren und in einem Pensionat zu Morges erzogen worden. Ihre Mutter hielt in ihrem kleinen Geburtsort ein kleines Hotel und hatte ein artiges Vermögen. Als Pauline siebzehn Jahr war, verliebte Herr Picard, Pelz- und Schnittwaarenhändler aus Genf, sich in das hübsche waadtländer Mädchen und heirathete sie nach kurzer Bewerbung. So kam sie, jung, unerfahren und erwartungsvoll, in die dritte oder vierte Klasse der Genfer Gesellschaft – vielleicht auch in die fünfte oder sechste. Genf ist ja in so viel Klassen getheilt, wie ein botanisches System. Wodurch die eigentliche Aristokratie sich auszeichnet, habe ich nie verstehen können; man sagte mir, sie sei stolzer als irgend eine, wohne im Winter in der obern Stadt, im Sommer auf dem Lande und sei eben die Aristokratie. Gewiß ist es, daß Madame Picard nicht in die Aristokratie kam und kein Haus in der obern Stadt, sondern nur eins in den Eaux-vives hatte. Trotzdem gelang es ihr, sich zu einer recht angenehmen Frau auszubilden, freilich nur an der Oberfläche und zugleich aus der Natur heraus. Groß und voll gewachsen, würde sie sich ganz gut bewegt haben, hätte sie sich nicht eine gewisse kindische Lebhaftigkeit angeeignet. Die ist bei einem kleinen Figürchen recht niedlich, fällt dagegen bei einer großen Gestalt leicht ins Lächerliche. Ihr Gesicht war weniger gefällig, breit, mit starken Backenknochen und keinem schönen Profil. Im Hute sah sie sogar häßlich aus, in einem kleinen umgeknüpften Tuche dagegen recht anlockend. Sie wußte das und trug sich oft so, verdarb aber, was die Tracht für sie that, gewöhnlich wieder durch kleine gezierte Mienen. Die arme Pauline wollte gern recht gefährlich kokettiren und hatte doch weder große Anlagen dazu, noch die Gelegenheit, ihre kleinen zu entwickeln. Sie war daher unaufhörlich in Bewegung, machte sich immer laut, sprach nur von sich, schob fortwährend ihren Fuß vor, ließ die Hände nie ruhen, wurde mit einem Wort kokett im kleinen Styl. Daß sie den unglücklichen Genfer Accent annahm und mit gekniffenen Lippen zwischen den Zähnen sprach, war nicht nur verzeihlich, sondern unvermeidlich, aber freilich nicht wohltönend. Ihre Bildung war nicht mangelhafter als die der Genferinnen, doch will das nicht viel sagen. Sie hatte das Italienische angefangen und wieder liegen lassen, das Deutsche angefangen und aufgegeben und nur das Englische fortgesetzt, so daß sie es seit einem Jahre ihren beiden ältesten Knaben lehren konnte. Wurde englisch gesprochen, so verstand sie es nicht, aber die Anfangsgründe der Grammatik waren ihr noch erinnerlich genug, um sie überlieferungsartig den Kindern mittheilen zu können. Ihr musikalisches Talent beschränkte sich auf den Vortrag von Walzern, bei denen sie den Takt, um nicht herauszukommen, mit dem Fuße schlug und mit einem ausdrucksvollen Spiel der üppigen Schultern begleitete. In ihren politischen Gesinnungen war sie Republikanerin und Aristokratin, dabei sehr feurig und entschlossen. Wenn die Genfer gedacht hätten wie sie, würde James Fazy, der einstweilige Regent dieser Duodezrepublik, es nicht lange gewesen sein. Im Uebrigen litt sie seit ihrem ersten Wochenbette an einer krankhaften Reizbarkeit der Luftröhre, weßwegen sie nicht mehr singen durfte, stand ihrem Hauswesen mit Ordnungsliebe vor, hegte ziemlich mütterliche Gefühle für ihre beiden häßlichen Zwillinge und ihren kleinen dümmlichen Emil, thronte in einem kleinen Kreise von Freundinnen und würde sich mit Fassung in ihre dreißig Jahre geschickt haben, wäre ihr Mann ihr Liebhaber geblieben. Aber damit hatte er allmählich aufgehört. Natürlich; waren sie nicht dreizehn Jahr verheirathet, hatten sie nicht zwei zwölfjährige und einen dreijährigen Jungen, war Herr Picard nicht ein Kaufmann und vor Allem ein Genfer? Es giebt viele Dinge, welche ich mir vorstellen, eben so viele aber, die ich mir nicht vorstellen kann – zu diesen letztern gehört ein Genfer, der seine Frau anbetet. Naive Mittheilungen von Genferinnen selbst haben mir einen sehr kleinen Maßstab für die Genfer Ehemannsgalanterie in die Hand gegeben. Auch gelten die deutschen Frauen bei den Genferinnen für verzogene Kinder, und diese Bemerkung wird beißend genug gemacht. Pauline würde darin recht gern die deutsche Frau gespielt haben, aber wie schon gesagt, Herr Picard war Genfer durch und durch, das heißt ein großer, etwas steifer, sehr zurückhaltender und bedeutend selbstbewußter Mann, der die Liebhaberrolle nie recht bequem gefunden hatte. Folglich zog er sich im Verlauf der Jahre mehr und mehr in die Gelassenheit des Ehemannes zurück, und ebenfalls folglich erklärte Madame Picard sich für die unglücklichste Frau, nicht nur in Genf, sondern auf Erden, verlangte, um ihr armes Herz auszufüllen, alle möglichen Unmöglichkeiten und bekam, so oft der Gemahl vernünftig widerredete, unvernünftige Nervenzufälle.
Herr Picard hatte einen Compagnon, der die Dienste eines Commis that. In den sämmtlichen kleinen Orten, welche, um Genf her gedrängt, den Canton ausmachen, lief er, das Pack Proben unter dem Arme, jede Woche einmal umher und forderte die Kleinhändler auf, sich aus der Großhandlung Picard zu versehen. Demohnerachtet war und hieß Herr Hölty – denn diesen Dichternamen führte der Mann – in ganz Genf der Compagnon des Herrn Picard, und in dieser Eigenschaft besaß er ein gemiethetes Haus auch in den Eaux-vives, einen Hund, zwei Kinder und eine Frau.
Madame Hölty war gleich ihrer Compagnonsfrau oder Principalin eine Waadtländerin, doch nicht so tief aus dem Lande, sondern hart von der Grenze, aus Coppet. Funfzig Jahr, von Gestalt mittelgroß und stämmig, von Gesicht etwas tartarisch, mit kleinen schwarzen Augen und einer kupfrigen Farbe. Vor ihrer Verheirathung, wie sie sagte Gesellschaftsdame, wie die böse Welt sagte Kammerjungfer bei einer russischen Fürstin, jedenfalls aber in der Krimm gewesen, denn ihr drittes Wort lautete unwiderruflich: »Als ich in Baktschisarai war.« Auch hatte sie von dieser vornehmen Zeit her die Idee bekommen, daß sie eigentlich zu gut für die Schweiz und hauptsächlich für einen Schweizer sei; dennoch hatte sie einen geheirathet, und zwar den derbsten, welchen sie sich hatte aussuchen können. Mehr wohl um andere Gesellschaft zu haben, als um ihre Einnahme zu erhöhen, hielt sie eine Pension, doch nicht, ohne jedem Fremden die bei den Genfer Pensionshalterinnen stereotype Unhöflichkeit zu sagen: »Wenn ich es nicht nöthig hätte, würde ich es nicht thun.« Die Wahrheit ist: sie empfing die Fremden wie Manna, und den ersten Monat konnte man gar keine aufmerksamere Wirthin finden als Madame Hölty. Sie war eitel Honig und Höflichkeit. Die Diners waren auserlesen, die Frühstücke wahre kleine Schöpfungen. Das ganze Haus verwandelte sich in Rücksicht; Louise, das Mädchen, dudelte nicht falsch, Georges, der Knabe, machte keinen Lärm mit dem Hunde, selbst die Bonne trat in eine erhöhte Sphäre und empfing keinen Befehl, ohne daß Madame hinzusetzte: »s'il vous plait.« Madame wollte durch diese feine Haltung den Fremden einen hohen Begriff von ihrem kleinen, aber ausgezeichneten Hauswesen und besonders von der Herrin dieses Hauswesens beibringen. Es gelang ihr: wenn man sie beim ersten Anblicke für eine gute, aber ordinaire Frau gehalten, so ließ man sich von ihrer Selbstschätzung allmählich überreden, sie als eine kluge Frau anzunehmen, der es allerdings an der vollkommenen Ausbildung gebreche, aber nicht an einem taktvollen Verständniß der Welt. Sie hatte sich einen gewissen Vorrath von gescheidten Aeußerungen zusammengetragen, die tischte sie die ersten Abende zum Thee auf, und wenn man sich auch nicht gerade interessirt fühlte, so langweilte man sich doch mit Geduld. Aß man zum ersten Male am Sonntage mit dem Manne und den Kindern zusammen zu Mittag und sah man in Herrn Hölty die incarnirte Grobheit, welche sich selbst bei guter Absicht gar nicht anders als roh zu gehaben vermochte, so bedauerte man die Frau und fand es natürlich, daß sie andere Unterhaltung wünschte. Aber man fand auch bald, es sei drückend, sie unterhalten zu sollen. Sie wurde sehr eintönig, die höfliche Frau, der man gar nicht ausweichen konnte, die einem des Morgens den ersten guten Tag bot und des Abends die letzte gute Nacht, die einen im Garten begleitete, mochte es Sonnen- oder Mondschein sein, die sich überall neben einen setzen kam und immer sprechen wollte und immer über schon durchgesprochene Gegenstände. Es wurde einem unaussprechlich überdrüssig, immer zu hören: »Als ich in Baktschisarai war,« immer noch einmal die schönen Tartarinnen sich vorstellen zu sollen, die stumm wie Marmor gewesen waren, immer von Neuem zur Theilnahme darüber aufgefordert zu werden, daß Madame Hölty Herrn Hölty geheirathet. Genug, die Fremden und die Wirthin waren den zweiten Monat nie so zufrieden mit einander wie den ersten, wer einmal die Gesellschaft der Madame Hölty gründlich genossen, kam nie wieder, um diesen Genuß nochmals zu suchen, und längere Zeit blieben in den kleinen Stübchen, wo die Fremden eingeschachtelt waren, nur junge Männer, die den ganzen Tag außer dem Hause zubrachten.
Mit Madame Picard lebte Madame Hölty in einem Verhältnisse, welches sie als vertraulich darzustellen suchte. Wenn sie Etwas zu Madame Picard gesagt haben wollte, so verfehlte sie nie der Anrede: »Meine Theure« zu erwähnen. Wenn sie wirklich mit Paulinen sprach, sagte sie Madame Picard, sowie Pauline Madame Hölty sagte. Pauline kam selten zu Madame Hölty, Madame Hölty fast noch seltener zu Paulinen. Madame Hölty vertraute den Fremden, mit welchen sie über Madame Picard redete: Madame Picard sei ihr zu weltlich, der Kreis, der Pauline umgebe, ein zu frivoler; aber ging man etwas mehr auf den Grund, so ergab es sich, daß der Kreis Paulinens und Pauline selbst Madame Hölty mit ihren Erinnerungen an Petersburg und Baktschisarai zu langweilig fand und sie deßhalb in ihrem Bewußtsein sitzen ließ. Nur nach Nervenzufällen begehrte Pauline die Compagnonsfrau, weil diese die Gefälligkeit haben mußte, alle Klagen der unglücklichen Frau anzuhören. So kam es denn, daß noch am Abend nach der letzten Katastrophe Madame Hölty am Bett Paulinens saß.
Pauline klagte lebhaft und selbst leidenschaftlich. Herr Picard war wenigstens ein Ungeheuer und hatte es lediglich der Schonung seiner Frau zu verdanken, daß er nicht noch etwas Anderes, Aergeres wurde. Madame Hölty hörte zu, bis Pauline erschöpft zurücksank, dann sagte sie langsam – Madame hatte eine langsame, einförmige Redeweise, gerade wie ihr Gang – also langsam sagte sie: »Was wollen Sie, Madame Picard, wir sind an Schweizer verheirathet. Sie wissen, ich habe es Ihnen schon gesagt, daß ich nie einen Schweizer heirathen wollte, weil alle Schweizer Egoisten sind, aber da wir Beide es nun einmal gethan, müssen wir auch Geduld haben.«
Pauline murmelte: es sei manchmal recht schwer, Geduld zu haben, und diese Worte galten ebenso der guten Madame Hölty, wie dem unliebhaberhaften Ehemanne.
»Sehen Sie,« fuhr Madame Hölty fort, »wie es bei uns ist. Wie oft habe ich zu meinem Manne gesagt: es hat Alles im Hause seinen Platz, nur du nicht. Am Sonntag, wo er mit uns sein könnte, bleibt er wohl? Früh um fünf auf den See, nachher spazieren, Nachmittags zu Freunden. Abends selbst führt er noch den Hund aus. Ueberschlagen Sie sich dagegen, wie viel Sie von Herrn Picard haben.« Pauline dachte, es komme denn auch darauf an, ob die Frau dreißig oder funfzig, hübsch oder tartarisch sei; Madame Hölty aber fuhr in glücklicher Arglosigkeit fort: »Ich versichere Ihnen, mehr als ein Fremder hat mich schon gefragt: »Aber, Madame Hölty, ist Ihr Mann denn unsichtbar?«
»Das wäre eben kein so großer Schade,« zischelte Pauline vor sich hin. Laut fragte sie: »Ist Ihr Mann noch immer eine Woche conservativ und die andere radikal? Darüber ärgere ich mich bei ihm; sonst ist's ein recht guter Mann.«
»Nun,« sagte Madame Hölty, welche die Partei ihres Mannes ergriff, sobald von Jemand anders, als von ihr auf ihn geredet wurde, »nun,« sagte sie lauernd, »es hat Ihnen doch voriges Jahr ein entschieden Radikaler gar nicht so mißfallen, wie mein armer Mann.«
Trotz ihres gehabten Nervenzufalles wurde Pauline roth und antwortete sehr verlegen: »Ach, Herr Leon – aber das ist auch etwas Anderes – er ist ein junger Mann und in Paris erzogen worden – wo soll er da gute Grundsätze bekommen haben? Ich bin überzeugt, hätte er länger unter uns gelebt, er hätte sich geändert – er sagte mir, mit den Genfer Frauen könne man sich ganz anders unterhalten, als mit den Pariserinnen; wir wären viel ernster und gediegener.«
Als Madame Hölty später dieses Gespräch mittheilte, wollte sie Paulinen geantwortet haben: »Aber, meine Theure, glauben Sie doch nicht, daß Herr Leon das ernstlich gemeint habe – kennen Sie denn die Franzosen nicht? Sie sagen jeder Frau dergleichen Dinge – es ist das ihre Art.« In der Wirklichkeit aber, am Bette Paulinens sitzend, sprach sie falsch schmeichlerisch: »Man konnte es wohl sehen, daß Herr Leon sich sehr gern mit Ihnen unterhielt, Madame Picard,« und süßer noch setzte sie dann hinzu: »Wissen Sie, daß er wieder hier ist?«
Pauline hatte doch Klugheit genug, um nur eine gleichgültige Verwunderung zu äußern. Dann fragte sie: »Und er wohnt bei Ihnen, natürlich?«
»Nein,« versetzte Madame Hölty, »er wohnt bei seiner Mutter.«
»Wie, die Mutter ist auch wieder hier und nicht wieder bei Ihnen?« rief Pauline boshaft.
Madame Hölty heuchelte Unbefangenheit. »Sie geht in wenigen Wochen nach Leuk, und da sie Freunde in der Stadt hat, so ist es ihr bequemer, in der Stadt zu bleiben. Sie wohnt in der großen Pension auf dem Quai, neben der Krone, drei Treppen hoch.«
»Und Herr Leon auch?«
»Herr Leon auch. Er war aber schon mehrere Male bei uns, und ich will in diesen Tagen einmal die Mutter und ihn zum Thee bitten – werden Sie mir da das Vergnügen machen, auch zu kommen?«
»Wenn ich wohl genug bin,« erwiederte Pauline, ihre Freude schlecht verbergend. »A propos, haben Sie nicht wieder neue Pensionaire bekommen?«
»Ja, einen Engländer mit seiner Frau.«
»Also zwei Ehepaare, denn die Deutschen sind doch noch immer da?«
»O ja, und sie werden auch bleiben; sie gefallen sich sehr bei mir.«
»Und sie lieben sich noch immer so?«
»Wo möglich noch mehr.«
»Ach, welches Glück! Und die Engländer – sind sie eben so zärtlich?«
»Nicht ganz so, aber doch auch sehr. Er hat seiner Frau zum Geburtstage eine goldene Uhr für zweihundert Franken gekauft, und jeden Morgen pflückt er ihr ein Sträußchen, das er ihr zum Frühstück auf den Teller legt.«
»Alle Frauen werden geliebt,« sprach Pauline kummervoll, »und –«
»Wir beide nicht,« vollendete Madame Hölty. »Was wollen Sie, Madame Picard, wir müssen uns darein ergeben. Die deutsche Dame sagte mir erst heute: »Madame, ich bewundere Sie. Jeden Abend aufsitzen, bis es Herrn Hölty gefällig ist, nach Hause zu kommen, dazu sind Sie wahrlich zu gut. Wenn ich in Ihrer Stelle wäre, ich gäbe Herrn Hölty einen Schlüssel und spräche: nun komme du nach Hause, wenn es dir beliebt, vor oder nach Mitternacht, aber mir erlaube, zu Bette zu gehen.«
Pauline konnte nichts weniger leiden, als so ein »Wir« von Madame Hölty. Sehr kühl fragte sie daher: »Und wollen Sie diesem Rathe folgen?«
»Ich möchte es,« sprach die Besucherin, indem sie aufstand, »aber, Madame Picard, der häusliche Frieden – was thut man nicht, um den zu erhalten? Sie wissen, ich hasse nichts so sehr, wie Unruhe im Hause. Dennoch sagte ich es meinem Manne heute bei Mittag – ich war es wirklich müde, ihn zu erwarten – die ganze Woche ist er nie vor elf gekommen. Ich sagte ihm also, daß ich ihm von nun an sein Abendbrod an das Feuer setzen würde, da könnte er es sich allein nehmen, wenn er nach Hause käme – mich aber würde er zu Bette finden.«
»Dergestalt, daß Sie ihm gerade sagten, was Sie ihm nicht sagen wollten,« unterbrach Pauline ungeduldig das Geschwätz. »Und was antwortete Herr Hölty?«
»O, er war böse. Er sagte, das sei ein deutscher Zank, und er würde diese Nacht gar nicht nach Hause kommen, sondern mit Freunden auf die Berge gehen.«
»Nun, so lassen Sie ihn gehen. Wir werden morgen Regen haben, das wird ihn abkühlen.«
»Er war schon zu Hause, als ich zu Ihnen ging,« antwortete Madame Hölty.
»Was, es ist ja kaum halb neun!«
»Ja, er war schon da. Die deutsche Dame hat ganz Recht – man muß nicht immer zu gut sein, man verwöhnt die Männer. Guten Abend, Madame Picard, – pflegen Sie sich recht – ich werde Ihnen durch Louise sagen lassen, wann ich meinen Thee gebe – nochmals guten Abend.«
»Guten Abend, Madame Hölty; ich danke Ihnen, daß Sie noch so spät gekommen sind.«
Ich muß hier ein Bekenntniß einschalten im Namen der deutschen Dame, die ich ziemlich genau kenne. Herr Hölty hatte nebst vielen andern angenehmen Eigenschaften auch die, fürchterlich zu schnarchen, und zwar um so toller, je später und – belebter er nach Hause kam. Da nun die Deutschen unmittelbar unter dem Höltyschen Doppellager schliefen, die Zimmer wirklich wahre Schmetterlingsschachteln und die Decken förmlich spinnwebdünn waren, so fand, wenn Herr Hölty in ganzen vollen Tönen schnarchte, die arme Deutsche es rein unmöglich, auch nur eine Stunde zu schlafen. Das war nun geradezu schrecklich, besonders da sie am Tage auch keine Ruhe hatte. Denn da ging Madame Hölty unaufhörlich mit knarrenden Schuhen über ihrem Kopfe herum, da sang Louise, da tobte Georges – es war schon im dritten Monat. Und Nachts sollte sie das Oberhaupt der Familie auch noch hören – das war ihr zu viel, und sie redete Madame gegen Monsieur auf, damit Monsieur, gehörig gescholten, früher und – weniger schlaftrunken heimkehren und nur in halben Tönen mit der Nachtigall Duette singen möge.
Und was war Herr Leon? Herr Leon war Herr Pellet, Sohn eines Vaters, der gestorben war, und einer Mutter, welche noch lebte; außerdem noch der Schwager seiner Schwägerin, die ihrerseits die Frau seines Bruders war. Der Vater war Advokat gewesen, die Mutter war Rentiere, Herr Leon hatte einen sehr kleinen Platz in der Beamtenwelt ausgefüllt und – füllte ihn nicht mehr aus, indem die Republik ihm für seine Dienste gedankt hatte. Man flüsterte sich zu, Herr Leon sei zu republikanisch gewesen – unsere kleine Geschichte spielt nämlich im Frühjahr Achtzehnhundertneunundvierzig, und man weiß, daß man da nirgends weniger republikanisch war als in Frankreich. Vielleicht mochte Herr Leon sogar ins Rothe geschillert haben – Madame Hölty wenigstens vertraute es der jungen Deutschen an, als diese Herrn Leon zufällig gesehen und aus Langeweile nach ihm gefragt hatte. »Und sein Bruder ist noch entschieden roth,« fuhr Madame Hölty fort, »zum großen Zorne der Mutter, welche ultraconservativ ist.« – »Das muß ein gutes Verhältniß zwischen Mutter und Söhnen abgeben,« bemerkte die Deutsche, Madame Hölty machte die Miene einer Wissenden. »Ich habe einen Auftritt mitangehört – Madame, Sie würden erschrocken sein, hätten Sie diese Mutter gesehen. Sie hatte Paris gleich nach der Februarrevolution verlassen und war nach Lyon gegangen; von da aus kam sie im Frühjahr hierher zu mir. Herr Leon besuchte sie auf vierzehn Tage. Da stritten sie sich einmal – sie war wie rasend. Sie warf ihrem Sohne vor, er so gut wie sein Bruder wäre im Stande, sie zu ermorden. Die Politik bringt furchtbare Spaltungen in den Familien hervor.« – »Wenn Herr Pellet unabhängig von seiner Mutter ist,« meinte die Deutsche. »Das ist es ja eben,« sprach Madame Hölty, die sich etwas damit zu wissen schien, in die Sorgen des jungen Parisers so eingeweiht zu sein. »Herr Leon und sein Bruder haben nur das Vermögen des Vaters bekommen – die Mutter ist Herrin des ihrigen. Und Herr Leon – wie die jungen Leute sind – hat fast Alles ausgegeben und ist nun noch dazu ohne Amt. Da muß er wohl die Mutter wieder zu versöhnen suchen – auch nimmt er sich ungemein in Acht – widerspricht ihr nie.« – »Das wird auf Kosten des Bruders geschehen,« sprach lachend die Deutsche. – »Was wollen Sie, Madame,« meinte Madame Hölty, »Jeder für sich. Herr Leon hat eine schwere Zeit bei seiner Mutter – da ist's billig, daß er belohnt werde.« »Sehr wahr – ich wünsche ihm, daß er seine Mutter ganz verstricken möge.«
Der Gegenstand dieses Gespräches ging unterdessen die Eaux-vives hinauf in die Stadt. Es war gegen zehn Uhr, aber schon so furchtbar heiß, wie es in Genf nur sein kann. Fühlte Herr Leon wirklich das Bedürfniß, einen Augenblick zu athmen, oder war's ein anderer Beweggrund, der ihn veranlaßte, einige Schritte von Paulinens Hause stehen zu bleiben und sich die Stirn abzutrocknen? Es war am Morgen nach dem großen Nervenzufall, Pauline eben aufgestanden. In einen Shawl gehüllt durch die halbgeöffnete Persienne blickend – zufällig, mein Himmel, so zufällig wie möglich, sah sie den jungen Pariser und wich mit einem Herzklopfen zurück, als wäre sie bei einer kleinen Sünde ertappt worden. Leon sah von der Seite nach dem Hause hinauf, konnte jedoch hinter der Persienne nichts entdecken. Pauline fühlte eine lebhafte Versuchung, die Persienne besser zu schließen, »damit es nicht so heiß hereinkomme.« Leon sah zwischen den grünen Brettchen eine ziemlich weiße Hand sich unruhig, fast ungeschickt bewegen – er wußte, daß er gesehen worden sei. Madame Hölty hatte heute erwähnt, wie sie seine Anwesenheit Paulinen mitgetheilt. Selbstzufrieden ging der junge Mann weiter.
Herr Leon war, wenn ich es denn offen sagen soll, ein Geck, wie es nur je einen gab. In Paris konnte er keine große Rolle spielen – er war eben nur Nachahmer von Nachahmern, hatte nur eine erwähnenswerthe Liebe gehabt mit der Tochter eines Generals, war mit einem Worte gänzlich unbedeutend. Als er im vorigen Jahre bei Madame Hölty wohnte, kam er so wenig in die gute Genfer Gesellschaft wie Madame Hölty hineinkam, und – die Wahrheit zu sagen, langweilte er sich gränzenlos in dem »Schooße der Familie,« wie Bulwer sagen würde. Da lernte er eines Abends bei dem Scheine des Mondes und der Glühwürmchen Madame Picard kennen. Sie war gerade nicht ausgezeichnet hübsch, sie war auch nicht besonders unterhaltend, aber neben Madame Hölty und in dem langweiligen Genf überhaupt war sie eine Erscheinung, und Herr Leon stellte sich so geblendet, als habe er eine neue Sonne entdeckt. Madame Picard war es wirklich. Gewiß ist es, ihr Name konnte überall mit Herrn Leon in die Schranken treten, und der Preis der bessern Haltung nicht allein, auch des hübschen Aeußern wäre ihm geworden. An Kenntnissen, an Charakter war Herr Picard gleichfalls der Ueberlegene – Leon wußte so gut wie gar Nichts und war an Charakter so gut wie Null. Aber – er war Pariser, sprach von der Oper und seinem Schicksal, von Kirchthurmrennen und innerlicher Einsamkeit, von Toiletten und der Liebenswürdigkeit Paulinens. Der kleine Roman war angefangen, und wenn er nicht fortgesetzt wurde, so lag das nicht an Leon, sondern an der Gelegenheit. Pauline hatte keinen Salon, Leon durfte selbst nicht wagen, ihr sogleich einen Morgenbesuch zu machen. Ein Brief seines Bruders, bezüglich auf die Plane ihrer Partei, rief ihn unvermuthet zurück; er reis'te ab, ohne Pauline öfter als zwei Mal gesehen zu haben. In Paris vergaß er ihrer bald ganz – Pauline dachte seiner um so eifriger – es war der erste Mann, welcher sich ihr als Anbeter genähert. In Genf giebt es keine Anbeter für Frauen: die Seltenheit gab Leon einen unberechenbaren Werth. So oft Herr Picard als Ehemann sprach, dachte Pauline an Leon und sagte sich: »er würde nicht so sprechen.« Es ist der beste Beweis für Paulinens Unverdorbenheit, daß sie diese erste kleine Koketterie so ungemein ernsthaft nahm, doch konnte auch eben darum Gefahr in einem Wiedersehen Leons liegen. Er für sein Theil erinnerte sich der hübschen Waadtländerin erst wieder, als er sich drei Abende nach einander mit seiner Mutter und ihren Freunden aus Lyon bei Whist und Zuckerwasser gelangweilt hatte.
Der große Tag kam. Madame Hölty machte im Salon ein mächtiges Geräusch. Der Sopha wurde ganz anders gestellt, neben die zweite Thür, welche unmittelbar in den Garten führte. Die Deutsche, welche in ihrem Stübchen oben das Gerassel der Vorbereitungen gehört, kam herunter und gab ihr Wort dazu. Zwei Lehnsessel waren vorhanden; sie ließ sie von der Wand an den runden Tisch vor den Sopha rücken. Es ist in Genf Sitte, daß besagter runder Tisch mit Büchern geschmückt werde, und zwar in der Art, daß die Bücher gleich Radien eines Kreises liegen. Auch hier war es der Fall; alle Bücher Louisens waren ausgebreitet. Die Deutsche meinte, das passe nicht zu einer Soirée. Madame Hölty sah kläglich aus; im ganzen Hause gab es keine andere Bücher. Die Deutsche entschloß sich kurz, holte aus der Reisebibliothek ihres Mannes eine Menge Sprachlehren und Wörterbücher und garnirte damit den Tisch. Die Kinderbücher wurden in eine Ecke einquartirt neben einem schadhaften Damenspiel und einem ehemals eleganten Kästchen, und der Salon hatte auf einmal eine ganz eigene Physiognomie, ein gewisses »capables Ansehen« angenommen.
Der Mittag ging wie gewöhnlich des Sonntags vorüber – die Genfer lobten Gott, indem sie in Paquis knatternd nach der Scheibe schossen, Herr Hölty hatte am frühen Morgen Fische gefangen, welche nebst Rindfleisch und einem Kuchen das Diner ausmachten. Die Kinder aßen den Gästen mehr fort, als diesen lieb war, der Hund bettelte am Fenster und bekam Nichts – es war, wie es schon sechs oder sieben Mal gewesen war. Aber am Abend sollte es anders sein.
»Madame Picard wird wohl etwas früher kommen, um den Abend im Garten genießen zu können,« sagte Madame Hölty.
»Wer kommt noch außer Madame Picard?« fragte die Deutsche. Die Engländerin konnte kein Wort Französisch, folglich auch keine Frage thun. »Kommt Herr Picard auch?« fragte die Deutsche.
Nein, Herr Picard war auf einer Reise, es kamen außer Madame Pellet und Herrn Leon nur noch ein Ehepaar aus Lyon und die Nichte der Madame Hölty, »die ein Stück spielen solle«.
Die Deutsche lachte über die ungemein glänzende Versammlung.
Ein Herz schlug dieser Gesellschaft doch entgegen, so lächerlich klein sie auch war. Pauline aß kaum Etwas zu Mittag. Die Kinder wurden gescholten, die Bonne bekam Verweise. Pauline war fieberhaft erregt, hatte Kopfweh. Ob sie nicht lieber absagen sollte? Am Ende – eine Soirée bei Madame Hölty – Gott, man wußte ja, wie langweilig das war. Allerdings, heute waren Fremde da. Von der Deutschen hatte Pauline schon viel gehört. Der Mann sollte noch jung und sehr angenehm, die Frau eine gute Sängerin sein. Dann die Engländer – Pauline mochte Engländer leiden, sie waren meistens originell, »und etwas Originalität thut einem in Genf von Zeit zu Zeit Noth,« seufzte Pauline. Ja, der Fremden wegen wollte sie gehen. Und so – mußte sie sich anziehen.
Welches Kleid? Putzen konnte man sich nicht gut, aber elegant mußte man doch auch aussehen. Die beiden Fremden würden sich gewiß sehr schön machen. Pauline entschied sich für ein schwarzseidenes Kleid, eine elegante Collerette, eine nelkenrothe Cravatte. Ein schwarzes Tuch um den Kopf wurde nicht vergessen, ein Ueberwurf angezogen, welcher den Wuchs gut hervorhob, dann der Hut aufgesetzt – Pauline wußte nicht, wie sehr er sie entstellte, und hätte sie es auch gewußt, man kann doch in einer Vorstadt von Genf nicht ohne Hut gehen. Pauline rief den Zwillingen, welche Georges die Freunde Picard nannte, übergab Emil der Bonne, warf nachlässig hin, sie werde bald wiederkommen, nahm den Sonnenschirm in die Hand und das gleichgültige Gesicht an und begab sich comme il faut zu Madame Hölty.
Georges nahm am Gartenthor die Zwillinge in Empfang; Louise, im weißen Kleide mit blauer Schürze, eilte den Gang hinauf, wo die Mutter mit der Deutschen war. Madame Hölty stellte »ihre Freundin« vor. Madame Picard erschrak – die Deutsche hatte weder Hut noch Handschuhe. Auf eine sehr faselige Art freute sie sich, die Bekanntschaft Paulinens zu machen, versicherte dann, sie könne unmöglich den schönen Abend vorbeigehen lassen, ohne sich noch etwas zu rudern und lief an den See, wo ihr Mann bereits einen Kahn losgemacht hatte. Madame Hölty führte Pauline an die Gartenmauer, und sie sahen, wie das Ehepaar lustig in den klaren See und in die laue Luft hinausruderte. »Das ist alle Abend ihr Vergnügen,« sagte Madame Hölty, »wird sie müde, so rudert er allein – nie fast fahren sie mit Jemand sonst. Und das dort ist der Engländer, der fährt seine Frau auch.« Pauline folgte den leichten Barken, deren jede ein allem Anschein nach vollkommen glückliches Paar trug, mit dem Blicke eines stillen Neides. Warum konnte sie nicht auch so fahren, gerudert von einem Manne, der sie anbetete, gleichsam Königin in der Schönheit dieses Abends? Eine Erbitterung gegen ihren Mann ergriff sie, wie sie noch nie empfunden – »an ihm rächen möcht' ich mich,« dachte sie. »Madame, wie glücklich bin ich, Sie wiederzusehen,« sagte eine Stimme hinter ihr. Erröthet wandte sie sich um. Leon Pellet stand da und begrüßte sie mit ausdrucksvollem Blicke. Er hatte kein schönes Organ, aber er sprach in reinem Französisch, und Pauline glaubte, eine Bewegung in seinem Tone zu errathen. Er hatte auch kein schönes Auge, – es war stechend und bisweilen selbst zweideutig im Ausdrucke, aber er heftete es fest auf Pauline, und sie bedurfte es in diesem Augenblicke so sehr, bewundernd angesehen zu werden. So dünkten denn Auge und Stimme ihr liebenswürdig, ja, sogar bestechend.
Leon war mit seiner Mutter gekommen – er war jetzt ein so guter Sohn, daß er seine Mutter nie ohne die Stütze seines Armes gehen ließ. Aber die alte Dame spazierte mit Madame Hölty in einiger Entfernung auf und ab, und Pauline fand sich nicht veranlaßt, die ersten Schritte ihr entgegenzuthun. Sie setzte sich vielmehr auf eine grüne Bank, die zwischen Rosen stand. Leon stützte sich auf die Lehne. Pauline athmete laut auf – sie hatte jetzt auch einen Mann neben sich, der nur auf sie sah, nur mit ihr redete. Allerdings war es nicht der ihrige, aber – man kann nicht immer Alles haben.
Sie sprachen. Die Unterhaltung, welche Leon mit ihr führte – es bedurfte keiner Genferin, um sie zu führen, wenn nämlich die Genferinnen sich wirklich durch größeren Ernst und tieferen Gehalt auszeichnen sollten. Der See war das Thema, das uralte und alltägliche Thema, welches zum tausendsten Male in derselben Art abgehandelt und abgewandelt wurde. Der See war schön, wer wollte es läugnen? Das Gartengestade drüben lag in prächtiger Dunkelheit auf dem violetduftigen Jura. Die Stadt links, beherrscht von der zweithürmigen Kathedrale, war kraftvoll in die gelbliche Glorie des Himmels gemalt. Rechts hin – wie lieblich verliefen nicht die Linien des Sees in die des Joral, und die Umrisse des Joral in den rosigen Osten! Und die vielen Fahrzeuge, welche auf der spiegelhellen Glätte in die Abendröthe schifften, rascher, langsamer, gewaltsam, ruhig, bald mit blähendem Segel, bald blos mit flatternden Wimpeln, gerudert von zwei, vier, sechs, acht Rudern. Ja, der Abend auf dem See war schön, aber um das zu empfinden, brauchte man blos eine Seele, um es zu sehen, nur zwei gesunde Augen.
Pauline ließ die ihren melancholisch einer kleinen Peniche folgen, worin eine Frau saß, während zwei Männer ruderten. »Ich möchte wohl,« ließ sie fallen und hielt inne. –
»Auch so fahren?« fragte Leon. »Ja, diese Beweglichkeit lockt an – man möchte sich hineinmischen. Haben Sie keinen Kahn? Ich würde Sie mit Vergnügen fahren.«
»Mein Mann liebt Wasserfahrten nicht,« erwiederte Pauline. »Für mich ist es eine Erinnerung an meinen heimathlichen See.«
»Ist der so schön wie dieser?« lispelte Leon.
»Für mich schöner. Doch natürlich heißt das mit den Augen des Herzens sehen.«
»Das beste Sehen, das richtigste.«
»Nicht immer.«
»Doch. Sobald Sie eine Person auf diese Art sehen, werden Sie ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen.« Ein Blick gab dieser Redensart ihre Anwendung.
Pauline erhob sich, anscheinend in Verwirrung. Sie spielte so gut wie Leon, nur eifriger als er. Er that's nur, weil er nichts Besseres zu thun hatte – sie, weil ihre Phantasie dadurch ergriffen war. In ihrer Rolle lag es jetzt, verstanden zu haben und auszuweichen; sie sagte leise, es werde kalt hier am See. –
Leon lächelte – es war ein unverschämtes Lächeln. Pauline nahm es nur für bedeutungsvoll. Er bot ihr den Arm. Der große Salève sah aus seiner blauen Höhe über die Bäume des Gartens herein. »Dort hinauf will ich einmal,« sagte der junge Mann. »Waren Sie schon oben?«
Pauline bejahte, setzte hinzu, sie erwarte binnen einigen Tagen Verwandte – mit denen wolle sie abermals hinauf. »O dann –« sagte Leon. Er erwartete eine Einladung; er irrte sich. Pauline kokettirte als Genferin, d. h. mit genauer Beobachtung einer gewissen Scheidelinie. Leon konnte sich ihr Entgegenneigen nicht mit ihrer Zurückhaltung zusammenreimen. Daß er sie interessirte, daß sie jede Bewegung in der Absicht machte, ihm zu gefallen – er sah es – warum lud sie ihn also nicht ein, sie auf den Berg zu begleiten? Ach, jetzt hatte er es errathen – die Verwandten!
»Aber ich glaube, wir sind ganz allein,« sagte Pauline plötzlich.
»Nun gut, was weiter?« fragte Leon, und drückte leise ihren Arm.
Sie schien nicht darauf zu achten, sondern flüsterte mit beredtem Augenniederschlage: »o, es ist hier nicht Sitte, einsame Spaziergänge am Ufer des Sees zu machen.«
Leon führte sie den andern Frauen nach und sagte ziemlich kühl: »sprechen wir von Politik, da wird es unschuldig. Sind Sie noch immer so entsetzlich streng gegen alle arme Demagogen?«
Die junge Frau kam beinah aus der Fassung. »Antworten Sie mir doch,« flüsterte er ihr zu, »man beobachtet uns dort.« Er deutete ihr mit den Augen Madame Hölty an, welche eben die Lyonneser bewillkommnete, dabei aber nicht wenig scharf nach der Seite schielte, von welcher das verspätete Paar kam. Leon fragte wieder laut: »Nun, hat James Fazy immer noch keine Gnade vor Ihren Augen gefunden, Madame?«
»Monsieur Fazy,« rief Pauline, Feuer fangend, mit natürlicher Lebhaftigkeit, »Monsieur Fazy ist eine Canaille.«
»Wenigstens eine Canaille, die Verstand hat,« sprach Leon, etwas betroffen. »Nur so läßt es sich erklären, daß die Conservativen, welche in der Mehrheit sind, ihn dulden.«
»Die Conservativen sind Schöpse!« rief Pauline wieder.
»So verdienen sie geschoren zu werden,« sagte Leon. »Aber, Madame, um Himmelswillen, wie leidenschaftlich sind Sie in der Politik!« Es ärgerte ihn, daß sie in der Politik nicht so kühl Maaß hielt wie in der Koketterie. Er wurde einsylbig, zerstreut. Umsonst setzte Pauline, nachdem sie die Lyonneser begrüßt, den Spaziergang fort, umsonst fing der Mond an zu scheinen, umsonst duftete das Geißblatt – Leon blieb fremd. Pauline wurde dagegen lebhafter, sie wollte ihn wieder so haben, wie er eben gewesen war. Ganz ausschließlich mit ihm beschäftigt, kam sie endlich in den Salon und wies ihm einen Stuhl neben dem ihrigen an. Leon setzte sich und betrachtete den Fußboden. »Was ist Ihnen?« fragte Pauline leise. »Nichts,« antwortete er mit einem sehr geschickt modulirten Tone. Pauline hörte Empfindlichkeit über ihre Zurückhaltung, dabei Trauer, unterdrückte Leidenschaftlichkeit heraus. Sie glaubte wirklich Leons Herz erfaßt zu haben und nach Gefallen schmerzhaft oder freudig erschüttern zu können. Gerührt ließ sie ihre Augen ihm allerlei Versicherungen der Milde und Güte ertheilen. In diesem Augenblicke traten die Fremden ein, die Deutsche zuerst, dann die Engländer. Madame Hölty verstand nicht, die Wirthin zu machen; sie stellte die Fremden der Gesellschaft, aber nicht diese jenen vor. Die Engländerin setzte sich bequem hin und ließ sich von ihrem Manne unterhalten; die Deutsche tauschte mit dem ihrigen flüsternd Bemerkungen aus. Auf Pauline und Leon deutend, sagte sie: »Ich glaube, das ist das Ehepaar aus Lyon.« Sie erkannte, kurzsichtig wie sie war, Pauline ohne Hut nicht wieder. »Nur sieht der Mann wie der Pariser aus,« wandte der Deutsche ein. – »Ja, aber der Pariser ist nicht verheirathet. Nein, nein, das sind Herr und Madame Caille oder wie sie heißen, aus Lyon, und Herr Pellet ist der junge Mann dort oben.« Zu gleicher Zeit flüsterte die Engländerin gegen ihren Mann: »Das ist ein hübsches Gesicht – ihr Mann scheint sie sehr zu lieben.« Pauline gehabte sich auch wirklich wie eine nicht lange verheirathete Frau; Leon neben ihr hatte ganz das stille Wesen eines zufriedenen, aber gehaltenen Ehemannes – man konnte nicht anders als Beide für verheirathet annehmen. Die Deutsche fragte Madame Hölty, die eben vorbeikam, wie lange sie es wären. Madame Hölty lächelte. »Das – aber das sind ja –« und die Erklärungen. Die Deutsche lachte. »Dann ist's eine hübsche kleine Courmacherei.« – »Ja wohl – wir haben es schon voriges Jahr bemerkt, und mein Mann war sehr unzufrieden damit.« Die Deutsche blickte Madame Hölty einen Augenblick scharf an.
Pauline kam jetzt zu der Deutschen und bat und hoffte, sie möchte und würde sich doch hören lassen. »Nach Ihnen, Madame,« antwortete die Deutsche. »O, ich, Madame!« Alle kleinen nöthigen Weigerungen erfolgten, dann setzte Pauline sich an den Flügel, ließ ihr Tuch flattern, ihre Schultern arbeiten, ihre Augen spielen und ihre Walzer hören. Leon hatte ihr Aufstehen eilends benutzt, um sich in den Eßsaal zu begeben und mit Herrn Hölty einige Gläser Wein zu nehmen; als er darin befriedigt war, kam er geräuschlos wieder und setzte sich auf den Sopha. Pauline ließ, da sie ihn nicht erreichen konnte, einige Augenblitze zu dem Deutschen und dem Engländer fliegen, die beide näher saßen. Leon bemerkte es und machte sich innerlich lustig über die verlorene Koketterie, denn beide Männer schienen mit Kaltblütigkeit wahrhaft gepanzert. Und doch war Pauline bei Weitem hübscher als die Deutsche und die Engländerin, aber beide Frauen gaben sich keine Mühe, und Leon fand sie auf einmal weit mehr der seinigen werth. Mit der Engländerin konnte er nicht sprechen, da sie nicht seine, er nicht ihre Sprache verstand; blieb also die Deutsche. Sie sang jetzt, Melodien in vier oder fünf Sprachen. Pauline, welche befürchtete, die Aufmerksamkeit könne sich ausschließlich auf den Gesang wenden, bewegte sich mit ihrer hübschen Gestalt unaufhörlich bald da, bald dort. Vor Leon stand sie mehrmals; seine Mutter machte ihr Platz, sie setzte sich neben ihn. Sie hatte jetzt die Besonnenheit verloren und that alles Mögliche, um sich »zu affichiren.« Leon war ungemein »Löwe,« d. h. erhaben und gelassen. Nachdem er Paulinens Lebhaftigkeit eine Zeit lang ertragen, stand er auf und nahm einen Stuhl neben der Deutschen, die eben heimlich mit der Engländerin plauderte. Sie sah ihn kommen und belustigte sich über Paulinens sichtliche Unruhe. Die hübsche Waadtländerin wußte erst gar nicht, was sie machen sollte; dann lockte sie den Deutschen an den Flügel und brachte ihn dazu, eine unserer schönsten Compositionen zu spielen, wobei die Gesellschaft sich über alle Maßen langweilte. Leon saß immer geduldig da und wartete auf die Gelegenheit, sich liebenswürdig zu zeigen. Endlich war die gute Musik aus, Pauline ließ ihre Beredtsamkeit über den Deutschen ergehen, Leon wandte sich entschieden zu seiner Nachbarin und flüsterte ihr in den weichsten Tönen seine Bewunderung über ihren Gesang zu. Pauline flatterte wie ein Vogel über Kohlen – die Deutsche sah es und ging, boshaft genug, in ein Gespräch mit Leon ein. Pauline überredete den Deutschen, eines ihrer Walzerhefte dazubehalten – es knüpfte sich so eine Bekanntschaft an, – die Deutsche erhob sich, um auf Leons Bitte ein venetianisches Gondellied zu singen. Die arme Pauline – sie allein war bei diesem Spiel ernsthaft; Leon wünschte, eben so sehr wie ihr, der Deutschen zu gefallen – diese lachte innerlich herzlich, ebenso ihr Mann. Die Koketterie ist wie das Feuer; man verbrennt sich, wenn man damit spielen will. Pauline ward ganz verwirrt, ganz beängstigt; ihr war, als gehöre Leon ihr, als müsse sie alle ihre Kräfte anstrengen, um ihn festzuhalten. Mehr und mehr gab sie sich ihrer Aufregung hin und der ganzen Gesellschaft ein ergötzliches Schauspiel. Erst als der Aufbruch da war, beruhigte ihre aufgescheuchte Eigenliebe sich in Etwas; sie sah sich wieder als den Punkt, auf den Aller Augen sich hefteten. Der Engländer half ihr den Ueberwurf anziehen, der Deutsche dankte ihr für die Noten, Leon stand bereit, ihr den Arm zu bieten. Wenigstens einigermaßen beschwichtigt trat sie hinaus in die schöne Nacht.
Die beiden Häuser lagen, eines am Anfang, das andere am Ende der Eaux-vives. Eine Viertelstunde war's wohl von einem zum andern, besonders wenn man langsam ging. Das wollte die Gesellschaft, denn der Abend war köstlich. An Sommerabenden versetzt Genf wirklich in den Süden. Nicht wie am Tage entbehrte man den Schatten der im Frühjahr behauenen Platanen. Es war so spät, daß die Straße einsam war. Zu beiden Seiten dufteten die Gärten der Campagnen und kleineren Besitzungen. Auch aus diesen Düften hauchte etwas Südliches Beschleunigung in das Blut. Der Mond leuchtete.
Welch eine Stunde zu einer verschleierten Erklärung! Pauline ging, tief athmend vor Erwartung, an Leons Arm. Daß Herr Hölty, mit ihren Noten unter dem Arme, als selbstbestellter Ehrenhüter seines Freundes und Principals an ihrer rechten Seite trabte, störte sie wohl etwas, beunruhigte sie aber nicht. Der Mann verstand ja nicht, was sie mit Leon sprechen konnte. Sie wandte ihr Gesicht zu Leon; er sah sie ernsthaft an und sprach kein Wort.
Wollte er so die Zeit verstreichen lassen? Wann sahen sie sich dann wieder? Es konnte ja nur zufällig sein. Pauline wurde ungeduldig und sprach so kokett, wie sie ihres Wächters wegen nur konnte. »Sie haben sich viel mit der deutschen Dame unterhalten. Spricht sie gut?«
»Das Französisch schlecht aus, sonst gut,« erwiederte Leon gehalten. Er sah Pauline ankommen.
»Lieben Sie es, mit deutschen Frauen zu sprechen?« fuhr Pauline unruhiger fort.
»Sie sind tief im Gefühl,« sagte Leon mit einem gewissen Nachdruck.
»Sind sie allein das?« fragte die Unvorsichtige.
Leon schwieg.
»Trauen Sie uns kein Gefühl zu?« forschte sie dringender.
»Ich achte die Schweizerinnen unbegränzt,« erklärte Leon.
»Warum sollten Sie auch nicht?« gab Herr Hölty dazu.
Pauline ließ sich wirklich reizen. »Ach, aber liebenswürdig sind wir nicht, nicht sentimental, wie – die Deutschen?«
»Die deutsche Dame bei uns ist gar nicht sentimental, sondern sehr vergnügt,« schaltete Herr Hölty wieder ein. »Das Schießen kann sie nicht leiden, sonst ist's eine gute Person.«
Leon benutzte diese Rede und warf in Paulinens Ohr: »Wenn Sie wollten –«
Sie wurde wieder Komödienspielerin, that als zittere sie.
Leon seinerseits ließ sich täuschen, glaubte die junge Frau berückt zu haben, ihrer endlich sicher zu sein. Leise brachte er seine Finger an ihre Hand, berührte diese mit einem Drucke, in den er Willen und unwillkührliche Aufregung zugleich legte. Paulinens Eitelkeit war befriedigt, aber kein Puls ihrer Hand klopfte schneller. Sie war in diesem Augenblicke noch härter und unwahrer als Leon. Er ahnte das nicht; die Eitelkeit, welche sie kühl und sicher machte, verwirrte ihn. Sein Athem streifte glühend Paulinens Wange. »Wenn ich mich nicht getäuscht,« flüsterte er, »wenn Sie für mich –« Pauline lauschte, mit ihren Augen an seinem Munde hängend – der gute Hölty wußte gar nicht, warum die beiden Leute auf einmal so stumm wurden und suchte in seinem Kopfe nach einer Rede, um das Stillschweigen zu unterbrechen. Leon fuhr fort: »Seit vorigem Jahre denke ich nur an Sie, und Sie, Madame –« Pauline blickte nieder wie in tiefer Befangenheit. »O mein Gott, wenn Sie nur einen Gedanken an mich gehabt hätten – wenn ich – wäre es zu dreist, Ihr Schweigen so zu deuten?« Sie schien Etwas murmeln zu wollen. »Sprechen Sie nicht, ich bitte Sie – Sie wissen, was das Schweigen mir sagen soll – ein Gedanke, wie wenig, – für mich die Welt, für Sie – ein Augenblick, welchen Sie der Toilette abgewendet haben, – bin ich nicht bescheiden?«
Pauline triumphirte, und sie hatte ein Recht dazu – Leon war in dieser Minute wirklich verliebt. Gern wäre er mit Paulinen wieder am Rande des See's gewesen, gern hätte er vor Allem die Begleitung seines Freundes Hölty entbehrt. Aber Hölty wich nicht von der Seite der hübschen Frau und der – war es jetzt ganz erwünscht, – sie fürchtete sich beinah etwas vor Leon. Er kam bald dazu, den unbequemen Wächter zu verwünschen. »Kann man unleidlicher sein?« flüsterte er Paulinen zu. Da kamen sie an das Picard'sche Haus. Hölty öffnete die Gartenthür. »Wann darf ich morgen kommen?« fragte Leon rasch und leise. Pauline entzog ihm ihren Arm, sah plötzlich wie eine Siegerin auf den Versucher. »Morgen bin ich noch allein und nehme keine Besuche an,« sprach sie gezwungen. »Von übermorgen an ist Herr Picard jeden Abend um sieben Uhr zu Hause – da wird er sich ausnehmend freuen.« – »Sie sind ausnehmend gütig, Madame,« erwiederte Leon, sich verbeugend. Pauline grüßte fürstingleich, nahm von den Uebrigen ebenfalls einen vornehmen Abschied. Sie glaubte, Leon gegenüber eine Stellung eingenommen zu haben, die Stellung der angebeteten Gebieterin gegen den gedemüthigten Sklaven. Sie irrte. Leon verschluckte allerdings einen nicht geringen Aerger, aber er ärgerte sich nicht über eine Minute. Als Herr Hölty Madame Pellet und der Lyonneser Familie gute Nacht gewünscht und seinem Hunde gepfiffen hatte, um mit ihm noch etwas spazieren zu laufen, hatte Leon sich schon wieder gefaßt, bot, kühl wie eine Gurke, seiner Mutter den Arm und führte sie mit der größten Liebenswürdigkeit in die Stadt zurück.
»Ich werde das Madame Picard doch sagen,« sprach am Morgen nach der Abendgesellschaft Madame Hölty in ihrem Garten, wo sie die Deutsche abgefangen hatte.
»Thun Sie es nicht,« sagte die Deutsche. »Sie würde sich dadurch geschmeichelt fühlen, so wenig schmeichelhaft es eigentlich auch für sie ist. Thun Sie, als bemerkten Sie diese kleine Thorheit gar nicht, dann vergißt Madame Picard sie von selbst. Sie beachten heißt sie befördern.«
»Glauben Sie, Madame?« fragte Madame Hölty. Eine Stunde später stand sie am Gitter von Paulinens Garten. »Und wie geht es Ihnen, Madame Picard? Haben Sie gut geschlafen? A propos, denken Sie sich, gestern hat man Sie und Herrn Leon für ein Ehepaar gehalten!« – »Ist es möglich? Wer, wer denn?« – »Wer denn anders als die Deutschen und die Engländer. Das ist sonderbar, nicht wahr?« – »Unbegreiflich,« sagte Pauline, ganz roth vor Freude.
»Ein Beweis, wie sehr Herr Leon Ihnen gehuldigt,« bemerkte schmeichlerisch die wahre Freundin. »Nur müssen Sie es ihn nicht zu arg machen lassen – denken Sie, wenn Herr Picard –«
»Ich weise Herrn Pellet schon in seine Schranken zurück,« sprach Pauline stolz. »Allerdings, er würde zu weit gehen – ich weiß nicht, was ihn zu mir zieht, vermuthlich die Langeweile.« Pauline lächelte hier – man sah, daß sie sich selbst kein Wort glaubte; aber wieder einen hohen Ernst annehmend, fuhr sie fort: »Er soll indessen sehen, daß ich keine Pariserin bin; er soll andere Grundsätze kennen lernen, als die leichten, welche er bisher einzig unserm Geschlechte zugetraut. Ich will ihn nöthigen, die Frauen in mir zu achten. Denken Sie, was ich Ihnen vorhin schon sagen wollte – er hat mich gefragt, wann ich ihn annehmen könnte. Ich habe ihm geantwortet –« und Pauline erzählte, was sie geantwortet. Madame Hölty war voll Bewunderung. »Das wird ihn getroffen haben,« sagte sie.
Nachmittags theilte sie der Deutschen getreulich den Hergang mit. »Also haben Sie es doch nicht verschweigen können,« sagte die Deutsche lachend. »Daß Herr Pellet übrigens um Erlaubniß zu einem Besuche gebeten hat, ist das Wenigste, was er thun konnte; Madame Picard kann nach ihrem gestrigen Betragen noch froh sein, wenn sie kein Billet von ihm bekommt.« – »Meinen Sie, Madame?« – »Allerdings.«
»Der guten Hölty würde ich in Stelle der Madame Pellet nicht trauen,« bemerkte die Deutsche gegen ihren Mann und den Engländer.
»Was soll sie denn der alten Madame Pellet thun?« fragte der Deutsche.
Lachend antwortete die Deutsche: »Ich verwechsele in einem fort die Namen – die beiden Menschen müssen durchaus noch ein gemeinsames Schicksal haben. Ich wollte sagen, daß Madame Hölty sich trösten würde, wenn ihre liebe Madame Picard sich ein wenig compromittirte.«
»Warum denken Sie so Böses?« fragte der Engländer.
»Welche finden Sie hübscher?« fragte sie zurück. »Madame Picard oder unsere liebenswürdige Wirthin?«
»Das ist wohl kein Zweifel.«
»Welche ist jünger, welche eleganter, welche hat allenfalls die Erlaubniß zu kokettiren?«
»Alles kein Zweifel.«
»Nun, wie können Sie mich da nicht verstehen – wollen? Warten wir's ab – es ist eine völlige Novelle – Nichts fehlt, nicht einmal die heuchlerische Vertraute – Madame Hölty spielt sie mit möglichster Natürlichkeit.«
»Und wie wird das Ende sein?«
»Ueberall wo anders würde es zu einem – komischen oder höchstens dramatischen Ende kommen, hier in Genf besteht das Ende darin, daß es eben kein Ende giebt.«
»In der That?«
»Ja,« sagte die Deutsche anmaßend, »in der Schweiz giebt es keine Romantik.« Sie sagte das mit der vollkommensten Ueberzeugung.
Madame Hölty, die sich nicht träumen ließ, wie gut sie errathen worden, befand sich unterdessen zum zweiten Male vor dem Stacketenzaun am Picardschen Garten.
»Die deutsche Dame sagt, sie würde sich gar nicht wundern, wenn Herr Leon Ihnen noch heute die glühendste Liebeserklärung schriebe.«
»Ach,« antwortete Pauline mit schlecht unterdrücktem Entzücken, »die Deutschen sehen Alles mit poetischen Augen an. Herr Leon denkt nicht daran, mir eine Erklärung zu schreiben – überdies würde ich sie auch ungelesen zurückschicken,« setzte sie, sich auf ihre Würde besinnend, feierlich hinzu.
Der ächten weiblichen Logik nach wartete Pauline den ganzen Abend, sowie den ganzen nächsten Morgen über auf einen glühenden Brief von Leon. Es kam kein Blättchen, wohl aber um Mittag Herr Picard.
Seine Frau gab ihm kaum die Hand. Obgleich Genfer, fand er diesen Empfang doch zu kalt – es gab eine Scene, nur machte dieses Mal Monsieur die Vorwürfe. Pauline fand keine Zeit, darauf stolz zu werden – die kommen sollende Liebeserklärung ging ihr im Kopfe herum. Sie kam immer noch nicht. Dagegen am Dienstag Abend Leon in eigener Person, aber nur, um mit seiner Mutter am Arm vorüber und zu Madame Hölty zu gehen.
Das machte Pauline ungeduldig, regte sie auf. Wollte er die Deutsche wieder singen hören? Pauline hätte sich deßwegen beruhigen können, die Deutsche sang nicht, aber Leons Mutter fand Geschmack an ihrer Unterhaltung, und noch zweimal in dieser Woche sah Pauline den jungen Pariser vorbeigehen, immer fein spießbürgerlich die Mutter führend. Da sie das Warum dieser Besuche nicht wußte, verlor sie sich in den allerfalschesten Vermuthungen. Die gelassene kleine Engländerin sogar blieb nicht frei. Pauline hielt nun einmal Leon für unwiderstehlich und glaubte, beiläufig gesagt, auch nicht an Frauen ohne Koketterie.
Warum machte Pauline denn nicht kurz und gut einen Besuch und sah, wie die Sachen standen? Sie schämte sich ganz im Geheimen vor den beiden Frauen, die sie so naiv für Leons Gattin gehalten. Und warum erkundigte sie sich denn nicht bei Madame Hölty? O, Madame Hölty hatte jetzt so viel zu thun mit Wäsche für ihren Mann, mit Blousen für Georges und Kleidern für Louise! Madame Hölty wußte recht gut, daß Pauline neugierig sein würde, darum hütete sie sich wohlweislich zu kommen.
Der Deutsche machte endlich einen Besuch, um die ihm geliehenen Noten zurückzubringen. Pauline sprach während der Stunde, die sie ihn festhielt, außer von sich, nur von Leon. Der Deutsche half ihr indessen auf keine Spur; er lobte Herrn Pellet als einen sehr angenehmen Mann, wunderte sich, daß er roth gewesen sein sollte, stimmte völlig Paulinens politischen Kraftmeinungen bei, half ihr aber, wie schon gesagt, auch nicht zu dem kleinsten Faden, der sie in dem Labyrinth von Leons völligem Schweigen leiten konnte. Nur das erfuhr sie von ihm, daß seine Frau noch nicht wieder gesungen habe.
Es war ein schöner Morgen, noch ganz früh, Madame Hölty aber schon auf und im Garten. Da hörte sie ihren Hund bellen, Georges »Guten Morgen« sagen, hörte hinter sich einen Tritt, sah sich um und erblickte Herrn Leon.
»Ach, Herr Leon,« sagte sie holdselig und reichte ihm die Hand, »so früh! Was bringen Sie?«
»Ein Geheimniß,« antwortete er mit einem Ausdruck von Behaglichkeit.
»Ein Geheimniß?« wiederholte Madame Hölty. »Ein gutes, hoff' ich?«
»O, das allerbeste.«
Sie setzten sich auf die Bank, Georges wurde zum Hunde geschickt. Madame Hölty war voller Erwartung.
»Ich bin verliebt,« fing Leon ohne alle weitere Einleitung an.
Verliebt – Madame Hölty fühlte eine gewisse Unruhe – wollte er sie zur Vertrauten machen – das ging doch unmöglich an, Herrn Picards wegen.
Leon wiederholte nachdrücklich: »Ja, ich bin verliebt, sehr verliebt, und will heirathen.«
»Was, Sie wollen Madame Picard heirathen?« fuhr Madame Hölty heraus.
»Madame Picard heirathen?« fragte er ihr nach und sah sie groß an. »Was fällt Ihnen ein? Was sollte ich mit Madame Picard? Ein junges Mädchen will ich heirathen, ein bildhübsches junges Mädchen aus Marseille, mit vielem Vermögen, aus sehr guter Familie.«
Man sieht, Madame Hölty hatte den armen Leon verläumdet, indem sie ihn als Rothen schilderte – er war der conservativste Mensch. Auch sah sie ihn ganz verblüfft an und konnte sich gar nicht in das ihr geschenkte Vertrauen finden. Endlich fragte sie: »Und seit wann, wie, wo sind sie denn auf diesen Gedanken gekommen?«
»Seit wann? Im vorigen Winter. Wo? In Paris. Wie? Indem ich mich verliebte und die Partie wünschenswerth fand. Da jedoch mein künftiger Schwiegervater auch von mir ein gewisses Einkommen verlangt, und ich leider beinahe Nichts mehr besitze, so mußte ich meine Mutter zu gewinnen suchen, damit sie Etwas für mich thue. Deßwegen bin ich hergekommen und habe mich so aufgeopfert. Nun, ich bin auch belohnt worden – meine Mutter willigt ein, setzt mir eine hübsche Summe jährlich aus, – wünschen Sie mir Glück, ich bin Bräutigam. Jetzt begleite ich nur noch meine Mutter nach Hause, dann reise ich sogleich nach Frankreich, und in zwei oder drei Monaten hoffe ich, Ihnen meine junge Frau vorstellen zu können.«
Die Freude Madame Hölty's war groß und aufrichtig; Leon war ihr entschiedener Günstling. Plötzlich sah sie sehr erschrocken aus und fragte: »Aber Madame Picard?«
»Nun wohl, Madame Picard?« erwiederte Leon. »Was ist's mit Madame Picard? Ich habe ihr im Vorbeigehen etwas den Hof gemacht, und hoffe, sie wird mir erlauben, ihr ebenfalls meine junge Frau vorstellen zu dürfen.«
Da Leon Madame Hölty ersucht hatte, seine Mittheilung geheim zu halten, konnte es nicht fehlen, daß sie zu Mittag ihre Fremden davon in Kenntniß setzte. Die Deutsche klatschte in die Hände und rief: »Das ist allerliebst – die Novelle endet, wie ich gesagt, ohne Ende.« Dann wurde sie ernsthaft und setzte hinzu: »Auch wenn Herr Pellet liebenswürdiger wäre als er ist, möchte ich ihn doch nicht zum Manne haben. Ein sauberer Bräutigam das!« Die Engländerin war, als man ihr den Verhalt verdollmetscht, ganz derselben Meinung; der Engländer versuchte, den Pariser zu entschuldigen, wurde jedoch überstimmt. Dann kam die Frage zur Sprache: ob und durch wen Madame Picard es erfahren solle. »Sie müssen es ihr sagen, Madame Hölty,« entschied die Deutsche.
»Ich sehe nicht ein, warum, Madame,« erwiederte Madame Hölty, auf einmal zurückhaltend. »Sie scheinen sich wunderbare Gedanken über Madame Picard zu machen; es kann ihr doch völlig einerlei sein, ob Herr Pellet heirathet oder nicht.«
»Ach, Sie sehen es nicht ein? Sie haben vollkommen Recht,« sagte die Deutsche nachlässig, im Innern aber ergriff sie jetzt für die arme Pauline Partei. »Sie soll es erfahren,« dachte sie, »ganz einfach, ohne daß sie dadurch plötzlich überrascht, noch einmal Stoff zu hämischen Betrachtungen liefern soll.« Wie man sonst sagt: ein Mann, ein Wort; so heißt es hier: eine Frau, ein Wille. Die Deutsche fand es plötzlich nöthig, vor ihrer nahen Abreise Paulinen einen Besuch zu machen. Da, neben der hübschen Waadtländerin sitzend, erwähnte sie ganz obenhin, was sie wußte. Die arme Pauline ward roth und blaß – es traf sie unvermuthet. Ihren Anbeter hatte sie in Leon zu sehen geglaubt, und nun war er ein Bräutigam. »O, die Männer waren doch alle gleich schlimm!« seufzte sie innerlich. Die Deutsche sagte lächelnd: »Was meinen Sie, beneiden wir die Braut? Ich muß Ihnen bekennen, nach zehnjähriger Ehe ziehe ich meinen Mann noch tausend Mal dem verbesserten Demokraten, Herrn Leon, vor, und Sie werden wahrscheinlich eben so denken. Er ist, ich weiß nicht warum, das Ideal unserer guten Madame Hölty – nun, der Geschmack ist frei, aber hier, unter uns, nicht gut. Herr Leon riecht immer so grenzenlos nach Taback.« Und sie machte ein Gesicht, als wäre damit ein Mann unwiderruflich verurtheilt.
Pauline lachte bald mit dem größten Aplomb über den Löwen ihrer Träume. Es ist gut, daß man sich so leicht fassen kann, wenn man eben nur kokett gewesen. Als Pauline Madame Hölty sah, sprach sie schelmisch: »Nun, und Herr Leon?« Madame Hölty wollte Nichts wissen. »Aber ich weiß Alles,« sagte lachend Pauline. »Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, jetzt könne er mich besuchen, wann er wolle. Ich möchte gern von seiner Braut hören.«
Leon machte diesen Besuch nicht und hörte auch mit Gleichmuth von Paulinens Gleichgültigkeit. Madame Hölty ärgerte sich darüber; sie hätte Paulinen »gern einmal Etwas gegönnt.« Pauline aber ist seitdem ernster geworden und scheint ihrer guten Freundin keine Gelegenheit mehr zu freundlichen Wünschen geben zu wollen. Leon ist bereits seit zwei Monaten Ehemann, will aber bis jetzt noch nicht nach Genf kommen, weil er es zu demokratisch fand. Wie man sagt, stimmt Leon jetzt für die Legitimisten.
Wie kommen wir hierher? Vorgestern und gestern waren in Einsiedeln zum Geburtstag der Jungfrau achttausend Pilger, und alle sechszehn Glocken läuteten mit geringer Unterbrechung von früh vier bis acht Uhr Abends. Aus meinem Fenster sah ich unaufhörlich das Hinundwiederströmen, wie ein buntes Schattenspiel, auf dem weiten, farblosen Platze zu unsern Füßen. In schwerer Ermattung kamen die Weithergewanderten, auf dem Rücken ihr armes Gepäck, auf der Stirn Staub, im Herzen wohl Kummer oder Reue, tranken an jeder der Röhren, aus denen der heilige Brunnen strömt, und gingen dann noch erst in die Kirche, bevor sie ein Obdach suchten, das zu finden ihnen oft vieles Bitten kosten sollte. »Mühselige und Beladene« dachte ich immerfort, und mir war's, als legte das ganze Leben erdrückend sich auf meine Brust. Ein finsteres Gewitter stand hinter den Tannenwäldern, starke Donner rollten linkshin in Glarus, das graue ausgedehnte Kloster ward von grellen Lichtern schneidend beleuchtet. In der Nacht glaubt' ich immer, es wolle mit seinen beiden gewaltigen Thurmarmen mich umschließen und zu Tode pressen. Fort wollt' ich, fort, fort, gleichviel wohin. Wir fanden einen Kutscher aus Brunnen und eben als die Procession sich geisterhaft zu entwickeln begann, fuhren wir dem Vierwaldstädter See zu. Mir war's gleich, ich sah Nichts um mich her, ich weinte. Nach dem Mittag in Sattel wurde der steinige Weg für meinen gemarterten Kopf so furchtbar, daß ich in Schwyz zu bleiben begehrte, weil wir eher dorthin kommen sollten, als nach Brunnen. Der Kutscher meinte: es sei schön da, »und do,« setzte er hinzu, »do isch Goldau.« Die Stätte einer Verwüstung und einer solchen – das weckte mich aus meinem Stumpfsinne – ich ließ den Wagen zurückschlagen, da lagen am Lowerzer See die Rigi und der Roßberg und zwischen beiden in der Tiefe die röthlichen Trümmer. Den ganzen Roßberg herab ist noch die Straße dieses Unheils sichtbar – mir gefiel's – es war ein herb Gefallen.
Hier empfing uns Herr Hediger, Wirth des nach ihm getauften Hotels, sehr freundlich. Das Haus war ganz leer, uns willkommen, ihm nicht. Vor acht Tagen hatte er noch einen Gast gehabt – Herrn Fritzsche aus Berlin. Der war schon im vorigen Jahre acht Tage hier gewesen und in diesem »bereits wirklich« auf vierzehn wiedergekommen. Wir wurden Herrn Fritzsche's Erben, d. h. wir bezogen die von ihm verlassenen Zimmer, und können nun von seinem Balkon die vollkommenste, ich möchte sagen klassischste Alpenlandschaft, die wir noch gesehen, überschauen und gleichsam studiren.
Vor uns liegt, durchblinkt von der Muotta, das grüne Thal, von Schwyz bis Brunnen. Rechts in der Tiefe der See, rechts von ihm der Timbel, näher zu uns der Urmiberg, links von uns die schöne Frohnalp, gegenüber jenseits der Urner Rothstock und das Buochshorn in Unterwalden. Es ist eine warme gesättigte Vollendung in diesem Gemälde, eine künstlerische Abrundung, eine unübertreffliche Verschmelzung des idyllischen Vorgrundes mit dem großen, reichen Hintergrunde und der prachtvollen Einrahmung. Die Ueberleuchtung erinnert uns an das Innthal – derselbe reine, sonnige Glanz, nur dort krystallener, hier schwingender.
Der Flügel im Salon neben unserm Balkonzimmer steht einen ganzen Ton zu tief. Ich begehre nach dem Organisten. Um acht Uhr werden wir heute durch Spielen geweckt. Otto geht hin, findet einen jungen Menschen, der sich als halber Stimmer gehabt, schickt ihn fort, bis ich aufgestanden. Nach der hiesigen Mittagsstunde von halb zwölf kommt der kleine schönfrisirte Mensch wieder. Ich empfange ihn als Organisten, aber er ist es nicht, er ist »nur so für sich.« Der Sohn des hiesigen Schmiedebesitzers. Ein Elegant von Schwyz, Musiker, – wird bei der nächsten Kirchweihe den Richard in der Schweizerfamilie singen. Ich kenne doch wohl die Oper? Eine Jungfer aus Gersau singt die Emmeline. Sie hat »wirklich« neulich in einem Concert auf dem Rathhause die Arie: »Wer hörte« mit allgemeiner Zufriedenheit gesungen. Richard sagt natürlich »gesunga«. Der Pater Placidus, vertriebener Conventuale aus Wettingen bei Baden, lehrt hier den Gesang und läßt seine Schüler die Oper einstudiren, die erste Oper, an welche die hiesige Liebhabergesellschaft geht. Das Orchester will noch nicht recht schnell streichen und blasen, eine große Probe ist noch nicht gewesen, die Mitspielenden können noch nicht ihre Nummern alle, die Gertrud hat eine etwas schwache Stimme, aber das thut Alles Nichts – die Oper wird gehen. Dramen sind schon mehrere aufgeführt worden, und Richard kann sagen: »bereits wirklich zum Vergnügen des Publikums«. Nun, wenigstens doch Sinn für etwas Anderes als Milch und Käse. Im Hause sogar ein Lesecabinet mit deutschen, italienischen und französischen Blättern, eingerichtet vom Redacteur der hiesigen neuen Zeitung, einem Flüchtling aus dem Aargau. Die damals im Aargau für den Sonderbund gekämpft, sind jetzt noch proscribirt – die Badener, welche ihre Fahne verlassen haben, sollen von ihrem Fürsten mit der bereitwilligsten Artigkeit aufgenommen werden, verlangen die freien, d. h. die radikalen Schweizer. Bei Bürgerkriegen in einer Republik hat jeder Einzelne die vollkommene Berechtigung, zu ergreifen, welche Partei er wolle – sollte man meinen. Behüte, die freien Schweizer meinen es anders. Der Sonderbund war ein Aufruhr gegen die jetzige Regierung – welche noch nicht eingesetzt war. Die Fürsten, welche sich etwa noch erhalten haben, sind Rebellen gegen die künftige allgemeine Republik. Also sei es, da der Unverstand es so haben will. Otto hat mit dem Redacteur gesprochen. Der junge Mann prophezeit einen Ausbruch nicht mehr gar zu fern, und zwar einen blutigen. Ich glaube ihm, ich habe schon im vorigen Winter im Waadtlande und diesen Frühling in Genf mehr denn zehnmal zu Schweizern gesagt: »Gebt Acht, nach oder vor der Heimkehr von der Alp giebt's ganz unversehens wieder bei Euch einen kleinen Familienkrieg, eine allerliebste, niedliche Contrerevolution.« So wird's auch kommen – im Sommer nicht, im Winter eben so wenig: im Winter ist's gefährlich in den Pässen und zu kalt obenein, im Sommer muß gealpt, geerntet, gekeltert werden, und die Schweizer sind viel zu praktisch und zu vernünftig, um einer Revolution wegen ihre Geschäfte ungethan zu lassen. Aber im Frühling oder im Herbst, im Herbst besonders, wenn Vieh und Ernte unter Dach und Fach sind, dann erlaubt man sich wohl von beiden Seiten das Vergnügen wieder einmal an einander zu stoßen, und dann – so gelassen, überlegt und gutmüthig im Allgemeinen die Schweizer sind, zum Todfeind möchte ich keinen haben. Sie besitzen, glaube ich, im höchsten Grade die allen phlegmatischen Organisationen inwohnende Fähigkeit zur Rache.
Der Redacteur wohnt im Hause, neben seinem Zeitungscabinet. Vor acht Tagen hat auch »bereits wirklich« noch ein alter Sprachlehrer hier gewohnt, »ein melancholischer Pedant«, der Englisch, Französisch und Italienisch gelehrt. Otto sagte: »Da wohnt ja Alles hier im Hause.« Richard antwortete mit schweizerischer Gründlichkeit: »O nein, eben nicht Alles.« Der Flügel steht noch, wie er stand.
Herbstwind und Wolkenschatten ziehen über die Gegend, die ich noch gleich bildschön finde. Aus lauter großen Verhältnissen ergiebt sich hier die anmuthigste Umgebung. Der Mythen hinter uns hat an sechstausend Fuß – wir blicken an ihm hinauf wie an einer mäßigen Felsenwand, deren Farben deutlich erscheinen. Die Gletscher in Uri sind zehntausend Fuß hoch – wir sehen den Schnee auf ihnen so nahe liegen, als dürften wir, um eine Schale voll zu nehmen, eben nur hinüber. Der See scheint ein hübsches, kleines Gewässer und ein Dampfschiff auf ihm nicht viel größer, als das Kähnchen mit der eidgenössischen Fahne, welches wir in Baden für Marco kauften.
Der Wind ist der Föhn. Er kommt über die Lawinenspur auf der Frohnalp, schiebt die Alpen zusammen und färbt sie mit weicher, funkelnder Dunkelheit. Der Schnee leuchtet heller zwischen den jetzt dunkelblauen Zacken, und der See ist Lichtkräuseln.
Ungeduld und Ueberdruß ergreifen mich bisweilen mit den wildesten Krämpfen. Ich schreie dann, es sei, weil ich so lange keine wirkliche Schönheit gesehen. Das Hängen über allen Abgründen von Möglichkeiten mag's denn mit sein, vielleicht hauptsächlich, aber gewiß thut auch viel, daß ich seit Italien keinen Himmel, kein Meer, keine Rosen und kaum zwei oder drei schöne Gesichter gesehen habe, daß ich in der Prosa gelebt, wie in einem zu niedrigen Raum, daß – o Süden und Schönheit!
Als ich in Sterzingen wieder die erste Krautpflanzung sah – drei Jahre sind's nun. Was hab' ich seitdem für Krautpflanzungen vor mir gehabt! Damals weinte ich wie unsinnig über den heimathlichen Anblick, und die Wirthin fragte, neugierig wie nur Tyrolerinnen es sein können: »Warum weint denn die Frau so?« – »Weil sie aus Italien zurück soll,« antwortete Otto. »Fahren's doch wieder 'nein,« war ihr naiver Vorschlag. »Ja, fahren's doch wieder 'nein in das Land der Malerei, oder – in den Himmel.«
Ein Haus wird gebaut – nicht für uns! Und warum wird's denn hier in Schwyz gebaut? Wohnt man denn noch in Schwyz? Mir kommt das Städtchen trotz der aufzuführenden Oper und der neuen Zeitung so überflüssig im jetzigen Jahrhundert vor. Wie eingenickt sitzt es da am Fuße des Mythens und sieht ganz aus, als würd' es im nächsten Augenblick völlig einschlafen. Schlaf' ein, altes Schwyz, schlaf' ein – ich will dir ein Wiegenlied singen.
Der Abbé Gregorio fragte, als er uns von dem Irren auf Lazzaro erzählt: »Ist er toll, oder sind wir's?« So frag' ich: »Ist die Schweiz prosaisch, oder sind wir's?« Wir bewundern Alles, es gefällt uns Alles und läßt uns Alles kalt. Macht die Sorge das Herz so kühl, wie sie die Stirn heiß macht?
Der Staub des Lebens ist sichtbar in der Schweiz. Man sieht es recht, wenn zwischen Schweizern ein Tyroler einherschreitet. Otto sagt: die Schweizer schleppten sich, als drückte ihre Freiheit sie – der Tyroler ginge, als fühlte er unter dem freiwillig anerkannten Herrn sich wahrhaft unabhängig. In einem Wort es auszudrücken – die Tyroler sind ein poetisches, die Schweizer ein prosaisches Alpenvolk.
Wir saßen heute lange auf einem Steinzaun, gegenüber dem Mythen, um dessen rothe Spitze schleierne Wölkchen webten, und wieder wunderten wir uns, daß er mit seinen dreitausend Fuß über unserm Steinzaune nicht schauerlicher aussähe. Wonach wir Alle ringen, Ueberlegenheit, ist eigentlich nur die Bequemlichkeit, die Welt von unserm Standpunkte aus so verkleinert zu sehen, wie in solcher Höhe die Alpen. Die eigenthümliche, gleichsam körperliche Stille der Luft, welche wir im Berner Oberlande gefühlt, berührte uns heute abermals. Ein Junge jodelte; die Echo's schrieen es ihm aus tausend Kehlen nach. Das Jodeln klingt unnatürlich, es ist das letzte Mittel, worauf die Langeweile in diesen Gegenden gekommen; sie erzwingt dadurch wenigstens eine eingebildete Belebung. Ein Mädchen that es auch; wir sahen uns mehrere Male um, ob wir uns auch nicht in dem Geschlecht der Stimme täuschten, so bubenhaft klang sie.
Der See tobt regenbogenglühend im letzten Sonnenscheine, der wie durch Schleier schräg darauf fällt. Wir sehen es von hier, wie die Wellen anschlagen, als wollten sie empor auf die brennenden Matten in Uri.
Ein Veilchen von der Steinmauer eines Landhauses gab uns heute Frühlingsduft im Herbste. Es hat hier Landhäuser, aber sie nehmen sich auch eben nicht anders aus, als wie kühle, gesicherte, angenehme Schlafwohnungen.
Wer einen schwachen Magen hat, komme geschwind her in die schönste Alpenlandschaft und in das schläfrigste Städtchen. Drei Apotheken sind hier und nicht ein einziger Zuckerbäcker, und selbst das einfache Weißbrod ist immer: vom Tage vorher. Es ist hier ein Eden ohne Versuchung.
Heute ist in Einsiedeln große Abendprocession mit glänzender Erleuchtung des Klosters. Wir wollten hin und in der Nacht zurück, aber ich bin noch zu matt.
Ein Blinder aus Stuttgart hat eben den Flügel glücklich auf den Kammerton gebracht, was dem guten Instrument seit dem Tage seiner Existenz noch nicht begegnet sein soll.
Hellblauer Himmel, hellblauer See, sonniggrüner Vorgrund, dunkelblaue Alpen, große, weiße Wolken darauf.
Alte Zeitungen studiren wir durch. Sehen, wie's heillos gewesen in der Welt diesen Sommer. Sind dadurch bedrückt noch außer unserm eigenen Kummer. Deutschland, – werde nur Deutschland eins mit Preußen, Preußen durch Deutschland groß, mächtig und prächtig! Mir füllt's manchmal die Brust: Preußens deutsche Größe sei das Räthselwort dieser zwei Jahre.
In drei Monaten hunderttausend Einwanderer in den Vereinigten Staaten. Was für unreine Elemente in den Gährungsproceß, der sich dort allmählich vorbereitet!
Unser Herr Hediger möchte auch hin. Der Kulmwirth vom Rigi ist ebenfalls europamüde. Sind die Schweizerwirthe närrisch?
Nestroy schreibt noch Possen. Das heißt auch Charakter.
Gegenüber liegt die Rütli, wo die drei Schweizer gegen Oesterreich schworen. Ich möchte hier auch ein antiösterreichisch Gelübde thun, wenn – ein Gelübde von mir Etwas hülfe.
An die Welt thue ich jetzt täglich die Frage: Was wirst du einst für meinen Knaben sein?
Wir gingen träumend durch den Herbstabend im Schwyzerländchen. Es ist voll von Sägemühlen und Kapellen. Eine von diesen besuchten wir; die Weihkessel waren fast leer; inwendig über der Thür stand zu lesen:
Heiliger Antony, bitte für uns Alle, |
Daß uns und unser Vieh kein Schaden befalle. |
Unter Nußbäumen kamen wir nach Uetenbach und an die Muotta, dann zurück am Bächlein, wo Vergißmeinnicht blühten. Das Bächlein murmelte, die Mühlen klapperten, die Kapellen läuteten, die Nebel webten um den Mythen und allenthalben, – ganz betäubt langte ich wieder in unserm Balkonzimmer an und wunderte der grünen und weißen Dämmerung gegenüber mich immerfort, wie ich eigentlich nach Schwyz gekommen sei.
Da bringen Aloys und Franzl den Thee. Es sind die beiden Knaben des Hauses, Franzl ist im Elsaß gewesen und antwortet mir sehr schön mit »oui, monsieur«; Aloys soll nach Italien, um zu einem Herrn »si, signora« sagen zu lernen – ich kann einen nie vom andern unterscheiden.
Und so verlassen wir Schwyz. Das ist unser langes Bleiben, unser schönes Stillsitzen, mein Schreiben auf dem alten braunen Tisch, wo es sich so gut geschrieben hätte. Der Blinde giebt morgen ein Concert; der Flügel wurde gestern Abend zu meinem größten Schrecken hinuntergeschafft, dann von acht bis ein Uhr gespielt und geraucht. Aller Rauch stieg vermittelst eines Wandschrankes als kühler Geruch in unsere Schlafstube hinauf; heute, morgen wird's dasselbe sein, denn die Schwyzer sind um Schweizer, den Blinden, her, wie Fliegen um eine Honigwabe. Außerdem versammelt sich morgen auf acht Tage der Cantonrath, und fast alle Räthe wohnen im Hause – wir fliehen. So oft wir fein bürgerliche Niederlassungsgedanken fassen, geht's so – wir sollen zur Nachkur reisen. Nun gut, man wird reisen. Wohin? Wenn wir angekommen sind, werd' ich's aufschreiben. Die Schwyzer Gesellschaft sahen wir gestern noch bei der Probe zum Concert – die hiesigen Sänger werden den Blinden unterstützen. Pater Placidus ließ singen oder vielmehr brüllen: »Morgen marschiren wir«, und wettete mit Richard um einen Schoppen, daß er heute nicht predigen werde. Der Tenor nahm die Pfeife aus dem Munde und setzte das Glas Wein weg, um dünn und feierlich zu singen: »Laura betet, Engelharfen hallen«. Richard versprach mir einmal Abends: »'s Herz ist ein spaßig Ding« als eine prächtige Arie hören zu lassen. Das maurische Ständchen, welches der Blinde auf unser Verlangen in wunderbar freier Weise vortrug, wurde stürmisch beklatscht; wahrscheinlich hielt man es für etwas »Apartes«, weil wir's begehrt hatten. Richard fragte: »Haben Sie dieses Lied bereits wirklich bei sich?«
Die Gesellschaft war, wie man sieht, vollkommen was die Engländer quaint nennen, dennoch gefiel sie mir gut – die Schwyzer sind schmucke Leute, wie wir Schlesier sagen. Sie rauchen ein Bischen viel Taback – nun, man muß eben im Sommer herkommen, wenn man die Fenster offen haben kann. Ich scheide also mit guter Gesinnung von Schwyz – es ist uns schon viel schlechter gegangen als hier, und man ist gar freundlich gegen uns gewesen. Den sechs Kindern hinterlasse ich die Krapfen, welche die guten Nonnen in Kloster Fahr den Descendenten der alten Regensberge verehrt haben. Die Gegend ruht im Sonnenglanz, wie da wir sie zum ersten Male sahen.
Baden am Stein ist nicht nur einer der hübschesten Badeorte, sondern einer der hübschesten Orte überhaupt, die es geben kann. Ganz Grün und Freundlichkeit, und Spaziergänge nach allen Seiten. Da ist der langgestreckte Lägern, auf welchem noch die Burg unsers Stammes steht, da der Uetliberg, der nach Zürich zu geht, der Kreuzli- und der Martinsberg, beide lieblich waldig, der Schloßberg mit der schönen Ruine des Steins, die ein klein wenig an Heidelberg erinnert, zwischen ihr und dem Martinsberg der duftige Oestliwald, auf dem rechten Limmathufer in den malerischen Gehölzen die aufrechte Fluh und die goldene Wand, Felsengruppen zum Malen, auf dem linken der Weg an den Sonnenreben oben, der Platanengang unten, und das Alles ist voll Schatten, einladend einsam, aber immer erfreuend durch den Blick in das unbeschreiblich reizende Thal.
Von allen den grünen und frischen Orten ist jedoch der grünste und frischeste das Mätteli, dieses liebliche Buchengehölz, welches die Senkung des Limmath-Ufers vom Martinsberge bis zum Hinterhofe bedeckt. Zwei Wege führen hindurch, der eine höher auf die Straße nach Bruck, der zweite zu mehreren Schattenplätzen dicht an dem grünbräunlichen, schillernden, schäumenden und rauschenden Strome. Auf diesem Wege kauerte ich eines schönen Nachmittags, um einer jener langen braunen Schnecken, welche kein Haus, nur einen Panzer haben, mit einem trockenen Stöckchen den Rücken zu krauen. Es gehörte das zu meinen Vergnügungen im Mätteli. Der Schnecke aber wollte es nicht gefallen – sie zog sich verdrießlich zusammen. Als ich sie aus ihrer Trägheit zu diesem Kundgeben von Mißbehagen gebracht, sah ich sie mir selbstzufrieden durch die Lorgnette an. In diesem Augenblicke ging ein Mann mit einer Frau am Arm an mir vorüber, der Mann groß, die Frau schlank, Beide in Trauer. Die Frau sah im Vorüberstreifen verwundert auf meine Stellung und meine Beschäftigung herab; ich mochte mich sonderbar genug ausnehmen.
Am nächsten Tage kamen wir gegen Abend an das letzte der Schattenplätzchen, welches unser gewöhnlicher Sitz, uns besonders lieb war. Eine kleine Bucht mit Kiesgrund und Bucheneinschattung, gegenüber unter der aufrechten Fluh das Dörfchen Rieden, weiter rechts über den Winterbergen die goldene Wand – man konnte gern hier sitzen und der Limmath zusehen und zuhören. Aber heute war die Bank nicht frei – eine Frau in Trauer saß da und strickte. Getäuscht und ziemlich übellaunig hockten wir auf den Kiesboden nieder und fingen an, Steine entzweizuschlagen, was ebenfalls zu meinen Vergnügungen im Mätteli gehörte. Die Frau beobachtete uns eine Weile; dann kam sie zu uns und sagte: »Vous paraissez aimer beaucoup l'histoire naturelle, Madame?«
Einen zerklopften Quarzkiesel in den Händen, antwortete ich ihr von der Erde auf, daß ich leider ganz Unwissenheit sei und lediglich aus Neugier so mit den Steinen handthiere. Sie blieb bei uns stehen, bis ich genug hatte, dann setzten wir uns zusammen auf die Bank, und ich erklärte ihr, um mich wieder etwas zu Ehren zu bringen, wie bisher die Literatur mein ausschließliches Studium gewesen, wie ich die Naturwissenschaften später zu studiren gedenke, und was dergleichen mehr war.
Eben sprach ich sehr kenntnißreich und weise über Bandello und das sechszehnte Jahrhundert in Italien, da kam hinter den Buchen am Ufer ein langer Mann hervor, und die Frau fragte: »Jaques, hast Du Etwas gefangen?« Der Mann steckte eine Angelruthe in einen Spazierstock zurück und antwortete mürrisch genug mit Nein. Die Frau packte ihr Strickzeug ein, nahm den Arm des Mannes, sagte uns Adieu und ließ uns im ungestörten Besitz der Bank.
Am andern Nachmittag fanden wir sie indessen wieder. Jaques fischte abermals und fing wieder Nichts. Wir unterhielten uns dieses Mal von Reisen – die Frau war in Italien gewesen.
Den dritten Tag war die Bank unbesetzt. »Wo ist denn Madame Jaques?« fragten wir uns – so schnell gewöhnt man sich daran, eine Person an einem Orte zu sehen. Wir saßen jedoch nicht lange, so kamen Jaques und seine Frau auf einem der kanotähnlichen Kähne an, mit welchen allein die Limmath befahren werden kann. Jaques hatte heute glücklich eine Forelle gefangen, nur war ihm das abscheuliche Thier wieder durchgegangen, indem es den Haken entzweigebissen hatte. Heute plauderten wir zu Vier und zwar abermals von Reisen – Jaques war in Constantinopel gewesen.
Von nun an trafen wir mit Monsieur und Madame Jaques fast täglich im Mätteli zusammen, d. h. Monsieur kam immer erst dazu, wenn er seine Forelle gefangen und sie den Haken durchgebissen hatte. Sobald sie einmal im Haken bleiben würde, sollte ich sie erhalten – sie hat's aber nicht gethan, und ich habe sie nicht gesehen.
Eines Tages hatte ich das grüne Buch mit, in welchem ich Alles bemerke, was ich sehe, höre, denke, beabsichtige. Madame Jaques wollte es durchaus sehen, ich sagte ihr, sie solle etwas Besseres von mir lesen, und schickte ihr meine kleine Novelle »Hedwig« mit einem Gruß de l'auteur à madame Jaques.
Sie schrieb mir als die Frau des Fischers Jaques einen allerliebsten Brief, worin sie mir sagte, in mir sei Alles Originalität, das habe sie gleich gewußt, als sie mich zum ersten Male vor einer Schnecke kauern gesehen. Eine jener Frauen von feiner Erregbarkeit, die sich leicht enthusiasmiren, war ich von nun an ein Gegenstand für ihre Phantasie, und sie mochte öfter von mir geredet haben, denn unser Doctor wußte auf einmal, daß ich Bücher schriebe. Und wie denn einem Schriftsteller immer gern Geschichten erzählt werden, so erzählte mir auch der Doctor eine, die er selbst erlebt, und zwar in Baden, wo wir eben waren.
Diese ist es, welche auf den folgenden Blättern nachzuerzählen ich versuchen will.
Es mögen ungefähr zehn Jahre sein, daß ein junger Mann, Beat Bodenwieler, gebürtig aus Einsiedeln, sich in Zürich als geschickter Portraiteur in Alabaster bemerklich machte. Eigentlich war er Bildhauer, hatte, ohne bedeutend zu sein, seine Kunst in Tyrol gut genug gelernt, fand jedoch in der Schweiz wenig Aufmunterung und fast gar keine Beschäftigung. Eine Brustbüste Pestalozzi's erhielt Beifall, Bestellungen jedoch wollten nicht kommen. Beat war arm; der Oheim, welcher ihn erzogen, konnte ihn nicht länger ernähren, auch wünschte Beat unabhängig zu sein. Der natürlichste Wunsch bei jedem nur leidlich tüchtigen Menschen. Da man keiner Statuen begehrte, kam Beat auf die Portraits in Alabaster. Er war glücklich im Treffen, gewandt im Schneiden; die Arbeit fing an, sich zu finden. Ein Freund seines Oheims, wie dieser, Arzt, interessirte sich warm für Beat, und der junge Mensch würde in Zürich noch weit mehr Glück gemacht haben, hätte er sich nicht den Liberalen angeschlossen. Dadurch verscherzte er sich die aristokratischen, folglich reicheren Häuser. Er gewann jedoch für den Augenblick genug, und übermüthig wie die Jugend es ist, glaubte er nie mehr zu bedürfen und deshalb ganz seinen Gesinnungen gemäß leben zu können.
Baden am Stein war damals vielleicht noch besuchter als jetzt. Beat hoffte mit Recht, unter den Badegästen würden sich Einige und sogar mehr als Einige recht gern portraitiren lassen. Er schlug also eine kleine Werkstatt für den Sommer dort auf, Vagabond unter den Vagabonden. Seine Hoffnung wurde gerechtfertigt – er bekam eine Menge Portraits und sehr hübsche Summen Geldes.
In seiner besten Stimmung über diesen prächtigen Erfolg wurde er eines Tages zu einer alten Dame eingeladen, welcher er auf seine Art in Alabaster so geschmeichelt hatte, wie der Maler es darf. Die alte Dame war reich, eitel und liebte es, die Gönnerin zu spielen. Beat ließ sich mit der größten Unterwürfigkeit beschützen und kam so oft zu Tische, wie die alte Dame nur befahl. Auch an diesem Tage erschien er, geputzt und von gehorsamer Liebenswürdigkeit. Die alte Dame lud immer einige Frauen zu ihrem Günstling ein, und Beat mochte Frauen gern gefallen. Als er in das Zimmer trat, sah er zwei junge Mädchen, welche ihm noch fremd waren. Die alte Dame nannte ihm in der Einen ihre Enkelin, in der Andern ein Fräulein Marguerite von Gontran aus Freiburg. Beide waren Kostgängerinnen im Kloster Fahr, zwischen Baden und Zürich. Sophie, die Enkelin der alten Madame Linder, hatte die Erlaubniß die Großmutter zu besuchen auch für Marguerite auszuwirken gewußt, welche, erst seit kurzer Zeit im Kloster, sich fremd genug fühlte und einer Zerstreuung um so mehr bedurfte, da ihr elterliches Haus ein vermögliches und geselliges gewesen war. Weshalb man sie aus demselben nach vollendeter Erziehung neuerdings in ein Kloster gebracht? Wie es hieß, damit sie deutsch lernen solle, eigentlich aber, um sie vom Hause zu entwöhnen und allmählich an das Klosterleben zu gewöhnen. Sie hatte einen Bruder; der wünschte das Vermögen einst nicht mit der Schwester theilen zu müssen. Die Eltern wünschten dasselbe: je reicher der Repräsentant der alten Familie, je mehr Glanz für diese. Marguerite wußte nicht um diesen Plan; sie war ungern nach Fahr gekommen, fühlte sich unheimlich, besonders da sie bei ihrer Unkenntniß der Sprache um Vieles einsamer war, als die übrigen Kostgängerinnen; aber die Besorgniß, es solle für immer sein, quälte sie wenigstens nicht. »Wenn ich Deutsch können werde, darf ich wieder nach Hause,« das war ihr Gedanke und ihr Trost. Um diesen glücklichen Zeitpunkt recht bald heranzubringen, lernte sie mit grenzenlosem Eifer deutsch, leider aber fehlte ihr alles Talent, und sie beweinte oft mit heißen Thränen ihre langsamen und geringen Fortschritte. Je länger sie am Deutschen lernte, je länger mußte sie in Fahr bleiben.
Ihre Gefährtinnen hielten sich gewöhnlich in einer gewissen Entfernung von ihr – sie wollten nicht durch ihre größere Schönheit verdunkelt werden. Marguerite war wirklich auffallend schön, üppig und lieblich zugleich, mit einem glänzenden Köpfchen und naiven, schwärmerischen Augen, mit langem, dunklem Haar, welches abzuschneiden eine wahre Sünde gewesen wäre. Dieser Besitz von Anmuth hätte vielleicht ein anderes Mädchen über die Sprödigkeit getröstet, welche sie von den neidischen Schwestern erfuhr, aber Marguerite war noch zu frisch, zu gut, zu unverdorben, sie wollte geliebt und nicht beneidet werden, und trauerte oft, wenn sie sich so schön und so gemieden sah. Sophie allein hatte sich ihr angeschlossen, vielleicht aus Widerspruchsgeist, vielleicht aus Sorglosigkeit, vielleicht auch aus Gutmüthigkeit, genug, man sah überall ihr blühendes, aber unbedeutendes Gesichtchen neben dem poetischen Kopfe Margueritens. Diese war so voller Dankbarkeit für die Gemeinschaft, welche Sophie mit ihr hielt, daß sie für Sophie Alles gethan und geopfert hätte, was in ihren Kräften lag. Sophie faßte zum Glück die Freundschaft nicht von der heroischen Seite auf; sie wollte, Marguerite sollte mit ihr lachen und französisch plaudern. Marguerite lachte und plauderte so gern, daß sie immer wieder vergaß, wie sie ja Deutsch zu lernen habe. Fiel ihr das ein, so weinte sie ihre kindischen Thränen, machte Sophien bewegliche Vorstellungen und beschwor sie, ihr behülflich zu sein. Sophie versprach es feierlich, wollte es ehrlich, und Alles zwischen den beiden jungen, guten und thörichten Geschöpfen blieb, wie es war.
Auf die Fahrt nach Baden, auf das Mittagsessen bei der Großmutter hatten die Kinder sich schon wochenlang gefreut. Nun sollte, wie Madame Linder ihnen wichtig ankündigte, sogar ein junger Mann kommen, ein Schützling der Mama, ein Künstler, etwas »Extraordinaires«, ein Genie. Wie waren sie neugierig, als Beat eintrat! Der junge Bildhauer war nicht schön, doch konnte er wohl gefallen, besonders jungen Mädchen, die noch kaum einen Begriff von jungen Männern hatten, denn Sophie sowohl, wie Marguerite waren im Kloster groß geworden, immer nur in Frauengesellschaft gekommen, selbst Marguerite bei ihren Eltern. So war Beat denn für sie eine Erscheinung. Seine mittelgroße Gestalt dünkte ihnen herrlich, selbst die etwas geneigte Haltung gefiel ihnen. Er sähe so angenehm schwermüthig aus, meinten sie in ihren ungeprüften Herzen, die noch kein Wort aus dem großen Wörterbuche des Leidens verstanden, denn was war Margueritens Gram? Die flüchtige Trübung eines Frühlingstages. Schwermuth klang den Kindern wie Nachtigallgesang und Mondschein, gedämpft und süß. Beat mußte schwermüthig aussehen; wär' es nicht gewesen, hätte ihm in den Augen der lieben Thörinnen Etwas gefehlt. Aber jetzt war er vollkommen. Seine hohe Stirn, seine gerade, strenge Nase, sein glattes, langes, schwarzes Haar, seine etwas geschlitzten dunklen Augen, Alles entzückte sie, ja, selbst seine etwas spitze Kopfbildung, wie man beobachtet hat, charakteristisch an den Eingebornen seiner Gegend, selbst die sollte vornehm und fein sein. Das flüsterten die Mädchen sich Alles ernstlich und wichtig zu, während Beat sich mit seiner ehrwürdigen Gönnerin und einer ernsten jungen Frau unterhielt, welche die Gattin des Arztes zu Mellingen und dem jungen Künstler, wenn auch nicht immer billigend, doch warm und redlich geneigt war.
Während der junge Mann so der Gegenstand des heimlichen mädchenhaften Beobachtens war, stahl auch sein Blick sich fort von den Frauen, mit denen er redete. Marguerite hatte ihn geblendet. Noch nie hatte er eine lebendige Schönheit so vollendet gesehen. Sie zog den Künstler unwiderstehlich an, sie reizte den Jüngling mit einer neuen heftigen Sehnsucht. Er hätte sie zugleich als Modell und als Geliebte rauben mögen. Madame Linder gewahrte den Eindruck, welchen die schöne Freiburgerin machte, mit Wohlgefallen. Die alte Dame gehörte zu den Hausherrinnen, welche in jedem Gast etwas Auserlesenes einladen wollen. Wie sie vorher die Mädchen auf Beat neugierig gemacht, so rühmte sie jetzt das Fräulein von Gontran als reiches, schönes, vornehmes Mädchen, als das vergötterte Kind anbetender Eltern, als die glänzendste Partie für den Mann, der so glücklich sei, ihre Neigung zu gewinnen. Es hätte nicht so vieler Worte bedurft, wie sie verschwendete, um den ehrgeizigen Beat zu dem brennenden Wunsch zu stacheln, der Glückliche zu werden, welchen sie schon im Voraus pries. Der Schwiegersohn einer begüterten, einflußreichen Familie – welche Zukunft für sein Talent, welcher Horizont von Ruhm und Ehre! Wie an das Gestirn, welches diesen Himmel erleuchten sollte, hefteten des doppelt begehrlichen Künstlers Augen sich an Marguerite. Sie war ganz Natur und Unschuld: ergriffen, verwirrt, selig senkte sie ihre Augen, um nicht zu sehen, wie sie angesehen werde. Sich zu sträuben gegen die neue Wonne, den dreisten jungen Mann auch nur durch scheinbaren Ernst in Schranken zu halten, fiel dem wahrhaften Wesen nicht ein; sie kannte noch keine künstlichen Pflichten. Madame Linder schmunzelte und seufzte in Erinnerung ihrer Jugend, Sophie neckte Marguerite mit Ausgelassenheit, nur die Frau des Arztes sah ernsthaft darein; ihr mißfiel diese Liebelei, obwohl sie weit entfernt war, ihr eine tiefere Bedeutung beizumessen. Eigenthümlich genug war es, daß der Austausch dieses plötzlich entsprudelten Gefühls ganz allein durch Blicke vor sich ging, denn wie Marguerite nicht Deutsch, konnte Beat nicht Französisch. Es erregte diese gegenseitige Unbeholfenheit die Laune der alten Dame und die laute Fröhlichkeit Sophiens. Sie bemühten sich Beide, die Hülflosen durch Dolmetschen in ein Gespräch zu bringen. Es ging nicht; Marguerite war zu verschämt und Beat zu verliebt; er zog es vor, sie nur anzusehen, und sie sprach durch Erröthen und Lächeln wahrlich lieblicher, als durch den etwas großen Mund Sophiens. Als es gegen Abend kam, mußten die jungen Mädchen nach dem Kloster zurückfahren. Freundlich, wenn auch etwas pomphaft und umständlich lud Madame Linder Marguerite ein, ihren Besuch zu wiederholen. Marguerite sah Beat an und versprach, eine helle Freude auf dem schönen Gesichte. Der junge Mann half den Mädchen in den Wagen und drückte dabei Margueriten lebhaft die Hand. Unschuldig erwiederte sie den Druck; ein Bund zwischen ihnen war so gleichsam schon geschlossen.
In das Zimmer zurückgekehrt, ergoß Beat sich in feurigen Lobpreisungen Margueritens und erklärte, daß er ganz und gar verliebt sei. Die alte Dame lachte auch jetzt und ermunterte ihren Günstling zum Beharren und Heirathen, Madame Sinnich aber, so hieß die Frau des Arztes, äußerte sich noch mißvergnügter als vorher. Bodenwieler würde sich da Etwas in den Kopf setzen, was doch immer eine Einbildung bleiben müsse, meinte sie; Madame Linder sollte ihn lieber wegen seines Uebermuthes schmälen, als ihn darin bestärken! Beat, welcher vor der strengen, praktischen Frau eine Art Respect hatte, suchte sie zu beschwichtigen und das Ganze als einen Scherz darzustellen. »Ich will's um Ihretwillen wünschen,« sagte sie, nicht vollkommen überzeugt. Am Abend bei ihrer Zurückkunft erzählte sie ihrem Manne davon. Der nahm es leichter und lachte über die Schilderung, welche sie ihm von Beat's Gehaben machte. »Es ließe sich ein Lied darauf dichten,« sprach er. »Du denkst immer nur an Verse,« sagte die Frau unzufrieden. Der Doctor malte sehr gut Landschaften und dichtete allerliebst im Dialekt; die Frau mochte das nicht, hatte vielleicht auch aus dem Grunde Beat nicht besonders gern, nämlich im Hause, sonst gönnte sie ihm alles Gute.
Beat lief unterdessen in seinen Freistunden wie toll in den schönen Umgebungen von Baden umher. Er war wirklich verliebt, aber freilich nur halb in Marguerite, halb in das reiche Mädchen.
Marguerite dagegen liebte ihn von der ersten Stunde an und liebte nur ihn. Sophie, die heute zum ersten Male etwas eifersüchtig auf Marguerite geworden war, legte umsonst Nachdruck auf seine Armuth, wie er ein aus Barmherzigkeit erzogenes Waisenkind sei, und so fort. Marguerite erwiederte: »Die Waisenkinder sind des lieben Gottes Kinder.« Sie betete am Abend für den armen Beat, der keinen Vater und keine Mutter habe. Es war kein Gebet für eine zukünftige Nonne, aber gewiß eines für den Himmel der Liebe. Marguerite glaubte Reichthum und eine Familie zu besitzen und sehnte sich mit ungeduldiger Zärtlichkeit, dem bedürftigen Beat zu geben, was ihm mangele. »Wann,« dachte sie, »wann werde ich ihn wiedersehen, um ihm zeigen zu können, daß ich ihn liebe?«
Diese Gelegenheit hatte sie bald. Kloster Fahr liegt ganz vereinzelt, nur ein Gasthaus theilt mit ihm die Einsamkeit an der Limmath. Da dieses Haus ein beliebter Vergnügungsort ist, konnte Beat öfter herkommen, ohne anfänglich Aufsehen zu erregen. Die Kostgängerinnen wurden nicht sehr streng gehalten und durften unter der Aufsicht einer Schwester spazieren gehen. Mehrere Tannenwäldchen liegen in der Nähe; Beat konnte sich verbergen, bis der Zug der hübschen Kinder herankam, dann sich wie zufällig zeigen, mit Margueriten einen Blick wechseln. Leider erkannte auch Sophie ihn, und Sophie war neidisch darüber, daß Marguerite von einem Liebhaber verfolgt werden sollte und sie nicht. Die ersten Male schwieg sie noch; sie schämte sich, Marguerite zu verrathen. Aber als Beat sich häufiger sehen ließ, als Marguerite, die sich Sophiens veränderte Gesinnung nicht vorstellen konnte, immer offener und feuriger von ihrem Geliebten sprach, da siegte der Neid, und Sophie machte mehrere ihrer Gefährtinnen darauf aufmerksam, daß Beat, welchen sie bisher für eine Art allgemeinen Anbeter genommen, leicht nur Margueritens wegen auf allen Spaziergängen sich finden lassen dürfte. Mehr bedurfte es nicht, um alle die jungen Augen scharf zu machen, und gewiß, Beat schlich allein wegen Marguerite auf allen Seiten ihnen vor oder nach. Das verdiente Strafe; geschickt, um jeden Anschein der Angeberei zu vermeiden, wurde die Arglosigkeit der Klosterfrauen aufgeweckt. Die guten Seelen – daß in ihrem Kloster eine Liebesgeschichte spielen sollte, war ihnen ganz neu und wie unbegreiflich. Indessen sie überzeugten sich: Beat schlich dem Kloster immer näher; es war ihm sogar gelungen, an der Mühle, welche die Klostereinfriedigung gegen das offene Feld zu abschließt, mit Margueriten eine Zusammenkunft von einigen Augenblicken zu haben. Das junge Paar hatte hierfür blos dem besondern Fatum der Verliebten zu danken, Marguerite war von innen und Beat von außen an die Mühle gekommen – das war Alles, aber im Kloster sah man darin eine geschickt ausgeführte Verabredung und die Gefahr nah und dringend. Man rathschlagte, ob man das junge Mädchen in ein scharfes Verhör nehmen solle, fand es aber dann für besser, ohne sie erst einzuschüchtern, gleich an die Familie zu schreiben und dieser das Weitere zu überlassen. Marguerite wollte man einstweilen nur gut bewachen, und daß dies geschehe, wandte man sich an den frommen Eifer ihrer Gefährtinnen. Die jungen Mädchen waren entzückt, das nunmehr im Auftrage thun zu dürfen, was sie bisher im Geheimen gethan. Sollte man aus dieser Bereitwilligkeit nicht auf wirkliche Gehässigkeit gegen die Fremde und die Schönere schließen? Und doch war es sicher nur jugendliche Eifersucht auf »den Liebhaber«. Hätte man allen den jungen Neiderinnen der Reihe nach den Künstler angeboten, Keiner würde er recht gewesen sein, Keine ihn gewollt haben. Aber Marguerite sollte nicht lieben und nicht geliebt werden.
Das arme Kind, sie fand sich in dem Hause, dessen Sprache sie nicht verstand, welches ihr daher nie heimlich gedünkt, jetzt doppelt unheimlich, doppelt verlassen. Nie mehr ließ man sie allein, nicht nur jeder ihrer Schritte, jede ihrer Mienen wurde belauert. Für das Kloster war es eine Pflicht, Etwas zu verhindern, wovon es mit Gewißheit annehmen konnte, die Familie Margueritens würde es als ein Unheil und eine Schande betrachten. Doch die arme Marguerite, mit dem Kopfe, der nicht rechnete, mit dem Herzen, das zu seinem Beat wollte! Der junge Mann war nicht weniger beunruhigt als seine Geliebte, wenn er auch innerlich minder litt. Während mehr denn acht Tagen war es ihm nicht mehr geglückt, sie auch nur von Weitem zu sehen. Geängstigt und verstört, wollte er sich bei seiner großen Gönnerin Trost erholen, aber die alte Dame empfing ihn sehr schlecht. Sophie hatte ihr etwas übertriebene Mittheilungen gemacht, und sie erklärte dem jungen Armen unumwunden, ein kleiner Spaß habe nichts geschadet, aber im Ernst sei er nicht für Fräulein von Gontran. Noch mehr niedergeschlagen kam er nach Mellingen, aber auch da hörte er nichts Erfreuliches. Der Doctor rieth ihm sehr ernstlich, von einer Thorheit abzustehen, durch welche er sich und das Mädchen unglücklich machen werde, und die Frau wollte es schon unverzeihlich finden, daß er so weit gegangen.
Im Kloster war inzwischen Margueritens Bruder angelangt. Die Schwester empfing ihn nicht ohne Furcht; als sie aber vernahm, er sei gekommen um sie nach Hause zu holen, warf sie sich ihm mit Thränen der Freude um den Hals. Wenn sie nur wieder bei den Eltern war, da wollte sie so bitten, daß Beat in das Haus eingelassen und sie glücklich würde. Daß er ihr folgen würde, bezweifelte sie gar nicht erst: es verstand sich von selbst. Vom Kloster nahm sie einen frohen Abschied, von Sophie einen traurig vorwurfsvollen. Anders die abgefallene Freundin zu strafen, vermochte sie nicht – sie war gar zu weich – ein Herz, recht geschaffen, um gequält und gebrochen zu werden.
Unterwegs fing der Bruder bald an, sie um ihren Beruf für das Klosterleben zu befragen. Zutraulich und offen erklärte sie ihm, sie habe keinen, dagegen eine herzliche Neigung, welcher sie durch eine Ehe Genüge gethan wünsche. Der Bruder gab ihr zu bedenken, daß sie ja im Kloster auch ihrem Vergnügen gemäß leben könne. »Wie oft findet das nicht statt,« setzte er lächelnd hinzu. Die unschuldige Schwester verstand ihn nicht; sie antwortete: »Ich würde nie mein Vergnügen im Kloster haben – im Gegentheil, ich würde schrecklich unglücklich sein – wenn ich nicht gar vor Gram stürbe.« Und zum ersten Male von dem Gedanken erschreckt, ihre Familie könne ihr am Ende eben so feindlich sein, wie man ihrer Meinung nach im Kloster ihr gewesen, fragte sie ängstlich und aufgeregt: »Man will mich doch nicht etwa zwingen – sage mir, könnte die Mutter – Gott, sie war immer so gut gegen mich – könnte die das wollen?«
Der junge Gontran wollte ausweichend antworten, aber sie rief mit einer an ihr ganz ungewohnten Heftigkeit: »Sag' es mir nur gerade heraus – lieben sie Dich mehr, und soll ich aufgeopfert werden, wie es auch einmal einem jungen Mädchen geschehen ist, die in's Kloster mußte, damit der Bruder reicher würde – verlangt man das von mir?« – »Es ist das sehr häufig der Fall,« sagte der Bruder kalt; »junge Mädchen, die ihre Familien lieben, thun freiwillig ein Gelübde, welches die Zersplitterung des Vermögens verhindert.« – »Nie, nie werde ich das thun. Es ist unnatürlich, barbarisch.« – »Wie es Dir gefällt; sag' es, wenn wir ankommen, dem Vater und dem Abbé, und höre, was sie Dir antworten werden.«
Der Abbé Lallemant war der Beichtvater des Hauses und für Marguerite von jeher ein Gegenstand der Furcht gewesen. Er hatte es veranlaßt, daß man sie nach Fahr gebracht, und nun sollte sie gleich bei ihrer Rückkehr ihm, dem Ueberlegenen, Widerstand zu leisten haben, vielleicht ohne auf Hülfe hoffen zu dürfen, selbst von ihrer Mutter. Die arme Marguerite fror in der Seele; ihr war es, als sitze ihr Feind und nicht ihr Bruder neben ihr. Doch gab sie darum weder ihren Willen auf, noch ihre Liebe verloren; ihr war nur bange vor der Heimkunft, auf die sie sich so gefreut, vor dem Elternhause, wo man sie nicht mehr wollte, vor dem Streit, den sie erwartete. Der junge Gontran saß still und mürrisch und ließ die Schwester sich quälen, so viel sie mochte. Sie quälte sich sehr, aber sie faßte sich auch; »Gott wird mich nicht verlassen,« dachte sie, »es ist für ihn.«
Gegen Abend kamen sie in Solothurn an und fuhren bei dem Kloster der Visitantinerinnen vor. Es fiel das dem jungen Mädchen nicht auf; sie hatte bei der Hinreise auch hier geschlafen; die Aebtissin war eine Bekannte ihrer Mutter. Der Bruder nahm flüchtig Abschied von ihr und sagte ihr, sie möge sich morgen bei Zeiten fertig halten, er werde sie so früh wie möglich abholen.
Marguerite schlief nicht viel und war mit dem Tage bereit. Aber der Morgen verstrich, und der Bruder kam nicht. Das junge Mädchen ward unruhig, ohne jedoch Argwohn zu schöpfen. Der Bruder konnte verhindert sein. Als er indessen um Mittag noch nicht da war, wollte sie eben bitten, man möge nach ihm schicken, da ward sie zur Aebtissin gerufen, die sie am vorigen Abend nicht gesehen. Die würdige Frau empfing das Mädchen mit mütterlicher Zärtlichkeit. »Du gehörst uns an, meine Tochter,« sagte sie; »Dein Bruder hat mir heute Morgen den Wunsch Deines frommen Herzens eröffnet – gern nehme ich Dich auf.« Marguerite, starr, antwortete nicht gleich; sie überlegte im Stillen, ob solch ein Verrath von einem Bruder möglich sei. Endlich fragte sie: »Und hat mein Bruder gesagt, ich wolle in das Kloster?« – »Nichts anders,« erwiederte die Aebtissin. – »O, dann vergebe ihm Gott!« rief Marguerite schmerzlich. »Er hat gelogen, mich und Sie belogen, uns Beide gleich. Ich erwartete ihn heute, damit er mich nach Hause bringe, und statt dessen – o, Gott erbarme sich meiner, denn von meinen Nächsten bin ich verrathen!«
Eine Schlechtigkeit ahnend, tröstete die Aebtissin mit milden Worten das weinende Mädchen. Auf die wiederholte feierliche Versicherung, nie solle sie mit Gewalt hier zurückgehalten werden, eröffnete Marguerite der würdigen Frau voll reinen Zutrauens alles Geschehene. Die Aebtissin lächelte bei den naiven Bekenntnissen der kleinen verliebten Unschuld, sie runzelte die Stirn, als sie von den Vorstellungen des jungen Gontran vernahm. Als Marguerite geendet hatte und mit der Furcht einer Taube zu ihr aufschaute, sagte sie beruhigend: »Mache Dir keine Sorge, mein Kind, Du sollst nicht hierbleiben müssen; noch heute schreibe ich an Deine Mutter, und wenn ich Dir auch nicht versprechen kann, es soll gleich Alles nach Deinen Wünschen gehen, so will ich Dir doch keineswegs die Hoffnung für später untersagen. Gott hilft seinen Kindern und will keine erzwungene Opfer.«
Marguerite hoffte. Die Aebtissin schrieb. Keine Antwort kam. Sie schrieb wieder. Jetzt erfolgte ein Brief, bedrohend für die ungehorsame Tochter. Die Mutter hatte vergessen, daß auch sie jung gewesen und geliebt. Diese Vergessenheit der Eltern ist ein Fluch für die Jugend der Kinder, und – wie häufig! Marguerite auch sollte darunter zu Grunde gehen. Was ihre Mutter nicht länger war, das ward die Aebtissin. Wieder und wieder schrieb die edle Frau, abmahnend, bittend, dringend. Bis ihr das schwere Werk gelungen sein würde, unnatürliche Eltern wieder zur Natur zurückzuführen, behandelte sie Marguerite ganz wie ihre Kostgängerin, ließ sie an allem Unterricht Theil nehmen und gönnte ihr zugleich die größte Freiheit. Die Gontrans waren mit mehreren Familien in Solothurn bekannt; zu denen durfte Marguerite ungehindert, so lange sie freundlich empfangen wurde. Das hörte indessen bald auf; man fürchtete, mit den Eltern in Unannehmlichkeiten zu gerathen, wenn man die Tochter, welche sich auflehnte, zu begünstigen schiene. Marguerite lernte gleich in dem ersten Kampfe mit dem Leben die Menschen recht verschieden kennen – die Mehrzahl so feig in der Theilnahme, nur einige Wenige voll Muth zur Güte. Von diesen war die Erste die Aebtissin, dann bezeigte der Arzt des Klosters sich unverändert herzlich gegen das junge Mädchen, und je auffallender andere Familien Marguerite abwehrten, je häufiger kamen die Einladungen von ihm. Eines Tages schickte er schon früh und ließ bitten, Marguerite möchte zu Mittag kommen dürfen. Die Aebtissin erlaubte es; Marguerite trat um zwölf Uhr in das Wohnzimmer ihrer neuen, aber aufrichtigen Freunde. Ein Schrei entfuhr ihr – Beat stand da, breitete ihr die Arme entgegen. Trunken von der plötzlichen Lust warf sie sich hinein: es war die erste Umarmung, der erste Kuß. Als Marguerite wieder denken konnte, wußte sie nicht, wo anfangen mit Fragen – wem verdankte sie dieses Heil, wie kam Beat hierher, wie hatte er erfahren, was mit ihr vorgegangen? Beat konnte Alles leicht erklären; Solothurn war nicht so weit von Baden, daß ein solcher Vorfall wie Margueritens Verlassenwerden nicht hätte hindringen sollen. Beat vernahm es kaum, als er sein Atelier in Baden aufhob, seine Geschäfte möglichst in Ordnung brachte und nach Solothurn kam, wo er in dem Arzt des Klosters einen Jugendfreund hatte. Er hoffte durch des Freundes Vermittelung wenigstens Nachrichten von Marguerite zu erhalten; der Freund, aufgebracht über das Verfahren der Familie Gontran, versprach ihm noch mehr – eine ungestörte Zusammenkunft. Die hatten sie jetzt, und Beat trug Sorge, daß die kostbaren Stunden nicht blos in Liebeständeleien verschwendet wurden. Mit Hülfe des Arztes, welcher den Dolmetscher spielte, vereinigten die Liebenden sich dahin, daß Beat an Margueritens Vater schreiben und förmlich um ihre Hand anhalten sollte. Die Aebtissin, zu welcher Marguerite voll Hoffnung und Freude zurückeilte, billigte diesen Entschluß vollkommen; der Arzt schrieb den Brief und Beat unterzeichnete ihn. Marguerite versuchte ihrerseits noch einmal, sich mit kindlichem Vertrauen an die Brust der Mutter zu werfen. »Verlange nicht, daß ich der Liebe und dem Glücke entsage,« flehte sie, »denke, meine Mutter, wie es Dir gewesen sein würde, hättest Du in ein Kloster gesollt, während Du jung warest und leben wolltest.« Der ganze Brief war so voll einfältig bittender Hülflosigkeit, welche das Mutterherz anrief als ein göttlich liebendes. Aber keine Antwort kam, nicht von Herrn von Gontran an Beat, nicht von der Mutter an ihr Kind. Auf die Ermunterung des Freundes schrieb Beat nochmals – Marguerite, niedergeschlagen, wagte es nicht mehr, aber die Aebtissin that es an ihrer Statt. Jetzt erfolgte von Freiburg ein Schreiben, des Inhalts, Marguerite sei frei, die beabsichtigte Mißheirath zu thun, habe aber dann von den Eltern Nichts mehr zu erwarten als Vergessenheit. Mit diesem Segen wurden die Liebenden in der Kirche des Klosters getraut, nachdem die Aebtissin noch einmal dem jungen Mädchen eindringlich vorgestellt, was sie mit einer solchen Ehe wage. Leicht Mangel, gewiß Sorgen, wer wußte, ob nicht Reue. Marguerite liebte Beat, das war ihre ganze Antwort – sie wurde getraut, unter Fremden, verstoßen von den Ihrigen. Sie weinte, denn sie fühlte die Verstoßung, aber in ihren Thränen war sie noch glücklich.
Beat – ein reiches Mädchen hatte er gewollt und ein armes genommen. Es war eine herbe Täuschung, doch seine Jugend und seine Gutmüthigkeit, welche durch Margueritens Schönheit und Liebe gereizt und gefesselt wurden, halfen ihm darüber hinweg. Auch hegte er wohl noch Hoffnung auf ein einstiges Nachgeben der Eltern. Wenn einmal geschehen war, was ihnen mißfiel, wenn Marguerite wirklich des Beistandes bedurfte, vielleicht für ein Kind neu bitten konnte – »der Zorn währt nicht ewig,« dachte Beat. Einstweilen verlangte er, was Margueriten rechtmäßig gehörte – bedeutende Pathengeschenke, die ihr von Zeit zu Zeit gemacht worden, eine kleine Erbschaft, welche ihr übergeben werden sollte, sobald sie mündig würde oder heirathete. Die Familie Gontran verharrte in ihrem einmal angenommenen System – sie schwieg. Marguerite erhielt Nichts, und Beat, der in Solothurn keine Arbeit finden konnte, sah sich genöthigt, mit seiner jungen Frau nach Einsiedeln zu seinem Oheim zu reisen und dessen Obdach in Anspruch zu nehmen.
Auf dem Wege dahin besuchte er den Doctor Sinnich in Mellingen. Der Doctor schildert das Pärchen als rührend komisch. Marguerite hatte endlich einige Bröckchen von der barbarischen Muttersprache ihres Geliebten erlernt, doch ging die Unterhaltung noch immer kläglich genug von Statten. Beat begnügte sich damit, seiner schönen jungen Frau von Zeit zu Zeit seine Dose anzubieten; sie streichelte ihm mit beiden Händen die Wangen und sagte ihm dabei zärtlich: »O mys lieb Beat!«
Bitter ist das Brod der Abhängigkeit – Marguerite sollte das erfahren! Obgleich gute und brave Leute, waren doch Beats Oheim und Tante allzu unzufrieden mit der thörichten Heirath ihres Neffen, um ihren Aerger nicht ohne Schonung auszulassen. Beat kam dabei gut genug weg, sie liebten ihn wie ihr eigenes Kind; die Vorwürfe, welche er erhielt, wurden durch Liebkosungen gemildert und vergütet. Aber Marguerite, das unwillkommene, überflüssige, zartgewöhnte Mädchen, denn sie war noch immer wie ein junges Mädchen, so kindlich, so fremd in der Welt, man wußte Nichts mit ihr anzufangen, man konnte sie zu Nichts gebrauchen – das Fräulein wurde sie spottweise genannt. Ihre Geburt ward ihr hier zum Vorwurf, der Reichthum, mit welchem sie Beat verlockt haben sollte, nun sie ihn nicht geben konnte, ihr zum Verbrechen gemacht. Wenn sie sich anbot, im Hause nach ihren Kräften zu helfen, wies man sie als nutzlos zurück, und verlangte doch gleich darauf mehr, als sie mit der größten Anstrengung leisten konnte. Jeder Antheil an der täglichen Speise wurde ihr vorgerechnet – was that sie, um ihn zu verdienen? Wenn sie manchmal mit überströmenden Thränen flehte, sie doch nicht so schlecht zu behandeln, fragte man sie, ob sie etwa fort wolle – die Thür stehe offen. Wohin hätte sie gehen sollen? Auch dachte sie nicht daran – Beat war da. Beat war da, warum nahm er denn Marguerite nicht an seine Brust, sie zu schützen vor dem Weh, das man ihr anthat? In seiner Gegenwart ließ man sie unangefochten, und klagen wollte sie nicht, ihn nicht in Unfrieden mit seinen Verwandten verwickeln, denen er Dank schuldete. Marguerite schleppte sich also hin in jammervoller Dienstbarkeit, in hoffnungsloser Ermüdung. Dazu war die Luft von Einsiedeln für ihre feine Organisation zu rauh. Und dann, welch' ein Wohnort für ein junges, lebendurstiges und ach, so schwer gedrücktes Geschöpf! Dieses weite, leere Hochthal, diese wilden Alpen, welche über die Tannenberge hereinsehen, dieser Sand, diese einförmigen Matten, diese Kahlheit, und mitten darin das baumlose, gleichsam verlorene Städtchen und das riesige Kloster mit den beiden grauen Thürmen, so großartig, aber auch so finster! Einsiedeln muß man besucht haben, aber um dort wohnen zu können, muß man stärker und gewiß glücklicher sein, als Marguerite es war. Sie verging hier vor Bangigkeit. Gewohnt wie sie des reichen, schönen Freiburgs war, hatte ihr schon Fahr eine Art Wüste geschienen, und nun gar Einsiedeln! Besonders der Winter war furchtbar für sie. Diese Gegend, schon im Grün des Sommers so düster und eintönig – was ward sie erst unter den Schneelasten, welche sich mit den ersten dunkeln Tagen auf sie legten. Wie einsam war es, wie melancholisch tönten die Glocken des Klosters! Und Marguerite, eingeschlossen in die niedrigen Stuben, die man hier überall findet, mit Balkendecken, welche wie vorzeitige Sargdeckel auf dem täglichen Leben liegen. Wer unter solchen Decken geboren, gewiegt und großgezogen ward, der mag sich unter ihnen wohl fühlen, aber wer gewöhnt gewesen ist, Raum über seinem Haupte zu sehen, der erstickt unter ihrer Pressung. Marguerite träumte manchmal, sie sei schon begraben, und zwar unter der Decke ihres bangen, luftlosen Stübchens. Ich habe das Haus gesehen, wo die jungen Leute beinah zwei Jahre gewohnt haben; es liegt an dem Platze des Klosters, doch in einiger Entfernung von diesem, ist groß, ganz von Holz, ganz schwarz angestrichen, hat eine Unzahl kleiner Fenster, und heißt »Zur heiligen Katharine«. Die Braut des Heilandkindes konnte ihren Namen keinem unheimlicheren Gebäude leihen. Als ich es sah, blühten auf allen Fenstern Blumen, besonders eine Menge rother Pelargonien, aber trotz dieses Schmuckes und trotz des Glanzes seiner Schwärze schauerte mich vor ihm noch mehr als vor ganz Einsiedeln.
Der späte Frühling erlöste Marguerite von einiger ihrer Qual; sie konnte aus, sah die Pilger ankommen und Bewegung in die heilige Oede bringen, fand in den Tannenwäldern Blumen, wurde dann und wann freundlich gegrüßt. Man hatte sie im Orte liebgewonnen, ohne daß sie es gewußt; es zeigte sich jetzt, und sie fühlte sich etwas gelindert. Freilich war dieser Trost für sie bald verloren, denn Beat beschloß, den Sommer zu Reisen anzuwenden. Er wollte verdienen, was er hier nicht konnte; er wollte dahin, wo er noch nicht gearbeitet hatte; vielleicht, so redete er Margueriten zu, würde er so viel zurückbringen, daß sie den nächsten Winter in eine Stadt ziehen könnten; aber um das Möglichste zu erwerben, mußte er möglichst sparen, und Marguerite durfte daher nicht mit. Marguerite weinte und gehorchte. Sonderbar genug wurden Oheim und Tante, seit Beat fort war, milder gegen sie. Vielleicht hatte ihre immer gleiche Sanftmuth sie entwaffnet – genug, sie begegneten ihr mit mehr Barmherzigkeit. Marguerite, noch ganz elastisch, bedurfte nur geringer Aufmunterung, um wieder Zutrauen zu fassen. Sie wurde so heiter, wie sie ohne Beat werden konnte.
Aber ihre Gesundheit war durch den Winter und die viele Trauer, welche sie lautlos geduldet, unterwühlt worden. Ein Husten zeigte sich, den die scharfen und häufigen Luftabwechselungen dieser hohen Lage unterhielten. Der Oheim wandte umsonst sein Wissen an, Marguerite welkte, mit Geduld, wie sie sich bisher gebeugt, langsam, unaufhaltbar. Beat fand sie bei seiner Rückkehr erschreckend verändert. Hätte er genug Geld gebracht, um sie gleich in eine andere Luft, in eine andere Umgebung führen zu können, vielleicht daß Genesung noch möglich war. Aber sein Verdienst war gering gewesen, wie es immer ist, wenn die Noth drängt. Wenn immer Arbeit sich finden ließe, wer würde da zu Grunde gehen? Einer unter Hunderten vielleicht. Der Trieb zur Selbsterhaltung ist mächtig, nur – muß man sich erhalten können, und die Thüren schließen sich nie fester, als vor dem Bedürfniß. Beat kam mit dieser trostlosen Erfahrung zurück. Leichtsinnig, wie er im Grunde war, verzweifelte er noch nicht. Im nächsten Jahre würde es besser gehen, ermunterte er Marguerite, im nächsten Jahre wolle er sie nach Baden bringen, da solle sie gesund werden. Marguerite horchte seinen Verheißungen wie ein gläubiges Kind und wurde dabei kränker und kränker. Der zweite Winter kam über sie, noch härter und rauher als der erste. Umsonst beeiferten sich jetzt Oheim und Tante, sie zu pflegen, umsonst war Beat herzlich gut – der Husten wich nicht, sondern ward hohler – und sie immer bleicher. Der Gönner Beat's, der Doctor aus Zürich, kam einige Male die arme Kranke besuchen; sie nahm, was er ihr gab, mit ihrer gewohnten frommen Unterwürfigkeit, tröstete Beat, hoffte zuversichtlich und – ward bleicher und kränker. Beat machte sich eines Tages zu Fuß nach Mellingen auf, überbrachte dem Doctor Sinnich eine Beschreibung von ihrem Zustande und bat ihn um Hülfe. Doctor Sinnich sah bedenklich aus, versprach aber, sich mit Beat's Oheim in Briefwechsel zu setzen und so zu thun, was er vermöge.
Einige Wochen später, es war Anfang Mai, seine Frau in Luzern bei ihren Eltern, er am Schreibtische, an einem Abend um die Dämmerstunde also hielt ein Bauernwagen vor seinem Hause, welches er sich außerhalb der Stadt gebaut hatte. »Ein Kranker,« dachte er, als er, an das Fenster getreten, den Wagen mit Betten belegt sah. Da ging hinter ihm die Thür; »Doctor,« sagte eine bekannte Stimme, Sinnich wandte sich um, es war Beat, der blaß vor ihm stand und ohne Umschweife sprach: »Doctor, da bringe ich Ihnen meine Frau.«
Sinnich war unwillig, erstaunt. »Was thun Sie mit der kranken Frau auf der Landstraße, und ohne mich eine Silbe voraus wissen zu lassen?« – »Ich konnte nicht länger mit ihr in Einsiedeln bleiben, sie hält die Luft nicht mehr aus, und – sie wollen uns auch nicht mehr behalten.« Beat sagte das mit einer Art von Trotz. Der Doctor dachte an die Kranke, die erwartend unten lag. »Für's Erste müssen wir Ihre Frau unter Dach und Fach bringen – kommen Sie, lassen Sie sie in den Löwen fahren.« – »Ja Doctor, aber das sage ich Ihnen frei – ich habe kein Geld.«
Der Doctor erbarmte sich. Er ließ das arme, heimathlose Weib in sein Haus tragen, er ließ sie in das Bett legen, welches für seine Eltern bestimmt war, wenn sie zum Besuch kamen. Marguerite versuchte mit ihren kalten Lippen seine Hand zu erreichen. Er zog die Hand fort und hieß die blasse Kranke schlafen. Sie schlief unter dem Dache des Samaritaners.
Als Madame Sinnich zurückkam, empfing der Doctor sie mit einiger Ungewißheit, »ob es ihr recht sein würde.« Es war ihr recht; sie konnte ihm schelten, wenn er ein Gedicht machte, nicht wenn er eine gute Handlung ausübte. Dieses Blatt ist in dieser Geschichte das einzige tröstliche. Möge man es mit Freude lesen, wie ich es mit Freude schrieb.
Marguerite blieb, zum ersten Male wahrhaft gepflegt, mehrere Wochen im Hause Sinnich's; dann hatte dieser, im Verein mit dem Pfarrer von Mellingen, Etwas gefunden, wodurch den unglücklichen Eheleuten wenigstens das bare Leben gesichert wurde. Sie errichteten eine Zeichenschule, die Gemeinde gab dreihundert Franken und eine kleine Wohnung und Beat den Unterricht.
Mellingen ist ein klein Städtchen, etwa eine Stunde von Baden. Der Weg führt über zwei Höhenrücken, die Badener und die Mellinger Sommerhalde. Das Reußthal ist bei Mellingen ebenso lieblich wie bei Baden das Limmaththal. Das Städtchen ist eine jener alten Ortschaften mit Mauern und Thorthürmen, durch zwei Straßen kreuzweis, wenn auch nicht ganz regelmäßig getheilt. Eine alterthümliche bedeckte Brücke führt über die Reuß hinein; ich liebe solche alte Brücken, unter deren Bedachung man geschützt stehen und den Strom fließen sehen kann. Das Wappen von Mellingen, eine weiße Kugel im rothen Felde, ist einfach und doppelt an den beiden Thorthürmen angebracht. An dem linken Arm des Straßenkreuzes liegt der größte Platz des Ortes, mit dem Gasthof zur Krone, mit der Kirche und einer Grabkapelle, mit dem frühern alten Schlosse, dessen Garten bis an die Reuß geht. Die Grabkapelle hat einen hohen, buntgedeckten Thurm, zwischen ihr und der Kirche steht der braune Glockenthurm mit einem abgestumpften Dache, das Kirchthürmchen ist klein und spitz, grau der spalierumgrünte Wendeltreppenthurm des Schlosses. Vier Thürme also, die schwere Kirchthür mit Schnitzwerk, ein hohes, hölzernes Kruzifix, viele kleine eiserne, wunderliche, verrostete, bemalte Grabkreuze, ein paar Bäume, hinhängend, wie leidend, ein paar Beete mit kranken Blumen, das Alles bildet eine Stätte des Begrabens, wo der Tod nicht als der Bruder des Schlafes, sondern als der furchtbare Erbfeind des Lebens erscheint. Marguerite sah sie täglich und stündlich, denn das ihnen angewiesene Häuschen lag dicht neben der Vikarei, und die ist der Krone gegenüber. Aber in Margueritens Herzen sprudelte wieder die Quelle der Harmlosigkeit, sie glaubte gewiß, daß sie genesen werde, sie freute sich in dem kleinen Garten, aus welchem sie die Alpen sehen konnte, zu säen, zu pflanzen. Sinnich hatte sie wirklich so weit gebracht, daß sie den Sommer weit mehr genoß, als den vorigen. Die Luft war hier so mild, man zeigte ihr so viel Wohlwollen. Marguerite gewann sich Herzen, wo sie nur wenige Wochen lebte; das Mitleid half denn auch; die jungen Eheleute wurden unterstützt, soviel nur die Kräfte der Gemeinde es zuließen. Aber mit dem Winter machte doch der Mangel sich wieder fühlbar, um so mehr, da Marguerite auf das Neue zurücksank. Sinnich und seine Frau konnten diese Entblößung, der sie ihren beschränkten Mitteln nach nur höchst unvollkommen abzuhelfen vermochten, nicht länger so gelassen mit ansehen. »Lassen Sie ihre Frau nach Freiburg schreiben,« sagten sie zu Beat, »die Eltern müssen weich werden, wenn sie erfahren, in welchem Zustande ihre Tochter ist.« Marguerite brachte mühsam einen Brief zu Stande – ein Brief, besonders ein solcher, ist für einen Kranken ein so mühsames Werk. Das Blatt, auf welchem ihre Hand gezittert, auf welches ihre Thränen und von ihrer Stirn der kalte Schweiß gefallen, das Blatt blieb unbeantwortet; ein zweites, noch mühevoller, müder, bittender geschrieben, hatte dasselbe Loos. Jetzt schrieben Sinnich und der Pfarrer, siegelten mit Sinnich's Wappen und gaben den Brief in Zürich auf die Post. Wenn Frau von Gontran ihre Tochter noch einmal sehen wolle, möge sie eilen; Margueritens Tod sei nahe.
Auf diesen Brief kam die Mutter; er war in ihre Hände gelangt, aber nicht der, welchen Marguerite ihr von Solothurn aus geschrieben, keiner von der Aebtissin, welche vor ihrem bald auf Margueritens Heirath erfolgten Tod noch einmal versucht, Frau von Gontran zu erschüttern. Der junge Gontran und der Abbé Lallemand hatten alle diese Blätter, ebenso wie auch die beiden letzten Briefe Margueritens, unterschlagen, die Mutter wußte Nichts von der Gefahr, Nichts von dem Elend der Tochter, sogar Nichts von ihrer Heirath. Sie hatte bisher geglaubt, Marguerite lebe mit Beat als dessen Geliebte. »Wie konntest Du denn das von mir denken?« fragte Marguerite mit naivem Vorwurf. Die Mutter weinte und schuldigte sich an, doch war selbst in diesen ergreifenden Augenblicken eine gewisse Gemüthskälte bei ihr nicht zu verkennen. »Ach, wenn Du doch in's Kloster gegangen wärest,« seufzte sie; »wie viel glücklicher wärest Du gewesen.« – »Sprich nicht so, meine Mutter,« antwortete Marguerite, mit dem Lächeln des befriedigten Herzens, »ich habe meinen lieben Beat.« Und sich zu ihm wendend und ihm die Hand darreichend, setzte sie in ihrem gebrochenen Deutsch hinzu: »Mys lieb Beat, ich nicht mit einem König tauschen,« ihr liebstes und häufigstes Wort. Die Mutter sah darum Beat nicht günstiger an; sie betrachtete ihn als den einzigen Anlaß aller der Uebel, die Marguerite zu leiden habe. Im Ganzen war der Besuch ein wenig erquicklicher; die Mutter hatte allerdings einiges Geld mitgebracht, aber das war nur wie ein Tropfen für die vielen und dringenden Bedürfnisse. Auch fühlte Frau von Gontran sich gedemüthigt vor den Fremden, die ihr Kind, welches sie verlassen, aufgenommen und genährt hatten. Sie konnte nicht ohne Scham die Worte der Doctorin hören: »Bedenken Sie, Madame, daß in dem armen Städtchen Mellingen auch der Aermste sich noch reich genug findet, um Ihrer Tochter Kartoffeln schicken zu können.« Sie versprach, alles Nöthige zu senden, um dem Mangel, der die Kranke umgab, wenigstens einigermaßen abzuhelfen. Sogar das Piano Margueritens, welche auf diesem Instrument Virtuosin war, sollte mit andern Möbeln kommen. Bitter lächelnd sagte die Doctorin: »Madame, dazu ist es zu spät, Ihre Tochter wird kein Piano mehr spielen, es hat ihr zu lange an Brod und Kleidern gefehlt.« Das war keine Uebertreibung; Marguerite hatte sich in Einsiedeln nicht immer satt essen können und besaß keine andern Kleider, als die, welche sie mit in die Ehe gebracht. Sie waren abgenutzt, zerrissen theilweise, Marguerite, die immer viel Geschmack für zierlichen Anzug gehabt, bat die Mutter, ihr ein neues Kleid zu schenken. »Ach, nur eines, Maman; ich komme mir in diesen alten Dingern selbst so alt vor. Gewiß, ich würde besser aussehen, wenn ich ein hübsches Kleid anhätte.« Die Kokette – sie wollte noch jetzt ihrem Beat gefallen!
Er pflegte sie wenigstens treulich, gab dabei seine Stunden, und machte außerdem die Examina, welche zu einer bessern Anstellung nöthig waren. Aber noch fand die sich nicht.
Dagegen kam die versprochene mütterliche Hülfe von Freiburg. Worin bestand sie? In einem kleinen Stuhl, den Marguerite als Kind gehabt, in dem dazu gehörigen Tische und in einer Bettdecke von Damast. Sonst Nichts, keine Wäsche, keine Geräthschaften, kein Geld, nicht einmal das erbetene Kleid. Marguerite klagte nicht, sie sagte nur in ihrer treuherzigen Art: »Sie werden die Mutter wieder herumgekriegt haben, aber das Kleid hätte sie mir doch schicken können.« Beat war muthlos, der Doctor entrüstet, seine Frau empört, besonders über den Hohn, welchen sie in der Sendung der reichen Damastdecke wahrzunehmen meinte. »Man hat es der Armen recht anschaulich machen wollen: sieh, was Du hättest haben können, wenn Du nicht einen solchen Mann genommen,« sagte sie mit einem starken, redlichen Unwillen. Vielleicht hatte sie Recht.
Einige Zeit später kam der junge Gontran. Ob um seiner selbst, oder um der Menschen willen? So gut Marguerite war, den Bruder, der ihr so viel Herzeleid angethan, ohne daß sie ihn je anders beleidigt, als durch ihr Dasein, den Bruder konnte sie nicht mit Vergnügen, ja, kaum mit Mäßigung begrüßen. Die Unterredung war demnach kurz und gezwungen, Beat sah den Schwager gar nicht, und dieser äußerte auch keinen Wunsch, die Bekanntschaft zu machen. Beistand brachte er der Schwester nicht, selbst keinen Gruß von den Eltern; er sagte nur, sie wären gesund. Nach einer Viertelstunde stand er auf, wünschte der Schwester eisig eine bessere Gesundheit und reichte ihr die Fingerspitzen. Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab zur Wand, ohne Etwas zu erwiedern; er ging, sichtlich erleichtert, den unangenehmen Besuch überstanden zu haben. Sein Wagen war noch nicht bereit; er hieß den Kutscher ihm nachkommen und ging zu Fuß bis zu Sinnich's Haus. Dort ließ er sich melden. Sinnich lag gerade krank, nahm aber den Bruder Margueritens doch an; »denn vielleicht,« sprach er zu seiner Frau, »daß er doch in guter Absicht kommt.« Die Doctorin schüttelte den Kopf; sie erwartete Nichts mehr von der Familie Gontran. Der junge Mann trat ein, abstoßend von Physiognomie, so unähnlich wie möglich seiner jetzt noch schönen Schwester. Im Betragen war er äußerst höflich und dankte mit ausgesuchten Wendungen dem Doctor sowohl wie dessen Gattin für die Güte, welche sie seiner beklagenswerthen Schwester erwiesen. »Ich wünschte sehr, mein Herr von Gontran, die Familie der Madame Bodenwieler hätte uns weniger Gelegenheit zu dieser Güte gegeben,« antwortete der Doctor, geradezu wie er war, und hier doppelt unumwunden im Gefühl, das Recht sei auf seiner Seite. Der junge Gontran zuckte die Achseln, machte Mienen, bedauerte unendlich die Verhältnisse, unglückliche Mißverständnisse. Es war nicht schwer, hierauf zu antworten, und die Doctorin that es mit aller Rücksichtslosigkeit, zu welcher in gewissen Stunden die Guten den Schlechten gegenüber die Erlaubniß von Gott selbst haben. Der junge Gontran hörte sie mit übel verhehlter Verlegenheit an. Endlich sagte er: »Damit Sie sehen, daß es mir nicht an brüderlicher Liebe fehlt, so will ich von nun an meiner Schwester drei Kreuzer täglich aussetzen und Sie bitten, ihr dafür Geflügel zu kaufen.« Der Doctor maß den zärtlichen Bruder mit einem Blick, der zwischen Erstaunen und Verachtung schwebte. »Ist das Ihr Ernst, oder wollen Sie mich zum Narren haben?« – »Es ist mein völliger Ernst.« – »Und wissen Sie, daß man für dieses Geld kaum am Sonntage ein kleines, elendes Hühnchen kaufen könnte?« – Gontran zuckte wieder die Achseln und sagte: »Das thut mir sehr leid, aber mehr bin ich nicht im Stande.« – »Herr,« schrie jetzt der Doctor mit der gewaltigen Stimme seiner gesunden Tage, »machen Sie, daß Sie fortkommen, oder, krank wie ich bin, stehe ich auf und schmeiße Sie hinaus!« Gontran wartete diese Anstrengung von Seiten des Doctors nicht erst ab; er entfernte sich eilig, stieg in seinen Wagen, der gerade ankam, und wünschte sich gewiß Glück, so gut davongekommen zu sein.
Dies war das letzte Mal, wo Marguerite von ihrer Familie hörte. Sie war jetzt aufgegeben; ein Theil der Luftröhre war bereits herausgefault, sie hatte ganz die Stimme verloren und konnte nur noch essen, wenn sie sich auf den Rücken an den Boden legte. Dennoch kam sie an guten Tagen noch manchmal zu Doctors, wo sie sich recht eigentlich daheim zu glauben schien. Sie liebte sehr kleine Leckereien, und Doctors pflegten, wenn sie Gäste hatten, ihr immer etwas vom Nachtisch aufzuheben. Kam sie nun, und die Doctorin reichte ihr die für sie bestimmten Früchte oder Bonbons, so warf sie, kindisch begierig wie sie war, sich sogleich an den Boden und fing an, auf ihre Art zu essen. Die Fremden wunderten sich dann nicht wenig; hörten sie aber erst die Geschichte des armen, sonderbaren Geschöpfes, so machte das Lächeln der tiefsten Theilnahme und den wärmsten Tröstungen Platz.
Konnte Marguerite denn getröstet werden außer von Oben? Sie liebte, sie lebte trotz aller Leiden mit Lust, und sie mußte sterben. Es ist dieses das Loos von Tausenden unter uns, aber wir wollen auch nicht fragen, wie schwer wir es finden. Marguerite blieb wenigstens heiter in der Geduld; sie beklagte sich nicht und klagte nicht an; sie hatte ihr kärgliches und bitteres Leben genommen, wie Gott es gegeben hatte, ohne zu grübeln, ohne zu zweifeln, mit Dank für die wenigen Blumen im stechenden Kranze. »Mys lieb Beat, nicht mit einem König tauschen,« war und blieb ihre Rede, selbst in den letzten, schrecklichsten Tagen.
Beat weinte an ihrem Bette, wie jeder nur einigermaßen fühlende Mensch bei dem Anblick solcher Leiden und besonders eines schweren Sterbens weint. Aber er weinte nicht um sie, nicht um sein Weib, nicht wegen der bevorstehenden Trennung. Marguerite war für ihn längst Nichts weiter mehr als eine Last. Er hatte sie mit Gutmüthigkeit getragen, aber je näher der Augenblick kam, wo er sie in ein Grab niederlegen dürfen sollte, je mehr athmete er auf. Jenseits dieses Grabes lag für ihn eigentlich erst das Leben. Marguerite hatte einen andern Willen. »Höre, mys Beat,« sagte sie mehrmals mit einer eigenen Eindringlichkeit, »Du mir ja nicht wieder heirathen. Ich Dich will gehabt haben allein hier unten und dort oben. Wenn Du nehmen willst andere Frau, ich kommen und machen so.« Und sie machte mit ihren abgezehrten Händen an seinem Halse die Geberde des Erwürgens.
Beat versprach ihr Alles. Sie sah ihn dann durchdringend an, halb forschend, halb drohend. Noch in ihrer letzten Minute hatte sie diesen Blick. Beat drückte ihr die Augen zu; nun konnte sie ihn nicht mehr ermahnen. Marguerite war gestorben, ohne geliebt worden, ohne glücklich gewesen zu sein, ohne glücklich gemacht zu haben. Von dem ganzen Reichthum des Lebens hatte sie nur drei Empfindungen gekannt: Hoffen, Lieben und Leiden.
Beat wartete kaum die nöthigste Frist ab, welche der Anstand vorschreibt, um sich nach einer neuen Frau umzusehen. Ja, Marguerite war für ihn nur noch seine erste Frau, und was noch mehr, die verdrießlichste Täuschung. Jetzt wollte er nicht wieder getäuscht werden – er spähete vor Allem nach einem hübschen Vermögen. Die Erbinnen eines solchen zeigten sich indessen sämmtlich ungeneigt, Beat auf die Art zu beglücken, welche er für die einzig wahre hielt.
Inzwischen war er mit einem bedeutend bessern Gehalt als Zeichenlehrer nach Baden berufen worden, kurze Zeit nachdem Doctor Sinnich dort Badearzt geworden war. Und kaum sah er diesen so eifrig verfolgten Wunsch erfüllt, so schien auch der zweite in Erfüllung gehen zu sollen. Er lernte die Schwester eines Regierungsrathes aus St. Gallen kennen, ein nicht mehr ganz junges, aber dabei hübsches, und was noch besser war, sehr reiches Mädchen. Wie Beat es angefangen, weiß man nicht, vermuthlich wie alle Bewerber, denen es glückt – genug, er gefiel dem Mädchen. Ihrer Familie nicht; indessen da das Mädchen mündig war, hatte das wenig auf sich. Als sie nach St. Gallen zurückkehrte, wurde ein Briefwechsel verabredet, und sie schied von ihm mit der festen Zusicherung, entweder ihre Familie zur Einwilligung zu bewegen, oder weiter Nichts nach dieser Einwilligung zu fragen.
Als Beat seine neuen Aussichten Doctors mittheilte, sagte Madame Sinnich halb scherzend, halb ernsthaft: »Bodenwieler, denken Sie an »Mys Beat, ich komme,« und sie machte die Geberde, welche die Sterbende gemacht.
Beat lachte; für ihn war Marguerite so gut wie vergessen. Selbst mit ihrem Denkmal blieb es beim Entwurf, obwohl ihm jetzt die Mittel zur Ausführung nicht mangelten.
Es war, als regne es auf einmal Manna für ihn. Was er sich auch immer gewünscht, einmal eine größere Arbeit in Marmor ausführen zu können, das sollte ihm jetzt ebenfalls werden. Ein reicher Mann bestellte bei ihm die Statue von Julia Alpinula, dieser jungen Priesterin, welche aus Gram darüber starb, daß sie von den Römern das Leben ihres Vaters nicht hatte erbitten können. Beat hatte sich bereits eine Probe von dem Marmor kommen lassen, aus welchem er sein erstes großes Werk zu schaffen gedachte. Der reine, weiße Stein war angelangt, stand vor ihm; von ungewöhnlichem Feuer belebt, entwarf er eine vortreffliche Zeichnung zu seiner Statue. Ermuthigt durch den Erfolg, und sich im Triumphzuge dem Glücke nähernd, schrieb er seiner Geliebten und forderte zärtlich und dringend, sie möge jetzt alle Bedenklichkeiten überwinden und ihm endlich das bestimmte Wort geben. Als er den Brief auf die Post getragen, ging er zu Sinnich's, denen gegenüber er wohnte, erzählte ihnen, was er geschrieben, und zeigte die Skizze. »Ich bin der glücklichste Mensch,« rief er, »denn von St. Gallen kann mir die günstigste Antwort nicht fehlen.« Der Doctor freute sich an der Skizze, seine Frau aber sagte dieses Mal strafend: »Bodenwieler, und das Denkmal Ihrer Frau ist auch noch nicht weiter als auf so einem Blatte. Bedenken Sie, was Sie thun; sühnen Sie, ehe Sie sich verheirathen, ihre Frau durch einen wirklichen Beweis Ihres Andenkens.« – »Ich will's thun, sobald ich verheirathet bin,« erwiederte Beat, »wahrlich, es ist meine ernstliche Absicht.« Sie sah nachdenkend und unzufrieden vor sich hin; Beat ging. »Was fällt Dir denn ein,« fragte der Doctor, »daß Du den Bodenwieler bange machen willst? Du, die sonst so sehr gegen alle Phantasterie eifert?« Sie antwortete: »Rede, was Du willst – mir ahnt nichts Gutes.«
Es war Sonntag; Beat hatte trotzdem eine Stunde in seiner Schule zu geben. Er kehrte in seine Wohnung zurück, um sich Bleistifte und dergleichen zu nehmen. Während er damit beschäftigt ist, fällt von seinem entfernt stehenden Secretair die Brustbüste Margueritens herab, und wenige Augenblicke nachher von der Wand gegenüber sein eigenes Portrait in Alabaster. Beide Gegenstände waren nicht angerührt worden, von Außen war keine Erschütterung gekommen. Beat, etwas blaß und betroffen, läuft im Vorbeigehen noch einmal zu Sinnich's hinauf, findet aber nur die Frau, erzählt ihr eilig, was vorgegangen, und setzt nachdrücklich, aber doch noch halb lachend hinzu: »Ich verspreche Ihnen, ich mache das Denkmal, sobald ich verheirathet bin.« Damit geht er fort und in seine Schule, welche er in dem alten Schlosse jenseits der Brücke hielt. Die Doctorin bleibt mit einer entschiedenen Angst bis zum Abend allein; da kommt ihr Mann und sagt: »Der Bodenwieler ist in der Schule auf einmal so krank geworden – ich muß doch hinüber, sehen, was er macht.« Er geht, kommt nach einer halben Stunde wieder: »Der hat die Darmentzündung, und ist, irre ich nicht sehr, unrettbar verloren.« – »Da siehst Du's, – Marguerite,« sagte die Doctorin blaß und leise.
Der Doctor hat mir sein Wort darauf gegeben, daß Beat am dritten Tage seiner Krankheit in derselben Stunde gestorben ist, wo das Jawort seiner neuen Braut aus St. Gallen eintraf. Erkläre man es, wie man es wolle, mit dem alten Spruche Shakespeare's oder mit dem bequemen Worte: »Zufall, nichts als Zufall.« Ich habe gethan, was ich mir vorgenommen, diese Geschichte erzählt. Eine Erklärung am Ende versprach ich nicht.
Beat und Marguerite sind wenigstens auf Erden getrennt – er liegt in Baden, und der kleine Marmor, den er als Probe kommen ließ, bildet seinen Leichenstein. Sein Grab besuchte ich nicht, wohl aber den neuen Kirchhof von Mellingen, wo das unbezeichnete Grab Margueritens ist. Es war an einem sonnigen Tage zu Ende August, die Aepfel waren fast reif, die Wiesen voll Herbstzeitlosen, im Städtchen brechte man Flachs, hackte Holz und schaffte Kartoffeln ein. Der Kirchhof lag ein Stückchen davon, an dem Scheidepunkte der beiden Straßen nach Luzern und Aarau. Pappeln umgeben ihn, eine Kapelle zeigt sich weiß, mit offener Säulenhalle. Ich hätte für Marguerite einen andern Grabort gewählt, mit mehr Schatten und mehr Ruhe, nicht so an der Landstraße, nicht so zwischen Aeckern. Doch wo wir ruhen, ruhen wir im Herrn, wenn wir geliebt wie Marguerite.
Der Vierwaldstätter See ist das heilige Wasser der Schweiz, nicht der gemachten von Achtzehnhundertfunfzehn, sondern der alten, wirklichen, lebendigen Schweiz. In silberner Drachengestalt liegt er, eingesenkt zwischen die Mythen von Schwyz, die Gletscher von Uri, die Hörner der beiden Walden, und um ihn herum liegen alle ersten Erinnerungen der Schweizer: Brunnen, Rüttli, Altorf, Zwinguri, Küßnacht. Und hier, wo diese Erinnerungen Grund und Boden haben, haben sie auch Poesie. Die Tellsage, welche mir in der französischen Schweiz so unsäglich widerwärtig geworden, wurde mir hier wieder lieb. Tell's steife Bildsäule auf dem Markte zu Altorf, der bemalte Thurm, welcher an dem Platze der Linde steht, unter die sein Knabe sich hinstellen mußte, Bürglen, sein umbüschtes Dorf, der Schächenbach, worin er ein heimathlich Grab gefunden, seine Platte mit ihrer kleinen Kapelle, Alles heischte und erhielt meine Aufmerksamkeit. Die Platte ist nicht ganz so hoch und gefährlich, wie man sie immer gemalt sieht, springt auch nicht von starren Felsen hervor, sondern ruht an einer lieblichen, obwohl steilen Mattenhöhe – nun was thut's? – der Sprung war immer ein guter und ein natürlicher dazu; denn wer wird sich selbst in's Gefängniß fahren, wenn er es anders machen kann? Gewiß wenigstens nicht ein Gemsenjäger, dem die Gefangenschaft wo möglich noch grauenhafter sein muß als einem civilisirten Menschen. Auch daß Tell den Herrn, welchen er so zu fürchten hatte, mit Bedacht und Schlauheit todtschoß, war natürlich – seine Landsleute würden heute noch dasselbe thun, wenn es sie drängte und sie könnten. Der ganze Tell ist natürlich, nur der Mann eines rücksichtslosen Naturvolkes und nicht das Ideal eines modernen Republikaners. Er hat die Republik nicht gekannt, sondern seinen Feind aus dem Hinterhalt getroffen wie eine Gemse, ohne allen innerlichen Kampf, ohne jede andere Ungewißheit als die über die Sicherheit seines Schusses. Wenn Goethe doch hier nicht Schillern gewichen wäre! Wir hätten dann einen wahren Tell.
Doch nicht allein durch die Sage, durch seine Natur fesselt der See der Urkantone. Wenn der Genfer aristokratisch und stereotyp, der Neufchateller alltäglich malerisch, der Bieler von romantischer Einsamkeit, der Zuger mit Grazie eingefaßt, der Zürcher überall lachend, der kleine Lowerger rührend-traurig, der Thuner, aus der Höhe gesehen, ein stilles Auge der Alpen ist, so ist der Vierwaldstätter von einer wundersam phantastischen Melancholie. Ich habe diesen Eindruck tief in mich aufgenommen, während wir zu allen Stunden und bei allen Beleuchtungen über den See hin und her schifften. Wir wollten diesen kennen, auswendig lernen, seine Buchten, seine Alpen, seine Vorgebirge und Bergzungen. Die längste von diesen, der Bürgen, erinnerte mich augenblicklich an einen Schnabel des Bucintoro. Wie schön am Abend die blaue Bergumgebung von Fluelen, gegenüber der einströmenden Reuß! Wie einfach und doch wie bedeutungsvoll die kleine Kapelle von Kindleinsmord, auf dem Hüglein zwischen jungen Tannen! Ich sah den Vater, wie er sein Söhnchen, das um Brod bittet, mit dem Kopfe an den Stein schlägt. Was die Schrift als Unmöglichkeit annimmt, hier ist's geschehen. Dann der Pilat, als Berg was der See als See ist, ja, recht eigentlich der Berg des Sees, ganz so zackig, so phantastisch, so drachenhaft, wie dieser. Luzern dürfte gar nicht am Vierwaldstätter See liegen, wenn es nicht den Pilat hätte, diesen Nebelkönig mit seinem Hofstaat von Teufelchen. Ich erkannte den Pilat augenblicklich, ohne daß man ihn mir genannt, so deutlich und wahrhaftig hatte ich mir ihn vorgestellt. Und ich wollte durchaus hinauf, aber sie versicherten mir Alle, für Frauen sei es völlig unmöglich, höchstens junge Herren gelangten hinauf, und auch die nur unter Angst und Gefahren; man müßte die Nacht im Freien zubringen, auf Baumstämmen über Abgrundsspalten hinweg – ich hatte bei dem Nebelritt von der Rigi herab meinen Muth messen können – es war ein kleines, sehr kleines Endchen Muth, und ich blickte den Pilat, den einzigen Berg in der Schweiz, auf den ich mich wirklich hinaufgewünscht, traurig an und fuhr nach Fluelen.
Von hier aus entschieden wir uns für den Weg nach der Teufelsbrücke. Wie der Pilat der Berg, so ist der Gotthardspaß die rechte Straße von und nach dem Vierwaldstätter See und von den großen Verbindungswegen, welche die Ströme den Menschen durch die Gebirge gebahnt, gewiß einer der fahrwürdigsten. Goethe war ihn hinangewandert – wir halten diese Erinnerung gebührend an Ort und Stelle. Desgleichen vergegenwärtige ich mir mit Vergnügen die wilden tyrolischen Längenthäler und ebenso mit einem Lächeln den Brenner, der gegen diesen energischen Durchbruch der Alpen sich ausnimmt wie ein Blumenpfad neben einem Klippensteige. Wie es im Frühling hier sein möge, war auch leicht sich auszumalen – die Lawinenbetten, die jetzt versiegten Bäche, die weißen Wasserfälle, wir durften sie uns nur gefüllt, geschwellt und überbrausend denken, und wir hatten den Frühling im Reußthale. Etwas fiel mir noch fortwährend ein – der Franzose, welcher in Töpfer's Schilderung vom großen Bernhard durchaus auf die Lawine gefallen sein will und die höfliche Einwendung: »Aber, mein Herr, gewöhnlich fällt die Lawine auf Sie,« gar nicht beachtet. Hier würde die Lawine unfehlbar auf ihn gefallen sein und er mit ihr unfehlbar in die Reuß. Wenn schon im ganzen Thale die Blöcke wie ein Hagelschlag lagen, wilder noch ward's im Schöllenenthal, von Göschenen hinauf zur Teufelsbrücke. Rechts erschien in einiger Entfernung die prächtige Gruppe der Göschenen Gletscher und links bog die Schlange der Straße zwischen die starren, aufrechtstehenden Felsenhöhen hinein. Ein kleiner Bube, begleitet von einem gleich kleinen schwarzen Pudelchen, bot uns hier Krystalle vom Gotthard an, Rachtepasse, wie der Rauchtopas in der hiesigen Sprache heißt. Die Gemsenjäger bringen diese und andere Krystallisationen aus den verborgenen Grotten mit herab und verkaufen sie an Knaben, denen sie die Namen davon lehren. Die Knaben ihrerseits verhandeln sie an die Fremden – wir hatten in Amsteg welche ausgewählt, mochten jedoch den Kleinen nicht abweisen und nahmen seine beiden Stückchen für anderthalb Batzen. Die Münze war ihm fremd; gravitätisch ging er zum Kutscher und erkundigte sich, wie viel es wäre. Der sagt' es ihm. »Einen und einen halben Batzen?« fragte er, »dann dank' ich schön.« Wir kamen bald darauf langsam genug im feuchtkalten Nebelsturme an die Teufelsbrücke. Sie überraschte uns nicht – die vielen Brücken vorher hatten uns vorbereitet, aber sie befriedigte. Die alte verlassene unter ihr würde den Blick anziehen, ginge nicht schon viel früher eine über den grünweißen Strom, die auch verlassen, grün bewachsen und mit abgebrochenen Brüstungen daliegt und dabei viel besser gesehen werden kann. Von Regenbogen auf dem Sturz war weder an diesem, noch am folgenden Tage die Rede, obgleich wir in schöner, heißer Sonne nach Fluelen zurückfuhren. Denn wir fuhren zurück – wir machten es Goethe nach, doch nicht um es ihm nachzumachen, sondern weil wir nicht anders konnten. Schnee war in der Nacht von Neuem gefallen, sowohl die Furca, wie der Paß nach Bündten schwierig zu unternehmen geworden, und das Thermometer zeigte im Zimmer nur sieben Grad. Wir schwankten ein wenig zwischen Links und Rechts, zwischen den Rheinquellen und den Rhonegletschern, dann sagte ich gefaßt: wir wollen zurück. Goethen ward es schwer, von hieraus nicht nach Italien hinabzueilen, sondern freiwillig umzukehren. Hätten wir Italien nicht verwüstet, verstört, für eine Zeit verwandelt gewußt, es wäre uns ebenfalls nicht leicht gewesen; vielleicht war es uns auch nicht leicht, aber wir fuhren mit würdiger Ruhe nach Fluelen zurück.
Am späten Abend, als wir zum letzten Male auf dem scheinend blauen See schwankten und die halbumwölkten Berge uns einen feinen Nebelregen in das Gesicht sprühten, da ergriff uns wehmüthiger und mächtiger denn seit lange die Sehnsucht nach einem Hause. Im Herbst möchte man einfliegen wie im Frühling aus – wir konnten's nicht; ungewiß lag auch dieser Winter wieder vor uns. Otto sagte tröstend: »Laß gut sein, besser Liebe ohne eine Heimath, als eine Heimath ohne Liebe.« Ich drückte ihm die Hand, aber ich mußte mir doch einige bittere Thränen abtrocknen.
»Und wenn Sie in die Schweiz kommen, so reiten Sie hinauf auf den Rigi. Den Rigi müssen Sie sehen, es ist eine gar zu große Herrlichkeit« – so sprach vor drei Jahren in Breslau Dr. Anton Theiner, drückte mir zum letzten Male herzlich die Hände und ließ uns fortfahren nach Venedig.
Wenn wir nach unserer Heimkehr durch Tyrol und nicht durch die Schweiz, bisweilen davon redeten, ob, wie und wann wir diese letztere besuchen würden, so fragten wir uns jedes Mal: »Und werden wir auch Theiner's Willen thun?« Und Eines gestand dann immer dem Andern: »Du, ich habe eigentlich gar keine Sehnsucht auf den Rigi.«
Wir waren fast seit einem Jahre in der Schweiz, doch Kummer und Radikalismus, Kranksein und Ueberdruß am Leman nahmen uns dermaßen ein, daß wir des großen Rigi vielleicht kaum einige Male und da stets nur mit der größten Gleichgültigkeit gedachten.
In Baden am Stein lernten wir, daß man nicht der Rigi, sondern die Rigi sagen müsse. Wir nahmen diese Belehrung ebenfalls mit vollkommener Gleichgültigkeit an, denn wir beabsichtigten durchaus weder auf den, noch auf die Rigi hinaufzureiten.
Jede Schweizergegend fast hat ihr Nizza oder ihr Italien, nämlich irgend einen Ort, wo irgend Etwas im Freien wächst. Von Genf sollte es Morner, Richterschwyl von Zürich, von Luzern endlich Wäggis sein. Wir wollten nach diesem Nizza. Ein Engländer, der mit einer englisch häßlichen Frau und einer gleichen Tochter auf dem Dampfschiffe saß, fragte mich, ob auch wir »to the Rigi« gingen. »O nein,« antwortete ich, »auf den Rigi geht oder reitet Jedermann; ich liebe das nicht; wir bleiben in Wäggis.« Vier Stunden später sagte ich zu dem Engländer auf dem Kulm: »Very happy to see you.« Wäggis-Nizza war eins von den prosaischen Dörfern, wie sie an den Schweizerseen liegen, und der Sohn und Kellner des einzigen Gasthofes ein so unbeschreiblich langweiliges Geschöpf, daß ich vor Langeweile gestorben wäre, hätte ich mich nur acht Tage lang von ihm bedienen lassen müssen. So ritten wir denn, um doch Etwas zu thun, auf die Rigi.
Wenn in künftigen Jahrhunderten von diesem unserm Jetzigen und nebst seinen Sitten auch von seinen Absonderlichkeiten geschrieben werden wird, so wird man in irgend einer Novelle folgende Schilderung zu lesen bekommen:
»Es gab in jener Zeit« – ich sage mit Bedacht: es gab, denn die Rigi könnte dann ja eingefallen, oder die Schweiz ein unbekanntes Land geworden sein, also – »es gab in jener Zeit einen Berg, der hieß Rigi. Dieser Berg war, was viele andere Berge auch sind, so und so viel tausend Fuß hoch, übrigens durch keine eigenthümliche Merkwürdigkeit ausgezeichnet, man müßte denn als eine solche annehmen, daß man von seiner Höhe aus elf kleinere und größere Seen sah. Ob mit oder ohne Grund, genug, dieser Berg war »in die Mode gekommen«, wie man damals sprach, d. h. man mußte ihn gesehen haben. Weil man das nun mußte, kamen aus Europa und Amerika, zuweilen auch aus andern Welttheilen, aber hauptsächlich doch aus diesen beiden, und aus Europa hauptsächlich von England, Leute beider Geschlechter und jeglichen Alters und ritten oder stiegen auf diesen Berg hinauf. Sie hießen die Rigireisenden. Waren sie auf der Höhe, welche die Kulm genannt wurde, so hüllten sie sich in Mäntel und Tücher, brachten Lorgnetten und Operngläser an die Augen, ließen sich von den Führern, die sie hinaufgeleitet, die Namen der verschiedenen Seen nennen und suchten die Sonne. Wenn diese sich sehen ließ, so war das »Panorama«, wie man den Anblick nannte, ein sehr prachtvolles: die Seen blitzten, die Gletscher wurden roth und die Bergspitzen schwammen in einem blauen Oceane. Es geschah jedoch äußerst selten und man nannte es der Seltenheit wegen den »Sonnenuntergang vom Rigi.« Geschah es nicht, lag das Panorama in Bleigrau da, so zogen die Rigireisenden sich frierend und gelangweilt – nebenbei, das Gelangweiltsein war eins ihrer kenntlichsten Merkmale – gelangweilt und frierend also, in das Haus zurück, welches von Holz auf dem Kulm erbaut worden war. Dort schliefen sie, bis die Stunde des »Sonnenaufgangs vom Rigi« gekommen sein sollte. Diese Stunde war indessen noch ungewisser als die des Sonnenunterganges. Unter hundert Rigireisenden schlug sie nur für zehn, die übrigen neunzig ritten oder stiegen wieder hinunter, ohne die Sonne gesehen zu haben, gewöhnlich im dichten Nebel, häufig im starken Regen und manchmal sogar im Schnee. Das nannte man die »Tour auf die Rigi.«
Die Rigi ist trotz ihrer ganz alltäglichen Gestaltung ein Auszug der gemäßigten Alpennatur. Die Obstbäume, selbst die weicheren, an ihrem Fuße, das Laubholz auf ihrer Mitte, weiter die Tannen, endlich die Steilheit und die Nacktheit, zusammengewachsene Felsenriffe, einzelne seltsame Steine, den Epheu, die Quellen und die Mattenblumen, die blaue Tiefe zu den Füßen und das letzte spärliche Gras oben, sie hat Alles – wer einen Tag und eine Nacht zu verlieren hat, reite hinauf und sehe zu, ob er die Sonne zu sehen bekommt; aber doch hat »die Tour auf die Rigi« am meisten meine heftige Begierde gezähmt, den Pilatus, diesen Brocken der Schweiz, in seiner Unbesuchtheit zu stören.
»Und so reisen Sie wirklich heute Abend noch?« fragte ich den Grafen Wladislav.
»Calclire, muß sein,« versetzte er.
Wir saßen im südlichen Fenster eines Salons im ersten Stock des Hotel Weber. Es war ein trüber Tag, welcher eben in einen trüben Abend übergehen wollte. Die Waldhöhen, zwischen denen der Rhein hervorkommt, fällt und sich weiter windet, waren bunt und feucht, der Rhein sah so dunkelgrün aus wie das Glas der Römer, aus denen sein Wein getrunken wird; der Fall erschien noch weißer als gewöhnlich.
Das Hotel Weber ist ein unwillkürlicher Stelldicheinort für alle Welt. Wir waren dort von mehreren Bekannten getroffen worden, unter andern von Wladislav, und hatten eine Menge Bekanntschaften gemacht, zuerst die des zweiten großen Unbekannten Charles Sealsfield. In dem »Süden und Norden« dieses Verfassers hatte Wladislav eben an diesem Nachmittage eifrig studirt, und so kam es, daß er mir halb absichtlich und halb absichtslos auf gut kentuckisch antwortete.
»Kommt mir vor, wär' noch nicht nöthig,« sagte ich lachend in derselben Weise.
»Sag' Euch, muß nach Hause,« antwortete er höchst ernsthaft.
Wladislav war groß, schlank und dunkelblond. Sehr gehalten in seinem Betragen, sehr überlegt in seinen Handlungen, und dabei doch der seltsamsten Extravaganzen fähig, nur daß er sie eben auch so gelassen unternahm und zu Ende brachte, wie alles Andere. Was ich an ihm sehr gern hatte – er war originell wie ein Kind, ohne es zu wissen. Vollkommen ruhig in der Gewißheit, es gerade so zu machen wie Jedermann, wunderte er sich ungemein, wenn man sich über ihn wunderte. Wir kannten uns schon mehrere Jahre – er mochte ungefähr fünf- bis sechsundzwanzig sein, dabei Herr über drei- bis viermalhunderttausend Thaler. Jetzt war er unsertwegen vier Tage hiergeblieben, wir hätten ihn gern noch länger gesehen, aber er wollte sich nicht länger mehr halten lassen.
»Was versäumen Sie denn aber?« fragte Otto.
»Haben Sie gar kein Heimweh, nicht Sie, und Sie auch nicht?« fragte er uns Beide.
»Und wenn wir's haben – wir müssen doch noch hier bleiben.«
»Um ein Buch zu schreiben, das überall just eben so gut geschrieben werden kann, einen Brief zu erwarten, der nichts Gescheidtes bringen wird, denn Briefe, auf die man so wartet, bringen nie etwas Gescheidtes.«
»Sie sind sehr tröstlich.«
»Ich will Sie gern hier fort haben. Sie entwickeln ein schreckliches Talent zum Sitzenbleiben. Ich sehe Sie noch den ganzen Winter über hier kleben und dann im Frühjahr mit Mr. Sealsfield nach Louisiana fahren, um sich dort, wie er Ihnen versprochen hat, in eine Blumenvase setzen zu lassen.«
»Er hat ihr auch verheißen, sie könne vielleicht eine kleine Revolution zu Stande bringen,« bemerkte Otto.
»Wollen Sie das etwa?« fragte Wladislav feierlich.
»Nein,« antwortete ich lachend, »eine Revolution in Amerika machen, lockt mich nicht. Mein kleiner gigantischer Wunsch – Sie wissen, Jedermann hat einen solchen, nur größer oder winziger, – meiner also wäre ein hübsches, niedliches, comfortables Privat-Königreich im Orient.«
»Wo Sie das biblisch-patriarchalische Verhältniß zwischen Herren und Sklaven einführen würden, welches Mr. Sealsfield so wunderschön findet?«
»Sklaven würde ich natürlich kaufen. Wie sollte man es denn anders machen?«
»Vollkommen einverstanden, Majestät. Und wie würden Sie denn heißen? Sie haben Mr. Sealsfield Herrn über Neger, Alligatoren und Klapperschlangen genannt – welchen Titel wollen Sie annehmen?«
Ich ließ den Scherz fallen und sah trübselig hinaus. Wenig elastisch in meiner Stimmung, wurde es mir jetzt leicht zu mühsam, den Federball des Humors zu werfen.
»Glauben Sie mir, kommen Sie zurück,« fing Wladislav nach einer Pause wieder an, aber jetzt ernsthaft. »Da nun einmal für den Augenblick Mr. Sealsfield im Zenith Ihrer Schätzung steht –«
»Bekennen Sie es,« unterbrach ich ihn, »Sie sind etwas vaterländisch eifersüchtig auf den ›überseeischen Autor‹.«
»Aergerlich eher, weil er Deutschland so ganz und gar herunterreißt.«
»Glauben Sie mir, wenn er das thut, verabscheue ich ihn so von Herzen, daß ich mich am liebsten mit ihm auf Tod und Leben schießen möchte. Aber er thut's nur in Stunden. Gewöhnlich ist er gar nicht so hyperamerikanisch, dagegen ganz human und deßwegen mit seiner in die literarische Civilisation verkleideten Urwäldlernatur sehr lieb und wacker.«
»Das ist eine curiose Lobrede,« sprach Wladislav kopfschüttelnd, »die haben Sie sich vermuthlich ganz eigens für Sealsfield ›auscalculirt‹.« »Aber,« fuhr er, wieder zu seinem vorherigen Gedanken zurückkehrend, mürrisch fort, »warum, wenn er Deutschland so geringachtet, hat er sich die Mühe gegeben, Deutsch zu lernen? Warum fuhr er nicht in aller Bequemlichkeit fort, Englisch zu schreiben? Bei uns konnt' er ja sicher sein, übersetzt zu werden?«
»Warum haben Sie ihn das nicht gefragt, ehe er gestern abreiste?«
»Ich wollt' es thun, da sah ich einen Regenbogen auf dem Fall, das zerstreute mich.«
»O diese Regenbogen sind hier sehr häufig,« warf ich nachlässig hin.
»Freilich, wenn man vier Wochen am Rheinfall sitzt, ist's das Wenigste was man gewinnt, so von den Regenbogen auf ihm reden zu können. Es ärgert mich – ich möchte Sie entführen und mit Gewalt nach Deutschland zurückbringen. Daß Sie nicht schon an der bloßen Sehnsucht nach Musik verschmachten, bei der Unmöglichkeit, ein gutes Piano zu finden, und bei der zweiten Unmöglichkeit, selbst das schlechte Piano ohne horrende Kosten gestimmt zu kriegen!«
»Herr Weber wird nächstes Frühjahr ein gutes Piano kaufen.«
»Auf welchem Sie jetzt schon im Vorgefühl spielen können – sehr genügend! Und dann diese Einsamkeit – das ganze Hotel ist ja schon leer geworden.«
»Schade genug,« sagte ich, »es sollte im Winter benutzt werden so gut wie im Sommer. Diese hohen, großen Zimmer, diese freie Lage in der Gegend, welche es einem mehr und mehr anthut, je länger man sie sieht, die freundliche Familie, welcher es wirklich so Ernst ist –«
Wladislav wollte mich unterbrechen – ich ließ es nicht zu, sondern fuhr fort: »und diese Stille – wirklich, kein Ort ist mehr zu einem Schriftsteller-Einsiedeln geeignet als dieses Hotel.«
»Oder zu einer Schriftsteller-Colonie,« bestätigte Otto.
»Sogar zu einer Schriftsteller-Colonie!«
Wladislav hielt sich die Ohren zu. »Still, wenn Sie Beide erst mit Ihren Extragedanken anfangen, so sind wir den nächsten Augenblick mitten in der willkürlichen Absurdität, und vor der fürchte ich mich, denn man kann sie bei einiger Uebereilung für die Vernunft nehmen. Ich sage Ihnen, alle Schriftsteller-Verbindungen sind unheilsvoll – aus einer jeden wird eine Schule, in jeder Schule herrscht Zwang, und jeder Zwang drückt den Geist, der nur ein Element hat – die Schönheit in der Freiheit. Aber eben so wenig taugt für den Schriftsteller einsiedlerisches Vornehmthun. Im Gedräng soll er sich Bahn brechen, sich an die Ellenbogen stoßen, auf die Füße treten lassen –«
»Da wäre ich Ihnen bei der Tombola auf dem Markusplatze wahrhaft idealisch erschienen, denn gedrängter kann es kein Gedränge geben – man wurde nicht nur gestoßen und getreten, sondern auch gelegentlich etwas entzweigedrückt.«
»Werden Sie denn ernsthafte Dinge nie ernsthaft behandeln lernen, oder zu behandeln die Gnade haben?« fragte Wladislav mit dem Uebersehen des Mannes, des durch die Gymnasialklassen geläuterten und in den verschiedenen Collegien verschiedener Universitäten vollendeten Mannes. »Was ich meine und was Ihnen auch Sealsfield sagte – wenn Sie auf Ihr Vaterland wirken wollen, so müssen Sie in und mit Ihrem Volke leben.«
»Ja,« sagte ich geängstigt, »wenn nur die unglückliche Zweiheit in meiner Natur nicht wäre! Intellectuell bedarf ich Deutschlands, physisch der Sonne, folglich des fernsten Südens oder des Orients, denn das werden Sie mir doch eingestehen – die Sonne scheint in Deutschland nicht recht.«
»Scheint sie hier in Schaffhausen mehr?«
»Wenigstens eben so viel wie anderswo in der Schweiz.«
»Ja,« sprach Otto, der es bei Wladislav immer darauf anlegte, mit ganz ungehörigen Dingen dazwischen zu kommen, »ich finde, man thäte viel gescheidter, sich hier in Pension zu geben, als im Waadtlande, wenigstens die letzten Herbst- und die ersten Frühlingsmonate. Veranlassen Sie doch recht viel Landsleute dazu – wir wollen's auch thun.«
»Man soll sich gar nicht in Pension geben,« schrie Wladislav ungeduldig, »das ist eine moderne Albernheit. Man soll entweder vernünftig zu Hause bleiben oder ordentlich reisen, aber nicht wie Sie sich immer zehn oder zwanzig Meilen weiter von einem Schreibtisch an den andern schieben.«
»Sie haben klug reden,« rief ich, auch ungeduldig. »Wenn man nun kein eigen Haus hat und von zehntausend Hindernissen im ordentlichen Reisen gehemmt wird?«
»Die Zahl ist wieder gigantisch. Sie würden mit Cockley einen ganz harmonischen Dialog führen.«
»Und wo sind Sie denn den ganzen Sommer über gewesen?« fuhr ich fort. »Auch in der Schweiz. Also –«
Er bat schön, ich solle nicht böse sein – ich habe Recht. Dann fragte er mich, wie viel ich an meinem Buche noch zu schreiben habe. Ich antwortete ihm, ich müsse, um die gehörige Form heraus zu bekommen, noch eine meiner Schweizer-Erinnerungen ausarbeiten. Ob ich da nicht eine Novelle von ihm als Schluß annehmen wolle? Sie sei noch nicht ganz fertig – er habe sie, angeregt durch das Geschwätz mit uns, am vorigen Morgen angefangen und in der Nacht so weit gebracht wie sie jetzt sei. Sie spiele im Waadtlande, unter den Heimathlosen, von denen ich doch gehört? »Wer hätte im Waadtlande nicht von den »Hehmathlosen« gehört, wie sie's dort aussprechen,« sagte ich. »Nun gut,« sprach Wladislav, »wollen Sie da meine Erzählung hören? Nämlich, ich erzähle, und Alles ist mir buchstäblich begegnet.« Ich sah ihn lächelnd an. – »Ich betheure es,« sprach er. So hieß ich ihn sein Manuscript holen und wollte sehen, ob es gut genug sein werde, um mir eine Mühe zu ersparen.
Wir hatten etwa noch eine Stunde bis zu Wladislav's Abfahrt. Die Lichter des Dorfes Neuhausen brannten röthlich links in der Senkung diesseits des Rheins, die im Schlößchen Laufen blinkten rechts auf der jenseitigen Erhöhung. Der weiße Fall spielte und rauschte geisterhaft durch die dunkle Nacht. Sonst war die ganze Gegend einsam, das ganze Haus still, und Wladislav las:
Ich kam im September vorigen Jahres in Vevey an. Sollt' ich den Winter über am Genfer See bleiben? – ich wußte es noch nicht. Ich kannte ihn schon, ohne je an ihm gewohnt zu haben. Die Luft war nicht blos warm, sondern heiß – das that mir wohl – in Dresden war's so kalt gewesen. Ich will hier bleiben, dacht' ich, als ich in den »drei Kronen« am Fenster meines Zimmers stand. Warum nach Italien? Ist's dein Italien? dein Bilderland? In Neapel, in Sicilien der König gegen Etwas, das Constitution heißt und es nicht ist. In Rom der Radicalismus gegen den armen Pius, welcher hätte der auferweckte Sixtus V. sein müssen, um wollen zu dürfen, was er gewollt. In Mailand unmöglich etwas anderes als Krieg, in Venedig endlich – ja, was war denn in Venedig? Ich konnte nicht wissen, ob Heldenmuth, ob kindische Einbildung. So blieb ich am Genfer See.
Ich empfehle die »drei Kronen«! Sie sind nicht zu theuer für den, der Geld hat, und sehr unterhaltend für den, welcher keine Gesellschaft braucht. Ich brauchte keine, war mir selbst genug, aß auf meinem Zimmer. Nicht daß ich trübsinnig gewesen wäre, melancholisch über die Zeit, wie es eben Mode war. Es hat noch ärgere Zeiten gegeben, wird noch ärgere geben. Die Welt geht eben noch nicht unter, wenn es mit ihr auch einmal drüber und drunter geht. Es ist dergleichen blos ein Ausrecken der gewaltigen Menschheitsglieder, die da Völker heißen. Etwas Geräusch, etwas Störung, dann ist's wieder gut und der wundervoll riesige Organismus vollführt weiter, was zu vollbringen ihn Gott lehrt. Wenn wir an der Menschheit zweifeln wollen, wie wollen wir denn da an uns glauben?
O mein Vaterland, Deutschland, Heimatherde, an deiner Grenze sitz' ich, da ich dieses schreibe! Der Rheinfall rauscht unten – ich bin seines Rauschens schon gewohnt, hör' es nur, wenn ich eben daran denke. Es ist hier fast wie in Deutschland – nein, es ist ganz wie am Rhein, wo er unser ist – Rebenhügel, Wald, Felsen – Alles lieblich, einfach poetisch. Und herüber weht's wie vom Siebengebirg. Und ich bin im Geist auf jenen Hügeln, labe mich an jenen Trauben, sehe, Mondscheinerscheinung, the castled cliff of Drachenfels, sumse vor mich hin von Heine:
Die Luft ist kühl und es dunkelt, |
Und unten flimmert der Rhein – |
Der Gipfel des Berges funkelt |
Im klaren Mondenschein. |
O, der Rhein ist ein Heim Heinescher Lieder, wie Heidelberg eines für Uhlandsche, und ich lieb' den grünen Rhein und den hellen Neckar und die blaue Elbe, und du, ganz Deutschland, bist mein Schatz, mein Heiligthum und meine Hoffnung, und böte man mir die ganze übrige Welt dafür, ich vertauschte mein Deutschland nicht.
Einer Brustwunde wegen sollte ich in's Warme. Bei einer Barrikade am Pfingstfeste in Prag hatte ich sie bekommen. Ich war gerade auf dem Hradschin, als es unten in der Stadt anfing. Um nach meinem Hotel zu kommen, mußte ich über mehrere im Bau begriffene Barrikaden. Bei der einen wurde ich angehalten und sollte helfen. Ich weigerte mich; natürlich, wo werde ich? Ein Stoß in die Brust streckte mich nieder – ein wüthender Student war's, der ihn gab. Mit Hülfe einiger minder patriotischen Musenjünger rettete mich ein junger Kurländer, der mit mir war, und – klüger als ich, sich nicht geweigert hatte. Todtkrank lag ich den ganzen Pfingsttag über, während Kleingewehrfeuer, Kanonendonner und Sturmläuten abwechselten – gerade keine angenehme Musik, wenn man in die Brust gestochen ist. Am nächsten Tage mußten alle Fremde aus der Stadt – wie sie mich fortgebracht, weiß ich nicht recht. Aber ich kam auf die Elbe und auf der Elbe nach Dresden, welches seine Barrikaden noch erwartete. Dort genas ich langsam, doch die Brust blieb angegriffen. Und deßwegen saß ich jetzt am Genfer See.
Er ist schön, besonders wenn man ihn nicht zu lange sieht. Manche Gegenden kann man nicht genug sehen – der Genfer See ist keine davon. Doch gefiel mir's recht gut, nur ein Bischen langweilig war's. Gerne wäre ich manchen Tag noch wo anders hin gereist, aber ich wußte nur nicht wohin. Ausdrücklich war mir die Politik untersagt, damit ich mich nicht aufregen möchte, und wo konnte ich hoffen ohne Politik zu leben, wenn nicht in der Schweiz, die gerade ruhig war? So schickte ich mich denn in Geduld, las was ich eben fand, und ging spazieren, wenn es nicht allzu heiß war.
Bald wurde es mir öfter etwas zu scharf, dann saß ich am Fenster, sah den See blau sein, grau, grün, schwarz und dann wieder blau werden, und hatte Gedanken, bisweilen dumme, manchmal aber auch recht vernünftige.
Auf meinen Spaziergängen unterhielt ich mich öfter mit den Bewohnern der vielen kleinen Dörfer, die von Vevey nach Villeneuve zu liegen. Die Leute waren prosaisch, aber auch recht vernünftig, und interessirten mich, wie etwas Gleichgültiges interessiren kann.
Eines Tages erzählte mir ein junger Mensch von einem Diebstahle, der in Clarens begangen worden. Eine Uhr oder dergleichen. Die Heimathlosen sollten es gewesen sein.
»Die Heimathlosen?« fragte ich, überrascht durch das deutsche Wort in dem französischen Munde.
»Ja, Monsieur, so nennen wir die Leute, welche keine Papiere haben und deßwegen überall vertrieben werden.«
»Und wo sind sie denn da?«
»Dort oben, in den Wäldern gegen Freiburg zu.«
»So duldet man sie hier im Canton?«
»Ja, Monsieur, man kann sie doch nicht fortjagen.«
»Wenn man es überall thut –« sagte ich ironisch.
»Irgendwo müssen sie doch bleiben können,« meinte der junge Mensch.
Ich lobte die Menschenfreundlichkeit des Cantons und fragte dann: »Aber wovon leben sie?«
»Sie machen Körbe und andere Dinge – betteln, stehlen.«
»Kommen sie in die Kirche?«
»Nie.«
»Aus welchem Stamme sind sie?«
»Man weiß es nicht.«
»Woher sind sie gekommen?«
»Man weiß es auch nicht. Wir nennen sie die Heimathlosen.«
Die Heimathlosen – die Zigeuner sind heimathlos. Waren die Heimathlosen in den waadtländischen Gebirgen Zigeuner?
Ich fragte rechts und links. Kein Aufschluß. Die Waadtländer sind so gelassen über Alles, was nicht entweder sie selbst, oder Kaiser und Könige betrifft. Immer bekam ich dieselbe Antwort: »Man weiß nicht, wer sie sind, man weiß auch nicht, woher sie kommen – wir nennen sie die Heimathlosen.«
»Kommen sie denn nie herunter?« fragte ich eines Tages ungeduldig, »da sie doch ihre Körbe verkaufen –«
»Diesen Morgen ganz früh war eine Frau von ihnen hier,« antwortete mir der dümmste der sehr dummen Kellner.
Ich war sehr verdrießlich. Es war nun schon tiefer Spätherbst – die »drei Kronen« langweilten mich bereits etwas – eine Heimathlose wäre mir eine Zerstreuung gewesen. Der Kellner erhielt den ausdrücklichen Befehl, jedes sich zeigende Individuum dieser geheimnißvollen Kaste zu mir zu führen, und wäre es auch um fünf Uhr Morgens. Der Kellner sah noch dümmer aus als gewöhnlich – er wunderte sich.
Acht Tage gingen hin. Nicht ein Heimathloser. »Unerträglich!« rief ich am neunten Tage. Ich will es nur gestehen – ich vegetirte in einer trostlosen Einförmigkeit, und es ist kaum glaublich, wie sich bei einem solchen Zustande alle Gedanken krankhaft auf einen Gegenstand heften können. Meine Ungeduld wurde wirklich nervös. Die Heimathlosen reizten mich, peinigten mich, ließen mir keine Ruhe. Ich wollte zu ihnen, da sie nicht zu mir kamen. Entschlossen erkundigte ich mich nach dem Wege.
»Erlauben der Herr Graf,« sagte der Kellner, »Sie werden doch nicht dieses Gesindel besuchen wollen?« Der Kellner war – ein Landsmann von mir.
»Warum denn nicht?« fragte ich kurz.
»Das Gesindel ist sehr unsicher.«
»So?«
»Ja gewiß – es ist ihm nicht zu trauen.«
»Wie der Bauer von der Viper sagte,« murmelte ich, an Shakespeare denkend. Dann dankte ich dem Kellner für seine Warnung und versprach ihm, mich in Acht zu nehmen. Den andern Morgen steckte ich meine Pistolen ein, aber nur wenig Geld, ließ mir noch einmal die Richtung andeuten, in welcher die Heimathlosen hausen sollten, nahm eine Tasche mit Brod und Wein um und machte mich auf.
Meine Brust war nun wieder so weit gut, daß ich diese Entdeckungswanderung wagen durfte. Und hätte ich auch gewußt, daß es mir schaden würde, ich hätt' es doch gethan.
Die Gegend werde ich nicht erst beschreiben. Von jeher sind mir die Localitätsschilderungen unausstehlich gewesen. Was kann dem Leser daran liegen, ob, während eine Begebenheit vor sich geht, rechts der und der Fluß, links die und die Stadt und im Hintergrunde das und das Gebirge zu sehen gewesen? Vielleicht versteh' ich es nicht, aber ich kann nun einmal dergleichen in sein sollende Poesie übersetzte Landkarten nicht leiden und sage von der Gegend nur ganz schlechtweg, daß sie aus Gebirgen und Tannenwald bestand. Abgestorbene Bäume hie und da, bisweilen Felsen, Bäche, manchmal ein wenig Gefahr auf den überschwemmten Steinen – es waren unermeßliche Regen gefallen, auch Schnee hatte es hier oben schon gegeben. Tiefe Stille, völlige Einsamkeit – die letzten Sennhütten waren längst hinter mir geblieben – kein rüstiger Waadtländer kam mir mit einer Holzladung oder einem Baumstamme entgegen – ich stieg allein im menschenleeren Walde hinan.
Menschenleer – war er's? Die Heimathlosen sollten ja hier horsten wie die Raubvögel, sich verbergen wie die Schlangen? Noch hatte ich indessen keine Spur von ihnen entdecken können.
Da plötzlich zwischen hohen Tannen eine kleine Strecke Schnee wie ein glatter Teppich, und darauf, in das Dickicht hineinführend, frische, tief eingedrückte Fußstapfen.
Ich war, wo ich sein wollte, sah, was zu suchen ich hier herauf gekommen war.
Warum hemmte ich meinen bisher raschen Gang?
Mein Herz hatte eine stärkere Bewegung angenommen. Fürchtete ich mich? An der Barrikade, umbrüllt von tobenden Schwachköpfen hatte ich nur Verachtung empfunden, hier – schauerte mich.
Wenn wir auf uns allein angewiesen sind, einer zugleich ungewissen und möglichen, zugleich sichtbaren und räthselhaften Gefahr gegenüber – es ist das ein eigenes Gefühl. Die Civilisation verwöhnt uns so sehr, immer auf den Beistand außer uns zu zählen, welcher Gesetz heißt, daß es uns wohl seltsam zu Muthe sein darf, wo er nicht ist. Die Amerikaner behaupten sogar, wir Deutschen riefen, ehe wir uns unserer Haut zu wehren wagten, immer erst pflichtgehorsamst nach der hohen Polizei. Das ist bei mir wenigstens nicht der Fall gewesen – gerieth ich beim Berliner Carneval etwa in eine Schlägerei, so gebrauchte ich meine Hände tüchtig. Man warf mich hinaus, doch nicht ungerächt. So konnte ich mich denn ziemlich auf mich verlassen, allein hier handelte es sich um etwas mehr, als den Berliner-Schönen auf die wunderbare Manier, wie man sie vielleicht nur dort kennt, den Hof zu machen.
Mein Vorrath war noch unangetastet. In einer Sennhütte hatte ich für einen Frank ein Alpenfrühstück eingenommen, wie die Schweizer Schriftsteller es seit zweihundert Jahren auf deutsch und lateinisch gerühmt haben: Honig, Brod, Butter, Käse und Crême; denn nie bekommt man Milch, immer nur Crême. Meine Tasche war also voll, und ich setzte mich auf einen Baumstrunk, brach Brod und trank aus meiner Flasche. Kraft wollt' ich gewinnen für jeden Fall – der Gesättigte hat Muth; der Hungrige, welcher friert, schwerlich.
Der Himmel war fahl, die Luft nicht rauh, aber feucht, durchfröstelnd, um mich her Einöde, mir zur Seite die Spur der Fußstapfen.
Ich aß mein Brod ungewöhnlich langsam, als hätte ich keine gute Zähne mehr. Endlich schämte ich mich, stand auf und dachte: »Nun ist's wahrlich Zeit. Im Schweiße deiner Stirn hier herauf zu klettern, um hier auf einem alten Baume sitzen zu bleiben und trocknes Brod zu essen – es wäre eine Schande, die nicht mehr zu verlöschen wäre. Die Heimathlosen sind ja eben nichts mehr als arme Korbmacher und dergleichen – an's Todtschlagen werden sie, weiß der Himmel, nicht denken, vielleicht dein Geld dir abbetteln – gut, dazu hast du's ja mitgenommen. Und wollten sie etwas Anderes, gut, so wolle du dich tüchtig wehren, und nun vorwärts.«
Ich folgte der Spur, drang langsam und vorsichtig weiter in das Gebüsch ein. Verwirrt war's wie kraus Haar. Die Zweige schlugen mich in die Augen, streiften mir beinah die Mütze vom Kopfe. Der Nachtreif hing hier noch an den Nadeln, kalte Tropfen fielen in mein Haar, auf meine Stirn. Naß geworden und doch erhitzt erreichte ich endlich eine Lichtung. Eine Hütte stand da, ein Hund schlug an. Die Hütte war ein Dach von Tannenreisern auf einem Viereck von Stämmen und Zweiggeflechten. Auf einer Skizze hätte sie sehr malerisch ausgesehen, in der Wirklichkeit war sie buchstäblich ein Wohnplatz der Armuth. Desolation, anders kann ich keinen Ausdruck finden für sie selbst und ihre Umgebung von Tannen, Gestrüpp, etwas Reisholz und einigen Krautköpfen. Ja, Krautköpfe waren da, und Kartoffeln mußten auch da gewesen sein, denn ich sah ein Paar auf dem bischen Acker liegen, wozu die Lichtung benutzt war. Diese paar Kartoffeln, dieses umgewühlte Erdreich trösteten mich in der Seele, nicht meinetwegen – ich fürchtete Nichts mehr – nein, wegen des Bewohners der Hütte. Oder hatte sie Bewohner, diente sie einer Familie Heimathloser als Heimath?
Heimath – was ist Heimath? Die Heimath habt ihr auf jeder Erde, unter jedem Schatten – wo ihr wohnt. Die Heimath ist nicht der Geburtsort, nicht das Vaterland, sie braucht selbst nicht ein eigenes Haus zu sein, sie ist – der eigene Heerd. Wo dessen Feuer flackert oder glimmt, wo dessen Rauch aufwirbelt oder sich niedersenkt, da ist die Heimath.
Ich wollte sehen, wer hier seine Heimath hätte. Der Hund, der kleine, graue, braune, gelbe, struppige, nackte Hund, ein Nondescript, für welches ich keine andere Benennung weiß, als das gutmüthig schimpfende »Köter«, kauerte mißtrauisch vor dem Brette, welches als Thür diente. An meiner Kleidung erkannte er mich für einen Eindringling. Zu bellen wagte er nicht, aber knurrend schielte er zu mir empor, als ich an der sogenannten Thür pochte.
»Entrez!« sagte es von innen.
Ich drückte das Brett zurück, bückte mich und trat in das Zweighaus. Ein Mann saß da und schnitzelte. Italienische Figur und Physiognomie. Ohne aufzustehen, maß er mich mit einem festen Blick, dann schnitzelte er weiter. Doch sah man, daß diese Gleichgültigkeit nur gemacht war.
»Parlate italiano?« fragte ich.
»Si, Signore,« erwiederte er.
Ich hatte etwas von Verirren u. s. w. vorbringen wollen, doch von diesem Menschen fühlte ich instinktmäßig, er werde mich durchschauen. So sagte ich denn: »Ich komme, um Euch zu besuchen.«
Ein mißtrauisches Runzeln der Augenbrauen, ein augenblicklicher stechender Seitenblick.
»Nicht Euch persönlich,« beeilte ich mich hinzuzusetzen. »Die Heimathlosen.«
Das Gesicht wurde wieder italienisch gleichgültig.
»Ihr gehört auch zu ihnen?«
Gemessenes Kopfneigen.
»Ihr seid aus –«
»Hier geboren, Signor.«
»Aber der Vater?«
»Der Vater? Aus Toscana.«
»Und hierhergekommen – wann?«
Der Mensch faßte mich wieder schärfer in's Auge. Ich sah, daß er meine Fragen unverschämt fand.
»Erlaubt mir, daß ich mich ein wenig zu Euch setze,« sagte ich einlenkend. »Ich bin ermüdet, weit hergekommen.«
Er rückte etwas weiter auf seiner Bank, so daß Raum für mich wurde. Ich setzte mich, wirklich angegriffen.
»Von Vevey?« fragte nun er.
Ich bejahte.
»Der Signor wohnt dort?«
»In den Kronen.«
»Wegen der Gesundheit?«
Ich zuckte die Achseln.
»Warum steigt da der Signor in solchem Wetter so weit herauf?« fuhr er mit halbem Lächeln fort.
»Wie ich Euch sagte – um Euch zu besuchen.«
Das Lächeln auf seinen Lippen wurde deutlicher. Er schien mich für thöricht zu halten. Nach einigen Secunden sagte er humoristisch: »Bei uns ist doch wenig zu finden.«
»Auch begehre ich Nichts, als Euch kennen zu lernen.«
»Uns Alle?« antwortete er zweideutig.
»Seid Ihr nicht Alle –« forschte ich.
»Ehrlich?« ergänzte er. »O gewiß, Signor. Aber sonderbar – sonderbar, ein klein wenig excentrisch. Man läßt uns ungestört.«
Das war verständlich. Ich blieb jedoch sitzen. Saß ich einmal neben einem Heimathlosen, wollte ich ihn auch durchforschen, wenn es mir gelang nämlich.
Es schien mir nicht gelingen zu sollen. Der Mensch neben mir war wie versiegelt. Absichtliche Ruhe ganz und gar, und dabei ganz und gar ruhig in der Absicht, mich fortzuschicken.
Denn als er sah, daß ich mich nicht rührte, stand er auf und fragte: »Soll ich den Signor vielleicht ein Stück hinunterbegleiten? Vielleicht könnte der Signor den Weg hinunter doch verfehlen, wenn er ihn hinauf gleich gefunden hat.«
Auf dieses im reinsten Toskanisch gemachte Anerbieten ließ sich dann eben Nichts erwiedern. Mißmuthig stand ich auf. »Da bin ich so weit hergekommen,« sagte ich, »mit den besten Gesinnungen hergekommen, die sich denken lassen, und Ihr gönnt mir nicht einmal fünf volle Minuten Ausruhen unter Euerm Dache.«
»Mein Dach ist ein armes Dach,« erwiederte er demüthig spöttisch, »und es schickt sich nicht, daß ein solcher Signor darunter verweile.«
»Aber warum wollt Ihr nicht, daß wir besser bekannt mit einander, daß wir Freunde werden? Ich würde so gern Etwas für Euch thun.«
»Danke, Signor. Freundschaft ist nur zwischen Gleich und Gleich, nicht zwischen einem Reichen und einem Heimathlosen. Wollt Ihr mir Etwas geben, so werd' ich's dankbar annehmen, denn ich wäre ein Narr, wenn ich den Stolzen spielen wollte; aber von Freundschaft redet nicht und kommt auch nicht wieder.«
Der Mensch sprach italienisch höflich, aber bestimmt. Es klang gerade, als glaube er sich mir überlegen. Ich zuckte verächtlich die Achseln. »Wenn Ihr's denn so wollt – ich werde Euch nicht bitten.«
Damit reichte ich ihm das Geld, welches ich aus meiner Börse in die Hand geschüttet. »Gott segne Euch, Signor,« sagte er freimüthig, mit sichtlichem Vergnügen. »Da nehmt auch das noch,« sprach ich milder, zog den Rest des Brodes und die noch halb volle Flasche hervor und bot ihm Beides. Ueberrascht blickte er mich einen Augenblick an und sprach dann mit Rührung: »Erlaubt mir, Euch bei der Hand zu fassen, Signor. Wer mir Geld giebt, der ist mein großmüthiger Wohlthäter; aber wer sein Brod mit mir theilt, der erkennt mich für seines Gleichen, für einen Menschen. Das habt Ihr gethan, Signor, und nun befehlt über mich. Was Ihr zu wissen wünscht, – wenn Pietro es Euch sagen kann, so sollt Ihr es erfahren.«
Aber ich sah nach dem Himmel, wo er über der Lichtung sichtbar war. Der Abend brach bereits herein, und ich hatte noch mehrere Stunden bis hinunter, ja, wer wußte, ob ich Vevey noch vor der Nacht erreichen konnte. Das sagte ich meinem Heimathlosen, den ich nun wenigstens bei einem christlichen Namen nennen konnte. Abermals, und jetzt eifriger als vorher, erbot er sich, mich zu führen, einen kürzeren Weg, einen vortrefflichen Weg. Der Signor würde sehen. Jetzt nahm ich seine Begleitung gern an. Ich fürchtete keine Begegnung, aber einen möglichen Fehltritt, ein Ausgleiten, einen gebrochenen oder doch verstauchten Fuß. Treu meinem Grundsatz, mich vor allem unnöthigen Schaden vorzusehen, wollte ich mich lieber führen lassen, als romantisch allein verunglücken. Pietro lief zu seinem Hunde, streichelte ihn, gab ihm den ersten Bissen von dem Brode und gebot ihm, sich vor die Thür zu legen und das Haus zu bewachen. Der Hund begriff sicherlich die Wichtigkeit und das Ehrenhafte dieses Auftrages – er streckte sich mit der Majestät eines Löwen vor der sogenannten Thür hin. Pietro legte neben ihn noch drei Bissen Brod, das übrige fing er selbst an zu essen. Den Wein hatte er Anfangs verwahren wollen, ohne davon zu nehmen; vermuthlich sollte das gute Getränk in einer recht ruhigen Stunde mit dem gehörigen Behagen genossen werden. Aber als er an die Thür gelangt war, hielt er still, erhob die Flasche und besah den Wein mit einem Liebesblicke. Ich nahm seinen Kampf mit sich selbst wahr und hieß ihn trinken – er solle in Vevey mehr erhalten. Hurtig und vergnügt trank er nun, doch nur in kleinen Zügen. Mir schmeckte es mit. Als kein Tropfen mehr aus der Flasche herauswollte, machte er ihr ein komisch-wehmüthig Gesicht; dann wischte er sich den Mund, sprang zu mir zurück, verbeugte sich und erklärte sich für bereit zu meinen Diensten, und nicht nur für jetzt, sondern in alle Ewigkeit. Der Mensch war wie umgewandelt. Vorher ein Grande des Waldes, jetzt ein großes Kind. Auch jünger dünkte er mir jetzt um Vieles. Für einige dreißig hatt' ich ihn gehalten – er war erst zweiundzwanzig Jahr. »Man hungert manchmal – das macht alt,« sagte er, aber ganz vergnügt, ja, mit wahrer Komik. Seiner Laune nach war das Heimathlosendasein eine Shakspeare'sche Comödie, wunderlich, aber ganz gleich gemischt aus Lust und Wehe. Gewiß wenigstens keine Tragödie des Elends, und am allerwenigsten eines jener Proletariats-Dramen, woran sich jetzt so viele stumpfe Federn versuchen, ohne irgend etwas einzuernten als ein mäßiges Honorar, oder irgend etwas anzustiften als eine unermeßliche Langeweile.
Pietro stieg hinab und ich folgte durch das Doppeldunkel des Waldes und des Abends, auf Pfaden, die außer ihm vielleicht nur Kinder beim Beerensuchen aufgefunden hatten. Und dennoch nicht nur furchtlos, sondern völlig vertrauungsvoll, so sicher, gut geleitet zu werden, wie ich sonst als Kind unserm alten treuen Kammerdiener gefolgt. Es liegt eine heilige Brüderschaft im Theilen des Brodes – Pietro hatte mir nicht umsonst so herzlich gedankt, und ich konnte mich ihm unbedingt überlassen.
Aber das Unternehmen war für meinen Gesundheitszustand ein tolles gewesen – das sah ich ein, als ich endlich um zehn Uhr wieder in Vevey anlangte. Zwölf Stunden fast immer auf den Füßen und noch dazu gestiegen, entweder hinauf oder hinunter – ich fühlte mich wie entzwei, der Frost der Ueberreizung blieb auch nicht aus – ich mußte mich legen, doch nicht ohne für Pietro ein Abendbrod nebst einer Flasche Wein befohlen zu haben. Er verzehrte die für ihn märchenhafte Anrichtung in meinem Zimmer und machte dabei ein fürchterliches Geräusch. So hatte ich noch nie essen hören – ich dankte dem Himmel, als er sich für gesättigt erklärte und was noch vorhanden war, in die einzige Tasche steckte, die er an seinem Kittel hatte. Er versicherte mir, es sei für das arme Hündlein, für den Liebling, den er allein habe lassen müssen, um dem Signor zu dienen, wie es seine Schuldigkeit gewesen, setzte er mit tiefem Ernst hinzu. Eigentlich beabsichtigte ich ihm noch eine Flasche Wein mitgeben zu lassen, aber bei näherer Ueberlegung hielt ich es für rathsamer, ihn nicht gleich zu verwöhnen und dadurch überbegehrlich, wenn nicht gar schlimm zu machen. Er hatte heute schon Geld, zwei Mal Wein, ein Abendessen erhalten und außerdem mich noch zum Freunde – das war genug – ich entließ ihn mit meinem Dank, meinen guten Wünschen. Mit ganz unnöthiger, und eben darum erheiternder Feierlichkeit gelobte er, morgen wieder bei seinem Gönner und Herrn, dem edelmüthigsten aller christlichsten Cavaliere, zu sein. Ich hieß ihn auch seinen Hund mitbringen; er dankte für die Ehre, welche ich dem armen Thiere erwiese, aber, setzte er wichtig hinzu, er muß durchaus oben bleiben und unser Haus bewachen. Ich hatte es schon bemerkt – er redete von sich und dem Nondescript, welches nebenbei gesagt, Tiger hieß, immer in der Mehrheit.
Diese Nacht hatte ich tüchtiges Fieber, aber für den nächsten Tag keine Langeweile zu befürchten. So war ich dann musterhaft in der Geduld.
Pünktlich kam am andern Morgen Pietro an, dermaßen pünktlich, daß ich, ermattet von der bösen Nacht, noch im tiefsten Schlafe lag. Getreu dem vor elf Tagen erhaltenen Befehl weckte der Kellner mich auf. Ich fluchte sowohl über den Kellner wie über meinen Heimathlosen. Aber Pietro zeigte eine so wahre Freude, seinen groß- und edelmüthigen Gönner wieder zu begrüßen, daß ich nicht böse bleiben konnte, sondern ihm Frühstück geben und mir seine Geschichte erzählen ließ.
Das war eine Vagabonden-Novelle trotz einer, so gut, so frisch, so bunttoll und tollbunt, wie gewiß keiner unserer Schriftsteller sie erfinden könnte, wer weiß sogar, ob ein englischer.
Ich schreibe sie nicht nach – ihr würden zu sehr die schwarzen Augen fehlen, welche, wetteifernd mit dem überströmenden Munde, sie erleuchteten, ihre Schatten schwärzer und ihr Helles greller machten. Nur so viel, daß Pietro's Vater in Neapel erst Priester und dann Bandit gewesen, dann da und dort gegaunert hatte, überall gehetzt, verfolgt, verjagt worden war. Endlich hatte er sich ins Waadtland geflüchtet und hier »niedergelassen«, wie Pietro emphatisch sagte. Ein Weib sei mit ihm gekommen, hätte –, gesegnet sollte sie sein! – unter dem Dache, welches ich kannte, Pietro geboren. Pietro würde ungern den Glauben preisgegeben haben, daß sie eine der ersten Familien der »Niederlassung«, vielleicht gar die älteste seien. Aristokratie auch unter den Heimathlosen! Ich lachte –, Pietro sah ernstlich aus; ich entschuldigte mich, er wurde wieder freundlich. Großen Werth legte er darauf, daß er lesen und schreiben könne. Sein Vater habe ihm die gebührende Erziehung gegeben, meinte er mit nicht geringer Genugthuung. Um es mir zu beweisen, holte er aus seiner Tasche einen beschmutzten, aber vollständigen Ariosto hervor und las mit feuriger Declamation einige Ottaven.
Ich unterbrach ihn, um ihm allerlei Vorschläge für ein Einbürgern in unsere Welt zu thun. Mit großer Demuth hörte er mich an, begleitete Alles, was ich sagte, mit seinem Beifall, erschöpfte sich in Danksagungen und am Ende kam es doch heraus, er wolle bleiben, wo und wie er sei. Es werde nicht recht gehen, meinte er bedenklich. Er verstehe Nichts, sei zu alt und zu dumm Etwas zu lernen. »Vielleicht auch zu träge,« bemerkte ich mit einiger Strenge. »Vielleicht« – er gab es mit schmerzlichem Bewußtsein seiner Unwürdigkeit zu. »Wenn man nicht geboren ist zu etwas, ist's sehr schlimm, Signor«, sagte er kläglich. »Aber, Pietro, Ihr werdet dann nie mehr Hunger haben.« – »O, Signor, der Hunger kommt selten, selten, und es ist immer besser, bisweilen einen Tag zu hungern, als alle Tage thun zu müssen, was uns nicht gefällt«. Damit küßte er mir die Hand, bat mich, nicht auf ihn erzürnt zu sein, und ich konnt' es nicht. Er war so con amore Vagabond, Heimathloser – es wäre Grausamkeit gewesen statt Güte, ihn zu einer ordentlichen Existenz zu zwingen. Was seine Festhänglichkeit an sein sogenanntes Haus noch vermehren mochte, war, wie ich erwähnte, die Erinnerung an einige unschuldige Fehltritte, begangen auf dem Markt des Lebens und angemerkt von der bête noire der Amerikaner, der Polizei. Denn Pietro's Füße hatten die Grenzmarken der Civilisation überschritten – er war mit seinem Vater und allein einige Male zu kleinen Besuchen in Italien, Savoyen, der übrigen Schweiz gewesen, aber wie ich denke, nicht immer mit besonders gutem Gewissen wieder in sein Waldasyl zurückgehuscht. Wenigstens zeigte er gar keine Lust, sich legitim bei Tageslicht und Angesichts der Menge sehen zu lassen.
»Nun wohl«, sagte ich, als ich meine Ueberredungskünste vergeblich fand, »thut wie Ihr wollt, aber bei denen, welche Ihr Eure Leute nennt, werde ich nichtsdestoweniger versuchen, sie für etwas Besseres als die Heimathlosigkeit zu gewinnen.«
Pietro wiegte bedächtig den Kopf, nahm seinen klugen Blick an und antwortete: »Ich zweifle, daß sie wollen werden – ich bin gewiß, daß sie nicht wollen werden.«
»Aber was habt Ihr in Euren Wäldern, auf der rauhen Erde, unter dem oft mitleidlosen Himmel?«
»Ihr sagt's, Signor, wir haben die Wälder, die Erde und den Himmel – wir haben die Freiheit. Wir schlafen, wann wir wollen, lachen und weinen, wann wir wollen. Das ist viel. Es giebt in Eurer Gesellschaft tausend Fesseln, von denen eine einzige uns die ganze Welt mit allem ihrem Golde zum Gefängniß machen würde. Ihr seid's gewohnt, diese Ketten als Schmuck zu tragen – wir würden das nicht verstehen. Wundert Euch nicht, mich so reden zu hören. Wir flechten nicht blos Körbe, fangen nicht blos Vögel – wir denken auch nach und verständigen uns über unsere Gedanken. Auch haben wir einige Studirte unter uns, die – irgendwie unglücklich gewesen sind. (Also dieser zarte Ausdruck auch hier gebräuchlich.) Von denen lernen wir, wie es in der Welt zugeht,« fuhr Pietro fort, »und, Signor, verzeiht mir, es geht nicht immer so schön zu, daß man Euch beneiden möchte. Ihr werdet auch uns nicht beneiden – das ist natürlich, noch mehr, Euch muß unser Zustand schrecklich dünken, und weil Ihr ein gutes Herz habt, möchtet Ihr ihn ändern. Aber glaubt mir, am besten ist's, Ihr lasset uns, wie Ihr uns findet.«
Da hatte ich die Philosophie des Heimathlosen. Ich konnte mich nicht überzeugen, daß sie auch die der übrigen Zweihundert sein sollte – so viel dieser Horster in den Wäldern giebt es, wie man mir sagt. Gewiß waren unter ihnen welche, die an Zurückverlangen nach dem bürgerlichen Dasein litten, für welche diese gepriesene Freiheit, zu jeder Stunde schlafen zu können, nicht mehr und nicht weniger war, als ein ungeheures Gefängniß, in welches das Elend sie eingeschlossen.
Sobald ich also wieder gesund war, kehrte ich zu meinem Vorhaben zurück, die Heimathlosen kennen zu lernen. Nur machte ich mich von nun an nicht mehr zu Fuße auf, sondern ritt morgenländisch auf einem Esel. Man ist hier solcher Reiterei gewöhnt; die Jungen liefen mir nicht nach, obwohl meine langen Beine von dem kleinen Thier beinah bis auf den Boden reichten.
Dieser gute Graue nun trug mich in die Schlupfwinkel der Heimathlosen; wohin Pietro mich geleitete – er wußte sie alle. Ich wurde meistens gut empfangen – von Gefahr war nie die Rede, wenigstens glaub' ich es nicht. Tiger trabte immer mit uns. Ein Schloß verwahrte jetzt das Haus – Tiger brauchte nicht mehr zurückzubleiben. Das Nondescript hing unbeschreiblich an mir – er konnte, leider, nicht mit dem Schwanze wedeln, weil er keinen hatte, aber es war eben so gut, als thäte er's.
Manchmal, wenn wir einherzogen in den winterlichen Bergen, ich auf dem Esel, Pietro mit Stock und Provianttasche neben mir und der unbeschreibliche Tiger vor uns, manchmal fragte ich mich, ob ich's wirklich sei. Aber ich war's.
Im Hotel, glaub' ich, hielten sie mich für ein wenig verrückt, wenn nicht für ganz und gar. Anfangs machte man mir Vorstellungen über das, was ich wage – selbst der Wirth ließ sich herab: Mais, monsieur! zu mir zu sagen. Ich gab ihm Recht, bedankte mich und war den nächsten Tag wieder mit Pietro auf den Wegen der Abenteuerlichkeit.
Waldzauber, Waldeinsamkeit, Wildheit, Vagabondenthum – ich fing an, das Alles zu begreifen. Nicht daß ich mich verlockt fühlte, auch Waldmensch, oder was gleich ist, Heimathloser zu werden, dazu war ich zu sehr, um mit Immermann's Münchhausen zu sprechen, das gebildete Kind gebildeter Eltern. Aber ein scharfer, eigener Reiz lag in diesem Verkehr mit dieser Horde, die mitten in Europa ohne Gott, Gesetz und Obrigkeit lebte. Ohne Gott – das muß ich zurücknehmen. Gott war mit ihnen in ihrem Walde. Sie beteten zu ihm, die Einen so, die Andern so.
Und wer waren sie dann? Waren's Zigeuner, Heiden, Christen, Verbrecher, Herumtreiber, Verfolgte?
Sie waren das Alles, und waren das Alles nicht – sie waren Heimathlose.
Ein verwitterter Knäuel dunkler, wunderbarer Existenzen.
Die Prosa des Elends.
Die Poesie der Armseligkeit.
Gemeinheit und wieder manchmal Melancholie.
Voll Rohheit und voll Weichheit.
Seelen zum Schaudern und zum Weinen.
Unwissend über sich selbst wie Findelkinder, verschwiegen über sich selbst, wie das böse Gewissen.
Dennoch hörte ich viel. Wäre ich Schriftsteller, hätte ich studiren können.
Epopöen der Schuld hört' ich.
Elegieen des Mangels an Allem, nicht nur an Brod, auch an Gottes Wort.
Die kaum eine Tradition über sich kannten, waren mir die liebsten – die Studirten dagegen sehr zuwider. Sie sprachen so viel, waren so erhitzte Ankläger der ganzen Menschheit und so weitschweifige Vertheidiger von den schlechtesten Bruchstücken derselben, von sich selbst. Dabei hatten sie immer so ungeheuer viel zu heischen. Ich hätte ein Rothschild im Kleinen sein müssen, um sie befriedigen zu können. Was meine Mittel nicht überstieg, that ich. Aber bekennen muß ich, daß ich in ihnen wahre Contrebande nach Amerika versendete.
Ob »Uncle Sam« nicht ein Mal protestiren wird gegen die tausend socialen Ueberflüssigkeiten, welche wir ihm so freigebig aufbringen.
Gerade für Diejenigen, die ich unter meinen neuen Freunden am liebsten gewonnen, konnte ich am wenigsten thun. Ihr Geschick war fertig, ihr Gemüth hineingewachsen. Einige Kinder übergab man mir – was aus denen zu machen ich hoffen darf, würden die Tage lehren, die noch kommen sollen. Bei den Großen wär' ich mir, um abermals mit Immermann's Münchhausen zu reden, wie ein Ziegenbock vom Helikon vorgekommen, hätte ich irgend mir einbilden können, sie auch nur halb zu civilisiren.
Ich kaufte meinen Ausgestoßenen ein paar Ziegenböcke und dazu Ziegen. Was diese Thierchen brauchten, konnten sie sich immerhin ohne Gesetzverletzung von den Bäumen und Felsen nehmen. Webstühle, Decken, Flachs, Kessel kaufte ich auch – für wenig Geld möblirte ich meine Heimathlosen königlich.
Aber sie liebten mich auch! Messias hieß ich ihnen, Herr, Freund. Die Welt war in mir zu ihnen gekommen, und Gott sei Dank, wenigstens nicht lieblos.
Eine einzige Hütte hatt' ich noch nicht betreten. Sie war größer, etwas fester gebaut als die übrigen Wohnungen, aber immer verschlossen. Die Heimathlosen sagten mir: dort wohnten die Einsiedler.
Ein Mann und eine Frau, erfuhr ich weiter. Sie lebten ganz geschieden von den sie Umwohnenden. Beide waren nicht mehr jung. Die Frau müßte schön gewesen sein, meinte Pietro, wenigstens fein, sehr fein.
»Woher könnt Ihr das sehen?« fragte ich. »Trägt sie sich gut, haben sie's besser als Ihr?«
»Nein, eher sind sie noch ärmer; aber die Frau sieht Euch so an, bewegt die Hand so, wie nur vornehme Damen es thun. Signor, ich verstehe mich darauf, seit ich in Genua vornehme Damen gesehen habe.«
Das natürlich machte mich neugierig. Ich bat Pietro, dem Manne von mir Dienstleistungen anzubieten. Pietro brachte mir einen Dank und eine Ablehnung.
Ein vornehmes, stolzes Unglück, dachte ich, und meine Gedanken waren in der Hütte.
War's nicht meine Pflicht, dort einzudringen? Wenn ich vielleicht eine unerträgliche Lage beenden konnte –
Aber wenn ich im Gegentheil vielleicht noch mehr verstörte?
Das Hausrecht ist mir immer noch um Vieles natürlicher und ehrwürdiger vorgekommen, als jedes andere. Wenn ich in meinem Hause nicht thun darf, wie mich's dünkt, wo soll ich's da dürfen? Versteht sich von selbst nur nach dem Gesetz.
So wagte ich denn nicht, dieses Haus zu verletzen, untersagte mir selbst die Neugier und fing nach und nach auch an, mich wieder nach etwas Anderm zu sehnen. Ich muß zu einem thätigen Leben geboren sein, so schnell verzehr' ich alle Interessen, die sich mir darbieten.
Da erhielt ich eines Tages durch Pietro einen Brief »von der Frau aus der stillen Hütte«, wie er ausdrucksvoll sagte.
Hastig, wie noch nie einen Liebesbrief, machte ich das nothdürftig zugeklebte Blatt auseinander und las in deutscher Sprache:
»Herr Graf!
»Verzeihung, daß ich schreibe. Sie haben zu uns kommen wollen und sind nicht angenommen worden. Jetzt komme ich zu Ihnen – werden auch Sie mich zurückweisen?
Nicht ich bin es, welche die großmüthig dargebotene Hand zurückgestoßen. Er that es, Er, für den ich keinen Namen weiß; denn jeder Name, den ich ihm geben würde, wäre eine Schande für mich. Doch ja, meinen Kerkermeister will ich ihn nennen.
Morgen geht er fort. Ich erwarte Sie. Werden Sie kommen? Es hängt von Ihnen ab, ob verzweifeln oder gerettet werden soll
Feodora Freiin von S.«
Ich hielt den Brief ganz erstarrt in meinen Händen und sah noch immer hinein, nachdem ich ihn schon lange gelesen hatte. Ich kannte die Frau, die mir schrieb – sie war aus Berlin – eine Jugendfreundin meiner Mutter. Von ihrem Schicksale nachher, jetzt nur so viel, daß ich ihrer Aufforderung hätte Folge leisten müssen, selbst wenn ich mich nicht freiwillig zum Bankier aller Heimathlosen gemacht gehabt. Sie hatte an mich ohne Adresse geschrieben, mein Name war in den Bergen nicht bekannt, nur meine Person und mein Geld. Was wird sie sagen, wenn ich mich ihr nenne? dachte ich. Doch sie schien »to take it coolly« wie Jacob Faithful sagt. Ihr Brief mißfiel mir ungemein. So ganz und gar theatralisch, und das von einer Frau, die wenigstens gegen funfzig Jahr sein mußte. Und wie sie nur dort hinauf und hineingerathen sein mochte? – Was ich von ihrer Geschichte wußte, war schon nicht sehr erbaulich, aber noch widerlicher mußte der Fortgang derselben sein. Indessen noch ein Mal, entziehen durfte ich mich ihrer Aufforderung nicht, und so stieg ich den andern Morgen in kalter grauer Frühe zu Esel und ritt hinauf.
»Die stille Hütte« lag etwa noch eine Stunde hinter der Pietro's. Gegen elf ungefähr kam ich an, – allein, denn Pietro sollte mich nicht begleiten, hatte die Dame gesagt. Aber wenn gleich der Herr nicht, der Hund lief mit mir – Tiger wäre nicht zurückzuhalten gewesen, sobald er mich sah. Mit Tiger langte ich demnach bei der Freiin von S. an, welche sich in einer so ungewöhnlichen Wohnung und in einer so unglaublichen Lage befand.
Ich war etwas entfernt vom Hause abgestiegen, doch mußte sie mich gehört haben, denn sie öffnete die Thür, noch ehe ich davor war. Pietro hatte Recht – die Frau mußte schön gewesen sein. Sie hatte eines jener Profile, die unzerstörbar sind, weil sie klassisch sind. Ihre Haltung war graziös – etwas Magdalene darin, aber auch noch viel Hochmuth. Die Frau gefiel mir eben so wenig als ihr Brief.
Unsere Begrüßung war die sonderbarste und lächerlichste für den Ort und die Umstände, gerade weil sie an jedem andern Ort und unter allen andern Umständen die alltägliche gewesen wäre.
Ich sagte: »Ich habe die Ehre –«
Sie antwortete, mir die Thür zeigend: »Darf ich bitten.«
Ich folgte ihr – den Esel hatte ich angebunden – Tiger folgte mir.
»Was haben Sie da für einen eigenen Hund, Herr Graf«, sagte sie im natürlichsten Tone.
»Verzeihung, meine Gnädige«, rief ich und stieß Tiger hinaus.
Als ich zurückkam, bot sie mir einen Schemel an. Ich setzte mich und überreichte ihr meine Karte. Sie las meinen Namen, »Gott!« rief sie, und gerieth in Aufregung, »dieser Name! Ich kannte Ihre Familie, wenn Sie aus Berlin sind?«
»Und Sie, gnädigste Frau, entflohen vor zwanzig Jahren mit – –« ich schämte mich fortzufahren.
Sie lächelte bitter: »Ja, es war vor zwanzig Jahren einmal Mode, daß vornehme Frauen mit Candidaten – entflohen, wenn Sie die Güte haben wollen, es so zu nennen. Ich nenn' es anders. Hoffentlich ist mein Geschlecht wenigstens von dieser Thorheit zurückgekommen?«
»Ja, gnädige Frau, die Candidaten sind jetzt ungefährlich. Sie verloben sich, ehe sie Hauslehrer werden.«
»Tant mieux, tant mieux,« sagte sie nachlässig. Plötzlich faßte sie mich scharf und energisch ins Auge und sprach mit Lebhaftigkeit: »Ich sehe, daß ich Ihnen keine Theilnahme einflöße. Auch begehr' ich keine, aber Hülfe fordere ich. Wollen Sie mir die versprechen?«
»Wozu?« fragte ich mißtrauisch.
»Wozu?« wiederholte sie spöttisch. »Fürchten Sie, ich wolle Sie zu einer Rolle in einem Trauerspiele dingen? Wozu anders, als mir zu helfen, daß ich von dem Menschen loskomme.«
»So sprechen Sie von Demjenigen, um dessenwillen Sie Alles verlassen haben, sogar Ihre zwei Kinder?« fragte ich mit Ironie.
»Wenn ich nicht um seinetwillen meine Kinder verlassen hätte, würde ich wahrscheinlich anders von ihm sprechen,« sagte sie rauh. »Glauben Sie mir, wir verzeihen es einem Manne nicht, ihm Alles geopfert zu haben.«
»Haben wir denn Zeit, ein solches Gespräch zu führen, gnädige Frau?«
»Ja. Er ist nach Gruyères hinüber, kommt erst heute Abend wieder.«
»So läßt er Sie denn doch allein?«
»Weil er mir vertraut.«
»Wie es scheint, etwas zu sehr,« bemerkte ich.
»Er glaubt, daß ich ihn noch liebe,« sprach sie verächtlich. »Ihn noch lieben nach zwanzig Jahren der Entbehrung, der Erniedrigung, besonders nach den letzten Jahren, die ich hier zugebracht! Es gehört eine Eitelkeit wie die seine dazu, um das glauben zu können.«
»Verzeihung,« sprach ich ernst, »ich glaubte bisher immer, Nichts verkettete so unauflöslich wie gebrachte Opfer, gemeinschaftliche Entbehrungen.«
»Phrasen«, erwiederte sie mit ungeduldiger Bewegung. »Bringen Sie z. B. ein Mal einer Frau Ihre ganze Carriere zum Opfer –«
»Ich habe keine Carriere.«
»Oder Ihre Ehre.«
»Das thäte ich nicht.«
»Dergestalt, daß Sie nie Etwas aufopfern würden? Dann können Sie mich freilich nicht begreifen.«
»Ich würde um einer Geliebten willen Alles aufgeben, was ein Mann aufgeben darf – alles Persönliche außer der Ehre, Alles sonst, außer dem Vaterlande. Und wenn ich es gethan, würde ich wo möglich noch mehr lieben, was auch logisch wäre; denn wie theuer muß uns nicht ein Wesen sein, welches wir mit der Totalsumme unserer Existenz erkauft haben?«
»Haben Sie nie werthlose Dinge sehr theuer bezahlt?« fragte sie kalt.
»So ist Herr – Herr –«
Sie souflirte mir seinen Namen, den ich nicht wußte. Wenn meine Mutter die Geschichte erzählte, sagte sie immer blos: »und so ein Candidat!«
»Sie sagen mir also, daß Herr W. Ihrer unwerth sei?«
Sie zögerte einen Augenblick. Dann sprach sie, als mache sie ein erhabenes Zugeständniß: »Vielleicht ist er's nicht mehr geworden, als er von Anfang an war, aber ob er's immer war«, setzte sie stolz hinzu, »wenn Sie ihn gesehen haben, werden Sie mich's nicht mehr fragen.«
»Ich will gern glauben, daß er ein unverdientes Glück gehabt,« sagte ich; »aber, gnädigste Frau, wenn Sie das so gut wußten, warum da –«
Sie sah mich an – ihre ganze Gestalt zitterte vor Zorn. »Und Sie muß ich um Hülfe bitten,« sprach sie langsam; »Es geschieht mir Recht.«
Ich saß stumm, verlegen. Kein gutes Wort wollte über meine Lippen. Nie hatte ich mich so vollkommen abgestoßen gefühlt. Ich, der ich eine fast lächerliche Scheu davor habe, Jemand wer es auch sei, zu beleidigen, ich hätte dieser Frau am liebsten die herbsten Dinge gesagt. Und was hatte sie gethan? Ueber ihren Fehltritt mit ihr zu rechten, fiel mir nicht ein. Sie empfing mich in ihrer Hütte, die übrigens auch inwendig um einige Grade bequemer war, als die andern – sie empfing mich wie in einem Salon – das machte, sie hatte sich das Bewußtsein ihrer Kaste erhalten, und in einer solchen Umgebung bewies das wahrlich einen ungewöhnlichen Charakter. Daß sie verächtlich von dem Manne sprach, dem sie sich hingegeben – vielleicht konnte er kein dauerndes Gefühl einflößen, vielleicht war er ein ordinairer Mensch, was in einer tragischen Situation doppelt unerträglich ist. Was war's denn also, was mich an ihr störte, mich hart gegen sie stimmte? Plötzlich fiel es mir ein – sie hatte noch nicht nach ihren Kindern gefragt. Das war es gewesen, worauf ich gewartet, was ich vermißt.
»Gnädige Frau,« sagte ich, »wenn Sie von mir länger keine Hülfe begehren wollen – ich kenne Ihre Tochter, Frau von M., sehr genau. Sie ist ein edles, liebes Wesen, und ich weiß, daß sie oft um ihre Mutter geweint hat. Schreiben Sie ihr – ich werde den Brief besorgen – Sie werden mir dann für Nichts zu danken haben, als eben für einen besorgten Brief. Was meinen Sie?«
Ich hoffte jetzt auf einige wenige Rührung, oder doch mindestens auf etwas Affekt. Täuschung. Ihre Miene veränderte sich nicht. Mit derselben finstern Bitterheit, die seit dem Beginne des Gespräches um ihren Mund gelegen, erwiederte sie: »Glauben Sie, daß ich mich an meine Tochter wenden will? Daß ich geneigt bin, vor einem edlen Wesen, wie Sie sie nennen, als reuige Sünderin, als arme Bettlerin zu erscheinen? Nein, wahrlich nicht, so lange ich noch meine Sinne habe. Ich bitte Sie, diese Erniedrigung! das wäre ärger, als gebrandmarkt am Pranger zu stehen.«
»Gnädige Frau, Sie sind immer die Mutter.«
»Die Mutter soll ein Vorbild und keine Schande sein.«
Sie mochte in meinen Augen gelesen haben; denn sie fragte: »Sie meinen, das sei ich schon? Gut, doch bin ich dann wenigstens nur eine vergangene, halbvergessene. Eine gegenwärtige, aufgefrischte mag ich nicht werden.«
»Wollen Sie denn Ihre Tochter nie wiedersehen?«
»Hab' ich das Recht dazu? Ich richte mich, Graf, ich weiß, was ich verdiene und was nicht. Doch Sie sprechen immer nur von meiner Tochter – mein Sohn –«
»Ihr Sohn ist todt, gnädige Frau.«
Sie bebte innerlich zusammen; dann sagte sie leise: »Für mich war er ja schon lange todt. Wie war er?« setzte sie fast bittend hinzu.
»Liebenswürdig und gut.«
»Aber nicht bedeutend? Ja, das erkannte ich schon damals; nur sein Vater wollte durchaus ein Genie in ihm sehen.« Sie war wehmüthig geworden.
»Der Baron, gnädige Frau –« sagte ich zögernd.
»Ich weiß«, unterbrach sie mich. »Er starb bereits vor sechs Jahren. Damals las ich noch Zeitungen – so erfuhr ich's. Es war ein braver, rechtlicher Mann.«
»Da Sie nun frei sind,« fing ich nach einigem Schweigen wieder an, »wollten Sie nicht –«
»Mich etwa noch trauen lassen, die Frau dieses Menschen werden, der mich – nachdem ich –« Sie machte eine Geberde des Abscheues, wenn nicht des Ekels.
»Aber Sie müssen ihn doch geliebt haben – sollte denn nicht ein Gefühl mehr –«
»Weiß ich, ob ich ihn je geliebt habe? Ob ich nicht blos aus Langeweile auf dem Lande –« ich sah, sie verachtete sich. Vielleicht aber verläumdete sie sich auch. Ich sagt' es ihr; sie sagte ungeduldig und gereizt: »Möglich, möglich, kann sein – es ist so lange her. Aber jetzt ist's ja auch einerlei, warum ich es that, jetzt handelt es sich nur darum, daß ich frei werde. Verschaffen Sie mir eine Stelle als Ausgeberin, als Verwalterin irgend eines Hauswesens, als Unterlehrerin irgend einer Schule. Ich habe zwar furchtbar viel vergessen, in diesen entsetzlichen Jahren, aber so viel werd' ich doch noch wissen.«
»Und was soll aus Herrn W. werden?«
»Befördern Sie ihn auch nach Amerika. Sie haben ja schon zwei bis drei Subjecte hingeschickt – eines mehr wird ihre Großmuth nicht erschöpfen, nicht wahr? Für mich nur Arbeit und Freiheit vor ihm.«
»Wird er wollen?«
»Behüte,« sagte sie, die Schultern zuckend, »er liebt mich noch. Begreifen Sie das – nach zwanzig Jahren!«
»Aber dann ist's ja entsetzlich, daß Sie ihn verlassen wollen,« rief ich heftig.
»Es klingt so und ist's doch nicht. Glauben Sie, daß ich ihm etwas Anderes bin, als ein stündlicher Vorwurf? daß ich in meinem Herzen etwas Anderes für ihn finde, als Abscheu, besonders seit – Sie haben mich noch nicht gefragt, warum ich hier bin. Wollen Sie es hören?«
»Wozu?« fragte ich wieder.
»Genügt es Ihnen, daß wir unglücklich und strafbar sind?«
»Vollkommen. Es bedarf bei mir keines andern Empfehlungsbriefes; denn ich kann auch unglücklich und strafbar werden.«
»Auf die Manier wie Herr W. nicht. Dazu kenne ich Sie jetzt schon genug, um das zu wissen. Wollen Sie mir die Hand geben?«
Ich that's und sagte: »Verlassen Sie ihn nicht.«
»Ach!« rief sie, mir die Hand entziehend und sich von mir wendend.
»Sie machen eine Schuld durch eine andere nicht gut. Und wenn er Sie liebt. Vielleicht hat er um Ihretwillen auch Alles verlassen –«
»Das Alles des Herrn W!« sagte sie lachend.
»Verzeihung,« sprach ich ernster als bisher; »das bleibt sich gleich. Wer Alles giebt, der giebt Alles, und mag sein Alles sich in einer hohlen Hand verschließen lassen.«
Sie war in Zerstreuung gefallen. Plötzlich fuhr sie auf und sagte lebhaft zu mir: »Sonderbar, daß ich mitten in dieser Misère nie daran gedacht habe, mir das Leben zu nehmen. Das beweist – Feigheit oder Kraft.«
»Ich traue Ihnen Kraft zu,« sagte ich. »Wenden Sie sie nur zum Guten an.«
»Das heißt werden Sie nachträglich die ehr- und tugendsame Ehefrau des Herrn W.«
Dieser Hohn empörte mich. »Wenn Sie es vorziehen, nur seine Maitresse gewesen zu sein – ich habe Nichts dagegen.«
Sie maß mich. »Spricht man jetzt so in guter Gesellschaft?«
»Nein,« erwiederte ich, »aber in schlechter.«
Ich war wüthend auf diese Frau, die gefallen, schlecht, und meiner bedürftig wie nur je ein Wesen des andern sein kann, mir doch trotzte und wie! – Moralisch. Denn ich hatte Recht. Was konnte sie mehr hoffen, als noch ein Mal eine Gattin zu werden, noch ein Mal in eine Gesellschaft zurückkehren zu dürfen? Wenn W., wie ich mir vorstellen konnte, wegen einer infamirenden Schuld sich hier verborgen hatte – ich wollte ihm ja Mittel bieten, sich wieder rehabilitiren zu können. Meine Kasse würde etwas darunter leiden, das sah ich mit ziemlicher Bekümmerniß, indessen, ich wollte mich gern einschränken, um meine Don Quixoterieen wieder einzubringen, nur diese Trennung zwischen zwei Menschen, die so lange Sünde und Noth mit einander getheilt, kam mir unsittlich, ja, förmlich barbarisch vor.
Sie war meinen Ueberlegungen auf meinem Gesichte gefolgt und sagte jetzt unendlich moquant: »Sie rechnen, ob es Ihnen nicht zu theuer kommen könnte, mir zu helfen.«
Erzürnt sprang ich auf. »Gnädige Frau, wenn Sie wollen, daß ich gern thun soll, was ich thun will und thun werde, so beschimpfen Sie mich nicht.«
»Beschimpften Sie mich nicht?« erwiederte sie kaltblütig. »Ich habe nie eine Beleidigung angenommen, ohne eine wiederzugeben.«
»Nein, Sie passen nicht zu Ihrer Tochter,« sagte ich gedankenvoll, fast traurig. Ich hatte jene junge Frau wahrhaft lieb – sie war ganz Strenge in ihren Grundsätzen, Milde in ihren Gesinnungen. Wie konnte sie die Tochter einer solchen Mutter sein?
»Waren Sie immer so, wie Sie jetzt sind?« fragte ich die Baronin.
»Den Anlagen nach, gewiß,« erwiederte sie gleichgültig. »Das Leben entwickelt nur was in uns ist.«
»Ich glaube das nicht. Ich glaube – kennen Sie die Geheimnisse von Paris?«
»Vielleicht vor fünf oder sechs Jahren.«
»Also nach der Zeit, wo ich noch las. Nein, ich kenne sie nicht, aber was wollen Sie mit diesen Geheimnissen?«
Statt der Antwort fragte ich: »Sechs Jahre sind Sie schon hier?«
»D'rüber,« antwortete sie ruhig.
»Aber, guter Gott, wie haben Sie denn gelebt?«
»Wie?« fragte sie und in ihrem Auge hätte man Bände lesen können, »wie?« Sie schien sich sammeln zu wollen, um ihr Dasein, wie es hier gewesen, ein Mal mit aller Kraft aussprechen zu wollen – dann gab sie den Gedanken plötzlich auf und sagte nur: »nun, wie man als Heimathlose lebt.«
Ich betrachtete sie durchdringend und dieses Mal nicht ohne eine Art Antheil. Wenn sie durch diese Prüfung auch nicht geläutert worden, sie hatte sie doch überdauert, das war immer schon viel von einer Frau, verwöhnt, wie sie gewiß gewesen war, heftig, herrisch von Natur, wie sie sich zeigte. »Wie haben Sie's nur gemacht, um sich so zu beugen?« fragte ich zögernd.
»Ich wollt's,« sprach sie, »und nun will ich's nicht mehr. Damit ist Alles gesagt. Doch was wollten Sie mit dem Buche, dessen Sie gedachten – die Geheimnisse, oder wie hieß es?«
»Darin wird der Glaube durchgeführt,« erwiederte ich, »die Seele könne sich mitten in der größten Verderbniß rein erhalten, eine weiße Nymphäa aus einem Pfuhl blühen. Diese Idee ist aus diesem Buche in die ganze Literatur übergegangen, oder nein, sie war wohl schon früher vorhanden und ist nur in diesem Buche am ausgeprägtesten dargestellt. Lies't man es, lies't man die Romane, welche dasselbe darstellen, so möchte man beinah glauben, eine Frau müsse, um tugendhaft zu werden, erst Ehebrecherin sein, ein Mädchen erst fallen, um die Unschuld zu kennen. Das ist nun aber gar nicht meine Ansicht. Ich habe nie etwas von dieser Apotheose der Untreue, dieser Verklärung der Courtisane hören wollen. Meine Ueberzeugung ist, wer äußerlich fällt, fällt auch innerlich. Sie, gnädige Frau, sind jetzt gewiß eben so wenig noch das, was Sie in Ihrem Hause, als die Mutter Ihrer Kinder und der Gegenstand der allgemeinen Achtung waren, wie ein verführtes Mädchen noch schuldlos ist. Sie sind so gewohnt, Ihrer jetzigen Weise nach zu empfinden, daß Sie sich nicht mehr besinnen, je anders gefühlt zu haben; aber ich wollte meine Hand darauf geben – Sie haben anders gefühlt.«
»Und wie?« fragte sie nicht ohne Erschütterung.
»Nicht so versöhnungslos, nicht so eiskalt, nicht so –«
Sie unterbrach mich wieder. »Was Sie sein Advokat sind!«
»Nicht seiner allein, auch der Ihrige. Was wollen Sie anfangen allein in der Welt?«
»Besser tausend Mal allein sein, als länger mit ihm zusammen.«
»So denken Sie jetzt, aber Sie haben es noch nicht versucht. Wenn Sie erst wissen werden, daß in dem Gewirre der Welt kein Herz mehr nach Ihnen frägt, wenn Sie Niemand mehr haben, um sich lieben zu lassen, kein anhänglich Geschöpf mehr, um es zu mißhandeln –«
»Dazu brauch' ich ihn wahrlich nicht. Mißhandeln ist mir kein Bedürfniß.«
»Doch, gnädige Frau, Charaktere wie der Ihrige brauchen das gar sehr.«
»Ich kaufe mir einen Hund,« sagte sie bitter-humoristisch.
»Der beißt Sie,« antwortete ich.
Sie sah mich eine Weile an. »Wenn ich nicht das Lachen verlernt hätte, würd' ich lachen. Was sind Sie eigentlich? Können Sie etwas ernstlich wollen – haben Sie mich zum Besten? Antworten Sie mir – es ängstigt mich jetzt, Sie zu sehen; was wir gesprochen, kommt mir so verrückt vor. Bedenken Sie, ich bin trotz meiner Unwürdigkeit eine arme Frau, die schon deswegen Ansprüche an Sie hat, weil sie sich unbedingt Ihnen anvertraute. Gott, wenn ich mich getäuscht hätte – wenn Sie Hohn mit mir trieben!«
»Gnädige Frau,« rief ich, »vertrauen Sie sich mir an, aber auch wirklich unbedingt, ohne Rück- und Vorbehalt. Legen Sie Ihr Schicksal in meine Hand – ich will es ordnen, Sie sollen noch glücklich werden.«
Sie brach in Thränen aus. Die künstliche Kraft, mit welcher sie sich mir gegenüber gestellt, verließ sie. Jetzt konnte ich Theilnahme empfinden, jetzt mit tiefer Bewegung auf ihre Bekenntnisse lauschen, Bekenntnisse, die Alles enthielten, was ein verirrtes, aber nicht schlechtes Weib in zwanzig Jahren voll Unterdrückung ihres ganzen Wesens, voll Hoffnungslosigkeit, ohne Aussicht, erleiden kann.
Sie war stolz, nicht nur durch Geburt und Erziehung, auch ihrem ursprünglichen Wesen nach – wenn sie keine Scheidung nachgesucht, so war's nur gewesen, um sich nicht zur Heldin eines juristischen Skandals herzugeben – »ich wußte,« sagte sie mir, »das Geschwätz über meine Flucht würde aufhören, sobald ich vergessen wäre, und bis dahin hat es gewiß nicht lange gewährt – höchstens einige Freundinnen außer Ihrer Mutter haben noch bisweilen ihre Kinder von mir unterhalten –«
»Gnädige Frau,« fiel ich ungeschickt ein, »wahrlich, meine Mutter hat stets nur mit großem Bedauern von Ihnen gesprochen.«
»Eben dieses Bedauerns wegen bin ich nicht Pfarrfrau, nicht Das geworden, wozu Sie mich jetzt machen wollen, die Gattin meines interessanten Verführers. Ich hätte es bis an mein Grab ertragen müssen, dieses liebevolle Bedauern! Man hätte gesagt: Die arme Feodora! wie anders hat sie's jetzt, als früher – ja freilich, wenn eine Frau es sich einfallen läßt, einen Candidaten nicht nur zu lieben, sondern auch zu heirathen – glauben Sie mir, eine kleine Liebschaft mit Herrn W. hätte man mir gern verziehen – es gab noch andere Damen, denen er recht gut gefiel – eine Heirath mit ihm wäre ohne Barmherzigkeit als lächerlich verurtheilt worden.«
Ich antwortete absichtlich nicht ohne Spott: »Gnädige Frau, und meinen Sie, man habe Sie weniger lächerlich gefunden, weil Sie sich nur entführen ließen? Glauben Sie mir, Ihr Schicksal hat nie für tragisch gegolten, obgleich es so tragisch ist, wie es nur eines geben kann. Warum Sie keine Scheidung und keine neue Ehe wollten – soll ich es Ihnen sagen? Ihr Stolz als vornehme Frau und als feine und energische Natur sträubte sich gegen die Heirath mit Herrn W. Er war Ihnen nicht ebenbürtig, nicht nur den äußeren Verhältnissen, auch dem innern Standpunkt nach – eine augenblickliche Schwäche allein führte Sie aus Ihrer höhern Sphäre zu ihm. Habe ich Sie und ihn richtig gewürdigt?«
»Ja!« antwortete sie mir schmerzlich und doch mit einer gewissen Freude, erkannt worden zu sein; »daß ich ihn wählte, war mein eigentlicher Fehltritt. An einer bloßen Schuld wäre ich nicht zu Grunde gegangen – an meiner Dummheit verzweifle ich noch heute, wo sie schon zwanzig Jahr alt ist. Doch je älter eine Dummheit ist, je fürchterlicher wird sie. Sie wächst immerfort.«
»Verwandeln Sie die Dummheit.«
»In was?«
»In ein, wenn Sie wollen, freudenarmes, aber lohnreiches Loos?«
Sie verstand mich, ließ die Hände matt sinken, und sah mich mit einem Blicke an, der mich um Erbarmen flehte.
»Sie wollen mir doch gewiß nicht Ihren Beistand nur verkaufen? Quälen Sie mich wenigstens erst, wenn Sie ihn gesehen haben.«
Diese Bitte entwaffnete mich nicht nur, sie war vernünftig. Was für den ersten Augenblick anzufangen, war nun die Frage. Sie bat mich, ich möchte ihr in einem der nächsten Dorfwirthshäuser eine kleine Stube ausmitteln, wo sie sich vor W. verbergen könne, bis ich ihn gesehen und geprüft. Dann sollte ich über die Form ihres ferneren Schicksals entscheiden. »Sie haben vielleicht Recht,« sprach sie traurig, »wenn Sie mich für moralisch incompetent halten. Meine Seele möchte in die Einsamkeit und da ihrer Sünde vergessen. Aber es kann sein, daß dieses Begehren Aufruhr ist, daß es fortan meine Pflicht ist, dieses Mannes zu bleiben, daß meine Buße darin besteht. Finden Sie es so, will ich thun, wie Sie fordern. Sie sind jung und unverdorben – Sie werden besser das Rechte erkennen, als ich.«
Hier ließ der Vorleser das Manuscript sinken, und sah mich an.
Ich sah ihn ebenfalls an, wartend der Dinge, die nachkommen sollten. Als er aber nicht wieder anfing, fragte ich ungeduldig: »Nun, geht's denn nicht weiter?«
»Nein, es geht noch nicht weiter,« versetzte er – »ich habe erst bis hierher geschrieben. Ehe ich fortfahre, sagen Sie mir – würden Sie die Leute verheirathet haben?«
»Ich gewiß nicht,« erwiederte ich ohne mich zu besinnen. »Es heißt: Was Gott zusammenfügt, das soll der Mensch nicht scheiden, und nicht: Der Mensch soll zusammenfügen, was Gott geschieden hat.«
»Also glauben Sie, die Beiden seien von Gott geschieden gewesen?«
»Versteht sich.« Ich antwortete in meinem Eifer mit einem Schweizer Ausdruck. »Durch Gott sowohl, wie früher durch das Gesetz.«
»Nun, ich habe sie trauen lassen,« sagte er trocken.
»Da werden Sie was Schönes angerichtet haben!«
»Calclire, nicht, war moralisch,« sprach er, wieder yankeesirend.
»Moralisch, aber dumm,« versicherte ich ihm.
Er legte sein Manuscript auf den Tisch, stützte Arm und Kopf auf und vertiefte sich in Nachdenken, bis der Thee kam. Dann sagte er plötzlich bestimmt, seine Tasse entgegen- und vom Teller eine Brezel wegnehmend: »Sie täuschen sich; ich bin ganz gewiß, daß die Ehe gut ausfallen wird.«
»Wenn Sie dessen gewiß sind, ist's ja gut,« sprach ich lachend. »Beweisen Sie es nur dem Leser.«
»Ich schreibe das Ding nicht fertig,« sagte er entschieden.
»Und warum denn nicht?«
»Sie sprechen heute klassisch schweizerisch. Weil Sie die Heirath dumm finden.«
»Ich finde sie dumm, Andere finden sie vielleicht klug.«
»Möglich, ich hoffe es sogar, aber ich mache die Novelle doch nicht fertig.«
»Des Menschen Wille –« sagte ich. »Nehmen Sie Quittensaft?«
»Danke. Nehmen Sie meine Novelle?«
»So wie sie da ist?«
»Und warum denn nicht?« machte er mir nach. »Sie wollten sie ja als Schluß Ihres Buches?«
»Aber ordentlich geschlossen, nicht so in der Mitte abbrechend, wie eine nicht fertig gewordene Brücke.«
»O,« sprach er mit unnachahmlicher Kühle, »für Ihr Buch ist sie schon noch gut genug.«
»Dann schreibe ich auch unser jetziges Gespräch dazu.«
»Und Sie müssen mir noch sagen, wohin Sie Ihr glückliches Paar befördert haben. Vermuthlich auch nach Amerika?«
»Nein,« versetzte er gelassen, »nach Australien.«
»Das ist jedenfalls eine Abwechselung,« sprach Otto, der uns bisher mit ziemlich spottender Miene zugehört hatte.
»So mein' ich auch,« entgegnete Wladislav.
»Aber Pietro?« fragte ich weiter.
»Pietro hat zwei Ziegen und wir correspondiren mit einander.«
»Die Ziegen und Sie?«
»Nein, ich und Pietro.«
»So einen Brief müssen Sie uns ein Mal zeigen,« sprach Otto.
Wladislav schüttelte den Kopf. »Briefgeheimniß – unverletzlich.« Dann bat er mich um die zweite Tasse Thee. Ich goß sie ihm ein, und that eine dritte Frage, nach Tiger.
Wladislav wurde roth. »Haben Sie nie in meinem Zimmer einen Hund kläffen gehört?«
»Allerdings, und ein eigenes, jämmerliches Gekläffe war's.«
»Nun, das ist Tiger,« sagte er lächelnd und zögernd.
»Warum haben Sie ihn denn nie bei sich?«
»Ich schäme mich, weil er so häßlich ist,« bekannte er leise.
Wir lachten ohne Umstände. »Sie sind,« sagte ich –
»Ich bin der Wladislav,« unterbrach er mich treuherzig, bittend.
»Kriegen wir nicht wenigstens das Nondescript zu sehen?«
Wladislav schwankte ein wenig. Dann aber sprach er sanft: »Nein, das arme Vieh ist gar zu schauderhaft – Sie würden ihn gewiß im Traume sehen.«
Hier kam man, ihm den Wagen anzusagen. Er erhob sich etwas widerstrebend. »Aus dem warmen Salon in die feuchte Nacht,« sagte er sich in der Erwartung schüttelnd.
»Es ist erst sieben, also noch Abend,« tröstete ich ihn.
»Und gestern schien der Mond, deßwegen ist's heute nicht finster,« setzte er mürrisch hinzu. »Sie sind –«
»Ich bin Ihre Freundin, die Ihnen eine glückliche Reise wünscht, eine frohe Heimkehr –«
»Und ein langes Leben und eine selige Urständ,« fiel er mir in die Rede. »Ich weiß das Alles schon – bleiben Sie mir gesund, oder vielmehr werden Sie Sich selbst gesund – es ist ein klägliches Ding, immer so krank zu sein.«
Damit reichte er mir ingrimmig die Hand, schüttelte die meine so derb, daß ich schrie, und ging, von Otto begleitet, nach der Thür. Dort kehrte er plötzlich wieder um, kam zurück an den Tisch, sah mich scharf an und fragte: »Wie finden Sie denn nun eigentlich meine Novelle, d. h. meine wahre Geschichte?« – »Barock und formlos,« antwortete ich, »auch mit Nachlässigkeiten des Styles und Wiederholungen von Worten reichlich gesegnet, aber dabei besonders genug und deßwegen –« – »Schon gut!« Damit hemmte er meine Kritik, flüsterte mir dann vertraulich zu: »Ich will es Ihnen nur sagen: gerade so finde ich sie auch;« und ohne mir noch ein Mal Adieu zu bieten, schritt er nun wirklich aus der Thür.
Hofbuchdruckerei der Gebr. Jänecke in Hannover.
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Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.
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Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,
Seite 18:
im Original "für den armen Menschen ist's tödtlich."
geändert in "für den armen Menschen ist's tödtlich.«"
Seite 72:
im Original "haben Sie nicht wieder neue Pensionaire bekommen?"
geändert in "haben Sie nicht wieder neue Pensionaire bekommen?«"
Seite 72:
im Original "»Herr Leon auch.« Er war aber schon mehrere"
geändert in "»Herr Leon auch. Er war aber schon mehrere"
Seite 82:
im Original "Die Engländerin konnte kein Wort Französich"
geändert in "Die Engländerin konnte kein Wort Französisch"
Seite 89:
im Original "wir sind ganz allein,« sagte Pauline plötzlich.«"
geändert in "wir sind ganz allein,« sagte Pauline plötzlich."
Seite 104:
im Original "»Das machte Pauline ungeduldig, regte sie auf."
geändert in "Das machte Pauline ungeduldig, regte sie auf."
Seite 104:
im Original "Und warum erkundigte sich sich denn nicht"
geändert in "Und warum erkundigte sie sich denn nicht"
Seite 108:
im Original "meine junge Frau vorstellen zu dürfen«"
geändert in "meine junge Frau vorstellen zu dürfen.«"
Seite 108:
im Original "Sie scheinen sich wunderbare Gedanken"
geändert in "»Sie scheinen sich wunderbare Gedanken"
Seite 110:
im Original "»Aber ich weiß Alles, sagte lachend Pauline."
geändert in "»Aber ich weiß Alles,« sagte lachend Pauline."
Seite 110:
im Original "Ich möchte gern von seiner Braut hören."
geändert in "Ich möchte gern von seiner Braut hören.«"
Seite 128:
im Original "Eben sprach ich sehr kennntnißreich und weise"
geändert in "Eben sprach ich sehr kenntnißreich und weise"
Seite 147:
im Original "ihm, dem Überlegenen, Widerstand zu leisten"
geändert in "ihm, dem Ueberlegenen, Widerstand zu leisten"
Seite 147:
im Original "sollte sie gleich bei ihrer Rückhehr"
geändert in "sollte sie gleich bei ihrer Rückkehr"
Seite 192:
im Original "er mochte ungefähr fünf- bis sechsund zwanzig sein"
geändert in "er mochte ungefähr fünf- bis sechsundzwanzig sein"
Seite 206:
im Original "Die Waadtländer sind so gelassen üller Alles"
geändert in "Die Waadtländer sind so gelassen über Alles"
Seite 209:
im Original "sich ver-verbergen wie die Schlangen"
geändert in "sich verbergen wie die Schlangen"
Seite 210:
im Original "den Berliner – Schönen auf die wunderbare Manier"
geändert in "den Berliner-Schönen auf die wunderbare Manier"
Seite 224:
im Original "nahm seinen klugen Blick an und anwortete"
geändert in "nahm seinen klugen Blick an und antwortete"
Seite 232:
im Original "»to take it coolly« wie Jacob Faitful sagt"
geändert in "»to take it coolly« wie Jacob Faithful sagt"
Seite 242:
im Original "»Ich that's und sagte: »Verlassen Sie ihn nicht.«"
geändert in "Ich that's und sagte: »Verlassen Sie ihn nicht.«"
Seite 242:
im Original "ernster als bisher; das bleibt sich gleich"
geändert in "ernster als bisher; »das bleibt sich gleich"
Seite 245:
im Original "sich so zu beugen? fragte ich zögernd"
geändert in "sich so zu beugen?« fragte ich zögernd"
Seite 248:
im Original "wenn Sie Hohn mit mir trieben!"
geändert in "wenn Sie Hohn mit mir trieben!«"
Seite 254:
im Original "Sie uns ein Mal zeigen, sprach Otto"
geändert in "Sie uns ein Mal zeigen,« sprach Otto"
Seite 256:
im Original "»Barock und formlos,« anwortete ich"
geändert in "»Barock und formlos,« antwortete ich"