The Project Gutenberg eBook of Die Brüder Schellenberg

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Title: Die Brüder Schellenberg

Author: Bernhard Kellermann

Release date: January 6, 2022 [eBook #67112]

Language: German

Original publication: Germany: S. Fischer

Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE BRÜDER SCHELLENBERG ***

Die Brüder Schellenberg

Roman von
Bernhard Kellermann

1925
S. Fischer / Verlag / Berlin

Erste bis zwanzigste Auflage
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
Copyright 1925 by S. Fischer Verlag A.-G., Berlin

Die Brüder Schellenberg

Erstes Buch

1

Das Tor des Krankenhauses fiel hinter Georg Weidenbach ins Schloß. Er hüstelte, als er die rauhe Straßenluft einatmete, und stülpte den Mantelkragen in die Höhe. Und schon schlug er, fast automatisch, jenen Weg ein, den er in tausend Träumen und Phantasien während seines Krankenlagers gegangen war. Er verlor sich rasch im Gewimmel jener endlosen Straßenzüge, die quer durch die Stadt nach dem Alexanderplatz führen. Hier, am Alexanderplatz, war in einem Warenhaus seine Geliebte als Verkäuferin tätig, Christine, „der schwarze Teufel mit den Augen eines wilden Hengstes“, wie der Zeichner Katschinsky sie genannt hatte. Seine Geliebte, und wenn man wollte, seine Frau. Oder durfte er sie nicht so nennen? Nach all dem, was sich zwischen ihnen ereignet hatte? Und das war, bei Gott, nicht alltäglich!

Trotz der Knappheit seiner Barschaft, die zu äußerster Sparsamkeit mahnte, hätte Georg wohl die Elektrische nehmen können, aber er empfand es als eine Art Wollust, diese Stunde zwischen der Entlassung aus dem Krankenhaus und dem Wiedersehen mit Christine bis auf die letzte Minute und Sekunde auszukosten.

Ja, nun kam er also, treibend in diesem Strom hastender Menschen und jagender Wagen, und sie sah ihn nicht! Sie ahnte es nicht, daß er, Schritt für Schritt, immer näher kam. Würde sie zu Boden sinken? Er lächelte mit geweiteten Augen, ein erregtes, fast verzücktes Lächeln, aber so elend hatte ihn die Krankheit gemacht, daß sein Lächeln wie eine Grimasse des Schmerzes aussah. Er keuchte leise. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Knie zitterten ihm.

Das lange Krankenlager hatte ihn der Gegenwart entfremdet. Menschen, Stimmen, Gesichter, Gebärden erschienen ihm fremd, als sei er nach Jahrzehnten in diese Stadt zurückgekehrt, als sei er verändert in sie zurückgekehrt. Das monatelange Rauschen des fiebernden Blutes hatte seine Sinne verfeinert, so daß er Bewegung und Lärm um vielfaches verstärkt empfand. Die Straße jagte, die Straße donnerte, und fast überkam ihn eine Beklemmung.

Menschen und Gefährte schienen von einem wilden Strom fortgerissen zu werden, sie glitten und schossen vorüber, um in den Wirbel der Seitenstraßen geschleudert zu werden. Funken stoben aus den Rädern, blaues Feuer spritzte durch die nasse Luft. Omnibusse, mit Menschenleibern dicht beladen, Gesicht an Gesicht, bleich und fahl, schwankten wie Schiffe in den Strudel der Plätze, wo sie auf und ab stampften wie auf hoher See, und versanken. Der Boden zitterte und schwankte, die Luft gellte, es knallte wie von Explosionen. Wahrhaftig, es war wie in einer Schlacht.

Aus einem dicht über den düsteren Häusern hängenden lehmfarbenen Himmel fiel gleichmäßig ein feiner Sprühregen wie durch ein dünnes Sieb herab. Der Regen lag in Bläschen auf den schwarzen steifen Hüten der Herren, auf den Pelzen der Damen. Er hing auf den Schnurrbärten der Trambahnführer, und wenn man das Gesicht etwas schräg hielt, so netzte er, angenehm kühlend, Augenlider und Wangen.

Schritt für Schritt – und sie ahnte es nicht!

Würde sie einen ihrer wilden Schreie ausstoßen? Würde sie die Arme in die Luft werfen und an seine Brust stürzen, angesichts der Käufer, angesichts der Kolleginnen, angesichts der strengen Augen der Aufsichtsdame? Oh, Christine – nein, nein, sie kümmerte sich um nichts ...

Die großen Scheiben des Warenhauses blendeten, drinnen schwankten Lichter und Menschen. Georgs Herz schlug: Die Stunde war da, tausendmal ersehnt und erträumt. In wenigen Minuten würde er sie sehen – würde er alles erfahren, Aufklärung erhalten über all das Unbegreifliche. Oder –? Sein geschwächter Körper bebte.

Um ganz offen zu sein, es gab ja manches, das nicht so einfach war. Er hatte nur nicht den Mut, es sich einzugestehen. Wie oft war er mitten in der Nacht aus dem Schlafe aufgefahren, um mit offenen Augen dazuliegen, bis der Tag graute? Wenn Christine etwa, nehmen wir es an, auch das war ja möglich – wenn sie nicht mehr hier sein sollte? Seit Wochen – warum betrügst du dich? –, seit Monaten hatte er, seit genau drei Monaten, keine Antwort mehr auf seine Briefe erhalten ...

Die trockene Wärme beruhigte, die Lichter, die Teppiche, die den Schritt dämpften. Eine Art von Wohlbehagen, ein Gefühl des Geborgenseins kroch über seinen durchfrorenen Körper, Röte überzog seine eiskalten, nassen Wangen.

Wie herrlich die Seide schimmerte! Eine Kaskade bunter Seidenstoffe stürzte aus einem hohen Brunnenbecken herunter in den Saal, funkelnd im Licht. Das Silber in den Vitrinen blitzte. Ein Verkäufer schleuderte einen Ballen Tuch auf den Ladentisch, daß er sich wie eine Schlange entrollte, die Schere blitzte in der Luft. Es roch nach feinem Leder, Juchten, nach den Parfüms der Frauen, die vorüberglitten. Die Türen der Aufzüge klirrten, Menschenbündel flogen in die Höhe, stürzten blitzschnell ins Bodenlose.

Hier war Reichtum, Luxus, Überfluß. Es sah ganz so aus, als gäbe es auf dieser Erde weder Hunger noch Kälte noch Entbehrungen. Das Riesengebäude mit seinen hundert Sälen war von oben bis unten angefüllt mit Waren. Die Waren waren bis zur Decke aufgeschichtet, sie überschwemmten die Säle, sprengten die Wände, überströmten die Wandelhallen und Treppenhäuser. Aber, war es nicht auffallend, im Vergleich zu diesen ungeheuren Warenmassen war die Zahl der Käufer nur gering. Man drängte sich nicht wie früher, stieß einander nicht an, kein Gedränge an den Kassen. Die Verkäuferinnen saßen hinter den Tischen, polierten sich die Nägel, färbten sich die Lippen, tuschelten. Glatzköpfige Herren gingen in den Gängen hin und her und blieben ab und zu stehen, um eine abgeschabte Stelle des Läufers zu untersuchen. Eine auffallende, fast bedrückende Stille herrschte in dem Warenpalast.

Nun brauchte man nur noch das Lager der Damenkonfektion zu durchqueren, an einigen gespreizten Wachspuppen vorbei, und man war in Christines Reich: Wäsche, Linnen, Spitzen für Damen.

Georg verbarg sich hinter einer dieser gezierten Puppen, die heiter glänzte und ihn mit ihren Augen verführerisch anstrahlte. Von hier aus vermochte er die Abteilung „Damenwäsche – Spitzen“ unauffällig zu überblicken. Auch hier, wo früher tausend eifrige Hände erregt in den Waren wühlten, waren nur vereinzelte Käuferinnen zu sehen. Eine dicke Dame in einem rötlichen Pelz, wie ein dicker Hamster, einige halbwüchsige Mädchen mit hohen fleischroten Strümpfen.

Wie oft stand dieser Saal, glitzernd von Lichtern, wie eine Vision vor seinen Augen, während er in schlaflosen Nächten in die Ampel des Krankensaals starrte!

Plötzlich aber – plötzlich verspürte Georg einen Riß in der Brust, als sei ein Blutgefäß zersprungen: dort stand Christine!

Er hielt sich an der glänzenden Wachspuppe fest, an dem dünnen Kimono, das sie über den nackten, lackierten Beinen trug: an der Kasse lehnte, in einem blau-weiß gestreiften Kleide, ein Mädchen, das, einen Zettel in der Hand, mit der Kassiererin sprach. Beine und Arme etwas dünn, der Nacken mager, aber die Hüfte breit. Über dem Nacken ein Gewirr von Locken, schwarz, blauschwarz, lebendig bei jeder kleinen Bewegung, fliegend, und immer in Erregung. Die Damen schienen sich zu zanken. Die Kassiererin setzte den Kneifer auf und beugte sich ärgerlich über den Zettel.

Georgs Herz schlug. Wie lange schon mochte sich die Kassiererin über den Zettel beugen? Die Wachspuppe, die er mit den Fingern berührte, begann zu schwanken und drohte über ihn zu stürzen.

Plötzlich aber wandte sich das Mädchen mit den schwarzen Locken ab und kam geradewegs auf ihn zu ...

Es war nicht Christine. Ein flaches, ödes Gesicht, wie Insulaner sie aus Kokosnüssen schneiden, die Augen flach wie Kürbiskerne, leer, ausdruckslos. Er blieb betäubt stehen. Das hölzerne Gesicht kam immer näher, wurde größer und ging vorüber.

Aber – so sagte er sich –, und er fühlte, daß er sich mit einer Hoffnung betrog, um sich zu beruhigen, sie kann ja in einer andern Abteilung tätig sein, nicht wahr? Langsam, leise zitternd in den Knien, wanderte er durch alle Stockwerke des Warenhauses. Höhlen aus blitzenden Messern, Grotten aus funkelndem Kristall. Phonographen schrien, elektrische Sonnen glühten ihn an. Er spähte, forschte. Nirgends.

Als er wieder die Straße betrat, war es Nacht geworden. Es regnete noch immer. Die Häuser schienen geborsten, und das Licht brach aus allen Fugen und zerrann in den Asphaltseen.

Georg verkroch sich in die Ecke einer kleinen Kneipe, um sich mit einem Imbiß zu stärken. Plötzlich aber sprang er auf, bezahlte und eilte zu dem Warenhaus zurück. Es war geschlossen.

„Wie töricht!“ rief er aus und schlug sich heftig die Stirn. „Du hättest doch ihre Kolleginnen fragen können. Sie hätten dir gewiß Auskunft gegeben. Einen ganzen Tag hast du verloren, du Narr! Jetzt ist es zu spät.“

2

In einer Nebenstraße fand Georg nach langem Suchen ein kleines Hotel, das ihm billig genug schien. Er kroch unter die Decke und schlief, völlig erschöpft, augenblicklich ein, obschon es noch früh am Abend war und die Treppen und Türen des Hotels (für Wochen und Tage!) unaufhörlich knarrten. Nach tiefem Schlaf erwachte er früh am Morgen, dampfend am ganzen Körper, aber erfrischt und in zuversichtlicher Laune. Selbst die mürrischen Mienen der Zimmermädchen und Kellner, die in den Einzelgästen ein schlechtes Geschäft sahen, konnten ihm die Laune nicht verderben.

Er suchte eine Kaffeeschenke auf, und während er sein bescheidenes Frühstück einnahm, entwarf er einen genauen Plan für den heutigen Tag. Es galt vor allem zu handeln, nicht eine Stunde durfte er verlieren: seine Barschaft ging zu Ende! Erstens, sagte er sich, erstens also wollte er nochmals das Warenhaus besuchen, um nach Christine zu fragen. Es gab ja keinen Grund, sich zu erregen, verstehe mich recht, er würde Christine finden, heute, morgen. Berlin war eine Stadt der Ordnung, niemand konnte sich hier verbergen.

Zweitens wollte er bei Winter & Co. vorsprechen, jener Baufirma, bei der er zuletzt als Zeichner beschäftigt war, und anfragen, ob es Arbeit für ihn gäbe. Sollte ihm bei Winter kein Erfolg beschieden sein, nun, so gab es andere Firmen, Hausmann & Brune oder Hegelström oder Feinhardt. Er war nicht verlegen, oh, keineswegs.

Wenn die Zeit reichte, so wollte er – drittens – die wenigen Bekannten und Freunde besuchen, die er in Berlin besaß. Das waren vor allem der Bildhauer Stobwasser und der Zeichner Katschinsky. Vielleicht würden sie ihm raten können, was er beginnen solle. Mein Himmel, sechs Monate waren eine Ewigkeit! Er mußte ganz von vorn anfangen.

Es regnete noch immer, feine Regenschnüre rieselten auf dieses endlose Berlin herab. Die Wasserperlen lagen auf den Haaren der Hunde und auf den Lackschuhen der Damen, die in ihre Mäntel gewickelt vorübereilten. Die Straßenkehrer fegten den gelben Schlamm mit Gummistreifen in die Gosse, und Automobile mit großen Walzen wuschen den Asphalt der Straßendämme.

Das Warenhaus war noch völlig verödet. Die Geländer wurden poliert, es wurde Staub gewischt, der Fußboden gewichst. Die glatzköpfigen Herren gingen auf den Teppichen hin und her und gähnten. In der Damenabteilung wurden die Vitrinen abgestaubt, die Wäsche zurechtgelegt.

„Christine März?“ Die Verkäuferinnen kannten sie nicht.

„März?“ sagten sie. „Nein. Es gab große Veränderungen im Personal. Viele Damen wurden entlassen.“ Die Kassiererin mit dem Kneifer kam hinzu. Sie kannte Christines Namen. „Ich erinnere mich,“ sagte sie. „Aber ich glaube nicht, daß Fräulein März noch bei uns ist. Es scheint mir – wenn ich mich recht erinnere, hat sie vor einigen Monaten gekündigt. Sie hatte etwas Besseres gefunden.“

„Besseres?“

„Vielleicht täusche ich mich. Fragen Sie in der Personalabteilung nach.“

Zu allem Unglück war der Chef der Personalabteilung bei einem Termin auf dem Gericht, und die Schreibdamen wagten es nicht, Auskunft zu geben. Der Chef aber würde bestimmt am Nachmittag hier sein.

Gut, also am Nachmittag.

Bei Winter & Co., wo Weidenbach zuletzt gearbeitet hatte, wurde er mit Anteilnahme empfangen. Man erinnerte sich seiner. An der Tür und den Schalterfenstern erschienen einige neugierige Gesichter. Jemand nickte ihm zu. Der stattliche und nach Pomade duftende Prokurist kam heraus und erklärte ihm höflich, daß eine Vakanz zur Zeit – leider! – nicht offen sei. „Später vielleicht. Versuchen Sie es in einigen Wochen, Herr Weidenbach. Und mit Ihrer Gesundheit geht es wieder besser?“ Ein Lächeln, eine Verbeugung.

Georg empfahl sich.

Er erwog, ob es sich überhaupt lohnte, zu Hausmann & Brune zu gehen. Es war eine kleine Firma, die nicht immer mit Aufträgen versehen war. Sie baute Laden aus, Dachwohnungen. Das war ihre Spezialität. Indessen, er beschloß einen Versuch zu machen. Aber – Hausmann & Brune waren nicht mehr zu finden! In den früheren Geschäftsräumen standen, so schien es von außen, Öfen und Herde. Ein Herr, in einen Pelz gehüllt, ging hinter den angelaufenen, nassen Scheiben auf und ab, eine riesenhafte Erscheinung.

Georg klopfte. „Ist hier Hausmann & Brune?“

Ein rothaariger junger Mann, schmächtig und klein, erschien, in einen Pelz eingewickelt, im Türrahmen und putzte sich den Kneifer. „Nein, hier ist Mohrenwitz Söhne, Öfen und Heizungsanlagen.“

„Und Sie wissen nicht, wohin Hausmann & Brune verzogen sind?“

Der Rothaarige zog sich kopfschüttelnd zurück.

Bei der Firma Hegelström hatte Georg vor zwei Jahren, als er nach Berlin gekommen war, als Volontär begonnen. Diese Firma machte alles: Häuser, Kirchen, Theater, Läden, Innenausstattungen, was man wollte. Hegelström war einer der begabtesten und meistbeschäftigsten Architekten Berlins. Er hatte jahraus, jahrein gegen zwanzig Zeichner sitzen.

Georg aber fand die Bureaus verödet. In dem kleinen dunklen Vorzimmer saß ein älterer Herr, der Prokurist. Georg erkannte ihn wieder.

„Mein Name ist Weidenbach,“ sagte er, indem er seiner Stimme einen mutigen Klang gab und ungeniert näher trat, „ich habe bei Ihnen vor zwei Jahren sechs Monate lang als Volontär gearbeitet und frage an, ob Sie Beschäftigung für mich haben.“

Der Prokurist drehte ihm erstaunt den grauen Kopf zu und lächelte hämisch. Er war schlecht rasiert und sah verwahrlost und ungemütlich aus, wie ein verärgerter zottiger Hofhund, der auf Streit wartet. „Beschäftigung?“ keuchte er, „Sie wollen Beschäftigung? Sie glauben wohl, daß wir nur auf Sie gewartet haben, Herr Weidenbach? Oder sind Sie hierher gekommen, um sich einen Scherz zu erlauben?“ Er stand auf, schob die Hände in die weiten Hosentaschen und weidete sich an Georgs Verlegenheit. „Sie sollten also nicht wissen, daß Hegelström bankerott gemacht hat?“

„Hegelström – bankerott?“

„Ja, junger Mann, und ich sitze hier und verwalte die Masse, das ist meine Beschäftigung. Wir haben umgeworfen. Die Zehlendorfer Terrainkäufe haben Hegelström ruiniert. Ich war immer dagegen gewesen, aber Hegelström hörte ja nicht auf mich. Seine Gläubiger haben ihm ohne Gnade die Kehle zugezogen. Und Sie wissen das nicht? Wo in aller Welt steckten Sie, daß Sie das nicht wissen?“

Georg entschuldigte sich, er sei lange Zeit krank gewesen.

Der Prokurist ächzte: „Ich sitze hier noch bis zum Ersten. Dann liege auch ich auf der Straße. Sie wissen also nicht, was mit Hegelström geschehen ist? Ganz Berlin sprach wochenlang von nichts anderem.“

„Nein, wie sollte ich es wissen?“

„Er hat sich vergiftet, junger Mann. Uns allen wird schließlich nichts anderes übrig bleiben, als Arsenik zu fressen. Die Zeiten sind miserabel. Hegelströms Sozius ist Antiquitätenhändler geworden, wie viele Architekten. Er hat einen kleinen Laden in der Kantstraße. Besuchen Sie ihn. – Ja, nun erinnere ich mich wieder an Sie, Herr Weidenbach. Sie haben seiner Zeit die kleinen Villen entworfen, die Hegelström so gut gefielen, nicht wahr?“

„Es waren kleine Landhäuser für Zehlendorf.“

„Ja, richtig. Und Sie waren krank, sagen Sie? Warten Sie einmal – es ist mir so, als habe man mir etwas von Ihnen erzählt? Oder habe ich über Sie etwas in den Zeitungen gelesen?“

Georg wurde blutrot.

Der Prokurist aber gab es gottlob sofort auf, in seinem Gedächtnisse nachzuforschen. „Es sind schwere Zeiten für das Baugewerbe, Herr Weidenbach,“ fuhr er fort. „Es gibt keine Aufträge, und die meisten Neubauten wurden eingestellt. Raten? Nein, ich kann Ihnen keinen Rat geben, ich wüßte nichts.“

Georg war schon in der Türe, als ihm der Prokurist hämisch lachend nachrief: „Vielleicht gehen Sie zu Schellenberg! Versuchen Sie es doch einmal bei ihm!“

„Schellenberg? Wer ist Schellenberg?“

„Schellenberg, das ist ein Unternehmer, der den Arbeitslosen zwanzig Pfennig die Stunde bezahlt, und dazu verspricht er ihnen eine Villa auf dem Monde. Ich sehe schon, Sie haben nicht übel Lust, zu ihm zu gehen – hahaha. Aber nun leben Sie wohl, Herr Weidenbach.“

Bestürzt verließ Georg das Haus.

Er hatte heute nicht mehr den Mut, bei anderen Firmen sein Glück zu versuchen. Kurz entschlossen sprang er auf eine Elektrische, um nach Charlottenburg zu fahren, wo sein Freund Stobwasser wohnte.

3

Karl Stobwasser sah nicht aus wie ein Bildhauer, eher wie ein Schneider. Es war ein kleiner schmächtiger Bursche mit einem schmalen Kopf, etwas schiefem Mund und auffallend spitzer, langer Nase. Auf der Baugewerbeschule in der Provinz – wo Weidenbach sein Mitschüler war – hatten seine vorzüglichen Steinmetzarbeiten und Holzschnitzereien die Bewunderung der Mitschüler und selbst der Lehrer erweckt. Vor zwei Jahren war Stobwasser nach Berlin gegangen, fest entschlossen, seinen Weg als Bildhauer zu machen. Er hatte auch bald Erfolge, wenn auch nur geringe. Ein angesehener Kunstkritiker hatte lobend auf seine Holzplastiken hingewiesen.

Stobwasser hatte seine Werkstatt im Hofe einer Charlottenburger Mietskaserne in einer Art Remise oder Stall aufgeschlagen. Dieses kleine Loch nannte er sein Atelier. Neben der Werkstatt befand sich ein wirklicher Stall, aus dem ununterbrochen eine Ziege in den kleinen finsteren Hof hinausjammerte, sooft sich nur ein Schritt vernehmen ließ.

Stobwasser war zu Hause, Gott sei Dank! Eine heisere, krächzende Stimme antwortete auf Georgs Klopfen. Als er in den kleinen, eisigkalten, halbdunklen Raum eintrat, fuhr ein verwilderter Kopf aus den Decken einer kleinen Eisenbettstelle empor. Eine lange, spitze Nase war das einzige, was Georg klar erkennen konnte.

„Wer ist es?“ fragte die heisere Stimme des Bildhauers, und Nebel dampfte aus seinem Munde.

„Ich bin es, Georg.“

Der Bildhauer fuhr noch höher aus den Decken empor und richtete seine spitze Nase auf Georg. Er bewegte den wilden Haarschopf hin und her und vermochte kein Wort hervorzubringen.

„Wie? Wer?“ rief er dann erschrocken aus.

„Georg!“

„Aber ist es möglich?“ Stobwasser warf erregt die Arme in die Luft. „Du? Weidenbach? Ist es denkbar? Aber – verstehe mich – du siehst, daß ich es nicht fassen kann! Man hat mir doch gesagt, daß du – gestorben seist!“

„Nein, ich lebe noch,“ entgegnete Georg mit einem leisen, bitteren Lachen.

Der Bildhauer schüttelte fassungslos den Kopf. „Wie ist es denkbar?“ rief er aus. „Wer erzählte es denn nur? Katschinsky? Die Jenny Florian? Ich verstehe es nicht, wie konnte man es denn erzählen, wenn es nicht wahr war? Oh, mein armer Kopf, ich kann gar nicht denken! Nun, einerlei, wie das Gerücht aufkam – du lebst!“ schrie Stobwasser mit heiserer Stimme. „Du lebst also noch! Ach Gott sei Dank! Dreimal war ich im Krankenhaus, um dich zu besuchen, aber man hat mich nicht vorgelassen! Und dann also – dann erzählte man es im Café! Lieber Himmel, was für Dinge geschehen können!“ Er streckte Georg beide Hände entgegen. „Nun, Gott sei gelobt! Umarme mich, Bruderherz! – Oder bist du aus dem Jenseits gekommen, um mir einen Besuch abzustatten? Wie?“ Der Bildhauer lachte und hustete. Glühendheiß brannten seine Hände. Er schwieg eine Weile, während er Georg mit großen, glänzenden Augen betrachtete. „Laß dich ansehen, alter Freund,“ sprudelte er dann außer sich vor Freude hervor. „Wie wunderbar ist es doch! Und ich trauerte schon um dich. Und manchmal, es ist wahr, da habe ich dich beneidet. Nein, wie wunderbar ist es doch! Und da kommt er also plötzlich herein –!“

Georg sah sich in der kahlen Werkstatt um. „Wo sind deine Tiere?“ fragte er, um von dem Thema abzulenken, das ihn peinigte. Früher war Stobwasser stets von einer Menge von Tieren umgeben gewesen: Papageien, Katzen, Kakadus, Mäusen.

„Meine Tiere?“ Der Bildhauer ließ den Kopf sinken. „Meine lieben Tiere? Ach, es war zu kalt für sie hier, ich habe keine Kohlen. Eine Dame, eine barmherzige Seele, hat sie in Kost und Logis genommen. Seit Wochen bin ich nicht wohl. Selbst ein Hund würde in diesem Loch krank werden. Setze dich doch, Georg. Ich war eben aufgestanden, um etwas Tee zu kochen. Auf dem Wandbrett dort steht eine Tasse, nimm diese Tasse für dich und gib mir das Glas.“

Der Bildhauer nahm das heiße Glas in die Hände und wurde von Frost geschüttelt. „Schade, schade. Auch nichts kann ich dir anbieten, nicht einmal einen Kognak. Es ist zu ärgerlich!“

„Und wie ging es dir, seit wir uns nicht sahen, Stobwasser?“

Stobwasser führte das Glas mit zitternden Händen zum Munde und versuchte, den heißen Tee zu schlürfen. „Ich kann es immer noch nicht fassen, liebster Kamerad – aber sprechen wir nicht mehr davon. Ja, du fragst, wie es ging? Gut und schlecht. Es war nicht so einfach durchzukommen,“ sagte er heiser, „aber ich verlor den Mut trotz allem nicht. Du weißt ja, ich hatte damals drei Figuren zu modellieren für die Villa eines Seifenfabrikanten. Nun, die Figuren mißfielen leider der Madame und wurden wieder heruntergeschlagen, und ich bekam keinen Pfennig. Ich konnte ja klagen, siehst du, so sind sie, die reichen Leute. Aber ich konnte ja nicht einmal den Anwalt bezahlen. Dann verkaufte ich eine kleine Holzschnitzerei, aber der Käufer zahlte nur eine geringe Summe an, und seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Reichen können sich nicht in die Lage des Armen versetzen. Sie können sich nicht vorstellen, daß man dasitzt und auf jeden Schritt horcht. Dann hatte ich Aussichten, die sich nie verwirklichten. Und nun bin ich krank und liege hier. Aber nun erzähle du,“ schloß der Bildhauer, indem er das Glas abstellte und sich in die Decken hüllte. „Das Sprechen strengt mich an.“

„Ich? Es gibt nichts zu erzählen von mir,“ wich Georg aus.

Stobwasser blickte ihn mit großen, fiebernden Augen an. „Nichts zu erzählen, sagst du? Man sollte doch meinen! Höre, Weidenbach, wir haben ja stundenlang über dich diskutiert und sind uns doch nicht klar geworden.“

„Worüber wolltet ihr euch denn klar werden?“ unterbrach ihn Georg verlegen, mit leiser, hilfloser Stimme.

„Es war uns allen unerklärlich,“ flüsterte der Bildhauer und streckte den Kopf so nahe wie möglich an Georg heran. „Es ist mir noch wie heute! Zwei Tage vorher waren wir alle zusammen in Potsdam, Katschinsky und Jenny Florian, du und die kleine Christine, und wir waren ja in solch ausgelassener Laune. Oh, du meine Güte!! Und zwei Tage später, da kommt Katschinsky zu mir hereingestürzt, hier herein in mein Atelier und sagt: ‚Weißt du schon – Weidenbach –?‘ Und ich sagte: ‚Unmöglich, wie soll das nur möglich sein!‘“ Der Bildhauer brach ab, neigte sich vor und fragte noch leiser, während seine Augen doppelt so groß wurden: „Sage mir doch, Weidenbach, weshalb hast du es getan?“

Weidenbach erhob sich hastig und stammelte irgend etwas.

Augenblicklich versuchte Stobwasser ihn zu beruhigen. Beschwörend streckte er die Hand aus. „Setze dich wieder, Weidenbach, ich bitte dich! Ich will nicht mehr davon sprechen. Es gibt Dinge, die man selbst seinen Freunden nicht sagen kann. Aber, wie gesagt, es war uns unerklärlich, denn wir waren doch alle in solch vorzüglicher Laune, damals. Nun, ich verstehe, man tut manches, und später –“ Der Bildhauer hustete.

„Wie geht es Katschinsky?“ unterbrach ihn Georg.

„Katschinsky?“ Stobwasser lachte leise. Irgend etwas Lustiges war ihm eingefallen beim Klang dieses Namens. Er streckte die spitze Nase zur Decke. „Ich weiß es nicht. Du kennst ja Katschinsky, man sieht ihn oft wochenlang nicht. Er brachte mir den Kunden, der mir die kleine Holzplastik abkaufte und bis heute nicht bezahlte. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Es soll ihm nicht schlecht gehen. Er ist elegant und vornehm geworden, verkehrt in Tanzdielen und Spielklubs. Soviel ich weiß, ist er beim Film angekommen. Höre, Weidenbach, eben denke ich daran, was wirst du beginnen? Hast du schon eine Beschäftigung?“

„Ich suche etwas. Ich fragte heute da und dort an.“

„Schön. Höre. Gehe sofort zu Katschinsky. Er hat ja Verbindungen in allen Kreisen, und ohne Verbindungen ist heute schwer etwas zu machen. Vielleicht kannst du auch beim Film ankommen?“ Ein Hustenanfall unterbrach Stobwasser, dann fuhr er lebhaft fort: „Und Christine, Georg, wie geht es Christine?“

Pause. Stille.

„Ich habe Christine im Warenhaus gesucht, aber sie scheint nicht mehr dort beschäftigt zu sein.“

Der Bildhauer richtete sich erstaunt auf. „Scheint? Scheint? Aber stehst du denn nicht in Verbindung mit Christine?“ schrie er vor Erregung.

Leise antwortete Georg: „Christine schrieb zuletzt nicht mehr. Meine Briefe, meine letzten Briefe“, schaltete er ein, da er sich vor dem Freunde schämte, „kamen als unbestellbar zurück.“

Stobwasser erwiderte nichts. Er lag lange still, und sein Atem pfiff. „Die Frauen sind merkwürdig,“ sagte er dann, mit einem neuen Hustenanfall kämpfend. „Sonderbar. Ich hätte es nicht für möglich gehalten,“ fuhr er fort, während er Georg mit seinen großen, fiebernden Augen aufmerksam betrachtete. „Und du hast dir doch ihretwegen – es ist doch ganz gewiß, sonst wäre es ja überhaupt unverständlich –, du hast dir doch Christines wegen eine Kugel in die Brust geschossen, Weidenbach?“

Wiederum erhob sich Weidenbach. Er trat einen Schritt zurück, schwieg, blickte zu Boden. Dann erwiderte er ganz leise, so daß Stobwasser ihn kaum verstehen konnte: „Sprich nicht mehr davon, Stobwasser, ich bitte dich herzlich. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gab eine Szene zwischen Christine und mir, es gab immer Szenen und immer heftigere, und schließlich wußte ich nicht mehr, was ich tat.“

Stobwasser drückte Georgs Hand. Nach langem Schweigen sagte er: „Welch ein Satan, diese Christine! Und dabei ist sie noch kleiner als ich! Ach, und sie hörte auf, dir zu schreiben. Ja, die Frauen! Der Teufel soll sie holen, alle zusammen. Weißt du, Weidenbach, ich glaube, diese periodischen Störungen machen die Frauen völlig verrückt. Sie wissen nicht, was sie tun. Nun wohl, Christine hin, Christine her. Vergiß sie, Weidenbach – es gibt hundert Christinen!“

Georg schüttelte den Kopf. „Du täuschst dich, es gibt nur eine,“ entgegnete er.

Stobwasser saß keuchend in den Decken und sah Georg lange an. „Also – trotz alledem?“ rief er überrascht aus. „Nun, sie war ja ein wundervolles Mädchen, diese Christine, zugegeben. Sie war ein herrliches Geschöpf, gütig und wild in einem und voll toller Einfälle. Aber gehe jetzt, Weidenbach,“ keuchte er, „das Sprechen tut mir weh. Die Brust schmerzt mich. Ich bin so glücklich, daß ich dich wiedersah, alter Freund. Und komme bald wieder, ich liege hier tagelang. Du kannst auch bei mir wohnen, wenn du willst. Wir können recht gut zu zweien hier hausen. Und der Kaufmann kann ja jeden Tag bezahlen, ich habe ihm geschrieben. Lebe wohl, Weidenbach, und vergiß nicht zu Katschinsky zu gehen, er weiß stets Rat.“

Schon im Hofe hörte Georg Stobwasser noch husten. Aus dem Ziegenstall schob sich zwischen Lumpen der Kopf der hungrigen Ziege, die Georg kläglich nachmeckerte.

4

Heißes Wasser nennen Sie das?“ rief Katschinsky unwillig der Wirtin zu. Noch immer tyrannisierte er die alte gutmütige Frau. Sie ließ sich alles von ihm gefallen. Er mochte bezahlen oder nicht, sie scharrte ihre letzten Groschen für ihn zusammen, denn sie hatte sich in den hübschen Jungen vergafft.

Katschinsky war eben dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen. Während er sich mit dem Apparat den weichen, kaum sichtbaren blonden Flaum von Wangen und Kinn schabte, unterhielt er sich mit Georg. Es war warm und hell in seinem Zimmer.

„Stobwasser? Natürlich werde ich Karl besuchen,“ sagte er mit seiner immer etwas spöttisch und hochmütig klingenden Stimme. „Aber ich will Ihnen etwas sagen, Weidenbach. Dieser Stobwasser ist ein kurioser Bursche. Ich bringe ihm einen Käufer, er kauft ihm eine Plastik ab, macht eine Anzahlung, und nun schreibt ihm dieser unglückselige Stobwasser fortgesetzt Mahnbriefe.“

„Es geht ihm nicht gut, zur Zeit, Katschinsky,“ warf Georg ein.

„Nun, wem geht es gut, frage ich? Man tut so etwas nicht, es verstimmt den Käufer. Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er Karl die Plastik zurückgeschickt.“

„Stobwasser ist krank. Er hat nicht einmal Geld, um zu heizen.“

„Trotzdem, trotz alledem, Sie müssen zugeben, Weidenbach –“

Katschinsky hatte offenbar ganz vergessen, daß sie sich früher geduzt hatten. Er hatte augenblicklich einen um eine Nuance förmlicheren Ton gewählt, als sein Blick Georgs abgetragene Kleidung streifte. So schien es Georg wenigstens.

Für Kurt Katschinsky, den Maler und Zeichner, hatte er immer Bewunderung empfunden und sich ihm ganz von selbst untergeordnet. Einige Karikaturen Katschinskys waren in Witzblättern erschienen. Katschinsky hatte in der Juryfreien mit Erfolg ausgestellt, und es bestand für Georg kein Zweifel, daß Katschinsky den Weg zum Ruhm betreten hatte.

Katschinsky war ein ungewöhnlich hübscher junger Mann. Er war blond und trug das Haar peinlich genau gescheitelt. Er wirkte größer, als er tatsächlich war, und auch schlanker. Er hatte große graue Augen und das etwas zarte und blasierte Gesicht eines verwöhnten Muttersöhnchens. Er war der Sohn einer Beamtenwitwe in Hamburg, die ihren letzten Pfennig für ihn opferte. So kam es, daß Katschinsky stets etwas Geld hatte und es sich leisten konnte, Jenny Florians Freund zu sein, einer jungen Schauspielerin, die zu den schönsten Frauen Berlins zählte. Wenn diese beiden jungen Menschen sich auf der Straße oder in einem Restaurant zeigten, so richteten sich stets alle Augen voller Bewunderung auf sie.

„Darf ich eine Frage an Sie richten?“ fragte Katschinsky, während er sich mit einem heißen Tuch, das die alte Wirtin gebracht hatte, das Gesicht abtrocknete und Georg durch den Spiegel mit seinem schönsten, liebenswürdigsten Lächeln zulächelte.

„Fragen Sie ruhig.“

„Ich meine, Weidenbach“ – der Maler puderte Wangen und Kinn mit einer zarten flockigen Quaste – „es interessiert mich: tut es weh – das, Sie verstehen mich?“

Georg antwortete nicht. Das Blut stieg ihm in die Wangen.

Da begann Katschinsky zu lachen. „Ach, es fehlte noch, daß Sie mir böse sind, lieber Freund. Es interessierte mich. Ich werde es ja nie tun, ich hätte gar nicht den Mut dazu. Und einer Frau wegen – ach, du lieber Himmel!“ Er goß eine Essenz ins Haar und zog sorgfältig den Scheitel. Dann legte er den Kragen an und knüpfte mit großer Sorgfalt die Binde. Er schien für eine Weile die Anwesenheit Georgs ganz vergessen zu haben.

Katschinsky war stets gut gekleidet gewesen, und doch staunte Georg über die Eleganz des modischen Anzugs, den er heute trug. Die Hosen, an den Hüften weit geschnitten, waren tadellos gebügelt. Dazu trug Katschinsky Seidenstrümpfe und Lackschuhe. Die Krawatte war aus schiefergrauer schwerer Seide.

„Ich freue mich, daß es Ihnen gut geht, Katschinsky,“ sagte Georg – und er schämte sich des heimlichen Gedankens, daß Katschinsky ihm vielleicht aus der Verlegenheit helfen könnte. Die Wärme des Zimmers hatte Georg aufgetaut. Seine Stimme wurde leichter, sein Benehmen freier.

„Der Schein trügt,“ erwiderte Katschinsky, indem er kokett den Kopf über die Schulter drehte und spöttisch lächelte.

„Sie haben gewiß Erfolge? Stobwasser deutete es an.“

Katschinsky prüfte mit einem Handspiegel die Zähne, wobei er das Gebiß von den Lippen entblößte. Seine Zähne waren vorbildlich schön, regelmäßig, schneeweiß. „Erfolge!“ rief er aus und lachte leise. „Es ist eine sonderbare Art von Erfolgen!“

„Haben Sie viel gearbeitet?“

Katschinsky schüttelte den Kopf. „Nein, nein,“ erwiderte er und polierte sorgfältig die Nägel, „ich habe fast nichts gearbeitet, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben. Es ist eine Müdigkeit über mich gekommen, eine ungeheure Müdigkeit. Ich bin wohl stets ehrgeizig gewesen, Weidenbach, aber ich hatte nie eine große Energie. Wozu auch? Im übrigen habe ich nicht die geringste Begabung.“

„Sie sollten keine Begabung haben, Katschinsky!“ rief Georg erstaunt aus und lachte, seit langer Zeit zum erstenmal.

Katschinsky sah einen Augenblick auf. Der bedingungslose Glaube an sein Können, der so deutlich aus Weidenbachs Lachen klang, hatte seiner Eitelkeit geschmeichelt. Er errötete leicht. „Nein, nein,“ sagte er, „ich habe es einmal geglaubt, aber ich sehe jetzt ein, daß ich kein Talent habe. Ich kann nur nachahmen, was andere vorgemacht haben. Ich müßte arbeiten, viel arbeiten, aber dazu fehlt mir die Energie.“

„Was tun Sie also?“

Katschinsky zog die Schultern hoch. „Sie sind ein ehrlicher Junge, Weidenbach,“ sagte er, während er die Hände mit Puder einrieb. „Es ist möglich, daß Sie einmal ein großer Künstler werden, gerade weil Sie so einfach und aufrichtig empfinden. Ich will Ihnen nichts vormachen. Meine Mutter ist gestorben, und ich habe die Möbel, die sie mir hinterließ, verkauft. Für den Erlös habe ich mir Garderobe angeschafft. Ich tat das nur aus Eitelkeit, aber es stellte sich heraus, daß es das Vernünftigste war, was ich tun konnte. Ist es Ihnen nicht aufgefallen, Weidenbach, daß es hier in Berlin Hunderte von jungen Männern gibt, die elegant gekleidet sind – Bügelfalten, Monockel, elegante Schuhe –, und man weiß nicht, wovon sie leben. Aber sie haben das Aussehen der Sorglosen, ihre Gesichtsfarbe ist gut, die Hände sind gepflegt. Auf den Kleidern auch nicht ein Stäubchen. Sie gehen auf dem Kurfürstendamm spazieren und trinken in den Hallen der vornehmen Hotels um fünf Uhr Tee. Wovon leben all diese jungen Leute, Weidenbach? Nun, sie werden es Ihnen nicht verraten. Sie bilden eine Klasse für sich. Und erst, wenn Sie sich so kleiden wie diese jungen Männer, haben Sie die Möglichkeit, in ihre Geheimnisse einzudringen.“

„Also wovon leben sie denn?“ unterbrach Georg den Maler ungeduldig und sah ihn mit einem neugierigen Blick an.

„Wovon wir leben?“ antwortete Katschinsky, und ein eitles, zynisches Lächeln umspielte seinen schönen Mund. „Das ist nicht so leicht gesagt. Nun, wir leben, und wir leben nicht schlecht. Können Sie tanzen, Weidenbach, gut tanzen? Nun, so kommen Sie mit mir in eine Tanzdiele, um fünf Uhr. Ich führe Sie ein. Sie tanzen ein paar Schritte, man wird Ihnen Tee, Gebäck, Zigaretten und Liköre servieren, und wenn Sie besonders gute Figur machen, wird man Sie noch honorieren. Sie werden erfahren, daß es elegante Restaurants gibt, wo man mit einer hübschen Dame, die natürlich ebenfalls ohne jeden Tadel gekleidet ist, ganz umsonst zu Abend speisen kann.“

„Ist es möglich?“ fragte Georg.

„Ja, es ist möglich,“ erwiderte Katschinsky, dem die Verblüffung dieses armen, abgehetzten, bleichen, vom Regen zerweichten Weidenbach Vergnügen bereitete. Er schlüpfte in das Jacket und strich es mit den Händen am Körper glatt. Dann begann er mit leisen Schritten auf und ab zu gehen, und in seinem Gang drückten sich Befriedigung über die tadellose Kleidung und jenes Wohlbehagen aus, das eine sorgfältige Toilette bereitet. Sein schönes Gesicht strahlte von einem leichtsinnigen Lächeln, während er plauderte. „Man macht Bekanntschaften, knüpft Beziehungen an. Zuweilen trifft man auch da und dort eine hübsche Dame, die einen in ihr Haus einlädt. Man ißt und trinkt und läßt es sich wohl sein. Und dann, das ist das Allerwichtigste, gibt es eine ganze Menge von Spielklubs, die sich erkenntlich zeigen, wenn man ihnen zahlungskräftige Mitglieder zuführt. Man kann auch spielen, wenn man es versteht. Aber, um ehrlich zu sein, Weidenbach, darin bin ich noch Dilettant. Ich habe einen Freund, früherer Offizier der russischen Garde. Oh, der versteht zu spielen! Nimmt er nur die Karten in die Hand, so ist das Glück auf seiner Seite. Sie sehen, Weidenbach, so lebt man also. Und wenn man so leben kann, weshalb soll man sich anstrengen? Kunst – wer will heute in diesem Lande etwas von Kunst wissen, wer versteht etwas von Kunst. Diese Zeiten sind vorläufig vorüber.“ Plötzlich hielt Katschinsky inne. Er blieb stehen und blickte Georg nachdenklich an. „Es gibt übrigens noch etwas, womit man mühelos Geld verdienen kann!“ rief er dann lebhaft, von seinem Einfall begeistert, aus. „Hören Sie, Weidenbach, vielleicht wäre dies etwas für Sie!“

In Weidenbachs Augen erwachte Hoffnung.

„Ja, mein lieber Junge, ich glaube, ich habe es gefunden! Am Ende sind Sie zu mir gekommen, weil Sie Geld brauchen und sich sagten, Katschinsky hat vielleicht etwas. Aber Weidenbach, Sie brauchen nicht zu erröten, um Himmelswillen. Ich kann Ihnen nur dies sagen,“ Katschinsky zeigte lächelnd seine schönen Zähne, „es gibt in der Welt nichts Törichteres, als vor einem Katschinsky zu erröten. Aber, um es nicht zu vergessen. Diese eine Sache, die vielleicht etwas für Sie wäre! Kokain!“

„Kokain,“ flüsterte Georg enttäuscht.

Katschinsky lachte laut auf. „Ja, Kokain!“ rief er aus. „Sie scheinen wenig begeistert zu sein, und die Sache ist doch so einfach. Sie versuchen Kokain aufzutreiben. Sie werden schon Leute finden, die Kokain haben, und wir könnten dann zusammen arbeiten. Für die Abnehmer sorge ich. Was sagen Sie dazu?“ Katschinsky lachte laut und fröhlich.

„Das ist nichts für mich,“ stammelte Georg. „Ich bin nicht für solche Dinge geschaffen. Ich habe dazu nicht die geringste Begabung.“

Katschinsky betrachtete ihn mit einem leisen Bedauern in den grauen Augen. „Schade, sehr schade,“ sagte er dann leise. „Ich befürchte, daß Sie es nicht leicht haben werden, Weidenbach. Nein, Sie sind nicht für solche Dinge geschaffen, das sehe ich. Sie sind nur für die Arbeit geschaffen. Sie werden ewig arbeiten, und die andern werden den Nutzen von Ihrer Arbeit haben und Sie auslachen?“

„Nun, so lassen Sie sie lachen. Meinetwegen, wenn ich nur Arbeit habe,“ antwortete Georg, indem er sich erhob. Der Zynismus Katschinskys widerte ihn plötzlich an. „Sie sind nicht böse, Katschinsky, daß ich Sie besuchte?“

„Böse, wieso? Ich versäume ja nichts. Ich gehe hier auf und ab und warte auf einen telephonischen Anruf. Ich muß wissen, wo heute abend gespielt wird, und dann, sehen Sie, habe ich eine Verabredung im Bristol.“

„Und Jenny, Jenny Florian?“ fragte Georg, schon den Hut in der Hand. „Wie geht es Jenny Florian? Ist sie noch in Berlin?“

Katschinsky erbleichte. Er blieb augenblicklich stehen. Seine Augen schillerten böse, und sein hübscher, knabenhafter Mund wurde plötzlich hart und herrisch. Dieses Gesicht würde Georg nie vergessen. Es war hochmütig und kalt und verriet allzu deutlich, daß Katschinskys freundliches und liebenswürdiges Benehmen nur Verstellung war.

„Sie sollen Jennys Namen nie mehr aussprechen!“ herrschte Katschinsky Georg an, und wie ein eigensinniges Kind stieß er mit dem Schuh auf den Boden. Sofort aber sah er ein, daß er Georg verletzt hatte, und er versuchte es wieder gutzumachen. „Verzeihen Sie,“ sagte er mit ruhigerer Stimme, obwohl die Worte noch zitterten. „Vergeben Sie mir, daß ich erregt wurde. Aber sooft ich an Jenny denke, könnte ich rasend werden. Sie hat Karriere gemacht, Weidenbach. Sie fährt in einem wunderbaren Mercedeswagen, und Sie sollten einmal sehen, wie sie lächelt, wenn sie mich grüßt, ganz als sei ich ihr einmal auf einer Gesellschaft so nebenbei vorgestellt worden. Jenny Florian, ich will Ihnen eines verraten, Weidenbach, ist eine Frau, die es weit bringen wird! Sie ist die gewandteste Schauspielerin auf der Bühne des Lebens, die es gibt. Auf der Bühne versagte sie. Sie wissen, daß sie es versuchte. Sie versucht es jetzt mit dem Film, wir werden ja sehen, wie weit sie kommt. Allerdings – in diesem Falle steht eine Finanzmacht hinter ihr. Im Leben aber, das muß man zugeben, spielt sie ihre Rolle wunderbar! Sie spielt nur gegen sehr hohe Gage. Und sie wird jedes Engagement sofort brechen, wenn Sie ihr mehr bieten können.“ Katschinskys Gesicht war während der letzten Worte – er deklamierte etwas – wieder erbleicht. Seine Lippen bebten. In seinen hellgrauen Augen funkelte ein kalter böser Glanz.

In diesem Augenblick schrillte das Telephon.

„Hier ist der Anruf,“ sagte Katschinsky erregt und reichte Weidenbach flüchtig die kühle Hand.

„Leben Sie wohl, Weidenbach,“ sagte er, ohne Georg anzusehen, und eilte an den kleinen Schreibtisch, wo das Telephon stand.

5

Georg stieg langsam die Treppe hinab. Er hat sich ja sogar die Lippen gefärbt! dachte er. Er roch nach Essenzen, Puder und Zahnwasser des Malers.

Das also war Katschinsky, vor dem er sich neigte, dachte Georg, während er, verwirrt von dem Besuch, zur Station der Untergrundbahn eilte. Wenn er mit den Zügen Glück hatte, so konnte er noch vor Geschäftsschluß am Alexanderplatz sein. Enttäuschung und Traurigkeit bemächtigten sich seiner. Was war aus Katschinsky geworden? Was machte diese Zeit und diese Stadt mit den Menschen? Ein Verräter, ein Abtrünniger, ein Schamloser. Er wollte es sich nicht eingestehen, daß er Katschinsky geliebt hatte und zwei Jahre lang um seine Freundschaft warb. Und wie erregt er wurde, als er Jennys Namen nannte? Wie er sie sofort beschimpfte. Was war geschehen? Nun, er würde ihn nicht wiedersehen, lebe wohl!

Gerade noch zur rechten Zeit erreichte Georg das Warenhaus. Die Verkäufer und Verkäuferinnen, erschöpft von der trockenen verbrauchten Luft, warfen schon Blicke auf die Zeiger der Uhren. Der Chef der Personalabteilung aber, ein kleiner runder Herr, hatte eigentlich schon Schluß gemacht und empfing Georg mit einer verdrießlichen Miene. Er zog die Brauen zusammen und sah nun wahrhaft vergrämt und verzweifelt aus.

„Ich bin ja eigentlich kein Auskunftsbureau, junger Mann,“ rief er aus, „aber immerhin – Christine März, sagen Sie? Nun, einen Augenblick. März, Christine – sie hat vor drei Monaten die Firma verlassen und wohnte damals –“ Er schrieb die Adresse nieder und reichte Georg den Zettel mit den Fingerspitzen, als klebe Schmutz daran. Es war eine etwas verrufene Straße.

Georgs Gesicht aber leuchtete. Augenblicklich machte er sich auf den Weg, und blitzschnell, wie ein Mensch, dem die Verfolger auf den Fersen sind, schoß er durch die Menge, die in der Zeit des Geschäftsschlusses die Straßen überschwemmte. Außer Atem und mit Schweiß bedeckt erreichte er das bezeichnete Haus. Er blieb stehen und sah sich dieses Haus an. Sofort schüttelte er, enttäuscht und niedergeschlagen, den Kopf.

Die Adresse war vom August, und jetzt war man im November. Es war recht gut möglich – ja es war sicher, er fühlte es – daß Christine nicht mehr in diesem Hause wohnte. Immerhin, vielleicht würde man ihm Auskunft geben können.

Und während er langsam und etwas zaghaft auf das Haus zuging, quälten ihn wiederum die alten Gedanken, die ihn seit drei Monaten marterten: Weshalb hatte sie plötzlich keine Nachricht mehr gegeben? Hatte sie Berlin verlassen? O nein, er fühlte, daß sie in der Stadt war! War sie gestorben? O nein, er fühlte, daß sie lebte! War sie krank? Lag sie in irgendeinem Krankenhaus? Vielleicht. Unmöglich, gänzlich unmöglich war es ja, daß sie ihn verlassen haben könnte, ohne ein Wort. Hatte er nicht Beweise ihrer Liebe und Leidenschaft, wie? Gab es größere Beweise als das, was Christine getan hatte?

Wie eine gewöhnliche Mietskaserne im Osten sah das Haus aus, ebenso verwahrlost, dunkel und finster wie die Häuser ringsum. Neben dem Toreingang war eine Kneipe. Zwei bezechte Kutscher standen darin, kleine Schnapsgläschen in der Hand. Hier trat Georg ein und fragte nach der Adresse des Schlossers Rusch. Rusch? Das sei richtig hier. Im dritten Hof, parterre.

Die Höfe waren klein und eng, eigentlich nur Lichtschächte. Es brannten winzige Laternen, und die Wände sahen wie mit Schimmel bedeckt aus. Da und dort glomm ein trübes Licht, der Geruch schlechten Fettes, mit dem gekocht wurde, drang aus den Türen. Aus dem dritten Hof kam eine kleine Frau, ein Tuch über den Kopf geschlagen. Georg beugte sich vor, um unter das Tuch blicken zu können: das kleine bleiche Gesicht einer älteren Frau, die still und lautlos weinte.

Der dritte Hof war der kleinste. Er war ganz dunkel, und das Regenwasser plätscherte aus irgendeiner durchlöcherten Rinne mitten auf den Hof herab. Zwei Parterrefenster des Hofes zeigten hinter herabgelassenen fleckigen Vorhängen mattes Licht.

Diesen Vorhängen tastete sich Georg entgegen. Sofort roch er, daß er an der rechten Stelle war. Er roch die Werkstatt eines Schlossers. Noch einen anderen Geruch unterschied er – den Geruch von Kerzen.

Die Türe zur Wohnung des Schlossers war nur angelehnt, und Georg lugte durch den Spalt. Sein Herz schlug so sehr, daß es ihm nicht möglich gewesen wäre, jetzt irgendein Wort zu sprechen. Drinnen glitzerte es – was war es doch? – Kerzenlicht, wie ein Christbaum. Er hatte in der Erregung die Tür berührt, so daß der Spalt sich vergrößerte. Da sah er, daß in der Stube, der Werkstatt des Schlossers, die Leiche einer dicken, behäbigen Frau aufgebahrt lag. Zu beiden Seiten des fahlen, gutmütig lächelnden Gesichts standen zwei flackernde Kerzen. Er hörte ein gurgelndes Schluchzen und dann ein lautes Räuspern. Ein Schatten reckte sich über Wände und Decke, und eine laute, rauhe Stimme sagte: „Ist jemand hier?“

„Ich bitte zu verzeihen, daß ich störe,“ stammelte Georg, und schon näherte sich die Gestalt der Türe.

Ein großer breitschultriger Mann stand vor Georg. Seine Augen waren verweint. Er hatte sich offenbar mit den schmutzigen Fäusten die Augen ausgerieben, so daß dicke schwarze Ringe um die Augen lagen, wie eine phantastische Brille.

„Was wollen Sie?“ fragte der Mann unwirsch und heftete den Blick scharf und funkelnd auf Georg.

„Ich komme sehr ungelegen,“ erwiderte Georg leise. Der Blick dieses Mannes erschreckte ihn. „Ich wollte eine Auskunft haben.“ Er fragte, ob Christine März noch hier wohne?

Das Gesicht des Schlossers nahm einen verächtlichen Ausdruck an. „Die!“ knurrte er. Oh, die sei schon lange, lange nicht mehr hier. „Aber was wollen Sie von ihr, junger Mann? Wollen Sie etwa die Schulden bezahlen, die diese Person hinterlassen hat? Sie ist noch zwei Monate Miete schuldig.“

Georg stammelte eine Entschuldigung und wich zurück.

Der Schlosser Rusch trat aus der Türe und rief ihm nach: „Es ist noch eine Pappschachtel von dieser Person hier, mit alten Lumpen! Vielleicht wollen Sie die Pappschachtel haben? Ich werde sie Ihnen bringen.“

„Ich will nichts,“ erwiderte Georg, indem er in den Torweg eilte.

„Nun, so warten Sie doch!“ polterte Rusch. „Weshalb gehen Sie so rasch. Warten Sie doch! Es ist ja alles nicht so schlimm gemeint. He, Sie!“

Bei der Kneipe, die am Ausgang des Torwegs zur Straße lag, holte ihn der Schlosser ein. Nun erst bemerkte Georg, daß der Schlosser mit dem beschmutzten Gesicht betrunken war.

„Sie wollten nach Christine fragen?“

„Ja.“

„Nun, ich werde Ihnen von Christine erzählen.“

„Sie wollten?“

„Ja, kommen Sie.“ Er drängte Georg mit dem Eigensinn eines Betrunkenen in die Kneipe. „In aller Gemütlichkeit,“ fuhr er fort, indem er Georg auf einen Stuhl schob, „in aller Gemütlichkeit wollen wir sprechen. Bringe zwei Kognak, Anton!“ schrie er dem hemdärmeligen Wirt zu. „Ja, Christine – ein feines Kerlchen, ein apartes Kerlchen, aber –“

„Ich wollte Sie ja nicht erschrecken und beleidigen, mein Herr,“ wandte er sich wieder an Georg und schob ihm ein Glas Branntwein hin. „Es war nicht meine Absicht. Sie haben gesehen, daß meine Frau dahinten tot liegt, und aus diesem Grunde bin ich bei jeder Gelegenheit gleich so außer Rand und Band.“ Er goß sich den Kognak in die Kehle und nötigte Georg zu trinken. „Trinken Sie, junger Mann, damit Sie Farbe bekommen. He Anton! Auch Christine liebte es, zuweilen ein Gläschen zu trinken. Sie war garnicht so zimperlich.“

„Christine?“ unterbrach ihn Georg verwundert.

„Ja, Christine. Am Abend, da tranken sie zuweilen ein Gläschen zusammen, Ihre Christine und sie, die nun dahinten liegt.“ Rusch deutete mit dem Daumen hinter sich.

„Einmal nun, sehen Sie, da stieg sie in eine Droschke ein – und hast du nicht gesehen – auf der andern Seite fiel sie wieder hinaus. Und wir lachten, hahaha! Alles lachte. Was ist dabei, wir haben alle unsere Schwächen.“

„Christine fiel aus der Droschke?“

„Aber nein, nein. Sie fiel aus der Droschke, sie, die nun dahinten liegt. Trinken Sie doch, trinken Sie aus, damit ich sehe, daß Sie mir nichts nachtragen.“

Georgs Augen brannten. Seit wann Christine nicht mehr bei ihm wohne?

Der Schlosser dachte nach. Er kniff das beschmierte Gesicht zusammen. „Seit wann?“ erwiderte er. „Lassen Sie mich nachdenken? Ja, seit wann? He, Anton, erinnerst du dich? Diese kleine Schwarze, weißt du, die soviel lachen konnte.“

„Verkehrte sie auch hier, in diesem Lokal?“ fragte Georg, bemüht, sein Erstaunen zu verbergen.

„Ja, gewiß. Sie verdarb niemand den Spaß, lachte, scherzte, erzählte Schnurren. Ein feines wildes Kerlchen. Sie wollte ja zum Theater gehen. Sie erzählte immer Großes von einer Schauspielerin, die einen Millionär zum Freund hatte. Mit ihr zusammen wollte sie zum Theater gehen. Oder zum Kino.“

Das sind alles Phantasien, dachte Georg. Er ist ja betrunken. „Auch Sie wissen nicht, wo Christine hingezogen ist?“ fragte er.

Der Schlosser kniff wieder das beschmierte Gesicht nachdenklich zusammen. Es sah aus, als begänne er zu weinen. „Lassen Sie mich nachdenken, mein Herr,“ antwortete er. „Mir scheint – eines Tages verschwand sie – ich weiß es nicht. Lassen Sie mich nur nachdenken.“

Abermals brachte der Wirt zwei neue Gläschen Kognak.

„Tun Sie mir Bescheid, mein Herr,“ drang der Schlosser in Georg. „Sind Sie Künstler? Christine erzählte immer, daß sie mit Künstlern verkehre. Auf Ihre Gesundheit! He, du, Anton,“ wandte er sich plötzlich an den Wirt. „Ob man es wohl riskieren kann? Sie liegt da hinten, und die Tür steht offen. Sie trägt noch den Ring an der Hand. Hier in diesem Hause lebt solch ein Gesindel, das vor nichts Respekt hat. Hier in dieser Stadt ist alles möglich, mein Herr. Ich kannte einmal einen verflixten Burschen, der erzählte mir, er brach in einer Villa im Grunewald ein, und plötzlich, was sieht er: einen toten Juden, der aufgebahrt liegt. Aber das hat ihn nicht abgehalten, das ganze Silber auszuräumen. Sehen Sie, mein Herr, solche Menschen gibt es hier.

Und nun will ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen,“ fuhr er berauscht fort, rückte näher und legte die schwere Hand auf Georgs Arm. „Hören Sie, noch eine Geschichte, und eine so merkwürdige Geschichte, wie Sie sie noch nicht gehört haben werden. So etwas lesen Sie nicht einmal in der Zeitung.

Sehen Sie, junger Herr, ich bin heute nicht mehr der jüngste, aber vor zwanzig Jahren, da hätten Sie mich kennen sollen. Da war ich ein toller Kerl. Ich hatte da ein Mädchen, sie hieß Mariechen. Sie hatte Augen wie ein Reh, so groß und sanft. Und sie war zart und schlank, nur so groß, sehen Sie, kaum so groß wie eine Konfirmandin. Aber wie die Frauen so sind, sie wollte Schuhe aus Lackleder, dann wünschte sie sich Schuhe mit grauem Einsatz, und wenn sie die Schuhe mit grauem Einsatz hatte, dann wünschte sie sich Knopfstiefelchen. Und so ging es immer fort. Und wie es mit den Schuhen war, so war es auch mit den Hüten. Ich arbeitete damals in einer Fabrik in Weißensee, und mein Lohn reichte nicht aus, alle die Schuhe und Hüte und Kleider zu kaufen, die Mariechen sich wünschte. Wenn ich sie aber nicht kaufte, dann ging Mariechen zu einem andern, denn die Männer liefen alle hinter ihr her.

Nun hören Sie aber weiter,“ fuhr Rusch fort, „hören Sie weiter, und Sie werden staunen. In der Fabrik arbeitete ein Kollege. Er war ein einfacher Schlosser, aber wenn er am Sonntag ausging, so konnten Sie glauben, er sei ein Baron. Wie er das machte, das war unbegreiflich. Er hieß Roth.

Eines Tages nun kam dieser Roth zu mir und sagte: Höre, Rusch, willst du viel Geld verdienen? Ich sagte, warum nicht, denn Mariechens Geburtstag war nahe, und ich hatte auch nicht einen Pfennig Geld in der Tasche. Mariechen hatte im Jahr dreimal Geburtstag. Aber ihre Augen waren so schön, und wenn sie sprach, diese schöne Stimme, und wenn man mit ihr tanzte, und alle verdrehten die Hälse nach ihr, nun, weshalb sollte sie nicht dreimal im Jahre Geburtstag haben? Ich will es Ihnen kurz erzählen. Dieser Roth brachte mich auf Abwege. Es ist lange her, und es ist ja keine Schande. Sehen Sie, dieser Roth ging durch verschlossene Türen, genau so wie der Wind durch ein offenes Fenster geht. Wir arbeiteten also zusammen, und Mariechen hatte gute Tage. Wir waren vorsichtig und übernahmen uns nicht. So ging es eine lange Weile. Aber nun hören Sie, nun kommt das Interessante. Wir gingen ja nun viel aus und tanzten, Roth, Mariechen und ich. Eines Tages nun sagte Roth zu mir, wir können eine Menge Geld verdienen. Dieser Lederhändler ist verreist, bei dem ich das elektrische Licht repariert habe. Hast du Courage? Ich sagte, weshalb nicht. Wir gingen tags vorher um das Haus, und Roth zeigte mir ein Fenster und sagte mir, ich werde also vorausgehen, und wenn ich dieses Fenster aufmache, so steigst du ein. Morgen abend, sagte Roth, morgen abend ist Neumond, da wollen wir die Sache machen.

Aber nun hören Sie, Herr, nun kommt das Interessante. Eine Straße vorher verließ mich Roth und sagte mir, in genau einer Viertelstunde wirst du nachkommen. Es ist jetzt ein Viertel vor zwölf Uhr. Komme du Punkt zwölf. Ich komme Punkt zwölf. Das Fenster wird langsam aufgemacht, und ich steige ein. Wissen Sie, mein Herr, was nun passierte?“

„Nein,“ sagte Georg, der nur aus Höflichkeit zuhörte. „Wie sollte ich es wissen?“

Rusch lachte, daß seine dicke Zunge zwischen den Bartstoppeln sichtbar wurde. „Sofort ergriffen mich zwei Paar Arme. Ich war der Polizei in die Hände gefallen. Haben Sie in Ihrem Leben so etwas gehört?“

„Also hatte Roth Sie verraten?“

„Er hatte mir eine Falle gestellt, und ich war in diese Falle gegangen. Er und Mariechen wollten mich loshaben, und so ließen sie mich hochgehen.

Nun, ich bekam zwei Jahre, und ich schwieg.

Aber ich sagte mir, wenn ich herauskomme, seid ihr beide verloren. Und als ich herauskam, sehen Sie, mein Herr, da kaufte ich mir ein Messer und einen Revolver, und ich sagte mir, wartet nur ihr beiden, wo ich euch auch finde! Aber es war schwer sie zu finden. Ich arbeitete am Tage, abends aber besuchte ich immer eine Reihe von Tanzlokalen. Und nun hören Sie, Herr, nun kommt das Interessanteste.“ Rusch goß sich ein neues Glas hinunter. „Nun kommt das Interessanteste, mein Herr. Eines Abends komme ich in ein kleines Tanzlokal in Treptow. Es war nicht sehr voll, und plötzlich, wen sehe ich? Roth und Mariechen. Ich gehe auf sie zu, und was glauben Sie? Ich hatte die Hände in den Taschen und hatte den Revolver und das Messer bereit. So kam ich also auf sie zu. Roth riß sofort aus. Aber Mariechen, was glauben Sie, was sie tat? Mariechen fiel in die Knie und schrie so jämmerlich, wie ich nie einen Menschen schreien hörte. Und dabei hob sie die Arme in die Höhe. Und was glauben Sie, was geschah? Ich vergaß meinen ganzen Zorn und alle Eide, die ich geschworen hatte. Ich hob Mariechen auf und sagte, aber Mariechen, was gibt es denn zu brüllen? Und sie weinte und schluchzte, und ich beruhigte sie. Da wurde sie endlich ruhig, und sie sagte, sie werde jetzt wieder bei mir bleiben. Denn sie liebe mich viel mehr als diesen Roth. Das tat sie auch, mein Herr. Und sehen Sie, solche Dinge gibt es auf der Welt.“

Plötzlich hob Rusch die beiden großen Fäuste in die Luft und brüllte: „Und nun ist sie tot, Mariechen! Nun liegt sie da hinten und ist tot! Mariechen! Mariechen!“ Er schlug sich mit der Faust auf den Kopf.

„Nun, Rusch, beruhige dich,“ sagte der Wirt. „Du wirst es schon verwinden.“

„Und nun ist Mariechen tot!“ brüllte Rusch nochmals.

Georg erhob sich, um zu gehen.

„Nein, nein, bleiben Sie bei mir,“ bat der Schlosser, „bleiben Sie bei mir. Ich muß einen Menschen haben, mit dem ich reden kann. Ich werde Sie nicht mehr mit meinen Geschichten belästigen. Wir wollen von Ihrer Christine sprechen.“

Und er fing an zu erzählen, wie gut Christine zuerst mit seiner Frau ausgekommen sei. Sie haben immerzu Kuchen gebacken – ah, fein! Dann aber habe sie ihre Stellung verloren und sei in Verlegenheit geraten. Da sei öfter ein kleiner, blonder Herr gekommen mit einem Kneifer und habe sie ausgeführt. Und später, da sei ein hagerer, dunkler gekommen, vielleicht ein Russe. Er kam immer in den Hof und pfiff – so eine traurige Weise ...

Georg sprang auf, und er war so rasch verschwunden, daß der Schlosser ins Leere griff, als er mit den beiden Fäusten nach ihm langte.

6

Die Herrlichkeit in dem kleinen Hotel, in dem Georg Unterschlupf gefunden hatte, dauerte nicht lange. Schon nach wenigen Tagen konnte er die Dachkammer nicht mehr bezahlen, und eines Morgens schlich er sich in aller Frühe aus dem Hotel – die kleine Handtasche mit den Habseligkeiten ließ er zurück. Mochten sie sehen wie sie zurecht kamen.

Nun, da er merkte, daß es abwärts mit ihm ging, daß der Boden unter seinen Füßen einbrach, rang er seinem erschöpften Körper die letzten Kräfte ab. Er wehrte sich.

Vom grauenden Tag bis zur sinkenden Nacht war er unterwegs. Treppauf, treppab. Er holte seine Papiere hervor. Stunden des Wartens. Geduld. Wie andere Stellungslose las er an den Anschlägen der Zeitungen die noch nassen Zeitungsblätter, um davonzustürmen, irgendeiner blassen Hoffnung entgegen. Er verlor nicht den Mut, mit jedem Tag nahm er den Kampf mit neuer Zähigkeit auf. Er stand nicht mehr bescheiden in der Ecke, er trat vor, fragte, forderte. Seine Stimme klang sicherer, sein Blick wurde tapfer.

Immer mußte er an die Geschichte jenes Kapellmeisters denken, die man ihm einmal erzählt hatte. Dieser Kapellmeister kam völlig unbekannt und ohne einen Pfennig in der Tasche in eine größere Provinzstadt, und am Abend dirigierte er bereits die Oper. Die beiden Kapellmeister waren plötzlich erkrankt. Heute ist er einer der ersten Operndirigenten Deutschlands.

Weshalb sollte ihm, Georg Weidenbach, das Glück nicht ebenfalls zulächeln? Und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre es ihm wie jenem Kapellmeister ergangen. Er sprach bei einem der ersten Architekten Berlins vor, zu dem er sich bis heute noch nicht gewagt hatte. Es schien nicht ohne Aussicht. Nicht das höfliche Lächeln und gelangweilte Abwenden des Blickes. Man bat ihn zu warten. Eine Fabrik war abgebrannt und sollte so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Siehst du, dachte Georg, und er erinnerte sich an seinen Kapellmeister, den man wenige Minuten vor der Vorstellung in den Frack steckte. Eine Fabrik mußte im rechten Augenblick abbrennen, damit er – aber ein hagerer, glatzköpfiger Herr trat ins Wartezimmer, streifte seinen dünnen, abgeschabten Mantel mit einem raschen Blick und schüttelte bedauernd den Kopf. So war es also nichts.

Nun, wenn nicht hier, so anderswo.

Auf den Bahnhöfen gab es dann und wann für eine Dienstleistung, eine Auskunft ein paar Groschen zu verdienen. Aber man mußte einen schnellen Blick und rasche Beine haben. Die Konkurrenz lauerte.

Mittags dampften auf dem Alexanderplatz drei Feldküchen der Heilsarmee und zwei Küchen eines großen Zeitungsverlags. Scharen von Weibern und Männern, elend, zerlumpt, bleich, stellten sich in endloser Reihe an und schoben sich geduldig vorwärts. Hier erhielt man einen Napf heißer Suppe, es war nicht viel, aber es war doch etwas. Neugierige umdrängten die Küchen. Einmal kam sogar ein Photograph, um eine Aufnahme zu machen. Georg wandte den Kopf ab. Sollte ihn etwa Katschinsky auf dem Bilde sehen, während er in einer vornehmen Diele den Tee schlürfte?

Schwer waren die Nächte. Sie waren die Hölle. Rot lohte der Himmel zwischen den schwarzen Häusern. Ein Zufallsquartier, Wartesäle der Bahnhöfe, Asyle. Georg hatte eine Schlafstelle im Norden entdeckt, wo man für ein paar Groschen auf dem Fußboden übernachten konnte. Hier lag Körper an Körper gedrängt, und selbst auf den Gängen lagen die erschöpften Leiber. Man mußte über sie wegsteigen. Die Ausdünstungen dieser zusammengepferchten, mit Schmutz bedeckten Menschen benahmen den Atem. Georg fiel zumeist erst gegen Morgen in Schlaf. Da lag er also mit offenen Augen. Die Schläfer schnarchten, röchelten und stöhnten. Manche schrien wirr im Traum. Es schliefen Männer und Frauen und Kinder durcheinander, und zuweilen kam aus einem Winkel ein wollüstiges Stöhnen, bis irgendeine Stimme ungehalten knurrte. So war es in dieser Stadt, deren Straßen am Tage mit Gummiwalzen reingefegt wurden.

Ein paarmal fand Georg seinen Platz neben einem jungen Mädchen, einem Kind eigentlich noch, mit dünnen Beinen und kleiner, unentwickelter Brust. Auch sie lag schlaflos. Oft sah er ihren Schatten ganze Stunden lang aufrecht sitzen. In einer Nacht rückte sie ganz nahe an ihn heran, so daß er ihren mageren Körper spürte, und flüsterte lüstern: Schlafen Sie? Sie zupfte ihn behutsam am Ärmel, beugte sich über ihn. Aber er regte sich nicht, seine Glieder waren vor Entsetzen gelähmt.

Manche Nächte aber schienen kein Ende zu haben. Ruhelos warf er sich von einer Seite auf die andere. Bald zitterte er vor Frost, bald glühte sein Körper wie im Fieber. Die Schläfer röchelten und schrien, und die Stadt grollte zuweilen in der Ferne. Es hörte sich ganz so an, wie wenn das Eis eines Flusses im Frühjahr aufbricht. Mittendurch schien die große Stadt zuweilen zu reißen – arm, reich, elend, gesund, Untergang, Auferstehung. Mittendurch: Tod, Leben, Zerstörung, Wiedergeburt, Freude, Jammer. Er dachte an Stobwasser, der nun unter seiner dünnen Decke hustete. Er dachte an Katschinsky, und er sah den Maler elegant und lächelnd in irgendeinem Spielklub sitzen, wo das Licht von Decken und Wänden blendete. Eigentümlich, die Vision hellerleuchteter und überheizter Räume folgte ihm jede Nacht in seine Finsternis.

Bald würden die Elektrischen wieder fahren und die flinken Autos dahinfliegen, die Geschäftshäuser sich mit frischen, ausgeschlafenen Menschen füllen – noch aber war es Nacht, und noch war die Stadt düster und schrecklich. Gestern Nacht, da hatten sie einen Mann vom dritten Stock herab in den Hof geworfen, sie hatten die Wächter einer Automobilfabrik ermordet, sie hatten einen Schutzmann erschossen. Und so geschah es in jeder Nacht.

Oft auch dachte er an Christine, die ihn betrogen hatte. Dann saß er die ganze Nacht aufrecht.

7

An jedem Morgen – in diesen regnerischen Tagen war es noch völlig finster – erschienen die Massen der Arbeitslosen vor den Bureaus der Arbeitsnachweise. Es waren Scharen, Bataillone, Armeen, die die Straßen überfluteten. Jeden Morgen kamen sie fröstelnd und hustend auf ihren dunklen Löchern hervor, in die sie sich in den Nächten verkrochen. Ihre Schuhe waren zerweicht und zerrissen, die abgetragenen, zerfetzten Kleider feucht vom Regen. Viele trugen nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe. Sie sahen fahl aus, schmutzig und ungepflegt, und manche krümmte der Husten bis zum Boden.

Da standen sie nun geduldig im Sprühregen, die roten Hände in den Hosentaschen, vertraten sich die Füße und warteten. Sie sprachen wenig. Nur einzelne schrien erregt, redeten von ihren hungernden Weibern und Kindern, fluchten und schimpften auf die Regierung, die Gewerkschaften, die Kapitalisten. Nach einer halben Stunde waren die Arbeitsnachweise schon wieder geschlossen, so gering war die Zahl der offenen Stellen.

Für heute war es vorbei, und so setzten sich die Bataillone der Unglücklichen wieder in Bewegung und zerstreuten sich über die tausend Straßen der Stadt, die sie müde, stumpfe Verzweiflung im Herzen, durchzogen. Was hatten sie verbrochen, daß sie verdammt waren, die müden Füße zwölf Stunden lang über das harte Pflaster zu schleppen?

Eine schwere wirtschaftliche Krise war über die Welt hereingebrochen. Die Märkte waren überfüllt. Die Speicher waren bis zum Bersten angefüllt mit Waren, die die Fabriken aller Kontinente ohne Pause ausspien. Bis tief hinauf den Yangtsekiang, den Amazonenstrom hatten die Schiffe die Waren getragen, bis tief hinein in die Kontinente der farbigen Völker. Die Händler saßen auf ihren Ballen und warteten. Erst wenn diese ungeheuren Lager der Welt anfingen, sich zu lichten, konnte eine Besserung erwartet werden.

Unterdessen lagen die Flotten der Handelsschiffe still in den Häfen. Die Kohlenberge der Zechen häuften sich zu Gebirgen, und täglich schwoll das Heer der Arbeitslosen mehr und mehr an.

Es schien fast ohne alle Aussicht. Tag für Tag, zwei Wochen lang, war Georg mit dem Morgengrauen vor den Arbeitsnachweisen erschienen. Ohne den geringsten Erfolg! Er runzelte die Stirn, seine Gedanken verwirrten sich. Oft schwankte er beim Gehen.

Er war nun genötigt, die Nächte häufig im Freien zu verbringen. Die Nächte waren zur Zeit noch nicht kalt, gottlob. Zufällig hatte er einen kleinen Platz entdeckt, der auffallend windgeschützt war. Hier kauerte er auf seiner Bank, in den Mantel gewickelt. Und auf anderen Bänken kauerten andere Schatten.

Die Automobile tuten, Gelächter, Geschrei, Zank. Liebespaare huschen durch die Schatten, Dirnen standen bei den Laternen, das Täschchen in der Hand. Es kamen Betrunkene, die laut vor sich hinsprachen. Nicht eine Sekunde kam die Stadt während der ganzen langen Nacht zur Ruhe. Und nun kam auch jener langsam knirschende Schritt wieder, den man von weitem schon erkannte. Dann hieß es aufstehen, gehen, um wiederzukehren, sobald der langsame Schritt in der Ferne verklang.

Wie eine Feuersbrunst lohte der Himmel über der schwarzen Stadt. In der Ferne, irgendwo, rauschten die Züge, bald hämmernd, sausend, bald nur feinklingend in der stillen Nacht.

In einem solch rauschenden Zuge war Georg vor zwei Jahren aus der kleinen thüringischen Provinzstadt nach Berlin gekommen, die Augen fiebernd von Träumen, das Herz berauscht von Hoffnungen. Berlin! Stadt der Kühnheit und des zähen Wollens, die Stätte seines Aufstiegs. Hier würde er seinen Weg machen, er fühlte es, als er auf dem Bahnhof aus dem überfüllten Abteil kroch. Diese Gewißheit blitzte aus den Bogenlampen, die so stark und mächtig flammten. Die Stimmen der Stadt, dröhnend und gewaltsam, schrien ihm diese Gewißheit entgegen. Die ganze erste Nacht war er durch diese Stadt gewandert, seinen Träumen hingegeben. Etwas wie Triumph lag in seinen Schritten, daß er diese Stadt erobern werde.

Hart war seine Jugend gewesen. Seine Mutter war eine Witwe, eine kleine fleißige Frau, die noch früher aufstand als die Hühner und noch spät in der Dunkelheit bei ihrer kleinen rußenden Lampe rumorte. Sie wusch, fegte und plättete in den Häusern, und mit ihren vom Munde abgesparten Pfennigen hatte sie seine Erziehung bestritten.

Mit sieben Jahren trug Georg die Morgensemmeln aus, mit acht setzte er im „Goldenen Engel“ des Abends die Kegel auf, bis er vor Müdigkeit umfiel. Hier arbeitete er zusammen mit Stobwasser, der noch nebenbei Chorsänger war. Aber von seinem vierzehnten Jahre an mußte er sein Brot ganz allein verdienen. Er machte Schreibarbeiten, zeichnete für einen Möbeltischler, malte ein Schild für einen Krämer, gab Nachhilfestunden. Um sechs Uhr morgens schon kam sein erster Schüler. Es war ein Mechaniker, der in die Baugewerkschule eintreten wollte und dem er die Elemente der Mathematik beibrachte. Am Nachmittag und am Abend unterrichtete er Mitschüler, die der Nachhilfe bedurften. An den Abenden und in den Nächten aber arbeitete er für sich selbst. Sein Traum war es, zu bauen: Museen mit unerhörten Sälen und Kuppeln, mächtige Rathäuser, Theater, riesenhafte Fabriken und Industrieanlagen – und seiner Mutter baute er ein schönes schlichtes Haus in einen Garten. Das war sein schönster Traum. Arme Mutter! Welche Entbehrungen! Während die Mitschüler in den Straßen spazieren gingen, mit Mädchen lachten, Ausflüge machten, Sport trieben, in der Kneipe sangen, saß er zu Hause bei der Arbeit. Während seine Kameraden leichtfertig in den Tag hineinlebten, fing er schon an, das Lachen zu verlernen, das er kaum kennengelernt hatte. Es gab an der Schule kleine Unterstützungen, Stipendien und Freitische. Georg war ein stets erfolgreicher Bewerber. Aber diese Unterstützungen verpflichteten zu einem besonderen Aufwand an Fleiß und Betragen, zu Katzbuckeleien und Danksagungen. Welche Demütigungen! Georg ertrug sie, still, ohne Auflehnung, nur dumpf bedrückt. Nur wenige Jahre, und die Stadt sollte erfahren, wer Georg Weidenbach war! Welch glühende Träume im Gehirn eines jungen Menschen, welche Ausschweifungen der Phantasie!

Und nun saß er hier auf der Bank, einsam in der großen Stadt. Er sah seine Mutter, wie sie in ihrer mit Backsteinen ausgelegten Küche bei der kleinen Lampe scheuerte und wusch, wie sie dann und wann aus der blauen Tasse einen Schluck ihres dünnen Kaffees trank, wie sie die faltigen Lippen dabei spitzte und die Augen zukniff. Er hatte ihr nichts von seinem Aufenthalt im Krankenhaus geschrieben. Sie durfte nicht wissen, wie es ihm ging. Er hatte ihr nur geschrieben, daß die Zeiten hier in Berlin schwer seien und daß man sich zur Zeit mit Hungerlöhnen begnügen müsse, so gering, daß er ihr leider nichts schicken könne.

Die Träume der Jugend kamen wieder, die Versuchungen des Ehrgeizes, während er in der langen Nacht auf der Bank kauerte, und sein Herz erbebte.

8

Mitten im Gedräng der Menschenmassen blieb Georg plötzlich stehen. Er runzelte die Stirn – dachte nach. Welcher Gedanke war ihm doch soeben durch den Kopf geschossen? Die Rettung. Ja, Stobwasser.

Vielleicht sollte er doch zu Stobwasser gehen?

Sie waren ja alte Freunde, seit den Tagen, da sie als Knaben im „Goldenen Engel“ die Kegel aufgesetzt hatten. Hatte Stobwasser ihn nicht aufgefordert, ihn zu besuchen, hatte er ihm nicht seine Kammer angeboten? Schon begann Georg dahin zu eilen, aber nach wenigen Schritten blieb er, außer Atem, wieder stehen. Er sah Stobwasser in der eisigen Werkstatt liegen, krank, fiebernd, ohne Mittel. Unmöglich konnte er ihm zur Last fallen.

Einige Tage später aber überwältigte ihn plötzlich die Mutlosigkeit, und er konnte der Versuchung nicht länger widerstehen. Es gab keine andere Rettung mehr. Zwei Stunden lang schleppte er sich nach dem Westen, bis er endlich, schwindelig und erschöpft, den Hof erreichte, in dem Stobwassers Werkstatt lag. Kläglich meckernd streckte die Ziege den Kopf aus ihrem Stall. Schon wollte er an Stobwassers Türe pochen: da hörte er drinnen eine Frauenstimme plaudern und lachen. Er schlich sich davon, es war wohl besser so. Er zitterte plötzlich, Schweiß bedeckte seine Stirn, als habe er ein Verbrechen begehen wollen.

Nein, es ging nicht gut mit ihm, er fühlte es selbst.

Er hatte jetzt schon das elende und verwahrloste Aussehen jener Verarmten bekommen, denen die Gutgekleideten, die noch einiges Mitgefühl haben, nicht gerne begegnen. Es gab viele, die den Anblick jener elend aussehenden Menschen, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, nicht mehr ertragen. Nur die Stiernacken, die Feisten, die Krieg und Revolution prächtig überstanden hatten, waren nicht aus ihrer Bahn zu bringen. Mit eisigen und harten Blicken sahen sie mitten durch ihn hindurch, ohne ihn zu sehen. Andere rollten in ihren Autos vorüber, die sie von den Sesseln ihres Bureaus zu ihren Villen brachten. Sie blieben sogar vom Anblick der Elenden und den hündischen Blicken der Bettler verschont.

Plötzlich bemerkte Georg, daß er Blut spuckte. Ah, seht an, sagte er sich, ein Rückfall!

Aber bald beruhigte er sich, er war nicht der einzige, dem es so erging. Es waren viele, viele, da draußen im Osten, unter den Arbeitslosen und Armen litt jeder zehnte Mensch an diesem Übel.

In diesen Tagen, da sein Blick immer leerer wurde und sein Schritt immer müder, sah er einmal ganz plötzlich Katschinsky. Fast hätte er ihn übersehen. Es war in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Katschinsky kam mit einem jungen Manne aus einem Blumenladen und überschritt schnell die Straße, beladen mit einem Strauß gelber Rosen, um in ein Auto zu steigen. Er trug einen herrlichen mausgrauen Mantel und einen grauen Plüschhut. Der Geruch seiner Zigarette schwebte in der Luft.

Katschinsky hatte ihn mit einem Blick gestreift. Hatte er ihn erkannt? Ja, ja, o gewiß, er hatte ihn erkannt! Georg beobachtete, wie er nervös in den Wagen kroch.

In diesem Augenblick aber ereignete sich etwas ganz Unverständliches, etwas, was Georg, wenn er sich dessen erinnerte, nie begriff. Plötzlich sprang er mit zwei, drei wilden Schritten auf das Auto zu, um an die Scheibe zu klopfen. Aber der Wagen fuhr in dieser Sekunde ab. Gottlob.

Bleich vor Scham blieb Georg stehen. Er zerbiß sich die Lippe: so ging es nicht weiter, nicht einen Tag länger. Ein Entschluß, ein Entschluß!

Und wieder nahm er seine planlose Wanderung durch die Straßen auf. Da aber erwachte ein Gedanke in seinem Kopf. Weshalb war er nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen?

Er erinnerte sich plötzlich, daß er in einem Asyl für Obdachlose, wo er zuweilen übernachtete, einen kleinen, alten Bettler kennengelernt hatte, der, in eine Wolke von Schnapsdünsten eingehüllt, neben ihm kampierte. Dieser Bettler, ein „Zitterer“, der aus Gewohnheit zuweilen sogar im Asyl zitterte, hatte ihm von einer sagenhaften Firma, einem Großunternehmen erzählt, das Arbeitslose beschäftige. Diese Firma sollte sich in der Lindenstraße befinden, und das Haus wäre nicht zu verfehlen, da es in ein großes Gerüst eingehüllt sei.

„Dahin sollten Sie gehen,“ riet der Alte. „Für mich ist es nichts, aber für Sie ist es vielleicht etwas, junger Mann. Fragen Sie getrost nach einem Herrn Schellenberg. Den Namen sagte mir ein Bekannter. Ich ging also in den Neubau und fragte nach Herrn Schellenberg. Dieser Herr Schellenberg, nun, Glück muß der Mensch haben, kam zufällig die Treppe herunter. Was glauben Sie? Er schenkte mir sofort fünf Mark und befahl seinen jungen Leuten, mir Beschäftigung zu geben. Sie gaben mir eine Fahrkarte nach Nauen und sagten mir, da gehst du hin und meldest dich da und da.“

„Sind Sie hingegangen?“ hatte Georg geforscht.

„Ich? Was sind Sie denn für einer? Nein, das ist nichts für mich, ich bin zu alt dazu, die Stadt zu verlassen. Ich habe ganz einfach die Fahrkarte am Bahnhof verkauft.“

Es war eine merkwürdige Geschichte, so merkwürdig, daß Georg sie für eine Phantasie des Schnapses halten mußte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da er der Verzweiflung nahe war, sagte er sich plötzlich: Und doch? Vielleicht existiert diese sagenhafte Firma Schellenberg wirklich? Jedenfalls, was konnte es schaden, er konnte ja nachsehen, wie? Es kostete ja kein Geld! Er befand sich in dieser Minute beim Wittenbergplatz, und es war eine ziemlich weite Entfernung bis zur Lindenstraße.

Trotzdem beschloß Georg, sich augenblicklich, jetzt in dieser Sekunde noch, auf den Weg zu machen. Wenn es auch schon spät am Tage war, vorwärts. Und sofort begann er auszuschreiten.

Es war schon reichlich dunkel, nahezu sieben Uhr, als er, keuchend und in Schweiß gebadet, die Lindenstraße erreichte. Ja, nun hatte ihn wieder jegliche Hoffnung verlassen. Das Geschwätz eines Säufers.

Zu seiner größten Überraschung aber fand er tatsächlich ein Haus, das ganz in Gerüststangen eingehüllt war. Es roch nach Kalk und Nässe. Das Erdgeschoß war mit einer Bretterverschalung zugeschlagen, und darauf stand mit riesigen Buchstaben: „Arbeit! Wir geben euch Arbeit! Tretet sofort ein! Jede Auskunft!“

Das Haus war fast dunkel. Nur die obere Etage war hell erleuchtet.

Ein Pförtner trat aus der Loge und sagte mürrisch und übermüdet: „Bedaure, es ist geschlossen.“

In diesem Augenblick kam ein junger Mann in einem langen Arbeitskittel, wie ihn Architekten und Maler bei der Arbeit tragen, über den Korridor und warf einen Blick auf Georg. Dieser junge Mann war bereits im Begriff, in einer Tür zu verschwinden, blieb aber plötzlich stehen und sah Georg mitten ins Gesicht: dieses Gesicht war schneeweiß, die Augenhöhlen schiefergrau, und die Augen darin fieberten ohne Blick und Gedanken.

„Der Arbeitsnachweis ist bereits geschlossen, mein Herr,“ sagte der junge Mann und lächelte liebenswürdig. Er blickte zu Boden, dachte nach und winkte dann mit dem Kopfe. „Aber kommen Sie, wir wollen sehen, was ich für Sie tun kann. Schließen Sie das Tor ab,“ rief er dem Pförtner zu, „und lassen Sie niemand mehr herein, niemand, hören Sie!“ Und zu Georg gewandt, fuhr er fort: „Wir haben in den letzten Tagen fünftausend Leute angenommen und sind mehr als überfüllt. Wir haben keinen Pfennig Geld mehr, um auch noch einen einzigen Mann zu bezahlen. Aber treten Sie ein. Ich sehe, Sie sind leidend, und ich will sehen, was ich für Sie tun kann.“

Georg atmete auf. Seit Wochen hatte niemand mit ihm mit einer solch schlichten Freundlichkeit gesprochen wie dieser junge Mann.

„Ist es möglich, Herrn Schellenberg zu sprechen?“ wagte Georg zu fragen.

Der junge Mann sah ihn verwundert an. Er trat sogar einen kleinen Schritt zurück. „Herrn Schellenberg wollen Sie sprechen?“ sagte er leise, mit dem Ausdruck äußersten Erstaunens. „Haben Sie besondere persönliche Empfehlungen an Herrn Schellenberg?“

„Nein, nein,“ stotterte Georg.

Der junge Mann lächelte. „Es ist ganz unmöglich, Herrn Schellenberg zu sprechen, ganz unmöglich. Herr Schellenberg arbeitet sechzehn Stunden am Tag, und ich selbst, ich gehöre zum Komitee der Ärzte, kann ihn jede Woche nur fünf Minuten sprechen.“ Der junge Arzt sah Georg prüfend ins Gesicht und sagte nach einer Weile: „Gehen Sie in dieses Zimmer. Man wird Ihnen unsere Arbeitsbedingungen mitteilen. Leben Sie wohl und alles Gute!“

Georg las irgendein Formular, ohne es zu verstehen. Er war geneigt, Arbeit zu jeder Bedingung anzunehmen, und es konnte ihm völlig gleichgültig sein, was dieser Unternehmer Schellenberg bot. Man informierte ihn, daß er das Haus heute nicht mehr verlassen könne, und wies ihm eine Holzpritsche in einem langen Korridor an.

Es ist alles wie ein Wunder, sagte Georg zu sich, als er sich zerschlagen und fiebernd auf der Holzpritsche ausstreckte. Vielleicht träume ich, vielleicht ist es das Fieber? Vielleicht ist es das Ende? Plötzlich aber schlief er vor Erschöpfung ein.

Als er am Morgen erwachte, befand er sich zu seinem Erstaunen noch immer auf der gleichen Pritsche. Es war also kein Traum, keine Gaukelei des Fiebers gewesen. Man drückte ihm eine Eisenbahnfahrkarte in die Hand, mit der Weisung, sich da und dort, es war der Name einer kleinen Stadt in der Nähe Berlins, bei der Arbeitsstelle zu melden.

Georg bestieg den Zug, und als der Zug aus der Halle fuhr, beugte er sich weit hinaus, um diese Stadt nochmals zu sehen, durch die er wochenlang wie ein Hund, der seinen Herrn verlor, geirrt war.

Die Stadt dampfte. Es regnete noch immer. Wolken von Dampf stiegen aus der Stadt empor und hüllten ganze Viertel in dichten Dunst.

„Ich komme wieder!“ sagte Georg. Und – zu scheu, um in Wirklichkeit durch eine Geste seine Erregung zu verraten – breitete er in Gedanken die Arme gegen die Stadt aus. „Ich komme wieder, Christine!“

Und Christine, die irgendwo in diesem unendlichen Meer von steinernen Würfeln verborgen war, streckte ihm die Arme entgegen und erwiderte: „Ich warte auf dich. Komm! Ich liebe dich noch immer!“

Als der Zug die letzten Häuser der Stadt hinter sich ließ, rückte sich Georg auf der Holzbank zurecht, und eine Empfindung, die er lange nicht mehr gefühlt hatte, erfüllte sein Herz. Es schien ihm fast, als sei er glücklich. Trotz allem.

9

Die Brüder Schellenberg stammten aus Mecklenburg. Hier auf dem fetten mecklenburgischen Boden, in einer anmutigen, stillen, dünnbesiedelten Landschaft hatte sich vor zwanzig Jahren der Major Schellenberg das Gut Klein-Lücke gekauft, nachdem er seinen Abschied beim Regiment genommen hatte.

Der Major war ein großer Mann, breit, mit sehnigen, schweren Händen, die immer etwas rot waren, und einem kantigen, massiven Schädel. Er war früh ergraut und wurde schnell weiß. In seiner Jugend war er ein leichtlebiger Offizier gewesen, Spieler, unermüdlich im Dienst des Bacchus und der Venus, bis er sich eines Tages ganz plötzlich von der Gesellschaft übermütiger Freunde zurückzog. Irgend etwas hatte sich ereignet, er sprach nie darüber. Eine Frau? Das Schicksal einer der vielen? Wer weiß es? Er lebte fortan nur noch für den Dienst, und es fiel den Kameraden auf, daß er von Jahr zu Jahr schweigsamer wurde. Anfangs lächelte er über ihre Spöttereien, dann überhörte er sie, und schließlich ließ man ihn in Ruhe. Er war streng, gerecht, sein Lebenswandel ohne Tadel, das Muster eines Offiziers. In späteren Jahren war er leicht reizbar. Er neigte zum Jähzorn und war furchtbaren Zornesausbrüchen unterworfen, unter denen er mehr noch als seine Umgebung litt. Die Maßlosigkeit der Jugendjahre schien wieder durchzubrechen. Einen Knecht, der faul im Heu schlief, schlug er einmal mit der Hundepeitsche nahezu tot.

Das Gut des Majors, Klein-Lücke, war nicht groß, kaum vierhundert Morgen, aber es wurde musterhaft bewirtschaftet. Die Felder stachen gegen die Äcker der Nachbargüter derartig ab, daß man glauben konnte, der Boden sei vollkommen verschieden. Die Wagen standen in Reih’ und Glied, blitzblank alles Gerät, die Ordnung musterhaft. Wenn nur eine Schaufel am unrechten Ort stand, so begann die Stimme des Majors zu gellen. Die Ställe! Er liebte Pferde und Vieh leidenschaftlich.

Der Major sprach am Tage kaum zehn Worte. Selbst im Schelten war er wortkarg. Er redete in einer Art von Telegrammstil. Nach der Tagesarbeit zog er sich in seine Bibliothek zurück. Er besaß mehrere tausend Bände und pflegte bis spät in die Nacht zu lesen, während er langsam seinen Rotwein schlürfte und drei Zigarren rauchte. Nie mehr. Sein Spezialgebiet waren Werke über Napoleon, Cromwell, Bismarck, Friedrich den Großen, kurz über Menschen der Tat. Die schöne Literatur interessierte ihn überhaupt nicht. Oft las er die halbe Nacht durch, aber in früher Morgenstunde war er wieder auf dem Hof.

Eines Tages erwachte der Major mit einer leichten Lähmung des linken Armes und der linken Schulter. Der Knecht mußte ihn mit Franzbranntwein einreiben, und als das nichts half, befahl er ihm, ihn mit der Peitsche zu schlagen. „Schlag zu!“ schrie er. „Fester! Fester!“ Schließlich ging er an einem Stock. Es war nicht Rheuma, wie er angenommen hatte, es war eine Lähmung, die langsam aber stetig fortschritt.

Das Leiden verhinderte den Major, aktiv am Krieg teilzunehmen. Er verwünschte sein Dasein; ohne mit der Wimper zu zucken hätte er sein Leben für sein Land hingegeben. Während der Kriegsjahre war er nachsichtig gegen das Gesinde und fürsorglich für alle Familien. Er schlief nun fast nicht mehr. Große Karten lagen auf den Tischen in der Bibliothek ausgebreitet. Den Verlust des Krieges konnte er nicht verwinden. Er sprach nun überhaupt nicht mehr, zog sich völlig zurück und vernachlässigte sogar den Hof. Am Tage der Unterzeichnung des Friedens von Versailles schoß er sich eine Kugel durch den Kopf. Man hörte einen dumpfen Fall in der Bibliothek, mitten in der Nacht. Es war ein Laut, als falle ein Baum.

Eine Sekunde nach dem Fall wurde das Haus alarmiert durch ein verzweifeltes, hilfloses Weinen, als weine ein entsetztes Kind. Das war die Gattin des Majors. Sie hatte den dumpfen Fall gehört und wußte augenblicklich, was geschehen war.

Margarete Schellenberg war eine zarte, stille Frau, im Wesen völlig verschieden von ihrem Gatten. Sie war verträumt und ging durch die Wirklichkeit wie eine Schlafwandlerin. Sie zitierte Verse von Goethe und Heine und las Romane. Früher hatte sie auch gesungen – Schellenberg hatte sich in ihre süße Stimme verliebt. Sie sang auch jetzt noch zuweilen, mit einer kleinen, rührenden, etwas zittrigen Stimme. Das aber tat sie nur, wenn sie sich unbelauscht glaubte. Sie hatte die zartesten Hände und einen leisen, fast unhörbaren Gang. In den letzten Jahren hatte sie neben ihrem Gatten gelebt, fast ohne von ihm noch beachtet zu werden. Er sah sie kaum mehr, auch wenn er ihr bei Tisch gegenübersaß. Nach dem Tode des Majors verließ sie ihre Zimmer nicht mehr. Der Hof verfiel.

10

Die Brüder Schellenberg, Wenzel und Michael, hatten die Statur ihres Vaters.

Sie waren groß, breitschultrig und hatten denselben massiven, eckigen Schädel. Beiden war es eigentümlich, daß immer ein Lächeln auf ihren etwas derben, gebräunten Gesichtern lag, ein fast unsichtbares Lächeln, oft nur der Schimmer einer inneren Fröhlichkeit. Wenzel hatte die stahlgrauen, zuweilen etwas harten Augen des Vaters, während Michael die sanften braunen Augen der Mutter erbte. Allerdings ohne den goldenen Grundton, der die Augen der Mutter auszeichnete, als sie noch jung war, und der herrlich warm funkelte, wenn das Licht tief in die Augen fiel. Wenzel und Michael wuchsen wie junge Wölfe auf Klein-Lücke auf. Der Vater kümmerte sich kaum um sie, ihre Wildheit gefiel ihm. Die Mutter, verschüchtert und still, hatte nicht die Kraft, sie zu bändigen. Sie zitterte nur. Sie waren die wildesten Knaben, die man weit und breit finden konnte. Sie ritten zu zweit, ohne Sattel, auf einem Pferde, einem Hengst, den sonst niemand berühren durfte. Das Tier – sonderbar genug – ließ sich von ihnen alles gefallen. Es stand still, wenn einer der Knaben abstürzte. Sie kletterten auf die höchsten Bäume, sodaß die Mutter fast ohnmächtig wurde, wenn sie sie oben in den Wipfeln schwanken sah. Im Alter von zehn Jahren waren sie schon gewaltige Jäger. Sie jagten, was sie jagen konnten: Vögel, Eichhörnchen, Schlangen, Hasen. Damals lebte auf dem Hof ein Hund, ein Fleischerhund – genannt Isaak – groß wie ein Kalb, ein bissiges und übelgelauntes Tier. Mit diesem Hunde, dessen Augen gelb und böse blendeten und dem selbst der Knecht auswich, balgten sie sich auf der Erde, daß die Kleider in Fetzen gingen. Sie hatten Bogen, nahezu zwei Meter hoch, und schossen riesige Pfeile, die dreizöllige Nägel als Spitze trugen. Sie beschossen sich gegenseitig, und bei einem dieser Kriegsspiele erhielt der jüngere Michael einen Schuß in den Knöchel, der leicht fatale Folgen hätte haben können. Aber es ging gut ab. Seit dieser Zeit hinkte Michael ein wenig.

Mit zwölf Jahren kamen die beiden Knaben zur Schwester der Mutter in die Stadt. In dieser Stadt – einer kleinen Stadt Mecklenburgs – sah man sie auf den Dachfirsten reiten. Bei einem Eisgang trieben sie auf einer Eisscholle, mächtige Prügel schwingend, durch die ganze Stadt, zur Belustigung der Straßenjugend und zum Schrecken der Erwachsenen. Bei einer Brücke, wo sich das Eis staute, kletterten sie, gewandt wie Gemsen, über das Eis ans Ufer, um eine Viertelstunde später wieder auf einer Eisscholle, prügelschwingend, durch die Stadt zu treiben. Es waren richtige Teufel.

Der ältere, Wenzel, wurde Offizier. Der jüngere, Michael, wurde Landwirt und Chemiker.

Nach Beendigung seiner Studien arbeitete Michael einige Jahre in den Laboratorien der Deutschen Stickstoffwerke. Diese Laboratorien bildeten einen Komplex wie ein riesiges Hotel, und hier, inmitten des Luxus der wunderbarsten Apparate, fühlte sich Michael wie im Paradiese. Er war noch nicht dreiundzwanzig Jahre alt, als er ein Verfahren zur Herstellung von Harnstoff erfand, das fast um ein Drittel billiger war als die bekannten Methoden. Sein Name wurde in der Fachwelt bekannt. Die Deutschen Stickstoffwerke beeilten sich, die Erfindung zu erwerben, und auf diese Weise fiel dem jungen Mann eine jährliche Rente von beträchtlicher Höhe in den Schoß.

Michaels neue Methode zur Herstellung von Harnstoff sollte in dem großen Stickstoffwerk Logan am Rhein zuerst praktisch angewandt werden. Umbauten und Einrichtungen würden etwa sechs Monate Zeit beanspruchen. Michael befand sich aber kaum vierzehn Tage in Logan, als jene große Explosionskatastrophe eintrat, die noch in aller Erinnerung ist. Es flogen im ganzen fünfhundert Eisenbahnwaggons Stickstoff in die Luft, vierhundert Menschen wurden getötet, und ein großer Teil des etwa fünfzehn Kilometer langen Werkes von Logan wurde zerstört. Bei dem Explosionsherd entstand ein Loch, in das man eine fünfstöckige Mietskaserne ohne jede Schwierigkeit hätte unterbringen können.

Wie durch ein Wunder kam Michael bei der Katastrophe mit dem Leben davon. Er schlief im Junggesellenheim des Werkes und wurde am frühen Morgen, die Explosion ereignete sich bei der ersten Morgenschicht, aus dem Bett geschleudert. Im gleichen Augenblick schwankte das Haus und zerriß in zwei Teile. Mit einem verknitterten Schlafanzug bekleidet, erreichte Michael inmitten einer Lawine von Schutt das Freie. Was, um Himmelswillen, war geschehen? Er vermochte nicht zu denken, dann aber schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß die Stickstofflager explodiert sein müßten. Die Silos waren in die Luft gegangen! Mauern von Staub verdunkelten die Sonne. Die durch die Explosion zerrissenen Rohre und Röhren, die unter Druck standen, heulten infernalisch, und aus der Staubwolke stieg wie aus einem brodelnden Nebel eine rubinrote, glasige Stichflamme zum Himmel empor. Gestalten stürzten dahin, taumelnd, schreiend, schlugen mit dem Gesicht auf die Erde. Unaufhörlich folgten kleinere Explosionsschläge, und Felsblöcke, wie beim Ausbruch eines Vulkans, surrten heulend durch die Luft.

Die wenigen Überlebenden dieses Teiles des Loganwerkes erinnern sich heute noch an Michael, wie er augenblicklich handelte, dahin, dorthin eilte, um Verschüttete, die fürchterlich schrien, zu befreien. Dann sammelte er ein Häufchen verstörter Arbeiter um sich und disponierte. Und es fiel allen auf, mit welcher Klarheit er, dieser junge Mensch, der mit einer Kruste von Staub und Blut bedeckt in seinem Schlafanzug vor ihnen stand, seine Anordnungen gab.

„Erstens“, sagte er, „müssen wir die Verschütteten befreien. Zweitens müssen wir die Toten bergen. Drittens müssen wir sofort die Straße vom Schutt räumen, um sie für den Verkehr freizumachen. Viertens müssen wir alles, was einzustürzen droht, niederreißen, um weiteres Unglück zu verhüten, und fünftens müssen wir Logan wieder aufbauen. Vorwärts, schafft Leute! Und sofort eine Telephonverbindung!“

Den ganzen Tag über gab Michael den Kolonnen seine Anweisungen, immer in seinem verknitterten Schlafanzug. Aber niemand kam es in den Sinn, darüber auch nur zu lächeln. Erst am Abend gab man ihm einen Mantel, und erst als es dunkel wurde, wusch er sich das Gesicht.

Drei Wochen lang war Michael taub, obschon die Schallwelle der Explosion über ihn hinweggesprungen sein mußte, da sie ihm anders das Trommelfell zerrissen hätte. Irgendeinen Schaden trug er nicht davon. Einige schlaflose Nächte, dann war er wieder vollkommen in Ordnung.

Michael arbeitete hierauf zwei Jahre auf dem großen Versuchsgut der Deutschen Stickstoffwerke, Breda. Er veröffentlichte in dieser Zeit eine Reihe von Aufsätzen über Fragen der wissenschaftlichen Bodenkultur, die die Aufmerksamkeit der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin erregten. Die Hochschule bot ihm einen Lehrstuhl an, und so geschah es, daß Michael nach Berlin kam. Aber schon nach einem Jahre drehte er diesem Institut den Rücken zu.

Er kapitalisierte seine Tantieme bei den Deutschen Stickstoffwerken und erwarb ein dreihundert Morgen großes Gut in der Nähe von Berlin – Sperlingshof –, das er zu einem modernen Versuchsgut ersten Ranges umwandelte. Die Erde! Mit seiner ganzen Leidenschaft – die Schellenberg taten alles leidenschaftlich – richtete er seine Energie auf die Erde, den Boden, der, fast unbekannt, unerforschter als die chemischen Elemente, seine Geheimnisse streng hütete, ob ihn die Menschen auch schon Tausende von Jahren bebauten.

Es gab keine neue oder alte Methode des Land- und Gartenbaus, die Michael auf Sperlingshof nicht versucht hätte. Es gab keine Maschine, die er nicht ausprobiert hätte. Bodenimpfung, Berieselungsmethoden, Regenanlagen, Glashäuser. In Tausenden von Töpfen standen, sauber etikettiert, verschieden behandelte Versuchspflanzen. Der Boden war schlecht, Sand, aber er vollbrachte Wunder. Wie eine Oase lag Sperlingshof in der kargen Landschaft. Fachleute kamen, staunten, disputierten, kritisierten. Michael arbeitete im Schweiße seines Angesichts. Die chinesische Landwirtschaft! Sie beschäftigte ihn monatelang. Sie gab Aufschluß über vieles. In diese Zeit fiel eine Broschüre, die großes Aufsehen in Fachkreisen erregte. Michael bewies, daß die Großstädte jährlich Hunderte von Millionen an kostbaren Nährstoffen in ihren falsch behandelten Abwässern verschwendeten. Europa, behauptete er, habe zugunsten der Technik in frevelhafter Weise die Probleme des Landbaus vernachlässigt.

Aber nicht jene Probleme allein beschäftigten Michael. Plötzlich taten sich – im Zusammenhang mit ihnen – ganz ungeheure Horizonte auf. In der Einöde von Sperlingshof wurde Michael von sozialen und soziologischen Problemen so leidenschaftlich ergriffen, daß sie bestimmend für sein ganzes Leben werden sollten.

Hier reiften die Pläne, in deren Verwirklichung er seine Lebensaufgabe erblickte!

Die Wintermonate pflegte Michael in Berlin zu verbringen. Er hatte im Osten der Stadt ein paar Zimmer gemietet. Hier arbeitete er Tag und Nacht, und Bücher, Pläne, Zeichnungen, Notizen häuften sich auf allen Tischen.

Seinen Bruder Wenzel sah Michael nur selten. Im ersten Winter kam Wenzel nach Berlin, um sich eine passende Stellung zu suchen – „nicht allzuviel Arbeit und ein hohes Einkommen“. Die Brüder verbrachten fast alle Abende zusammen. Sie waren sich noch immer wahrhaft zugetan, obschon Michael in seiner Entwickelung eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte.

Wenzel, der stets Glück hatte, fand in der Tat eine ausgezeichnete Stellung! Er wurde Sekretär bei dem alten Raucheisen, dem Chef des Raucheisen-Konzerns, dem ein großer Teil des Ruhrgebiets gehörte – „ein deutsches Fürstentum unter der Erde“, wie Wenzel sagte – und der gegen achtzig industrielle Großbetriebe kontrollierte. Wenzel ließ seine Familie nachkommen, Lise und die beiden Kinder, und richtete sich irgendwo im Westen eine luxuriöse Wohnung ein. Seit dieser Zeit sahen sich die Brüder – ohne jeden sonderlichen Grund – ganz selten. Im letzten Winter nur zweimal.

11

In diesem Herbst kehrte Michael früher als sonst von Sperlingshof zurück. Ganz plötzlich hatte er die Zelte abgebrochen. Die Pläne reiften! Es gab viele Arbeit hier in der Stadt, und jeder Tag war kostbar. In diesem Winter wollte er die Arbeitsgemeinschaft gründen, eine Gemeinschaft der besten und verantwortungsvollsten Köpfe Deutschlands. Besuche, Besprechungen, Korrespondenz, Arbeit in Hülle und Fülle, fast ohne Pause, sechzehn Stunden am Tag und mehr.

Es war nur zu verständlich, daß er keine Zeit fand, sich nach Wenzel umzusehen. Jeden Tag nahm er sich vor, ihn aufzusuchen. Merkwürdigerweise dachte er in diesen Wochen häufig an den Bruder.

Eines Tages aber fand er unter der eingegangenen Post einen umfangreichen Brief von einer Hand, die ihm bekannt vorkam. Die Schrift und die grünlichschillernde Tinte berührten ihn nicht sympathisch. Da erinnerte er sich, daß es die Schrift der Schwiegermutter Wenzels war, einer Frau von dem Busch, einer arroganten und herrschsüchtigen Dame, der er am liebsten aus dem Wege ging.

Was will sie nur von mir? dachte er erstaunt und schon etwas ärgerlich. Ich habe gehofft, sie würde mir für immer böse sein, wegen unseres letzten Disputs. Sie hatten damals über Sozialismus debattiert, und Michael, den der anmaßende Ton der Frau von dem Busch tief verletzt hatte – sie nannte die Arbeiter nur Tagediebe und Faulpelze, die sich volltrinken –, hatte ihr vor allen Leuten mit ziemlicher Schärfe bewiesen, daß sie nicht einmal wisse, was Sozialismus sei, obschon sie ihn verdamme.

Frau von dem Busch war eine jener Damen, die in ihrem Leben nichts gearbeitet haben, von ein paar gehäkelten Deckchen abgesehen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend mußten die Mädchen für sie rennen. Sie tat nichts ohne eine ungeheure Verschwendung von Worten, sie verbreitete Unruhe. Immerzu war sie auf Reisen, Nizza, Italien, Marienbad. Ohne Unterbrechung hatte sie es mit den Ärzten zu tun. Ihr Mann war Landrat gewesen und hatte keineswegs Glücksgüter hinterlassen. Wovon bestritt sie ihren Haushalt, ihre Reisen? Niemand wußte es. Sie hatte große Pläne mit ihrer einzigen Tochter Lise gehabt. Irgend etwas ganz Außergewöhnliches hatte sie erwartet, einen Prinzen oder Vanderbilt oder einen russischen Fürsten. Gott mochte es wissen. Sie konnte es Wenzel niemals verzeihen, daß er ihre Pläne zunichte machte.

„Eine verdrießliche Sache,“ sagte Michael ärgerlich, nachdem er einen Blick in den Brief geworfen hatte, und steckte ihn in die Tasche. Erst am Abend, als er seine Abendmahlzeit in einem stillen Restaurant einnahm, machte er sich an die Lektüre. Weshalb schreibt sie nicht an Wenzel direkt? dachte er. Was habe ich mit ihr zu schaffen?

Der Brief der Frau von dem Busch versetzte Michael in schlechte, nervöse Laune. Er errötete ein paarmal vor Unwillen, zuweilen aber amüsierte er sich und mußte laut auflachen. Zuletzt aber erschrak er. Was war das? Wenzel?

Frau von dem Busch begann mit der Versicherung, daß sie an Michaels gute Eigenschaften glaube, während sie bei Wenzel zu ihrem Bedauern nie gute Eigenschaften entdecken konnte, so sehr sie sich auch bemüht habe. (Eine boshafte, taktlose Person! dachte Michael.) „Ich schreibe an Sie, Michael, im Vertrauen auf Ihr gutes Herz, wenn Sie auch heute vielleicht noch Weltanschauungen huldigen, die ich nicht billigen kann, ja, die ich bekämpfen muß. Aber Ihre Jugend entschuldigt Sie.“ („Welche Unverschämtheit!“ sagte Michael laut vor sich hin.)

„Lises Briefe beunruhigen mich,“ fuhr Frau von dem Busch fort, nachdem sie Wenzel erneut einen Hieb versetzt hatte. „Sie schreibt wenig, ausweichend und unaufrichtig. Sie wissen ja, Michael, daß ich gegen diese Ehe eingenommen war. Mein mütterliches Herz hat mich gewarnt. Was könnte Lise heute sein, wer könnte sie sein! Sie verkehrten nie in meinem Hause, Sie können also nicht wissen, wer bei mir aus- und einging, der höchste Adel und sogar Fürstlichkeiten. Alle bewunderten Lise und prophezeiten ihr eine große Karriere, und Professor Livonius sagte, in drei Jahren würde sie Primadonna an der Hofoper sein. Ich verbringe schlaflose Nächte, wenn ich an all das denke. Ich habe meine Tochter Ihrem Bruder nicht gegeben, Sie wissen es. Er hat sie einfach geraubt, geraubt wie ein gemeiner Straßenräuber!“ (Hier mußte Michael laut auflachen, so daß die beiden Kellner zu ihm herblickten. In der Tat hatte sein Bruder Lise seinerzeit entführt, es war am Anfang des Krieges, und Wenzel hatte nur fünf Tage Urlaub.)

Nach einer langatmigen, jammernden Betrachtung über den Verfall der Sitten kam Frau von dem Busch wieder zu ihrem Thema zurück. Ihre schlimmsten Befürchtungen, schrieb sie, schienen sich zu erfüllen. „Lise schreibt mir, daß Sie Wenzel schon seit einem halben Jahre nicht mehr besuchten. Ich begreife sehr wohl, daß Sie sich, wie fast alle Menschen, von ihm zurückziehen.“ (Oh, wie unverschämt ist diese Alte, dachte Michael zornig.) „Denn, wie Lise mir schreibt, haben nach und nach alle seine Freunde ihn verlassen, auch Lises Bekannte bleiben aus, und sie hatte doch einen so reizenden Kreis geachteter Persönlichkeiten, Legationssekretäre, Attachés und hohe Offiziere. Aus Freundschaft und Achtung zu unserer Familie verkehrten sie bei Lise. Aber es ist kein Wunder, daß einer nach dem andern wegbleibt. Meine Tochter aber ist tief unglücklich, ich fühle es aus jeder ihrer Zeilen. Sie wissen, lieber Michael, daß Ihr Bruder seit drei Monaten nicht mehr im Raucheisen-Konzern tätig ist.“ (Wenzel? Was ist mit Wenzel? dachte Michael erschrocken über diese unerwartete Nachricht.) „Weshalb? Wissen Sie den Grund? Und er hatte gewiß dort eine wundervolle und ausgezeichnet bezahlte Stellung. Was ist vorgefallen? Geben Sie mir Auskunft! Lise schweigt sich darüber aus. Von Berliner Bekannten konnte ich Positives nicht erfahren, sie machten nur Andeutungen, die mich noch mehr beunruhigten. Etwas ist hier nicht in Ordnung. Ich wäre nach Berlin gekommen, muß aber zu meiner Schwester nach Bremen reisen und von dort aus nach Frankfurt am Main, wohin mich eine alte Freundin dringend bittet. Ich hätte gewünscht, daß Lise mehr Vertrauen zu ihrer Mutter habe. Gehen Sie zu ihr, machen Sie ihr Vorwürfe! Welch törichter Stolz, sich vor seiner Mutter zu schämen. Aber ich kann mir vorstellen, daß Lise nicht gerne über diese unerquicklichen Dinge spricht. Ich weiß nicht, ob Sie Ihren Bruder letzthin gesehen haben. Lise schreibt mir, daß er in den letzten Monaten von einer außerordentlichen Ruhelosigkeit ergriffen war. Er kam oft tagelang nicht nach Hause. In ihrem heutigen Briefe nun gesteht mir Lise, daß Wenzel seit zwei Wochen in Geschäften abwesend ist. Ich fühle, daß Lise sich in der allergrößten Erregung befindet. Was ist aus Ihrem Bruder geworden?“

Michael hatte diese Mitteilungen mit dem größten Erstaunen und mit einem leichten Erschrecken gelesen. Der Brief schloß mit der Bitte, zu Lise zu gehen, sie auszuforschen und sodann ihr, Frau von dem Busch, ausführlichen Bericht zu erstatten. Ungeduldig warte sie auf seine Nachricht.

Michael erhob sich und schlüpfte in den Mantel. Verstimmt und beunruhigt verließ er das Restaurant.

Er beschloß, Lise morgen zu besuchen.

Am nächsten Tage, etwas nach vier Uhr, machte sich Michael auf den Weg zu Lise. Sie wohnte draußen im Westen, in einer jener Straßen, die sich alle gleichen, in einem jener Häuser voll von falschem Prunk, die alle verschieden sind. Das Treppenhaus war ganz aus Marmor. Neben dem Lift stand eine Bank aus weißem Marmor, auf die sich niemand setzte, weil sie eisigkalt war. Lise aber fand Treppenhaus und Bank herrlich.

Das Mädchen, eine hübsche, schlanke Person mit einem Häubchen auf dem Kopfe, empfing ihn mit freudig erstaunter Miene. „Herr Doktor Schellenberg! Ist es möglich?“ rief sie aus und öffnete die Tür so weit als es möglich war.

„Ist meine Schwägerin zu Hause? O ja, ich höre sie.“

Aus Lises Zimmer drang Gesang und Klavierspiel. Lise übte zwei-, dreimal die gleiche Kadenz. Sie hatte einen hohen, etwas spitzen Sopran.

„Gnädige Frau haben Stunde,“ sagte das Mädchen. „Ich darf nicht stören. Aber die Stunde muß bald zu Ende sein.“

„Führen Sie mich unterdessen zu den Kindern,“ bat Michael.

Sobald er nur den Kopf in das Kinderzimmer steckte, erscholl lautes und freudiges Geschrei der beiden Kinder. Marion, das Mädchen, das die Züge Lises trug, wollte sich augenblicklich auf ihn stürzen. Sie kauerte auf einem Schemel in der Mitte des Zimmers. Der Junge aber, Gerhard – schon jetzt zeigte sein Kopf die breiten und etwas derben Züge der Schellenberg –, schrie die Schwester in erregtem Tone an. „Steige nicht aus, Marion! Du wirst sofort ertrinken! Du kannst ja nicht schwimmen! Und du, Onkel, bitte, gehe nicht weiter. Siehst du nicht, daß dieser Strich der Wannsee ist?“ Gerhard saß oben auf dem Kleiderschrank. In der Hand hielt er eine Tute aus zusammengerolltem Papier, die er zuweilen an den Mund setzte, um schauerlich zu tuten. Das Zimmer war in großer Unordnung, die Kinder nicht ganz sauber und etwas vernachlässigt. In der Ecke stand idyllisch ein Nachtgeschirr.

„Was gibt es?“ fragte Michael lachend.

„Marion sitzt auf einem Segelboot, das soeben gekentert ist, Onkel,“ erklärte Gerhard hastig und erregt vom Schrank herab, denn er fürchtete, das Spiel könnte gestört werden. „Und ich bin der Leuchtturmwächter und tute um Hilfe. Steige nicht aus, Marion, du wirst augenblicklich ertrinken! Siehst du nicht die hohen Wellen? Und der Wind bläst – huh!“

Marion warf Michael hilfesuchende Blicke zu, während sie sich krampfhaft an ihrem Schemel festhielt, als fürchte sie fortgeweht zu werden. In ihrer Angst hatte sie sich das Höschen naßgemacht. Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.

„Nur keine Angst, Marion,“ beruhigte sie Michael, „wenn du ins Wasser fällst, so ziehe ich dich sofort wieder heraus!“

„Du mußt um Hilfe schreien, Marion! Oh, wie dumm du bist!“

„Hilfe! Hilfe!“ zeterte die Kleine.

„Das Rettungsboot kommt!“ tutete Gerhard.

Blitzschnell, wie eine Katze, sprang er vom Schrank und rutschte auf einem Stuhl über den Fußboden langsam heran an Marions Schemel. Er warf Marion unter vielen Zurufen eine Schnur zu und zog sie auf ihrem Schemel in eine Ecke. Nun waren sie angekommen.

„Komm hierher, Onkel!“ rief der Knabe, „wir sind auf der Pfaueninsel.“

Die Stimme des Knaben, der bisher, vom Spiel erregt, wild und laut geschrien hatte, war plötzlich sanft und weich. „Weshalb kommst du so selten, Onkel? Man sieht dich gar nicht mehr!“ fragte er und sah Michael mit einem langen, reinen Blick an. Marion aber kletterte an ihm in die Höhe, wie an einem Baum, und bedeckte seine Wange mit Küssen, während sie die dünnen Arme um seinen Hals legte.

„Ich hatte zu arbeiten,“ antwortete Michael verlegen, denn er fühlte, daß der Knabe ihm nicht glaubte.

Gerhard sah ihn von der Seite an. „Ihr mit eurer Arbeit!“ sagte er und zuckte geringschätzig die Achsel. „Auch Papa behauptet immer, er müßte arbeiten, und dabei sitzt er doch Tag und Nacht in den Weinstuben.“

„Aber Gerhard!“ erwiderte Michael mit sanftem Tadel. „Pfui, wie häßlich. Was sagst du da? Wer sagt dir, daß Papa Tag und Nacht in den Weinstuben sitzt?“

„Nun, Mama,“ antwortete der Knabe und verzog die Lippen.

Michael verteilte die Schleckereien und mußte mit Marion zusammen eine Schokoladenstange verspeisen. Sie aß an einem Ende und er am andern, bis sie mit den Lippen zusammenstießen. Nun, aber ja – wollten sie zusammen spielen. Onkel! Sie wußten genau, daß Michael ihnen entrissen wurde, sobald die Gesangsstunde zu Ende war.

„Komm, Onkel!“ rief Gerhard, „was wollen wir spielen? Wir wollen den Mont Blanc besteigen, willst du?“

„Nun schön, meinetwegen,“ stimmte Michael lächelnd zu. „Wie geht das: den Mont Blanc besteigen?“

Marion aber heulte. „Ich will nicht auf den Mont Blanc. Onkel, man muß auf den Schrank klettern, und ich fürchte mich.“

„Ach wie dumm und albern du bist, du Heullise!“ rief der Knabe und stampfte mit dem Fuße. „Fünftausend Meter, was ist schon dabei?“

Michael beruhigte das Mädchen. „Also, Marion, wenn ich in deiner Nähe bin, so wirst du wohl Mut haben. Sieh zu, ich werde dich an der Hand führen, und es wird dir nichts geschehen. Fallen wir herunter, nun was schadet es, so fällst du in meine Arme.“

Gerhard aber betrieb augenblicklich eifrig die Vorbereitungen. Ein Tisch wurde an den Schrank geschoben und auf den Tisch ein Stuhl gestellt. An den Tisch wiederum wurde ein Stuhl gerückt. Nun wurden sie alle drei mit einer Schnur aneinander gebunden, und Gerhard, mit einem Stock bewaffnet, begann den Aufstieg. Er schlug mit dem Stock Stufen in das Eis, er ließ Warnungen ertönen, so daß Marion zu zittern anfing. Schließlich aber ging alles gut ab, und alle drei waren oben.

In diesem Augenblick öffnete das Mädchen die Tür und sagte, während sie in lautes Lachen ausbrach: „Die Stunde ist eben zu Ende, ich werde Sie sofort der gnädigen Frau melden.“

12

Das Mädchen lachte noch hell heraus, als es über den Korridor eilte. Michael stieg mit Marion auf dem Arm vom Mont Blaue herab und begab sich in die Diele.

Hinter einer der vielen langweiligen weißen Türen hörte er die erregte Stimme seiner Schwägerin. Sie zankte. Das Dienstmädchen schlüpfte mit bestürzter Miene durch den Türspalt. Gleich darauf öffnete sich der eine Flügel der Tür, und Lise wurde sichtbar. Sie war in höchster Erregung und blickte Michael mit zornigen Augen an.

„Bestellen Sie es dem Herrn nur!“ rief sie und schob das zögernde Dienstmädchen in die Diele. „Bestellen Sie dem Herrn, was ich Ihnen sagte: Ich will nichts mehr mit den Schellenberg zu tun haben!“

Verblüfft und betreten tat Michael einen Schritt rückwärts. Er griff mit einer bedauernden Geste nach Hut und Mantel. „Nun, dann lebe wohl, Lise,“ sagte er und zuckte die Achsel. „Ich werde mich dir nicht aufdrängen.“

In diesem Augenblick streckten die Kinder die Köpfe in die Diele und riefen: „Michel! Michel!“

Lise trat einen Schritt vor. „Macht, daß ihr fortkommt!“ herrschte sie die Kinder an.

Michael ging. Welch eine unerquickliche Szene, dachte er. Wie tief muß Wenzel sie verletzt haben, daß sie so außer sich ist! In großer Erregung stieg er die Treppe hinab. Er bereute nun, daß er die Beleidigung Lises ohne jede Erwiderung eingesteckt hatte.

Aber Lise erschien am Geländer der Treppe und schrie mit einer rasenden Stimme in das Stiegenhaus hinein: „Ich will das Schellenbergsche Gesicht nicht mehr sehen! Ich habe genug davon!“ Dann schlug sie die Tür zu, daß das Haus zitterte. Oh, wie böse sie heute war!

Michael hatte indessen kaum das Foyer mit den Marmorsäulen und der weißen Marmorbank erreicht, als das junge Dienstmädchen nachgestürzt kam. „Die gnädige Frau bittet Sie, sofort heraufzukommen. Sie bittet vielmals, sie zu entschuldigen.“ Und als Michael, dessen Zorn schon wieder verraucht war, mit ihr die Treppe emporstieg, fügte sie entschuldigend und erklärend hinzu: „Die gnädige Frau ist außer sich. Ihr Herr Bruder hat schon seit Wochen das Haus nicht mehr betreten.“

Lise erwartete Michael in ihrem Musiksalon. Sie streckte ihm erregt die Hand hin, ihre Augen standen voll Tränen. „Verzeihe, Michael,“ rief sie aus. „Ich bin in einer Erregung, die unbeschreiblich ist. Du bist mir doch nicht böse, wie? Nein, du bist immer ein guter Kerl gewesen und verstehst alles.“

„Was in aller Welt geht hier vor?“ fragte Michael mit gerunzelter Stirn.

„Nimm Platz. Ich werde nach Tee klingeln. Bringen Sie Tee, Anna!“ Sie schrie das Dienstmädchen an, um ihre Beschämtheit zu verbergen.

Lise gehörte zur Klasse jener Blondinen, die zur Üppigkeit neigen und Gefahr laufen, frühzeitig ihre reinen Formen zu verlieren. Ihre sanften Wangen waren voll und immer lebhaft gerötet, als sei sie erhitzt, die Augen, die vorhin, als sie erregt war, so groß aussahen, waren von zarter, etwas verblaßter blauer Färbung. Ein heller, lockerer, etwas unordentlicher Haarschopf wippte über der Stirn.

Sie suchte nervös nach Zigaretten und warf sich auf den Diwan, der dicht neben dem Flügel stand. Das Zimmer war voll von Notenblättern und Büchern, in ziemlicher Unordnung. Der riesige Diwan war mit einer lachsroten Decke bedeckt, und darauf waren einige Dutzend Kissen in grellen Farben verteilt. Eine Stehlampe mit rotem Schirm und langen schwarzen Quasten stand neben dem Flügel.

„Wie schön, daß du gekommen bist, Michael,“ sagte Lise, nur um etwas zu sagen. So lächerlich es war, versuchte sie dem Dienstmädchen, das den Tee servierte, nach dieser erregten Szene vorzutäuschen, daß alles in bester Ordnung sei. „Du siehst gut aus, braun,“ plapperte sie. „Das Landleben bekommt dir gut. Ich war im Sommer in Heringsdorf mit den Kindern und Major Puchmann und seiner Frau.“

Sie plauderte noch dies und jenes, zuweilen mit einem kleinen, glucksenden Lachen, solange das Mädchen im Zimmer war.

Kaum aber hatte das Mädchen das Zimmer verlassen, als sie erregt nach Michaels Hand tastete und mit hilflosem Blick fragte: „Hast du Wenzel gesehen?“

„Ich bin erst seit kurzer Zeit in Berlin,“ erwiderte Michael. „Ich habe ihn nicht gesehen und wollte euch heute besuchen.“ Er sprach etwas unsicher und stockend, es fiel ihm schwer, sich zu verstellen. Den Brief von Lises Mutter erwähnte er absichtlich nicht. „Was, um alles in der Welt, ist mit Wenzel?“

Lise sah ihn lange an, dann erhob sie sich und ging ein paar Schritte, während sie die Zigarette zwischen den Lippen zernagte. „Was mit Wenzel ist?“ fragte sie. Sie blieb vor Michael stehen. „Ich weiß es nicht.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein. Ich weiß seit – seit längerer Zeit nichts mehr von Wenzel. Es ist alles merkwürdig. Daß er nicht mehr bei Raucheisen tätig ist, weißt du wohl? Der alte Raucheisen hat ihn entlassen.“

„Entlassen?“

Lise zerknitterte die Stirn. „Entlassen oder nicht entlassen, jedenfalls ist er nicht mehr bei Raucheisen. Und irgend etwas muß ja wohl vorgefallen sein. Ich habe mit einigen Freunden Wenzels gesprochen, die bei Raucheisen arbeiten. Vielmehr nicht ich, ich habe Major Puchmann gebeten, mit ihnen zu sprechen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Denn es gehen Gerüchte, Michael! Aber die Herren machten nur Ausflüchte. Sie sagten nichts. Jedenfalls schied Wenzel von heute auf morgen bei Raucheisen aus.“

Michael versuchte, Lises Hand zu fassen, um sie zu beruhigen. „Vielleicht hat es Wenzel nicht mehr bei Raucheisen gefallen,“ sagte er. „Laß dich doch von den Leuten nicht beschwätzen, Lise.“

Lise schüttelte den Kopf. „Beschwätzen?“ sagte sie und wurde immer erregter und geriet nahezu wiederum in den früheren Zustand der Verzweiflung. „Beschwätzen? Ich bin doch nicht irgendeine kritiklose Person, Michael. Es ist ja auch gar nicht die Hauptsache, was bei Raucheisen vorfiel. Aber nun höre: die Hauptsache ist, daß Wenzel ohne jede Erklärung, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Hause gegangen ist!“

„Er hat dein Haus verlassen?“

Lise schlug die Hände vors Gesicht. „Ja! Ich verstehe nicht, wie ich das alles ertragen habe. Oh, diese Schmach und Schande, mich hier sitzen zu lassen mit den Kindern. Was soll meine Mutter denken? Ich wagte es ihr nur anzudeuten. Was sollen meine Freunde denken? Müssen sie nicht glauben, ich hätte meine Pflichten verletzt, ich hätte irgendeine Liebschaft angefangen? Meine Verwandten, die alle hohe Beamte und Militärs sind, korrekt bis in die Fingerspitzen – für die es so etwas einfach nicht gibt. Oh, wie furchtbar ist dies alles!“

„Ich verstehe nicht –“

„Ich werde dir alles erzählen,“ sagte Lise, indem sie sich Mühe gab, sich zu beruhigen. Sie nahm wieder auf dem Diwan Platz. „Höre zu, Michael. Über ein Jahr war Wenzel bei Raucheisen. Zehn Minuten vor sieben, jeden Morgen, holte ihn das Auto ab. Punkt sechs stand er auf, und er machte sich selbst das Frühstück in der Küche, denn ich konnte dem Mädchen doch nicht zumuten, so früh aufzustehen. Zwischen sieben und neun Uhr abends kam er nach Hause. Wir besuchten Theater, Konzerte, Gesellschaften. Es ging alles vorzüglich. Schon nach einem Vierteljahr hatte Raucheisen Wenzels Gehalt verdoppelt. Ich atmete auf, denn die Jahre während des Krieges, die ich bei Mama zubrachte, waren nicht leicht gewesen.“

„Also bis dahin ist alles gut gegangen?“

„Sehr gut sogar. Er verrichtete seine Arbeit mit einem Eifer und einer Peinlichkeit, die nur ein Offizier kennt. Er war lieb und reizend zu mir. Obwohl er den ganzen Tag arbeitete, war er abends in den Gesellschaften noch in sprühender Laune.“ Lise legte die Stirn in Falten. „Vom Frühjahr an aber wurde es anders. Er wurde unruhig, er schlief schlecht, und er brachte Freunde mit ins Haus, die mir nicht sonderlich gefielen. Kennst du Mackentin, einen früheren Oberleutnant der Fliegertruppe?“

„Ich kenne ihn nicht,“ erwiderte Michael. „Aber ich hörte seinen Namen.“

„Oh, er hat ein widerliches Gesicht und so freche Augen. Wie eine Ratte. Dann kam noch ein früherer Leutnant. Seinen Namen habe ich vergessen. Sie schlossen sich in Wenzels Zimmer ein, qualmten, tranken und plauderten.“

„Spielten sie?“ fragte Michael.

„Nein, sie spielten nicht. Aber sie waren sehr laut, und Wenzel hatte seine Periode. Du weißt, daß er Perioden hat, wo er trinken muß.“

„Nun, Wenzel kann eine gute Menge vertragen,“ sagte Michael mit einem breiten Lächeln.

„Ich machte ihm Vorwürfe, aber er sagte nur: ‚Geschäfte, Geschäfte. Davon verstehst du nichts. Warte!‘ Dann kam er oft nach Mitternacht nach Hause und noch später. Er roch nach Wein und Zigarren, und es gab Szenen. Manchmal roch er auch nach zweifelhaften Parfüms. Das sage ich dir!“ schrie Lise plötzlich und hielt die verkrampfte Hand vor Michaels Gesicht. „Wenn ich herausbekomme, daß er mich schon damals mit Frauenzimmern hintergangen hat, dann soll es ihm leid tun!“

„Beruhige dich,“ unterbrach sie Michael. „Berichte weiter. Vielleicht spielte er. Es ist ja wohl möglich, denn er hatte ja früher zuweilen diese Leidenschaft. Urteile doch nicht so hart.“

„Du verteidigst ihn?“

„Natürlich, denn ich kenne ja auch seine guten Eigenschaften. Kann ein Mensch denn nicht Leidenschaften haben?“

Lise machte die Augen groß. „Leidenschaften? Weshalb? Mit welcher Berechtigung? Aber“ – korrigierte sie sich – „meinetwegen auch Leidenschaften – solange andere nicht darunter leiden. Vielleicht hast du recht, Michael. Es ist möglich, daß er in dieser Zeit spielte. Denn zuweilen hatte er viel Geld, und er warf es mit jener unangenehmen Geste auf den Tisch, die er hat, wenn er viel Geld besitzt.“

Michael errötete unwillig. „Unangenehme Geste? Verschwender sind mir lieber als Geizhälse, Lise.“

„Vielleicht urteile ich zu streng, du magst recht haben,“ lenkte Lise ein. „Aber kannst du verlangen, daß ich noch nachsichtig urteile – nach allem, was geschehen ist? Nun höre weiter. Schließlich blieb Wenzel ganze Nächte weg. Dann wieder kam er spät in der Nacht, um das Haus schon wieder um vier Uhr morgens zu verlassen. Ich machte ihm Vorwürfe. Er erwiderte nur, er habe zu arbeiten. Dieses Leben war eine Hölle, denn ich wußte, daß etwas mit ihm vorging, daß etwas nicht in Ordnung war. Eines Tages aber erfuhr ich durch Zufall, daß er gar nicht mehr bei Raucheisen tätig war. Er hatte mir nie ein Wort darüber gesagt.“

Michael schüttelte den Kopf. „Es mußte ihm natürlich peinlich sein. Verstehst du nicht, Lise?“

Lise fuhr fort: „Was er aber tat, konnte ich nicht erfahren. Er kam nicht mehr zu mir. Zuweilen schickte er einen Boten mit Geld. Das ist alles, was ich von ihm höre und sehe. Ich aber will seine Almosen nicht! Wenn es nicht anders wird, so werde ich die beiden Kinder nehmen und mich ins Wasser stürzen.“

„Lise!“ Michael lächelte.

Lise begann zu weinen. „Und dann die Gerüchte! Denke, Michael, daß alle meine Verwandten hohe Beamte und Militärs sind!“

Nun stieg Michael die Röte ins Gesicht. „Sei nicht böse, Lise,“ sagte er, „es langweilt mich, immerzu von deinen Verwandten zu hören. Wir Schellenberg sind auch kein hergelaufenes Gesindel. Mache dich nicht lächerlich –“

„Lächerlich?“ Lise tat äußerst erstaunt und verletzt. „Ah, ein Schellenberg!“ sagte sie. „Den Ton kenne ich!“ Sie stand auf, erregt, feindselig.

Schon bereute Michael. „Laß uns nicht streiten, Lise,“ sagte er. Und sofort war auch Lise wieder bereit, einzulenken. „Höre, Lise, sprich jetzt offen: Was, in Teufels Namen, ist vorgefallen?“

Lise nahm Michaels beide Hände, sah ihn an und flüsterte: „Ich weiß nichts Bestimmtes. Aber es gehen Gerüchte. Wenzel – es sind nur Gerüchte, man trug es mir zu – soll eine Unterschlagung begangen haben. Raucheisen wollte keinen Skandal und entließ ihn von einem Tag auf den andern.“

Michael erbleichte. „Wenzel und eine Unterschlagung! Aber Lise, laß dir doch so etwas nicht weismachen! Eher würde Wenzel sich eine Kugel durch den Kopf schießen. Ich kenne ihn ja.“

Lise sank in sich zusammen. „Vielleicht war es auch nicht gerade eine Unterschlagung, Michael. Vielleicht war es nur eine Inkorrektheit. Jedenfalls – wir sind arm und gehören nicht zu dem Gesindel, das heute in Deutschland obenan ist. Wir haben nichts mehr als unseren guten Namen.“

„Du weißt nicht, was Wenzel zur Zeit tut?“

Verzweifelt schüttelte Lise den gelben Haarschopf. „Ich weiß es nicht, nein. Ich weiß nur, daß er mit diesem Mackentin zusammen ist. Sie machen irgendwelche Geschäfte.“

„Nun gut,“ antwortete Michael, „ich werde ihn besuchen, wo wohnt er?“

Lise starrte ihn an. „Wo er wohnt? Auch das weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts. Ich habe den Boten, der das Geld bringt, schon hier hereingenommen und ihm gedroht, ihn niederzuschießen, wenn er mir nicht seine Wohnung angibt.“

„Aber er sagte nichts?“ Michael lachte. „Siehst du, Lise, so war er immer. Immer hatte er so einen kleinen theatralischen Zug an sich. Und wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?“

„Drei Monate.“

„Wie?“

„Drei Monate.“

Michael sprang auf.

„Ja, drei Monate lang ertrage ich dies schon!“ schrie Lise. „Und jetzt ist es genug. Jetzt ist es genug!“ wiederholte sie.

„Arme Lise! Wie kann ich dir helfen?“

Lise dachte nach. „Helfen? Helfen? Es scheint aussichtslos. Aber –“ Sie dachte nach, und plötzlich hob sie das Gesicht in die Höhe, ein Gedanke erhellte ihre Augen. Sie sprang auf. „Höre, Michael,“ rief sie, „du wirst gehen und Wenzel suchen.“

„Wie soll ich ihn in dieser großen Stadt finden?“

„Du wirst ihn finden!“ rief Lise gläubig und überzeugt, begeistert von ihrem Einfall. „Ja, als sein Bruder wirst du ihn unbedingt zu finden wissen. Du wirst Erkundigungen einziehen. Es wird dir nicht schwerfallen ... Höre, Puchmann sagte mir, in der Nähe des Gendarmenmarkts, da sind einige kleine Kaffeehäuser und einige kleine Weinstuben, wo viele Börsenmenschen und Geschäftsleute verkehren. Dort soll Wenzel verkehren. Gehe nur, Michael, und suche ihn.“ Sie zog Michael am Ärmel, so daß er aufstehen mußte. „Gehe nun sogleich, und wenn du ihn findest, so erzähle ihm, was ich dir gesagt habe.“ Lise brach in Schluchzen aus, warf sich auf den Diwan und drückte das Gesicht in die Kissen.

Vergebens versuchte Michael, sie zu beruhigen.

„Geh! Geh!“ rief sie. „Suche ihn, und wenn du ihn gefunden hast, so sage ihm, daß er sofort zu mir zurückkehren soll. Es ist mir schließlich einerlei, was meine Verwandtschaft denkt. Aber höre, Michael,“ und Lise schlang ihren Arm um Michael und barg ihren blonden Haarschopf an seiner Brust, „höre und sage ihm, daß ich ihn trotz allem liebe. Es ist mir auch gleichgültig, was er getan hat. Ich werde ihm alles verzeihen. Sage ihm das.“

Michael ging. Lise, das Gesicht in Tränen gebadet, geleitete ihn hinaus. „Und versprich mir eins, Michael, sobald du ihn findest, so gib mir Nachricht. Rufe mich an. Schwöre es mir!“

Michael schwor.

13

Michael verließ Lises Haus in großer Beunruhigung. Die ehelichen Zwistigkeiten nahm er nicht allzu ernst. In allen Ehen gab es Differenzen, und in der Ehe seines Bruders hatten sich schon in den ersten Jahren schwere Verstimmungen eingestellt. Zweimal war Lise schon durchgegangen.

Was ihn beunruhigte, ja erregte, das waren Lises Andeutungen über das veränderte Wesen seines Bruders. Wenzel war nie ein leichtsinniger Mensch gewesen, wenn er auch das Leben nie allzu schwer genommen hatte. Er machte sich keine großen Sorgen, in welcher Situation er sich auch befinden mochte. Sein unerschütterlicher Optimismus trug ihn über alle Schwierigkeiten des Daseins hinweg. „Immer Mut! Man muß dem Schicksal nicht aus der Hand fressen!“ war sein Wahlspruch. Und es ging immer, um die Wahrheit zu sagen. Mit dem gleichen Optimismus hatte Wenzel den Krieg durchgemacht. „Was soll mir geschehen?“ sagte er. „Vielleicht schießen sie mir einen Arm oder ein Bein ab, das ist mir völlig gleichgültig. Mehr können sie mir nicht anhaben.“ Und in der Tat, Wenzel trug kaum einige Schrammen in all den vier Jahren davon.

Wenzel hatte „zwei Spezialteufel“, wie er zu sagen pflegte. Der eine war der große Teufel Kohol, der Alkohol, der zweite war der Teufel Karo, der Karobube. Unter den Anfechtungen dieser seiner zwei Teufel hatte Wenzel in gewissen Perioden sehr zu leiden. Der Teufel Kohol verfuhr noch glimpflich mit ihm. Schlimmer war es, wenn er dem Spielteufel verfiel. Er spielte dann Wochen hindurch, er verspielte alles – aber am Schlusse stellte es sich heraus, daß er alle Verluste wieder wettgemacht hatte. „Ein blaues Auge!“ Oder: „Zwei blaue Augen!“

Was war nun mit Wenzel geschehen? Hatten seine „zwei Teufel“ wieder Gewalt über ihn bekommen? Er schickte Lise Geld, also mußte er entweder im Spiel gewinnen oder auf irgendeine Weise Geld verdienen. Was tat er? Wie lebte er? Michael kannte Wenzels Trotz und Stolz. Er würde eher verhungern als seine, Michaels, Hilfe anrufen, wenn es ihm, wohlgemerkt, wirklich schlecht ging.

Ja, sonderbare und merkwürdige Dinge waren das. Er verlor die Stellung bei Raucheisen, machte Geschäfte mit einem Bekannten, schickte Geld – aber mied Lises Haus. Was war das?

Auf jeden Fall beschloß Michael nun, Wenzel zu „suchen“, und doch hatte er noch vor einer Viertelstunde über die merkwürdige Zumutung seiner Schwägerin lächeln müssen.

„Eine sonderbare Aufgabe,“ sagte er, während er rasch dahinschritt. „Ich könnte eher eine Stecknadel in einem Haufen Spreu finden. Aber trotzdem tausend gegen eins steht, wollen wir es versuchen. Nur eine Frau kann solch einen Einfall haben.“

Er nahm ein Auto und befahl dem Chauffeur, ihn zu sämtlichen Weinstuben und Restaurants in der Nähe des Gendarmenmarktes zu fahren.

Schon in der fünften Weinstube stieß er zu seiner größten Verwunderung auf die Spur seines Bruders. Der Oberkellner, an den er sich wenden wollte, kam ihm rasch, mit diensteifriger Miene, mit den Worten entgegen: „Herr Hauptmann Schellenberg ist noch nicht hier.“

Michael war so verblüfft, daß er kein Wort hervorbrachte. Der Oberkellner indessen versicherte, daß ihm die frappante Ähnlichkeit sofort aufgefallen sei. „Ich dachte im ersten Augenblick, der Herr Hauptmann selbst trete ein.“

Ob er wisse, wo sein Bruder sich zur Zeit etwa aufhalten könne?

Der Kellner sann nach. „Wenn ich mich recht entsinne, so verabredete er sich zu einer Partie Schach mit Herrn Hauptmann Mackentin, und zwar, wenn ich mich nicht täusche, im Café Thielscher oder im Café Philipp. Thielscher ist gleich in der Nähe. Das Café Philipp liegt bei der Börse.“

Es wäre doch wahrhaftig wie ein Wunder! dachte Michael und kroch, angeregt von dem Abenteuer, ins Auto.

14

In der Tat saß Wenzel Schellenberg zu dieser Stunde im Spielsaal des Cafés Philipp. Er saß mit einem steinernen Gesicht da und starrte auf das Schachbrett, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. Wenzel war leidenschaftlicher Schachspieler, ganz wie Michael. Das Spiel faszinierte ihn. Es war fast wie eine Schlacht, Kampf von Gewalten, deren Stärke mit jeder Änderung der Position wechselte. Tag und Nacht konnte er vor dem Schachbrett sitzen, und noch nach Wochen war er imstande, besonders interessante Partien aus dem Gedächtnis nachzuspielen.

Wenzel gegenüber saß Hauptmann Mackentin, mit schmalem, hohem Kopf und grauen Schläfen. Die Nase dieses Herrn stand auffallend schräg im Gesicht. Im Munde hielt er eine Zigarre in der Richtung der Abweichung der Nase, so daß die Nase noch um vieles schiefer im Gesicht zu stehen schien. Dieser Herr blinzelte zuweilen mit einem leisen Lächeln in Wenzels steinernes Gesicht. Er hatte dunkle, rasche, kluge und verschlagene Augen. (Ratte hatte ihn Lise genannt!) Am gleichen Tisch saß in respektvoller Haltung ein wenig abseits vom Schachbrett ein junger, unbedeutend aussehender Mann mit blondem Scheitel und jugendlich roten Bäckchen, wie ein kleiner Leutnant in Zivil.

Trotz der späten Nachmittagsstunde war das Kaffeehaus noch ziemlich dicht besetzt. Aus allen Winkeln stieg dicker Zigarrenrauch empor. Die Börse war heute außerordentlich lebhaft und fest gewesen. Die meisten Effekten waren gestiegen, man erwartete eine Belebung der Geschäfte. Die Erregung der Börse zitterte noch in allen Gesprächen nach.

Wenzel lehnte sich in den Sessel zurück, trank ein Gläschen Wermut und biß die Spitze einer großen Zigarre ab, ohne die Augen auch nur einen Moment vom Schachbrett zu entfernen. Der Herr mit der schiefstehenden Nase hob zwinkernd die dunklen, raschen Augen zu ihm und ließ ein kleines Lachen hören.

„Sie täuschen sich, lieber Freund,“ sagte Wenzel. „Sie überschätzen die Stellung dieses Springers, und ich werde es Ihnen beweisen. Die Partie wird aber noch zwei Stunden dauern. Wir wollen sie morgen fortsetzen, wenn Sie nichts dagegen haben, Mackentin.“

Der Herr mit der schiefen Nase erklärte sofort mit einer kleinen Verbeugung sein Einverständnis.

Wenzel wandte sich hierauf an den jungen Mann, der bescheiden nebenan saß und sich augenblicklich etwas steifer aufrichtete, als Schellenbergs Blick auf ihn fiel. „Und nun zu Ihrem Walde, Herr von Stolpe. Es ist eine Sache, die mich sehr interessiert, eine sehr interessante Sache. Was meinen Sie, Mackentin?“

„Mein Vetter kam zufällig wieder einmal nach Berlin und erzählte mir von der Angelegenheit. Ich dachte sofort, daß Sie Interesse dafür haben würden.“

„Also Sie glauben, daß der Wald unter Umständen zu kaufen wäre? Wie groß, sagten Sie?“

Der junge Mann rückte etwas näher und begann mit etwas dünner, knabenhafter Stimme über den Wald zu berichten: es war ein Wald in der Nähe der Oder, soundso groß, der Wald gehörte dem Staat. Die Forstverwaltung hatte beschlossen, den Wald abzuholzen und das Terrain unter Umständen zu verkaufen, konnte sich aber nicht entschließen, die vorliegenden Angebote zu akzeptieren. Ein Vertreter des Raucheisen-Konzerns habe lange Unterhandlungen geführt, zuletzt aber seien alle Unterhandlungen gescheitert.

„Der Vater meines Vetters bekleidet eine einflußreiche Stellung in der Forstverwaltung,“ warf Mackentin ein.

„Sie deuteten es mir an,“ unterbrach ihn Wenzel. „Also Raucheisen kam nicht zum Ziel?“

„Nein, er hat zu wenig geboten.“

Wenzel lächelte spöttisch: „Raucheisen bietet immer zu wenig. Ich kenne ihn. Sagten Sie nicht, daß der Wald an die Oder grenzt?“ Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und begann sich Notizen zu machen. „Fünfhundert Hektar, sagten Sie?“

„Der springende Punkt, Schellenberg,“ warf Mackentin mit leicht schnarrender Stimme ein, „der springende Punkt scheint mir der zu sein: Die Forstverwaltung will das Terrain nur abgeben, wenn es zu Zwecken verwandt wird, die der Allgemeinheit der ganzen Provinz sozusagen wiederum zugute kommen.“

„Ich verstehe, Mackentin,“ erwiderte Wenzel mit einem leisen Lachen. „Wann kehren Sie zurück, Herr von Stolpe?“

„Ich werde morgen zurückfahren.“

„Fahren Sie morgen mit Ihrem Vetter, Mackentin, und sehen Sie sich den Wald an.“

„Sehr wohl.“ Mackentin verbeugte sich.

„Sehen Sie zu, ob das Gelände sich zu Industrieanlagen eignet, und klopfen Sie dann bei den hohen Herren an. Sagen Sie“ – wieder erschien das leise Lächeln auf Wenzels Lippen –, „sagen Sie, wir beabsichtigen auf dem Gelände große Industrieanlagen zu schaffen, die den Handel der Provinz günstig beeinflussen würden. Wenn man den Wunsch haben sollte, sich zu beteiligen, so sei dagegen natürlich nichts einzuwenden.“

„Ausgezeichnet, sehr wohl.“

„Vielleicht können Sie auch vorschlagen, daß wir ein Stickstoffwerk auf dem Gelände errichten, das den ganzen Osten mit Stickstoff versorgen soll. Machen Sie ein ausführliches Exposé, so daß wir völlig fertige Vorschläge unterbreiten können. Wir können später ja immer noch tun, was wir wollen. Und was die Zahlungen anbetrifft, drei bis sechs Monate Ziel.“

„Sehr wohl,“ antwortete Mackentin.

„Und Sie, Herr von Stolpe,“ wandte sich Wenzel an den jungen Mann mit den roten Bäckchen und sah ihm mit einem klaren, festen Blick in die Augen. Sein Gesicht erschien in diesem Augenblick fast hart. „Was fordern Sie als Provision für den Fall, daß das Geschäft perfekt wird?“

Der junge Mann wurde tiefrot.

Wenzel lachte laut heraus: „Man sieht, daß Sie aus der Provinz kommen. Geschäft ist Geschäft!“

Hier griff Mackentin ein. „Mein Vetter verlangt natürlich keine Provision, lieber Schellenberg,“ sagte er. „Er wäre dagegen glücklich, wenn er eine Anstellung hier in Berlin bekäme.“

„Schön! Entwerfen Sie den Vertrag, Mackentin. Ich bitte Sie, Herr von Stolpe. Worte kann man vergessen. Die Welt schwankt in diesen Tagen.“

Die beiden Herren erhoben sich.

„Ich spreche Sie heute noch, Mackentin. Es kann etwas spät werden. Und noch etwas – einen Augenblick – es fiel mir etwas ein – noch etwas,“ wiederholte Wenzel zerstreut. Sein Blick schweifte durch den Raum des Kaffeehauses. Er war bei seinen letzten Worten völlig unsicher geworden, als habe ihn plötzlich das Gedächtnis verlassen. Irgend etwas hatte ihn verwirrt, und doch wäre er nicht imstande gewesen zu sagen, was es war. Diese Gesichter, die um die Tische herum saßen, kannte er fast alle. Seit zwei Jahren bewegte er sich unter diesen Gesichtern. Sie saßen in den Direktionszimmern der Konzerne, der Banken, der Filmgesellschaften, stürzten sich mit ihren Aktentaschen in ihre Autos hinein. Sie waren immer auf der Jagd von einer Konferenz zur andern, hatten nie Zeit, arbeiteten bis in den späten Abend, um ihre Nerven in der Nacht in irgendeinem Spielklub aufzupeitschen. Vielen von ihnen sah man es bereits deutlich an, daß sie nicht mehr mit fünf, sechs Stunden Schlaf auskamen. Die trockene Luft der Dampfheizung und der Zigarrenrauch der Konferenzzimmer hatten sie vernichtet.

Ja, alle diese Gestalten waren seinem Blick vertraut, jede, er kannte ihre Gewohnheiten, ihren Gang – plötzlich aber war unter ihnen eine Gestalt von völlig verschiedener Haltung aufgetaucht. Von einer gelassenen, ruhigen, sicheren Haltung, und diese Gestalt, die er nur dann und wann zwischen den unruhigen Köpfen und den hin und her eilenden Kellnern undeutlich sah, absorbierte auf eine völlig rätselhafte Art seine Aufmerksamkeit so vollkommen, daß ihm die Worte entfielen. Und plötzlich stand über diesen unsteten Gesichtern, die er seit zwei Jahren um sich sah, ein ganz anderes Gesicht: ein Gesicht der Ruhe und Sammlung, mit einem höchst merkwürdigen und feinen Lächeln. In der Tat, es war sein Bruder.

„Mein Bruder!“ rief Wenzel leise aus und erhob sich freudig erschreckt.

In diesem Augenblick sah ihn Michael und kam mit einem frohen Lächeln auf ihn zu. „Ah, da bist du ja!“ rief Michael erfreut aus und drückte Wenzels Hand.

„Mein Bruder Michael, meine Herren,“ sagte Wenzel, und sein dunkles Gesicht wurde vor Erregung um eine Schattierung dunkler. „Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist seinerzeit mit dem Stickstoffwerk Logan in die Luft geflogen, aber es hat ihm, da er ein Schellenberg ist, weiter nicht geschadet. Er ist eine der ersten wissenschaftlichen Leuchten unseres Landes.“

„Oh, ich weiß, ich weiß sehr wohl,“ schnarrte Mackentin mit einer etwas steifen Verbeugung, „ich bin sehr wohl informiert. Ihr Bruder erzählte häufig von Ihnen.“

„Da hörst du es!“ warf Wenzel ein und lachte.

„Und zwar mit einer gewissen Schwärmerei, die man selten findet unter Geschwistern. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor Schellenberg.“

„Wie kommst du hierher?“ fragte Wenzel, nachdem die beiden Herren sich verabschiedet hatten. Erst jetzt schien ihm das Merkwürdige dieses Zusammentreffens aufzufallen.

„Ich war bei Lise, ich wollte dich besuchen.“

Sofort verfinsterte sich Wenzels Gesicht. „Oh,“ sagte er. „Ich verstehe.“

Schon bei dem ersten Blick in das Gesicht seines Bruders hatte Michael erkannt, daß mit Wenzel eine Veränderung vorgegangen war. Wenzels Gesicht hatte früher stets ein gutmütiges, spöttisches Lächeln gezeigt. Dieses Lächeln war verschwunden. Das Gesicht war verschlossen, der Blick kalt, und wenn Wenzel lächelte, so war es nicht das leichte, gutmütige, spöttische Lächeln von früher, es war ein flüchtiges, zerstreutes Lächeln, das urplötzlich wieder erstarrte.

„Du hast nichts vor, Michael? Nun, das ist prächtig. Höre, wir haben uns lange nicht gesehen, wir werden einen herrlichen Abend zusammen verbringen und einander ganze Romane erzählen. Komm jetzt, ich werde dich in eine ganz wundervolle Schlemmerkneipe führen. Der Koch war früher bei einem russischen Großfürsten in Stellung.“ Mit einer scheuen Zärtlichkeit legte er Michael den Arm um die Schulter, während sie das Kaffeehaus verließen.

15

Wenzel war offenbar hocherfreut über das unerwartete Wiedersehn mit dem Bruder. Während sie gingen, legte er den Arm noch fester um Michael. Sein verschlossenes Gesicht löste sich, seine Augen glänzten.

„Wir wollen das Wiedersehen ordentlich feiern, Brüderchen!“ rief er aus, nachdem sie in der Ecke eines kleinen, feierlichen Restaurants Platz genommen hatten. „Was für eine wundervolle Überraschung ist das! Nicht für die schönste Frau Berlins würde ich dich austauschen. He, Kellner, wo bleibt ihr so lange? Seht ihr nicht, daß ich einen erlauchten Gast mitgebracht habe?“

Der Kellner verneigte sich vor Michael. Dann harrte er, diensteifrig, den Notizblock in der Hand, in einer Haltung, die Achtung vor dem hohen Trinkgeld ausdrückte. Hinter dem kunstvoll aufgebauten Büfett dienerte der Küchenchef mit seiner hohen weißen Mütze.

„Frische Oderkrebse sind eingetroffen, Herr Hauptmann.“

„Bitte, Wenzel, ich bin gewöhnt, sehr einfach zu essen,“ warf Michael ein.

„Du wirst essen, was ich dir vorsetze, und es nicht bereuen. Oderkrebse, sagen Sie?“ Wenzel nahm das Einglas aus dem Auge, das er zum Studium der Speisekarte eingeklemmt hatte, und blickte Michael an. „Hörst du? Glaubst du an Vorbedeutungen? Erst vorhin sprach ich mit den beiden Schafsköpfen, die ich dir im Café vorstellte, von der Oder, in ganz besonderer Angelegenheit. Na – also gut, mein Freund, Oderkrebse.“

„Ein halbes Dutzend?“

Nun lachte Wenzel, daß sein starkes Gebiß blitzte. „Ein Dutzend natürlich! Wofür halten Sie uns? In der Brühe gekocht, und dazu, hören Sie, ein Glas von dem alten Sherry, den nur die Stammgäste bekommen. Du mußt wissen, Michael, das Etablissement hat den Weinkeller eines bankerott gewordenen früheren Staatsministers aufgekauft. Kostbarkeiten! Diese Leute waren noch Kenner, das muß man sagen. Also mit den Krebsen bist du einverstanden?“

„Einverstanden, meinetwegen. Seit Jahren habe ich allerdings keine Krebse mehr gegessen.“

„Um so besser werden sie dir schmecken. Aber nun weiter. Sie können einstweilen die Krebse bestellen,“ wandte er sich an den Kellner, der mit einer Verbeugung verschwand. „Aber nun höre weiter,“ fuhr Wenzel fort. „Sie haben hier ein Konsommee mit Spargelköpfen, ein Tropfen nur, herrlich. Gut, angenommen. Und dann sieh hier, Michael, Forellen, Bachforellen. Wie wäre es damit?“

„Was willst du noch alles bestellen?“ fragte Michael.

„Noch alles?“ Wenzel lachte. „Aber höre, es beginnt ja erst. Nun kommen die schweren Kaliber. Alles Bisherige war nur leichtes Schützenfeuer, um den Feind zu reizen. Notieren Sie, Kellner. Brathühner mit diversen Salaten, Kalbsrücken mit Champignons. Keinen Widerspruch, Michael. Hierauf Pfirsich-Melba, und dann Käse. Sodann eine Schwadron Schnäpse. Zuletzt Kaffee – aber Sie kennen meinen Geschmack: so stark, daß sich ein Toter im Sarge überschlägt. Den Sekt haben Sie kaltgestellt? So, das wäre erledigt.“ Wenzel lehnte sich behaglich in den Sessel zurück. „Du lebst wohl sehr bescheiden auf Sperlingshof, Michael?“

„Ich lebe wie ein Bauer.“

„Prächtig siehst du aus! Braun wie das Brot, das aus dem Backofen kommt! Es ist wunderbar, wie ein Bauer zu leben,“ fuhr Wenzel mit einem leichten Seufzer fort. „Zuweilen jedenfalls. Aber auf die Dauer ist es langweilig, sehr, sehr langweilig. Für mich jedenfalls wäre es nichts mehr. Zur Zeit wenigstens. Ich brauche Unruhe, Lärm, Abwechslung – ah, da sind ja die Krebse schon! Und der Sherry! Sieh ihn dir an – die Reliquie eines Weins. Und nun, Michael, laß uns in aller Ruhe genießen. Erzähle mir, wie es dir geht. Erzähle mir von Sperlingshof und deinen Plänen! Du hast gewiß noch die alten Pläne – wie ich dich kenne?“ Wenzel zeigte sein altes, gutmütig spöttisches Lächeln und kniff ein Auge zu.

„Natürlich! Ich sehe nun die Lösung in voller Klarheit vor mir!“ erwiderte Michael eifrig. „Gerade jetzt bin ich dabei, den Arbeitsausschuß zusammenzustellen. Manche Enttäuschung, viel begeisterte Zustimmung –“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Unverbesserlich bist du!“ sagte er und zerriß knackend einen Krebs.

„Unverbesserlich? Weshalb sagst du –?“

„Nun, nun – stoße dich nicht an meinen Worten, Michael. Du hast deine Ansichten – ich die meinen. Ich bin zur Zeit etwas skeptisch allen derartigen Dingen gegenüber. Ich sehe die Menschen mit andern Augen an – aber nichts davon! Später wollen wir ja über alles sprechen. Hörst du – über alles! Erzähle, sprich. Ich habe heute zehn Stunden lang gesprochen und bin etwas abgespannt. Erzähle vorläufig nur von dir, ich höre zu.“

Michael berichtete, während sie speisten. Seine Arbeit, seine Versuche, sein „großer Plan“. Seine Augen strahlten, und die Röte färbte ihm das Gesicht. Er konnte nicht von seiner Arbeit und von seinem „großen Plan“ sprechen, ohne augenblicklich Feuer und Flamme zu werden.

Plötzlich unterbrach ihn Wenzel, der nur zerstreut zuzuhören schien. „Übrigens, wie hast du mich eigentlich gefunden?“ fragte er.

Michael lächelte verlegen. „Ein Zufall! Man hatte mir gesagt, daß du in den Lokalen in der Nähe des Gendarmenmarktes zu verkehren pflegst.“

„Man?“ Wenzel runzelte die Stirne und sog eifrig an einer Krebsschere. Er schwieg eine Weile. „Und so hast du dich also auf den Weg gemacht?“ fragte er dann spöttisch.

„Es war gar nicht schwer, dich zu finden, so wunderlich es auch scheinen mag.“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Nur du kannst so etwas fertigbekommen. Aber sprich weiter. Ich interessiere mich für all diese Versuche, wenn ich auch wenig oder nichts davon verstehe. Ich war Offizier und nur auf mechanische Arbeit gedrillt. Was kann diese berühmte Bodenfräse?“

Michael setzte eifrig auseinander, daß diese Fräse den Boden auf fünfzig Zentimeter Tiefe mit kleinen Messerchen zerschnitt, so daß der Boden rigolt wurde, besser als es ein Gärtner mit dem Spaten je vermöchte, vom Pfluge gar nicht zu sprechen.

„Sehr interessant!“

Michael fuhr fort. Er sprach von Methoden, die geeignet waren, die landwirtschaftliche Produktion zu verdreifachen, zu verfünffachen. „Ich habe zum Beispiel eine Wiese angelegt, nur fünf Morgen, die künstlich beregnet wird. Diese Wiese liefert mehr Futter, als eine gewöhnlich bewirtschaftete Wiese von zwanzig Morgen hervorbringt.“

Wenzel hob den Blick und lächelte. „Du läßt also regnen,“ sagte er. „Du läßt den Weizen auf der flachen Hand wachsen? Wie teuer kommt dich das Gras zu stehen?“

„Vorläufig ist es ja noch etwas teuer, zugegeben.“

Wenzel brach in lautes Lachen aus. „Du bist ja ein ausgezeichneter Wirtschafter!“ rief er aus.

„Es sind Versuche, mißverstehe mich nicht.“

„Verzeihe, daß ich lachte, Michael. Du weißt, ich verstehe von all diesen Dingen nicht das geringste.“

„Weshalb hast du mich nicht auf Sperlingshof besucht, Wenzel? Du hattest es ja versprochen.“

Wenzel ließ die Gabel sinken. „Ich hatte es versprochen, ja,“ sagte er. „Oh, mein Gott, was habe ich nicht alles versprochen im Frühjahr und Sommer? Aber siehst du, ich hatte keine Zeit. Nicht eine Stunde bin ich von Berlin weggewesen, es sei denn in Geschäften.“

„Ich habe es sehr bedauert, daß du nicht Wort halten konntest. Vieles würde dich interessieren. Meine Versuchsfelder, meine Kalt- und Warmhäuser. Es ist eine ungeheure Arbeit, aber sie belohnt sich. Ich habe die überraschendsten Erfolge erzielt, eine fast tropische Vegetation.“

Hier lachte Wenzel wiederum laut heraus. „Tropisch? In dieser fürchterlichen und von Gott verfluchten Sandwüste! Ah, seht an!“

„Nun,“ lenkte Michael ein, „lege meine Worte nicht auf die Goldwage. Tropisch mag ja etwas übertrieben sein. Höre weiter.“

Endlich kam Michael auf seinen „großen Plan“ zu sprechen. Die Synthese von Industrie und Landwirtschaft. Industrialisierung des Landbaus. An Stelle der anarchischen Wirtschaftsform eine großzügige Planwirtschaft für das gesamte Reich. Produktive Zusammenfassung aller Kräfte der Nation. Systematische produktive Verwendung freiwerdender oder brachliegender Arbeitskräfte ...

Der Kellner servierte die Brathühner und den Kalbsrücken.

Wenzel hörte mit gerunzelter Stirn zu. Dieser „große Plan“ Michaels – er erschien ihm verstiegen, ja phantastisch. „Ich fürchte sehr,“ unterbrach er Michael, der immer eifriger wurde, „ich fürchte, daß du dich trügerischen Hoffnungen hingibst. Es mag wissenschaftlich sehr interessant sein, zugegeben, aber einen Rat will ich dir geben, Michael, und der kostet dich nichts. Wenn du soweit bist – wenn! –, dann sieh zu, daß du dich möglichst schnell nach Amerika verziehst. Hier, höre, in diesem Deutschland, in diesem Europa überhaupt, ist kein Boden für Reformen und derartige Dinge, die sich nicht sofort bezahlt machen!“

Michael schüttelte den Kopf. „Amerika? Sollte es dort besser sein?“

„Vielleicht. Ich lese zuweilen in den Zeitungen, daß irgendein Millionär, der Zeit seines Lebens das Volk ausplünderte, plötzlich für eine Sache Unsummen stiftet. Hast du hier je so etwas gehört? Wie? Ich bitte dich! Bei den Riesenvermögen, die es hier im Lande gibt? Seitdem es keine Ordenssterne mehr gibt und tönende Titel, halten sie die Taschen noch ängstlicher geschlossen. Nein, glaube mir, Michael, hier ist kein Platz für dich, in diesem Lande und in diesem Europa!“ Wenzel wurde dunkel vor Zorn.

„Du scheinst kein besonderes Vertrauen in dieses Europa zu setzen!“ Michael lächelte.

„Nein! Wahrhaftig nicht! Sprich mir nicht mehr davon!“ rief Wenzel aus, und das Blut stieg ihm abermals ins Gesicht. „Lüge, Heuchelei, Egoismus, nationalistischer Wahnsinn und Größenwahn, das ist heute Europa. Ein materieller und moralischer Trümmerhaufen! Lassen wir das.“

„Höre, Wenzel,“ entgegnete Michael mit erhobener Stimme, „wenn Europa so ist, wie du es darstellst, müßte man dann nicht um so mehr bemüht sein, diesen Trümmerhaufen wegzuräumen und Europa neu aufzubauen?“

Mit Genuß verspeiste Wenzel die Pfirsich-Melba, die in einem mattsilbernen Pokal serviert wurde. Er schüttelte den Kopf und sagte ruhig und mit einer nicht ganz echten Gleichgültigkeit: „Wir wollen uns nicht ereifern, Michael. Glaube du, was du willst, und laß mir meinen Glauben. Ich fürchte nur, Michael – du wirst deine Wunder erleben. Ich fürchte es, ich fürchte! Kennst du denn diese Menschen? Nein, sage ich dir, du kennst sie nicht. Ich habe mich nun zwei Jahre mit ihnen herumgeschlagen, und ich weiß heute, wie sie sind.“ Mehr und mehr redete sich Wenzel ganz gegen seinen Willen wieder in Zorn. Er fletschte die Zähne, während er die Frucht in den Mund schob. „Für diese Menschen hier, für diese sogenannten Europäer, gibt es nur noch ein Ziel: Geld! Geld! Besitz! Dabei schreien sie immer, die Amerikaner seien Tag und Nacht auf der Jagd nach dem Dollar. Sie sind es, ja zum Teufel, sie selbst sind es! Geld! Und wenn der Staat dabei aus den Fugen geht!“ Wenzel lachte zornig auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. „So sehen sie in Wahrheit aus, mein Brüderchen, verlasse dich auf mich. Alle diese berühmten Herren in ihren tadellosen Cutaways, Gamaschen und Seidenhüten, einer wie der andere. Für sie gibt es weder Umkehr noch Rettung.“

Michael schüttelte lächelnd den Kopf. „Du kennst nur einen geringen Teil der Gesellschaft, Wenzel,“ erwiderte er. „Ich kenne einen ganz anderen Teil. Ich kenne hunderte, die uneigennützig von früh bis spät in ihren Laboratorien und Bibliotheken arbeiten.“

„Nun schön, irgendwo in einem Winkel werden noch solche Käuze hausen. Von dir abgesehen, Michael, habe ich noch nie einen kennengelernt.“

„Sieh zu, Wenzel,“ fuhr Michael fort, „wenn es für diese Gesellschaft, wie du glaubst, keine Einsicht gibt, so müßte man trotzdem versuchen, sie vor dem Chaos zu retten, indem man soziale Ausgleiche schafft und eine neue Volksgemeinschaft anstrebt.“

Wenzel lachte zornig auf. „Sie wollen ja gar nicht gerettet werden!“ rief er. „Sie fühlen ja nicht einmal, daß der Boden unter ihnen schwankt. Sie wollen auch keinen Ausgleich. Zum Teufel, was für Worte gebrauchst du doch? Sie wollen alles für sich allein, und den anderen gönnen sie nichts. Das allein ist ihre Lebensanschauung! Ah, sieh da, jetzt kommen die Schnäpse.“

Michael aber gab sich nicht so rasch geschlagen. Er werde ihm, Wenzel, die Angelpunkte zeigen, um die sich diese Probleme bewegen, und sofort werde Wenzel begreifen –

Nunmehr gab Wenzel es auf, dem Bruder zu widersprechen. Mit großer Sorgfalt mischte er sich aus drei verschieden gefärbten Likören einen Schnaps zurecht. Dann betrachtete er Michael mit einem gutmütigen, nachsichtigen Lächeln. „Nun gut,“ unterbrach er ihn endlich, „glaube, was du willst. Ich für meine Person glaube nicht, daß diese Probleme gelöst werden können. Sie sind zu schwer, zu groß, zu verworren.“

„Sie werden gelöst werden, Wenzel! Trotzdem, trotz alledem!“ erwiderte Michael voll Überzeugung und Eifer.

Wenzel sah ihn erstaunt an. Dann lächelte er. „Willst du vielleicht diese Probleme lösen?“ fragte er und zwinkerte mit den Augen.

„Ja, ich will sie lösen!“ schrie Michael, nun war es an ihm, laut zu werden. „Ich, Michael Schellenberg, dein Bruder!“

Wenzel lehnte sich zurück, und es sah ganz so aus, als wolle er wieder in das laute, sarkastische Lachen ausbrechen, das Michael verletzte. Aber er tat es nicht. Er schwieg eine Weile, dann hob er das Glas und sagte: „Nun schön, Michael, auf deine Gesundheit! Vielleicht, es ist ja nicht unmöglich – löst du in der Tat diese Probleme! Denn du hast etwas, was zu diesen Dingen gehört. Du hast noch die Kraft zu glauben. Ich habe diese Kraft längst nicht mehr.“ Seine Hand zitterte heftig, als er das Glas zum Munde führte.

In diesem Augenblick trat der Direktor des Restaurants mit einer Verbeugung an den Tisch, um sich zu erkundigen, ob die Herren mit den Leistungen des Etablissements zufrieden seien.

Michael benutzte die Unterbrechung, um das Versprechen einzulösen, das er Lise gegeben hatte. „Ich habe versprochen zu telephonieren,“ sagte er, indem er sich erhob. „Wirst du mich eine Minute entschuldigen, Wenzel?“

16

Als Michael zurückkam, saß Wenzel in den Stuhl zurückgelehnt, die Zigarre im Munde, und betrachtete ihn mit einem spöttischen, aber gutmütigen Lächeln. „Nun, was sagte sie?“ fragte er, und seine grauen Augen blinkten.

Michael errötete. „Lise läßt dich grüßen,“ antwortete er. „Und sie läßt dich bitten, sie anzurufen.“

„Sie wird sich wohl noch etwas gedulden müssen.“ Wenzels Brauen zuckten. „Sie hat ja Zeit!“

Michael legte die Hand auf den Arm des Bruders und fügte leiser hinzu: „Und sie läßt dich bitten, zu ihr zurückzukehren. Sie quält sich, Wenzel! Was in aller Welt ist zwischen euch vorgefallen?“

Nun flammten Wenzels Augen auf. Sein Gesicht verdunkelte sich. „Ich werde nie, niemals zu ihr zurückkehren,“ sagte er mit großer Bitterkeit in der Stimme. Er schlürfte hastig den Kaffee. „Und nun werde ich dir erzählen, Michael,“ fuhr er fort. „Wir haben uns lange nicht gesehen, und in dieser Zeit ist vieles geschehen, vieles! Ich werde dir berichten, wie alles gekommen ist. Lange, viel zu lange sprachen wir uns nicht.“

„Es ist nicht meine Schuld, Wenzel. Du weißt es.“

Wenzel atmete erregt. „Also höre,“ begann er, „um mit der einen Sache anzufangen: Ich habe nichts gegen Lise, hörst du? Ich schätze sie, ich achte sie. Ich habe sogar etwas Liebe für sie übrig behalten. Manchmal habe ich sogar Sehnsucht nach ihr – und den Kindern. Trotzdem werde ich nicht zu ihr zurückkehren, nie, nie! Und weißt du weshalb, Michael? Ich werde es dir offen bekennen: weil sie mir im Wege ist.“

„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Michael. „Sie ist dir im Wege? Lise?“

„Nun, die Worte scheinen doch klar zu sein,“ fuhr Wenzel mit einem feindseligen Klang in der Stimme fort. „Sie ist mir im Wege! Sagt das nicht genug? Auch ich habe nämlich meine Pläne, mein Brüderchen, genau wie du. Meine Pläne sind allerdings ganz anderer Art, ganz anderer. Und bei diesen Plänen steht mir Lise im Wege. Das ist alles! Übrigens,“ unterbrach er sich, „von diesen Plänen wirst du später erfahren. Du hast ja mit Lise gesprochen. Was hat sie dir über mich gesagt?“

Michael gab einen kurzen Bericht seines Besuches. Er vermied es, dabei den Bruder anzusehen.

Wenzels Augen aber waren forschend auf ihn gerichtet. „Und? Und du verschweigst mir nichts? Hat sie mir nicht Vorwürfe gemacht? Hat sie nicht diese Geschichte mit Raucheisen wieder vorgebracht? Schon errötest du! Hat sie nicht auch Andeutungen gemacht, daß ich inkorrekt gehandelt hätte, sogar ein bißchen – sagen wir – sagen wir es offen: ein bißchen ehrlos?“

„Nicht in dieser Form, keineswegs, Wenzel.“

Wenzel lachte bitter. „Da siehst du es. Sie sollte mich kennen, und sie sollte – wäre das nicht das Selbstverständliche – mich decken, für den Fall, daß irgend etwas vorgefallen wäre. Niemand ist auch nur auf den Gedanken gekommen, daß ich bei Raucheisen irgend etwas Inkorrektes getan hätte. Da fing Lise an, Gerüchte auszustreuen. Irgend etwas müsse da vorgefallen sein! Nun, du hast ja gehört, wie weit sie schließlich gegangen ist. Schließlich hat sie ihrer ganzen Bekanntschaft erzählt, daß ich ein Defraudant sei.“

„Ich beschwöre dich, Wenzel!“ fiel ihm Michael ins Wort.

Wenzel hob die große Hand und legte den Kopf zur Seite. „Nun, lassen wir das, es ist nicht wesentlich. Soll sie behaupten, was sie will. Sollen die Leute glauben, was sie wollen. Was kümmert es mich? Es ist mir völlig einerlei. Es ist mir sogar einerlei, wenn sie glauben, daß ich Raucheisens Tresor ausgeplündert habe. Ich bin so weit gekommen, daß ich auf das Urteil meiner Mitmenschen keinen Wert mehr lege.“

Michael schwieg. Welche Bitterkeit, dachte er, was muß mit Wenzel vorgegangen sein?

„Sieh, das mit Lise ist also sehr einfach,“ fuhr Wenzel, seine Erregung beherrschend, fort. „Sie ist mir im Wege. Das ist die ganze Erklärung. Ich kann sie nicht brauchen. Sie langweilt mich. Ich bin nicht für die Ehe geschaffen, Michael, und du bist es auch nicht, glaube ich. Du weißt, ich habe Lise seinerzeit entführt. Was würde ich heute dafür geben, wenn es möglich wäre, sie ihrer Mutter wieder zurückzubringen!“

„Das ist häßlich von dir!“ rief Michael empört aus.

„Häßlich? Vielleicht! Aber es ist die Wahrheit, und ich habe mir vorgenommen, mit dir offen und aufrichtig zu sprechen. Du sollst dann urteilen. Du magst mich dann selbst verurteilen. Aber nun weiter! Ich habe vom frühen Morgen bis in die späte Nacht bei Raucheisen gearbeitet. Ich stand also sehr früh auf, heißt das, und kam erschöpft nach Hause. Lise pflegt lange liegen zu bleiben und nach Tisch eine Stunde zu ruhen. Da ist es natürlich kein Kunststück, am Abend frisch und munter zu sein. Abends gingen wir aus. Sie schleppte mich zu ihrer langweiligen, hochmütigen Verwandtschaft, in Theater, Konzerte. Das alles kostete Kraft und vor allem Geld. Ich schaffte das Geld herbei, und das Geld zerrann in Lises Händen. Sie verschwendet nicht, aber sie versteht nicht zu wirtschaften. Sie hat auch gar keine Zeit, sich mit diesen lächerlichen Dingen abzugeben. Du weißt, sie ist Sängerin. Sie hat eine sehr hübsche Stimme, und du weißt ja auch, daß ein ‚berühmter Gesangspädagoge‘ ihr prophezeit hat, daß sie Primadonna an der Scala von Mailand werden würde. Ich wünsche ihr viel Glück. Wir Männer haben unsern Beruf und machen nicht viel Aufhebens davon. Aber wenn eine Frau einen Beruf hat, so ist dieser Beruf der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, Haushalt, Kinder, alles. Natürlich mußte Lise öffentlich auftreten. Sie hat zwei Konzerte gegeben und immerhin einige Erfolge gehabt. Die Konzerte mußte ich bezahlen. Ich bezahlte den Agenten, den Saal, den Pianisten, die Blumensträuße, mit einem Worte, alles. Das Kleid für die Konzerte kostete mich ein halbes Monatsgehalt. Und dazu die Aufregung! Acht Tage vor dem Konzert ist sie krank. Zwei Stunden vor dem Konzert ist sie vollständig heiser. Der Agent fleht. Und schließlich steht sie strahlend auf dem Podium. Soll sie ihren Weg zur Scala machen, aber soll sie es allein tun und mich nicht verrückt machen! Ich gebe dir einen Rat, Michael, wenn du einmal heiraten solltest, so heirate nie eine Frau mit einem Beruf, und vor allem, heirate nie eine Sängerin. Heirate überhaupt nicht, wenn es dir möglich ist! Denn du heiratest ja nicht die Frau allein, du heiratest ihre ganze Verwandtschaft, du heiratest ihre Gewohnheiten, Fehler, Laster, alles.

Lise hat es immer gut gemeint, ich möchte gar nichts gegen sie sagen, aber es lag an ihrer Erziehung, und es lag an ihrer Anschauung, daß sie mich langsam an Händen und Füßen knebelte. Keine Angst, Michael, es waren keine Ketten, die man meilenweit rasseln hörte, es waren dünne Stricke, ein kleiner Ruck, und ich war frei. Es gibt eben Menschen, die auch nicht einen Bindfaden um den kleinen Finger vertragen, und zu diesen gehöre ich. Verstehst du jetzt, Brüderchen?“

Michael saß lange still. „Ich sollte meinen,“ begann er dann nachdenklich, „daß sich doch irgendein Weg finden lassen sollte. Vergiß nicht, da sind auch deine Kinder.“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht sentimental. Zuweilen habe ich Sehnsucht nach den beiden Kleinen. Aber es vergeht wieder. Auch Kinder sind solche Fesseln, und ich habe mir vorgenommen, alle Fesseln abzuschütteln. Ich sehe schon, daß ich dich mit meiner Erklärung nicht befriedigen kann. Du hast noch immer nicht begriffen, daß es unmöglich ist, unter diesen Verhältnissen einen Weg zu gehen, der die ganze Kraft eines Mannes braucht.“

Michael sah den Bruder mit forschendem Blick an. „Was für ein Weg ist das, von dem du immer sprichst?“ fragte er.

„Nun, auch das sollst du hören. Aber wir wollen jetzt eine neue Flasche bestellen. He, Kellner!“

17

Die neue Flasche war angekühlt. Wenzel biß die Spitze einer Zigarre ab und steckte sie umständlich in Brand. Dann legte er die Hand auf den Arm Michaels.

„Um alles zu verstehen, Michael, muß ich dir aber meine Geschichte mit Raucheisen erzählen.

Du weißt, wie ich zu Raucheisen kam. Ich glaube, ich habe es dir einmal geschildert. Raucheisens Sohn – er war der einzige Sohn des alten Raucheisen, Otto, und da ist noch seine Tochter Esther, jetzige Lady Weatherleigh, die kürzlich diesen englischen Schiffsreeder geheiratet hat –, also dieser Otto Raucheisen hauste mit mir über ein Jahr in einem Unterstand an der Westfront. Er ist gefallen und starb in meinen Armen. Der alte Raucheisen wünschte Näheres zu hören, und da er einer der Gewaltigen Deutschlands war, so schickte man mich hin, um Bericht zu erstatten. Diese Szene werde ich dir nicht erzählen, vielleicht gelegentlich einmal. Darüber spreche ich nicht gerne. Nun, Raucheisen entließ mich mit den Worten, daß er mir jederzeit zur Verfügung stände, wenn ich einmal irgendeinen Wunsch hätte. ‚Sie haben meinem einzigen Sohn in seiner Todesstunde Beistand geleistet‘, sagte er, ‚ich bin Ihnen für immer verpflichtet‘. Schön, schön.

Der Krieg war zu Ende, und ich saß auf der Straße. Vier Jahre lang hatte ich den Buckel hingehalten, die Heimat mit meinem Leibe gedeckt, wie es so schön hieß, und nun konnte ich krepieren. Da ich nichts gelernt hatte und nichts konnte, so wollte ich in das neue Heer eintreten. Aber Lises Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. ‚Um Himmels willen, wie kannst du, nie, niemals!‘ Sie würde es nicht überleben. Du kennst sie ja, diese eingebildete Närrin!

Schön, ich fügte mich also dieser albernen alten Frau, die mit ihrem Dünkel ihre ganze Umgebung tyrannisiert. Irgendwo würde sich ja wohl Beschäftigung für mich finden. Ich ging von Pontius zu Pilatus, und überall war man sehr höflich, notierte sich meine Adresse, und ich hörte nichts weiter. Viele meiner Kameraden saßen in herrlichen Stellungen. Ja, zum Teufel, wie waren sie zu diesen herrlichen Stellungen gekommen? Sie saßen die letzten Kriegsjahre in Kriegsämtern, Beschaffungszentralen und allen möglichen Institutionen, wo sie Beziehungen zur Industrie anknüpfen konnten. Ich will nichts dagegen sagen, kein Wort, um Gottes willen, mißverstehe mich nicht, aber sie haben eben diese Beziehungen anknüpfen können, und diese Beziehungen haben sich schließlich prachtvoll verwenden lassen. Siehst du, es gab da zum Beispiel Geheimräte, die die Verhandlungen in der Abfindung der Schiffahrtsgesellschaften zu führen hatten, sie sind heute in leitenden Stellungen bei diesen Schiffahrtsgesellschaften. Das sind, mein lieber Freund, die guten Beziehungen. Auf deine Gesundheit!

Also ich hatte keine Beziehungen, und da ich ebensowenig wußte und konnte wie die andern, so kam ich nirgends an. Schließlich, nachdem Lises Briefe immer jämmerlicher wurden und immer flehender, schließlich tat ich das, was Lise und ihre Mutter von vornherein als das Selbstverständliche empfohlen hatten: nämlich, ich wandte mich an den alten Raucheisen. Du kannst meine Gründe verstehen, weshalb ich es nicht gerne tat. Sein Sohn war zufällig in meinen Armen gestorben, und dafür sollte ich – nun, es war nicht meine Sache. Aber schließlich gab ich auch in diesem Punkte nach. Du kannst beobachten, daß ich bisher in allen Punkten nachgegeben habe – nun, das ist jetzt zu Ende.

Ich schrieb also an Raucheisen, und zu meinem größten Erstaunen antwortete er mit wendender Post. Drei Tage später war ich mit einem glänzenden Gehalt engagiert. Ich sage offen: glänzend, denn meine Leistungen waren anfangs gleich Null. Ich wurde zu einem von Raucheisens Sekretären abgerichtet. Punkt einhalb acht Uhr mußte ich anwesend sein. Um sechs Uhr steht Raucheisen auf. Es kommt der Masseur, der Friseur, der Bademeister. Der Kammerdiener kleidet ihn an, und ein Viertel vor sieben sitzt Raucheisen am Frühstückstisch, und ein Viertel nach sieben trägt ihn der Wagen in sein Bureau. Wir Sekretäre harren auf das Klingelzeichen des Gebieters. Wir haben zu erinnern, zu notieren, wir sind lebendige Terminkalender. Wir führen Unterhandlungen mit den einzelnen Direktoren und Abteilungschefs, wir notieren, erstatten Bericht. Es war ein infernalischer Dienst, mit einem Wort.

So verlief mein Leben anderthalb Jahre lang. So lange, mein lieber Michael, dauerte es also, bis ich begriff – kannst du dir denken, was ich begriff –?“

Ohne Michaels Antwort abzuwarten, fuhr Wenzel fort: „Du kannst es dir nicht denken, Michael, also will ich es dir offen sagen – bis ich begriff, daß ich ein vollendeter Narr war! Wie alle andern Sekretäre und Direktoren, die sich um die Sonne Raucheisen drehten. Viele von diesen Narren haben es heute noch nicht begriffen und werden es nie begreifen.“

„Ja, weshalb warst du denn ein Narr?“ fragte Michael.

Wenzel brach in ein lautes Gelächter aus. „Weshalb?“ erwiderte er, indem er die Gläser auffüllte. „Das sollst du gleich erfahren. Ein Narr war ich und dazu noch ein unwürdiger und lächerlicher Narr! Bei meiner Vorstellung hatte sich Raucheisen meiner natürlich noch erinnert und sich die Mühe genommen, mit mir fünf Minuten zu plaudern, mit einem etwas geheuchelten Interesse zwar, aber immerhin mit einem menschlichen Ton in der Stimme. Er hat mir nie verziehen, daß er weinte – was ist natürlicher? –, als ich ihm den Tod seines Sohnes schilderte. Und doch, dieser Otto Raucheisen hat mich durch und durch mit Blut getränkt, und ich mußte ihm Mut zubrüllen, weil er so schreckliche Angst vor dem Tode hatte. Doch das gehört nicht hierher. Fortan aber war ich für Raucheisen ein Automat wie alle seine Mitarbeiter. Er sah mich von dieser Zeit an kaum noch an. Er hatte eine leise, etwas belegte Stimme, aber er sprach nur so leise, um Kraft zu sparen. Er ist das verkörperte Prinzip der Ökonomie der Kräfte. Da saß er also, der kleine alte Mann, etwas zusammengekrümmt, wachsgelb von seinem Leberleiden, eine gelbe, mattglänzende Glatze mit Wölbungen und Buckeln. Du hast ihn nie gesehen?“

„Nein.“

„Er hat den Kopf eines Römers, in heller Bronze gegossen. Tiefe Augengruben, eine Hakennase, breite, satte Lippen mit tiefen Rissen. Die Unterlippe ist besonders breit und besonders satt. Aber vielleicht ist das mit dem Bronzekopf übertrieben. Man könnte auch sagen, sein Kopf sei in Wachs modelliert, und wenn er die breiten Lippen öffnet, so sieht man kleine Zähne, Puppenzähne, und seine Augen sind wie kleine grüne Glaskugeln, scharf und ängstlich, fast feige. Nein, Michael, er ist jemand, glaube es mir, und wenn ich abfällig über ihn urteile, so mußt du manches abstreichen, denn ich – hasse ihn! Das war er also: Johann Karl Eberhard Raucheisen, dem ein Fürstentum unter der Erde gehört und ein Fürstentum über der Erde. Vor dreißig Jahren hatte er das horizontale Prinzip der Vertrustung begonnen, seit zehn Jahren war er zum vertikalen Prinzip übergegangen. Erst hatte er nur Eisen und Kohle. Dann produzierte er alles, vom Dampfkessel bis zum Rasiermesser. Und heute hat er seine eigenen Dampfer, um seine Produkte zu befördern. Der Konzern ist so groß, daß niemand imstande ist, ihn mit allen seinen Verzweigungen zu überblicken – aber Raucheisen tut es! Ich habe heute noch die größte Bewunderung für ihn, trotz allem. Es gibt keinen zweiten Kopf wie ihn in ganz Deutschland.“

„Wie hast du dich mit ihm verstanden?“

„Eigentlich sehr gut. Ich war ja ein Automat, und unser Verkehr vollzog sich ohne jede Reibung. Langsam aber begann ich den alten Mann zu hassen. Ich haßte seine Kälte, oft saß er da, klein, in sich zusammengezogen, ganz Eis und Gefühllosigkeit. Ich haßte seine menschliche Teilnahmlosigkeit. Zu welchem Zwecke arbeitete dieser alte Mann vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Es galt, dieses große Werk zu verwalten. Gut. Aber weshalb vergrößerte er es fast täglich? Und langsam begriff ich, daß nicht er das Werk dirigierte, sondern das Werk ihn. Er war ein Sklave dieser unheimlichen Maschinerie geworden, die er aufgebaut hatte. Ich fühlte seinen Geiz in allen, auch den kleinsten Dingen. Dieser Geiz war entsetzlich. Ich fühlte seine Habgier. Und ich begriff endlich, daß er gar nicht der Idee diente, dieses Werk zu verwalten, sondern daß es sein einziges und wahres Ziel war, Geld zusammenzuraffen. Und das ist die Wahrheit! Und als ich dies begriffen hatte, haßte ich ihn noch mehr!

Ein einziges Mal, da verriet er sich. Du wirst wissen, daß er wie ein Rasender aufkaufte, mit Krediten der Reichsbank, die er mit entwertetem Gelde zurückzahlte. Ganze Komplexe, Walzwerke, Gruben bekam er fast umsonst. Bei einer großen Transaktion, wo er einen beträchtlichen Teil seines Vermögens einsetzte, wagte einer der Finanzdirektoren einzuwerfen, daß doch der Tag kommen könne, da die Mark plötzlich steigen werde. Raucheisen schüttelte den Kopf und lächelte. Er lächelte nur sehr selten und dann das Lächeln eines eitlen alten Mannes, und dann sah man seine kleinen, schmalen Zähne, die ich hasse. ‚Die Mark wird sinken, bis sie in Atome zersplittert ist,‘ sagte er. ‚Es gibt keine Macht der Welt, sie aufzuhalten, ich weiß es. Ich weiß es seit‘ – nun höre, Michael, seit wann er es wußte! Mit einem triumphierenden Lächeln sagte er: ‚Ich weiß es seit der Marneschlacht und habe danach meine Finanzpolitik eingerichtet.‘“

„Sagte er das wirklich? Oh, wie schändlich!“

„Michael, ich begriff es vorerst nicht! Aber dann begriff ich es, und dann verstand ich es. Seit der Marneschlacht spekulierte er auf das Fallen der Mark. Während ich Narr noch da draußen im Dreck herumlag, während wir uns alle noch in Fetzen schießen ließen, war dieser alte Mann schon längst an der Arbeit, aus unserm sicheren Untergang Geld zu machen.

So kam es, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr haßte. Einmal geschah es, daß ich zehn Minuten zu spät kam. Er blickte auf die Uhr und sagte, ohne mich anzusehen: ‚Sie sind zehn Minuten zu spät.‘ Ich erwiderte: ‚Der Wagen wurde aufgehalten.‘ Daran antwortete er nichts mehr, und dieses Schweigen war viel beleidigender als irgendwelche Vorwürfe. In diesem Augenblick fühlte ich ganz das Entwürdigende meines Automatendaseins. Ich fühlte die Unverfrorenheit, die Kälte, die Härte, die scheinbar selbstverständliche Unverschämtheit, die der Reichtum einzugeben scheint.

Ich fühlte, so geht es nicht weiter. Und schon damals – verstehe mich recht –, schon damals begann ich meine Maßnahmen zu treffen. Ich hatte es satt, mich täglich beleidigen und demütigen zu lassen. Der Haß trat mir in die Augen, wenn ich den alten Mann nur ansah. Aber siehst du, er beachtete mich ja gar nicht.

Ein halbes Jahr später hatte ich verschlafen und kam fünfzehn Minuten zu spät. Nun mußt du wissen, daß ich fast anderthalb Jahre bei Raucheisen war und im ganzen acht Tage Urlaub gehabt hatte. An diesem Tage sagte Raucheisen nichts. Ich empfand deutlich die Kälte, die er ausströmte. Am nächsten Tage wurde ich in eine andere Abteilung versetzt. Er hatte kein Wort gesprochen, er hatte sich nicht von mir verabschiedet. Das setzte allen Kränkungen die Krone auf.

Aber die Ungnade des alten Mannes war mein Glück. In dieser Abteilung hatte ich viel mehr Zeit, viel mehr Sammlung, und ich konnte meinen Schlachtplan ausarbeiten. Nun sollst du weiter hören, und es wird dir Vergnügen machen. Aber erst wollen wir den Musikern ein Glas schicken!“

Eine kleine russische Kapelle war in das Restaurant gekommen und hatte zu konzertieren begonnen. Wenzel beorderte den Kellner und ließ der Kapelle Erfrischungen schicken. „Sie sollen das Wolgalied spielen!“ Und, schon spielten und sangen die Russen das Wolgalied.

„Höre!“ rief Wenzel aus. „Das ist ein Lied! Höre zu, dieses Lied berauscht mich, und ich höre es immer in meinen Ohren, seitdem ich unterwegs bin.“

Michael zog die Uhr und berichtete Wenzel etwas verlegen, daß er Lise versprochen habe, bis elf Uhr telephonisch Nachricht zu geben. „Willst du ihr nicht irgendein gutes Wort durch das Telephon sagen, Wenzel?“ bat Michael den Bruder.

Wenzel schüttelte nur heftig den Kopf. Er brauste nicht mehr auf, der Wein hatte ihn schon versöhnlicher und milder gestimmt. Aber er blieb halsstarrig. Michael wagte einen neuen Versuch. Lise sei vorhin am Apparat so außerordentlich erregt gewesen, daß er aufs äußerste erschrocken sei. Lise habe erklärt, daß sie die Nacht nicht überleben würde, wenn Wenzel nicht nach Hause käme. Sie habe gedroht, sich aus dem Fenster zu stürzen.

Nun stieg Wenzel das Blut ins Gesicht. Er beherrschte sich jedoch, sein Atem ging schwer. „So soll sie sich meinetwegen aus dem Fenster stürzen!“ sagte er, und sein Mund war hart und brutal. „Möchten doch alle Menschen in die Hölle gehen, die ihre Mitmenschen mit diesen feigen Drohungen quälen!“

Michael stand auf. „Nun, ich werde ihr irgendein Wort sagen, um sie zu beruhigen. Zum Beispiel, daß du sie morgen anrufen wirst.“

„Sage, was du willst,“ sagte Wenzel, schon wieder etwas ruhiger.

18

Schweren Herzens forderte Michael die Verbindung. Es gab nichts Peinlicheres für ihn, als Notlügen gebrauchen zu müssen. Lieber Himmel, was sollte er der unglücklichen Lise nur sagen? Er würde ihr also erzählen, daß sie einträchtig beisammen säßen, daß er Wenzel versöhnlicher gestimmt habe und morgen bei ihr vorsprechen werde, um ihr über alles zu berichten, daß er – aber, siehe da, Lise war gar nicht zu Hause.

„Gnädige Frau ist ausgegangen,“ sagte das Mädchen.

„Sie ist nicht zu Hause?“

„Nein, sie ist bei Major Puchmann und kommt erst gegen zwölf Uhr zurück.“

Michael atmete auf.

Das Wolgalied hatte stürmischen Applaus. Wenzel war aufgestanden und trank der russischen Kapelle mit einer begeisterten Geste zu.

„Spielt es nochmals!“ schrie Wenzel den Musikern zu. Er hatte leuchtende Augen. „Welch ein Lied, Michael! Höre doch.“

Die Kapelle spielte das Lied abermals.

„Lise ist bei Major Puchmann,“ berichtete Michael, als die Kapelle geendet hatte.

Wenzel lachte laut heraus. „Siehst du!“ rief er. „So sind die Frauen! Man darf sie nicht zu ernst nehmen. Ach, wir wollen sofort eine neue Flasche bestellen. He, Kellner!“

„Und nun, Wenzel, erzähle weiter,“ sagte Michael, nachdem der Kellner die neue Flasche gebracht hatte. „Du sagtest vorhin, dieses Lied klänge in deinen Ohren, seitdem du unterwegs bist. Unterwegs? Was heißt das? Ein merkwürdiger Ausdruck!“

Wenzel nickte. „Ja,“ erwiderte er, „seitdem ich unterwegs bin. Du mußt nämlich wissen, daß ich schon seit Monaten unterwegs bin!“

„Also sprich deutlicher! Was tust du, was willst du? Was hast du vor?“

„Was ich vorhabe, Michael? Ich werde es dir mit einem Worte sagen!“ Wenzel sah Michael mit starren, glänzenden Augen an. „Ich bin unterwegs, ein Raucheisen zu werden,“ sagte er dann.

Michael begriff nicht. „Ein Raucheisen?“

„Ja, ein Raucheisen!“

Michael sah den Bruder verblüfft und völlig verständnislos an. „Ist es wirklich dein Ernst?“ sagte er. „Was heißt das, ein Raucheisen zu werden?“

„Was das heißt? Mißverstehe mich nicht. Nicht einer von jenen kleinen Raucheisen, wie es Dutzende gibt, sondern ein wirklicher Raucheisen. Wenn er es vermocht hat, weshalb soll ich es nicht können? In dieser Zeit des wirtschaftlichen Chaos ist alles möglich.“

Michael war noch immer fassungslos. „Aber ich verstehe nicht, was für einen Sinn soll es haben, was für einen Zweck? Sagtest du vorhin nicht selbst –“

Aber Wenzel unterbrach ihn: „Ein Raucheisen, weißt du, was das bedeutet? Es bedeutet absolute und letzte Unabhängigkeit! Ich will, siehst du, um es kurz zu sagen, auch endlich zu den Leuten gehören, die auf den Knopf drücken, und dann kommen die Sekretäre herein, und die Autos fahren vor. Ich habe keine Lust mehr, als Automat behandelt zu werden und andern Leuten den Narren zu machen. Wozu? Ein schönes Leben, schöne Dinge, Pferde, Automobile, Wein, Frauen, Reisen.“

Michael schüttelte den Kopf. „Aber ist dies ein Ziel?“ fragte er. „Kann dies einen Lebensinhalt bilden?“

„Lebensinhalt? Ziel? Was für große Worte. Ich bin kein ägyptischer Pharao.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Wäre ich ein ägyptischer Pharao, so würde ich mir sagen: Es ist einerlei, wie lange und auf welche Weise ich lebe – in meiner Pyramide werde ich ewig leben. Aber ich habe keine Ewigkeit vor mir. Wenn ich tot bin, ist alles zu Ende. Ich bin nicht dünkelhaft genug, um an ein ewiges Leben zu glauben. Fünfzig, sechzig Jahre, und in dieser Zeit muß alles vollendet sein. Alle denken so, heute, mehr oder weniger bewußt. Daher unsere Eile – Schnellzüge, Schnelldampfer, Flugzeuge. Um aber diese fünfzig, sechzig Jahre vollzufüllen, vollzufüllen bis zum Rand, Michael, dazu brauche ich Geld, Geld! Habe ich Geld, so habe ich alles: Freiheit, Gesundheit, die Erde, die Sonne, Schönheit, Liebe – alles andere ist Unsinn.“

Michael war erbleicht. Er schüttelte ganz verstört den Kopf. „Wie töricht, wie töricht,“ wiederholte er fast zornig. „Wenzel! Sprachst du nicht selbst vorhin voller Verachtung –?“

„Verstehe mich recht, Michael. Ein Ziel muß der Mensch haben, und wenn es auch nicht gerade ein erhabenes Ziel ist. Was ich soeben sagte, ist meine Philosophie, und danach will ich handeln. Verächtlich oder nicht, das ist mir gleichgültig. Ich habe nicht die Gabe, mich für eine Idee zu begeistern wie du. Ich habe auch, offen gestanden, keinen Glauben an die Menschen mehr.“

„Keinen Glauben an die Menschen mehr?“

„Glauben? Haß, Verachtung, das ist alles, was mir blieb. Oh, ich verabscheue sie. Ich habe ihre Feigheit, Grausamkeit, Eitelkeit, ihren Geiz, ihre Habsucht, Albernheit und ihren schmutzigen Egoismus zur Genüge kennengelernt. Ich glaube auch nicht mehr an sogenannte Ideale. Siehst du, so völlig bankerott bin ich, Michael. Ganz wie diese Zeit und diese Welt, in der alles bankerott geworden ist, Glaube, Wissenschaft, alles.“

„Täusche dich nicht,“ warf Michael sofort eifrig ein. „Keineswegs ist der Glaube bankerott. Fühlst du nicht, daß in allen Herzen ein neuer Mystizismus erwacht? Und die Wissenschaft? Der Materialismus ist bankerott, nicht sie. Die Wissenschaft ist soeben in eine neue Epoche eingetreten, die glänzender sein wird als alle vergangenen.“

„Sei es,“ entgegnete Wenzel, „du kannst recht haben. Aber du kannst mich nicht überzeugen! Du kannst rufen, so laut und so lange du willst, ich höre und verstehe dich nicht mehr, Bruder. So wahr es ist, daß du der einzige Mensch bist, den ich liebe und achte, so wahr ist das, was ich sage.“ Wenzel deutete auf sein Herz. „Hier liegt ein Toter. Er steht nicht mehr auf,“ sagte er etwas pathetisch.

Es war nicht so sehr das Bekenntnis Wenzels, das Michael erschütterte, es war der verzweifelte, zynische Ton, in dem er es vorbrachte. „Nun bedaure ich es noch mehr,“ sagte er, „daß du mich nicht auf dem Land besucht hast, vielleicht wärst du dort auf andere Gedanken gekommen.“

„Wie konnte ich denn?“ erwiderte Wenzel. „Bedenke, mein Ziel reizt mich ebenso, wie dich das deine reizt. Es lockt, und ich kann nicht mehr widerstehen. Es ist zu spät, Michael. Ich bin auf dem Absprung! Hörst du? Ich bin auf dem Absprung. Mehr noch: ich bin schon abgesprungen! In die Leere – in das Nichts vielleicht. Ich weiß, daß es kein großes Ziel ist. Trotzdem! Ob ich zurückkehre und wie ich zurückkehre, wer weiß es? Komm, und nun sollst du etwas sehen, Michael!“

Hastig brach Wenzel auf.

Vor dem Restaurant stand eine elegante, schwarzlackierte Limousine. „Steige ein,“ sagte Wenzel mit einer fast knabenhaften Freude über Michaels verblüfftes Gesicht.

„Ist es dein Wagen?“ fragte Michael.

„Natürlich ist es mein Wagen. Anders geht es nicht.“

Der Wagen hielt vor einem Bureaugebäude in der Wilhelmstraße. „Folge mir,“ sagte Wenzel, und zögernd kam Michael hinterher. An einer Tür stand nichts geschrieben als „Schellenberg“. Ein Diener öffnete, und Wenzel führte Michael durch eine Flucht großer Arbeitsräume voller Schreibmaschinen und Bureaumöbel. Alles war völlig neu. Man roch noch Lack und Farbe.

„Das alles hier ist Schellenberg,“ sagte Wenzel mit einem fröhlichen Lachen. „Wir haben diese Räume erst vor einer Woche bezogen. Vorher hauste ich in ein paar Löchern in einem Hof, ganz im Geheimen, sozusagen.“ Wenzel öffnete eine Tür und führte Michael in ein sehr bescheiden eingerichtetes Schlafzimmer. Neben der eisernen Bettstelle stand ein Stuhl mit einem Telephonapparat. „Das hier sind meine Privatgemächer,“ erklärte Wenzel. „Vorläufig, Bruder, vorläufig nur. Wir wollen sehen, ob ein Schnaps zu finden ist. Ah, siehst du, hier. Ich bitte dich herzlich, Michael, ein Gläschen wollen wir noch trinken, bevor die große Reise weitergeht.“

Michael staunte noch immer. „Was tust du eigentlich?“ fragte er den Bruder. „Was für eine Firma hast du? Wie hast du dies alles geschaffen?“

Gerade auf diese Frage hatte Wenzel gewartet. Hätte Michael nicht gefragt, so hätte er von selbst davon zu sprechen begonnen. „Was ich tue?“ fragte er und ging, die Hände in den Hosentaschen, auf und ab. „Ich kaufe, ich verkaufe. Ich fing damit an, die Holzladung eines viertausend Tonnen großen finnischen Dampfers zu kaufen. Es war Grubenholz, das der Raucheisenkonzern aus irgendeinem Grunde nicht abgenommen hatte. Ich erfuhr es und kaufte das Holz auf eigene Rechnung. Ich verkaufte die Ladung zwei Wochen später, ohne sie je gesehen zu haben. So fing es an.“

„Hattest du denn Geld?“ unterbrach ihn Michael.

Wenzel lachte. „Geld? Ich hatte kein Geld, aber ich hatte Kredit. Damals war ich ja noch bei Raucheisen. Es gab Bankfirmen, die auf meine Vermittlung, Empfehlung und Freundschaft angewiesen waren. Eine einzige Information von meiner Seite konnte ein kleines Vermögen bedeuten.“

„Ah, jetzt fange ich an, zu begreifen.“

„Ich habe, höchst einfach, meine Verbindungen mit dem Raucheisenkonzern benutzt, wie andere ihre Verbindungen benutzten. Es ist vielleicht nicht vollkommen – wie soll ich sagen – honorig, aber ich habe mir diese feinen Unterschiede längst abgewöhnt. Dann kaufte ich ein kleines Bergwerk im Anhaltischen, um es nach einem Monat wiederum an einen Holländer zu verkaufen. Es war ein großes Geschäft, das mir die nötige Anfangsgeschwindigkeit gab, und doch habe ich dafür nicht einen Pfennig Geld ausgegeben. Ich habe das Bedürfnis, mich dir mitzuteilen, Michael, und so will ich dir nicht verhehlen, daß dieses Bergwerk Raucheisen angeboten war. Raucheisen zögerte. Ich kam ihm zuvor und ließ das Bergwerk rasch durch meine Bank ankaufen. Nun brauchte ich Raucheisen nicht mehr. Ich kündigte meine Stellung. Nicht er hat mich entlassen, ich entließ ihn! Das kannst du Lise sagen! Und so ging es weiter. Ich lieh Geld und arbeitete damit, ganz wie andere es machen, ganz wie Raucheisen es macht. Zur Zeit spezialisiere ich mich auf Papierfabriken.“

Michael erhob sich. „Nun gut, ich wünsche nur, daß du es nicht bereust.“

„Schön, dann also lebe wohl! Unsere Wege werden sich wohl vorläufig etwas trennen, so fürchte ich.“

„Ich fürchte es,“ antwortete Michael und blickte zu Boden.

„Warte, halt!“ rief Wenzel und ging an einen Schreibtisch. „Ich will dir etwas sagen, Michael. Du kannst vielleicht Geld brauchen, für deine Pläne, und ich habe gerade Geld. Nimm es. Wie gesagt, mein Gewissen ist noch nicht ganz so abgestumpft wie das anderer Geschäftsleute. Zuweilen ist es noch ein bißchen beunruhigt. Ich möchte mich sozusagen freikaufen mit diesem Scheck, von gewissen sozialen Verantwortungen, und du tust mir einen großen Gefallen, wenn du ihn annimmst.“

Es war ein Scheck von außerordentlicher Höhe.

„Schön,“ sagte Michael. „Ich nehme den Scheck, denn ich gebrauche ja das Geld nicht für mich. Gut, gut, und nun lebe wohl!“

Die Brüder reichten sich die Hände und sahen sich in die Augen. Oh, es hatte keiner Angst vor dem andern, und keiner wich um einen Millimeter zurück.

„Den Wagen!“ rief Wenzel dem Diener zu.

„Danke,“ antwortete Michael. „Ich gehe zu Fuß. Lebe wohl!“

Und er ging mit der Trauer im Herzen, seinen Bruder verloren zu haben.

19

Was Georg Weidenbach in den ersten Wochen nach seiner Abfahrt von Berlin da draußen auf dem Lande erlebte, schien ihm gleich verwunderlich wie das sonderbare Haus in der Lindenstraße.

Er meldete sich in der kleinen Stadt, die man ihm bezeichnet hatte, und hier schickte man ihn in ein Dorf, Dobenwitz, etwa eine halbe Wegstunde entfernt. Die Nacht sank schon über das flache, öde Land, als Georg, erschöpft und vor Kälte zitternd, Dobenwitz zu Gesicht bekam. Bei den ersten Hütten holte ihn ein klingender, mutiger Schritt ein. Ein junger, breitschultriger Mann in einer gestrickten Wolljacke trat dicht an ihn heran und blickte ihm unter den Hut.

„Zur Arbeitsstelle?“ fragte er mit einer hellen, freundlichen Stimme, die augenblicklich Georgs Vertrauen gewann. „Nun, so gehen wir zusammen.“ Der breitschultrige junge Mann in der Wolljacke war munter und gesprächig. Er erzählte, daß er Schlächter sei, Moritz mit Vornamen, aber es seien elende Zeiten. Seit Monaten sei er ohne Arbeit, obschon er sich die Beine krumm gelaufen habe. „Was willst du?“ rief er aus. „Niemand hat Geld, um Fleisch zu kaufen. Die Schlachthöfe sind verödet. Wo sie früher dreitausend Stück antrieben, da treiben sie heute keine fünfhundert an. Da hast du es!“

„Was für eine Arbeit wird man uns hier geben?“ fragte Georg, von der Munterkeit des Gefährten ermutigt.

Das wußte Moritz nicht. Es war ihm auch völlig gleichgültig, wenn es nur Arbeit war. Steineklopfen oder Erde karren, einerlei, immer noch besser, als auf der Straße zu liegen. Er hatte nur gehört, daß sie hier außen einen Kanal bauten. Allerdings, um ganz ehrlich zu sein, großes Vertrauen hatte er zu dieser Sache nicht! Etwas stimmte da nicht oder –? Er schob die Mütze ins Genick und kratzte sich den Kopf. Dann entwarf er von diesem Unternehmer Schellenberg kein sonderlich günstiges Bild. Er bezahle nur ein Viertel der Löhne in bar und die übrigen drei Viertel in Versprechungen. „Ha? Wie? Aber was solle man tun? Besser als auf dem Pflaster verrecken. Was bleibt uns armen Hunden übrig?“

Das Dorf lag dunkel und verlassen im Regen. Keine Seele weit und breit, nicht einmal ein Hund schlug an. Das letzte Haus aber zeigte ein matterleuchtetes Fenster. Ein Schatten ging vor dem Hause auf und ab. Georg roch den Rauch von Tabak.

„Arbeitsstelle?“ schrie der Schlächter.

„Richtig!“ antwortete eine klare Stimme, und der Schatten trat in den Lichtschein. Es war ein noch ziemlich junger schlanker Mann, der eine Pfeife in der Hand hielt. Trotz der Dunkelheit sah Georg, daß er nur einen Arm hatte. „Noch zwei!“ rief der junge Mann mit komischer Verzweiflung aus. „Sie senden mir mehr und mehr, der Teufel soll sie holen! Was soll ich mit euch anfangen? Nun, es wird gehen, es muß gehen. Tretet ein!“

Das kleine Haus war eine Art Scheune. Im Lichtschein einer Talgkerze, die auf den Tisch geklebt war, unterschied Georg eine Anzahl von Gestalten, die auf dem Stroh lagen und offenbar schliefen. Ein großer breitgebauter Mann lehnte mit dem Rücken gegen die Wand und starrte sie mit großen fiebernden Augen an, ohne ein Wort zu sprechen und ohne eine Miene zu verziehen. Einer drehte sich im Stroh herum und erwiderte mürrisch ihren Gruß. Woher waren sie alle gekommen, und welches Schicksal hatte sie hierher in die Einöde geführt? Wie lange fieberten die Augen dieses Mannes schon, bis er den Weg nach Dobenwitz gefunden hatte?

Der Einarmige öffnete die Türe und sagte halblaut: „Ich habe nur ein Stück Brot heute abend. Ich war auf euch nicht eingerichtet. Nehmt es aus dem Tisch! Es ist mein Brot, aber ich gebe es euch gern. Und nun gute Nacht, Kameraden!“

Georg erinnerte sich, daß das Unternehmen sich verpflichtete, die Arbeiter zu verpflegen.

„Das also nennen sie Verpflegung,“ sagte der Schlächter und schnitt das Brot in zwei Teile. „Hier, nimm! Wenn sie uns morgen nicht besser füttern, laufe ich nach Berlin zurück.“

Dann warf sich Moritz kauend ins Stroh, und bald schlief er ein.

Georg suchte sich ebenfalls einen Winkel und streckte die zerschlagenen Glieder aus. Hinter der Wand rasselte eine Kette, eine Kuh schnob. Das Talglicht erlosch, und nun war es ganz dunkel. Trotzdem konnte Georg sehen, daß der Einarmige ohne Pause vor dem Hause auf und ab ging, wie ein Wachposten. Zuweilen stoben Funken aus seiner Pfeife.

Dobenwitz? Und was soll all das bedeuten? Betäubt von der frischen Luft und ermüdet von der Reise fiel Georg in einen unruhigen Schlaf, die ganze Nacht hindurch von schrecklichen Träumen gemartert. Er empfand es als Wohltat, daß er am Morgen all diese entsetzlichen Träume, in denen auch Christine eine Rolle spielte, völlig vergessen hatte.

20

Aufstehen und fertig machen zur Arbeit!“ rief die helle Stimme des Einarmigen, und die Schläfer fuhren aus dem Stroh. „Auch dich meine ich, Kamerad,“ fügte er hinzu und zog den Schlächter am Bein. „Immer munter, Kinder!“

Das Frühstück bestand aus warmer Milch und Schwarzbrot.

„Es wird schon besser, siehst du,“ lachte der Schlächter und stieß Georg an.

Vor dem Hause wartete auf der Straße ein kleiner Bauernwagen mit einem schmutzigen Schimmel. Der Wagen war beladen mit Sägen, Äxten, Spaten und allerlei Gerät.

„Fahr nur voraus!“ rief der Einarmige dem Bauern zu, der auf dem Wagen saß. „Du kennst ja den Weg.“ Und der Schimmel setzte sich in Bewegung.

Mißmutig, verschlafen, verstört und vergrämt setzte sich die Rotte von Männern in Bewegung. Sie waren im ganzen zwölf, mit dem Einarmigen, der langsam hinter ihnen herging, dreizehn.

Der Regen hatte etwas aufgehört, und die Felder dampften. Es schien dürftiger Boden zu sein. In dem schiefergrauen, riesenhaften Himmel war ein heller Fleck von noch kälterer grauer Färbung. Dort hinten, irgendwo hinter meilendicken Nebelwänden, mußte sich die Sonne befinden.

Vor ihnen lag ein großer Wald, in den die schmale, schlechtgehaltene Landstraße schnurgerade hineinführte. Offenbar war dieser Wald ihr Ziel. Aus den Äxten und Sägen konnte man auf die Arbeit schließen, die man ihnen zuweisen würde.

Ohne ein Wort zu sprechen trotteten sie dahin. Der große breitgebaute Mann mit den fiebernden Augen, der Georg am Abend aufgefallen war, ein Zimmermann, schwankte zuweilen beim Gehen. Nach etwa einer halben Stunde hatten sie den Wald erreicht, und nach einer weiteren halben Stunde schien es, als ob sie im Herzen eines unendlichen Waldes angekommen wären. Der Einarmige befahl Halt, und der Wagen blieb stehen.

„Abladen!“ kommandierte der Einarmige. Niemand rührte sich. Alle standen sie und starrten den Wagen an. Der Einarmige lachte laut heraus. „Seid ihr denn eine Gesellschaft von Narren? Habt ihr noch nie einen Wagen abgeladen? Munter, Kinder, munter. Ich heiße Lehmann und verstehe keinen Spaß!“ Aber er lachte, als er diese Warnung aussprach.

„Dahin! Dorthin!“ kommandierte Lehmann mit seiner hellen Stimme zuweilen. Er ging langsam auf der schmutzigen Straße hin und her, sog an seiner kurzen Pfeife und lächelte vor sich hin, das zarte Gesicht in die Höhe gerichtet, Regentropfen auf den Augen und auf den frischen roten Wangen. Dann – der Wagen war fast entladen – ging er ein Dutzend Schritte in den Wald und deutete auf einige eingeschlagene weiße Pfähle. „Hier, wo die Pfosten stehen, soll der Schuppen Nr. 1 stehen!“ rief er. „Das Unterholz zuerst weg, dann die Bäume. Spaten, Äxte!“ Plötzlich blickte er Georg ins Gesicht. „Leiten Sie das Abholzen,“ sagte er zu ihm. „Das Material für den Schuppen kann jeden Augenblick kommen, und wir kommen in die Nacht hinein.“ Laut schrie er über die Kolonne hinweg: „Wir kehren heute nicht mehr ins Dorf zurück! Munter, Kinder! Arbeitet, damit wir heute Nacht unter Dach kommen!“

Unter Dach kommen? Wie stellte er sich das vor?

Und wieder ging Lehmann auf der schmutzigen Landstraße auf und ab, zwanzig Schritte vor und zwanzig Schritte zurück, und rauchte. Nur zuweilen setzte er sich auf einen Stein, um die Pfeife zu stopfen. Er klemmte sie zwischen die Knie, stopfte den Tabak mit dem Daumen hinein, dann nahm er die Streichholzschachtel zwischen die Knie, strich das Streichholz an und setzte die Pfeife in Brand.

Schon kam Moritz mit einer Axt. Er hatte die Ärmel der Wolljacke hinaufgestülpt, herausfordernd sah er eine Fichte an. Die Muskeln seines Nackens schwollen an, und schon hieb er den Stamm, daß die Späne flogen.

„Was für ein Schuppen soll hierherkommen?“ fragte ein kleiner Krummbeiniger mit großem Schnauzbart, Schlosser seines Zeichens, und blickte Georg hilflos an.

„Rede nicht, arbeite!“ antwortete ihm Moritz an Georgs Stelle. „Was kümmerst du dich um Dinge, die dich nichts angehen?“

Blaugefroren und zitternd vor Schwäche leitete Georg die Arbeit, die Axt in der Hand. An den eingeschlagenen Pflöcken konnte er erkennen, daß der erste Schuppen etwa zwanzig Schritt lang und zehn Schritt breit werden sollte. Einige Schritte davon entfernt war ein zweiter Schuppen von etwa dreifacher Größe abgesteckt und daneben ein dritter von der gleichen Größe.

„Was soll hier geschehen?“ fragte der kleine krummbeinige Schlosser hartnäckig.

„Offenbar sollen wir den Wald abholzen,“ antwortete Georg.

Der Schlosser warf einen verzweifelten Blick in die Kronen der hohen Föhren und Fichten empor und schüttelte den Kopf.

Unterdessen war der Wagen völlig abgeladen, und Lehmann gab dem Bauern Instruktionen. Er möge sofort einen Boten ins Depot schicken und sagen lassen, er, Lehmann, lasse die ganze Gesellschaft verfluchen – aber der Einarmige fluchte gar nicht, sondern er lächelte ganz freundlich –, lasse die ganze Gesellschaft verfluchen, wenn man nicht sofort die Autos mit dem Material für den Schuppen sende. Sie säßen hier im Regen. „Radfahrer brauche ich, Boten!“ Und der Teufel soll sie holen, wenn das Material nicht heute noch eintrifft. „Du aber,“ sagte er zu dem Bauern, „siehst zu, daß du möglichst schnell den Proviant herbringst. Meine Leute müssen essen. Also nun los, mein Freund, und laß deinen Renner laufen.“

Moritz stieß Georg den Ellenbogen in die Seite. „Was sagte ich dir!“ rief er. „Es sind die richtigen Ausbeuter! Höre nur, wie der kleine Leutnant kommandiert, wir werden hier nichts zu lachen haben.“ Der Schlächter arbeitete, daß ihm der Schweiß über das breite gutmütige Gesicht lief. Nach monatelanger Untätigkeit berauschte er sich an der Arbeit.

Eine Zeitlang hatte der hellgraue Fleck da oben über den finsteren Kronen einen lebhafteren Glanz angenommen. Es waren schon einzelne blendende Flecke sichtbar geworden, und Georg hatte gehofft, die Sonne würde endlich durchbrechen. Nun aber begann es wieder zu regnen. Es war nicht niedergehender Nebel wie vorher, es regnete in dünnen Schnüren. Und plötzlich pfiff der Wind, und es begann zu graupeln und zu schneien. Im Augenblick war der Wald weiß.

Der Zimmermann mit den fiebernden Augen, der, die großen Hände auf den Knien, teilnahmlos auf einer Kiste saß, begann vor Kälte zu zittern. Man fluchte und schimpfte. Welche Schweinerei und was für eine verrückte Arbeit! Der Teufel solle diesen Schellenberg und die ganze Bande holen! Georg fühlte, wie sich sein ganzer Körper mit einer Eisschicht überzog. Der Schlächter in seinem Wollkittel aber lachte. „Das bißchen Wasser? Schämt euch, was für Kerle seid ihr!“

„Und wo sollen wir schlafen heute nacht? Auf dem nassen Boden?“

„Schurken sind das! Schleppen uns mitten in den Wald, damit wir hier krepieren!“

„Und wie steht es mit dem Futter?“

Ein junger Mann mit feindseliger Miene warf die Axt hin und spie aus. „Ich bin kein solcher Narr!“ rief er aus und ging mit schnellen wütenden Schritten davon. Bald war er außer Sicht.

„Laßt den Langen ruhig nach Berlin zurücklaufen!“ lachte Moritz. „Die Bauern werden die Hunde auf ihn hetzen!“

Da tauchte Lehmann im Schneegestöber auf der Landstraße auf. „Der Schuppen kommt!“ schrie er laut.

Und in der Tat, auf der Landstraße, inmitten des Schneegestöbers, kamen zwei mächtige Lastautos mit Balken und Brettern angefahren. Auf diesen Balken und Brettern standen zwei verwegene Burschen, halbnackt in der Kälte, herkulisch gebaut, die reinen Athleten. Diese verwegenen Burschen schrien schon, bevor die Autos standen, und begannen augenblicklich Balken und Bretter hinunterzuwerfen.

„Seht ihr, so wird bei uns gearbeitet,“ sagte Lehmann mit triumphierendem Lächeln.

Die Balken und Bretter waren mit Nummern und farbigen Zeichen versehen, und die verwegenen Burschen dirigierten das Abladen.

„Die roten Zeichen dorthin und die grünen dorthin!“ Es konnte ihnen nicht schnell genug gehen. Trotz des Schneegestöbers lief allen der Schweiß vom Gesicht, und schon setzten sich die Autos wieder in Bewegung.

„Wohin fahrt ihr?“

„Nach Glücksbrücke!“

„Geht es dort vorwärts?“

„Sie wollen die Häuser noch aufstellen, bevor der Frost kommt!“

Die Häuser aufstellen? Was für ein sonderbarer Ausdruck!

„Grüßt den Chef!“

Schon waren sie verschwunden. Augenblicklich wurde der Bau des Schuppens in Angriff genommen.

„Zurücktreten!“ brüllte der Schlächter, genau wie die Stationsbeamten schreien, wenn ein Schnellzug heranbraust. Er balancierte auf der Schulter einen schweren Balken, den zwei Mann kaum tragen konnten. Seine Blicke nach links und rechts heischten Bewunderung.

Lehmann hatte sich eine neue Pfeife angezündet und gab klar und ruhig seine Befehle. Der Schuppen war bis ins kleinste vorgearbeitet und brauchte nur aufgestellt zu werden.

Nun ging es plötzlich. Die Teilnahmlosigkeit und Gleichgültigkeit war verschwunden. Alle griffen eifrig zu. Die Arbeit hatte plötzlich Sinn und Ziel. Es galt ein Obdach für die Nacht zu schaffen.

In der Kolonne befand sich ein alter Maurer, dem das Alter die Beine krummgezogen hatte. Er war in großer Erregung. Verzweifelt ging er hin und her und suchte bei den Kameraden Gehör zu finden. Endlich hielt er es nicht mehr aus und trat zu Lehmann, der ihn ruhig anhörte, ohne den Blick von der arbeitenden Kolonne zu wenden.

„Fundamente?“ sagte er endlich. „Lieber Freund, wozu sollen wir Fundamente mauern, der Schuppen ist ja nur provisorisch.“

Selbst der Große, Bleiche, der Zimmermann, hielt es auf seiner Kiste nicht mehr aus. Er kroch heran und setzte sich auf einen Baumstamm, um wenigstens zuzusehen. Die Sehnsucht, mitzuarbeiten, brannte in seinen kranken Augen. Schließlich erhob er sich, um mit anzupacken.

„Bleiben Sie weg!“ rief Lehmann. „Werden Sie mir erst gesund!“ Und den andern schrie er zu: „In einer Stunde ist es Nacht. Schlagt ein Dach zusammen! Ein paar provisorische Wände gegen den Wind. Hier sind Bretter, Äxte, Nägel. Und dann Feierabend, Schluß für heute. Zündet ein Feuer an! Was für Narren seid ihr! Hier ist Holz in Fülle, und ihr friert!“

Ein Feuer! Herrliche Idee! Weshalb war niemand auf diesen Gedanken gekommen? Einer blickte den andern an, zitternd vor Kälte und blau gefroren.

Im Nu flammte das Feuer auf, Späne, Äste. Es lohte mächtig in der Dunkelheit, und eine beizende dicke Rauchwolke stieg bis in die Kronen der Bäume empor.

„He, du da auf deiner Kiste!“ rief der krummbeinige Schlosser, „komm hierher und wärme dich!“

Wärme, die die durchnäßten Kleider trocknete. Schon entspannten sich die bleichen, mürrischen Gesichter. Glühende Äste sprangen durch die Luft, und die brennenden Tannenzweige verbreiteten einen erfrischenden, starken Geruch. Dieses Dasein im Walde, das vor ein paar Stunden unmöglich schien und Trostlosigkeit in allen Herzen erweckte, es erschien nun schon erträglicher, fast wie ein Abenteuer.

21

Plötzlich war es Nacht geworden. Eine feindselige, kaltblinkende Finsternis, und aus dieser Finsternis, die erschrecken konnte, tauchte plötzlich ein gespenstisch flammendes Pferd, ein scheinbar riesiger, glühender Schimmel, im Feuerschein auf. Der Bauer war zurückgekehrt mit Stroh und Proviant.

„Ist hier jemand, der etwas vom Kochen versteht?“ fragte Lehmann.

Ein dünnbeiniger hagerer Mann, mit mächtiger Hakennase, trat vor. Ein Kellner, der früher, wie er behauptete, auf den großen Ostasiendampfern Dienst gemacht habe.

„Nun gut, nehmen Sie die Sache in die Hand.“

Der Kellner zog den Rock aus und fing augenblicklich an mit großer Gewandtheit zu wirtschaften. Kartoffeln, Erbsen, geräucherte Wurst. Schon dampfte der Kessel, und es dauerte nicht lange, so war die Mahlzeit fertig. Die Blechgeschirre in der Hand, hockte die Arbeitskolonne um das Feuer. Wie das schmeckte! Gierig schlangen sie die Mahlzeit hinunter, manche verbrannten sich Lippen und Mund.

Ohne Gnade enthüllte der grelle Schein des Feuers die Abgezehrtheit und Blässe der Gesichter, die fahlen Wangen mit den Hungerfurchen, die Lumpen, die den Körper bedeckten. Fast alle starrten ins Feuer, die Gedanken weit von hier, während sie die Mahlzeit aus den Blechgeschirren löffelten. Fiebernde Augen, andere stumpf verkrochen in die Höhlen, ohne Blick, als scheuten sie sich, noch mehr zu sehen von dieser Welt. Augen, entzündet von Entbehrungen, gerötet von ungeweinten Tränen, Augen, deren Blick unstet irrte, Augen, angefüllt mit Angst und Schrecken. Und alle starrten ins Feuer, und jedes Auge sah in der Flamme ein anderes furchtbares Bild: bettelnde Kinder, hungernde Frauen, frierende alte Leute, Kranke, die auf Lumpen lagen. Gesprochen wurde nicht, kaum daß dann und wann eine Bemerkung fiel. Man war müde, verstimmt, argwöhnisch und ohne Hoffnung.

Georg, vor Erschöpfung fiebernd, sah sich die Gefährten genauer an. Da war zuerst Moritz, der Schlächter, dessen stahlblaue Augen lebenslustig sprühten, breit, mit Muskeln bepackt, ein untersetzter Boxer. Er lächelte vor sich hin und strich zuweilen sein kleines helles Schnurrbärtchen, das zu knistern schien. Er war der einzige, der ohne Sorge war. Da war der dünnbeinige Kellner, dessen große Hakennase einen mächtigen Schatten über das bläulich-weiße hohlwangige Gesicht warf. Unaufhörlich nagte er an der Lippe, als quäle ihn ein und derselbe Gedanke. Seine pechschwarzen Rattenaugen flackerten unruhig. Da war der bleiche große Zimmermann mit den groben Händen und den glühenden Fieberaugen. Er berührte kaum das Essen. Da war der kleine krummbeinige Schlosser mit dem großen Schnauzbart. Er hieß Heinrich. Er konnte nicht eine Minute auf einem Platz stillsitzen. Immer erhob er sich wieder, um Zweige zu brechen und sie ins Feuer zu werfen. Neben ihm kauerte der alte Maurer, ein kleiner Mann, mit fahlem Greisengesicht. Seine Augen tränten. Er hatte über den Schädel einen alten breitkrempigen Hut gestülpt, der offenbar einmal auf einem Maskenball mitgewirkt hatte. Rings um die Krempe waren noch Spuren einer Pleureuse zu sehen, die einstmals herumgenäht war und schlecht abgetrennt wurde.

Da war noch ein älterer Mann, in einen langen geflickten alten Soldatenmantel gewickelt. Der Schlächter titulierte ihn „Herr General“. Er hatte mächtige Brauen, wie Vogelfedern. Sein eckiger Schädel war völlig kahl, aber sein Bart, wenn auch dünn, reichte bis auf die Brust. Irgendein gestrandeter Krämer oder Handwerker. Er war nahezu eingeschlafen und schwankte in seinem grauen Soldatenmantel hin und her. Da war ein junger Mann mit einem Diebsgesicht und abstehenden großen Ohren, die im Feuerschein lackrot glühten. Er trug eine Hose und ein zerfetztes Hemd und sah grüngefroren aus, trotzdem er sich so dicht ans Feuer gesetzt hatte, daß seine zerrissenen Stiefel dampften. Da waren noch ein paar nichtssagende Gesichter, ein Kriegskrüppel mit einem Glotzauge.

Das also waren die Gefährten, die ihm das Geschick zugewiesen hatte. Jeder dieser Männer war vom Schicksal getroffen, sonst säße er nicht hier in der Finsternis des Waldes. Die einen waren verbraucht, und die Wirtschaft hatte keinen Platz mehr für sie, andere waren nicht mitgekommen und gestrandet, andere ein Opfer der wirtschaftlichen Krisis. So saßen sie also und starrten ins Feuer und wälzten ihr Schicksal in ihrem Kopf hin und her, ohne es fassen zu können.

„Wenn man nur wüßte, was hier gebaut werden soll?“ fragte der kleine alte Maurer mit dem breitkrempigen Hut.

Niemand antwortete, sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Endlich sagte der Schlosser: „Du siehst doch, daß der Wald umgeschlagen werden soll.“

„Aber wenn er umgeschlagen ist, so muß doch etwas hier gebaut werden.“

„Es wird eine Kirche gebaut werden, damit du es weißt!“ warf Moritz dazwischen.

Der Alte kicherte kindisch. „Eine Kirche!“ rief er aus. „Wer wird hier mitten im Walde eine Kirche bauen? Du bist ja ein ganz Kluger! Mitten im Walde!“

Damit war das Gespräch zu Ende, und alle schwiegen wieder. Nur der alte Maurer kicherte noch zuweilen: „Eine Kirche! Eine Kirche!“ Und er erzählte, daß er vor dreißig Jahren eine Kirche gebaut habe, in Hamburg. Aber niemand hörte zu.

Die Wärme, die sie röstete, die Luft und die Arbeit hatten sie alle müde gemacht. Einer nach dem andern kroch ins Stroh. Auch Georg. Aber er schlief nicht. Er blickte in die Glut des erlöschenden Feuers draußen, in die grenzenlose grimmige Finsternis des Waldes. Ein wunderbares und herrliches Sausen ging in der Ferne durch den Wald. Stark, wie Gewürz, hauchte die Luft aus den nassen Wipfeln. Tannen, frisches Holz und faulende Rinde. Man roch den Schnee, obschon er fast vollständig wieder geschmolzen war. Das gänzlich Unbegreifliche aber, das war diese wunderbare große Stille da draußen.

Plötzlich war es Georg, als sinke er in die Tiefe, und schon war er eingeschlafen. Er erwachte einige Male in der Nacht, um immer sofort wieder in tiefen Schlaf zu versinken. Als er das erstemal erwachte, sah er plötzlich den Einarmigen neben dem niedergebrannten Feuer auf einem Baumstamm sitzen, die Pfeife im Munde. Wieder erwachte er. Es regnete, und durch das provisorische Dach fielen einzelne Tropfen auf sein Gesicht. Das Feuer glimmte noch ein wenig. Lehmann war verschwunden. Die Gefährten lagen mit verzerrten Gesichtern, den Mund offen, schnarchten und röchelten. Nur der große, bleiche Zimmermann saß schlaflos mit offenen Augen, die glänzten, wie die Augen einer Eule.

22

Am nächsten Morgen erwachte Georg als letzter von den Gefährten. Die helle Stimme Lehmanns hatte ihn aufgeweckt. Er hörte, daß Lehmann schalt, ohne ihn jedoch zu sehen und ohne zu wissen, wem die heftigen Worte galten. Obwohl er fühlte, daß er fieberte, erhob er sich rasch.

„Wenn es Ihnen nicht behagt bei uns!“ rief Lehmann, „so gehen Sie doch wieder zurück nach Berlin und lassen Sie sich von den Läusen auffressen. Sie haben die Bedingungen der Gesellschaft gelesen, wir haben Ihnen also nichts vorgemacht. Wir brauchen hier Leute, die arbeiten wollen und die vor allem Freude an der Arbeit haben. Das ist die Hauptsache für uns.“

Georg eilte an den kleinen Bach, der ganz in der Nähe vorüberfloß, um sich zu waschen. Der Schlächter begrüßte ihn, gut gelaunt wie immer. Er hatte die Hosen hinaufgestülpt und stand bis an die Knie im eisigen Wasser, während er sich, krebsrot am ganzen Körper, Brust und Rücken wusch und dabei lachte. „Lehmann ist heute früh munter geworden,“ sagte er lachend. „Plötzlich, siehst du, hört er auf zu schmunzeln.“

Es war noch düster im Wald. Ein frischer Luftzug, der nach Schnee schmeckte, strich durch die Stämme, hoch oben glitten mächtige helle Wolken dahin, ganze Gebirge von Schnee. Zuweilen zuckte etwas wie eine dünne Lichtnadel durch das Geflecht der schwarzen Wipfel. Der fürchterliche Regen schien endlich ein Ende zu haben! Ein würziger Geruch, wie ihn Pilze ausströmen, wenn man sie auseinanderbricht, stieg aus dem feuchten Boden. Raben krächzten über den Bäumen, und ein paar dunkle Fittiche schwankten irgendwo gespenstisch.

Schon aber klangen die Hammerschläge im Walde. Eine helle Stimme schalt.

„Spute dich: er meint uns.“

Lehmann hatte die Leitung der Arbeit übernommen, ohne jeden Zweifel. Er befahl, ordnete an, schrie, sprang selbst zu, half mit. Riesenkräfte schienen in seinem einen Arm zu stecken. Er bestimmte das Arbeitstempo, nichts entging seinem Blick. Aber obwohl er schrie, so sah sein Gesicht niemals böse aus. Seine Pfeife paffte aufgeregt, seine Wangen waren frisch gerötet.

Das Rahmenwerk des Schuppens wuchs in die Höhe.

Der „General“, jener Kahlköpfige mit dem vorspringenden Bart, und der kleine alte Maurer mit dem Schlapphut hatten zusammen eine Arbeitsgemeinschaft gegründet. Sie handhabten zusammen eine Säge und versuchten ein dickes Brett durchzusägen. Sie sägten ein paar Minuten, dann sahen sie beide nach, wie tief die Säge schon in die Bohle eingedrungen war, und hielten eine lange Konferenz ab.

Lehmann trat rasch an sie heran. „So geht es nicht,“ sagte er. „Arbeitet langsam, wenn euch der Atem ausgeht, aber arbeitet regelmäßig und schwätzt nicht soviel. Und Sie,“ sagte er zu dem „General“, „in diesem langen Mantel können Sie doch nicht arbeiten.“

Der „General“ streckte mit gekränkter Miene den langen Bart vor und knöpfte zur Antwort langsam den langen Militärmantel auf. Er trug ein zerrissenes Hemd, das nur noch aus schmutzigen Schnüren bestand, und eine alte an den Knien zerschlissene Hose.

„Das ist etwas anderes,“ sagte Lehmann mit einer gewissen Härte in der Stimme, die seine Beschämung verbergen sollte. „Ich werde dafür Sorge tragen, daß Sie Kleider bekommen. Unsere Gesellschaft ist vorzüglich organisiert. Wenn jetzt manches stockt, so kommt es daher, daß man uns in den letzten Tagen Tausende von Arbeitslosen geschickt hat. Es wird alles in Ordnung kommen.“

Mittag! Der Kellner hatte gekocht. Das Feuer wärmte. Alle staunten den halbfertigen Schuppen an, während sie aßen.

„Ob wir es heute noch schaffen?“

Kopfschütteln. Zweifel.

„Am Abend steht der Schuppen,“ versicherte Lehmann, der mit ihnen aus demselben Kessel aß.

Und in der Tat, als die Dämmerung kam, stahlblau und kalt, mit einem eisigen Wind, war der Schuppen bis auf Kleinigkeiten aufgestellt. Er hatte zwei Fenster – nicht größer als Stallfenster allerdings, und einige Scheiben waren dazu zerbrochen –, aber doch Fenster, und eine solide Tür mit einem richtigen Schloß. Das Stroh wurde in den Schuppen gebracht, der Kochherd, schon wirbelte der Rauch aus dem Blechrohr. Kisten wurden zurecht gerückt. Der Schlächter kam mit einer völligen Ladung grüner Tannenzweige durch die Türe und nagelte die Zweige an die Wand. Nun sah es in der Tat schon ganz festlich aus. Es war behaglich. Der Wind pfiff nicht mehr. Es war warm, es war sauber. Der kleine Bauernwagen hatte Decken gebracht. Viele waren alt und geflickt, aber es waren immerhin Decken, und sie waren rein. In einer Ecke hatte Lehmann sich sein Lager eingerichtet und daneben sein „Bureau“. Das waren Notizbücher, Rollen, Pläne.

Plötzlich, es war fast schon dunkel, kam ein Radfahrer! Es war ein junger Mann, ein Knabe fast noch, mit einer verblaßten Schülermütze auf dem Kopfe. Forsch und keck trat er in den Schuppen, das Gesicht rot von der frischen Luft. „Ist Post mitzunehmen?“ rief er.

„Wie, alle Wetter, Post?“ Man sah ihn verblüfft an. „Kannst du Tabak besorgen?“

„Wenn Sie mir Geld geben, dann bringe ich Ihnen morgen auch Tabak mit.“

„Schön, dann bringe Tabak. Alle Wetter, wieviel bekommst du bezahlt, mein Junge, am Tage?“

„Wir arbeiten ohne Bezahlung!“

Wir? Wer waren diese „Wir“?

Es war gewiß eine ganz merkwürdige Sache. Wie hatte sich das alles seit gestern geändert! Es zeigte sich, daß der Radfahrer in seinem Rucksack ein Paket Zeitungen mitgebracht hatte. Es waren allerdings etwas veraltete Zeitungen, aber man erfuhr immerhin, was in der Welt vorging, während man hier im Walde hauste. Eine Azetylenlampe hing von der Decke herab. Das hätte von allen keiner erwartet. Man fand es nun ganz behaglich und angenehm in der Baracke. Eine Gruppe spielte Karten mit einem alten schmutzigen Spiel. Andere lagen müde auf dem Stroh, und einige plauderten halblaut. Die Verdrossenheit war geschwunden, das finstere Grübeln, der gegenseitige Argwohn.

„He!“ rief Moritz Georg zu. „Worüber spintisierst du immer? Den ganzen Tag spintisierst du! Nimm es nicht so schwer, es wird noch schlimmer kommen. Der Teufel holt uns ja doch alle am Ende!“ Und Moritz lachte.

Um den Kellner mit der Hakennase und den unsteten Rattenaugen, er nannte sich Henry Graf, hatten sich Zuhörer gesammelt. Henry, der, wie er sagte, jahrelang Steward auf den großen Passagierdampfern war, erzählte von seinen Reisen. Er erzählte von Südamerika und China, als sei er erst gestern dagewesen, von Schmetterlingen, so groß wie die Hand, und von einer Hitze, daß die Ölfarbe der Schornsteine schmolz. Er hatte in China Hinrichtungen mitangesehen, in Japan war er in den Teehäusern gewesen – lauter kleine Puppen, lauter kleine braune nackte Puppen. Er erzählte von reichen Leuten, amerikanischen Millionären, sonderbaren Passagieren. Da war zum Beispiel eine reiche Engländerin, die immer betrunken war. Man schickte sie auf Reisen, um sie los zu sein, und sie war der Schrecken aller Schiffe. Diese Engländerin verliebte sich in ihn, Henry. Er könnte heute, weiß Gott, ein Schloß haben. Aber nein, eine betrunkene Frau, etwas Schrecklicheres gibt es nicht.

„Laß dich nicht auslachen, Henry! Sie hätte dich nie geheiratet!“ Gelächter.

Heinrich, der kleine krummbeinige Schlosser, entpuppte sich als ein vorzüglicher Tierstimmenimitator. Kanarienvögel, Stare, Hühner, Eichelhäher, Katzen und Hunde aller Größen und Rassen ahmte er nach und erntete großen Beifall.

Es zeigte sich, daß sich unter den Genossen Talente verschiedener Art befanden. Selbst der Verstümmelte – mit dem Glotzauge –, selbst er steuerte etwas zur Unterhaltung bei. Er war in Sibirien in Kriegsgefangenschaft gewesen und ahmte das Heulen des Wolfes nach. Er hielt die Hände vor den Mund und begann schauerlich zu heulen. Und alle, die nie einen Wolf gehört hatten, überlief ein Schauer.

Um neun Uhr mußte das Licht gelöscht werden. Fast augenblicklich sanken alle in tiefen Schlaf.

Nur Lehmann legte sich später zur Ruhe. Jeden Abend ging er, die Pfeife rauchend, eine Stunde lang vor der Baracke auf und ab.

23

Die Axt klang im Walde, die Sägen kreischten. Krachend stürzten die Bäume. Lehmann hatte jedem der Gefährten die Arbeit im Walde und in der Baracke nach Befähigung angewiesen. Es herrschte gute Disziplin, und das Leben auf der Arbeitsstätte spielte sich ohne jede Reibung ab. Den hochgeschossenen jungen Menschen mit den abstehenden Ohren und dem Diebsgesicht hatte Lehmann abgelohnt und fortgeschickt, weil er, wie er sagte, Tagediebe und Faulpelze nicht brauchen könne. Sie mögen verrecken. Es waren sechs neue Kameraden dazugekommen.

Vom frühen Morgen bis zur Nacht trieb Lehmann zur Arbeit. „Vorwärts, immer vorwärts!“ rief er. „Ohne zäheste Arbeit können wir das große Werk nicht schaffen. Die Gesellschaft muß jede Minute ausnützen, sonst geht sie bankerott. Vorwärts! Schellenberg versteht keinen Spaß! Er setzt mich an die Luft, wenn ich zurückfalle!“

„Und was wollen wir mit Ihnen anfangen?“ sagte Lehmann zu dem großen, bleichen Zimmermann. „Ich werde Sie in ein Krankenhaus schicken.“

Die tief eingesunkenen, fieberischen Augen des Zimmermanns flehten. „Nein, nein,“ bat er. „Lassen Sie mich hier im Walde. Hier werde ich gesund werden. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld. Schicken Sie mich nicht in ein Krankenhaus.“

Der Zimmermann, er hieß Martin, war auf einem Bau verunglückt, die Hüfte verrenkt, gar nichts Besonderes, aber seitdem war es mit ihm bergab gegangen. Es war vorbei mit dem Schleppen schwerer Balken, die Meister sahen an ihm vorüber. Ohne Verdienst hauste er drei Monate lang mit seiner Frau und drei Kindern in einer Dachkammer ohne Fenster, bis er erkrankte. Die Kinder gingen betteln, die Frau verkaufte Schnürsenkel. Nun, Lehmann schickte ihn nicht fort. Martin erhielt Krankenkost – was man hier im Walde Krankenkost nannte! –, und nach einer Woche schon sah man ihn zuweilen langsam unter den Bäumen hin und her gehen, während er früher sich kaum vom Lager erheben konnte. Nach zwei Wochen aber nahm er schon die Axt in die Hand, aber er schwankte noch, wenn er zuschlagen wollte.

„Noch eine Weile Geduld,“ sagte Lehmann zu ihm.

Eines Tages fuhr – sollte man es für möglich halten? – ein wirklicher Automobilomnibus auf der Landstraße heran. Alle sahen staunend von der Arbeit auf.

„Was ist das!?“ sagte Moritz, der Schlächter. „Haben wir schon Omnibusverbindung bekommen? Es wird gar nicht lange dauern, so werden sie uns eine Untergrundbahn hierher bauen.“

Aus dem Omnibus kletterten zwei junge Herren in grauen Arbeitskutten. Lebhaft schüttelten sie Lehmann die Hand. Es zeigte sich bald, daß einer der Herren Arzt war und der andere Zahnarzt. Der Omnibus aber enthielt eine vollkommene Einrichtung, wie Ärzte und Zahnärzte sie benötigen.

Jeder einzelne mußte zur Untersuchung in den Wagen klettern. Dem einen wurde dieses geraten und verschrieben und dem andern jenes. Die Herren waren außerordentlich freundlich. Unter Scherzen verrichteten sie ihre Arbeit. Der Zahnarzt zog rasch einige Zähne, und dem General setzte er eine Plombe ein. Martin wurde mit besonderer Sorgfalt behandelt.

„Da sind Sie ja!“ rief der junge Arzt, als er Georg erblickte. Erstaunt erkannte Georg jenen Arzt wieder, der ihn seinerzeit in dem Haus in der Lindenstraße empfangen hatte. Der junge Arzt schüttelte ihm herzhaft die Hand. „Eine Freude, Sie wiederzusehen, so gut haben Sie sich erholt!“ rief er aus. „Sie haben schon etwas Farbe bekommen. Sie sehen, auch wir kommen zuweilen aufs Land. Aber es ist leider selten, und um diesen Außendienst reißen sich alle. Nun kutschieren wir vierzehn Tage in der Umgebung umher, das ist unsere Erholung, sehen Sie!“

Die beiden Ärzte blieben bis zum Anbruch der Dunkelheit. Dann fuhren sie davon, Lehmann mit ihnen.

Der Omnibus mit seiner verwirrenden Einrichtung beschäftigte am Abend alle Gemüter.

„Was für einen Wagen doch die beiden Burschen hatten! Sie haben ja alles! Hast du gesehen, sogar eine kleine Apotheke ist eingebaut. Ihr Leute – und sie waren nicht entfernt so grob wie die Kassenärzte.“

„Und dieser Zahnarzt! Das ist ein feiner Bursche!“

„Die Gesellschaft zahlt schlecht, das ist Tatsache, aber man muß zugeben, daß sie für ihre Leute sorgt. Hemden, Wäsche, Socken haben sie uns gegeben, und der General hat sogar eine gestrickte Wollweste bekommen.“

„Man sagt, die Arbeitslosenfürsorge bezahle alles, und das Rote Kreuz soll auch dahinterstecken.“

„Und diese Jungens, die auf ihren Rädern kommen und Botendienste tun, sie scheinen alles überlegt zu haben und alles heranzuziehen.“

„Und doch verstehe ich es nicht,“ hub der alte Maurer wieder an und schüttelte bedächtig den Kopf, „was wollen sie eigentlich hier bauen?“

„Was geht es dich an? Sei froh, daß du etwas zu nagen und zu beißen hast auf deine alten Tage.“

„Man möchte es doch wissen. Sie müssen doch etwas hier wollen? Und ein großer Schuppen soll noch kommen? Und der Plan, den Lehmann bei sich hat?“

Georg hatte bei Gelegenheit einen Blick in den Plan werfen können. „Soviel ich sehen konnte,“ sagte er, „soll hier eine Art Stadt gebaut werden.“

„Eine Stadt?“

„Eine Stadt?“ Der alte Maurer lachte kindisch.

„Eine Stadt?“ Allgemeines Gelächter.

„Laß dich nicht auslachen, Weidenbach!“

Georg kam, bei Gott, in Verlegenheit, weil sie alle derart wieherten. „Und doch – denkt, was ihr wollt. Ich habe doch den Plan gesehen,“ sagte er. „Eine Stadt oder eine größere Ansiedelung mit großen Gärtnereien.“

„Gärtnereien!“

„Gärtnereien, sagst du?“

„Jawohl, Gärtnereien!“

Wiederum Gelächter. Was hier wachsen solle? Auf diesem Boden – nichts als Sand!

Aber der alte Maurer mit dem Schlapphut kam Georg zu Hilfe. „Worüber lacht ihr denn, ihr Narren?“ rief er. „Man kann auf den ersten Blick sehen, daß ihr nie aus der Stadt herausgekommen seid und vom Boden nichts versteht.“ Und er erzählte umständlich, mit allen Einzelheiten, von einem Garten, den er vor zwanzig Jahren aus einem Sandhaufen geschaffen hatte. Schon nach zwei Jahren blieben die Leute stehen, so sah der Garten aus, und schon im dritten Jahre blühten darin die Fliederbüsche. Im vierten Jahre aber, da kam er also eines Abends in den kleinen Garten, und was hörte er? – Der Alte streckte die Hände in die Höhe, rückte den Schlapphut mit den Pleureusenresten aus der Stirn und begann zu pfeifen – tüh – tüh – tüh. „Eine Nachtigall, ihr Leute! Mein Herz hat geschlagen, so schön sang die Nachtigall.“

Der kleine krummbeinige Schlosser machte eine verächtliche Handbewegung. Er wußte es besser als alle.

„Weshalb zerbrecht ihr euch die Köpfe?“ fragte er. „Wie? Was sie hier machen wollen? Geld wollen sie machen, aber nicht für uns! Es ist ja alles aufgelegter Schwindel. Unsere Arbeitsstunden sollen gebucht werden, und wenn du fünftausend Arbeitsstunden erreicht hast – im Laufe der Jahre, sooft du stellungslos bist –, so sollst du einen Morgen Land und eine Behausung bekommen. Wer soll das glauben? Es ist ja alles Schwindel und Lüge. Ich habe es euch ja oft gesagt: Es ist Schellenberg und kein anderer als Schellenberg. Wir werden uns schinden, und Schellenberg wird den Profit einstreichen. Ich habe ja bei Schellenberg gearbeitet. Er baut sich einen Palast im Grunewald, das müßt ihr gesehen haben. Ein halbes Jahr lang habe ich dort Erde gekarrt. Schellenberg hat sich ein Schwimmbad im Keller eingerichtet, hat man so etwas schon gesehen? So groß wie eine Reitschule. Da sind fünfzig Zimmer und Säle, und sogar die Diener haben Badezimmer. Da sind Ställe, Garagen, ein Bootshaus und ein Pavillon am See. Eine Küche so groß wie eine Kaserne, und alles aus weißen Kacheln!

Ihn aber selbst solltet ihr sehen, Schellenberg!“ fuhr der Schlosser fort und fettete sich den Schnauzbart mit den Fingern ein. „Wenn er in seinem Auto angefahren kommt, in einem Pelz, von oben bis unten, eine Bärenmütze auf dem Kopf. Und immer schöne Weiber hat er bei sich, und manchmal ist er schon am hellen Tag betrunken. Oh, man muß ihn nur gesehen haben, dann weiß man alles. Dieser Schellenberg hat in den letzten Jahren das Geld mit Scheffeln zusammengerafft. Niemand weiß, wie reich er ist! Und womit? Mit Holz und im Holzhandel. Er hat zehn Papierfabriken, ihr Leute. Es ist ja kein Kunststück bei den Hungerlöhnen, die er uns zahlt. Und die Regierung – sie stecken ja alle unter einer Decke – zahlt ihm noch zu, weil er die Arbeitslosen beschäftigt. So ist es. Häuser? Eine Stadt, Gärtnereien? Laßt euch nicht auslachen.“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Türe, und herein sah schüchtern und scheu das runzlige Gesicht einer alten Frau. Auf ihrem Kopftuch lagen einige Schneeflocken. „Bin ich hier richtig?“ sagte die alte Frau. „Ist das die Station Lehmann?“

„Hier bist du richtig,“ antwortete der Kellner.

„Immer herein, Großmutter!“ schrie der Schlächter. „Was willst du denn?“

„Ich komme hierher zur Arbeit. Ich soll euch die Küche führen.“

Die Männer blickten einander an. „Was sollst du?“ Dann brachen sie in lautes Gelächter aus. Und sie lachten so sehr, und ihre Bemerkungen waren so derb, daß der alten Frau die Tränen in die Augen traten. Sie drehte sich verlegen und verletzt in ihrem abgeschabten Mantel. „Ihr seid ein loses Volk!“ schrie sie und bewegte heftig die Arme. Am liebsten wäre sie wieder zur Türe hinaus.

Dann aber begann sie hastig zu plappern, und ihre runzligen Lippen schienen nicht mehr zur Ruhe kommen zu wollen. Sie erzählte ihre Lebensgeschichte und verlor sich in Einzelheiten, die niemand verstand. Sie war Witwe, ihr Mann, ein Schreiner, seit Jahren tot. Sie hatte ein kleines Haus besessen und einen kleinen Garten. Und sechs Kinder hatte sie großgezogen und vier Töchter ausgestattet. Aber durch den Krieg hatte sie alles verloren. Und nun war sie alt und mußte wieder arbeiten.

Die Männer sahen einander an, brummten verlegen und schämten sich ihrer derben Späße.

Der Schlächter Moritz aber hatte genug Lebensart und wußte, was sich gehört. Er sprang auf, ging der Alten entgegen und schüttelte ihr herzhaft die Hand. „Nun schön!“ rief er aus. „So bleibe bei uns, Großmutter! Hoffentlich kannst du gut kochen. Wir essen hier fein auf der Station. Wir werden dich neben den Ofen hinpacken, da hast du es warm. Komm, gib den Mantel her. So, und jetzt gib mir einen Kuß!“ Und wirklich wollte der Schlächter der alten Frau einen Kuß geben.

„Du bist ein loser Vogel!“ rief die Alte und stieß ihn zurück. Sie lachte, während die Tränen auf ihren runzligen Wangen noch nicht trocken waren. „Ei, was für ein loser Vogel ist er doch!“ und sie gab dem Schlächter eine kleine gutgemeinte Ohrfeige.

„Ah, da hast du es, Moritz!“ schrien die Männer. Die Bekanntschaft war geschlossen.

„Und das hier ist also deine Küche, siehst du!“

„Das ist die Küche?“ Die Alte lachte.

Ja, das sei die Küche. Ob sie ihr nicht vornehm genug sei? „Und die Bedienung, die wir haben, wie in einem erstklassigen Hotel. He, Henry, zeige der Großmutter, wie es bei uns hergeht.“

Henry, der Kellner, stand auf, klemmte ein schmutziges Handtuch unter den Arm und tat, als serviere er. Einen Teller auf der Hand balancierend, rannte er mit kurzen, schnellen, komischen Schritten von der Küche in die Mitte des Zimmers, wo er unsichtbaren, an einer Tafel sitzenden Gästen aufwartete. Er beugte sich vor, drehte die Platte auf den Fingern, damit der Gast bequem abheben konnte, richtete sich auf und schob sich neben den nächsten Gast. Sein Gesicht war von tödlichem Ernst. Zuweilen tat er, als mache er einem zweiten Kellner, vielleicht einem Pikkolo, Zeichen mit den Augen. Dann rannte er mit denselben komischen Schritten wieder in die Küche zurück.

Die Männer brüllten vor Lachen, und in der Tat, Henry spielte diese Szene mit unglaublicher Komik. Auch die Alte lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.

In diesem Augenblick ließ auch schon der Schlosser seine Kunst hören. Er ahmte einen ganzen Käfig voller Hühner nach, und die Alte glaubte wirklich eine Weile, daß in der Ecke Hühner seien.

„So also geht es bei euch zu!“ schrie sie.

„Jawohl, Großmutter, so und nicht anders!“ rief der Schlosser und gab ihr einen derben Schlag auf die Schulter. „Wir werden dich nicht fressen. Es wird dir gut bei uns gefallen!“

24

Den Männern, die Familie hatten, war es freigestellt, jeden Sonnabend zu ihren Angehörigen in die Stadt zu fahren. Am Montag kehrten sie zurück. Einzelne kamen nicht wieder. Der Arbeitsnachweis der Gesellschaft hatte sie in ihrem Beruf irgendwo untergebracht. Den Unverheirateten aber sollte erst nach einigen Wochen ein Urlaub gewährt werden. Es hing ganz davon ab, wie Lehmann mit ihnen zufrieden war. Georg hatte ihn schon am ersten Sonnabend um einen Urlaub gebeten.

„Nicht daran zu denken,“ antwortete Lehmann mit einem Lächeln. „In vier Wochen vielleicht.“

Nun, auch vier Wochen würden wohl vergehen.

Georg hatte sich im Walde rasch erholt. Am Anfang, da zitterte sein entkräfteter Körper unter den Anstrengungen der schweren Arbeit, und des Morgens, wenn der Lärm der Kameraden ihn weckte, war es ihm oft kaum möglich, sich vom Lager zu erheben. Er war in Schweiß gebadet, die Füße trugen ihn kaum. In der zweiten Woche aber fühlte er seine Kräfte langsam zurückkehren, und in der dritten Woche war es ihm, als ob er seit Jahren diese schwere Arbeit verrichtete. Er war kein Riese, wie Moritz, daran war nicht zu denken, aber immerhin, er stellte seinen Mann.

Sein Körper war abgehärtet, er erschauerte nicht mehr unter jedem Luftzug. Er fror auch nicht, als die scharfen Ostwinde einsetzten und in den Nächten das Wasser in den Furchen der Landstraße gefror. Reif bedeckte am Morgen den Boden und die Stämme der Bäume.

Nach dem Feierabend pflegte Georg noch eine Stunde zu wandern. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein und sich mit seinen Angelegenheiten in aller Stille zu beschäftigen.

Gewöhnlich ging er bis an den Rand des Waldes, der in einer Viertelstunde zu erreichen war. Hier stieß der Wald an eine sanft geneigte Heidefläche, die nur von dünnem Gestrüpp und einigen Birken bestanden war. Auch auf dieser Heide waren Arbeitskolonnen am Tage tätig. In der Ferne, ganz klein, schimmerte ein Licht, und dort hausten sie. Die Station hieß Glücksbrücke. Er hatte sie an einem Sonntag besucht.

Groß und funkelnd standen die Sterne über der stillen Heide. Wie ein Gespenst, scheu und ängstlich, schob sich der Mond aus dem Rauch des Horizonts, bald aber funkelte er herrisch hoch am Himmel und spiegelte sich ohne Teilnahme an den Geschicken dieser Erde im Wasser des Kanals, der in der Senkung die Heide durchquerte. Frei und ohne jedes Hindernis stürzte der Wind über die kahle riesige Fläche.

Hier war Georg ganz allein, ganz allein mit seinem Gram. Kein Mensch, kein Tier. Das rote glimmende Licht der Arbeiterbaracke am Rande der Heide war das einzige Zeichen der Nähe lebender Wesen. Zuweilen sauste und pfiff es in der Ferne: ein Eisenbahnzug irgendwo.

In der Stille, unter dem funkelnden Firmament, im Angesicht des kalt blendenden Mondes wanderte Georg dahin, seinen Gedanken hingegeben.

Seit er im Walde arbeitete, hatte er auch nicht eine Stunde Christine und ihr Schicksal vergessen. In den ersten Wochen hatte er versucht, die Erinnerung an sie aus seinem Herzen zu verdrängen. Hatte sie ihn nicht verlassen und betrogen? Aber die schwere Arbeit im Walde hatte ihn ruhiger gemacht. Es war ja nichts erwiesen, nichts wußte er, nichts.

Das Geschwätz eines Betrunkenen, das war alles.

Er hatte an Stobwasser geschrieben und ihn gebeten, sich beim Einwohneramt nach Christines Adresse zu erkundigen. (Erst hier im Walde war ihm eingefallen, daß es polizeiliche Meldestellen gibt.) Stobwasser indessen hatte geantwortet, daß er noch immer krank sei. Sobald er aufstehen könne, werde er Nachforschungen anstellen. Seit dieser Zeit hatte er nichts mehr gehört.

Nun, in vier Tagen sollte er einen zweitägigen Urlaub nach Berlin bekommen. Diese Tage wollte er gut verwenden. Dazu hatte er etwas Geld in der Tasche.

„Sonderbar,“ sagte er zu sich, während er über die stille verlassene Heide wanderte, „eigentlich liebte ich dieses Mädchen anfangs gar nicht so sehr. Ich hatte mich immer nach einer sanften stillen Frau gesehnt, nicht wahr? Und Christine, sie war leidenschaftlich, immer erregt, Tränen und Raserei. Sie hatte mehr Temperament als zehn Mädchen zusammengenommen. Und es schmeichelte meiner Eitelkeit, daß dieses leidenschaftliche, von vielen begehrte und umworbene Mädchen – wo sie auch ging, wandten sich alle Männer nach ihr – sich in mich verliebte. Wie sie flehte, wie sie bettelte, wie demütig sie war. Wie sie um mich warb! Und ich – ich nahm ihre Liebe als etwas Selbstverständliches hin, ihre Leidenschaft, ihre Briefe, alles, als müsse es so sein.“ Er durchlebte in der Erinnerung alle Phasen ihrer Liebelei – denn mehr war es, in den ersten Monaten wenigstens, nicht gewesen. Wie sie ihn mit ihrer sinnlosen Eifersucht, die keine Grenzen kannte, quälte und folterte. Diese ewigen Szenen! Sie lauerte ihm auf, bewachte ihn, wachte über jeden seiner Blicke. Sie war selbst eifersüchtig auf seine Freunde, seine Arbeit, seine Pläne. Katschinskys Freundin, der schönen Jenny Florian, durfte er nicht einmal die Hand geben. Welche Qual! Sie drohte sich ins Wasser zu stürzen, sie drohte ihn zu erschießen. Hundertmal hatte er beabsichtigt, das Verhältnis zu lösen, aus Berlin zu flüchten, wenn es sein mußte ...

„Und nun?“

„Aber wie sonderbar ist der Mensch doch!“ sagte Georg und blieb inmitten der Einsamkeit der Heide stehen. „Seit Christine in ihrer Raserei auf mich geschossen hat, seit diesem Augenblick liebe ich sie über alle Maßen.“


In den letzten Tagen war Lehmann damit beschäftigt, die Umrisse von Buchstaben mit weißer Ölfarbe auf die Schuppenwand zu zeichnen. Seine Pfeife qualmte, und sein junges Gesicht mit den roten Knabenwangen strahlte vergnügt, während er den Pinsel führte. Eines Mittags, als die Männer von der Arbeit zurückkehrten, war die Aufschrift, die in großen, glänzend weißen Lettern die ganze Schuppenwand bedeckte, fertig. Sie lautete:

Gesellschaft Neu-Deutschland!

Tod dem Hunger!

Tod der Krankheit!

Es lebe die Kameradschaft!

Dies war der Tag, an dem Georg seinen Urlaub antreten sollte.

„Leben Sie wohl, Weidenbach!“ rief Lehmann, der seine Malerei wohlgefällig betrachtete. „Und vergessen Sie nicht, wiederzukommen!“

„Ich komme bestimmt zurück!“ erwiderte Georg. Rasch ging er dahin. Die Sonne blinkte, obwohl einzelne Schneekristalle in dem kalten Wind durch die Luft trieben.

25

Die Axt klang im Walde. Die Sägen kreischten, und die elektrisch angetriebenen ambulanten Kreissägen sangen mit einem schrillen Ton vom Grauen des Tages bis zum Einbruch der Nacht. Achtung! Mit krachendem Gesplitter fielen die Bäume, einer nach dem andern. Schon kletterten Leute mit Axt und Säge in den Kronen der gestürzten Bäume, um die Äste zu entfernen. Über die ganze Waldfläche zerstreut lagen die Leichen der gefällten Föhren und Fichten. Es roch nach feuchten Spänen und Harz.

Lehmann, der Einarmige, hatte seine Schar prachtvoll in der Hand und trieb zur Arbeit. Überall war er. Überall war auch Georg Weidenbach, der zu einer Art Unterführer aufgerückt war. Er dirigierte, schrie, gab Befehle, nahm selbst die Axt zur Hand. Sein Gesicht war rot von der Arbeit und vom Frost.

Schon lichtete sich der Wald, und die Heidefläche, die an ihn grenzte, war bereits von den Baracken aus sichtbar. An klaren Tagen sah man auf der Heide kleinere und größere Arbeitsgruppen, bald hier, bald dort, an der Arbeit. Dann und wann ertönte ein dumpfer Knall: sie sprengten die Stubben der Bäume, die vereinsamt auf der Heide gestanden. Meist aber war die Heide in Dunst und Nebel eingehüllt, und man sah nichts.

Die Zahl der Baracken hatte sich vermehrt. Es waren noch zwei große Schuppen dazugekommen, in denen die Belegschaft, über hundert Köpfe stark, hauste. Ein wenig abseits stand eine mächtige Baracke mit einer Reihe großer Fenster, die, sobald es dunkel wurde, ihr Licht wie große Scheinwerfer in die Finsternis warfen. Auch hier kreischten und sangen die Sägen. Eine Schar von Tischlern und Zimmerleuten war hier an der Arbeit, und Martin, der Zimmermann, der in den ersten Wochen bleich und elend in der Baracke lag, war hier Meister. Zwei große Schuppen waren noch geplant. Glückshorst sollte eine der großen Tischlereien der Gesellschaft werden. Sie machten da drinnen Fenster und Türen, Stühle und Bänke, Tische, primitive Pritschen zum Schlafen, immer die gleichen Maße und Größen.

In dem kleinen alten Schuppen, in dem die Holzfäller anfangs gehaust hatten, befand sich heute nur noch die Küche, wo Mutter Karsten mit den Töpfen rasselte. Bei ihr hauste noch eine stämmige Bäuerin, die aus dem Dorf zu ihr gekommen war. Dazu hatte Mutter Karsten Gehilfen, die sie schalt und anspornte. Man konnte nie flink genug bei ihr sein, ohne jede Pause ging ihr rasches Mundwerk.

Neben der Küche hatte sich Lehmann eingerichtet. Er hatte dort eine Pritsche mit einem Strohsack und einer Pferdedecke, einen Tisch und einen Stuhl, wie sie in der Tischlerei hergestellt wurden. Auf dem Tisch stand das Telephon, das vom Morgen bis zum Abend klingelte. Das Bureau war voller Pläne, Rollen und Bücher. In all der Unordnung saß Lehmann, die Pfeife im Munde, und lächelte und wühlte in den Papieren. Oh, er war zufrieden. Die Station Glückshorst, seine Station, war tüchtig in Schwung gekommen. Die Zentrale hatte ihn beglückwünscht und ihm eine große Karriere prophezeit. Und darüber freute sich Lehmann. Er war früher Offizier gewesen, lange ohne Brot und Stellung und hatte eine Mutter und zwei Schwestern zu erhalten. Für sich selbst brauchte er nichts. Ein Paket billigen Tabaks, das war alles.

An der Türe seines Bureaus schlug Lehmann jeden Morgen die Vakanzen der Berliner Arbeitsnachweise an und musterte dann die Leute aus, die sich für die Vakanzen meldeten. „Du wirst noch vierzehn Tage hierbleiben, du bist erst gekommen. Wir wollen diesen Freund da hinschicken. Er hat Frau und Kind in Berlin sitzen. Und dich, Moritz, kann ich hier nicht entbehren, dich brauche ich hier. Mit dir habe ich ganz besondere Dinge vor, warte nur, bald sollst du es hören.“

Moritz stand mit breiten Schultern und wölbte die Brust und wurde rot über das Lob. Täglich gingen Leute nach Berlin zurück, und andere Arbeitslose kamen. Manchmal waren es zehn, manchmal zwanzig, manchmal mehr.

Die Neuankömmlinge mußte Georg in die einzelnen Kolonnen einreihen. Es gab leichtere und schwerere Arbeiten, Arbeiten, die jeder Dummkopf leisten konnte, und Arbeiten, die etwas Verstand verlangten. Georg hatte es gelernt und wußte mit einem raschen Blick die Fähigkeiten der einzelnen Leute einzuschätzen. Die Musterung dauerte keine fünf Minuten, und schon ging es an die Arbeit.

Georg war – als er den zweitägigen Urlaub erhielt – in Berlin gewesen. Aber seine Reise war völlig ergebnislos verlaufen. Bei den polizeilichen Meldestellen wußte man nichts von Christine. Er war auch nochmals in dem düsteren Hause bei dem Schlosser Rusch gewesen, da er hoffte, der Schlosser könne ihm, im nüchternen Zustande, nähere Auskunft geben. Und wenn nicht er, so vielleicht irgendein Hausbewohner. Alles vergeblich. Die Stunden vergingen schnell. Sein Urlaub war nur kurz, und es reichte kaum noch zu einem kurzen Besuch bei Stobwasser, den er immer noch hustend und frierend in seiner kalten Werkstatt vorfand.

Georg war schon völlig ohne Hoffnung, als er plötzlich einen Brief von Stobwasser erhielt. Seht an, das erste Wort, das Georg in die Augen sprang, war der Name Christines. So also war es: Katschinsky hatte es Stobwasser berichtet. Die schöne Jenny Florian, die Schauspielerin, jetzt bei der Odysseus-Film-Gesellschaft als Diva engagiert, hatte vor mehreren Wochen eine Nachricht von Christine aus Berlin erhalten. Unglücklicherweise aber war die schöne Jenny auf Reisen, sie filmte in Italien. Erst in einigen Wochen wurde sie zurückerwartet.

So hieß es, sich gedulden.

Eine Hoffnung! Ein Strahl von Hoffnung! Georg stürzte sich in die Arbeit, damit die Tage vergingen. Plötzlich schlug sein Herz wieder freier.

26

Der Winter war bis jetzt ziemlich mild gewesen. Reif, einige Frostnächte unter dem blitzenden Mond, das war alles. Nun aber war in der Nacht heftiger Schneefall eingetreten. Weiß und weich lag die Landschaft, völlig verändert. Es schneite auch am Tage, nicht besonders heftig, aber gegen Abend fiel der Schnee in ganzen Tonnen vom Himmel herunter. Am Morgen waren die Baracken fast einen Meter tief in den Schnee gesunken. Auf den Bäumen hingen ganze Fahnen von Schnee, und die Sonne glitzerte.

Man mußte Wege ausgraben. Die Tischler und Zimmerleute forderten eine besondere Kolonne an, da sie bis zum Bauch im Schnee zu ihrer Werkstatt waten mußten.

Wie wird es mit der Post und den Zeitungen und den Briefen? Die Radfahrer können unmöglich durchkommen. Aber siehe da, schon kamen die Boten an. Es waren jetzt sechs fröhliche junge Burschen, die den Dienst mit Begeisterung versahen. Sie kamen auf Skiern! Bestaunt und bewundert. Viele der Arbeiter, die diesen eifrigen jungen Leuten, die freiwillig Dienst taten, nicht grün waren – sie hielten sie für Mitglieder reaktionärer Verbände –, sahen sie von diesem Tage an mit anderen Augen an. Man denke: auf Skiern waren sie gekommen. Solche Teufelskerle!

Immer noch schneite es. Man mußte den Schnee von den Dächern fegen, sie bogen sich unter der Last. Aber die Arbeit erfrischte und ermunterte. So sonderbar es war, man sah in diesen Tagen nur heitere Gesichter.

Nun fing der Wind an zu fegen, und das war gut, denn er fegte die Straße frei und wehte den Schnee hinunter in den Kanal.

„Ein wahres Glück, Weidenbach,“ sagte Lehmann, „ist dieser Wind, denn die Stubben müssen heraus. Wir müssen die Sprenglöcher bohren.“

Nun knallte es wochenlang im Walde. Die Stubben flogen in die Luft.

Auch dieses Knallen, diese Stimme der Arbeit belebte und ermunterte. Laut und fröhlich ging es bei den Mahlzeiten her. Nur jene, die erst vor wenigen Tagen aus Berlin gekommen waren, ausgehungert, verstört, müde, verhielten sich noch still und stumpf.

An den Abenden aber herrschte in den Baracken starker Tumult. In der Tat, in keiner der Kneipen der Berliner Vorstädte, wo am Abend müde und verbrauchte Menschen verkehrten, herrschte eine solch ausgelassene Fröhlichkeit.

Die Spielkarten klatschten. Neckereien, allerhand Unfug, Gelächter.

Noch immer stand der Schlächter-Moritz im Mittelpunkt der Gesellschaft. Jeden Abend gab es ein lustiges Geplänkel zwischen ihm und Mutter Karsten. Moritz faßte die Alte unterm Kinn, verdrehte verliebt die Augen und sagte: „Nun, Großmutter, wann werden wir endlich Hochzeit feiern?“

„Oh, du loses Maul,“ erwiderte die Alte, „eine alte Frau zu verspotten, du Schlingel! Siehst du nicht meine Runzeln und daß ich keine Zähne mehr habe. – Hier hast du etwas!“ Und Moritz erhielt eine schallende Ohrfeige.

Aber die Bäuerin, die aus dem Dorfe gekommen war und Mutter Karsten beistand, seht an! Sie war eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, derb, aber noch gut aussehend. Mit ihren vorstehenden glänzenden Augen folgte sie jeder Bewegung des Schlächters, und Moritz begann, ihr Augen zu machen. Schon stieß man sich an und machte Scherze.

An den Sonntagen sah man ihn häufig in der Küche sitzen, wo er die Kessel fegte. Die besten Bissen wurden ihm zugesteckt.

Ein kleiner, bleicher Geselle mit wachsgelbem Gesicht war vor kurzem in die Baracke gekommen. Er war von Beruf Schneider und spielte vorzüglich die Mundharmonika. Er spielte, und Henry Graf, der Kellner, begann seinen Niggertanz zu tanzen. Alle Wetter! Bravo! Er rückte einen kleinen steifen Hut aufs Ohr, schwang eine Gerte als Stöckchen, und wie schnell gingen seine Füße, man konnte sie kaum verfolgen. Dann begann er zu stampfen, die Absätze zu schleudern, und nun sang er in einer Sprache, die niemand kannte. Manchmal sah es aus, als falle er seitlich um, aber er tänzelte graziös dahin, das Hütchen kokett schwingend. Diese Nummer war stets ein großer Erfolg. Der größte Erfolg aber in den letzten vierzehn Tagen war der Boxkampf, den Moritz mit einem neuangekommenen hageren, düsteren jungen Mann auskämpfte. Dieser Hagere behauptete ein Boxer zu sein. Er renommierte und prahlte, daß er schon da und dort öffentlich im Ring erschienen sei. Niemand glaubte es, auch Moritz nicht. Ohne jeden Zweifel war Moritz der stärkste Mann im Lager, und er empfand es als einen Angriff auf seine Stellung, wenn der Hagere so unverschämt renommierte.

„Ein Boxer willst du sein? Du siehst nicht aus, als ob du weit kämest.“

„Nun gut, versuche es. Ich boxe auch mit dir.“

„Ah, ein Boxkampf!“

Alle versammelten sich im Kreise. Eine solche Sensation war noch nie dagewesen. Der Hagere zog den Rock aus, und Moritz schlüpfte aus seiner gestrickten Wollweste. Und da alles seine Ordnung haben mußte, wurde Georg zum Schiedsrichter erwählt.

„Über wieviel Runden soll der Kampf gehen?“

Der Hagere wackelte mit dem Knie. „Über zwanzig Runden, je drei Minuten.“ Alle Teufel!

Moritz aber übertraf ihn. Er wölbte die Brust und warf nach allen Seiten Blicke. „Wir boxen, bis einer ausgezählt wird,“ sagte er.

„Bravo, Moritz!“ Das war mehr, als man erwarten konnte. Ungeheure Erregung.

Es muß gesagt werden, daß Moritz nach fünf Runden, elend zusammengeschlagen, aufgeben mußte. Die Bäuerin aus dem Dorfe aber war dunkelrot und warf dem Hageren wütende Blicke zu.

Häufig prallten die Meinungen so heftig aufeinander, daß die Baracke in Wahrheit zu toben begann. Politische Gespräche waren in der Baracke verfemt. Lehmann entließ zwei junge Burschen, die offenbar nur in der Absicht in die Baracke gekommen waren, um Agitation zu treiben.

„Die Gesellschaft Neu-Deutschland kennt keine Parteien und keine Konfessionen, und wer in dieser Beziehung nicht pariert, fliegt augenblicklich hinaus. Ich habe strengsten Befehl und verstehe in dieser Beziehung keinen Spaß!“

An jedem zweiten Sonntag aber kam das Filmauto, immer mit großem Jubel empfangen. Drei Stunden lang wurden Filme vorgeführt, und die Männer, die einsam im Walde hausten, konnten sich nicht sattsehen. Lustspiele, Trauerspiele, alles durcheinander. Die Filme flimmerten schon stark und waren etwas zerschlissen, aber das war den Zuschauern einerlei. Den Schluß bildeten immer Filme, die die Stätten der Arbeit zeigten: Bergwerke mit sausenden Rädern und riesigen Fördermaschinen, Werften, wo die Arbeiter in den Eisengerüsten kletterten, Maschinenhallen, Gießereien, und am Schluß erschienen stets Filme der Gesellschaft Neu-Deutschland. Siedlungen, kaum begonnen, Siedlungen, in denen die Häuser emporwuchsen, Gärten, Siedlungen wimmelnd von Menschen, neue Werkstätten, kleine, völlig neue Städte ...

27

Es ist nur natürlich, daß sich alle möglichen Personen für das Lager interessierten.

Eines Tages kamen zwei merkwürdig aussehende Männer in einem alten Auto an. Sie gingen zu Lehmann ins Bureau und kamen nach einer Weile wieder heraus, um die ganze Arbeitsstätte eingehend zu besichtigen. Sie gingen in die Tischlerwerkstätte und erschienen wieder. Sie besuchten die Kolonne, die die Bohrlöcher bohrte, und schienen sich für alles zu interessieren, auch für jeden einzelnen Mann, denn sie sahen jedem mit raschem Blick ins Gesicht. Ganz plötzlich standen sie neben Henry Graf, dem Kellner.

Einer der Männer sagte: „Herr Bollmann.“

Sofort drehte sich Henry Graf herum. Ah, seht an, er hieß gar nicht Henry Graf. Und weshalb wurde der Kellner so bleich?

„Da sind Sie ja wieder, Bollmann,“ sagte der zweite der Männer. „Kommen Sie mit uns!“

Henry Graf machte eine verzweifelte Gebärde. Er war weiß geworden wie der Schnee im Walde. „Nun wollte ich ja arbeiten!“ schrie er. „Seht an!“

Der eine der Herren aber sagte: „Noch zwei Jahre, dann sind Sie frei.“

Es war also alles klar, man wollte den Kellner mitnehmen. Die Kameraden strömten herbei und umringten die Kommissare und den Verhafteten.

Moritz legte die Hand auf die Schulter des einen Kommissars. „Lassen Sie ihn doch hier, Herr Kommissar, er ist doch ein wirklich guter Kamerad.“

Auch die übrigen Männer verlegten sich aufs Betteln. Der Schlosser aber nahm ein paar Zigaretten aus der Tasche und wollte sie einem der Herren zustecken.

„Machen Sie keine Geschichten,“ flüsterte er dem Kommissar zu. „Drücken Sie ein Auge zu, Herr Kommissar. Ist denn wirklich nichts zu machen?“

Nein, es war wirklich nichts zu machen. Ein Trupp gab dem Kellner bis zum Auto das Geleit.

„Nun sieh zu, daß du bald wiederkommst! Beiß die Zähne zusammen. Es ist ja nicht so schlimm!“

„Ja, ich komme bestimmt wieder!“ Und sie sahen dem Auto nach, bis es verschwand.

Was mochte Henry Graf ausgefressen haben? Und noch zwei Jahre, sagte der Kommissar? War er ausgerückt? Welch ein Pech, daß sie ihn gefunden hatten!

An diesem Abend war es verhältnismäßig ruhig in der Baracke. Immer wieder sprach man von den Kommissaren und dem Auto und Henry Graf, der eigentlich Bollmann hieß.

„Und wie töricht, hast du gesehen, er drehte sich gleich um, als sie Bollmann zu ihm sagten. Er hätte einfach davonlaufen sollen.“

„Konnte er denn ahnen, daß es Polizisten waren? Jeder Mensch hielt sie für Bauleute. Natürlich konnte Henry das nicht ahnen. Nein, solch ein Pech!“

Und alle sprachen davon, wie Henry tanzte, mit dem Stöckchen und dem kleinen steifen Hut, wie man glaubte, daß er umfalle, wie er dicht am Boden kauerte und das Hütchen über dem Kopfe schwang und einmal den linken und einmal den rechten Absatz herausschleuderte und dazu in einer fremden Sprache sang. Nein, nein, war das möglich? Und nun also saß er im Kittchen.

Der Schneider wollte ein Konzert auf seiner Mundharmonika geben. Er kam aber nicht weit. „Hör’ auf, hör’ auf!“ klang es von allen Seiten.

So war es also nichts mit dem Konzert. Man spielte verdrießlich Karten, um die paar Abendstunden totzuschlagen, und wickelte sich frühzeitig in die Decken.

Es passierten noch andere Dinge im Lager Glückshorst. Da war zum Beispiel dieser kleine alte Maurer. Man erinnert sich, er trug einen Hut, einen großen Schlapphut mit den Resten einer Pleureuse daran. Er war alt und lief den andern nur in den Weg und störte bei der Arbeit, und wenn er ging, so wackelte sein hängender Hosenboden. Dieser alte Maurer, der eines Abends von seinem Gärtchen erzählt hatte und zum Ergötzen der Kameraden den Versuch machte, die Stimme einer Nachtigall nachzuahmen, er war eines Abends verschwunden. Man bemerkte es nicht. Erst am andern Morgen fiel es seinem Nachbar auf, daß das alte Männchen fehlte. Nun gab es im Lager natürlich dann und wann Durchbrenner, die sich mit der Einsamkeit im Walde und mit den Arbeitsbedingungen der Gesellschaft nicht aussöhnen konnten. Aber er, der Alte, ganz unmöglich! Viele Wochen war er schon da.

Man suchte also, und man sah Fußstapfen, Schritte, die in den Wald hineinführten, immer tiefer. Und dort also, an jenem Baum, da hing er. Der Alte hatte sich erhängt.

Am Baum war ein Zettel befestigt, worauf stand: „Alles, was ich erarbeitet und erspart hatte, habe ich verloren. Ich bin zu alt, um von vorn anzufangen. Betet für meine Seele!“

Es gab eine richtige Beerdigung im Walde. Zuerst wollte man ihn im Friedhof des Dorfes begraben. Aber nach einer längeren Debatte am Abend mehrten sich die Stimmen, die für eine Bestattung im Walde waren.

„Er wird lieber bei uns sein wollen als bei den dummen Bauern im Friedhofe. Hier außen hat er seine Ruhe, und vielleicht kommt eine Nachtigall zu ihm.“

„Wie soll eine Nachtigall hierherkommen?“ fragte der Schlosser.

„Du hast noch immer nicht verstanden!“ schrie ihn der Schlächter-Moritz an. „Weshalb sollen keine Nachtigallen hierherkommen, wenn es doch sogar in Berlin Nachtigallen gibt.“

„Gewiß hat er recht. Auch hierher werden Nachtigallen kommen,“ erklärte Georg.

So kam also die Stunde der Beerdigung heran. Punkt zwölf Uhr kommandierte Lehmann: „Sammeln zum Leichenbegängnis!“

Dann trotteten sie in den Wald hinein. Lehmann hielt sogar eine richtige Rede, wobei er heftig den einen Arm schwang. Alle fanden diese Rede sehr schön. Er sprach davon, daß der tote Kamerad einer der vielen Tausende sei, die ihrem Leben ein Ende gemacht hätten, weil sie es einfach nicht mehr ertrugen. Während die Betrüger und Spekulanten in die Höhe kamen, hatte man ehrwürdige Leute wie unsern toten Kameraden einfach in den Dreck hinabsinken lassen, ohne auch nur eine Hand zu rühren. Erst die Gesellschaft „Neu-Deutschland“ schaffe Wandlung. Sie sei spät gekommen, aber doch nicht zu spät. „Unser toter Kamerad“, schloß Lehmann, „ist ebensogut ein Opfer des Krieges und der Revolution wie irgendein General oder Minister. Über seinem Grabe werden glücklichere Menschen wandeln, als er einer war.“

Dann trat er vom Grabe weg, zündete sich die Pfeife an, und die Feierlichkeit war beendet.

Die Rede hatte gut gefallen und wurde am Abend lebhaft diskutiert. Besonders die Stelle mit dem Minister und General fand Anklang, war der Alte doch nur ein armer Maurer gewesen. Sie fanden, daß Lehmann, obwohl er früher Offizier war, ein umgänglicher Mann sei, mit dem sich auskommen ließ.

So schnell, wie der Schnee gekommen war, so schnell verschwand er. Ein warmer Wind kam vom Süden, und es tropfte und rieselte von den Bäumen. In ein paar Tagen war vom Schnee nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien, und zum ersten Male zog der Schlächter-Moritz seine braune Strickjacke aus, er schwitzte.

Die Sonne und der warme Wind hatten rasch den Frost aus dem Boden vertrieben, und die Erde trank das Schneewasser gierig in sich.

Kaum war der Boden einigermaßen trocken, so begann es draußen auf der Heide zu knattern und zu prasseln, als ob Flugmaschinen über die Erde surrten. Eine Kolonne von Traktoren hatte die Arbeit aufgenommen. Tag für Tag sah man sie quer über die Heidefläche ziehen. Erst schleppten sie mächtige Pflüge, dann schleppten sie mächtige Bodenfräsen, die die Erde zertrümmerten und zerschnitten, dann schleppten sie Düngerstreumaschinen, dann Eggen und Walzen. Wochenlang dauerte es. Immer sah man diese Kolonnen wie merkwürdige Raupen über die Heide kriechen.

„Immer vorwärts!“ schrie Lehmann. „Es wird gar nicht so lange dauern, dann haben wir sie hier!“

Noch ein anderes Ereignis fiel in diese Zeit, das in den Baracken eifrig besprochen wurde.

Eines Tages kam in schneller Fahrt von Glücksbrücke herüber ein Auto, das in einem ganz auffallenden Tempo dahinflog und mit einem Ruck stehenblieb. Bisher hatte man so ein Auto im Lager noch nicht gesehen, denn die Wagen der Gesellschaft, die gelegentlich kamen, waren ausrangierte alte Kasten.

Aus dem Auto stiegen vier Herren, darunter ein hochgewachsener, breitschultriger Mann in einem alten Regenmantel und ein etwas schiefgewachsener blaubleicher Herr in einem langen Pelz.

Kaum hatte Lehmann die Herren erblickt, als er in großer Eile auf sie zuging. Er nahm die Pfeife aus dem Munde und verbeugte sich! Das war bisher noch nicht beobachtet worden, daß Lehmann so große Höflichkeit zeigte. Er verbeugte sich zuerst vor dem hochgewachsenen Herrn, dann vor dem kleinen Schiefgewachsenen mit dem blaubleichen Gesicht. Man drückte sich gegenseitig die Hand, und schon kam die Gruppe über das Arbeitsfeld geschritten. Lehmann erklärte dem hochgewachsenen Herrn mit weitausholenden Armbewegungen dies und jenes – er schien wirklich aufgeregt zu sein. Die Herren besuchten die Baracken, die Küche, die Tischlerei besahen sie, alles. Sie sprachen auch mit dem und jenem, der gerade in der Nähe war, und blieben hierauf noch eine halbe Stunde in Lehmanns Bureau. Dann stiegen sie wieder in den Wagen, und mit einem Ruck fuhr das Auto an und jagte die Landstraße hinunter.

„Ei der Tausend, das waren gewiß ganz besondere Leute! Waren es Direktoren der Gesellschaft? Und dieser verwachsene, bleiche, alte Mann, sah er nicht aus, als sei er eben aus dem Sarge gestiegen? Und dieser Große mit dem braunen Gesicht!“

„Wer sind die Herren gewesen?“

„Das war der Chef,“ erwiderte Lehmann, der noch ganz erregt war und eifrig die Pfeife paffte.

„Wer war der große Herr?“ fragte Georg, den das ruhige und klare Gesicht interessiert hatte.

„Das war Schellenberg,“ antwortete Lehmann. „Und der kleine Alte war der Geheimrat Augsburger, ein früherer Bankier, der der Gesellschaft sein ganzes Vermögen vermacht hat. Er leitet jetzt den finanziellen Teil.“

„Wie stehst du da?“ schrie der Schlächter-Moritz den krummbeinigen Schlosser an. „Stundenlang hast du damit geprahlt, daß du bei Schellenberg gearbeitet hast, ein halbes Jahr lang! Und nun war dieser Schellenberg hier, und du hast ihn nicht erkannt.“

Der Schlosser schwankte auf seinen krummen Beinen, schob die Mütze ins Gesicht und kratzte sich hinter dem Ohr. „Es war nicht der Schellenberg, bei dem ich arbeitete,“ stotterte er, denn, wie gesagt, er hatte sich aufs tiefste blamiert und stand als ein elender Renommist da. „Er kam mir bekannt vor. Es war Schellenberg, und es war doch nicht Schellenberg.“

„Unterstehe dich nicht, wieder mit deinen Geschichten zu prahlen,“ drohte Moritz mit seiner großen Faust. „Hörst du? Es ist eine Schande, und was hat er uns alles vorgeschwindelt!“

Zweites Buch

1

Im Auktionssaal von Duval & Co. in der Potsdamer Straße wurde die berühmte Sammlung des Barons Flottwell versteigert. Diese Versteigerung war ein gesellschaftliches Ereignis für Berlin. Baron Flottwell, früherer Königlicher Zeremonienmeister, einst sagenhaft reich, hatte in den letzten Jahren sein Vermögen bis auf den letzten Pfennig verloren, so daß sein ganzer Besitz schließlich unter den Hammer kam. Zugleich mit den Herrlichkeiten Flottwells wurden Antiquitäten, Möbel, Bronzen, Porzellane, Schmuckgegenstände aus dem Besitz verschiedener Persönlichkeiten, die zumeist der verarmten Aristokratie angehörten, ausgeboten.

Der Saal war überfüllt von Menschen. Die wohlbekannten Profile einiger Museumsdirektoren, die bekannten Gesichter von Kunsthändlern, Maklern, ganz wie vor dem Kriege. Das Publikum aber hatte sich vollkommen verändert. Viele Fettwänste drängten sich in den Reihen, mit mächtigen Glatzen, breiten Rücken und gepolsterten Hüften, völlig neue Gesichter, die niemand kannte. Viele Damen in kostbaren Pelzen, deren Urteil aber nur wenig Verständnis zeigte. Drei fabelhafte Nerzpelze waren anwesend, darunter ein Pelz, der früher einer Prinzessin gehörte.

Die Herrlichkeiten, die den Raum füllten und in den Vitrinen glitzerten, verwirrten die Sinne. Die Summen und Unsummen, die durch den Saal schwirrten, steigerten die Erregung zum Fieber.

In der ersten Seitenreihe saß ein ältlicher vertrockneter Agent, der alle Dinge von Wert und erlesener Schönheit an sich riß. Er trug eine graugrüne schäbige Perücke über den gierigen Raubvogelaugen und kämpfte, das Gesicht bleich und naß vor Erregung, mit knarrender, trockener Stimme gegen alle diese phantastischen Summen. Als ein Manet, ein herrliches kleines Stück des Meisters, ausgeboten wurde, entstand zwischen ihm und einem bekannten Museumsdirektor ein erbittertes Duell. Andere Liebhaber und Sammler waren längst zurückgeblieben, nur die beiden kämpften noch. Der kleine Makler mit der Perücke trug den Sieg davon, und der Museumsdirektor verließ bleich und tödlich gekränkt den Saal. Mit der gleichen Heftigkeit kämpfte der Makler mit der Perücke um das alte Familiensilber des Barons Flottwell. Er schlug sich hier mit einigen Händlern und einer Schar von Specknacken wie ein Rasender – seine Stimme aber blieb gleichmäßig quäkend, trocken und unangenehm. Auch hier blieb er Sieger. Dieser Kampf war viel erregter als der Kampf um das Gemälde, denn das Tafelsilber Flottwells stand wie der Silberschatz eines Domes auf dem Auktionstisch aufgebaut. Die Damen in den Pelzen erhoben sich erregt von den Sitzen, ihre Augen funkelten, nie hatten sie so herrliches Silber gesehen. Der Kampf um das Silber wurde dramatisch. Mit Genugtuung sah man, daß ein Specknacken nach dem andern niedergekämpft wurde. Die Frauen gönnten niemandem diesen herrlichen Schatz. Ein Aristokrat, ein früherer bekannter Herrenreiter, kämpfte noch eine Weile um den Flottwellschen Schatz. Ihm hätte man ihn vielleicht gegönnt, aber auch ihm nicht. Weshalb denn? Schließlich war man sogar befriedigt, als der frühere Herrenreiter sich geschlagen geben mußte.

Der siegreiche Makler rückte sich die Perücke auf dem Kopfe zurecht und wischte sich mit einem nicht ganz sauberen Taschentuch den Schweiß vom Gesicht.

Welche Macht war hier auf dem Kampfplatz, die alles an sich riß? Zuweilen trieb der Makler mit der Perücke ein Objekt bis zu fabelhafter Höhe empor, um plötzlich abzuspringen. Aber das Silber? Welch eine phantastische Summe! Wer soll es haben? Ein Unbekannter?

Ein fetter Rücken flüsterte in das knorplige Ohr seines Nachbarn: „Es ist Schellenberg, was sagte ich Ihnen! Sehen Sie, dort steht er, jener große Herr, der sich Notizen in den Katalog macht.“

„Unmöglich!“

„Weshalb unmöglich? Ich sagte Ihnen ja –“

Wenzel Schellenberg folgte der Auktion mit aufmerksamer, gesammelter Miene und einem leisen gutgelaunten Lächeln. Nur zuweilen weiteten sich seine Augen, wie die eines Spielers, der einen hohen Einsatz wagt.

Einige Reihen vor ihm stand gegen die Wand gelehnt Herr von Stolpe, jener kleine Leutnant mit den rosigen Kinderwangen, der vor etwa drei Jahren den Waldverkauf vermittelt hatte. Er war anscheinend eifrig in den Katalog vertieft, und nur, wenn die Zahlen gespenstisch in die Höhe kletterten, streifte er mit einem unauffälligen Blick Wenzels Gesicht. Rollte Schellenberg den Katalog zusammen, so strich sich Stolpe unauffällig übers Haar, und in dem gleichen Augenblick sprang der Makler mit der grauen Perücke ab und überließ den andern das Schlachtfeld.

Nun ging es um die Louis-XVI.-Garnitur. Wiederum begannen die Zahlen wie Raketen in die Höhe zu schießen. Wiederum schien ein rasender Kampf zwischen dem Agenten mit der Perücke und einer Schar von Händlern bevorzustehen. Die Zahlen schossen derartig in die Höhe, daß der Saal unruhig wurde und die Frauen sich wiederum von den Sitzen erhoben. Stolpe wurde nervös. Er blickte auf Schellenberg. Aber Wenzel schien der Auktion gar nicht zu folgen. Er stand da und blickte zwischen den Köpfen hindurch, auf irgend jemand. Plötzlich wandte er zerstreut den Kopf, blickte in den Katalog, hörte die quäkende, trockene Stimme des Maklers und rollte den Katalog zusammen. Aber es war zu spät.

An den nächsten drei Objekten war Schellenberg nicht interessiert. Er blickte wieder zwischen den Kopfreihen hindurch: Es war hier auf der Auktion der Sammlung Flottwells, wo Schellenberg Jenny Florian wiedersah! Vor etwa drei Wochen hatte sie ihm Stolpe flüchtig vorgestellt. Er erkannte sie sofort wieder, an ihrem aschblonden Haar, das sie weich und schlicht in einem bescheidenen lockeren Knoten im Nacken trug. Ihr Profil, das er nun ruhig prüfen konnte, war klassisch schön. Eine gewölbte ruhige Stirne, darunter ein strahlendes, forschendes, klares Auge, das wie Perlmutter schimmerte. Das Gesicht, fein, träumerisch, in der Tat, Jenny Florian galt nicht umsonst als eine der schönsten Frauen Berlins. Nun fühlte sie den Blick und wurde unruhig.

„Wer war diese blonde Dame?“, hatte Wenzel damals Stolpe gefragt.

„Jenny Florian! Sie ist Schauspielerin, sie ist Tänzerin, man sagt, daß sie sehr gut modelliert und zeichnet. Sie singt auch.“

„Sie hat viele Talente. Alle Wetter!“ Wenzel lachte.

2

Während einer Pause sah er Jenny Florian mit Stolpe und noch einem jungen Herrn, den er schon irgendwo flüchtig kennengelernt hatte, auf der Treppe plaudern. Er trat näher und machte eine kurze, knappe, etwas trockene Verbeugung. „Darf ich Ihnen guten Tag sagen, Fräulein Florian?“

Jenny errötete. Ihr klarer Blick wurde dunkler, und sie ließ den Kopf, wie sie es stets tat, wenn sie verlegen wurde, etwas auf die linke zarte Schulter sinken. „Herr Schellenberg!“ sagte sie. Ihre Stimme war zart, aber sehr hell.

Schellenberg wandte sich an ihren Begleiter mit einer noch kürzeren, noch trockeneren Verbeugung. Diese Verbeugung hatte sich Wenzel in den letzten Jahren angewöhnt, sie war fast geschäftsmäßig und schien auszudrücken, daß er auf Bekanntschaften eigentlich nicht mehr den geringsten Wert lege. „Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er. „Ich habe leider Ihren Namen nicht behalten.“

„Es ist der Maler Katschinsky, Herr Schellenberg,“ warf Stolpe ein.

Katschinsky verzog etwas den schönen Mund, schob die Schultern in die Höhe und reichte Wenzel mit hochmütiger Lässigkeit die Hand. Er war nicht gekränkt, daß Schellenberg seinen Namen vergessen hatte, das konnte vorkommen. Die geschäftsmäßige Kühle aber, mit der Schellenberg ihn ansprach, verletzte seine Eitelkeit. Die Selbstverständlichkeit, die Sicherheit, wenn man nicht mehr sagen wollte, mit der Wenzel ohne weitere Umstände an Jenny herantrat, fand er im höchsten Grade unpassend. Wenn irgendein Mann von einigen Qualitäten mit Jenny plauderte, so fühlte er sich, so töricht es auch war, augenblicklich im Innersten erregt und bereit zu feindlicher Abwehr. Es war nicht Eifersucht, denn über derartige Gefühle war Katschinsky längst erhaben, es war die fortwährende dauernde Angst, daß Jenny an irgendeinem Manne Eigenschaften bewundern könne, die er nicht besaß. Wenzel war groß und stattlich, und der Glanz eines jungen, rasch und kühn erworbenen Reichtums umstrahlte ihn.

Wenzel beobachtete recht gut das hochmütige Zucken um Katschinskys Lippen, aber er ignorierte es. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Katschinsky,“ sagte er um vieles freundlicher. „Ich erinnere mich nun genau, wir trafen uns bei der Gräfin Poppow.“ Glücklicherweise war ihm dies in der letzten Sekunde eingefallen, und während er sich wieder an Fräulein Florian wandte, erinnerte er sich eines unbehaglichen Gefühls, das er zuletzt im Salon der Gräfin Poppow empfunden hatte. Diese Gräfin Poppow lebte davon, daß sie jeden Sonntag ihren Salon einer Spielergesellschaft öffnete. Stolpe hatte Wenzel bei der Gräfin eingeführt. Er hatte dort einige Male gespielt, ohne jede Leidenschaft, ohne Genuß, und sich vorgenommen, den Salon der Gräfin Poppow zu meiden, ohne daß er einen bestimmten Grund angeben konnte. Die Atmosphäre sagte ihm nicht zu.

Unter den Spielern im Salon der Gräfin befand sich ein Russe, ein sehr eleganter junger Mann mit einem großen Brillanten am Finger. Diesen Brillanten hielt Wenzel für falsch, und es schien ihm gefährlich, mit Leuten zu spielen, die falsche Steine trugen. Er erinnerte sich, daß Katschinsky neben dem Russen saß und einmal ein Lächeln mit ihm austauschte. Dieses Lächeln hatte ihm mißfallen, er wußte nicht warum.

An all das dachte er, während er sich an Jenny Florian wandte: „Haben Sie etwas gesteigert, Fräulein Florian?“

Jenny errötete unter seinem Blick. „Oh, ich habe kein Geld!“ rief sie aus, und nachdem sie das gesagt hatte, errötete sie ein zweites Mal.

Katschinsky richtete sich auf. Wie töricht, dachte er, muß sie ihm denn gleich sagen, daß sie kein Geld hat? Sie wird es nie lernen, es ist zum Verzweifeln!

„Lieben Sie diese schönen Dinge?“ fragte Wenzel weiter. Die Verwirrung des jungen Mädchens entzückte ihn.

„Ich liebe sie leidenschaftlich!“ erwiderte Jenny. „Woher kommt es, daß diese alten Dinge schöner sind als die unserer Zeit?“

Wenzel zuckte die Achseln. „Wer sollte heute soviel Geld haben, diese kostbaren Dinge herstellen zu lassen? Hat aber jemand die Mittel, so hat er sicherlich nicht den Geschmack.“

Es schien Katschinsky an der Zeit, ebenfalls etwas zu äußern, und nur um etwas zu sagen, warf er lässig hin: „In früheren Zeiten hatte der Mensch von Kultur die Möglichkeit, sich in den herrschenden Kunststil einzufühlen, heutzutage aber veraltet ein Kunststil innerhalb von drei Jahren.“ Schellenberg hörte nur mit halbem Ohr zu, und Katschinsky schämte sich, etwas so Banales gesagt zu haben.

„Ich vermag die einzelnen Stile nicht zu unterscheiden,“ sagte Jenny. „Ich fühle nur, das ist schön, oder das gefällt mir nicht. Haben Sie viel gekauft, Herr Schellenberg?“

Diese Frage fand Katschinsky wiederum taktlos. Seine Augen blendeten vorwurfsvoll. Was ging es sie an, ob Schellenberg kaufte oder nicht? Er ahnte nicht, daß Jenny nur aus Verlegenheit diese Frage stellte.

„Einiges, einige Möbel und einige Porzellane,“ erwiderte Wenzel. „Ich kaufe weniger, weil ich mir ein besonderes Verständnis für Antiquitäten zuspreche, weniger aus ästhetischen Gesichtspunkten, ich kaufe vielmehr, weil ich in guten Antiquitäten eine bessere Kapitalsanlage sehe als in zweifelhaften Effekten.“

Jenny starrte ihn verständnislos an, so sehr hatte sie seine Offenheit verblüfft.

„In welchem Theater spielen Sie zur Zeit?“ fragte Wenzel.

Sie errötete einige Male nacheinander und legte den Kopf ganz schief. „Ich spiele zur Zeit gar nicht,“ sagte sie hastig. „Die hiesigen Direktoren wollen mich nicht haben.“

„Fräulein Florian beendet ihre Studien,“ kam ihr Katschinsky zu Hilfe.

„Meine Frage war nicht Neugierde, Fräulein Florian,“ fuhr Wenzel fort, „sie war höchst eigennützig. Würden Sie sich für den Film interessieren?“

Sofort war Jenny Feuer und Flamme. „Aber natürlich!“ rief sie.

„Nun,“ erwiderte Wenzel, indem er sich verabschiedete, „vielleicht darf ich mir erlauben, einmal auf unser Gespräch zurückzukommen. Ich unterhandle zur Zeit mit einigen großen Gesellschaften, aber die Dinge sind noch völlig in der Schwebe.“

Die Auktion ging weiter.

„Sehen Sie zu, daß uns die Meißner Uhr nicht entgeht,“ raunte Wenzel Stolpe ins Ohr.

„Ich werde nicht verfehlen,“ antwortete Stolpe mit einer knappen, unterwürfigen Verbeugung.

Um die Meißner Uhr entbrannte wiederum ein äußerst heftiger Kampf. Wiederum war es der frühere Herrenreiter, der ein Duell auf Leben und Tod mit dem Agenten Wenzels ausfocht.

Die Uhr war ein herrliches Stück von großer Kostbarkeit, im Empirestil. Das Besondere an ihr war ein wundervolles Schlagwerk, und während das Duell zwischen den beiden am heftigsten tobte, begann dieses Schlagwerk plötzlich zu spielen. Es war ein Glockenspiel. Schon bei den ersten Tönen setzte das Duell zwischen den beiden aus, und es wurde vollkommen still im Saal. Hell, rein, in unirdischen Tönen erklang aus der Uhr der Choral: „Ein’ feste Burg ist unser Gott –“

Als die letzten Töne verklangen, hörte man eine Frauenstimme schluchzen. Alle Blicke wandten sich einer weißhaarigen Dame zu, die mitten im Saal saß und das Taschentuch vors Gesicht preßte.

Schon aber setzte der Auktionator die Versteigerung fort. Man hörte wiederum die beiden Stimmen der Kämpfer, und die quäkende, trockene Stimme des Maklers siegte abermals.

Gleich nachdem der Agent den Sieg davongetragen hatte, erhob sich die alte Dame und verließ, den Schleier über das Gesicht gezogen, in verschämter Haltung den Saal.

Wenzel winkte Stolpe zu sich heran. „Sehen Sie zu,“ sagte er zu seinem Adjutanten, „finden Sie heraus, wer diese alte Dame ist! Es interessiert mich zu wissen, ob sie in irgendeiner Beziehung zu dieser Meißner Uhr steht.“

„Sehr wohl,“ erwiderte Stolpe und klappte mit den Hacken. Für derartige Aufträge war er glänzend zu gebrauchen. Wenzel war kaum in sein Bureau zurückgekehrt, als Stolpe ihm Bericht erstattete.

„Diese alte Dame“, sagte er, „ist eine Freifrau von Griesbach, Witwe eines Landrats. Die Uhr stammt aus ihrem Besitz. Sie lebt im alten Westen am Matthäikirchplatz. Ihre Verhältnisse sind noch leidlich geordnet, aber sie scheint Geld zu brauchen.“

„Nun, dann will ich Ihnen was sagen, Stolpe. Sie werden Frau von Griesbach persönlich die Uhr überbringen. Sie werden ihr sagen, daß wir uns erlauben, ihr die Uhr zurückzugeben. Frau von Griesbach könne uns das Vorkaufsrecht einräumen für den Fall, daß sie sich später doch noch von der Uhr trennen will. Ganz unter uns gesagt,“ fügte Schellenberg hinzu, „so schön die Uhr ist, dieser sentimentale Choral würde mich krank machen. Ich würde das Spielwerk doch abstellen. Das aber brauchen Sie Frau von Griesbach nicht zu sagen.“

Stolpe entledigte sich seines Auftrages noch am gleichen Tage. Bei Schellenberg mußte alles rasch gehen, und Stolpe war schon einige Male, da er zur Nachlässigkeit neigte, Gefahr gelaufen, von Wenzel hinausgeworfen zu werden. Obwohl er nur eine Art Kammerdiener war, so fand er doch, daß er die angenehmste Beschäftigung habe, die man in diesem Berlin finden konnte. Keine Bureauarbeit, keine anstrengende Tätigkeit, keine besondere Verantwortung, fast den ganzen Tag im Auto unterwegs, in den Straßen voller Menschen. Und Schellenberg gab ihm ein hohes Gehalt. Wenzel war überhaupt ein Mann nach Stolpes Geschmack.

Dieses ganze Glück verdankte er dem Waldverkauf, den er vor etwa drei Jahren vermittelt hatte. Allerdings – Stolpe war nicht so einfältig, dies zu übersehen – hatte Wenzel Schellenberg mit diesem Wald ein Vermögen verdient! Wegen irgendeiner Klausel des Vertrags hatte er mit der Forstverwaltung prozessiert. Der Prozeß dauerte zwei Jahre, und als Wenzel schließlich bezahlen mußte – die Mark war damals noch nicht stabil –, zeigte es sich, daß er den ungeheuren Komplex für ein Butterbrot erhalten hatte.

Stolpe gab seine Karte bei Frau von Griesbach ab. Ein ältliches Mädchen, schüchtern, verblüht, empfing ihn. Sonderbar, so unsicher sich Stolpe Wenzel und seinen Geschäftsfreunden gegenüber benahm, so sicher wurde er, sobald er sich in seinen eigenen Kreisen bewegte. Er klappte mit den Hacken, dienerte, schnarrte, zog die Hose an den Fingerspitzen übers Knie, sprach ohne jede Stockung. Ein sonderbarer Auftrag! Das ältliche Mädchen errötete, stand auf und verließ das Zimmer.

Die großen Zimmer waren kalt und hell. Schon zeigte sich eine auffallende Kahlheit. An einigen dunklen Vierecken an der verblaßten Tapete erkannte man, daß Bilder von der Wand entfernt worden waren. Offenbar hatte man die Teppiche fortgenommen. Dort hatte eine Vitrine gestanden. Die Tapete zeigte ganz deutlich das Gespenst des Schrankes.

Frau von Griesbach erschien selbst, schwarzgekleidet, in ein Schultertuch eingehüllt, fröstelnd, mit spitzer Nase und kalkigem Gesicht. Sie war außerordentlich erregt. Wenzels Anerbieten schien sie tief verletzt zu haben.

„Wir sind allerdings verarmt,“ rief sie mit einer dünnen, unangenehmen Stimme aus. „Wir sind gezwungen, ein Stück um das andere zu verkaufen, um das Leben zu fristen. Aber das ist doch kein Grund, daß uns jeder reichgewordene Börsenspekulant, jeder Jude –“

„Mamachen!“ unterbrach sie das ältliche Mädchen mit zärtlicher Stimme.

Wer war dieser Herr Schellenberg, der da glaubte –? Nein, sie wolle um keinen Preis eine Gefälligkeit von einem völlig Unbekannten annehmen.

Hier aber erhob sich Stolpe, beteuerte, erklärte. Sein Chef, Herr Wenzel Schellenberg, bekleide den Rang eines Hauptmanns, sie verkenne ihn völlig. Es sei ihm einfach unmöglich, jemand eine geliebte Sache zu rauben. Frau von Griesbach war plötzlich völlig umgestimmt, gerührt über so viel Großherzigkeit. Sie willigte ein, die Uhr wenigstens noch einige Zeit bei sich zu haben. Ihr Herz hänge an der Uhr, besonders an dem Glockenspiel, das sie durch glücklichere Jahrzehnte begleitet habe. Die Uhr sei ein Erbstück ihrer Familie. Ihr Vater habe sie persönlich vom König von Sachsen bekommen. Sie vergoß sogar Tränen über Schellenbergs Großmut.

„Nur leihweise, Sie verstehen mich, Herr von Stolpe. Herr Schellenberg kann die Uhr jederzeit wieder abholen lassen.“

Sie ließ Wenzel eine silberne Tabakdose übersenden, um ihren Dank auszudrücken. Anders tat sie es nicht.

Als Stolpe Schellenberg die Tabakdose aushändigte, brach er in lautes Gelächter aus.

Am andern Tage überbrachte Stolpe die Uhr. Dazu ein großes Blumenarrangement, das Wenzel zum Dank für die Dose sandte.

3

Wenzel Schellenberg hatte sich in dem Bureauhaus in der Wilhelmstraße im Laufe der Jahre über alle Etagen ausgebreitet. Er hatte das Haus gekauft und die Mieter langsam, einen um den andern, hinausgedrängt. Nun war er dabei, zwei Etagen aufzustocken und der Fassade das rechte Gesicht zu geben.

Wenzel Schellenberg kam wie eine Lawine daher.

Er besaß einen ganzen Park von Automobilen und ein halbes Dutzend der edelsten Reitpferde. Er hatte die Dampfjacht einer Herzogin gekauft. Von dem ersten Architekten Berlins, Kaufherr, hatte er sich eine Villa in Dahlem bauen lassen. Die Villa war indessen noch nicht im Rohbau fertig, da zeigte es sich, daß sie viel zu klein für ihn war. Er erwarb einen Bauplatz im Grunewald, wunderbar an einem kleinen See gelegen. Hier baute Kaufherr zur Zeit das Schellenbergsche Palais, ein Schloß sozusagen, wie es seit Jahrzehnten in Berlin nicht mehr errichtet worden war.

Wenzel hatte in den ersten Jahren gekauft und verkauft, alles, was ihm gut schien, wo er einen Gewinn witterte. Es war nicht sein Verdienst, daß er immer gewann. Es war der Sturz der Mark, der ihm die Reichtümer in den Schoß warf. Er hatte Raucheisens Wort nicht vergessen, daß keine Macht der Welt imstande sei, die Mark aufzuhalten, bevor sie nicht in Atome zersplittert sei. Er kaufte Wälder, Schiffe, Terrain, Güter, Bergwerke, Fabriken. Als die Ziegeleien ausgeschlachtet wurden, kaufte er alle Ziegeleien, die er auftreiben konnte. Als die Gärtnereibetriebe in den Glashäusern unrentabel wurden und ganze Städte aus Glas ausgeschlachtet wurden, ließ Wenzel aufkaufen, was nur erreichbar war. Ganze Straßenzüge in den Provinzstädten gehörten ihm. Diese Narren, die verärgert waren durch die Schikanen der Mietgesetze und die geringen Zinserträge, ließen sich von den Zahlen verwirren. Um die Häuser, die Schellenberg gehörten, kümmerte er sich nicht. Es war eine besondere Abteilung, und zwei Anwälte fochten die Legion von Prozessen aus, die die Mieter gegen Wenzel führten.

Wenzel kaufte in Papiermark. Wenn er aber verkaufte, so forderte er wenigstens einen Teil der Kaufsumme in Devisen. Das war gegen das Gesetz, aber das kümmerte ihn nicht. Niemand, der nicht ein völliger Narr war, kümmerte sich um Gesetze, die einen jeden ruinieren mußten, der sie befolgte. Seine Verträge aber waren so entworfen, daß es auch nicht die kleinste Masche gab, durch die man entschlüpfen konnte.

Dann kaufte er Patente und Erfindungen, die ihm aussichtsreich schienen. In irgendeiner zweifelhaften Gesellschaft hatte er einen Patentanwalt kennengelernt, der dem Alkohol völlig verfallen war, aber eine ausgezeichnete Witterung für gewinnversprechende Erfindungen hatte. Er engagierte ihn, und es war ihm völlig gleichgültig, daß der Patentanwalt nur einen Tag in der Woche wirklich brauchbar war. Er opferte für diese Patente viel Geld, aber eine einzige glückliche Erfindung warf ihm die zehnfache Summe in den Schoß. Er gründete eine Fabrik in Holland, die ungeahnte Gewinne abwarf. Von dieser Fabrik wußte überhaupt nur sein erster Direktor, Goldbaum, sonst niemand. Sie erschien nicht in seinen Büchern.

Wenzel schnitt niemandem die Kehle durch, um die Wahrheit zu sagen. Wenn er erfuhr, daß ein Vertrag allzu große Nachteile für den Kontrahenten hatte, so machte er großzügige Konzessionen. Bei Raucheisen hatte es das nicht gegeben. Ein Vertrag war ein Vertrag, und wenn er den Kontrahenten zermalmte.

Allmählich kam in seine Geschäfte System und Gedanke. Eine Zeitlang warf er sich auf die Papierfabrikation. Er brachte eine große Anzahl von Papier- und Zellulosefabriken in seine Hand. Diese Fabriken besaß er noch heute, aber sie waren längst nicht mehr die Hauptobjekte des Konzerns. Mit dem größten Teil seines Vermögens hatte er sich auf die chemische Produktion geworfen, deren Hauptabsatzgebiet im Auslande lag. In dieser Zeit hatte er häufig lange Besprechungen mit Michael, der ihm manchen gewinnbringenden Rat gab. Er hatte die Absicht, Michael für seine Firma zu gewinnen. Aber Michael wies auch die phantastischsten Angebote zurück.

Die Arbeit war keineswegs einfach. Sie erforderte große Energie und eine unverwüstliche Gesundheit. Wenzel gönnte sich keine Ruhe. Er arbeitete sechzehn Stunden und mehr am Tage. Er schlief mit dem Telephonhörer am Ohre ein, und wenn es sein mußte, saß er nach dreistündigem Schlaf, bevor es noch recht Tag war, schon wieder im Auto. In all den drei Jahren hatte er noch nicht drei Wochen Ferien im ganzen gemacht. Je bewegter der Tag war, je fiebernder, desto wohler fühlte sich Wenzel. Es war ganz genau so, als ob er am Spieltisch saß und pointierte, er spielte nun den ganzen Tag. Es war nichts anderes für ihn als ein fortwährendes Hasardieren. Wenzel hatte sogar schon seine Grabschrift in diesem Sinne entworfen. Auf seinem Grabstein sollte einmal stehen: „Hier ruht Wenzel Schellenberg, der Spieler.“

Er liebte diese Tätigkeit mehr als alles. Ja, nun gehörte er zu jenen, die „auf den Knopf drückten“. Die Türen sprangen auf, die Direktoren und Beamten stürzten mit Mappen und Akten über die Korridore ...

Unter seinen Mitarbeitern und Agenten befand sich eine größere Anzahl ehemaliger Offiziere, sogar ein General war unter ihnen. Alle drängten sich an ihn heran, der Erfolg war wie ein Magnet, das Geld zog an. In allen Augen entdeckte er die Gier nach dem Besitz und die Begierde, das Geheimnis seiner Erfolge zu ergründen. Alle demütigten sich um dieses elenden Geldes willen.

Wenzel Schellenberg war eine Macht geworden. Er hatte ein ungeheures Vermögen zusammengerafft, eine Masse von Geld, die anschwoll, abebbte und wieder anschwoll. Als man daranging, die Mark zu stabilisieren, traf Wenzel seine Vorbereitungen. Ohne jeden Zweifel mußte eine völlige Änderung der ganzen Wirtschaft eintreten. Um seine Unternehmungen flüssig zu halten, würde er für den Übergang riesige Summen benötigen. Man erinnert sich noch an jene Börsentage, da die Effekten sich von einer Börse zur andern verdoppelten. Es waren schwere Tage für Wenzel. Mit dem starren Gesicht des leidenschaftlichen Spielers, der alles wagt, saß er da und wartete. Zwei, drei Börsentage wartete er ab, dann aber entschloß er sich. Als alle Welt noch glaubte, daß dieses Spiel sich endlos fortsetzen würde, verkaufte er seinen gesamten Aktienbesitz.

Es war eine Donnerstagbörse. Diesen Tag würde er nie vergessen. Er hatte die Order gegeben. Seine Finanzdirektoren, gewiegte und gerissene Burschen, hatten ihn beschworen, zu warten, besonders der dicke Goldbaum, der sein ganzes Leben auf der Börse verbracht hatte. Gegen alle diese Stimmen hatte er den Auftrag zum Verkauf gegeben.

Goldbaum fuhr blaß wie eine Leiche zur Börse. Noch heute mußte Wenzel lachen, wenn er an diese Szene dachte. Und es ist wahr: Er lachte auch damals! Denn es war ihm schließlich gleichgültig, ob er morgen das Doppelte oder nur den zehnten Teil besaß. An diesem Börsentage hatten die Kurse der meisten Papiere sich verdoppelt, an der nächsten Börse aber krachte das ganze Gebäude zusammen. Innerhalb von zwei Tagen hatte Schellenberg sein Vermögen verdoppelt und verdreifacht. Er war flüssig, er hatte Millionen zur Verfügung. Und selbst Raucheisen, dieser riesige Konzern, schwankte in diesen Tagen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn der alte Raucheisen ihn nicht kaltgestellt hätte, weil er zehn Minuten zu spät kam, wie?

Schellenberg trat als Geldgeber auf und diktierte die Zinssätze. Während Tausende von Unternehmungen in dem Höllenstrudel versanken, stand Schellenberg wie ein Leuchtturm in der Brandung.

4

Wenzel besaß zwei große Fabriken für Rohfilme. Sie lagen im Rheinland. Schon vor längerer Zeit hatte er ein Patent erworben, das die Herstellung farbiger Filme in großer Vollendung gewährleistete. Es waren nicht jene Filme mit grellen Farben. Die Farben waren weich getont, wie Pastell. Auf dieses neue Verfahren setzte Wenzel große Hoffnungen.

Häufig hatten große Filmkonzerne eine Geschäftsverbindung mit ihm gesucht. Aber Wenzel war bis heute nicht dazu zu bewegen gewesen, sich an der Filmproduktion auch nur mit einem Pfennig zu beteiligen. Die Rentabilität war nicht sicher und die Filmleute so gerissene Geschäftsleute, daß er ihnen nur mit der größten Vorsicht begegnet war. Die Filmindustrie war in den letzten Monaten völlig niedergebrochen. Man wandte sich immer dringender um Kredite an Wenzel, und in den letzten Monaten hatte ihm ein bekannter Filmkonzern verlockende Angebote gemacht. Sein Finanzberater, der dicke Goldbaum, hatte stundenlang auf ihn eingeredet. Aber Wenzel zögerte. Vielleicht bekam Goldbaum Prozente, wenn er das Geschäft vermittelte? Vielleicht? Sicher bekam er sie. Goldbaum hatte sich Reichtümer erworben, deren Quellen nicht bekannt waren. Nun gut, weshalb nicht? Er machte Geschäfte wie jeder andere, wie alle seine Mitarbeiter.

Als Wenzel Jenny Florian im Auktionssaal von Duval & Co. erblickte, forschte er augenblicklich nach einer Möglichkeit, mit der schönen Schauspielerin in Verbindung treten zu können. Während er mit ihr auf der Treppe sprach und ihre helle Stimme und der Reiz ihres scheuen Benehmens ihn entzückten, hatte sich dieser Wunsch in ihm verstärkt. Mit welcher Inbrunst hatte sie, als er sie fragte, ob sie diese schönen Dinge liebe, geantwortet: „Ich liebe sie leidenschaftlich!“ Kindliche Begierde und Sehnsucht strahlten aus ihren Augen, während sie diese Worte sprach. In diesem Augenblicke empfand Wenzel das Verlangen, daß diese Frau ihm näherkommen möchte, und da fielen ihm plötzlich die Verhandlungen mit dem Filmkonzern ein. Nur aus diesem Grunde hatte er sie gefragt, bei welchem Theater sie zur Zeit spiele. Es traf sich günstig, daß sie ohne Engagement war.

Schon am Tage nach der Versteigerung rief er Mackentin und Goldbaum zu sich, um mit ihnen die Frage des Kredits an den Filmkonzern erneut zu beraten. Goldbaum war hocherfreut, daß er auf diesen Gegenstand zurückkam. Sein fettes, mit hellroten Bartstoppeln bedecktes Gesicht strahlte, seine kleinen Augen blitzten listig hinter dem schiefen Kneifer. Mackentin aber verzog mißmutig das Gesicht mit der schiefen Nase.

„Versuchen Sie die äußersten Bedingungen zu erzielen und ziehen Sie die Daumenschrauben tüchtig an.“ ‚Die Daumenschrauben‘, das war ein stehender Begriff im Schellenbergschen Sprachschatz geworden. „Sehen Sie zu, daß wir im Laufe des morgigen Vormittags eine Besprechung mit den Herren haben können.“

„Sie wollen also wirklich diese hohe Summe daran setzen?“ fragte Mackentin düster, zu Wenzel emporschielend.

„Ich habe meine Gründe.“

Mackentin sah Wenzel an und machte eine kleine Verbeugung. „Schön, schön,“ erwiderte er. „Die Konferenz wird im Laufe des morgigen Vormittags stattfinden.“

Einige Tage später erhielt Jenny Florian von der Odysseus-Film-Gesellschaft einen äußerst höflichen Brief mit der Aufforderung, sich sobald wie möglich im Bureau der Gesellschaft vorzustellen. „Herr Wenzel Schellenberg hatte die große Liebenswürdigkeit, uns auf Ihre Begabung aufmerksam zu machen.“

„Herr Wenzel Schellenberg!“

Jenny errötete. Sie las den Brief einigemal und fühlte, wie ihre Hand eine leichte Lähmung überkam. Dann aber geriet sie in einen wahren Freudentaumel. Sie kleidete sich hastig an und stürzte augenblicklich zu Katschinsky.

„Sieh diesen Brief!“ rief sie aus. „Es ist die Odysseus-Gesellschaft!“

Aber Katschinsky schien über diese frohe Botschaft gar nicht so sehr erfreut zu sein. Er nahm den Brief mit zwei Fingerspitzen auf und kniff die Lippen zusammen. „Ah, Schellenberg,“ sagte er, leise und spöttisch lachend, und kräuselte die Stirne bedeutungsvoll.

„Vielleicht ist es möglich, daß du ebenfalls bei der Gesellschaft ankommst?“ Jennys Stimme schmeichelte, sie sah, daß er blaß geworden war.

Katschinsky setzte ein verletztes Lächeln auf. „Ich brauche keine Protektion,“ sagte er gekränkt.

„Aber nun höre zu!“ rief Jenny und warf sich aufgeregt in einen Sessel. „Sie schreiben, ich möchte ihnen eine kleine Szene vorspielen, damit sie wissen, wie sie mich am günstigsten herausstellen können. Was für eine Szene soll ich spielen? Rate mir!“

Katschinsky ging nachdenklich auf und ab. „Was für eine Szene? Nun, wir wollen darüber nachdenken. Strindberg? Willst du eine Szene aus Strindbergs ‚Christine‘ spielen?“

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht Strindberg.“ Sie berieten hin und her. Endlich sprang Jenny ungeduldig auf. „Wir wollen zu Stobwasser gehen, vielleicht fällt ihm etwas ein.“

Stobwasser saß still, das Antlitz voller Sammlung, in seinem Atelier, umgeben von seinen Papageien, Kakadus, Staren und seiner Katze, und modellierte an einer kleinen Tierplastik. Er begriff nicht sofort, was die beiden wollten, die ihn überfallen hatten. Dann aber glühte in seinen dunklen Augen die Wärme auf. „Das ist ja eine herrliche Sache, Jenny!“ rief er aus. „Ich beglückwünsche Sie herzlich!“

„Das Auge eines Finanzgewaltigen ist auf Jennys blonden Scheitel gefallen,“ sagte Katschinsky sarkastisch.

Jennys Gesicht wurde hellrot, wie im Fieber. „Es wird dir nicht gelingen, mir die Freude zu verderben!“ rief sie aus. Sie lachte dabei, aber sie schämte sich für Katschinsky, der selbst vor Stobwasser seine Eifersucht nicht verbergen konnte.

Stobwasser aber schob die Arbeit zur Seite und begann nachzudenken. Ja, was sollte Jenny spielen? Es war natürlich von der größten Wichtigkeit, daß das Debüt erfolgreich verlief. Schließlich hob er die Hände zur Decke empor. „Himmel, eine Inspiration!“ rief er aus. „Laß uns nachdenken, Katschinsky. Von diesen zehn Minuten kann Jennys ganze Zukunft abhängen. Wir wollen ins Café gehen und beraten.“

Im Kaffeehaus wurde beschlossen, daß Jenny weder Strindberg noch sonst einen Dichter spielen sollte. Sie sollte eine kleine Szene vorspielen, die ihr schauspielerisches Talent und alle die Vorzüge ihrer Erscheinung ins rechte Licht setzen sollte. Ja, aber was für eine Szene?

Plötzlich hatte Jenny eine Inspiration. „Ich werde folgende Szene spielen!“ rief sie aus. „Seid still! Ich spiele einen Mannequin in einem Modesalon. Das heißt, nicht einen Mannequin, sondern eine Wachspuppe. Ein schöner Herr geht vorüber, die Wachspuppe erwacht langsam zum Leben. Der Herr fühlt es, dreht sich um, nun wird sie ganz lebendig. Sie plaudert mit dem Herrn. Da aber kommt der Abteilungschef, sie erstarrt wieder zu einer Wachspuppe. Aber sie ist nicht an der richtigen Stelle erstarrt. Nun muß sie sich ganz langsam zu ihrem Postament zurückbegeben. Endlich steht sie wieder auf dem alten Platz. Wie gefällt euch dies?“

Katschinsky schüttelte den Kopf. Er war nicht zufrieden.

Stobwasser aber sprang begeistert auf. „Was für eine wunderbare Szene!“ rief er aus. „Sie werden Augen machen. Wenn sie Sie dann nicht engagieren, ist ihnen nicht zu helfen!“

„Sie werden sie engagieren,“ sagte Katschinsky mit großer Bestimmtheit.

„Wieso weißt du das?“ fragte Jenny, verletzt durch seinen Ton.

Katschinsky lenkte ein. „Ich wollte sagen, wenn du die Szene gut durcharbeitest, so bin ich überzeugt, daß du Erfolg haben wirst.“

Jenny aber hatte seine Gedanken wohl erraten. Sie erhob sich. „Ich werde nun gehen, um gleich mit der Arbeit zu beginnen,“ sagte sie.

Katschinsky hob seinen Blick flehend zu ihr. Sie schien ihn nicht zu bemerken.

5

Jenny hatte ihre kleine Szene „Die verliebte Wachspuppe“ bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitet und hundertmal vor dem Spiegel eingeübt.

Man empfing sie bei der Odysseus-Gesellschaft mit äußerster Zuvorkommenheit. Sie brauchte nicht eine Sekunde zu warten. Die Türen öffneten sich von selbst, und über lange Korridore wurde sie direkt in das Heiligtum des Direktoriums geleitet.

Eine Sekretärin nahm sie zur Seite und übergab ihr mit geheimnisvoller Miene einen Brief. Es war ein kurzes Schreiben Schellenbergs, der sie ermahnte, keinerlei Vertrag zu unterschreiben, bevor er ihn nicht gesehen habe. Er wünsche die Angelegenheit mit ihr gründlich zu besprechen und würde sich freuen, wenn sie übermorgen die Oper mit ihm besuchen könne, da er am Tage keine freie Minute habe.

Jenny las. Oh, sie verstand, sofort war ihr Gesicht fieberrot.

Im Direktionszimmer erhoben sich einige elegant gekleidete, beleibte Herren, höflich, ja fast unterwürfig.

„Haben Sie sich irgend etwas ausgedacht, womit Sie uns überraschen werden, Fräulein Florian?“ fragte einer der Direktoren.

Jenny erzählte kurz ihre Szene. Ihre Augen waren vor Angst doppelt so groß geworden.

Man war sehr zufrieden mit dem Einfall. Dann begann sie, aber sie spielte verwirrt und schlecht.

„Ich muß noch einmal anfangen,“ sagte sie.

„Bitte, seien Sie ganz ruhig. Es besteht kein Grund zur Erregung.“ Die Herren verschwanden tief in ihren Sesseln, um sie ja nicht zu stören.

Als sie die kleine Szene schlecht und verwirrt gespielt hatte, drückten ihr die Direktoren anerkennend die Hand. „Wir werden sehen, Fräulein Florian. Es wird nötig sein, Sie in einer ganz besonderen Sache herauszubringen. Sie sollen der Star unserer Gesellschaft werden. Der Vertrag, den wir Ihnen anbieten, läuft über drei Jahre. Sie können ihn morgen unterzeichnen.“ Unter vielen Bücklingen komplimentierten die Direktoren Jenny hinaus. Als sich aber die Polstertür hinter Jenny geschlossen hatte, sahen sie einander bedeutungsvoll an.

„Es ist eine Katastrophe,“ schrie der eine der wohlbeleibten Direktoren. „Sie ist ja eine völlige Dilettantin!“

„Sie ist begabt,“ warf der Regisseur ein. „Und sie ist hübsch, ja schön. Ihr Körper ist ohne Tadel, ihre Bewegungen sind ungekünstelt, reizvoll, bezaubernd, rührend, voller Musik. Sie war heute verwirrt und unsicher. Überlassen Sie sie mir. In zwei Monaten ist sie nicht wiederzuerkennen.“

„Zwei Monate! Oh! du gerechter Himmel!“

Katschinsky wurde kreidebleich, als Jenny ihm Schellenbergs Brief zeigte. „Wirst du gehen, Jenny?“ fragte er, indem er die grauen Augen streng auf sie heftete.

„Natürlich werde ich gehen! Ich gefährde doch nicht meinen Ruf, wenn ich mit einem Herrn eine Opernvorstellung besuche, der guten Kreisen angehört?“

„Aber weißt du denn, wer Wenzel Schellenberg ist? Gute Kreise? Zugegeben, er war früher Offizier – sein Ruf ist jetzt nicht der beste. Du weißt, daß er einer der rücksichtslosesten Ausbeuter ist, die heute in Deutschland leben. Dazu ist er einer der bekanntesten Frauenjäger Berlins. Er hat die Frauen zu Dutzenden. Er kauft sie, wie man Ware kauft!“ Katschinskys Stimme bebte.

Nun war es an Jenny, blaß zu werden. „Beruhige dich,“ versuchte sie ihn zu besänftigen, bebend unter seinen versteckten Beschimpfungen. „Ich habe dir nie Anlaß gegeben, mich für leichtsinnig zu halten. Wie töricht ist deine Erregung! Ich werde die Oper mit ihm besuchen, um nicht ungefällig zu erscheinen, und das ist alles.“

„Also du gehst?“

„Ja, ich gehe.“

Krachend flog die Türe ins Schloß.

Jenny weinte. Sie warf sich auf die schmale Ottomane ihres bescheidenen Zimmers. Dann aber erhob sie sich, wusch sich die Augen, kühlte die Wangen mit Kölnischem Wasser.

„Soll er gehen,“ sagte sie, während sie sich eine Zigarette anzündete. „Ja, soll er gehen! Schluß, Schluß, Schluß! Oh, wie gut es ist, daß es zu Ende ist!“ Jetzt erst wurde sie zornig. Sie stieß mit dem Fuß auf den Boden. „Er ist anmaßend, er ist lächerlich. Und was ist er schließlich? Sobald ein Mann Erfolg hat, beschimpfen ihn die andern Männer! Es ist Zeit, es ist hohe Zeit, daß ich diese Verbindung löse! Ich aber habe gefallen,“ fuhr sie in anderem Tone fort, triumphierend, und wiegte sich tänzelnd in den Hüften, während sie auf dem abgetretenen Teppich hin- und herging. „Mein Engagement ist perfekt. Ich werde meinen Weg machen. Und Schellenberg –“ Freude durchströmte sie. „Sofort werde ich an Papa schreiben.“

Jenny Florian stammte aus Lübeck. Hier kannte sie jedermann. Sie hatte als kleines Mädchen Gedichte vorgetragen und Blumensträuße überreicht, wenn eine hohe Persönlichkeit ihre Vaterstadt besuchte. Mit zwölf Jahren hatte sie bei einem Festzug in bedeutender Rolle mitgewirkt. Mit vierzehn Jahren bekam sie einen Preis bei einem Schwimmfest. Wer sollte Jenny Florian nicht kennen? Täglich ging sie durch die Breite Straße, zwischen fünf und sechs Uhr, wie alle Welt. Mit sechzehn Jahren malte und modellierte Jenny Florian. Eine Buchhandlung arrangierte eine kleine Ausstellung ihrer Arbeiten, und die Kritiker der Zeitungen schrieben anerkennende Aufsätze darüber. Mit siebzehn Jahren trat Jenny Florian beim Stadttheater als Volontärin ein und feierte in einigen kleinen Rollen Triumphe. Wer sollte also Jenny Florian nicht kennen? Man prophezeite ihr eine große Zukunft. Sie galt als das größte Talent ihrer Vaterstadt, und es war nicht zweifelhaft, daß sie eines Tages eine berühmte Künstlerin werden würde. Vielleicht Malerin, vielleicht Schauspielerin, vielleicht auch eine berühmte Sängerin? Denn es war bekannt, daß Jenny eine wunderbare Stimme habe. Erschien sie nur auf der Straße, so wandten sich alle Leute nach ihr um.

Es war klar, daß die kleine Stadt Lübeck nicht der Ort war, wo Jennys große Begabung sich entwickeln konnte. Ihr Vater, ein Beamter, stolz auf seine begabte Tochter, sandte sie zuerst auf die Kunstschule in Hamburg. Dann aber ging sie nach Berlin, um sich ernsthaft der Bühne zu widmen.

In Hamburg, auf der Kunstschule, hatte sie Katschinsky kennengelernt, und in Berlin hatten sie sich natürlich wieder getroffen. Katschinsky hatte in dieser Zeit einige kleine Erfolge erzielt. Ein paar Witzblätter brachten einige seiner Karikaturen. Bei einer Ausstellung wurde er anerkennend von der Kritik erwähnt. Sie sah zu ihm auf. Katschinsky begleitete sie in die Museen, er führte sie in die Theater, erzählte ihr Interessantes über diesen und jenen Bühnenkünstler, Anekdoten, Klatsch. Er führte sie in das Künstlercafé und zeigte ihr diese und jene Berühmtheit. Er stellte sie jungen Malern, Architekten, Schriftstellern vor, führte sie in verschiedenen Ateliers ein. Er war ein unschätzbarer Mentor. Mehr als das: er liebte sie.

Nun aber war Jenny in einen großen Konflikt geraten. Schon seit einigen Monaten hatte sie es sich vorgenommen und immer gezögert. Von Woche zu Woche. Sie wollte sich von Katschinsky trennen! Sie entfernte sich von ihm täglich mehr, aber er schien es nicht zu bemerken. Ihr Urteil war rasch reifer geworden. Sie erkannte, daß sie die Persönlichkeit des Freundes überschätzt hatte. Sie sah plötzlich seine Fehler und Schwächen. In den Zeiten, da sie ihn zu lieben glaubte – denn in Wahrheit hatte sie ihn nie geliebt, das wußte sie jetzt –, in diesen Zeiten hatte sie zu ihm gesagt: „Du bist so schön wie Apollo.“ Nunmehr aber sagte sie zu ihm: „Dein Mund ist zu weich, du hast den Mund eines Mädchens.“ Sie hatte sein seidenes, blondes Haar geliebt, nun aber fand sie, daß dieses Haar zu zart, zu seidig, viel zu mädchenhaft war. Noch vor Monaten hatte sie aller Welt die Tugenden Katschinskys gepriesen. Es gab keinen uneigennützigeren Menschen. Nunmehr aber wußte sie, daß Katschinsky nichts war als ein Egoist, der nur an sich dachte und an nichts anderes. Mehr als einmal mußte sie sich überzeugen, daß er sie belog. Und nichts haßte sie mehr als die Lüge. Sie war in Verlegenheit, er versicherte, kein Geld zu haben, aber doch ging er da und dort hin, in dieses Café, in jene Diele. Ihr Vater sandte ihr jeden Pfennig, den er entbehren konnte. Es war nur wenig, aber dieses Wenige teilte sie mit Katschinsky, wenn es ihm schlecht ging. Sie vergaß es ihm nicht, daß er einmal Geld von ihr borgte, um, wie er sagte, einem kranken Freunde beizuspringen. Sie gab ihm das Geld und lebte eine Woche von Tee und Weißbrot. Dann aber erfuhr sie, daß Katschinsky das Geld von ihr geborgt hatte, um auf einen Maskenball zu gehen. Sie erfuhr es ganz durch Zufall. Sie erfuhr aber auch durch Zufall, daß Katschinsky eine Liebelei mit einer Verkäuferin angefangen hatte und von dem Mädchen Geld nahm. Mehr und mehr wurde es ihr klar, daß man seinen Worten nicht vollen Glauben schenken konnte. Oh, mehr als das, es wurde ihr klar, daß er fast immer log. In letzter Zeit hatte er sie auch bei seinen neuen Freunden eingeführt, wo man spielte, aber sie hatte sich vorgenommen, in Zukunft diese Kreise zu meiden.

„Bedenklich,“ sagte sie sich, „scheinen mir seine neuen Bekanntschaften und Ambitionen.“

Ganz allmählich war der Glanz verblaßt, in dem sie den einst Vergötterten gesehen hatte.

An all das dachte sie, während sie an ihren geliebten alten Vater schrieb, um ihn durch die Nachricht zu erfreuen, daß sie einen dreijährigen Kontrakt mit einer der ersten Filmgesellschaften abgeschlossen habe. Der Vertrag sei so gut wie perfekt. Über die Bedingungen würde sie morgen berichten. Aber während sie schrieb – ausführlich schilderte sie den heutigen Empfang bei der Gesellschaft, nur den Namen Schellenberg erwähnte sie nicht –, während sie schrieb, quälte sie dieser Konflikt, in dem sie sich befand. Ich werde mit Katschinsky brechen, sagte sie sich. Oh, ich hätte es schon längst tun sollen. Was wird er nun glauben? Er wird allen Leuten erzählen, daß –

Das aber war nicht alles, nein. Das allein hätte sie nicht so gepeinigt, es kam noch etwas dazu, und das war weit fürchterlicher: Sie fühlte, daß ihr dieser Wenzel Schellenberg nicht gleichgültig war. Ja, es war unzweifelhaft, sie fühlte es zu deutlich. Oft schien es, als stocke ihr der Atem, ihr schwindelte. Und dann schien es wieder, als habe man mit einem haarscharfen Messer ihre Brust geritzt und ein Tropfen Blut fließe über ihre Brust herunter. Es war keine Selbsttäuschung möglich: sie sehnte sich nach diesem großen, breitschulterigen Mann mit dem etwas derben Gesicht und dem – wie war es doch, sein Lächeln? Verächtlich, überheblich? Sie sehnte sich nach ihm, mehr noch, sie liebte ihn, sie wußte es, und daß sie ihn liebte, das war entsetzlich! Nicht sein Geld liebte sie, seinen Reichtum, seine Schätze, Pferde und Automobile. Sie wollte nicht sein Geld. Nicht einen Pfennig würde sie von ihm annehmen. Sie wollte nicht seine Pferde und Automobile, was gingen sie die an? Er protegierte sie. Sollte er nicht das Recht haben, sie zu protegieren? Zugegeben, daß der Vertrag mit der Odysseus-Gesellschaft ohne seine Vermittlung niemals zustande gekommen wäre. Er wollte ihr gefällig sein. Konnte sie es ihm verbieten? Katschinsky aber hatte stets nur an sich gedacht, und selbst jetzt empfand er nichts als Eifersucht, weil sie Erfolg hatte.

Aber am entsetzlichsten war es, daß nicht ihr Herz allein erregt war, auch ihre Sinne. Was würde werden? Was würde geschehen? Er würde es ihr sofort ansehen, auf den ersten Blick. „Ratet mir, was soll ich tun?“

„Mein lieber, geliebter alter Seehund,“ schloß Jenny den Brief. Seehund war ihr Kosename für den Vater, der, mit seiner Glatze, seinen runden Augen und seinem hängenden Schnauzbart tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Seehund hatte. „Mein geliebter alter Seehund, morgen schreibe ich mehr. Es gehen hier große Dinge vor. Ich fühle es, daß ich glücklich sein werde!“

Dies schrieb sie, es floß von selbst aus der Feder, während die Qual sie zerriß. Mochte es stehen bleiben.

Sie verschloß den Brief und trug ihn zum Kasten. Dann ging sie langsam durch die Straßen, um nachzudenken, um sich zu sammeln, um das heiße Gesicht zu kühlen. Sie legte die Fingerspitzen an die Schläfen und wiederholte immer die gleichen Worte: „Was soll geschehen? Er wird es mir sofort ansehen! Ich werde nicht in die Oper mit ihm gehen. Ich werde abschreiben.“ Sie blieb stehen und fragte sich: Wann? Ist es übermorgen? Das sind noch achtundvierzig Stunden weniger zwei, also sechsundvierzig Stunden. Sie ging nach Hause und zeichnete auf einen Briefbogen sechsundvierzig Quadrate, und wenn eine Stunde vergangen war, strich sie ein Quadrat aus.

Sie las, aber die Zeit stand still, die Uhr stockte, sobald sie sich über das Buch beugte. Sie ging auf und ab.

Gut? Nein, sein Gesicht ist nicht gut, aber es ist etwas Gutes darin. Und dann ist etwas Furchtbares darin. Seine Stimme ist oft so laut. Immer verschwendet er Kraft, auch wenn er spricht. Wenn man in den Sternen lesen könnte –! Sie trat ans Fenster und blickte über die dunkeln Giebel. Keine Sterne, nichts. Aber was war das? Was kam da zwischen den Schornsteinen hervor? Sie erschrak. Was war das? Licht, gleißendes Licht stieg in die Höhe, verzehrte die finstern Schornsteine, breitete sich aus zu einem gleißenden Tor. Es war der Mond.

„Darf man dieses Anzeichen günstig nennen, ohne die Götter zu erzürnen?“ fragte sich Jenny und legte sich nieder, den Glanz des Mondes in der Brust. Als sie am Morgen erwachte, konnte sie acht weitere Quadrate ausstreichen.

An diesem Vormittag kam Katschinsky zu ihr, verstört, bleich, die Augen gerötet, mit zuckendem Mund, schweigsam. „Was ist geschehen, um Gottes willen?“ fragte sie bestürzt.

Er stand und blickte starr auf den Briefbogen mit den unverständlichen Quadraten. „Meine Mutter ist gestorben,“ sagte er. „Ich muß heute nach Hamburg fahren.“

Sie umschlang ihn und preßte ihren Kopf gegen seine Brust. „Armer, armer Freund,“ sagte sie. „Tröste dich.“

Er sah sie an. „Wirst du auch jetzt noch in die Oper gehen?“ fragte er.

„Nein,“ erwiderte sie rasch, „ich werde abschreiben.“ Aber sie wußte, daß sie log. Schwache Menschen, Eifersüchtige muß man belügen, um Ruhe vor ihnen zu bekommen. Sie freute sich, daß er wegfahren mußte. Oh, wie weit weg war sie schon von ihm.

6

Langsam wurde die Überzahl der dunklen Quadrate erkennbar. Nun waren es nur noch vierundzwanzig Stunden. Nur um einige Stunden totzuschlagen, ging sie in ein Caféhaus, obwohl sie diesen Abend am liebsten allein verbracht hätte. Am nächsten Morgen stand sie frühzeitig auf und begann mit den Vorbereitungen ihrer Toilette für den Abend. Ihre Garderobe war armselig, fast wäre sie verzweifelt. Dann aber begann sie mit ihren geschickten Händen zu arbeiten. Sie stürzte aus dem Hause, kaufte Kleinigkeiten, Handschuhe, und am Abend fand sie, daß sie ganz annehmbar gekleidet war. Schellenberg brauchte sich ihrer ganz gewiß nicht zu schämen. Am Nachmittag kam ein Bote mit der Nachricht, daß der Wagen um ein Viertel nach sieben vor dem Hause warten würde. Genau ein Viertel nach sieben Uhr verließ sie ihr Zimmer. Der Wagen stand da. Aber zu ihrer Enttäuschung fand sie nicht Schellenberg, sondern den kleinen Stolpe vor dem Wagen stehen. Sie verlor fast die Besinnung.

Mein Gott, wie entsetzlich! sagte sie sich. Wie kann man sich nach einem Menschen so wahnsinnig sehnen!

Stolpe überbrachte Wenzels Entschuldigung. Herr Schellenberg sei noch in einer sehr wichtigen, gänzlich unerwarteten Konferenz und könne zu seinem Bedauern erst später in die Oper kommen. Stolpe sei beauftragt, ihr vorläufig Gesellschaft zu leisten.

Nun, das ging an. Jenny atmete wieder, während sie den Schmerz einer leichten Kränkung zu verwinden suchte. Auch nicht die dringendste Konferenz hätte ihn abhalten dürfen. Schon aber urteilte sie milder. Augenblicklich, sie hatte kaum Platz genommen, überschüttete sie Stolpe mit einem Schwall von Worten. „So geht es bei uns Tag für Tag, Fräulein Florian,“ seufzte er, indem er sich in die Ecke des Autos fallen ließ und nach Luft rang. „Von sieben bis acht ritten wir schon unsere Stunde im Tiergarten ab, Galopp, Springen, anders geht es bei Schellenberg nicht. Dann Konferenzen bis elf Uhr. Um elf Uhr im Flugzeug nach Leipzig. Mittagessen: zwei Eier im Glas, einen Mokka, einen Kognak. Um fünf Uhr zurück, geschlafen im Flugzeug, wieder Besprechungen und Konferenzen. Ich habe gewiß nichts zu lachen. Sechzehn bis siebzehn Stunden bin ich täglich im Dienst, und so geht es Tag für Tag, auch am Sonntag. Es ist mir unbegreiflich, wie Schellenberg das aushält. Was gibt man eigentlich in der Oper?“

Jenny hatte aufmerksam auf sein Geschwätz gehört. Alles interessierte sie, was Schellenberg betraf, alles. „Man gibt ‚Figaros Hochzeit‘,“ antwortete sie lächelnd. „Sie wissen es nicht?“

„Nein, ich bitte um Verzeihung, Fräulein Florian, woher sollte ich es wissen? Ich wurde ja erst vor einer Viertelstunde zu diesem allerdings sehr, sehr angenehmen und ehrenvollen Auftrage kommandiert. Haben Sie übrigens den Vertrag der Gesellschaft mitgebracht? Nun, dann ist es gut. Ich atme auf. Schellenberg befahl mir, Sie daran zu erinnern. Und hier – ich bitte um Verzeihung – sind die Blumen, Kamelien. Schellenberg hat sie in Leipzig gekauft, und ich hätte sie beinahe vergessen. Er hat sie mir ans Herz gelegt, Fräulein Florian. Loben Sie mich, wenn er fragen sollte, ob Sie mit mir zufrieden waren. Er war heute schon sehr ungnädig! Nein, ich habe ein schweres Brot, glauben Sie mir.“

Jenny richtete die Augen hell auf Stolpe. „Weshalb arbeitet Herr Schellenberg so angestrengt?“ fragte sie. „Kann er sich nicht irgendwie entlasten?“

„Es ist mir gewiß unverständlich,“ erwiderte der kleine Herr von Stolpe. „Ich weiß es nicht. Entlasten, sagen Sie? Entlasten? Gänzlich unmöglich. Er macht alles selbst. Der Drang zur Tätigkeit ist bei ihm wie eine Krankheit. Eine ganze Bibel von Depeschen schleudert er am Tage hinaus. Am Abend aber, sollte man annehmen, sinke er tot um. Aber nein, weit gefehlt, am Abend wirft er sich in Gala, und dann geht es los: Theater, Gesellschaften, Spiel. Es ist mir rätselhaft, wann er schläft. So geht es nun schon drei volle Jahre. Unverständlich. Dabei ist er immer in prächtiger Laune. Sie werden ja sehen, Fräulein Florian. Ein sonderbarer Mensch ist Schellenberg, ein ganz sonderbarer Mensch! In meinem ganzen Leben habe ich einen solchen Menschen noch nicht kennengelernt. Wenn ich ihn auch zuweilen verfluche – ich würde umsonst für ihn arbeiten. Er hat Format, sehen Sie, das ist es. Format! Alles an ihm ist groß, schrankenlos, ohne Grenzen.“ Während der ganzen Fahrt schwärmte Stolpe von Wenzel Schellenberg. Er bewunderte ihn.

Und Jenny lauschte! Sonderbar genug, dieser unbedeutende Stolpe, dieses rotbäckige, mit den Absätzen knallende Nichts, bei dessen Anblick sie früher die Brauen hochzog, war ihr plötzlich fast sympathisch geworden.

In der Oper verwandelte sich Stolpe in einen schweigsamen Lakai, der steif hinter ihr saß. Nur in den Pausen wagte er leise und devot nach ihren Wünschen zu fragen. „Eine Erfrischung, Fräulein Florian? Ein Glas Sekt?“

Kurz vor Beginn des Schlußaktes wurde die Tür geöffnet, und Wenzel trat in die Loge. Stolpe verschwand ohne Abschied, wie ein Schatten. Wenzel begrüßte Jenny, bat um Entschuldigung, und kaum hatte er neben ihr Platz genommen, als das Orchester schon wieder einsetzte.

Jenny geriet in große Erregung. Ihre Brust flog. Sie suchte sich zu beherrschen, vergebens. Sie fühlte Wenzels Blick, der prüfend, ohne jede Hast über sie glitt. Diesen Blick, der sie bei jedem andern Mann empört hätte, sie empfand ihn als Lust. Der Blick tastete über ihr Profil, über ihr Haar, über ihren Nacken, über ihre Arme, und sie begann unter diesem Blick zu zittern. Welche Macht hat er über mich, wer wird mir beistehen? Dann aber spürte sie diesen Blick plötzlich nicht mehr. Wenzels Atem ging ganz leise und auffallend regelmäßig. Sie blickte zur Seite und sah, daß er die Hand vor die Augen gelegt hatte, als ob er schlafe. Und in der Tat, während Mozarts Musik dahinrauschte und das ganze Haus mit Zauber, Wundern und Wohlgerüchen erfüllte, schlief Wenzel Schellenberg still in seinem Sessel.

Jenny versuchte ihm böse zu sein. Ihre Wangen wurden noch schmaler, ihr Blick unglücklich und verletzt. War es, auch wenn man die größte Nachsicht übte, nicht der Gipfel der Taktlosigkeit: erst kam er nicht, und dann schlief er ein? Nie hätte ein anderer Mann das gewagt! Sie versuchte bitterböse zu werden – aber sie vermochte es nicht! Er schläft, er ist müde, dachte sie, sonst nichts, und lächelte.

Der Beifall weckte Wenzel. Er rieb sich die Augen und starrte auf die im Applaussturm sich verneigenden Sänger wie auf eine Schar von Narren. „Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, Fräulein Florian, daß ich schlief,“ rief er aus und lachte. „Anfangs hörte ich noch die Musik, und dann schlief ich plötzlich ein. Ich war furchtbar müde. Ist es zu Ende?“

Seine Aufrichtigkeit söhnte sie wieder vollends mit ihm aus. Ihre schönen Augen lächelten Verzeihung.

Schellenberg hatte ein erlesenes Souper in einem stillen, feierlichen Restaurant bestellen lassen – in dem gleichen Restaurant, wo er vor Jahren mit Michael soupierte.

Es gibt Menschen – so dachte Jenny Florian –, die man nie kennenlernt, die sich verhüllen, verschleiern, mit ihrem Willen oder gegen ihre Absicht. Dumme, eingebildete, überhebliche unglückliche Wesen. Wiederum gibt es Menschen, die sich erst nach Jahren langsam erschließen, und es gibt Menschen, sie sind selten, mit denen man in der ersten Minute vertraut ist. Das sind die Ehrlichen, Einfachen, Reichen, die sich nicht scheuen, die Türe weit aufzumachen. Zu diesen Menschen, so schien es Jenny, gehörte Wenzel Schellenberg. Er machte keine Redensarten, versuchte nicht zu fesseln, geistreich zu erscheinen, vorzutäuschen, er posierte nicht, er war schlicht und einfach und gerade. Nach einer kurzen Befangenheit hatte Jenny das Gefühl, als ob sie Wenzel schon jahrelang kenne.

Zum erstenmal wagte sie ihm voll ins Gesicht zu sehen, zum erstenmal sah sie ihn wirklich. Dieses Gesicht war breit, derb, fast etwas bäurisch, aber fest und groß. Die Haut war rissig, braun, wie Leder. Die Augen hingen wie unregelmäßige Scherben darin. Und es war sonderbar, es schien Jenny, als sähe sie in diesem Augenblick zum erstenmal wirklich ein menschliches Gesicht. Alles, was sie sich früher über das menschliche Antlitz gedacht hatte, schien Vorurteil und Nachempfindung. Nun also begann es, nun trat sie ins Leben ein, nun sah sie das Gesicht des Menschen, wie es wirklich ist – ohne Beschönigung.

„Haben Sie Mut, Fräulein Florian?“ fragte Wenzel, die grauen Augen, deren Blick etwas kalt schien, fest auf sie gerichtet.

Diese undurchsichtige Frage erschreckte Jenny. „Mut? Wozu Mut, Herr Schellenberg?“ fragte sie, den schmalen Kopf verlegen zur Seite geneigt.

„Mut, dem Leben in die Augen zu sehen?“

„Oh, ich weiß nicht, ob ich diesen Mut habe. Vielleicht –?“

„Ich hoffe es, obschon dieser Mut in unserer Zeit selten geworden ist. Die kleinlichen gesellschaftlichen Maßstäbe haben die Menschen im allgemeinen zu einem erbärmlichen Gesindel gemacht. Ich kenne Leute, die Angst davor haben, ihre Miete nicht bezahlen zu können, die das Urteil ihres Portiers fürchten, die bei dem Gedanken zittern, gelegentlich, wegen irgendeiner Sache, ein paar Wochen eingesperrt zu werden. Ja, so lächerlich sind diese Menschen in diesem Zeitalter geworden. Klein und ekelhaft – ich verabscheue sie! Wissen Sie, was es bedeutet: Mut zu haben, dem Leben in die Augen zu sehen? Es bedeutet den Mut zu haben, unter Umständen auch zugrunde zu gehen. Diesen Mut müssen Sie haben, Fräulein Florian. Sie wissen, daß auch der wilde Tiger sich wie eine Katze zu Füßen des Bändigers legt, wenn er nur Mut hat.“

„Ich habe entsetzliche Angst vor Tigern!“

„Um so größer muß Ihr Mut sein, Fräulein Florian. Denn Sie haben es ja im Leben nicht mit Tigern zu tun, sondern mit Menschen. Der Tiger ist gewiß eine achtunggebietende Erfindung des Schöpfers. Aber er könnte noch schrecklicher sein. Zum Beispiel, wenn er imstande wäre, sein Gebiß mit der Tatze herauszunehmen und meilenweit nach seinem Opfer zu schleudern. Das alles aber kann der Mensch, der weitaus schrecklicher ist als der Tiger. Er opfert für seine Eitelkeit, seinen Ehrgeiz, seine Genußsucht, ohne mit der Wimper zu zucken, Tausende von Mitmenschen, für seinen Wahnsinn Millionen, was auch dem wildesten Tiger nicht in den Sinn käme.“

„Wie schrecklich Sie den Menschen sehen!“

„Aber, Fräulein Florian, auch dieser furchtbare Mensch wird sich demütig zu Ihren Füßen niederlegen, wenn Sie nur Mut haben. Und Sie werden diesen Mut haben. Auf Ihre Gesundheit!“

Jenny hob das Glas. Die Erregung färbte langsam ihre Wangen mit einem zarten Orangehauch, der Wenzel entzückte. Es ist ein Rot, wie es Ziegelsteine abfärben, dachte er.

„Die meisten Menschen scheitern im Leben,“ fuhr er fort, „weil sie feige sind! Es wird sich also darum handeln, Fräulein Florian, daß Sie alle Ihre Fähigkeiten steigern und meistern. Sie haben viele Talente, erwidern Sie nichts, ich sehe es an jeder Ihrer Bewegungen. Ich gestehe es Ihnen ganz offen, daß ich mich lebhaft für Ihre Talente interessiere. Ich selbst bin ohne jede Begabung, wenn man es nicht eine Begabung nennen will, daß jemand mit Kanonen schießen kann. Die Beherrschung von Maschinen aber – heute maßlos überschätzt – ist eine Kunst für Kinder und Schwachsinnige, nicht mehr. Um so mehr ziehen mich Menschen mit Talenten an. Endlich also komme ich zu meinem Ziel. Ich bitte um die eine Gunst, Ihnen ein Berater sein zu dürfen, anfangs wenigstens. Später brauchen Sie weder mich noch den Teufel! Ihr ganzes Dasein muß auf die Pflege und Schulung Ihrer Talente eingestellt sein, ohne daß es ausartet, mißverstehen Sie mich nicht. Sie werden vorerst ein bißchen filmen, und vom Film werden Sie zur Bühne kommen. Ein paar Jahre zähester Arbeit – hören Sie! –, und die Welt liegt zu Ihren Füßen, ich weiß es.“

Jenny lächelte verwirrt, beglückt. Glaubte er so bedingungslos an sie?

Ohne jede Pause aber fuhr Wenzel fort: „Und morgen beginnen wir, Fräulein Florian! Sagten Sie nicht, daß Sie auch tanzen? Schön, damit werden wir anfangen. Ich werde sehen, daß ich einen hervorragenden Lehrer für Sie finde, der Sie ausbildet. Ich werde mich ebenso nach einem Schauspieler umsehen, der Ihnen etwas geben kann. Sie werden täglich reiten, wenn es Ihnen Freude macht. Meine Pferde stehen sich die Beine lahm im Stall. Sie werden Ihre jetzige Wohnung mit einem guten Hotel oder einer vorzüglichen Pension vertauschen. All diese Dinge sind nicht unwesentlich und spielen eine größere Rolle, als Sie vielleicht ahnen. Ihr Tag wird eingeteilt sein, Sie werden sich disziplinieren. Ohne Disziplin ist nichts! Glauben Sie nicht an die Legende des Genies, dem es der Herr im Schlafe gibt. Wollen Sie sich meiner Leitung anvertrauen?“

Oh, ob sie wollte! Sie fühlte hier eine ungeahnte, ungewöhnliche Kraft des Willens, und sie begann plötzlich Wenzel Schellenbergs Erfolge zu begreifen.

„Seien Sie selbstbewußt, stolz, ohne töricht eitel zu sein –“ Plötzlich änderte Wenzel den Ton. „Da fällt mir ein,“ sagte er, „wo ist der Vertrag der Filmgesellschaft? Darf ich ihn sehen? Man kann nie vorsichtig genug sein.“ Aufmerksam studierte er den Vertrag. „Es ist gut so,“ sagte er dann. „Sie werden für jeden Film, den Sie spielen, ein besonderes Honorar erhalten und dazu ein Fixum. Werden Sie mit zweitausend Mark im Monat reichen?“

„Aber gewiß.“

„Nun, dann unterzeichnen Sie den Vertrag. Ich werde als Ihr Wächter hinter Ihnen stehen wie der Erzengel mit dem Schwert. Ich glaube nicht an die Liebe, Fräulein Florian, aber ich glaube an die Kameradschaft und schätze sie höher ein als die Liebe. Ich hoffe, wir werden gute Kameraden werden.“

7

Lise war den ganzen Tag sehr erregt. Am Abend um sechs Uhr sollte Frau von dem Busch in Berlin eintreffen. Trotzdem Lise sich schon am frühen Nachmittag fertig gemacht hatte, sich förmlich „abhetzte“ – trotzdem kam sie zehn Minuten zu spät auf den Bahnhof. Zu ihrem großen Glück mußte der Zug einige Minuten Verspätung gehabt haben. Die Reisenden strömten gerade über den Bahnsteig.

Lise sah die Mutter neben dem Waggon stehen, eingehüllt in Mantel und Pelzkragen. Ihr Hut hatte einen zu breiten Rand. Dazu trug sie einen Schleier. Frau von dem Busch liebte es, sich für die Reise extravagant zu kleiden: etwa wie eine etwas schrullenhafte englische Millionärin. Einige Jahre zurück, aber kostbar im Material.

Frau von dem Busch winkte mit dem Schirm. Diese Bewegung erschien Lise ungnädig und ungeduldig.

„Da bist du ja, Mamachen!“ rief Lise aus und stürzte in die Arme der Mutter. „Verzeihe, daß ich mich verspätet habe, aber das Auto hatte eine Panne.“ Sie log zu ihrer Entschuldigung, obwohl es gänzlich unnötig war.

„Oh, dieses Berlin!“ seufzte Frau von dem Busch, die mit großer Aufmerksamkeit ihr Handgepäck im Auge behielt. „Hier, Träger Numero zweiundvierzig, nehmen Sie das Handgepäck. Vergiß die Nummer nicht, Lise.“

„Welch häßliches Wetter du mitgebracht hast, Mamachen.“ Es schneite in dicken Flocken. Aber die Flocken zerrannen sofort wieder auf dem Pflaster.

Endlich war das Gepäck verstaut und sorgfältig nachgezählt.

„Gott sei Dank, das wäre überstanden,“ sagte Frau von dem Busch, und ihre Stimme wurde klar und sicher. „Die Ankunft ist immer das Schlimmste. Wie geht es zu Hause, Lise? Ja, mein Kind, ich bin gekommen, um deine Angelegenheiten etwas in die Hand zu nehmen.“

„Ich freue mich, daß deine Erkältung vollkommen verschwunden ist, Mamachen,“ lenkte Lise ab. Sie wollte nicht, daß ihre Mutter schon im Wagen von diesen unerquicklichen Dingen spreche.

„Es war nicht eine Erkältung, Lise. Es waren zwei und dazu das Rheuma. Der Winter war sehr schlecht.“

Wieviel Gepäck sie mitgebracht hat, dachte Lise. Wie lange wird sie bleiben wollen?

Die beiden Kinder, Gerhard und Marion, empfingen die Großmutter im Treppenhause. Sie hatten länger als eine halbe Stunde vor der Tür gewartet. Als sie die Großmama erkannten, stießen sie ein lautes, freudiges Geheul aus.

„Aber so tobt nicht so, ihr Wildfänge,“ besänftigte sie Frau von dem Busch. „Was sollen die Leute sagen? Kommt erst herein!“ Sie herzte und küßte die Kinder, und ihr sonst etwas frostiges Gesicht strahlte glücklich. Sie errötete vor Freude. „Da sieht man euch endlich wieder, und wie reizend sie euch herausgeputzt haben.“

Das Mädchen gab sich den Liebkosungen der Großmutter vollkommen hin. Sie schmiegte sich mit ihrem ganzen Gewicht in ihre Arme und wäre herabgestürzt, hatte man sie nicht festgehalten.

Gerhard dagegen war zurückhaltend und scheu. Er wand sich abwehrend, so gut es ging, ohne daß es allzusehr auffiel, in den Armen der Großmutter. Er liebte es nicht, von ihr abgeküßt zu werden. Wo sie ihn küßte, entstand ein nasser Fleck, und das haßte er. Sie hat ja einen Schnurrbart, dachte Gerhard. In der Tat, Frau von dem Busch hatte einige dünne Härchen auf der Oberlippe, die für gewöhnlich aber niemand beachtete.

„Lege doch erst ordentlich ab, Mamachen.“

Frau von dem Busch trug noch den Mantel. Nur den Pelzkragen hatte sie abgeworfen. Ihr Hut saß etwas schief von den Liebkosungen der Kinder.

„Ich kann mich nicht satt an ihnen sehen!“ rief sie aus. „Marion hat genau solche hübsche rote Backen, wie du sie hattest, Lise. Jede ein Apfel. Gerhard sieht nicht so wohl aus. Das ist ein ganz anderes Gesicht,“ sagte sie zögernd, und Gerhard, der sie nicht verstand, aber ahnte, daß diese Worte nichts Angenehmes bedeuteten, sah sie mit einem argwöhnischen Blick an.

Frau von dem Busch stopfte den Kindern Schokolade in den Mund. „Und du, wie heißt du?“ wandte sie sich plötzlich an das Zimmermädchen.

„Ich heiße Marie,“ antwortete das Mädchen und lachte. Das Mädchen lachte nur, weil Frau von dem Busch sie duzte.

„Weshalb lachst du? Bei mir sollte ein Mädchen es sich einfallen lassen, so zu lachen. Bringe eine Nadel und einen Faden, siehst du nicht, daß eine Masche von Marions Strumpf rinnt. Oh, diese Mädchen von heute haben keine Augen im Kopf.“

Gerhard mußte der Großmutter die französische Grammatik bringen und ihr zeigen, wie weit er bereits in den Lektionen gekommen war. „Und, wie sagt man: Hier bin ich, Gerhard?“ fragte sie. Gerhard wußte wohl, wie man sagte, aber er empfand es beleidigend, daß man ihm alberne Fragen in dieser herrischen Form vortrug, und so antwortete er nicht. Seine grauen Augen glänzten abweisend, es waren Wenzels Augen. Zudem entdeckte die Großmutter Eselsohren in der Grammatik, und sie versprach Gerhard, ihm morgen zu zeigen, wie man ein Buch einbindet.

„Ein stolzes, eigenwilliges Kind, Lise,“ sagte die Großmutter. „Aber schon ist die große Begabung des Vaters unverkennbar.“

Lise staunte.

Endlich war die Begrüßung zu Ende. Frau von dem Busch hatte die Reisekleidung abgelegt. Sie küßte Lise, sah ihr lange und zärtlich in die Augen, und dann begaben sich die beiden Frauen in das Speisezimmer.

„Ich habe gleich decken lassen, Mamachen.“

„Oh, wie gut, ich bin ordentlich hungrig. Ja, es war höchste Zeit, daß ich wieder einmal nach Berlin kam, um mit dir über all die Dinge zu sprechen.“

„Wollen wir zuerst essen, Mamachen?“ fragte Lise und zerknitterte die Stirne.

Nach Tisch aber – nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren – gab es für Frau von dem Busch kein Halten mehr. „So,“ sagte sie und lehnte sich in den Sessel zurück, und Lise wußte, daß die Mutter nunmehr von dem wichtigen Thema nicht mehr abzubringen war. „Also,“ begann Frau von dem Busch, „ihr zankt euch noch immer?“

„Zankt?“ Lise sah die Mutter verständnislos an.

„Zankt, ja. Ihr seid beide Kinder. Auch Wenzel, Gott, was für ein Kind er ist, ein wilder Junge, der dumme Streiche macht. Aber man muß zugeben – und ich habe es ja auch nie geleugnet –, daß er viele gute Eigenschaften hat. Zum Beispiel, er ist kühn, mutig, entschlossen, das ist eine Eigenschaft, die nicht alle Männer, ja, die wenigsten, haben. Dabei ist er ja eigentlich gutmütig –“

Lises Gesicht flammte. „Mama,“ unterbrach sie die Mutter, sofort erregt. „Du scheinst die Situation, die du ja zur Genüge kennst, absichtlich verkennen zu wollen.“

„Absichtlich? Ich bitte recht herzlich, mein Kind.“

„Ja, absichtlich. Du weißt sehr gut, daß es zwischen mir und Schellenberg aus ist, ein für allemal zu Ende.“

Frau von dem Busch lächelte nachsichtig. „Das sind nur Worte, Lise,“ entgegnete sie. „Ich habe Eheleute gekannt, die dreimal geschieden wurden und sich immer wieder heirateten. Wenzel ist eine schrankenlose Natur, er mußte sich austoben. Ich bin überzeugt, daß er jetzt schon anderer Meinung geworden ist. Jedenfalls werde ich den Versuch machen –“

Lise machte Miene aufzustehen. „Ich habe es dir hundertmal wiederholt, Mama,“ sagte sie mit eigensinnig zerknitterter Stirn. „An eine Aussöhnung ist nicht zu denken. Wenigstens was meine Person betrifft, nie, niemals. Und auch Schellenberg –“

Zärtlich griff Frau von dem Busch nach Lises Hand. „Ich meine es ja nur gut mit dir,“ fuhr sie fort, „wir können doch über all diese Dinge ruhig und offen sprechen. Deshalb bin ich ja nach Berlin gekommen. Man hört so viel. Neulich war Oberst von Carlowitz aus Berlin bei mir. Was er alles erzählte! Dieser Wenzel, wer hätte es gedacht, soll ja eine ganz fabelhafte Karriere gemacht haben! Wer hätte ihm das zugetraut? Oberst von Carlowitz sagte, Wenzel sei einer der fabelhaftesten Köpfe von Berlin. Das heißt, ich will offen sagen, an Wenzels großen Fähigkeiten habe ich ja nie gezweifelt.“

Lise verzog die Lippen. „Es quält mich, Mama,“ sagte sie.

„Aber ich verstehe nicht, wieso soll es dich denn quälen? Man muß über all diese Dinge ruhig sprechen können. Der Zeitpunkt einer Aussöhnung scheint dir also noch nicht gekommen zu sein? Das ist schade, sehr schade. Ich hätte es begrüßt. Oberst Carlowitz erzählte, daß Wenzel sich in geradezu blendenden Verhältnissen befindet. Er sprach von ungeheuren Reichtümern.“

Gequält preßte Lise die Hände an die Schläfen. „Oh, Mama, ich will nichts von diesen Reichtümern. Ich will nichts von diesem zusammengescharrten Geld!“

Frau von dem Busch öffnete erstaunt den Mund. „Wie töricht du bist!“ rief sie aus. „Du bist ja immer noch seine gesetzmäßige Frau! Wie gut ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin. Du bist eine Künstlerin, eine Idealistin, du verstehst es natürlich nicht, deine Interessen wahrzunehmen.“

„Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe,“ erwiderte Lise gelangweilt.

„Du bist zufrieden? Und Oberst von Carlowitz erzählte, vielleicht übertreibt er, daß Wenzel vor kurzem die Jacht einer Großherzogin gekauft habe!“ Frau von dem Busch wollte alles, jede Einzelheit wissen, sie war ja nur zu diesem Zwecke nach Berlin gekommen.

Lise wiederholte, daß sie nichts Neues zu erzählen habe. Sie hatte ja über alles bereits hundertfach schriftlich und mündlich berichtet. Das war die Wahrheit. Bis auf jene Dinge, die Lise absichtlich verschwieg, war Frau von dem Busch in alles eingeweiht.

Als Lise eingesehen hatte, daß Wenzel auf keinen Fall mehr zu ihr zurückkehren würde, hatte sie sich, wenn auch unter Qualen, damit abgefunden. Sie spielte zuerst die Rolle der verkannten, verlassenen Frau. Sie war auch in der Tat viele Monate wirklich unglücklich. Sie sah plötzlich alle guten Eigenschaften Wenzels im hellsten Lichte erstrahlen. Aber die Zeit ging, die guten Eigenschaften verblaßten, und die schlechten Eigenschaften traten hervor. Nunmehr sah sie nur noch die schlechten Eigenschaften Wenzels, und sie sah ein, daß ein Mensch wie er „nicht zu ihr paßte“. Das anfängliche Unglück aber hielt sie nicht ab, ihr Leben wenigstens äußerlich in den gewohnten Formen fortzuführen. In ihrem Salon gingen Damen und Herren aus und ein. Man kam zum Essen, wann man wollte, zum Tee. Man konnte zu Lise Schellenberg immer kommen, immer gab es Umarmungen und Küsse. Es verging fast kaum ein Tag, an dem nicht drei, vier Besuche dagewesen wären. Zweimal in der Woche spielte ein Quartett, jeden Tag war Gesangsstunde, dazu Konzerte, Theater, Einladungen aller Art. Als es mehr und mehr bekannt wurde, daß Wenzel Reichtümer erwarb, beobachtete Lise, daß das Interesse an ihrer Person sich wesentlich erhöhte. Man betrachtete sie aufmerksam, und ihre Freundinnen begannen auf diese Veränderung hinzuweisen. „Lise, man hört Dinge –“ Aber Lise richtete sich sofort überempfindlich auf und machte weiteren Ausführungen mit einem Blick ein Ende. „Sprechen wir nicht davon, kein Wort mehr.“

Es lag nicht in Wenzels Natur, geizig zu sein. Er hatte kein Arg gegen Lise im Herzen. Im Gegenteil, er wußte, daß er sie tief verletzt hatte. Da waren ja auch seine beiden Kinder, und es lag ihm daran, daß sie eine vorzügliche Erziehung genossen. Lises Ansprüche aber wuchsen von Monat zu Monat.

Michael fungierte in diesen Jahren als Vermittler zwischen dem Bruder und Lise. Wenzel, der klare Verhältnisse liebte, hatte ihr durch Michael und den Anwalt mehr als einmal die Scheidung vorgeschlagen und ihr glänzende Vorschläge in materieller Hinsicht gemacht. Oft war Lise nahe daran gewesen, anzunehmen. Aber seit sein Reichtum notorisch geworden war, setzte sie allen Vorschlägen ein eigensinniges Nein entgegen.

Sie kaufte Wäsche, sie kaufte Kleider und Schuhe, sie kaufte Hüte und Pelze, aber die Rechnungen ließ sie alle Wenzel zustellen. Er befahl, daß sie bezahlt werden sollten, daß man aber den Firmen mitteilte, daß er nicht mehr für die Schulden seiner Frau aufkäme. Er fing an mit einzelnen Firmen zu prozessieren. Lise ging zu anderen Firmen, und wieder kamen Stöße von Rechnungen.

„Es tut mir leid, daß sie mich zu anderen Schritten zwingt,“ sagte Wenzel mit einem bösen Lächeln. Er übergab die Angelegenheit einem seiner Anwälte. Und die Richter, die beim Anblick dieser Rechnungen kaum die Sprache zurückfanden, entmündigten Lise.

Als der Anwalt Lise diese Nachricht mitteilte, wurde Lise zum erstenmal in ihrem Leben wirklich ohnmächtig. Drei Tage lang schwankte sie kreidebleich durch die Wohnung. „Ich hätte nicht gedacht, daß er ein Schuft ist,“ sagte sie. „Das ist die furchtbarste Enttäuschung, ich hielt ihn nur für leichtfertig.“

Natürlich hatte Lise der Mutter diese beschämende Sache mit der Entmündigung nie mitgeteilt. Sie hatte ihr nur angedeutet, daß sie mit Wenzel prozessiere, da er die Rechnungen – Schuhe, Kleider, Wäsche für die Kinder – beanstande.

Und über diesen Prozeß, der nach Lises Darstellung noch immer nicht beendet war, geriet Frau von dem Busch an diesem Abend abermals in helle Erregung.

„Wie gut ist es, daß ich wieder einmal gekommen bin, um nach dem Rechten zu sehen, Lise!“ rief sie aus. „Die Anwälte machen mit dir natürlich, was sie wollen. Morgen werde ich zu Justizrat Davidsohn gehen. Er ist ein alter Freund von Papa. Und dann noch etwas. Weißt du, Lise, wozu ich mich entschlossen habe, jetzt in dieser Minute?“ Frau von dem Busch hatte sich vor Erregung erhoben und blickte Lise mit einem kühnen Blick an.

„Wozu, Mama?“ fragte Lise.

„Ich werde morgen zu Wenzel gehen! Ja, ich werde es tun!“

„Er wird dich nicht einmal empfangen, Mama,“ entgegnete Lise mit einem spöttischen Lächeln.

Schon funkelten die Augen der alten Dame zornig. „Oh, er wird es nicht wagen, mich abzuweisen,“ sagte sie und ballte die kleine, bleiche Faust.

8

Lise gab sich alle Mühe, der Mutter den Aufenthalt in Berlin so angenehm wie möglich zu machen. Frau von dem Busch wollte nur eine Woche in Berlin zubringen, um sich hierauf in ein Sanatorium zu begeben. Wahrscheinlich in den Weißen Hirsch bei Dresden. Ihre Nerven waren angegriffen und ihr Darm geschwächt. Überhaupt fühlte sie sich noch nicht ganz erholt.

Die Damen besuchten Theater, Konzerte. Lise gab Einladungen. Die Wohnung wimmelte von Menschen. Das berühmte Quartett spielte, Lise sang. Ein Lohndiener mit weißen Handschuhen reichte den Tee. Frau von dem Busch saß mit ihrer weißen Haarkrone, umringt von Damen und Herren, und strahlte vor Entzücken. Man sagte ihr Schmeicheleien über ihr Aussehen, über Lise und Lises Stimme. „Hören Sie doch, dieser Ton!“ Sie war eine noch schöne Frau, mit roten Wangen. Besonders schön waren ihre gepflegten, mit Ringen geschmückten Hände. Ihr linkes Augenlid war etwas gelähmt und bedeckte das Auge um eine Kleinigkeit mehr als das rechte. Das gab ihrem Gesicht den Ausdruck großer Nachdenklichkeit und geheimnisvoller Verschwiegenheit.

Die Woche war längst vorüber, aber Frau von dem Busch traf noch nicht die geringsten Anstalten abzureisen. Wie lange bleibt sie noch? fragte sich Lise. Sie liebte die Mutter aufrichtig, aber sie ertrug ihre Gegenwart nach einer Reihe von Tagen nur schwer.

„Herrlich ist es bei dir in Berlin, Liebling,“ sagte Frau von dem Busch und tätschelte Lises volle, weiche Wangen. An den Vormittagen „arbeitete“ sie im Haushalt. Das heißt, sie beschäftigte die Mädchen. Die Gardinen wurden gewaschen, die Türen und Fenster abgeseift. Die Garderobe wurde nachgesehen, die Wäsche. Dann wurden die Fußböden gewichst. Frau von dem Busch selbst rührte keinen Finger. Sie erledigte am Schreibtisch ihre umfangreiche Korrespondenz und erschien nur alle fünfzehn Minuten. Ihre Dispositionen waren indessen so klar, daß niemand zu widersprechen wagte.

An einem Vormittag aber verschwand sie geheimnisvoll. Lise wußte sofort, was dies zu bedeuten hatte. Sie war zu Wenzel gegangen! Sie kannte den Eigensinn der Mutter und war der Ansicht, daß ihr eine kleine Demütigung nicht schaden würde.

Es muß gesagt werden, daß Frau von dem Busch nicht nur die Interessen ihres Kindes verteidigen wollte; auch ihre Neugierde trieb sie zu Wenzel. Da hatte sie nun unaufhörlich die verschiedensten Gerüchte und Legenden vernommen – sie war ja vor zwei Jahren schon einmal in Berlin gewesen –, aber gerade im letzten Jahre hatten diese Legenden eine phantastische Färbung angenommen.

Das Haus in der Wilhelmstraße wimmelte von Menschen. Ein Paternoster-Werk stieg auf und ab. Menschen sprangen heraus, schlüpften hinein. Der Lift stieg lautlos in die Höhe. Ein Diener nahm ihre Karte höflich und wohlerzogen entgegen und öffnete ihr die Tür eines kleinen, luxuriös eingerichteten Wartesalons. Nicht ein Stäubchen! Hier konnte Lise lernen.

Und das gehörte alles ihm, den sie – in ihrem Zorn, als er Lise entführte – einen „gemeinen Verbrecher“ genannt hatte, einen „dummen Jungen, der noch nicht trocken sei hinter den Ohren“ – das war nun allerdings viele Jahre her und durch ihre Erregung erklärlich. Sie bereute.

Zuerst kam ein junger Mann mit roten Bäckchen ins Zimmer, dem man sofort die gute Erziehung anmerkte. Er klappte mit den Absätzen, verbeugte sich, bat um eine Sekunde Geduld. Dann kam ein sehr distinguiert aussehender Herr mit einer schiefen Nase, ein Hauptmann mit einem unverständlichen Namen, der höflich ersuchte, sich noch eine Minute gedulden zu wollen. Frau von dem Busch war nahe daran, Wenzel alle seine Sünden zu vergeben.

Dann aber kam etwas zur Tür herein, etwas Massiges, Schwammiges, das über den Kneifer schielte, rot wie eine Rübe, einen kleinen roten Scheitel auf der Glatze, rote Bartstoppeln auf den feisten Backen. Goldbaum. Er verdarb den ganzen guten Eindruck.

„Mein Name ist Goldbaum, gnädige Frau,“ sagte die rote Rübe und nahm in einem Sessel Platz. „Ich bearbeite die privaten Angelegenheiten des Herrn Schellenberg. Ich bitte, gnädige Frau, Ihre Wünsche zu äußern –“

Frau von dem Busch aber verlangte Herrn Schellenberg persönlich zu sprechen. Die Masse schwankte, erhob sich, beteuerte, daß es schwer sei, außerhalb der Reihenfolge – und der Rothaarige verschwand.

Man sagte mir ja, sonderbare Elemente, dachte Frau von dem Busch. Es ist natürlich manches wahr daran.

Da kam der kleine rotbäckige Leutnant mit den guten Manieren wieder und führte sie direkt in Wenzels Arbeitszimmer.

Frau von dem Busch hatte sich vorgenommen, um der „Sache ihres Kindes zu dienen“, auf Wenzel einfach zuzugehen, als sei nichts geschehen, und ihm zu sagen, daß zwischen den Menschen – aber der Blick Wenzels, der sich hinter einem großen Schreibtisch höflich erhob, belehrte sie sofort, daß bei diesem Burschen ein solcher Ton ganz und gar nicht am Platze sei.

Sie breitete nicht die Arme aus, wie sie es beabsichtigt hatte, von ihrer ganzen einstudierten Rolle blieb nur ein harmloser Ton der Anrede, dessen Unverfrorenheit Wenzel verblüffte.

„Ich bin in Berlin, Wenzel,“ sprudelte sie hervor, „und ich mußte dich sehen, um dir guten Tag zu sagen und dich zu beglückwünschen. Wie du aussiehst, prächtig. Etwas voller bist du geworden. Nicht dieses Gesicht, Wenzel – wir haben uns zuweilen gestritten, ich weiß es. Aber wir sind ja nur Menschen, und du bist klug genug, um zu vergessen.“

„Ich vergesse nichts! Ich vergesse niemals!“ fiel ihr Wenzel brüsk ins Wort. Sein Gesicht verfinsterte sich für einen Augenblick. Dann bat er sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Seine Augen waren kalt, hart und ohne jede Gnade.

„Ich bin erstaunt, Sie hier zu sehen, Frau von dem Busch,“ sagte er hierauf, indem er die Augen ruhig und leidenschaftslos auf das Gesicht seiner Schwiegermutter heftete. „Was wollen Sie?“

Wenzel war der alten Dame vom ersten Augenblick an überlegen. Er war, nachdem er sich von der ersten Verblüffung erholt hatte, völlig ruhig, sachlich, geschäftsmäßig, während sie vor Erregung bebte.

„Ich bin gekommen, Wenzel,“ sagte Frau von dem Busch, die plötzlich ihre Sicherheit verloren hatte, „um mit dir die geschäftlichen Angelegenheiten Lises zu ordnen.“

„Sie sind geordnet,“ erwiderte Wenzel kühl und höflich. Er schob Frau von dem Busch eine Mappe mit Rechnungen und einen Kontoauszug hin. „Hier sind die Abrechnungen, und hier sind die Rechnungen, die ich für Ihre Tochter bezahlt habe.“

Frau von dem Busch setzte ihm mit vielen Worten auseinander, daß es seine Pflicht sei, Lise und seine Kinder seinem Vermögen gemäß zu unterhalten.

„Ich tue es,“ erwiderte Wenzel erstaunt. „Aber Sie werden zugeben, daß es natürlich Grenzen gibt. Ich habe keine Lust, sechzehn Stunden zu arbeiten, um die Launen Ihrer Tochter zu befriedigen. Ich habe auch keine Lust, alle die Folgen der schlechten Erziehung zu tragen, die Sie Ihrer Tochter angedeihen ließen.“

Frau von dem Busch sah ihn mit einem beleidigten Blick an. „Sie sind herzlos und grausam!“ schrie sie außer sich. Ihr Gesicht war vor Erregung so weiß geworden wie ihr Haar.

„Nun, so will ich lieber herzlos als schwachsinnig erscheinen,“ erwiderte Wenzel. „Aber ich bitte Sie, mich jetzt zu entschuldigen.“ Er erhob sich und wies auf einen älteren, weißhaarigen Herrn, sehr schlank, der soeben eintrat. „Darf ich Ihnen Herrn General von Simmern vorstellen, der Ihnen zur Verfügung stehen wird?“

Es zeigte sich indessen, daß auch dieser würdige alte Militär die Interessen Wenzels vertrat.

„Ich muß offen bekennen,“ sagte der weißhaarige General, „daß sechzig Paar Schuhe in einem Jahr und zweihundert Paar Seidenstrümpfe doch immerhin –“

Frau von dem Busch unterbrach ihn. „Darf ich bitten, ich möchte mit meinem Schwiegersohn persönlich verhandeln.“

„Herr Schellenberg ist nicht mehr im Hause.“

Bleich, mit hektischen Flecken im Gesicht, verließ Frau von dem Busch das Haus. Sie nahm ein Auto und fuhr sofort zu Justizrat Davidsohn, einem Anwalt, den sie von früher her kannte und zu dem sie das größte Vertrauen hatte.

„Er ist taktlos und brutal!“ schrie sie im Auto, rasend, außer sich.

Davidsohn bat sie, sich zu beruhigen und ihm in aller Ruhe den Fall auseinanderzusetzen.

„Ich bitte Sie, ohne jegliche Schonung vorzugehen,“ ermahnte sie den Anwalt.

„Schellenberg?“ fragte der Justizrat. „Welcher Schellenberg? Es gibt zwei Schellenberg.“

„Wenzel Schellenberg.“

„Oh, Wenzel Schellenberg! Berichten Sie weiter, gnädige Frau. Es gibt noch Michael Schellenberg, von dem die Zeitungen so häufig sprechen.“

Frau von dem Busch trug ihre Angelegenheit mit allen Einzelheiten vor. Der Anwalt betrachtete sie mit aufmerksamen Augen, aber er hörte nur mit halbem Ohre hin. Er dachte an den Schriftsatz, den er in dem Prozeß Bergenthal & Co. noch in dieser Stunde diktieren mußte. Nur dann und wann warf er eine zerstreute Frage dazwischen.

„Hat Ihre Tochter eine Mitgift in die Ehe eingebracht?“

„Mitgift? O nein. Mein Mann war ein hoher Verwaltungsbeamter, er liebte es, ein Haus zu führen und legte großen Wert auf Kleidung. Es war seine Pflicht. Er diente nur dem Staat. Es war ihm unmöglich, Reichtümer zu sammeln. Damals waren die Beamten ganz anderer Art, Sie wissen es.“

„Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau. Ich wollte nur Klarheit. Hätte Ihre Tochter eine Mitgift bekommen, so wäre es vielleicht möglich gewesen, zu beweisen, daß Herr Schellenberg sein Vermögen auf Grund dieser Mitgift erworben hat. Gewiß, es wird alles geschehen, was in meiner Macht steht. Es ist selbstverständlich, daß Ihre Tochter Ansprüche und Rechte hat. Und wir werden diese Ansprüche und Rechte zu wahren wissen. Schellenbergs Vermögen wird heute schon auf viele Millionen geschätzt. Wir werden ihn zwingen, einige seiner Millionen herauszugeben.“ Das Gesicht des Anwalts rötete sich flüchtig vor Erregung. Er sprach, stand auf, ging hin und her, versprach, erweckte große Hoffnungen, er redete sich in Eifer. Und doch dachte er, während er sprach, ausschließlich an den Schriftsatz von Bergenthal & Co. Vor zehn Minuten hatte er genau so erregt vor Bergenthal gesprochen.

Ganz begeistert verließ Frau von dem Busch das Bureau des Anwalts.

Es ist gut, daß ich gekommen bin und die Angelegenheit in die Hand genommen habe, sagte sich Frau von dem Busch, als sie in das Auto stieg. Lise allein wäre nie zurechtgekommen. Millionen, hatte er gesagt. Es wäre wirklich ein Glück, wenn diese kleinliche Rücksichtnahme auf jeden Pfennig endlich aufhören würde. Lise würde sie noch segnen.

Frau von dem Busch gab sich Träumereien hin, während sie durch die von Menschen überfluteten Straßen rollte. Sie war zum Beispiel noch nie in Ägypten gewesen. Und bei ihrer Neigung zur Bronchitis wäre für sie das ägyptische Klima im Winter gewiß eine Wohltat.

9

Jenny speiste mit Wenzel im Hotel Eden.

„Haben Sie schon an die neue Wohnung gedacht, Fräulein Florian?“ fragte Wenzel.

„Nein,“ erwiderte Jenny, und sie errötete. Es schien ihr, als klänge Wenzels Stimme streng und rügend. Du mein Gott, sie konnte solch rasche Entschlüsse nicht fassen. „Ich habe zur Zeit noch mit meiner Garderobe zu tun. Das läßt sich in meiner alten Wohnung besser bewerkstelligen.“

„Dann trifft es sich sehr gut,“ fuhr Wenzel erfreut fort. „Ich war vorgestern hier im Hotel mit einem schwedischen Geschäftsfreund. Er hatte hier zwei Zimmer und ein Schlafkabinett und ein Bad, eine wirklich reizende Wohnung, die auf den Tiergarten hinausgeht. Der Schwede ist abgereist, und ich habe diese kleine Wohnung für Sie gemietet.“

Jenny betrachtete ihn mit großen Augen, dann schüttelte sie den Kopf. „Hier im Eden? Aber, du lieber Himmel, das ist mir viel zu teuer.“

„Sie bekommen die Wohnung sehr billig, Fräulein Florian,“ entgegnete Wenzel. „Ich bin mit dem Direktorium gut bekannt. Aber nun kommen Sie gleich mit, ich werde Ihnen die Wohnung zeigen. Ich bin gewiß, daß Sie davon entzückt sein werden.“

In der Tat, die Räume waren herrlich. Besonders das Bad entzückte Jenny. In alle Räume hatte Wenzel große Blütensträuße stellen lassen. Jenny sagte kein Wort, sie errötete tief. Das war ihr Dank.

Als Katschinsky aus Hamburg zurückkam und erfuhr, daß Jenny ins Eden gezogen war, wurde er blaß wie ein Toter. Das luxuriöse Logis schien ihm mehr zu verraten als alles andere. Augenblicklich machte er sich auf, Jenny zu besuchen. Oh, sie war sehr vornehm geworden. Man mußte sich bei ihr anmelden lassen, bevor man empfangen wurde.

Als Katschinsky die Tür des kleinen Salons öffnete und Jenny erblickte, erschrak er, so schön war sie. Nie hatte er sie so schön gesehen. Sie trug ein Kleid, das er nicht kannte. Ihre Haltung war sicher und ruhig, voll natürlichen Stolzes. Sie ging wie ein Reh.

Sie stand am Fenster und wandte ihm ganz langsam den sanft schimmernden Blick zu, mit einem leichten, etwas verlegenen Lächeln in den Mundwinkeln, als ob sie sagen wollte: Ah, da bist du ja wieder, du hättest noch länger wegbleiben sollen. Nein, nie war sie so schön gewesen. Er hatte alle Linien ihres Gesichtes und ihres Körpers in diesen beiden Wochen in Hamburg mit sich herumgetragen, den Glanz ihrer Augen und den unbegreiflichen Reiz ihres sanften Gesichtes. Und doch war sie viel, viel schöner, als er sie in seinen Gedanken gesehen hatte.

Aber als Jenny Katschinsky durch die Tür kommen sah, war ihr erster Gedanke der gewesen, daß sein Gesicht zu zart, zu unmännlich, zu weichlich, ja weibisch war.

Katschinsky nahm Platz, schlug die Beine übereinander und stützte das Kinn in die Hand.

Er kann keine Bewegung machen, ohne zu posieren, dachte Jenny. Früher hatte sie häufig gesagt: sein wunderbar gebauter und trainierter Körper zeigt immer schöne Linien, er kann gar keine häßliche Bewegung machen.

„Wie war es in Hamburg?“ fragte Jenny.

Welche Gleichgültigkeit lag in ihrer Stimme. Er kam von der Beerdigung seiner Mutter, und sie fragte: Wie war es in Hamburg? Offenbar hatte sie vollkommen vergessen, daß seine Mutter gestorben war.

Jenny errötete nun. Die Taktlosigkeit ihrer albernen Frage kam ihr zum Bewußtsein.

Katschinsky erzählte von seiner Reise. Er spielte den Gleichgültigen und Unbeteiligten, den Freund, der tief gekränkt, aber zu stolz und großmütig ist, um sich diese Kränkung merken zu lassen.

Jenny bemerkte, daß er sich vollkommen neu eingekleidet hatte. Strümpfe, Schuhe, alles war völlig neu und modern. Es fiel ihr ein, daß seine Mutter ein kleines Vermögen besessen hatte.

„Und wie steht es mit der Odysseus-Gesellschaft?“ fragte Katschinsky. „Hast du abgeschlossen?“

„Ja, ich habe abgeschlossen.“

„Die Bedingungen gut?“ fuhr Katschinsky mit großer Gleichgültigkeit fort.

„Ja.“

Dann verließ Katschinsky das Thema, obwohl er doch ein Recht gehabt hätte, Näheres über die Bedingungen zu erfahren. Er ging.

Am nächsten Nachmittag aber kam er wieder. Jenny sah es sofort seinen Augen an, daß er heute nicht die Rolle des Gleichgültigen spielen werde.

„Ich bin gekommen, dich zu einem Spaziergang abzuholen,“ sagte er in munterem Tone, als habe es nie eine Verstimmung zwischen ihnen gegeben. „Wir wollen etwas gehen, und dann möchte ich mit dir Stobwasser besuchen.“

Jenny schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht,“ antwortete sie. „Willst du Tee haben? Um sechs Uhr kommt der Regisseur zu mir. Ich habe zu arbeiten.“

„Nun, wenigstens eine halbe Stunde, er kann ja ruhig etwas warten. Mache mir die Freude, Jenny.“ Er haschte nach ihrer Hand und versuchte sie zu berühren. Er wußte wohl, welche Macht er früher über sie besessen hatte. Sobald er sie nur berührte, verlor sie alle Kraft und war ohne jeden Widerstand. Aber Jenny wich ihm aus und wiederholte nur, daß sie zu arbeiten habe, daß sie aber gern mit ihm ein halbes Stündchen beim Tee plaudern wolle.

Sie klingelte, und sofort erschien der Kellner. „Wenn Herr Doktor Brinkmann kommt, so sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.“

Sie will mir beweisen, daß ich ihr gleichgültig geworden bin, dachte Katschinsky.

Als Jenny den Tee eingoß, wobei sie ihren schlanken Körper leicht zurückneigte, während sie mit einem Finger den Deckel der Teekanne festhielt, wurde Katschinsky von einer Art Raserei ergriffen. Seine Vorsätze, sich zu beherrschen, waren wie weggeblasen. Er erhob sich bleich. Sein Atem ging hörbar vor Erregung.

Jenny, die Teekanne in der Hand, schlug das Auge groß und abwehrend zu ihm auf. Aber dieser Blick, der ihn zurückdrängte, verstärkte nur noch seine Erregung. Er nahm eine Zigarette vom Tisch, preßte sie zwischen den zuckenden Fingern und fragte, während er versuchte, die Zigarette anzuzünden: „Wie weit bist du mit ihm, Jenny? Ich wäre dir dankbar, wenn du aufrichtiger wärest. Bist du schon die Seine geworden?“ Seine Brauen flogen auf und ab.

Jenny wich zurück. „Was für ein Ton ist das?“ fragte sie leise und erbleichte. Nie war sie schöner, als wenn sie bleich wurde.

Katschinsky geriet noch mehr in Erregung. „Ich habe nie gedacht, daß du so feige bist, Jenny!“ rief er.

„Ich gebe keine Antwort auf eine solche Frage,“ erwiderte Jenny, und ihr Auge glühte auf.

„Du weißt so gut wie ich, daß er ein Halsabschneider ist!“ schrie Katschinsky rasend.

Jenny streckte zur Abwehr die Hände aus. „Pfui, pfui! Ich will es nicht!“ rief sie und stampfte zornig mit dem Fuße auf.

„Jedermann weiß es, also weißt du es auch.“ Katschinsky brachte erregt einige Fälle vor, die man sich von Wenzel Schellenberg erzählte.

Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Gehe, gehe,“ sagte sie. „Du bist ungerecht, ich will dich nicht hören, wenn du so sprichst.“

Katschinsky lenkte ein. „Du brauchst mir nur meine Frage zu beantworten, und ich gehe – für immer,“ sagte er, und sein Blick grub verzweifelt in ihren Zügen. Seine grauen Augen glänzten böse, sie funkelten vor Haß. Ja, er haßte sie, Jenny, ebensosehr wie er sie liebte. Aber mehr als sie, tödlich haßte er jenen Abenteurer, der diese Frau mit seinem Gelde gekauft hatte, er haßte ihn um so mehr, je weniger er die Möglichkeit hatte, ihm irgendwie beizukommen. Aber er würde sich rächen, eines Tages, oh, keine Angst, die Stunde der Rache würde kommen. Tag und Nacht würde es für ihn, Katschinsky, keinen anderen Gedanken mehr geben.

In diesem Augenblick klopfte es, und Doktor Brinkmann, der Regisseur, trat ein.

Katschinsky stand bleich, mit zitternden Lippen. Eine Sekunde lang hatte er geglaubt, Schellenberg werde kommen.

Jenny aber fand augenblicklich die Sicherheit zurück. Sie begrüßte Dr. Brinkmann und machte die Herren bekannt. Während sie den Tee servierte, plauderte und klingelte ihre Stimme heiter durch den Salon.

„Herr Katschinsky hat es schon beim Film versucht, aber er fand nicht die richtige Anerkennung. Ich glaube aber, daß er sehr große Begabung hat. Sie sollten ihn sich einmal näher ansehen, Herr Doktor Brinkmann.“

Dr. Brinkmann blinzelte mit den Augen und betrachtete Katschinsky aufmerksam, wie ein Händler, der ein Pferd betrachtet. „Oh, vorzüglich,“ sagte er, „das Äußere ganz vorzüglich,“ und er traf mit Katschinsky eine Verabredung.

Welche Torheit habe ich begangen, dachte Jenny. Aber nur um rasch ein Gesprächsthema zu finden, war sie auf diesen Gedanken verfallen. Katschinsky küßte ihr artig die Hand, lächelte, verbeugte sich und ging.

10

Für Wenzel Schellenberg gab es nur zwei Dinge: Arbeit und Vergnügen. Dazwischen eingeschoben ein paar Stunden Schlaf. Er befand sich unausgesetzt in einer Art Rausch. Die Arbeit berauschte ihn. Und an den Abenden und in den Nächten versuchte er sich zu betäuben durch Vergnügungen aller Art. Er besuchte die Theater, aber er zog die leichtere Muse vor, Operetten, Revuen, Dinge, die lachen machten, die ihn sättigten, ein Rausch von Farben und Fleisch. Die ernsteren Dinge verschob er auf später. Es wird wohl eine Zeit kommen, da ich nicht mehr die „hohe Fahrt“ habe, sagte er zu sich, da ich im Rennen zurückfalle, wie alle, und dann habe ich immer noch Zeit genug, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Dazu rechnete er auch Museen und Konzerte. Oh, er liebte die Musik, aber sie mußte wild sein und ein mörderisches Tempo haben. Er liebte die Zigeunerkapellen, deren Musik dahinfegte. Eine rumänische Zigeunerkapelle, die er in einer Bar entdeckt hatte, mußte bei seinen Einladungen aufspielen. Ihr Spiel entzückte ihn so sehr, daß er große Summen an diese Kapelle verschenkte. „Diese Lieder soll man spielen, wenn ich einmal sterbe! Sterben – sollte! Denn ich sterbe nicht!“

Zu den Pflichten des kleinen Stolpe gehörte es auch, herauszufinden, wo in Berlin „etwas los war“. Irgendeine besondere Varieténummer, irgendeine Tänzerin, die gefiel, eine Kapelle, die berauschte, ein Clown, über den man sich totlachte. Stolpe hatte keine leichte Arbeit.

„Es ist immer das gleiche, Stolpe,“ sagte er. „Sie müssen sich mehr umtun.“

Als Stolpe ihn einmal zu Seehunden führte, die mit Bällen balancierten, wurde er fast böse. Stolpe klopfte die Theater in den Vororten und im Osten ab. Da gab es zuweilen irgend etwas Prachtvolles zu entdecken, etwas Starkes, etwas Schamloses, etwas außergewöhnlich Häßliches, etwas außergewöhnlich Komisches, irgendeine kleine Tänzerin oder Sängerin, die Schellenberg interessieren konnte.

Schellenberg selbst gab häufig Einladungen. Da waren die offiziellen, bei denen Direktoren von Banken und Geschäftsfreunde mit ihren Frauen erschienen. Das war notwendig, aber Schellenberg langweilten diese Abende maßlos. Dann gab es die intimen Einladungen für seine Freunde, bei denen gespielt, gesungen und gezecht wurde. Die Gesellschaften währten bis zum frühen Morgen, und es ging hoch her.

Ende Oktober, das Wetter war prachtvoll, kam Wenzel die Lust an, ein Herbstfest auf seinem Gut Hellbronnen zu geben. Der leuchtende Himmel, den er über den Häuserschluchten glühen sah, verlockte ihn. Stolpe schrieb die Einladungen und reiste nach Hellbronnen voraus, um die Vorbereitungen zu treffen.

Mit diesem Landgut Hellbronnen hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Es war ein altes Jagdschlößchen, und Mackentin hatte vor dem Kriege bei einem Manöver einmal, ganz zufällig, in diesem Schlößchen in Quartier gelegen. Durch einen Kameraden erfuhr Mackentin, daß Baron Müncheberg, der Besitzer von Hellbronnen, das Jagdschlößchen verkaufen wolle. Wenzel kaufte es, ohne es gesehen zu haben. Als er ein Vierteljahr später die Zeit fand, es zu besichtigen, war er entzückt.

Das Jagdschlößchen, ein alter Schinkelbau, lag inmitten eines alten Parkes, von einem Gartenfreund vor mehr als hundert Jahren geschaffen. Das aber war nicht alles, es gab in diesem Park Wandelgänge, Taxushecken, romantische Spielereien, einen kleinen Irrgarten und eine kleine Naturbühne. Aber das war noch nicht alles. Das Jagdschlößchen spiegelte sich in einem stillen, kleinen See, der drei kleine Inseln hatte. Auf diesen Inselchen waren Pavillons errichtet, und zwei der Inseln waren durch eine japanisch anmutende hohe Brücke miteinander verbunden.

Wenzel hatte das Jagdschlößchen und die Pavillons von seinem Architekten Kaufherr instandsetzen lassen.

Das Sommerfest, das er zur Einweihung gab, hatte bis heute noch keiner der Gäste vergessen. Wochenlang sprach man davon. Eine Schauspielertruppe hatte auf der kleinen Naturbühne einige Szenen aus dem „Sommernachtstraum“ gespielt. Nicht den ganzen „Sommernachtstraum“, das wäre ja langweilig gewesen. Ein Feuerwerk lohte über dem See. Kurzum, es war unvergleichlich. Gegen zweihundert Gäste waren anwesend.

Zu diesem Herbstfest sollte etwa nur ein Dutzend Gäste geladen werden, nur der intimste Freundeskreis. Sie wurden in einigen Automobilen verfrachtet und trafen mit dem sinkenden Abend in Hellbronnen ein. Schon empfing sie die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Zigeunermusik.

Jenny war entzückt von Hellbronnen. „Es ist ja wie ein verwunschenes Schloß,“ sagte sie.

„Ich will Ihnen Hellbronnen zeigen,“ sagte Wenzel, nahm sie ohne viele Umstände unter dem Arm und führte sie fort.

Das Fest selbst enttäuschte Jenny. Sie fühlte sich nicht wohl bei all diesem Lärm, bei all diesem lauten Gelächter, bei dieser rasenden Musik und bei den Scherzen der Gesellschaft. Es waren die intimen Freunde und Bekannten Schellenbergs, zwei mit ihren Frauen, die einen leichtsinnigen Ton liebten, die andern zumeist mit Freundinnen, eleganten Geschöpfen, eine Kollegin von ihr darunter und eine sehr bekannte und sehr schöne Tänzerin, berüchtigt durch ihre Skandale. Unter den Herren befanden sich einige bekannte Bankiers, die Söhne reicher Eltern, ohne Tadel angezogen, ohne Tadel der Scheitel, die Hände, aber blasiert und langweilig. Sie erzählten Witze, die Jenny schon alle im Kaffeehaus dutzendmal gehört hatte. Welche Leere.

Die Mahlzeit war verschwenderisch. Es gab reichlich zu trinken, und selbst die Damen wurden rasch ausgelassen. Die Tänzerin stieg auf den Tisch und tanzte zwischen den Gläsern und Blumen. Ihr Erfolg war groß. Wenzel hob sie vom Tisch und drückte sie an die Brust. Und als Jenny dies sah, zerriß es ihr das Herz. Sie litt fast unaufhörlich an diesem Abend. Wenzel bevorzugte sie. Wenzel stellte sie in den Mittelpunkt der Gesellschaft, aber doch fuhr ihr jeder seiner freien, offenen Blicke, die er einer anderen Frau zuwarf, wie ein Messer ins Herz, ja wie ein Messer, das auf beiden Seiten geschliffen ist und sehr spitz, so fühlte sie es. Aber sie liebte sein Lachen. Nie hatte sie ihn so lachen gehört. Er lachte ausgelassen wie ein Knabe.

Nach dem Abendessen wurde es vor den Fenstern plötzlich hell wie bei einem Brande. Wenzel hatte riesige Pechfackeln am Seeufer aufstellen lassen. Sie brannten alle zur gleichen Zeit. Feuerströme wälzten sich in dem stillen Wasser. Es sah herrlich aus, fast erschreckend. Man beglückwünschte Wenzel zu dieser Idee.

„Man muß ja etwas sehen,“ sagte er. „Was sollen wir mit dieser Nacht anfangen, und wie schauerlich finster ist es doch auf dem Lande.“

In einem Boot fuhr die rumänische Kapelle mit ihrer rasenden Musik davon. Die Gesellschaft verteilte sich in vier kleine Boote, und man ruderte zu den Inseln. Wenzel half der Tänzerin beim Aussteigen. Er legte seine große knochige Hand um ihren schlanken Körper, und wieder litt Jenny. Großer Gott, sagte sie sich, hoffentlich ist es bald zu Ende.

In den Pavillons gab es Kaffee, Liköre und Schleckereien. Die Damen fröstelten, die jungen Bankiers stülpten den Rockkragen in die Höhe und sagten: „Es ist kalt, Schellenberg!“

„Nun gut, so fahren wir zurück. Fahrt voraus.“

„Wollen Sie hier bleiben, Schellenberg?“

„Ihr werdet schon sehen!“

Die Boote stießen ab, und alle wunderten sich, was Schellenberg unternehmen werde.

In diesem Augenblick aber sprang Wenzel von der japanisch anmutenden Brücke aus im Hechtsprung ins Wasser und schwamm hinter den Booten her. Er lachte und prustete. „Ich will euch nur zeigen, daß es nicht kalt ist!“ schrie er. Am Ufer angekommen, schüttelte er sich wie ein Pudel, der aus dem Wasser steigt.

Jenny zitterte am ganzen Körper. Sie trat dicht an Wenzel heran, berührte seinen nassen Ärmel und sagte: „Sie werden sich erkälten, kleiden Sie sich sofort um.“

Schellenberg lachte, aber mitten im Lachen brach er ab und sah Jenny in die Augen. Der Ton, in dem sie ihre Bitte aussprach, hatte ihn betroffen gemacht. Jenny war ganz bleich. „Ich gehorche!“ rief er und verschwand schnell im Hause.

Es wurde getanzt, gelacht, getrunken. Oh, Jenny war glücklich, als sie wieder in Berlin war.

11

Jenny hatte ihre Arbeit längst voller Eifer aufgenommen. Es war eigentlich das erstemal in ihrem Leben, daß sie voller Fleiß, Hingabe und Ausdauer arbeitete. Die Möglichkeit, die ihr geboten wurde, war ungeheuer selten, ein wahrer Glücksfall, und sie wußte, daß es an ihr lag, sie zu nützen.

Wenzel hatte ihren Tag eingeteilt, ihr Instruktionen gegeben, und sie folgte ihnen. Sie nahm Unterricht bei einem Tanzmeister und begann ganz von vorn mit der alten Ballettschule. Erst ging es sehr schwer, dann machte sie rasch Fortschritte, und ihr Lehrer war zufrieden.

Wenzel hatte ihr seine Reitpferde zur Verfügung gestellt, und sie nahm Reitunterricht. Jeden Morgen ritt sie im Tattersall. Sie fühlte sich leicht und frisch, war entzückt von dem Glanz der Pferde, ihren guten Augen und ihrem Geruch. Und es kam der Tag, da sie mit Genugtuung die völlige Beherrschung ihres Körpers verspürte. Sie fühlte jede Bewegung, jede kleinste Muskel. Sogar das Gehen auf der Straße war ihr ein Genuß, sie empfand es fast als Wollust.

Täglich arbeitete sie mit dem Regisseur. Doktor Brinkmann war eine schlichte, immer begeisterte Seele von einer grenzenlosen Geduld und Güte. Wenn er mit ihr arbeitete, saß er da und blinzelte, korrigierte, ließ wiederholen. Jetzt erst fing sie an zu begreifen, was es hieß, zu gestalten. Nach einigen Wochen ließ Doktor Brinkmann sie vor dem Aufnahmeapparat spielen. Sie sollte sehen lernen, wie sie sich gefilmt ausnahm. Die ersten Aufnahmen hätten Jenny fast entmutigt. Doktor Brinkmann hatte es darauf abgesehen, ihr ihre Fehler vorzuführen. Nun begann eine anstrengende, ja qualvolle Arbeit. Jeder Schritt, jede Bewegung, jede Geste mußte gelernt sein. Doktor Brinkmann selbst malte ihr das Gesicht, wie die Linse es verlangte. Plötzlich ging es. Es war keine Hast mehr da, keine Unsicherheit. Die Bewegungen flossen, das Auge glänzte und flammte leidenschaftlich.

„Sie werden es lernen!“ rief Doktor Brinkmann erfreut aus. (Sie ahnte nicht, daß er ein besonders hohes Honorar von Wenzel für seine Arbeit erhielt.)

Schon in kurzer Zeit wollte die Gesellschaft einen kleinen Spielfilm in Italien aufnehmen lassen.

Jenny gab sich ihrer Tätigkeit begeistert hin. Sie arbeitete, sie fieberte Tag und Nacht. Fast jeden Abend besuchte sie irgendein Lichtspieltheater, um zu beobachten, zu lernen. Langsam schien sich ihr auch diese schwierige Kunst zu erschließen.

Oh, und sie arbeitete auch – sie gestand es sich offen –, um die Stunden und Tage zu töten, da sie Wenzel nicht sehen konnte. In den Theatern, Bars und Weinstuben, die er mit ihr besuchte in der Gesellschaft seiner Freunde, quälte sie die Nähe dieser Freunde und eine kleinliche Eifersucht, die ihr jede Minute vergällte. Sie war glücklich, wenn er allein mit ihr speiste. Dann aber verging der Abend so schnell, und wenn sie allein war, überfiel sie die Qual der Trennung von neuem mit schrecklicherer Gewalt. Es war nicht möglich Wenzel zu erreichen. Er bat sie, ihn anzurufen. Aber häufig stand sie zwei Stunden am Apparat, sie stampfte mit den Füßen vor Ungeduld, aber immer wieder meldeten sich Stolpe, Mackentin, Goldbaum oder sonst jemand.

Jenny hatte nie geliebt. Sie wußte es jetzt, ihre Liebschaft mit Katschinsky, was war das gewesen? Nichts. Nun aber fühlte sie zum erstenmal in ihrem Leben, was Liebe ist. Und nun wußte sie, daß Liebe keine Freude ist, sondern eine Qual. Das Herz brannte ihr in der Brust wie Feuer. Sie vermochte nicht mehr an etwas anderes zu denken. Sie schrieb Briefe an Wenzel, aber sie sandte diese Briefe nicht ab. Sie fürchtete sein Lächeln, und auch sie selbst, Jenny, haßte nichts mehr als Sentimentalität.

In manchen Stunden der Unruhe versuchte sie, sich gegen ihre Leidenschaft zu Wenzel aufzulehnen. In der Einsamkeit der schlaflosen Nächte zeichnete sie sich sein Bild, und sie übertrieb alle seine Eigenschaften. Sie machte ihn maßloser, als er war, genußsüchtiger, brutaler, herzloser, sie sah, wie sein Blick schamlos die Frauen traf, aber es nützte alles nichts. Augenblicklich erhob sich ein anderer Wenzel, aus dessen kräftiger Stimme ein Hauch von Wärme auf sie eindrang, ein Freund, der seine Freundschaft eher verbarg als zeigte, der fürsorglich war und es nicht liebte, daß man ihn daran erinnerte. Oft schien er ihr wie ein Dämon, der dahinraste und Menschen verschlang, und in der gleichen Minute erschien er ihr wie ein großer Knabe, der herzlich lachte und dem man nicht böse sein konnte.

Wie war er wirklich? Wer war dieser Wenzel Schellenberg? Sie versuchte ihn zu ergründen, vergebens.

Aber es war geschehen, das Unglück, oder Glück, wie man es nennen wollte, war geschehen. Es gab für sie kein Zurück mehr. Wie zitterte sie, wenn sie seinen Schritt hörte! Wie erbleichte sie, wenn er zur Tür hereinkam! Er hatte ihr versprochen, mit ihr, sobald er Zeit habe, auf zwei, drei Tage irgendwo hinzureisen, wo sie ganz allein wären. Sie sehnte diese Reise herbei, für sie gab es nur noch die eine Frage: Wann? Aber Wenzel hatte nie Zeit.

12

Eine Hölle waren diese Tage und Nächte für Katschinsky. Zu spät kam die Reue über sein Benehmen bei seinem letzten Besuch in Jennys Salon. Er selbst war es gewesen, der die Brücken, die zu Jenny führten, abgebrochen hatte. Es gab nichts Törichteres für einen Mann, er wußte es genau, als seinen Rivalen mit Schmähungen anzugreifen. Wie furchtbar, wie ehrlos, wie erbärmlich war all das gewesen. Es war so rasch und unverständlich gekommen, daß er es noch Tage nachher nicht begreifen konnte.

Nun war es zu spät. Reue, Gram und Eifersucht peinigten ihn. Er ertrug das Leben nur, wenn er die Möglichkeit hatte, Jenny wenigstens zuweilen zu sehen. Das beschäftigte seine Gedanken, erfüllte seine Phantasie. Im luftleeren Raum konnte niemand leben. Also lauerte er Jenny auf: um hinter einer Litfaßsäule zu erbleichen, sobald er auch nur einen Ärmel ihres Mantels sah. Wenn dieses dunkelblau lackierte, breit und niedrig gebaute Auto vor dem Hotel vorfuhr, so grub er die Nägel in das Fleisch seiner Hände, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er war ohnmächtig, aber er würde sich rächen, – wie und wann, das würde sich finden.

War Stolpe im Auto, so empfand er eine freudige Erleichterung. An der Gewalttätigkeit, mit der der Wagenschlag zugeworfen wurde, erkannte er Schellenberg. Das Auto fuhr fort, und er wartete stundenlang, bis es wiederkam. Er kannte seine Scheinwerfer. Oh, wie furchtbar, all diese funkelnden Lampen dieser Schar von Automobilen, die ihn anfunkelten, die in der Nacht aus der Finsternis herankamen und den Kurfürstendamm entlangflogen. Sie blendeten ihn, daß er taumelte, er erschrak wie vor Gespenstern. Und jetzt endlich, dort kamen die beiden bösen Lampen herangeflogen. Nun war sie zu Hause. Ihre Zimmer waren hell. Ihre Zimmer erloschen.

Nun konnte er wieder atmen. Er besuchte einen Tanzklub, eine Diele, eine Spielergesellschaft, bleich, ein blasiertes Lächeln auf seinem schönen Munde, mit einem hochmütigen Gesichte saß er da. Er begann zu trinken. Katschinsky hatte nie getrunken und vertrug nichts. Schnell war er sehr berauscht. Er schritt, wirre Worte hervorstoßend, oft weinend durch die finsteren Straßen und griff nach der ersten Dirne, der er begegnete. So ging es Nacht für Nacht. Schließlich hatte er sich, wenn er berauscht war, eine Lüge ersonnen, die er immer wieder vorbrachte und an die er im trunkenen Zustande nahezu selbst glaubte. Er erzählte diesen Dirnen, daß er eine Geliebte gehabt habe, schön wie eine Göttin, sagenhaft schön, und sie sei an der Grippe gestorben. Das erzählte er jede Nacht mit allen Einzelheiten. Schließlich kam es so weit, daß er bei den Dirnen weinte, wenn er seine Geschichte erzählte.

Tiefste Schmach. Tiefste Erniedrigung.

Er fing an, Jenny glühend zu hassen. Auch an ihr wollte er sich rächen. Er entwarf Pläne. Vielleicht würde er ihr schönes Gesicht mit einer Säure übergießen, aber schon erschrak er und schrie: „Nein! Nein!“

Eine Wendung trat ein. Unscheinbar begann sie. Jener Regisseur, jener Doktor Brinkmann hatte ihm in der Tat eine Unterredung, wie er es versprochen hatte, gewährt. Er hatte ihn in einigen Statistenrollen verwandt, um ihn auszuprobieren; hierauf aber hatte Katschinsky nichts mehr von ihm gehört. „Natürlich,“ sagte er bitter, „hinter mir stehen keine Millionen.“ Plötzlich aber erhielt er von Doktor Brinkmann einen Brief mit der Bitte, sich so bald wie möglich bei ihm einzufinden.

„Sie können nichts, Herr Katschinsky,“ sagte Doktor Brinkmann ganz offen. „Sie haben es auch nie behauptet, daß Sie etwas können. Sie sind ja kein Schauspieler. Aber vielleicht werden Sie es lernen. Eine unserer Tochtergesellschaften dreht einen Film, und Sie sollen darin eine der Hauptrollen spielen. Sie sollen nichts spielen als sich selbst. Unterstehen Sie sich nicht, an etwas anderes zu denken.“

Katschinsky spielte. Die ersten Aufnahmen waren gänzlich unverwendbar. Bald aber ging es. Man brauchte in diesem Film einen gutaussehenden jungen Mann, der sich gut kleidete und sich zu benehmen wußte. Gerade die etwas falsche Eleganz Katschinskys, das falsche Benehmen Katschinskys waren es, was der Regisseur suchte.

Der Film gefiel. Nun, da die Regisseure ihm die Maske gemacht hatten, zeigte es sich, daß Katschinsky mit seinem schmalen Gesicht, seinen etwas schrägstehenden Mandelaugen, seinem blasierten Mund sich außerordentlich gut photographieren ließ. Er war gerade jener Typ schöner junger, amerikanisch aussehender Männer, den man suchte. Die Gesellschaft unterbreitete ihm einen Jahresvertrag. Der Erfolg machte Katschinsky sicherer, seiner Eitelkeit wurde geschmeichelt, und er fand wieder etwas Halt. Er hatte Jenny keineswegs vergessen. Noch häufig versuchte er einen Blick von ihr zu erhaschen. Aber er zitterte nicht mehr, er erbleichte nicht mehr.

Eines Tages, als er am Eden vorbeischlenderte, lief er Jenny in die Arme. Plötzlich stand sie vor ihm, wie aus dem Boden gewachsen. Sie hielt den Schritt an und betrachtete ihn mit erschrockenen, hilflosen Augen.

Ja, nun zitterte sie, und er war ganz ruhig. Er wechselte die Farbe, dann zog er den Hut und begrüßte Jenny, als sei nichts vorgefallen.

„Ich bitte dich um Verzeihung, Jenny,“ sagte er mit seinem hübschesten Lächeln. „Der Teufel ist in mich gefahren, wie konnte ich dir eine solche Szene machen, es ist mir heute unbegreiflich. Aber begreife, Jenny, daß ich toll war vor Eifersucht. Nichts aber ist hündischer als Eifersucht, und du weißt, Jenny, daß das immer meine Ansicht war.“ Schon lächelte er leichtsinnig und fröhlich. „Es ist viel besser, daß wir gute Kameraden sind, Jenny. Findest du nicht auch?“

„Es ist gewiß viel vernünftiger,“ antwortete Jenny und nahm seine Hand. „Du bist ein törichter Junge gewesen.“ Sie gingen nebeneinander her und plauderten wie gute Freunde.

Ja, nun waren sie wieder gute Freunde geworden. Katschinsky erwies ihr Aufmerksamkeiten. Er sandte ihr Blumen und Bücher. Sie sah seine Bemühungen, alles wieder gutzumachen, und sie freute sich darüber. Dann und wann besuchte er sie auch zum Tee. Sie trafen sich in den Filmateliers zuweilen zufällig. Katschinsky benahm sich immer gleichmäßig kameradschaftlich.

Eines Abends aber – sie waren zusammen mit Stobwasser im Café gewesen – änderte er plötzlich den Ton. Sie gingen durch eine dunkle, menschenleere Straße. Er berührte plötzlich ihren Arm und drückte ihn zart an sich. „Höre, Jenny,“ begann er, bemüht seine Erregung zu verbergen, „ich will dir alles beichten. Ich habe das Bedürfnis, dir alles zu gestehen, was geschehen ist.“

Die Berührung seiner Hand empfand Jenny unangenehm. Dieser leichte Druck seiner Hand verletzte sie – obgleich sie ihn einst geliebt hatte –, nur aus Nachsicht duldete sie seine Berührung. Mit hochgezogenen Brauen und nervösen, gequälten Lippen hörte sie seine Beichte.

Er gestand ihr alles: wie er ihr auflauerte, wie er trank, bis er sinnlos betrunken war, wie er den Straßenmädchen die Geschichte erzählte von seiner schönen Geliebten, die an der Grippe gestorben sei.

Jenny zog die Schultern an. Sie zog sich scheu wie ein Tier, das sich bedroht fühlt, zurück. Sie machte ihren Arm frei und trug Sorge, daß auch ihr Gewand ihn nicht berührte. Und mit jedem Wort, das er sprach, hervorstieß, stammelte, mit jedem Wort entfernte sie sich mehr von ihm. Jedes Wort trieb sie in immer weitere Fernen. Sie hätte Lust gehabt zu laufen, aber sie wußte, daß er ihr dann nachgelaufen wäre, und sie wollte vor den wenigen Menschen, die diese Straße passierten, jegliches Aufsehen vermeiden. Seine Worte waren verletzend, sie schmerzten und beleidigten sie, sie waren schamlos. „Sieh, so liebe ich dich, Jenny, so maßlos liebe ich dich! Ich kann deinen Körper nicht vergessen! Verstehe mich doch, fühle es doch!“

Nein, sie fühlte es nicht. Sie begriff es, ja, aber in ihrem Herzen gab es kein Echo mehr. Im Gegenteil, das kameradschaftliche Gefühl, das sie für ihn noch gehegt hatte, war vernichtet. Sie wurde augenblicklich kalt, feindselig. Sie wußte, daß er nicht schlecht war, nur ein schwacher Mensch. Aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn er schlecht gewesen wäre. Sie verachtete ihn. „Du hast unsere Verabredung vergessen,“ sagte sie, um ihn zu ermahnen.

„Nicht ich habe vergessen,“ rief Katschinsky leidenschaftlich aus, „sondern du hast vergessen, Jenny!“ Und er fragte sie bebend, ob sie ihn nicht wenigstens ein bißchen lieben könne, damit sein Leben wieder Sinn erhalte.

Sie wich zurück. Sie schüttelte den Kopf und erwiderte leise, aber mit einer kühlen, unbeirrbaren Stimme: „Du weißt es, ich liebe einen andern.“

„Liebst du ihn wahrhaftig?“

„Dreimal wahrhaftig!“

Katschinsky schüttelte verzweifelt, etwas theatralisch die Fäuste. „Dann ist alles ohne Hoffnung,“ sagte er.

Sie gingen still weiter und sprachen kein Wort mehr. In der Nähe des Hotels blieb Jenny stehen und sah Katschinsky mit klaren, forschenden Augen ins Gesicht. „Eines will ich dich noch fragen,“ sagte sie. „Es gibt boshafte Menschen. Man hat meinem Vater geschrieben, er möge ein Auge auf mich haben. Ich sei die Geliebte eines berüchtigten Abenteurers geworden.“ Jenny heischte Antwort.

Jede Spur von Farbe war aus Katschinskys Gesicht gewichen, selbst seine immer roten Lippen waren fahl geworden wie die eines Toten.

„Ich habe es getan,“ stammelte er. „Ich hatte es schon vergessen. Ich habe diesen Brief einmal in der Nacht geschrieben, als ich getrunken hatte. Ich erinnere mich nicht, ihn in den Kasten geworfen zu haben. Oh, wie niedrig!“ rief er aus und schlug die Hände vors Gesicht. „Ich wage nicht, dich zu bitten, mir auch dies zu verzeihen!“

Jenny sah zu Boden. Nach einer Weile erwiderte sie: „Auch dies will ich dir noch verzeihen.“

Sie streckte ihm die Hand hin. „Lebe wohl.“

Katschinsky nahm ihre Hand, ohne sie anzusehen.

„Eine Bitte habe ich noch,“ fügte Jenny hinzu. „Du hast an Schellenberg einen anonymen Brief geschrieben, worin du ihn vor einem gewissen Herrn K. warnst. Von wem sollte der Brief sonst sein? Tue es nicht wieder, du machst dich nur lächerlich!“

In ihrem Zimmer saß Jenny lange im Dunkeln. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie wagte es nicht, Licht zu machen. Vielleicht steht er unten, sagte sie sich, und wartet? Er, jener andere, den ich liebe, wartet nicht, bis das Licht erlischt.

13

Die großen Holzscheite flammten und krachten im Kamin. Der Schein des Feuers blendete, und gespenstische Schatten zuckten durch den halbdunkeln Raum.

Wenzel sagte: „Sie sind eine seltene Frau, Jenny Florian! Sie wissen, daß ich alle Phrasen und übertriebenen Worte hasse. Ich habe mir eines Tages vorgenommen, immer zu sagen, was ich denke, oder ganz zu schweigen. Also können Sie mir getrost glauben, was ich Ihnen sage. Sie sind schön, und Sie wissen es. Aber Sie tun nicht, wie andere schöne Frauen, als ob es Ihr persönliches Verdienst sei und man Ihnen aus diesem Grunde Bewunderung zollen müsse. Sie nehmen Ihre Schönheit wie etwas, das Ihnen geliehen wurde. Sie sind klug, aber Sie vermeiden es, geistreich erscheinen zu wollen, nach Art der meisten Frauen. Sie halten sich gleich weit entfernt von der Geziertheit des Ausdrucks wie von der Lässigkeit. Sie haben mehr Talente als fünf Frauen zusammen, und doch sprechen Sie nie mit einer Silbe davon. Sie schweigen darüber, wie alle Leute, die sich ihrer Kräfte bewußt sind.“

Jenny hob den seidigglänzenden Scheitel. Ihre Augen blendeten wie die eines Tieres, in die ein Lichtschein fällt. Auf ihren Wangen und Lippen und Zähnen sprühten Funken. Ihr kleines, glühendes Ohr trank berauscht Wenzels Worte. Sie hörte Wenzels wahre Stimme so selten, auch wenn sie allein waren. In Gegenwart seiner Bekannten und Freunde aber verbarg er sich hinter einem burschikosen, derben Jargon, den sie verabscheute.

Jenny saß zu Wenzels Füßen auf einem Teppich, die Knie angezogen. Sie saß dicht am Feuer, das verwegen nach ihr züngelte. Heute mittag waren sie in dem kleinen Jagdschloß Hellbronnen angekommen. Die Herrlichkeit sollte drei Tage dauern.

„Es tut gut, ein bißchen verwöhnt zu werden!“ erwiderte Jenny. Wenn sie sprach, funkelten alle Vokale. Ihre Stimme war keusch, als schäme sie sich zu sprechen. Sie errötete, während sie sprach. „Sie sind ein Freund, ein guter Freund, und ich fühle mich wohl und sicher in Ihrer Nähe. Gibt es ein schöneres Gefühl für eine Frau? Sie sind viel zarter, als Sie ahnen lassen. Weshalb geben Sie sich oft so unempfindlich?“

Das Feuer knisterte und lohte. Über die geschwärzten Kaminwände kletterten eilige Funken.

Wenzel dachte lange nach. Dann erwiderte er, langsam den Kopf schüttelnd, die Stirn in Falten: „Fast hätten Sie mich verführt, etwas zu glauben, nur weil es angenehm ist, sich für besser zu halten, als man ist. Nein, Sie kennen mich nicht, Jenny Florian. Meine Gefühle sind verschüttet oder erloschen, wie Gefühle in einem bestimmten Alter und in gewissen Lebensverhältnissen vergehen. In Ihrer Nähe, so scheint es mir allerdings, erwacht manche Empfindung wieder, die ich lange nicht mehr kannte. Lieben Sie Gedichte?“

Jenny sah erstaunt auf.

Wenzel lachte. „Eine sonderbare Frage, nicht wahr? Ich würde es auch nicht wagen, sie in Berlin zu stellen. In meiner Jugend habe ich viele Gedichte gelesen, aber nur ein einziges behalten – mein Gedächtnis ist schlecht. Mein Bruder dagegen, Michael, er kann den halben Faust auswendig, er behält alles spielend. Und Sie, Jenny Florian? Sie müssen doch den ganzen Kopf vollgestopft haben mit solchen Dingen.“

Jenny bejahte. Sie habe ein sehr gutes Gedächtnis.

„Dann haben Sie wohl auch viele Gedichte im Kopf? Könnten Sie ein Gedicht sprechen, irgendeinen Vers? Ich möchte hören, wie Ihre Stimme dabei klingt.“

Ohne Zögern erhob sich Jenny, als habe ein Regisseur sie aufgerufen. Sie dachte kurz nach, dann faltete sie die Hände, indem sie die Spitzen der Finger gegeneinander legte. Und nun sprach sie, mit leiser, ganz monotoner, inniger Stimme ins Feuer hinein, die Augen halb geschlossen:

„O gib, vom weichen Pfühle

Träumend, ein halb Gehör!

Bei meinem Saitenspiele

Schlafe! Was willst du mehr?“

Sie hatte geendet. Eine Weile stand sie still, dann ließ sie die Hände sinken. „Ist es schön?“ fragte sie, wie aus tiefem Schlaf aufgewacht.

„Es ist schön, und Sie haben es sehr schön gesprochen. Diesen Vers hatte ich vergessen. Aber, wie kamen wir eigentlich auf dieses merkwürdige und unzeitgemäße Thema, sagen Sie doch? Ja, richtig, nun fällt es mir ein. Ich sprach von einem Gedicht, dem einzigen, das ich behalten habe. Auch das ist nicht ganz richtig. Ich habe nur einen Vers davon behalten, und selbst ihn könnte ich vielleicht nicht fehlerlos zitieren. Dieses Gedicht ist für mich das schönste Gedicht, das es in unserer Sprache gibt. Ja, vielleicht ist es das schönste Gedicht, das je ein Dichter auf dieser Erde schrieb, weil es das schlichteste, zarteste und wahrste ist. Es ist Heines ‚Du bist wie eine Blume‘. Sie staunen, daß ich, gerade ich dies sage? Nun, Sie haben recht, nur ein ganz gläubiger Mensch darf dieses Gedicht aussprechen – also will ich nicht fortfahren. Aber, um zur Hauptsache zu kommen. Ein ähnliches Empfinden wie jenes, das Heine in seinem Gedicht ausdrückt – ein ähnliches natürlich nur! –, habe ich oft, wenn ich Sie ansehe, Jenny Florian. Verzeihen Sie mir, ich schäme mich jetzt schon dieser Trivialität.“

Darauf erwiderte Jenny nichts. Sie senkte den Scheitel tiefer und schwieg.

Und Wenzel fuhr fort: „Mißverstehen Sie mich nicht! Zwei Dinge hasse ich mehr als alles auf der Welt, Hysterie und Sentimentalität. Die hysterischen Menschen – es gibt vielleicht mehr hysterische Männer als Frauen – müßte man totschlagen und die sentimentalen – nun sagen wir, ertränken.“

Jenny lachte auf. „Sie machen ganze Arbeit, Schellenberg!“ rief sie aus; aber doch war ein versteckter Schrecken in ihren Augen. Welch ungeheure Verachtung klang aus Wenzels Stimme.

„Unsere Zeit braucht Fäuste – etwas rücksichtslose Fäuste, die zupacken,“ fuhr Wenzel fort. „Gefühle sind der Luxus einer reichen Epoche, einer Epoche ohne Schulden. Ich spreche ganz offen. Ich möchte nicht in den Verdacht kommen, mich einer Sentimentalität überlassen zu haben, als ich von Heines Versen sprach und Sie bat, ein Gedicht zu sprechen. Nein – das ist etwas ganz anderes. Ich möchte auch nicht in den Verdacht kommen, Ihnen etwas vorzumachen. Ihnen etwa vorzumachen, daß ich Sie liebe. Oh, nein. Ich gestehe offen – verzeihen Sie diesen banalen Ausdruck –, Sie ‚gefallen‘ mir – aber das ist noch lange nicht Liebe. Vielleicht bin ich auch in Sie verliebt? Aber, wer wäre in seinem Leben nicht öfter verliebt gewesen? Vielleicht ist dies das normale Empfinden? Liebe? Ich weiß nicht, ob ich lieben kann. Ich weiß nicht, ob ich einen anderen Menschen lieben kann als mich selbst. Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt möglich ist, einen andern Menschen zu lieben als sich selbst. Es scheint mir, daß hier viel Geflunker vorliegt – bei den Dichtern. Denn Liebe ist ja keine Wissenschaft und kann nicht chemisch analysiert werden. Es ist aber keine Lüge, wenn ich Ihnen sage, Jenny Florian, daß Sie mir sympathischer sind als alle Frauen, die ich kenne. Aber ich weiß nicht, ob Ihnen das genügt, was man Sympathie nennt?“

Jenny nickte. „Es ist viel,“ erwiderte sie leise. „Es wird mehr werden,“ fügte sie noch leiser hinzu.

„Nun, dann gut, Jenny Florian, dann wollen wir Freunde werden. Aber da ich es nicht liebe, einen Menschen zu täuschen, so will ich dir meine Bedingungen nicht verschweigen.“

Groß und klar wie eine Quelle, kristallen lagen die Augen Jennys unter ihm. Er mußte an Bäche denken, die er als Knabe gesehen hatte. Auf Klein-Lücke gab es einen solchen klaren Bach. Weshalb sieht man später nie mehr diese Klarheit des Wassers?

Und er fuhr fort: „Ich verlange volle Freiheit für mich, denn ich brauche die Freiheit. Ich kann in einer anderen Luft nicht leben, so bin ich. Aber ich gewähre dir, hörst du, nicht die geringste Freiheit! Ich weiß, daß es Narren gibt, die von einer Gleichstellung der Frau sprechen. Es sind armselige Narren, die die Frauen nicht kannten, die in ihrem Leben vielleicht nur eine oder zwei Frauen besaßen. Es sind Lügner. Ich gehöre nicht zu jener Klasse modern denkender Männer. Ich bin ein ganz altmodischer Mensch, in dieser Beziehung wenigstens, und keineswegs geneigt, mich in meinen Ansichten beirren zu lassen. Dabei bin ich nicht kleinlich. Ein Flirt, ein Kuß – aber nicht mehr, mehr dulde ich nicht. So also lauten meine Bedingungen, Jenny. Nun sollst du mir antworten.“

Jenny lächelte mit glänzenden Augen. „Ich nehme alles an, Wenzel. Ich kapituliere.“

„Um wahr zu sein,“ sagte Wenzel weiter, „ich finde, daß es falsch ist, diese Dinge, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, so furchtbar ernst zu nehmen. Ich finde, der Sinn des Lebens besteht darin, soviel Genuß aus dem Leben zu holen, als möglich ist. Die Menschen aber scheinen alle bemüht zu sein, sich gegenseitig so wenig Genuß wie möglich zu gönnen.“

Jenny verstand nicht. Irgend etwas beunruhigte sie. Aber schon fuhr Wenzel fort: „Was also würdest du tun, Jenny Florian, wenn du mich liebtest – zuviel gesagt –, wenn ich dir sympathisch wäre?“

Darauf antwortete Jenny, ohne zu zögern: „Frage, was würde ich nicht tun?“

So also wurde Jenny Florian Schellenbergs Geliebte.

Ja, nun hatte das Leben allerdings ein anderes Gesicht bekommen.

Jenny ging auf der Straße mit gespitzten Lippen. Sie pfiff wie ein Vögelchen. Immer schien die Sonne zu scheinen, auch wenn es regnete. Wenn die Sonne aber schien, so schwamm Jenny im Licht. Alle Menschen, sonst so griesgrämig und unhöflich, schienen sich zu bemühen, ihr Artigkeiten, Schmeicheleien zu sagen. Es gab plötzlich nur reizende, liebenswürdige Menschen, die sie mit Freundlichkeiten überhäuften. Jenny selbst war hilfreich, gütig, gefällig. Sie funkelte vor Glück, wie ein Diamant funkelt, in den das Licht fällt.

Eines Tages fuhr Wenzel sie hinaus nach Dahlem. Er zeigte ihr die Villa, die er hatte bauen lassen und die ihm zu klein geworden war, während er baute. Er nannte diese Villa, auf die Form des Hauses anspielend, die „Hutschachtel“. Das Haus, bis auf Kleinigkeiten fertig, war in einem modernen Barock erbaut von Kaufherr, dem begabtesten Architekten Berlins. Maler und Handwerker schabten, bürsteten und strichen, und es roch nach Farbe, Gips und frischgehobeltem Holz. In einigen Zimmern waren schon die Tapeten gespannt. Da und dort standen schon Möbel. In einigen Wochen konnte die Villa bezogen werden. Das Badezimmer aus rosigem Marmor entzückte Jenny.

„Wie gefällt dir die Hutschachtel?“ fragte Wenzel.

Jenny war begeistert. Sie hatte so etwas Herrliches nie gesehen.

„Nun, ich will sie dir schenken. Hier soll Jenny Florian wohnen.“

Jenny schrie auf. Aber schon hob sie abwehrend die Hände. „Nicht schenken, Wenzel!“ rief sie. „Nein, nicht schenken!“ Sie wurde plötzlich nachdenklich.

„Nun, dann wohne hier, solange es dir gefällt. Das Haus wird fertig sein, bis du aus Italien zurückkommst.“

In den nächsten Tagen reiste Jenny mit der Filmgesellschaft nach dem Süden. Der Zug fuhr vorwärts, aber sie fuhr in Gedanken schon wieder zurück. Bei jedem besonderen Gehöft, bei jedem besonders aussehenden Baume sagte sie sich: Wenn ich euch erst wiedersehen werde! Sie war unglücklich. Aber – so sagte sie sich resigniert – es ist dein Beruf.

14

Der Wind pfiff über die Heide. Er war noch naß vom Schnee, aber schon war ein lauer Hauch des Frühlings in ihm. Ein heftiger Südweststurm brauste seit einigen Tagen dahin.

Von Glücksbrücke an, dessen Baracken in der Ferne, am Horizont verschwammen, bis zu den mächtigen Werkstätten von Glückshorst erstreckte sich jetzt eine einzige ungeheure Fläche, nur unterbrochen von einem windgeschüttelten Birkenhain, den die Axt plangemäß verschont hatte. Er sollte später ein „Park“ werden.

Die Maschinen waren gekommen und hatten den Boden von Glückshorst, wo früher der Wald stand, aufgerissen, zermalmt, umgegraben und gewalzt. Tag für Tag zogen große Traktoren und Motorwalzen auf den neugeschaffenen Straßen langsam hin und her. Auf dem Kanal waren Frachtkähne angekommen, die Schottersteine und Schlacke brachten. Auf diesen Straßen waren Scharen von Arbeitern beschäftigt. Am Kanal unten entluden andere Gruppen die Kähne. Feldbahnengeleise zogen kreuz und quer über das Gelände.

Lehmann kam in diesen Wochen kaum aus den Stiefeln. Ein Glück nur, daß die Tage länger wurden. Er erhielt Schreiben über Schreiben aus Berlin, Ingenieure kamen, das Telephon klingelte von früh bis nachts. Es war zum Verrücktwerden. Natürlich drängten sie. Zuerst hatten sie ihn gelobt, nun stellte es sich heraus, daß er eine ganze Woche zurück war. Lehmann schrie und wetterte, und trotzdem er nur einen Arm hatte, hatte er sich ein Fahrrad zugelegt. Auf diesem Fahrrad fuhr er den ganzen Tag hin und her. Es ging ihm nicht mehr rasch genug.

Von dem großen Arbeitertrupp abgesondert, arbeitete ein kleines Häufchen Männer, das Georg Weidenbach befehligte. Der General mit seinem langen Bart war in dieser Gruppe und der krummbeinige Schlosser, der vorgab, seinerzeit bei Wenzel Schellenbergs großem Neubau gearbeitet zu haben. Sie schleppten Meßstangen und Meßbänder, visierten, maßen und schlugen Pflöcke ein. Georg trug einen zerknitterten, zerweichten und beschmutzten Plan unter dem Arm. Er hatte den Auftrag erhalten, Glückshorst zu vermessen.

„Sie bringen mich zur Verzweiflung!“ schrie ihm Lehmann durch den Sturmwind zu. „Diese Burschen in Berlin glauben, wir können hexen! In drei Tagen sollen die Kähne mit dem Baumaterial kommen! Was sagen Sie dazu. Es ist einfach verrückt!“

An diesem Abend blies der Wind so heftig, daß die freiwilligen Postfahrer, diese Kolonne frischer Jungen, kaum auf ihren Rädern vorwärtskamen. Von dieser Gruppe der Radfahrer löste sich einer los und erkämpfte sich durch den Sturm den Weg bis zu Weidenbach. Er überbrachte Georg einen Brief.

Ein Brief! Noch immer zitterte Georg, wenn er einen Brief erhielt.

Er klemmte den Plan unter den Arm und musterte im sinkenden Tageslicht die Aufschrift: es war ein Brief von Stobwasser. Es war schon so düster, daß Georg kaum mehr imstande war, den Brief zu lesen. Aber eines verstand er doch sofort: der Brief enthielt eine Angabe über Christines Aufenthalt! Georg erbleichte. Er war so erregt, daß er gute zehn Schritte zur Seite trat. In dem Briefe war die Rede davon, daß Christine sich an Jenny Florian mit einer Bitte gewandt hatte. Jenny Florian, unterrichtet von Stobwasser, hatte dem Bildhauer augenblicklich Mitteilung gemacht. Berlin, im Norden, irgendwo da draußen, die Spur war also gefunden! Dann folgten lange Betrachtungen über das wirtschaftliche Elend der jungen Künstler in Berlin. Georg las nicht weiter.

Ohne ein Wort zu sagen, verließ er seine Arbeitsgruppe und begab sich raschen Schrittes zu den Baracken, zuletzt lief er. In Lehmanns Bureau war Licht. Außer Atem, bleich und in größter Erregung, trat Georg ein und bat um einen sofortigen Urlaub von zwei Tagen. Noch heute abend wollte er nach Berlin.

„Aber zum Teufel mit Ihnen!“ schrie Lehmann. „Sind Sie toll geworden? Gerade jetzt?“ Plötzlich aber hielt er inne. Sein Blick war auf Georgs Gesicht gefallen. „Aber was ist mit Ihnen?“ fragte er voller Teilnahme. „Wie sehen Sie aus? Setzen Sie sich! Was ist passiert?“

„Es hat sich nichts Unglückliches ereignet,“ sagte Weidenbach, und das Blut kehrte langsam in sein Gesicht zurück. „Im Gegenteil, etwas Glückliches oder vielleicht etwas Glückliches, es ist noch nicht ganz sicher.“

„Um so besser,“ erwiderte Lehmann. „Natürlich, wenn es sein muß, müssen Sie fahren, das sehe ich ein, so fatal es ist. Sie wollen also zwei Tage Urlaub haben. Vielleicht können Sie es früher schaffen? Ich werde unterdessen Ihre Arbeit mit übernehmen. Kommen Sie in einer Stunde zu mir, zu einer längeren Besprechung. Daß Sie heute abend noch gehen, hat ja keinen Sinn.“

Aus den Fenstern der Tischlerei strömte helles Licht. Unter eines dieser Fenster stellte sich Georg, um Stobwassers Brief nochmals und aufmerksam zu lesen. Ohne Zweifel, er hatte recht gelesen, Christines Spur war gefunden, nicht ihre Adresse, aber doch wenigstens eine Spur! Und endlich fand Georg auch die Sammlung, den Brief Stobwassers zu Ende zu lesen.

„Sei glücklich, Georg,“ schrieb Stobwasser, „daß du eine Beschäftigung hast. Vielleicht komme ich auch bald zu dir hinaus. Uns allen hier, die wir die Fahne der Kunst noch hochhalten, geht es miserabel. Ich mache Schnitzereien für eine Möbelfabrik, aber zu welchem Preise! Katschinsky hat sich in den Film gerettet und scheint eine Zukunft vor sich zu haben. Allen andern aber geht es elend.“ Und Stobwasser berichtete von bekannten Malern und Bildhauern, die heute einen Gegenstand um den andern verkauften und verpfändeten, um das nackte Leben zu fristen. Eine junge Geigerin, Meisterschülerin eines berühmten Virtuosen, spielte jeden Abend für zwei Mark im Kino. Ein bekannter Maler und Radierer zeichnete für einige Groschen Porträts in den Kaffeehäusern. Die guten Theater brechen zusammen, die Filme und Revuen triumphieren. „Was soll werden?“ rief Stobwasser aus. „Die Regierungen kümmern sich nicht um uns, die Städte, kaum noch die Zeitungen. Soll die Kunst in diesem Lande zugrunde gehen –?“

15

Im Morgengrauen ging Georg zur Station, und kurz nach Mittag sprang er, in äußerster Erregung, aus dem Zug, um sich augenblicklich nach dem Norden der Stadt zu begeben. Die kleine Kutscherkneipe, die Christine in ihrem Briefe angegeben hatte, war ohne Mühe zu finden. Hier sollte der Bote Jennys sich an ein Fräulein Pauline wenden und sagen, er käme von Fräulein Florian.

Fräulein Pauline war ein üppiges, schlechtgelauntes Mädchen, das, die Haare noch ungeordnet, mit schmutzigen Händen hinter dem Schenktisch Gläser spülte. Sie gähnte und betrachtete Georg voller Argwohn, obschon er sich Mühe gab, eine gleichgültige, uninteressierte Miene zu zeigen.

„Also Sie kommen von Fräulein Florian?“ fragte Pauline wiederum gähnend. Und nach einigen argwöhnischen Blicken fügte sie hinzu: „Nun, hoffentlich bringen Sie ihr etwas Gutes, sie kann es brauchen. Die Alte hat ihr schon die Schuhe weggenommen, so verschuldet ist sie. Gehen Sie Nummer dreiundzwanzig, im Seitenflügel drei Treppen, Agent Lederer.“

Das also war Christines Adresse! Georg taumelte die Straße entlang, und bei Nummer dreiundzwanzig blieb er stehen. Wie oft, hundertmal hatte er dieses Haus in seinen Träumen gesehen! Aber es sah noch erschreckender, bedrückender aus, als seine Visionen es ihm zeigten.

Ein schmutziger Torweg, rechts eine übelriechende Roßschlächterei, links ein leerer, verstaubter Laden mit zerbrochenen Scheiben. Der Torweg wimmelte von krank aussehenden Kindern mit greisenhaften Gesichtern. Verwahrloste Weiber, in Fetzen gehüllt, gingen aus und ein. Halb von Sinnen, betäubt von dem Gestank der Roßschlächterei, gemartert von dem Gedanken, daß Christine in einer derartigen Hölle hausen sollte, kletterte Georg die schmale Treppe empor. Auch diese Treppe starrte von Schmutz und war erfüllt von den üblen Gerüchen der Ausgüsse und schmutziger Küchenlöcher. Und wieder Kinder, krank, verkommen, auf dünnen verkrümmten Beinen, Lumpen, hustende Frauen und hier und da das fahle Gesicht eines Mannes mit finsterer Miene. Das ganze Haus bebte von Geschrei, Lärm und zugeschlagenen Türen. Es schien von Hunderten von Familien bewohnt zu sein, die die große Stadt ausgestoßen hatte, damit sie hier verkamen. Ein dickes Frauenzimmer, ein gewaltiger Klumpen Fleisch, in zerrissener Jacke, ging an ihm vorüber und stieß ihn derb an, während sie ihn mit frechen verquollenen Augen musterte und lachte.

Georg war gestärkt durch den langen Aufenthalt im Freien. Die Arbeit hatte ihn gestählt. Er war an manches gewöhnt, und doch begann er in dieser Höhle des Elends zu zittern.

„Mut! Mut! Vorwärts!“ rief er sich zu.

Vor einer mit einem Schild „Lederer, Agent“ bezeichneten schmutzigen Tür angelangt, nahm er seine ganze Kraft zusammen und klopfte einmal, zweimal. Dann lauschte er angestrengt, ob sich drinnen etwas rege. Und während er lauschte, schien der Lärm des Hauses sich zu verzehnfachen.

Endlich wurde der Riegel zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich. Ein junger Mensch, fast noch ein Knabe, mit stechenden, frechen Augen erschien. Sein Gesicht war fahl, glänzend, als sei es mit Schweiß bedeckt. Er trug keinen Kragen, sein Hemd war schmutzig.

„Sie wünschen?“ fragte der junge Mann frech und kurz. Neben ihm tauchte argwöhnisch das Gesicht einer aufgedunsenen Frau mit grauen, wirren Haaren auf. Sie war klein, dick, zwischen den Augen hatte sie eine lange Narbe, als habe man ihr einmal mit dem Beil das Gesicht gespalten.

Nun gilt es, dachte Georg, der beinahe die Besinnung verlor. Er verbeugte sich höflich und sagte, daß er von Fräulein Florian käme und Fräulein Christine März einen Brief zu übergeben habe.

„Endlich,“ keifte die aufgedunsene Frau. „Wir werden froh sein, wenn wir sie endlich los sind. Bringen Sie Geld?“

„Ja, ich bringe Geld.“

Der junge Mensch wies Georg in einen schmalen, dunklen, übelriechenden Korridor. Georg, fast von Sinnen, konnte sich später niemals mehr an Einzelheiten erinnern. Aber er erinnerte sich, daß folgendes geschah:

Er klopfte an irgendeine Tür, und irgendeine ferne, fremde, unwirkliche Stimme sagte: „Herein!“ Es war nicht Christines Stimme. Es war ein fremdes, verwahrlostes Mädchen, das in einer armseligen Kammer auf einem niedrigen, schmalen Eisenbett saß und einen zerrissenen Strumpf stopfte, blaß, schwindsüchtig, mit großen, glühenden Augen. Fast wie eine Wahnsinnige sah sie aus. Sie heftete die großen, glühenden, schwarzen Augen auf ihn, regungslos ... auch die Hände, die Strumpf und Nadel hielten, blieben ganz in der gleichen Haltung. So saß sie und staunte ihn an, wie eine Wachsfigur. Wie lange? Georg konnte es niemals sagen.

Aber er erinnerte sich, daß er ganz plötzlich auf dieses fremde, regungslose Mädchen, das ihn anstarrte, zuschritt und vor ihr in die Knie fiel: es war doch Christine.

Er streckte in seiner Verzweiflung die Hände nach ihr aus. „Bist du krank, Christine?“ fragte er, aber er hörte nicht einmal selbst seine Stimme.

Christine saß ohne jede Bewegung, blickte ihn mit fiebernden Augen an, ohne Regung. Er flüsterte ihren Namen, aber sie regte sich nicht. Er stammelte verwirrte Fragen in seiner Seelenangst. Sie schwieg. Er griff nach ihrer Hand, sie zog die Hand zurück. Fast wäre er verzweifelt. Nie in seinem Leben erlebte er solch fürchterliche Minuten. Er war dankbar, daß er sich später nicht mehr an die Einzelheiten erinnerte; nur ein Entsetzen blieb in seinem Herzen zurück, unauslöschlich und für immer.

Ein Gesicht an der Türe schreckte ihn auf, ein Gesicht, das ein Axthieb gespalten hatte, mit einem großen und einem kleinen Auge, das große gespenstisch, geisterhaft, das kleine tierisch und frech. Eine grelle Stimme keifte und zeterte: daß sie zu arm sei, fremde Leute zu unterhalten und daß sie beabsichtigt habe, Christine heute vor die Tür zu setzen. Dies und ähnliches keifte die Stimme, noch heute hatte Georg ihren entsetzlichen Klang im Ohr.

Nun aber, nun ereignete sich das Überraschendste, etwas gänzlich Unerwartetes – und gerade diese Überraschung, es gibt kein Wort dafür, gab Georg augenblicklich, auch das ist merkwürdig, die Klarheit der Sinne zurück. Von diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an jede Einzelheit.

Christine lächelte plötzlich – oder besser gesagt – sie machte den Versuch, zu lächeln. Ein krankes Lächeln breitete sich langsam über ihr Gesicht aus. Dann wandte sie sich mit einer ganz langsamen, unsagbar zärtlichen Bewegung zu dem Kopfkissen des armseligen Bettes, schlug die Decke zurück: und Georg erblickte plötzlich den Kopf eines kleinen Kindes. Mit einer zärtlichen Bewegung nahm Christine mit beiden Händen das in einen Lappen gewickelte Kind und streckte es ihm entgegen.

„Hier ist es,“ flüsterte sie.

„Was ist das?“ stammelte Georg.

„Es ist dein Kind,“ flüsterte Christine, und wieder versuchte sie zu lächeln.

„Mein Kind?“ schrie Georg. „Wie ist das möglich? Wie soll ich das alles verstehen?“ Und er stürzte sich auf das Kind, nahm es aus Christines Händen und drückte es gegen die Brust.

Das Gesicht an der Türe lachte schallend.

Von diesem Augenblick an war Georg wieder völlig Herr seiner Sinne. Er beschwor Christine, mit ihm zu kommen. Sie begann zu zittern. Ihr Blick irrte voller Angst zur Türe.

„Nimm mich fort von hier!“ flüsterte sie, leise, voller Furcht, die Alte könne es hören. Da wandte sich Georg gegen die Türe und trat auf die Alte mit dem gespaltenen Gesicht zu.

„Ich verlange eine Erklärung!“ rief er. „Was geht hier vor? Was bedeutet das alles?“

Die Alte keifte. Sie überschüttete Georg mit Schmähungen, sie beschimpfte Christine mit den unflätigsten Worten. Sie hätte nichts dagegen, daß er die „Dame“ mit sich nähme – oh, ganz im Gegenteil –, aber erst hieße es bezahlen. Schulden, Geld – zweihundert Mark, eine Unsumme! Zweihundertfünfzig Mark! Unmöglich!

Christines Blick, das in Lumpen gehüllte Kind – Georg stürzte aus dem Hause wie von Peitschenhieben vorwärts getrieben.

16

In Schweiß gebadet traf er vor Stobwassers Werkstatt ein.

Er war so von Sinnen, daß er die Tür aufklinkte, bevor Stobwasser noch auf sein Pochen antworten konnte. Er stürzte in die Werkstatt und prallte zurück: Ein junges, nacktes Mädchen lag auf einem kleinen Sofa. Stobwasser stand und modellierte eifrig.

„Du mußt helfen, Stobwasser!“ schrie Georg, dessen Hände flogen. „Helfen mußt du!“ Er zerrte den Bildhauer in den Hof hinaus und erzählte wirr, atemlos, unzusammenhängend.

Aber das Herz eines Freundes ist wie das einer liebenden Frau, und Stobwasser verstand sofort alles.

Er blieb mit gespreizten Beinen stehen, den Kopf gesenkt, und dachte nach. „Wir werden Rat schaffen,“ sagte er. „Die Hauptsache ist nur, daß du dich beruhigst, Weidenbach.“

„Oh, ich bin sehr ruhig,“ erwiderte Georg mit einem abwesenden Lächeln. Er zitterte am ganzen Körper. Er strich sich über das Gesicht, und seine Hand war so naß, als habe er sie in Wasser getaucht.

Stobwasser nahm Hut und Mantel. „Sie können sich anziehen,“ sagte er zu dem Modell, und sie gingen.

„Nicht so schnell!“ rief er Georg zu, der schon wieder zu laufen begann. „Wir wollen es bei Katschinsky versuchen. Oh, wie ich meine Armut verfluche!“ schrie er laut. „Für sich allein arm zu sein, was bedeutet es? Aber – oh, wie ich meine Armut verfluche!“

Katschinsky hatte die Wohnung gewechselt. Seit seinen Erfolgen beim Film wohnte er in einer großen Pension im Westen. Unglückseligerweise hatte er Besuch. Er kam in die Diele, runzelte die Stirn, als er die beiden keuchenden Freunde sah, denen der Schweiß auf der Stirn stand. Er trug einen Hausanzug aus dunkelblauer Seide und schwarze Hausschuhe aus Lackleder.

„Was gibt es?“ fragte er und ließ sich in einem Korbsessel der Diele nieder. Aber augenblicklich stand er wieder auf. „Zweihundertfünfzig Mark!“ rief er aus. „Ich habe keinen Pfennig, nur Schulden!“

„Du mußt das Geld schaffen!“ schrie Stobwasser.

Katschinsky runzelte wieder die Stirn und verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. „Wie soll ich eine so große Summe herbeischaffen?“ fragte er. „Sagt doch selbst.“

„So gib alles, was du hast!“ rief Stobwasser. „Wir werden es verpfänden!“

Katschinsky zuckte die Achseln und wandte sich der Tür zu. „Ich habe leider keine Zeit mehr,“ sagte er hochmütig. „Ich habe Damenbesuch.“

„Du bist ein Schuft!“ schrie Stobwasser, als Katschinsky die Tür schon geschlossen hatte.

Sie wischten sich beide den Schweiß von der Stirn.

„Dann wollen wir es bei Jenny selbst versuchen,“ riet Stobwasser und stürzte die Treppe hinab.

Im feierlichen Foyer des Hotels, wo sorgfältig gekleidete Damen und Herren still in Klubsesseln saßen, mißbilligte der Portier ihre Eile und Hast. „Es ist dringend,“ sagte Georg und eilte die Treppe empor.

Jenny war zu Hause, welch ein Glück! Aber der Page machte sie darauf aufmerksam, daß Fräulein Florian Besuch habe. „Herr Schellenberg ist soeben gekommen,“ verkündete er voller Ehrfurcht.

„Wir lassen bitten, es ist in dringender Angelegenheit,“ sagte Stobwasser, und der Page klopfte zögernd und scheu an Jennys Tür. Nach geraumer Weile verschwand er.

Es vergingen nur wenige Minuten, da kam Jenny heraus auf den Flur. Sie hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und ging mit leichten, tänzelnden Schritten, aber ganz langsam, auf die beiden zu.

„Was gibt es?“ fragte sie mit einem schönen Lächeln. „Und wer ist das? Sind Sie es, Weidenbach?“

„Was es gibt?“ fragte Stobwasser und erzählte hastig.

Jenny dachte nach. Sie zog an der Zigarette, schüttelte den Kopf, blickte zu Boden. „Wie peinlich,“ sagte sie. „Ich habe kein Geld. Es ist fast Monatsende. Aber wartet, es wird sich Rat finden. Ich hoffe es.“

Mit denselben langsamen tänzelnden Schritten ging sie in ihr Zimmer zurück. Nach wenigen Minuten erschien sie wieder und hob triumphierend drei Geldscheine in die Höhe. „Nun, seht ihr!“ rief sie freudig aus. „Oh, Weidenbach, wie freue ich mich, Ihnen gefällig sein zu können! Grüßen Sie Christine.“

Schon stürzten die beiden die Treppe hinab.

„Wir werden ein Auto nehmen!“ entschied Georg.

Drei Stunden, nachdem Georg Christine verlassen hatte, war er schon wieder zurück. „Ich bringe das Geld!“ rief er dem grauhaarigen Weib mit der gespaltenen Stirn zu, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Aber die Alte hatte es sich anders überlegt. „Es sind nur zweihundertundfünfzig Mark! Es sind aber mehr als dreihundert Mark!“ keifte sie. „Wir haben uns barmherzig erwiesen, und das ist nun der Dank!“

Da aber verwandelte sich Georg plötzlich. Er schwang die Faust und machte Miene, sich auf die Alte zu stürzen. Stobwasser hatte ihn nie so gesehen. „Wir geben nicht mehr! Wir können nicht mehr geben! Das ist alles, was wir aufbringen konnten!“ schrie Georg mit drohender Gebärde. Und nun willigte die Alte ein, daß Christine die Wohnung verlassen könne.

Aber Christine war so schwach, daß sie nicht imstande war, die Treppe hinabzugehen. Georg nahm sie auf den Arm und trug sie hinunter. Stobwasser kam hinterher mit dem Kinde, das in einen alten Lappen gewickelt war. Der junge Mensch und das alte Weib mit der gespaltenen Stirn schrien freche Scherze in das Stiegenhaus hinab.

Sie fuhren nach Stobwassers Werkstatt.

„Es ist ein Glück, daß ich heute geheizt habe!“ rief Stobwasser vergnügt aus und rieb sich die Hände. „Ich heize nur, wenn ich Modell habe.“

Der Bildhauer schürte den Ofen, daß das rostige Rohr, das durch die Werkstatt führte, zu krachen begann. Er kochte Tee. Dann stürzte er aus dem Hause, um das Abendbrot einzukaufen. Brot, Butter, Eier und sogar ein Viertel Schinken besorgte Stobwasser.

„Nun wird es gemütlich bei uns!“ rief er vergnügt aus, und auf seinen Wangen erschienen rote Flecke vor Eifer. „Es ist selbstverständlich, daß ihr bei mir übernachtet, wo solltet ihr hin? Wir werden uns schon zurechtfinden. Und Sie, Christine, Sie sollen sich ausruhen,“ sagte er, während er den Tisch abräumte, einige Zeitungen über die schmutzige Tischplatte breitete und das Abendbrot servierte.

Christine schwieg noch immer. Georg und Stobwasser hatten sie genötigt, sich auf Stobwassers Bett auszustrecken. Da also lag sie nun, bleich und still, die fiebernden Augen zur Decke gerichtet, das Kind an ihrer Seite. Sie wiegte nur unmerklich den Kopf hin und her, wenn Georg eine Frage an sie richtete. Ihre Lippen zuckten verquält, und wenn er sie berühren wollte, so ging ein Zittern über ihren ganzen Körper.

Stobwassers Tiere hatte der große Besuch unruhig gemacht. Die Vögel sprangen neugierig in ihren Käfigen hin und her. Der Kakadu knarrte und streckte den Kopf durch das Gitter. Der grüne Papagei turnte an seinen Ringen und schlug mit den Flügeln. Die pechschwarze Katze aber saß auf dem Bettpfosten und starrte mit ihren großen grünen Augen unaufhörlich auf das kleine Kind. Das Kind begann zu schreien, und Christine reichte ihm die Brust. Sie neigte dabei leicht den Kopf, und ein unmerkliches Lächeln lag auf ihrem bleichen Gesicht. In dieses Gesicht hatte das Schicksal Furchen und Linien geschrieben, so daß Christine um zehn Jahre gealtert schien. Sie trank eine Tasse Tee, dann lag sie wieder still und sah zur Decke empor. Bald schlief sie erschöpft ein.

Stobwasser und Georg saßen still. Der Bildhauer rauchte seine Pfeife, und nur zuweilen flüsterten sie einige Worte.

„Was ist mit ihr?“ fragte Stobwasser leise.

„Ich weiß es nicht, sie ist krank.“

„Nun, es wird alles gut werden.“

„Und das Kind, Stobwasser? Was sagst du zu meinem Kinde?“ Georgs Augen glänzten. „Mein Kind!“

„Es ist in der Tat ein sehr schönes Kind,“ antwortete Stobwasser voller Überzeugung. „Ein außerordentlich schönes und genial aussehendes Kind!“

Und wieder schwiegen sie lange, und jeder dachte seine eigenen Gedanken.

17

Früh am nächsten Morgen begab sich Georg in das Bürohaus „Neu-Deutschland“, um dem Referenten seine Bitte vorzutragen, Christine und das Kind nach Glückshorst mitnehmen zu dürfen.

Der Umbau des Bürohauses der Gesellschaft schien nahezu beendet zu sein. Es wimmelte von Menschen. Boten und Beamte eilten hin und her. In den Vorhallen standen Scharen von Männern, abgerissen und bleich, die Arbeit suchten.

Der Referent schüttelte den Kopf, als er Georg angehört hatte. „Es ist unmöglich,“ sagte er. „Die Siedlung ist ja erst im Bau. Ich würde es ja gerne tun, mißverstehen Sie mich nicht. Welch ein Jammer und welch ein Elend!“ rief er aus. „Können Sie begreifen, daß ich oft verzweifle? Solche Fälle wie den Ihrigen höre ich täglich hundertmal. Das Elend strömt zu diesem Hause herein wie eine Flut, und diese Flut steigt mir bis an die Lippen! Ich werde versuchen, Herrn Schellenberg oder einen seiner Sekretäre zu erreichen.“ Der Referent telephonierte.

Michael Schellenberg aber hatte soeben sein Büro verlassen und wollte wegfahren. Welch ein Verhängnis! „Folgen Sie mir,“ sagte der Referent eilig. „Vielleicht treffen wir ihn noch.“

Als sie auf den Flur traten, kam Michael soeben die Treppe herab. Er schien es sehr eilig zu haben. Der Referent trat auf ihn zu und trug ihm in aller Kürze Georgs Bitte vor. Michael schüttelte den Kopf und ging rasch weiter. Als er an Georg vorüberkam, sah er ihm in die Augen und blieb eine Sekunde stehen.

„Handelt es sich um Sie?“ fragte er.

„Ja,“ erwiderte Georg, „um mich. Ich würde herzlichst bitten –“

Michael zog die Uhr. „Ich habe mich schon verspätet,“ sagte er und runzelte die Stirn. „Ich muß ins Ministerium. Kommen Sie mit mir. Sie können mir ja unterwegs den Fall vortragen.“ Hastig und ungeduldig schob er den zögernden Georg ins Auto, und der Wagen fuhr ab.

Georg erzählte rasch seine Geschichte, während Michael ihn mit klaren prüfenden Augen anblickte.

„Es ist gut,“ sagte Michael, als Georg geendet hatte. „Nehmen Sie Fräulein März und das Kind getrost mit nach Glückshorst. Und werden Sie recht glücklich,“ fügte er hinzu, indem er Georgs Hand schüttelte. Er klopfte ans Fenster. Der Wagen hielt, und Georg stieg aus.

Rasch machte Georg für Christine und das Kind die allernötigsten Einkäufe, und dann fuhren sie ab.

Christine fügte sich willig. Sie hatte nur eine Bedingung gestellt, daß er, Georg, nie eine Frage an sie richte. Sie selbst werde ihm einst alles erzählen.

Als es dämmerte, kamen sie in Glückshorst an. Eine Weile standen sie verlegen auf der Straße. Der Wind blies. Christine hielt das in eine Decke gehüllte Kind auf den Armen, dann erstattete Georg Lehmann Bericht und übergab Christine und das Kind der Fürsorge der Mutter Karsten. „Was für ein schönes Kind!“ rief die Alte aus und hob das Kind in die Höhe, um das Geschlecht festzustellen. „Ein Knabe! Wie heißt er?“

„Er heißt Georg,“ sagte Christine.

„Etwas bleich sieht Ihre kleine Frau aus,“ sagte Mutter Karsten dann zu Georg. „Aber wir werden sie schon herausfuttern.“

Der Schlächter-Moritz streckte den dicken Kopf in die Tür, dann überbrachte er der Baracke die Neuigkeit. Aber die Männer regten sich nicht im geringsten darüber auf. Eine Frau, ein Kind, was war weiter dabei?

„Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit, Weidenbach,“ sagte Lehmann. „Morgen früh fangen wir mit den Häusern an.“

18

Es war kaum richtig Tag, da rief Lehmann schon zur Arbeit. Fünfhundert Häuser sollten vorläufig in Glückshorst errichtet werden, und die Gesellschaft hatte Lehmann wissen lassen, daß sie keinen Spaß verstehe. Kein Wunder, daß der Einarmige etwas erregt war und zur Eile antrieb.

Bauplätze, Straßen, alles war genau vermessen und durch Pflöcke gekennzeichnet. Als die Sonne über dem Walde heraufkam, wimmelte es schon von Arbeitergruppen im Gelände. Georg führte jene Gruppen, die den Grund der Häuser aushuben. Siebzig Zentimeter tief und siebzig Zentimeter breit mußte der Boden für die Grundmauern ausgehoben werden. Bis auf wenige Gebäude waren die Häuser alle gleich groß. Sie waren zehn Meter lang und viereinhalb Meter breit. Georgs erste Arbeitsgruppe trug besondere Meßlatten mit sich; ihre Aufgabe bestand darin, den Grundriß des Aushubs mit dem Spaten genau vorzuzeichnen. Die zweite Gruppe hob die Erde bis zur vorgeschriebenen Tiefe aus, und der dritten Arbeitsgruppe lag die Aufgabe ob, die Arbeit der früheren Gruppen sorgfältig nachzuprüfen und auszugleichen. Vom Kanal aus hatte Georg die Arbeit aufgenommen, und schon am Nachmittag wurden Geleise für die Karren gelegt, die das Baumaterial von den Kähnen herauf befördern sollten, und schon am nächsten Morgen wurde mit dem eigentlichen Bau begonnen. Die Arbeit war ganz ähnlich eingeteilt, wie die des Aushubs der Erde. Jede Kleinigkeit war vorgesehen und vorbereitet. Die Betonmischmaschine des Schleppkahns begann zu arbeiten, und schon rollten die Karren über das Gelände, die die Betonmassen zu den Baustellen beförderten. Aus Brettern gefügte Gehäuse wurden in die Ausschachtungen gesetzt und mit Beton vollgeschüttet. So ging es von Haus zu Haus. Und während oben die Arbeitsgruppen noch beschäftigt waren, die Erde auszuheben, wurden unten am Kanal bereits die Grundmauern gestampft.

Lehmann hatte gegen zweihundert Arbeiter zur Verfügung, dazu war noch eine Gruppe gelernter Bauarbeiter gestoßen, die diese Arbeit in anderen Siedlungen schon hundertfach ausgeführt hatte. Mit der Gleichmäßigkeit und Präzision einer Maschine bewegten sich Lehmanns Arbeitsgruppen über das Baufeld. Nicht die geringste Störung entging ihm, nicht der geringste Aufenthalt. Der Schweiß lief den Männern übers Gesicht.

Unnötig zu sagen, daß der Schlächter-Moritz, dieser Berg von Muskeln, in diesen Tagen wahre Wunder verrichtete. Es war in der Tat unbegreiflich, mit welcher Schnelligkeit er sich in die Erde einwühlte. Später übergab ihm Lehmann die Kolonnen, die die Betonmassen einstampften, und nun hörte man Moritz vom frühen Morgen bis zum späten Abend brüllen. Nichts ging ihm schnell genug.

Schon aber schob sich auf dem stillen Kanal ein neuer eiserner Kahn heran, der weiteres Material brachte. Es waren Zementrahmen, aus denen die Hauswände zusammengestellt wurden, ganz ähnlich den Abmessungen des früheren Holzfachwerks. Diese Rahmen waren etwas über zwei Meter hoch und einen Meter breit. Eine Type von Rahmen enthielt eine Öffnung für die Türe, eine andere Type Ausschnitte für die Fenster.

Alles war Typ, alles war Norm, jede noch so unscheinbare Einzelheit. Die Gesellschaft baute Häuser, wie man Fahrräder oder Automobile serienweise fabriziert.

Es begann das Aufrichten und Ausloten des Rahmenwerks, das Zusammenfügen. Diese Zementrahmen für die Außenwände und die Querwand, die jedes Haus in zwei Räume teilte, wurden in besonderen über das ganze Land verstreuten Zementfabriken der Gesellschaft hergestellt. Das Ausmauern des Rahmenwerkes aber war eine Arbeit, die selbst jeder Laie leicht unter der Anleitung eines geschulten Vorarbeiters ausführen konnte. Die Maschine preßte die Mauersteine aus dem Material, das sie an Ort und Stelle vorfand.

Ein neuer Kahn kam den Kanal herauf. Er brachte Holz, Balken, Bretter. Schon sah man reihenweise die Skelette von neuen Gebäuden stehen. Während die Häuser aus der Erde wuchsen, erkannte man deutlich Straßen, Nebenstraßen und die Abmessung der Gärten.

Die Zimmerleute kletterten in den Dachgestühlen. Die Äxte blitzten, und es dröhnte von allen Seiten. Es kamen Ingenieure aus Berlin zur Inspektion und gingen wieder. Lehmanns Gesicht strahlte vor Freude. Die Stadt wuchs empor. Täglich sah man, wie sie sich ruckweise aus dem Boden hob.

Immer noch kämpfte der Schlächter-Moritz seinen heroischen Kampf mit den Betonmassen vom frühen Morgen bis in die späte Nacht.

„Wollen Sie hier eine Schlächterei errichten?“ fragte ihn Lehmann eines Tages.

Der Schlächter warf sich in die Brust: „Ich?“ erwiderte er, während er sich mit dem bloßen Arm den Schweiß vom Gesicht strich. „Ich habe kein Geld, ich habe kein Kapital.“

„Das wird sich alles finden. Wenn Sie wollen, Moritz, ist die Sache abgemacht.“

Das Wetter war in den letzten Wochen herrlich gewesen. Es wehte ein würziger, lauer Wind, und die Sonne wärmte schon gehörig.

Wenn man nun gegen Glücksbrücke blickte, wo es ebenfalls von Arbeiterhaufen wimmelte und ganze Häuserreihen aus dem Boden wuchsen, wenn man etwas schräg gegen das Licht blinzelte, so sah man, daß die riesige weite Heide von einem grünen Hauch übersponnen war: die Saat kam heraus.

Eines Abends ließ Lehmann Georg in dringender Angelegenheit zu sich rufen. Georg fand ihn in angeregter Laune, mit roten Backen. Seine Pfeife paffte doppelt so heftig wie gewöhnlich.

„Nun ist also dieser Brief gekommen!“ rief er Georg entgegen und lachte fröhlich.

„Welcher Brief?“

„Setzen Sie sich, Weidenbach. Die Stunde des Abschieds hat geschlagen. Meine Arbeit hier ist zu Ende. Ich bin auf einen schönen und interessanten Posten aufgerückt, und nun richte ich die Frage an Sie: Weidenbach, wollen Sie der Chef dieser Station werden?“

Georg saß mit offenem Munde da und errötete. „Sie meinen, ich?“

Lehmann nickte: „Sie meine ich, jawohl, Weidenbach. Es ist meine Pflicht, meinen Nachfolger zu bestimmen. Sie müssen sich auf fünf Jahre verpflichten bei der Gesellschaft, das ist alles. Das Gehalt ist gering, aber die Gesellschaft bietet Ihnen für später große Vorteile.“

„Es ist mir nicht um Geld zu tun,“ warf Georg ein.

„Ich weiß es. Sie sind der Verständigste hier. Sie haben auch die größte Begeisterung für die Sache, und das ist es, was die Gesellschaft braucht: Männer, die sich für ihre Ziele begeistern! Wir können keine ängstlichen, verzagten und mürrischen Burschen brauchen!“ schrie Lehmann und schlug auf den Tisch, daß die Papiere sprangen. „So ist es, also schlagen Sie ein?“

„Ich schlage ein!“

„Nun, dann wollen wir ein Gläschen zum Abschied trinken, Weidenbach, mein lieber Kamerad,“ sagte Lehmann. Er nahm eine Flasche aus dem Schrank und goß die Gläser voll. „Sie waren von Anfang an dabei, und Sie haben beobachtet, wie es sich abspielt. Es gehört viel Takt dazu, Menschenkenntnis, hier Nachsicht und dort Strenge. Sie wissen, es kommen Menschen, verbrauchte Menschen, zu uns, die sich auf dem Pflaster krank gelaufen haben, und ein wesentlicher Teil unserer Aufgabe besteht darin, ihnen wieder Lebensmut einzuflößen. Deshalb müssen Sie da und dort nachsichtig sein. Ein gutes Wort tut einem verprügelten Hund wohl, und da und dort Strenge, und da und dort unerbittlich: hinaus mit dir. Beobachten Sie, und wenn es nicht geht: hinaus.

Tausende, Weidenbach, Tausende von jungen Leuten wie Sie und ich arbeiten in der Gesellschaft Neu-Deutschland, arm wie die Kirchenmäuse, aber freudig am Werk. Die Ärzte, die Zahnärzte, die Ingenieure, die Baumeister, Chemiker, Landwirte, Architekten, wir alle arbeiten für einen Hundelohn, aber wir arbeiten für eine Sache. Sie kennen ja die Parole der Gesellschaft: ‚Tod dem Hunger!‘ Sie wissen ja, diese Parole hat Michael Schellenberg erfunden. Was er will, ist Ihnen klar, aber der Hauptzweck, den er verfolgt, ist der, eine neue Volksgemeinschaft zu schaffen. Warten Sie ein Jahr, warten Sie zwei Jahre, die Gesellschaft rollt wie eine Lawine über ganz Deutschland. Bald wird dieses arme und mutlose Land wieder zu brausen beginnen.

Und hören Sie, Weidenbach, Sie werden die Siedlung ausbauen, und Sie werden sich aus den Leuten, die Sie haben, die besten auswählen, sie sollen den Kern der Siedlung bilden. Menschen wie Moritz und die Mutter Karsten und der Schlosser eignen sich prachtvoll dazu. Sie werden mit großer Umsicht vorgehen müssen, um den Stamm zu schaffen. Man wird Ihnen ja dann von der Zentrale erprobte Kräfte zuweisen. Und nun, gute Nacht, Weidenbach. Morgen ist wieder ein heißer Tag. Morgen mittag werde ich euch allen Lebewohl sagen.“

In der Mittagspause des folgenden Tages stellte Lehmann Georg als den neuen Chef der Station vor. Dann hielt er eine kurze Ansprache, brachte ein Hurra aus auf das Gedeihen der Gesellschaft und schwang den Hut.

Die Männer brüllten und schüttelten ihm die Hand, und nun ging er.

„Da also geht er, er war ein netter Bursche!“

19

Was sagst du dazu, Christine?“ sagte Georg. „Ich bin Chef der Station geworden.“

Christine hob den fieberischen Blick und lächelte leise. „Ich freue mich für dich,“ sagte sie. Sie saß vor der Küche in der Sonne und schnitt Kartoffeln in Scheiben, die sie in einen Topf voll Wasser fallen ließ. Ihr zu Füßen saß der kleine Georg, in eine alte Decke eingehüllt. Frisch und reizend blickte sein kleiner zarter Kopf aus der derben Decke.

In der Mittagspause oder am Abend nahm Georg häufig das Kind auf den Arm und trug es durch das Lager, oder auch Moritz nahm das Kind oder irgendein andrer.

„Ah, da ist ja der kleine Georg!“ riefen die Männer und nahmen mit zartem Griff der rauhen Arbeitshände das kleine Händchen des Kindes. „Da bist du ja, und wie er wächst und gedeiht.“

Das Kind gehörte dem ganzen Lager. Es war ihr gemeinschaftliches Kind.

Christine schwieg noch immer. Sie war noch so blaß wie an dem Tage, da Georg sie ins Lager gebracht hatte. Aber dieser bläuliche Glanz in den eingesunkenen Wangen und an den Schläfen war verschwunden. Und das kalkige Weiß der Ohren, das Georg so sehr erschreckt hatte, denn er befürchtete, daß Christine schwindsüchtig geworden sei, war einem zarten Elfenbeingelb gewichen. Oder sollte er sich täuschen? Aber auch Mutter Karsten war seiner Meinung.

„Sie sieht besser aus,“ sagte die Alte. „Und sie hustet nicht mehr so fürchterlich in der Nacht.“

Am Tage hustete Christine selten. Auch die hektischen Flecken, die er dann und wann in ihrem Gesicht beobachtet hatte, zeigten sich immer seltener.

„Hast du Fieber?“ fragte er sie und nahm ihre Hand in seine Hände. „Frierst du? Soll ich dir eine Decke umlegen?“

Christine schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem dankbaren Blick an.

Wie glücklich war er, daß dieser starre und abwesende Glanz ihrer Augen verschwunden war. Immer hatte sie ihn angesehen, als wäre sie nicht bei ihm, als sei sie in einer fernen unbekannten und fürchterlichen Welt. Nun schien es, als ob ihr alter Blick langsam in die Augen zurückkehre.

Täglich machte Christines Genesung Fortschritte. Sie fing an, sich für die Arbeit ringsum, die sie sonst kaum beachtet hatte, zu interessieren.

„Was macht ihr hier?“ fragte sie eines Tages ganz unvermittelt.

„Wir bauen eine Stadt mit großen Werkstätten und Fabriken,“ erwiderte Georg, froh erregt über ihr Interesse. „Ganz allmählich wird die Stadt entstehen. Sie soll später fünftausend Menschen beherbergen. Und auch dort hinten, siehst du, wo die kleinen Pünktchen hin- und hereilen, auch dort wird eine Stadt für fünftausend Menschen errichtet.“

Christine begann zuweilen hin- und herzugehen, zerstreut und geistesabwesend; dann stand sie still und blickte in die Sonne empor. An den Sonntagen machten sie häufig mit Georg einen kleinen Spaziergang in den Wald hinein, der stehen geblieben war. Aber Christine wagte sich nicht weit von der Straße.

„Nein,“ sagte sie, „kehren wir zurück.“

Eines Tages beobachtete sie Georg, ohne daß sie ihn bemerkte, wie sie mit dem Kinde spielte. Sie kniete auf der Erde und ließ das Kind, dessen kleinen Körper sie mit den Händen zärtlich hielt, auf der Erde tanzen und flüsterte ihm leise und zärtliche Worte zu. Sie lächelte dazu, und plötzlich erkannte Georg in ihrem Gesicht Christines frühere Züge wieder. Nun wußte er, daß sie gerettet war.

Weshalb schwieg sie? Weshalb sprach sie nicht?

Er deutete über die weite Fläche, die sich bis zu dem Gewimmel von Glücksbrücke dehnte. Sie war nun smaragdgrün geworden, und weich und zärtlich lag die Sonne darauf.

„Sieh, wie herrlich grün es ist!“ rief Georg aus. „Vor einem halben Jahre war hier nichts als Sand und Gebüsch.“

Weshalb aber sprach sie nicht, weshalb schwieg sie? Sie fühlte Georgs Blick auf sich gerichtet. Sie fühlte immer die gleiche Frage in seinem Blick.

Eines Tages sagte sie mit einem leisen Aufseufzen zu ihm: „Bald werde ich dir alles sagen,“ und leiser fügte sie hinzu: „und dann werde ich wohl gehen müssen.“

„Weshalb gehen?“ fragte Georg erschrocken.

„Frage nicht, ich werde sprechen, wenn die Zeit gekommen ist.“ –

Auf der Landstraße kamen zwei Lastautos angerollt. Sie waren hoch beladen, und es sah aus, als brächten sie einen ganzen Wald. Das waren Bäume, Obstbäume, Sträucher, Stauden für die Gärtnereien von Glückshorst.

Die Gärtnereien und Baumschulen bildeten das Herz aller Siedlungen.

20

Das Verwaltungsgebäude der „Gesellschaft Neu-Deutschland“ in der Lindenstraße summte wie ein Bienenstock im Hochsommer. Tausende von Menschen strömten täglich ein und aus. In all den hundert Abteilungen schwirrte die Arbeit, und überall sah man fröhliche, hoffnungsfrohe Gesichter.

Schon am frühen Morgen standen die Scharen der Arbeitsuchenden vor dem Gebäude und warteten auf das Öffnen der Tore. Die Aufnahmesäle vermochten kaum die Massen zu fassen. Nun da der Umbau fertig war, konnten alle Einrichtungen mustergültig genannt werden. Die Angeworbenen passierten die Zimmer der Ärzte, die sie sorgfältig untersuchten. Ihr Urteil bestimmte die Tätigkeit, leichtere oder schwerere Arbeit. An die Zimmer der Ärzte stießen Badesäle mit Duschen und Desinfektionsräume, in denen die Kleidungsstücke der Angeworbenen gereinigt wurden. Michael Schellenberg ging gegen Schmutz und Krankheitskeime mit allen erdenklichen Mitteln vor.

In der Nacht aber blendete von der Fassade des Gebäudes in riesigen gleißenden Lettern der Wahlspruch der Gesellschaft:

Tod dem Hunger!

Tod der Krankheit!

Es lebe die Kameradschaft!

Jede Nacht leuchtete diese Parole in die dunkeln Straßen hinaus, wie ein Leuchtfeuer in die Finsternis des Meeres. Tausenden und Abertausenden von erschöpften, ermatteten, kranken und verzweifelten Menschen hatte dieses flammende Licht den Weg zur Rettung gewiesen.

Michael Schellenberg war es ernst mit dieser Parole: in Wahrheit, es sollte keinen Hunger mehr geben auf Erden! Es war ja unsinnig, daß auch nur ein Mensch hungerte, setzte man alle Kräfte richtig ein. In Wahrheit, die Krankheiten sollten bis auf den letzten Rest bekämpft werden, wie man Pocken und Pest niederkämpfte, sie sollten, soweit es möglich war, völlig von der Erde verschwinden! In Wahrheit, über allen Religionen und Bekenntnissen, über allen Rassen und Nationen sollte versöhnend und verbindend das Weltbekenntnis der Kameradschaft thronen.

In kaum drei Jahren hatte Michael diese ungeheure Organisation geschaffen, die heute bereits ganz Deutschland umspannte und die Aufmerksamkeit des Auslandes und der Welt erregte. Unermüdlich und ohne Pause war er an der Arbeit gewesen, Begeisterte um sich zu scharen, Zögernde mitzureißen, die Zersplitterten zu sammeln, die Widerstände der Bureaukratie zu brechen, den Argwohn und die Eifersucht politischer Parteien, steril und ohne schöpferische Kraft, zu überwinden.

Worum aber ging es?

Es war sehr einfach. Es ging darum, dem Boden soviel an Nahrung zu entreißen, als es möglich war. Mit allen Mitteln, die Wissenschaft und Technik boten. Es ging um die Industrialisierung der Landwirtschaft und des Gartenbaus. Es ging darum, alle freien und alle vorübergehend freien Arbeitsenergien des Volkes in den Boden zu werfen. Es ging darum, alle in Zeiten industrieller Krisen brachliegenden Arbeitskräfte nach einem großen, einheitlichen Plan produktiv zu verwenden.

Das war – in großen Umrissen – Michaels ganzer Plan, und er hatte besonders zu Beginn seine ganze Kraft jenem Teil des Planes zugewandt, der sich mit der produktiven Verwendung brachliegender Arbeitsenergien beschäftigte. Es schien unsinnig, in Perioden einer industriellen Stagnation Abertausende von Arbeitern auf die Straße zu werfen und ihnen eine geringe Unterstützung zu bezahlen, die sie gerade vor dem Verhungern schützte. Es schien sinnvoll und naheliegend, mit dem Aufwand der gleichen finanziellen Mittel die brachliegenden Arbeitskräfte schöpferisch zu verwerten. Ein Betätigungsfeld aber gab es, das ohne Grenzen war und nicht von der Weltkonjunktur abhing: das war der Boden! Er gab allen Arbeit – selbst jenen, die nicht mehr ihre volle Kraft besaßen, selbst den Alternden, und selbst jenen, die noch nicht ihre ganze Arbeitskraft erreicht hatten, der Jugend.

Jene Unsummen heute verschleuderter Arbeitsenergien zusammengefaßt und zur inneren Kolonisation nach einem großen Plane verwandt, mußten Wohlstand und Glück erzeugen. Es gab in Deutschland heute noch fünf Millionen Hektar Ödland. Fruchtbar gemacht, konnte es Millionen ernähren. Fünftausend Arbeitsstunden, richtig und systematisch angewandt, so hatte Michael berechnet, sicherten jedem Menschen Behausung und Garten. Es schien ihm an der Zeit, daß die Menschheit den Kampf gegen den Hunger und gegen das Elend mit derselben Sorgfalt und demselben Aufwand an Mitteln organisiere, wie sie den Krieg organisierte. Ein amerikanischer Automobilfabrikant hatte das Wort geprägt: Wenn wir arbeiten müssen, so laßt uns vernünftig arbeiten! Gut, gut. Michael Schellenberg hatte es dahin ergänzt: Wenn wir arbeiten müssen, so laßt uns Vernünftiges vernünftig arbeiten. Das allein erschien ihm die Wahrheit.

Es war nicht leicht, keineswegs, es war schwer, unendlich schwer, die Probleme waren ohne Zahl. Je näher man ihnen kam, desto ungeheuerlicher wuchsen sie in die Höhe. Aber Michael hatte nicht eine Stunde den Mut verloren. Ein Kreis ernster und verantwortungsbewußter Köpfe hatte sich um ihn gesammelt. Er hatte Männer gefunden, die seine Pläne förderten. Ein Deutschamerikaner, der Bankier Augsburger, ein alter Mann, hatte sich so sehr für seine Gedanken begeistert, daß er ihm sein ganzes Vermögen zur Verfügung stellte. Als erst der Anfang gemacht war, strömten ihm begeisterte Mitarbeiter von allen Seiten zu. Hunderte von jungen Architekten, Chemikern, Technikern, Ingenieuren, Städtebauern, Landwirten, Gärtnern, Ärzten boten ihm ihre Mitarbeit an. Er griff freudig zu. Er benutzte alle Organisationen, die helfen konnten. Das Rote Kreuz, die Jugendorganisationen, alles. Er sammelte die mannigfachen Siedlungsgesellschaften und Vereinigungen, die, zersplittert, systemlos und ohne einen großen Gesamtplan ähnliche Ziele verfolgten. In allen Provinzen Deutschlands hatte die Gesellschaft ihre Niederlassungen. Und die Gesellschaft wuchs täglich!

Das deutsche Volk, ermattet durch Krieg und Revolution, brauchte ein großes Ziel, und Michael gab ihm dieses Ziel! Er blickte nicht zurück, er wies in die Zukunft – und schon strömten ihm die Verantwortungsvollen, die Begeisterungsfähigen, die vom Kameradschaftsgedanken Ergriffenen zu. Die Jugend kam mit ihren Organisationen. Die Frauen stellten sich in seinen Dienst. Die ungeheuere Aufgabe erforderte alle Kräfte des Volkes. Selbst die Gefängnisse zog Michael heran. Die Häftlinge strichen Ziegel, an der Nordsee transportierten sie Schlick, vorzüglichen Dung, auf die sandigen Ödländereien. Michael kämpfte zur Zeit dafür – die Zeitungen hallten wider von dem Streit –, alle Freiheitsstrafen in Arbeitsleistungen umzuwandeln.

Die Gesellschaft Neu-Deutschland erwarb Ödländereien und verbesserte sie. Sie bezahlte mit diesem verbesserten Land ihre Arbeitskräfte und deckte damit ihre Verpflichtungen. Aus sich selbst heraus, aus dem Boden heraus schuf sie neue ungeheuere Werte.

Die Gesellschaft besaß heute endlose Ländereien, Wälder, Sägewerke, Steinbrüche, Ziegeleien, Zementwerke, Fabriken, Bagger, Frachtkähne. Sie besaß ein Arsenal von Maschinen, die sie beliebig hin und her werfen konnte. Plan, Methode, Ersparnis war ihr Grundprinzip.

Fiebernd vor Erregung arbeitete Michael die halben Nächte hindurch. Sein Gesicht war hager und straff geworden. Er war glühend von seinem Werke.

Unendlich und gigantisch erschien es – und doch einfach und leicht verständlich in seinen Elementen.

Das Problem der Großstädte, ihr Ausbau, ihre Korrektur. Die Trabantenstädte, die sie umlagerten, ähnlich in der Struktur, die Grüngürtel, die sich um diese Stadtschaften zogen, die Gärtnereigürtel, die sich an ihre Peripherien drängten, die Verwertung der Abfälle dieser Städte, heute zum großen Teil sinnlos verschwendet.

Neue Städte mußten geschaffen werden, Industriesiedlungen, Handwerkerdörfer, Gärtnereisiedlungen. Die Dampfmaschine hatte zentralisiert, der elektrische Strom erlaubte Auflösung. Kraftwerke, Kanäle, Schnellbahnen, Schnellautostraßen – Arbeit für Jahrzehnte, für ein Jahrhundert, wenn man wollte, bis das ganze Land in einen blühenden Garten verwandelt war. Die Probleme des dünnbesiedelten Ostens, des Rheins, des Ruhrgebietes – ja, in Wahrheit unendlich ...

Gegen dreihunderttausend Heimstätten hatte die Gesellschaft bereits geschaffen, etwa zweihundert größere und kleinere Siedlungen aller Art und für alle Zwecke waren im Bau. Das war nur der Anfang. Michael aber sah dieses neue Deutschland schon vor sich, wie es in das alte Deutschland hineinwuchs, allmählich, mit jedem Tag mehr und mehr. Zweihundert Millionen glücklicher und gesunder Menschen würde es einst beherbergen, würde es einst Arbeit und Nahrung und Heiterkeit des Herzens geben.

21

Die Sonne schickte sich schon an unterzugehen, da sagte Christine, nach langem Stillschweigen, ganz plötzlich: „Und nun will ich sprechen! Nun will ich dir alles beichten! Aber versprich mir, mich nicht zu unterbrechen. Und versprich mir, nichts zu erwidern, wenn du alles gehört haben wirst. Später, später – –. Beichten will ich – Gott sei meiner Seele gnädig ...“

Christine vergrub das Gesicht in die Hände und begann:

„Damals – als das Schreckliche geschah, als ich die Waffe gegen dich erhob, in meiner sinnlosen Eifersucht, damals war ich gewiß nicht Herr meiner Sinne. Ich hatte dir ja nur drohen wollen. Ich wollte dir nur Schrecken einjagen, du solltest Furcht vor mir haben. Ich wollte die Waffe nicht abdrücken, Gott weiß es, es ist die Wahrheit. Vielleicht wollte ich, um dich zu ängstigen, einen Schuß in die Wand feuern. Nun, es war geschehen. Plötzlich floß Blut aus deiner Brust – und ich verstand nichts mehr. Du beschworst mich, zu schweigen, und nahmst die Sache auf dich. Von diesem Augenblick an war ich nicht mehr ein Mensch wie andere Menschen, ich hatte keine Freiheit mehr, ich gehörte ganz dir. Ich war eine Leibeigene geworden, so empfand ich es.

Ich weiß heute nicht mehr, wie ich die ersten Wochen verbrachte. Ich weiß nur, daß ich alles ohne Bewußtsein, ganz automatisch tat. Ich stand hinter dem Verkaufstisch, legte die Wäsche vor, sprach, ich hörte einen fremden Menschen sprechen. Alle diese Wochen hindurch betete ich unaufhörlich – es ist wahr, Gott weiß es –, ob ich auf der Straße ging oder im Geschäft war oder auf meinem Zimmer, unaufhörlich betete ich, daß Gott dich dem Leben erhalten möge. Ich schloß mich in mein Zimmer ein, ich ging nicht aus, sah keinen Menschen, ich weiß nicht, wann ich schlief, wann ich aß, ich lebte in einer Art von Ohnmacht.

Erst als sie mir im Krankenhaus sagten, daß nun keinerlei Gefahr mehr bestände für dein Leben, erst dann konnte ich wieder atmen. Denn bis dahin war mir die Brust zugeschnürt gewesen, und ich konnte nur ganz kurze Atemzüge tun, wie jemand, den schreckliche Angst verzehrt. Nun atmete ich wieder.

Ich hatte in den ersten Wochen nicht geweint, jetzt aber weinte ich sehr viel. Ich weinte aus Freude, daß du gerettet warst. Und jeden Tag am Morgen und am Abend dankte ich Gott auf den Knien, daß er mein Gebet erhört hatte. Es ist wahr, Gott weiß es.

So war es also in den ersten Wochen und Monaten. Es war Sommer, und ich ging viel spazieren. Ich hatte mich von allen Bekannten losgesagt, und so kam es, daß ich immer allein war. Die Menschen plauderten und lachten und waren fröhlich. Nach diesen langen Wochen überkam mich plötzlich das Verlangen, unter heiteren Menschen zu sein. Dieses Verlangen war gewiß harmlos, aber so begann es.

Im Warenhaus, in der Konfektionsabteilung, arbeitete ein junges Mädchen, ein lebenslustiges Geschöpf, voller Übermut. Sie hieß Susanna. An Susanna schloß ich mich an, und wir gingen zusammen in die Tanzhallen, um zu tanzen. Ich empfand es wie Sünde, daß ich tanzte und heiter war, während du, durch meine Schuld, im Krankenhaus lagst. Aber ich konnte nicht widerstehen. Hier nun traf ich einen Russen. Er sagte, er sei früher russischer Offizier gewesen und lebe heute von dem Schmuck seiner Mutter, den er über die Grenze gebracht habe. Er erzählte interessante Dinge, war düster und immer etwas melancholisch. Das zog mich an. Er warb um mich, aber ich widerstand. Immer aber hörte ich seine Stimme, wenn ich allein war. Ich sah ihn dann ganz nahe vor mir. So kämpfte ich wochenlang. Aber mein Blut konnte nicht widerstehen. Es war oft wie eine Raserei in mir, und so geschah es also. Ich habe dich damals noch besucht, aber ich sank vor Scham fast in den Boden, wenn ich dir die Hand reichte. Ich verachtete mich.

Eines Tages hatte ich mich mit dem Russen wie häufig vor dem Potsdamer Bahnhof verabredet. Er kam nicht. Ich schrieb ihm. Keine Antwort. Ich fragte in seinem Hause nach, in dem Hause, das er mir genannt hatte, er hatte nie dort gewohnt. Es geschah mir recht, natürlich. Ich freute mich über diese Züchtigung.

Aber wiederum kam sie über mich, diese Raserei des Blutes, mächtiger als alle Vorsätze, als alle Eide, als alle Gebete. Ich zitterte auf der Straße unter den Blicken der Männer, das Blut schoß mir augenblicklich ins Gesicht, berührte mich jemand im Vorübergehen. Wieder ging ich häufig mit Susanna aus. Ich machte die Bekanntschaft eines jungen Mannes, eines Schriftstellers. Er sagte, er käme nur in dieses Tanzlokal, um Studien zu machen. Er tanzte wenig, und er tanzte nicht gut. Aber er war so witzig und verstand es, gut zu plaudern. Er lud mich zu sich zum Tee ein, aber was soll ich weiter erzählen – ich wurde seine Geliebte, und ich verachtete mich nun noch mehr. Nun bist du auf dem besten Wege, sagte ich mir, von einem gehst du zum andern.

Von dieser Zeit an habe ich dich nicht mehr besucht. Den ersten Brief, den du in dieser Zeit schriebst, habe ich noch gelesen. Die andern habe ich ungelesen verbrannt. Ein Geschöpf wie ich durfte nicht mehr existieren für dich. Ich hatte mich selbst aus deinem Leben gestrichen. Und doch liebte ich dich noch, vergiß das nicht. Ich habe mich selbst dazu verurteilt, aus deinem Leben zu verschwinden.

Eines Tages traf ich meinen neuen Freund, den Schriftsteller, vor seinem Hause, er kam mit einem Mädchen die Treppe herab. Er blickte mich an, ging an mir vorüber über die Straße, er kannte mich nicht mehr! Ich schämte mich für ihn. Aber auch diese Züchtigung tat mir wohl. Ich verdiente es nicht anders. Sie behandeln dich so, wie du es verdienst, sagte ich mir, und trotzdem ich litt, empfand ich es als eine große Genugtuung.

Weiter, weiter, laß mich zu Ende kommen. Was war in mich gefahren? War mein Blut vergiftet? Ich weiß es nicht. Die Raserei des Blutes überfiel mich, und plötzlich kam mir der Gedanke, daß es das beste wäre, wenn ich mich, elend und verworfen wie ich war, in den Taumel stürzen würde, um darin umzukommen.

In diesen Tagen verlor ich meine Stellung. Ich wurde entlassen. Das kümmerte mich wenig. Ich suchte mir einen neuen Freund. Ich fand ihn. Es war ein Gutsbesitzer aus der Provinz. Aber er langweilte mich, ich nahm einen andern. Es war ein schüchterner Mensch, der an mir hing und seinen letzten Pfennig für mich opferte. Ihn betrog ich. So also lebte ich nun. Soweit war es also mit mir gekommen. Nur im Rausche der Ausschweifungen lebte ich noch auf, sonst war ich stumpf und verzweifelt. Nie in meinem Leben, noch wenige Wochen vorher, hätte ich es mir auch nur in einem bösen Traum einfallen lassen, daß ich so tief sinken könnte. Ich verstand mich nicht mehr. Wie waren die andern Frauen? Wie sind sie? Was beschäftigt sie? Lügen sie, heucheln sie? So wie ich log und heuchelte? Die guten Geister, die mich bisher begleitet hatten, sie hatten mich verlassen, und ich war verloren. Ich fühlte es damals schon, nicht mehr lange konnte es dauern, und ich mußte umkommen.

Ich habe nicht mehr gekämpft, ich hatte dazu keine Kraft mehr. Nur den Genuß wollte ich, die Betäubung. Einmal stieß ich plötzlich auf Jenny Florian. Es war auf einer Untergrundbahnstation. Gott war gnädig, es war düster hier. Sie konnte nicht sehen, wie ich aussah, sie konnte nicht sehen, daß ich blaß wurde wie der Tod. Sie fragte nach dir, und ich erzählte ihr, du seiest gestorben. Diese Lüge fiel mir in dieser Sekunde ein, und ich zögerte nicht, sie auszusprechen. Es war ja jetzt schließlich alles einerlei, und auf eine Lüge mehr oder weniger kam es nicht an.

In dieser Zeit aber geschah das Furchtbarste. Plötzlich hatte ich untrügliche Beweise, daß ich Mutter werden sollte. Ich nahm auch dies als Züchtigung des Himmels hin, und ich sagte mir, daß ich nun das Ende noch rascher herbeiführen müsse. Ich wollte das Kind nicht zur Welt bringen, auch das gestehe ich. Dieses süße Kind, das ich nun liebe wie nichts auf der Welt, es würde heute, wäre es nach meinem Willen gegangen, nicht leben. Hier muß ich dir sagen, daß ich nicht annahm, daß es dein Kind sei. Ich ging zu einem Arzte, um ihn zu bitten, mir zu helfen. Aber er wies mich ab, er versicherte mir, daß ich schon im vierten Monat schwanger sei. Unfaßbar, unbegreiflich! Und plötzlich erhellte mich ein Gedanke: dann war es ja dein Kind!

Aber dieser kurzen Helligkeit folgte im nächsten Augenblick die tiefste Finsternis. Nun war ja alles nur um so fürchterlicher, um so schrecklicher geworden. Es gab nun keinen Ausweg mehr, es blieb mir nur das eine übrig, mich selbst zu vernichten.

Schließlich aber kam das Kind doch zur Welt. Ich wollte es zuerst ermorden, denn was sollte das Kind mit einer solch verworfenen Mutter? Dann aber weinte ich über das Kind. Sollte es gehen, wie es ging. Ich war halb von Sinnen, völlig ratlos. In dieser Zeit wandte ich mich an Jenny Florian. Ich widerrief meine Lüge, daß du gestorben seiest. Ich sagte ihr, daß ich mich unwürdig fühle, noch deine Freundin zu heißen. Ich bat sie um Geld, da ich in großer Not war. Ich beschwor sie, niemandem etwas zu sagen. Sie hielt Wort.

Kurz nach der Geburt des Kindes wurde ich krank. Ich fieberte stark. Der Arzt sagte, meine Lunge sei angegriffen und ich müßte sofort in ein Sanatorium. Ich lachte ihm ins Gesicht. Nun also war es soweit, nun würde es rasch gehen. Ich hatte mir aber vorgenommen, wenn ich merkte, daß es mit mir zu Ende ging, Jenny Florian dein Kind zu schicken.

Aber es ging nicht so rasch, wie ich dachte. Ich wurde nur schwächer und immer schwächer. Meine Freunde wandten sich von mir ab und überließen mich der Not. So wie ich es verdiente. Rasch sank ich in das tiefste Elend. Schließlich konnte ich nicht mehr aufstehen. Ich hatte auch nicht einen Pfennig mehr. Die Wirtin verkaufte meine Kleider, das bißchen Schmuck, das ich besaß. Nun war ich in die Hölle gekommen, wo ich hingehörte. Der Vater stellte mir nach, der Sohn stellte mir nach. In der Nacht lag ich schlaflos, in Schweiß gebadet. Schließlich schrieb ich wieder an Jenny Florian, da ich völlig verzweifelt und ganz von Sinnen war – und da kamst du!“

Nun war die Sonne vollkommen untergegangen, und es war dunkel geworden. Furchtbar und erschreckend standen schwarze Wolkenhaufen über der Heide. „Das also bin ich,“ schloß Christine. „Nun weißt du, wer ich bin. Sprich nicht!“ schrie sie und hielt sich die Ohren zu. „Sprich nicht! Erwidre nichts! Nach Worten sollst du mir antworten!“

„Wir wollen vergessen,“ sagte Georg trotz ihres Verbotes. „Wir wollen alles vergessen, was gewesen ist. Wir wollen vorwärtsblicken und nicht zurück.“ Er wies auf das Kind, das in Christines Schoß schlief, und zog sie leise an sich.

Da begann Christine zu schluchzen, sie weinte und schrie laut wie ein Tier.

22

In diesem Frühjahr kursierte an der Börse und in Finanzkreisen das Gerücht, daß sich der Schellenberg-Konzern in Schwierigkeiten befände. Niemand wußte, wo und wann dieses Gerücht aufgekommen war, es war da. Und in der Tat, es war nicht zu leugnen, daß Goldbaum, der Generaldirektor des Konzerns, mit verschiedenen Banken wegen größerer Kredite verhandelte. Es war auch eine Tatsache, daß plötzlich große Aktienpakete des Konzerns angeboten wurden. Die Papiere aller Unternehmungen des Schellenberg-Konzerns fielen rapide und verloren innerhalb von vier Wochen den vierten Teil ihres Kurswertes.

Goldbaum wurde beurlaubt und fuhr an die Riviera.

Es hieß, daß Wenzel Schellenberg beabsichtige, sein Palais im Grunewald, das noch nicht einmal ganz fertig war, zum Verkauf anzubieten – ein Objekt von so enormem Wert, daß sich ein Käufer wohl kaum finden werde. Man munkelte auch, daß die Schellenbergsche Jacht, jene Jacht einer früheren Großherzogin, nach England verkauft sei. Die Papiere des Konzerns gaben noch weiter nach.

Wenzel blieb gleichmütig. Im Gegenteil, man hatte ihn noch nie in so heiterer Laune gesehen.

Es gab kein gesellschaftliches Ereignis in Berlin, wo Wenzel nicht zugegen gewesen wäre. Keine Premiere, kein Rennen, wo man ihn nicht gesehen hätte. Fast immer erschien er in der Gesellschaft Jenny Florians. Ihr zarter Körper war in die kostbarsten Gewänder gehüllt, Geschmeide funkelte an Händen und Nacken.

Die Kenner lächelten. „Er spielt Maskerade,“ sagten sie mit einem Blinzeln. „Uns täuscht er nicht. Wenn es bei ihm zu krachen beginnt, so stürzt alles in einer Nacht zusammen.“

Aber seht an, die Kenner blickten einander enttäuscht in die Augen. Was war das? Ein unbekannter Käufer trat plötzlich an der Börse auf und kaufte riesige Pakete der gesunkenen Schellenberg-Aktien. Bei der nächsten Börse geschah das gleiche. Die Papiere zogen an. Sie stiegen in einer Woche ohne jede Stockung und kletterten schließlich über ihren alten Kurs.

Wenzel hatte eine ungeheure Summe gewonnen und schob sie mit einem breiten Lachen in die Tasche. Plötzlich, war es zu glauben, tauchte auch Goldbaum, der lange Zeit in der Versenkung verschwunden war, wieder im Konzern auf. Da war er wieder, rund und glänzend, als sei nichts geschehen. Vergnügt rieb er sich die Hände.

Vielleicht war alles nur ein Manöver gewesen, das Wenzel selbst eingeleitet hatte?

In diesen Tagen kaufte Wenzel den Rennstall des Herrn von Kühne. Zweiunddreißig Pferde, darunter ganz hervorragendes Material. Einen früheren bekannten Herrenreiter hohen Adels engagierte er als Trainer.

Nun sah man die Schellenbergschen Farben auf jedem Rennen. Jenny hatte sie auf Wenzels Wunsch vorgeschlagen. Die Jacke war gelb, die Ärmel rotweiß gestreift. Auch in der Ferne konnte man die Schellenbergschen Farben mitten im jagenden Rudel gut erkennen.

Es zeigte sich nun auch, daß Schellenberg nicht im Traum daran dachte, sein im Grunewald neuerbautes Palais zu verkaufen. Weshalb er aber plötzlich alle Arbeiten eingestellt hatte, weshalb er seinen Anwälten den Auftrag gab, mit den Lieferanten, Baumeistern und Baufirmen zu verhandeln und die Rechnungen abzuschließen – das wußte nur Schellenberg allein.

Auch die Nachricht über den Verkauf seiner Jacht erwies sich als Legende. Allerdings war die Jacht, dies entsprach der Wahrheit, plötzlich nach England gefahren. Der Kapitän hatte den Auftrag, die Jacht nach Hull zu bringen, um dort weitere Befehle abzuwarten. In verschiedenen Zeitungen erschien damals die Notiz, daß Lord Beaverbrook als Käufer der Jacht genannt werde. Nach einigen Wochen aber erhielt der Kapitän in Hull die Order, das Schiff wieder nach Warnemünde zu steuern. Wenzel dachte nicht im Schlafe daran, die Jacht zu verkaufen. Weshalb aber hatte er sie nach Hull geschickt? Und in seinem neuen Palais im Grunewald wimmelte es wieder von Handwerkern.

Jede Woche fuhr Wenzel zwei-, dreimal mit Jenny hinaus in den Grunewald, um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren. War er verhindert, so fuhr Jenny allein, denn Wenzel hatte Jenny zum „obersten Bauleiter“ ernannt. Sie tänzelte, in ihren Mantel gewickelt, lächelnd durch die Säle, und die Architekten küßten ihr die Hand. Die Maler und Handwerker grüßten freundlich von den Gerüsten herab. Jenny gehörte zu jenen Menschen, die gute Laune erzeugen, wo immer sie erscheinen. Und doch, sie sprach nur wenig, sie grüßte freundlich, lächelte.

Alles in dem Gebäude war von großer Pracht und letzter Gediegenheit. Das kostbarste Material, die teuersten Edelhölzer waren verwendet worden zu Türen, Wandbekleidung und Parkettböden. Im großen Speisesaal waren die Wände bespannt mit kostbaren Seidenstickereien. Zwanzig Arbeiterinnen hatten zwei Jahre an diesen Bespannungen gestickt. Marmor, Bronze, Brokat, die Decken Wunderwerke, Saal an Saal. Die Bibliothek, in Ausmaß und Pracht wie die eines Schlosses. In halbfertigen Gemächern standen Möbel, Berge von Kisten. Wenzel hatte seine besonderen Einkäufer für Antiquitäten, Bilder, Bücher. Das Palais enthielt zwanzig Gastzimmer, jedes mit einem Bad, und alle verschieden und originell. Was Jenny am meisten interessierte, waren die Küchen- und Kellerräume. Hier lagen die Zimmer für die Dienerschaft. Hier lagen zwei Badeanlagen für die männliche und weibliche Bedienung. Hier war der Weinkeller, mit dem letzten Raffinement ausgestattet. Und hier lag, erst halb fertig, das Schwimmbassin des Hausherrn, fünfzehn Meter lang und fünf Meter breit. Es war von Wenzels Gemächern aus über eine Treppe aus weißem Marmor zu erreichen.

Für dieses Schwimmbassin hatte Jenny eine blendende Idee! „Es ist mir etwas eingefallen, Wenzel,“ sagte sie. „Darf ich Vorschläge machen?“

„Aber gewiß, du hast doch die Bauleitung.“

Jenny also ging zu Stobwasser. „Hören Sie, Stobwasser,“ sagte sie, „sehen Sie zu, daß Sie einige Ihrer Keramiken zusammenbringen, und räumen Sie ein bißchen auf. Morgen oder übermorgen, ich kann es noch nicht genau sagen, bringe ich Ihnen einen Kunden. Aber sehen Sie zu, daß es nicht so unordentlich aussieht.“

„Schön, schön,“ erwiderte Stobwasser und warf die spitze Nase in die Luft. „Sie sollen bedient werden, Jenny.“

„Daß Sie zur Stelle sind. Ich komme zwischen elf und ein Uhr.“

Stobwasser hatte wundervolle Keramiken geschaffen, Kakadus, Papageien, Fasanen, Reiher, Flamingos. Die Tiere waren seine Spezialität. Er brannte und glasierte seine Arbeiten selbst in einem alten verstaubten Ofen, der in der Ecke stand.

Stobwasser lief den ganzen Tag umher, um seine Arbeiten, die zum größten Teil verkauft waren, zum größten Teil aber bei den Händlern standen, zusammenzuholen.

Und richtig, da kam auch schon Jenny mit Wenzel an.

Fast hätte Jenny laut herausgelacht. Stobwasser verbeugte sich linkisch und ungeschickt und viel zu tief. Er hatte sich irgendwo einen langen Gehrock ausgeliehen, der ihm etwas zu weit war. Er bat, Platz zu nehmen, und wischte die Stühle mit dem Taschentuch ab. Er war dunkelrot vor Verlegenheit und wurde noch verlegener, als er beim Rückwärtstreten über seine Katze stolperte. Unruhig rückten die Tiere in ihren Bauern hin und her, und der Papagei begann laut zu schreien und zu singen: „Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr ...“

„Sei ruhig!“ herrschte ihn Stobwasser an.

„Leider sind diese Arbeiten nicht so gut, wie ich es gern wünschte,“ sagte er. „Ich bitte Sie zum Beispiel diesen Kakadu nicht anzusehen, er ist direkt schlecht.“

Jenny lachte laut auf. „Sie haben eine drollige Art, Ihre Werke zu empfehlen!“ rief sie aus. „Stobwasser brennt die Arbeiten selbst,“ erklärte sie.

Mit einer steifen Geste des Armes deutete Stobwasser, wie ein Führer in einem Museum, auf den verstaubten und verräucherten Brennofen in der Ecke. „Ja, ich brenne sie selbst, hier in diesem Ofen!“

Wenzel zeigte aufrichtiges Interesse. Er betrachtete alle Werke des Bildhauers aufmerksam, die Keramiken, die Schnitzereien. Am meisten schienen ihn aber die lebenden Tiere, Stobwassers Modelle, zu interessieren.

„Ich habe leider heute keine Zeit mehr,“ sagte er plötzlich. „Wir sehen uns bald wieder, Herr Stobwasser.“

Stobwasser verbeugte sich tief und erbleichte.

„Oh, wie oft habe ich das gehört: ich komme wieder,“ sagte er, als die beiden gegangen waren. Und er drohte dem Papagei mit der Faust. „Und du, wie kannst du dein dummes Lied singen, wenn gerade Besuch da ist. Und noch dazu ein früherer Hauptmann.“

Er war völlig verzweifelt.

Jenny aber trug Wenzel, während sie im Auto saßen, ihren Einfall vor: Sie dachte es sich hübsch, wenn das Schwimmbassin mit Keramiken Stobwassers geschmückt würde. Es würde lustig und reizend aussehen, vielleicht kleine Nischen, man sollte Stobwasser auffordern, eine Skizze zu machen.

„Gut,“ erwiderte Wenzel, „ich werde ihn auffordern. Sehr gut aber gefiel mir sein Wandleuchter. Erinnerst du dich, der weiße Kakadu? Ich habe dem Architekten gestern gesagt, daß ich die Wandleuchter für den oberen Korridor nicht abnehmen werde, sie gefallen mir nicht. Wenn Stobwasser diese Wandleuchter machen könnte? Varianten seines Entwurfes?“

Stobwasser hatte nicht mehr auf Wenzels Rückkehr gehofft. Als Wenzel am nächsten Vormittag mit Jenny eintrat, stand Stobwasser da, die Fäuste voller Ton, mitten in der Arbeit, in einem mit Ton beschmierten Kittel, krebsrot das Gesicht vor Verlegenheit. Seine Miene war fast feindselig. Wenzel bat ihn also, gelegentlich mit Jenny nach dem Grunewald zu fahren und sich das Schwimmbassin anzusehen. Es war Gott sei Dank noch nicht gekachelt. Dann fragte er ihn, ob er die Wandleuchter für den oberen Korridor übernehmen könne, in der Art dieses Leuchters dort in der Ecke.

Natürlich konnte das Stobwasser. Er hatte auch nicht für einen Pfennig Aufträge.

„Wieviel Leuchter sollen es sein?“ fragte er.

„Es sind dreißig Stück,“ antwortete Wenzel. „Ich bestelle sie hiermit und bitte Sie, sich möglichst zu beeilen.“

Als die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, stand Stobwasser immer noch mit offenem Munde da, die spitze Nase gegen die Tür gestreckt.

„Dreißig Stück, du lieber Himmel,“ sagte er, und die Beine begannen ihm zu zittern. Er mußte sich in den Stuhl setzen. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

„Dein Freund Stobwasser ist ein ganz reizender Mensch,“ sagte Wenzel zu Jenny. „Ich liebe diese einfachen Menschen, die etwas können. Sie sind so selten bei uns.“

23

Es war natürlich, daß Wenzel fortan auf allen Rennbahnen zu sehen war, wo seine Pferde liefen. Herr von Kühne hatte im vorigen Jahre und in diesem Frühjahr mit seinem Stall keine besonderen Erfolge erzielt. Aber es schien, als hätten die Pferde nur darauf gewartet, in Wenzels Besitz zu kommen. Sie liefen, daß es eine Freude war. Sie waren nicht mehr krank. Sie husteten nicht mehr. Sie lahmten nicht mehr. Ein Hengst, der Hengst ‚Kardinal‘, ein völlig unbekanntes Pferd, das Herr von Kühne schon hatte verkaufen wollen, gewann ein bedeutendes Rennen gegen hohe Klasse.

„Sieh doch, wie er läuft!“ schrie Wenzel vor Entzücken und lachte laut auf.

In der Tat, ‚Kardinal‘ lief vier Pferdelängen vor dem Rudel und zog in einer rasenden Fahrt dahin. Die gelbe Jacke blitzte in der Sonne. Die Tribünen waren stumm vor Verblüffung. Kardinal gewann im Kanter. Jenny klatschte, daß ihre Handschuhe platzten. Sie hatte auf Wenzels Rat hundert Mark auf ‚Kardinal‘ gesetzt.

Mackentin beglückwünschte Wenzel zu diesem überraschenden Siege. „Wird Ihnen bei all diesem Glück nicht zuweilen etwas unbehaglich, Schellenberg?“ fragte er.

„O nein, nicht im geringsten. Ich bin schwindelfrei,“ erwiderte Wenzel.

Oft litt Jenny Florian bittere Qualen. Es gab Wochen, da Wenzel sie vernachlässigte. Kaum daß er einmal anklingelte oder die Zeit fand, ihr ein Wort oder eine Blume zu schicken. Als sie in Italien filmte, fast sechs Wochen lang, hatte er ihr nur einen einzigen Brief geschickt, in die Maschine diktiert. Und in diesem Brief war nur die Rede von einem Kampf, den er mit einem Pferde ausfocht, das ihn beim Reiten im Tiergarten gegen die Bäume rennen wollte.

In jenen Wochen, da sie für Wenzel nicht zu existieren schien, wäre sie am liebsten geflohen. Fliehen! Aber wohin? Sie wußte, daß sie nie fliehen konnte, es war unmöglich, es war viel zu spät. Natürlich wußte sie, daß Frauen dabei im Spiel waren. Die Frauen drängten sich an Wenzel heran, wohin er auch kam. Viele blendete sein Erfolg, sein Reichtum. Andere bestach sein Aussehen, seine weißen Zähne, seine Kraft und seine unverwüstliche Laune.

Jenny aber litt Qualen, wenn sie allein in ihrem Hause in Dahlem saß. Sie wußte – man hatte es ihr hinterbracht –, daß Wenzel zwei oder drei Wohnungen in verschiedenen Hotels in der Stadt ständig gemietet hatte. Sie hörte von allen möglichen Abenteuern und Liaisons. Obwohl sie sich die Ohren mit beiden Händen zuhielt, unterließ man es nicht, ihr alles mögliche zuzuflüstern. Ihre Kolleginnen machten sich ein Vergnügen daraus, ihr derartige Neuigkeiten mitzuteilen. Wenzel sollte in einem kleinen Vorstadtvarieté eine kleine Sängerin entdeckt haben, die täglich ein Revolutionslied und einige Dirnenlieder mit frecher Geste vortrug. Die Musik war von einem verwahrlosten Kapellmeister geschrieben, der das kleine Orchester des Varietés dirigierte und der der Geliebte dieses Mädchens war. Man sagte, Wenzel halte die Sängerin nunmehr aus, und er habe dem eifersüchtigen Kapellmeister fünftausend Mark Abstand für die Frau gezahlt. Er habe sich eine Quittung geben lassen und sie dann der Sängerin unter die Nase gehalten. Der Kapellmeister, völlig rasend, habe auf Wenzel geschossen, ohne ihn jedoch zu treffen. Wenzel habe ihn mit einer Ohrfeige zu Boden geschlagen.

Woher wußten die Leute all diese Dinge? Wie ekelhaft war dieser Klatsch, wie unverständlich! Jenny hatte den kleinen Stolpe in Verdacht, daß er aus der Schule plaudere. Sie sagte es ihm ins Gesicht. Stolpe kam in große Verlegenheit. Sie warnte ihn, sie war zornig und stampfte sogar mit dem Fuße, was sie sonst nie tat. Stolpe beteuerte, aber sie wußte, woran sie war.

Das war natürlich alles Klatsch, und doch war manches an diesem Klatsch wahr. Ob nun diese Geschichte von der Sängerin und ihrem Freund, dem Kapellmeister, sich tatsächlich so zugetragen hatte, das wußte Jenny nicht. Aber diese Sängerin existierte, und ohne Zweifel hatte Wenzel Interesse für sie! Er selbst zeigte sie ihr. Sie besuchten ein Varieté im Westen, und plötzlich trat eine freche kleine Person auf, anzusehen wie ein Straßenmädchen aus dem Osten. Sie sang im Berliner Dialekt mit einer schrillen Stimme, aber mit so großer Leidenschaft, daß sie das Publikum hinriß. Ihre Augen funkelten und drohten, während sie sang und sich frech in den Hüften wiegte. Sie sang zuerst zwei Dirnenlieder, dann trug sie mit rasenden Blicken und fanatisch schriller Stimme ihr Revolutionslied vor, das mit den Worten begann: „Wartet, wenn der Tag kommt, wartet, wenn mein Tag kommt! Dann wird meine Fahne wehn!“ Ihr Haß und ihr Fanatismus schienen so echt, daß das Publikum, das aus reichen Nichtstuern und reichen Damen bestand, stumm und erschrocken dasaß.

„Wie gefällt sie dir?“ fragte Wenzel und forschte mit dem Blick in ihren Augen.

Jenny erbleichte und erwiderte nichts. Sie haßte diese Frau. Sie schüttelte die kleine Faust, als sie allein war, und Tränen der Wut stürzten in großen Tropfen aus ihren Augen. Oh, wie sie diese Person haßte! Sie nannte sich geschmackvoll Fritzi Frettchen!

In den letzten Wochen, es war heißer Sommer geworden, gefiel ihr Wenzels Aussehen nicht mehr. Sein braunes Gesicht schien plötzlich etwas fahler geworden zu sein. Seine Augenlider schienen wie mit grauem Puder bedeckt. Er selbst gab zu, daß er sich zurzeit in einer „höllischen Fahrt“ befände, bald aber werde er „die Geschwindigkeit vermindern“. Er trank in diesen Wochen Sekt, immer Sekt. Seine Hände zitterten.

„Schenke mir dieses Glas,“ bat Jenny zärtlich und legte die Hand um seinen Hals.

„Dein Wille geschehe!“ sagte er. „Aber es schadet mir ja nichts, beunruhige dich nicht. Es ist eine Periode, sie wird vergehen. Ich bin überarbeitet und schlafe zu wenig. In der vergangenen Woche habe ich im ganzen – laß sehen –, im ganzen dreißig Stunden geschlafen. Eine Nacht gar nicht. Es gibt Leute, die für Geld wachen. Schade, daß es nicht Leute gibt, die für Geld schlafen. Ich wäre ein guter Kunde. Die Welt ist noch recht unvollkommen. Habe noch etwas Geduld mit mir! Warte nur, bis der erste August kommt, dann gehen wir an das Meer.“

Käme doch dieser erste August bald! Endlich wurden die Vorbereitungen für die Sommerreise getroffen. Man wollte drei Wochen mit der Jacht auf der Ostsee segeln. Wenzel wollte nur Stolpe und Mackentin mitnehmen und Stobwasser einladen.

„Und dann habe ich noch diese Fritzi Frettchen eingeladen, du erinnerst dich, diese kleine freche Person. Sie soll uns vorsingen.“

Jenny blickte zu Boden. Ihre Wimpern zitterten. Sie sagte leise: „Dann bleibe ich zu Hause.“

„Wenn du ein Ultimatum stellst,“ sagte Wenzel lachend, „dann werde ich diese Fritzi Frettchen wieder ausladen. Sie wird es verwinden.“

Mackentin wollte seine Frau mitbringen, eine geborene Baronin Biberstein, eine stille, etwas korpulente Dame, die Jenny bemutterte. Dagegen hatte Jenny nichts einzuwenden. Sie lachte in sich hinein. Diese Frau Mackentin war ganz ungefährlich.

Aber die Abreise wurde von Tag zu Tag verschoben. Goldbaum erkrankte, und Wenzel konnte nicht reisen, bevor Goldbaum die Geschäfte übernahm. Dieser fürchterliche fette Goldbaum, der von früh bis nachts Speisen in sich hineinschlang. Gewiß hatte er sich den Magen verdorben. Mitte August endlich fuhren sie ab. Stolpe war am Tage vorher mit dem Gepäck vorausgefahren. Am nächsten Morgen rasten sie mit dem hundertpferdigen Wagen nach Warnemünde, wo die Jacht lag.

Stobwasser, der neben dem Chauffeur saß, liefen die Tränen aus den Augen bei der scharfen Fahrt, und wenn er das Gesicht zur Seite drehte, so bog der Wind seine lange Nase um. Die Luft heulte und schrie.

Wenzel machte es ein knabenhaftes Vergnügen, in diesem Höllentempo dahinzujagen. Jenny aber war froh, als sie wohlbehalten in Warnemünde eintrafen.

24

Da lag die Jacht „Kleopatra“, dunkelblau gestrichen, glatt wie Seide. Zehn Matrosen standen in Reih und Glied an Bord, und der Kapitän begrüßte sie. Jenny klopfte das Herz, als sie das Schiff betrat. Sie hatte es sich nicht so groß vorgestellt. Alles war blitzblank und wunderbar, und der Mast, welch eine Höhe! Ein kleiner Dampfer schleppte sie an der Mole und am Leuchtturm vorbei hinaus ins Meer. Es wehte nur eine leichte Brise, der Tag war herrlich. Die Segel stiegen in die Höhe, der kleine Schlepper warf los, und es ging dahin. Schon aber ertönte das Gong, und der Steward bat zu Tisch. Die Tafel war herrlich geschmückt, Blumen, kostbares altes Silber.

„Ein wahres Glück, daß diese Großherzogin ihr Silber nicht im Krieg abgeliefert hat, wie es der Patriotismus vorschrieb!“ rief Wenzel lachend auf. „Sonst würden wir heute nicht dieses schöne Silber hier haben!“

Zauberhaft schön erschienen Jenny diese Tage. Sie glitten dahin, wie das Schiff durch die See glitt. Tag ging in Nacht über und Nacht in Tag. Unwirklich und unirdisch erschienen sie wie der Dunst auf dem Meere und die hellen Nächte unter dem Sternenhimmel.

Sie fuhren, und die Leuchtfeuer blitzten am Horizont.

„Was ist das für ein Feuer, Wenzel?“

„Das ist das Feuerschiff Gjedser, Jenny. Das ist Langeland, Kiels Nor.“

Einmal lagen sie am späten Abend in einer völligen Windstille in der Nähe einer dänischen Insel. Das Meer floß wie geschmolzenes Blei dahin. Am Horizont stand violetter Dunst, fast wie fernes Land sah es aus. Kein Lüftchen regte sich. Die Nacht kam, sie gingen vor Anker. Deutlich hörte man die Stimmen von der Insel herüber zur Jacht klingen, den Laut einer Glocke.

„Was ist das, Wenzel?“

„Das ist Vieh, das auf der Weide ist.“

„Aber horch, nun kommen sie gerudert.“

In der Tat schien es, als höre man Ruder knarren. Sie spähten hinaus in die Dunkelheit, allein nichts war zu sehen. Die ohne jede Bewegung ruhende See verstärkte zehnfach jeden Laut, wie eine empfindliche Membrane. Nun schien ein blendender Berggipfel, unheimlich gezackt, am Horizont aufzutauchen. Ein Eisberg, der im Lichte glänzte. Aber es war der Mond, der groß und feierlich emporstieg. Wenn Jenny zum Firmament emporblickte, so erschauerte sie, es schien ihr, als seien Tausende lichter Augen überirdischer Wesen auf sie gerichtet.

„Ich bin glücklich,“ sagte sie und schmiegte sich an Wenzel.

„Es ist schön,“ entgegnete Wenzel. In ihrer Nähe, in der Stille des Meeres fand er wieder jene Schlichtheit des großen Knaben, die sie an ihm so sehr liebte – wie damals in Hellbronnen. „Die reichen Leute sind alle Heuchler!“ fuhr Wenzel fort. „Sie sagen nicht: Geld gibt Freude, Gesundheit, Genuß. O nein, sie sagen: Das Schönste auf der Erde ist Arbeit, Pflichterfüllung. Nun, ich lüge nicht! Ich liebe dieses Leben! Und all das ist gekommen, weil ein alter Mann glaubte, mich als Automat behandeln zu dürfen, weil er mich bezahlte. Weil ein alter Mann mich rügte, als ich zehn Minuten zu spät kam. Das ist meine Rache!“

Gegen Morgen hörte Jenny das Schiff knarren und das Wasser gegen die Schiffswände klatschen. Die „Kleopatra“ war wieder unterwegs.

Das Wetter war fast immer schön. Nur einmal kamen sie in ein furchtbares Gewitter, das Jenny ihr ganzes Leben lang nicht vergessen würde. Eine mächtige, schiefergraue Wetterwand stand senkrecht über dem Meer, zerrissen von einem rasend zuckenden Netz von Feuer. Der Donner dröhnte wie eine ferne Schlacht. In diese graue, von Blitzen zerfetzte Wetterwand glitt die „Kleopatra“ langsam hinein, einem kleinen Fischereihafen entgegen. Auf dem Lande brannte ein Gehöft, das der Blitz entzündet hatte.

Wenzel saß auf der Reling und starrte aufmerksam und gespannt in das Netz der Blitze. Sein Kopf war vorgebeugt, seine Augen glänzten, und sein Mund war halb geöffnet, alles an ihm war Spannung und geballte Kraft. Es sah aus, als bereite er sich stumm auf den Kampf mit dem Gegner vor.

Jenny war in Schweiß gebadet. Sie zitterte vor Hitze, Erregung und Angst.

„Weshalb fahren wir in das Gewitter hinein?“ fragte sie. „Ich ängstige mich.“

Wenzel lachte. „Es hat noch nie ein Blitz in ein Schiff eingeschlagen oder nur selten. Sonst würde auch ich Angst haben und umkehren.“

„Weshalb schlägt der Blitz nicht in ein Schiff ein?“

„Frage die Gelehrten. Sie werden dir ein Märchen erzählen.“

Jenny sagte etwas, aber der Donner nahm ihre Stimme fort.

Wieder starrte Wenzel in das Netz von Blitzen, die Stirn gerunzelt, zum Angriff bereit.

„Was denkst du, Wenzel?“ fragte Jenny. Es regnete vereinzelt große Tropfen, die wie harte Taler auf das Deck prasselten.

„Es ist schade,“ erwiderte Wenzel und ballte die Fäuste „Es ist schade, daß man nicht ewig leben kann! Alles besitzen – und ewig leben! Kraft, Gesundheit! Und dich!“

Er hob Jenny auf den Arm und trug sie über das Deck hinunter in die Kajüte. Sie zitterte.

„Wir wollen die Götter versuchen! Wir wollen sehen, ob sie Kavaliere sind!“

25

So kreuzten sie Tag für Tag. Zuweilen blieben sie einige Tage bei einem Seebad liegen. Farbig der Strand, ein Gewimmel von Flaggen. Gäste kamen an Bord, und es ging laut her bis spät in die Nacht. Jenny war froh, wenn sie die Küste mieden.

Jeden Morgen und Abend badeten sie im Meer, wenn die See es erlaubte. Das Schiff lag bei. Eine der Jollen wurde herabgelassen, und sie schwammen um die Jacht herum.

Besonders Stobwasser entpuppte sich als ein großer Schwimmer. Sonst sah man ihn, von den Mahlzeiten abgesehen, nur selten. Immer schlief er, irgendwo zusammengerollt wie ein Igel. Seit er, zusammen mit Weidenbach, in der kleinen thüringischen Stadt die Kegel aufgesetzt hatte, genoß er auf dieser Reise die ersten Tage des Ausruhens, der Erholung und Sorglosigkeit.

„Kleopatra“ ging nach Kopenhagen, nach Schweden. Sie lief bestimmte Häfen an, um die Post abzuholen. Dann kehrte sie wieder nach Warnemünde zurück. Goldbaum wurde erwartet und Michael Schellenberg mit seiner Freundin Eva Dux. Sie sollten drei Tage an Bord bleiben.

Jenny freute sich. Sie hatte eine aufrichtige Zuneigung zu Michael gefaßt. Eva Dux kannte sie noch nicht.

Als die Jacht anlegte, standen die drei bereits am Kai. Der dicke Goldbaum kletterte mühsam die Treppe empor und betrachtete argwöhnisch das Schiff. Er mißtraute dem Meer. „Man ist zu sehr in Gottes Hand,“ pflegte er zu sagen.

Eva Dux war eine schmale, zierliche junge Dame, knabenhaft, mit einem sehr schlichten, offenen Gesicht und großen dunkelblauen Augen. Sie war sehr scheu und bekannt für ihre Schweigsamkeit. Sie war Michaels erste Sekretärin und genoß den Ruf, ebenso unermüdlich arbeiten zu können wie Michael selbst.

„Wie gefällt Ihnen das Meer?“ fragte Jenny, als die Jacht wieder die offene See gewonnen hatte und das Land versank.

Eva blickte über das Meer und antwortete leise: „Es ist schön.“

In der Tat, sie sprach wenig, und es war ganz unmöglich, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, was man auch versuchen mochte. Jenny legte ihr, als es kühler wurde, zärtlich ein Tuch um die Schultern.

Eva wich leicht mit der Schulter zurück und sah sie mit einem langen und erstaunten, dankbaren Blick an. Sie bewegte die Lippen, aber sie sagte nichts.

Von diesem Moment an aber fühlte Jenny, daß sie Freundinnen geworden waren.

Am Abend ging es an Bord lauter zu als gewöhnlich. Die Herren besprachen Geschäfte. Michael war nach Warnemünde gekommen, um seinen Bruder in Ruhe sprechen zu können, denn er wußte, daß es in Berlin ganz unmöglich war. Er wollte ihn für ein großes Projekt interessieren, für eine Industriesiedlung größten Ausmaßes, die zurzeit am Mittelland-Kanal vermessen wurde. Wenzel wich aus, aber er versprach, sich die Sache zu überlegen.

Nach Tisch lag man in den Stühlen auf Deck. Der Abend war gekommen, und die erlöschende Lohe des Sonnenunterganges brannte braun und gewaltig wie der Rauch eines Vulkans. Die Jacht arbeitete mit leisem Knarren. Das Bugwasser zischte gleichmäßig. Dieses leise Knarren und gleichmäßige Zischen schläferte fast alle ein. Man sprach leise, oder man schwieg. Stobwasser war schon tief eingeschlafen.

Nur Mackentin konnte sich noch nicht beruhigen. Er war mit Michael in ein Gespräch geraten, das gedämpft, aber mit großer Leidenschaftlichkeit geführt wurde. Jenny hörte nur dann und wann Bruchstücke des Disputs.

„Gestatten Sie mir,“ sagte Mackentin sehr höflich, mit leicht näselnder Stimme, „Sie werden doch zugeben, daß wir Getreide billiger importieren können, als wir es selbst zu produzieren vermögen?“

„Zurzeit gewiß,“ entgegnete Michael. „Wir werden unsere Methoden verbessern, um konkurrenzfähig zu werden. Ich leugne nicht, daß es heute wirtschaftlicher ist, Nähmaschinen zu exportieren und für den Erlös Getreide einzuführen. Vorausgesetzt natürlich, daß Sie Ihre Nähmaschinen verkaufen können.“

„Aber das kann ich doch jederzeit?“

„Nein, das können Sie nicht. Sonst ständen diese Probleme gar nicht zur Diskussion.“

Pause.

Mackentin überlegte offenbar. Dann fuhr er fort: „Nehmen wir an, daß es Ihnen tatsächlich möglich sein wird, mit Hilfe einer ungeahnten Bodenverbesserung und völlig neuer Methoden die Produktion so zu steigern, daß Sie mehr Getreide produzieren, als Deutschland benötigt, was dann?“

„Dann würde ich das überschüssige Getreide Futterzwecken zuführen und zum Beispiel die Geflügelzucht um ein bedeutendes heben, sodaß Deutschland keine Eier mehr einzuführen braucht.“

„Gut, gut,“ fuhr Mackentin mit etwas erregter Stimme fort. „Gestatten Sie weiter. Nehmen wir an, Sie produzieren noch mehr Getreide und Nahrungsmittel, mehr als Sie verwenden können.“ Mackentin gab sich noch immer nicht geschlagen.

„Das wird kaum eintreten, aber nehmen wir es an. Dann würde ich einen Teil des Bodens zur Anpflanzung von Hanf, Flachs und Ölfrüchten verwenden.“

„Gut, gut, gestatten Sie weiter. Sie wollen, wenn ich Sie recht verstand, gegen drei Millionen Pferde in Deutschland durch Motorkraft ersetzen. Ist das Ihr Programm? Und wenn das Ihre Absicht ist, werden Sie das Geld haben, um die großen Mengen von Benzin zu importieren, die für den Betrieb der Maschinen notwendig sind?“

„Gewiß ist dies mein Programm. Diese drei Millionen Pferde, die nur einige Monate im Jahr arbeiten, fressen Deutschland arm. Sie sind der unerhörteste Luxus, die unerhörteste Verschwendung, die vorstellbar ist. Anstatt des Hafers werde ich Kartoffeln pflanzen und den Betriebsstoff für die Motore in meinen Brennereien herstellen, wenn es sein muß. Im übrigen werde ich ja ganz andere Kraftquellen verwenden. Der Wind und das Wasser werden billige Kraft liefern!“

„Dann gestatten Sie eine weitere Frage,“ fuhr Mackentin fort. „Sie beliebten zu sagen –“

Aber Wenzel unterbrach ihn. Er lachte laut heraus und sagte, während er aufstand: „Strecken Sie die Waffen, Mackentin, Sie werden mit ihm nie in Ihrem Leben fertig.“

Michael ging mit Jenny auf dem Verdeck auf und ab. Er schob seine Hand unter ihren Arm und sagte: „Ich freue mich, Fräulein Florian, daß Sie Wenzel betreuen. Sie üben einen günstigen Einfluß auf ihn aus. Er braucht jemanden, der sein unstetes Wesen ausgleicht. Seien Sie nachsichtig zu ihm! In Wahrheit ist er ja nichts als ein großer Knabe.“

Und Wenzel sagte zu Jenny: „Wie gefällt dir Michael? Er ist einer der reizendsten und sympathischsten Menschen, die es gibt. Wäre ich eine Frau, so würde ich mich tödlich in ihn verlieben! Seine Güte ist ohne alle Grenzen, aber er ist ein Kind. Unter uns gesagt, ich halte ihn für einen Narren. Ich befürchte, er wird schlechte Erfahrungen machen. Schon jetzt greift ihn die Presse heftig an.“

Rätselhaft war Eva, die Schweigsame. Sie schien ganz in sich zu ruhen, ganz Harmonie, sie schien, in sich gesammelt, sich selbst zu genügen. Fast wie ein edles, scheues Tier stand sie, atmete, lauschte, den klaren Blick in die Weite gerichtet. Jenny verliebte sich in sie und küßte sie zum Abschied auf den Mund. Schön, voller Dankbarkeit und Freude war Evas glänzendes Auge auf sie gerichtet.

Jenny vergaß diesen schimmernden Blick nie mehr. „Zum ersten Male habe ich mich in eine Frau verliebt,“ sagte sie lächelnd zu Wenzel.

Oh, wie herrlich waren diese Tage auf der See! Jenny war glücklich und ohne Wunsch. Schon aber bemerkte sie Unruhe in Wenzels Gesicht.

Drittes Buch

1

Im Herbst reiste Wenzel in Geschäften nach Holland, England und Amerika. Als er zurückkehrte, sah es in Deutschland schon winterlich aus. In Kuxhaven schneite es, und zwischen Hamburg und Berlin waren die Felder schneeweiß. Der Winter setzte außerordentlich früh ein.

Kaum in Berlin angekommen, stürzte sich Wenzel in die Arbeit. Er hatte Pläne mitgebracht, du lieber Himmel. Selbst Goldbaum, der an manches gewöhnt war, verschlug es die Sprache. Tochtergesellschaften in England und Amerika, Neugründungen, ein deutsch-amerikanischer Konzern riesenhaften Ausmaßes war im Entstehen. Aber auch in bezug auf Zerstreuungen hatte Wenzel viel nachzuholen. Feste, Spiel, Theater, Frauen. Die Wochen flogen dahin.

In dieser Zeit sah man Wenzel fast jeden Abend in der Gesellschaft Jennys. Jenny in immer neue kostbare Gewänder, Umhänge, Mäntel gekleidet.

Wenige Tage vor Weihnachten speiste er mit ihr und einem dicken holländischen Bankier im Adlon. Sie plauderten und unterhielten sich vorzüglich – plötzlich aber rauschte eine Dame durch den Saal, die alle Blicke auf sich zog. Die Dame trug eine Struwwelpeter-Frisur, lackrot glänzend, wie Goldfische, die sich rasch bewegen. Sie war schlank, groß, ihr fast magerer Körper in eine kühne, extravagante Robe eingehüllt. Ihr Profil, hochmütig in die Luft geworfen, war kühn, ja verwegen. Zwei hagere Herren begleiteten sie, offenbar Engländer oder Amerikaner. Geschmeide blitzte, herausfordernd war ihr Gang, die ganze Verwöhntheit und Arroganz ihrer Kaste umgab sie.

Ihre Stimme traf Wenzels Ohr – und augenblicklich horchte er auf. Er kannte diese Stimme, obschon sie englisch sprach. Und plötzlich fiel ihm ein, wer diese Frau war, der die Blicke aller Männer und Frauen folgten.

Seine Augen begannen sonderbar zu brennen.

„Oh,“ rief der dicke Holländer bewundernd aus.

„Wer ist diese Dame?“ fragte Jenny, der Wenzels Erregung nicht entging. (Später erinnerte sie sich deutlich der Beklemmung, die sie in diesem Augenblick befiel.)

Wenzel tat gleichgültig. Er zuckte die Achsel. „Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt,“ sagte er. „Sie hat jetzt rötliches Haar, früher war sie brünett. Es ist die Tochter des alten Raucheisen, Esther Raucheisen, jetzt Lady Weatherleigh.“

Vor Jahren war Wenzel auf ihrer Hochzeit gewesen, auf dem Schloß des alten Raucheisen, Charlottenruh. Oh, nicht als Gast, keineswegs. Als Automat, als Sekretär Raucheisens hatte er allerlei kleine Dienste zu verrichten, Pässe, Papiere zu besorgen, Telegramme zu senden. Er war nicht einmal zur Tafel geladen gewesen. Esther hatte Sir John Weatherleigh, Sohn des Reeders Weatherleigh in London, geheiratet und war seit etwa einem Jahre geschieden. Die Ehe war nicht glücklich. Sir John, ein hübscher, blonder, gutgekleideter und korrekt gescheitelter, nichtssagender Junge, machte sich, so erzählte man, nichts aus Frauen. Also war Lady Weatherleigh, war Esther Raucheisen wieder in Deutschland.

Diese Frau, umsprüht vom Glanz ihres Reichtums und ihrer Extravaganzen, beschäftigte ihn von diesem Augenblick an. Er hatte an diesem Abend noch eine sehr wichtige geschäftliche Konferenz, aber er war zerstreut, müde und bat, die Besprechung auf morgen zu verschieben. Wenzel Schellenberg müde! Goldbaum sah ihn erstaunt an. Es war das erstemal, daß Wenzel etwas verschob. Er, der sonst nicht vor Konferenzen zurückschreckte, sollten sie auch bis zum frühen Morgen dauern.

Was, zum Henker, mochte in ihn gefahren sein?

Wenzel war nachdenklich. So sonderbar es war, er konnte nicht mehr vergessen, wie diese Frau durch den Speisesaal ging. Welch ein Gang war das doch!

Esther Raucheisen war also wieder in Berlin. Sie war eigentlich nicht schön, wenn man es genau überlegte. Aber sie hatte Rasse, ihre Mutter war Engländerin alten Adels. Ihr Profil kühn, fast leichtsinnig, gab zu denken. Sah man sie aber von vorn, so erschien das Gesicht plötzlich nachdenklich, geheimnisvoll, rätselhaft. Sie hatte große graue Augen und einen schönen, etwas herrischen Mund. Ihre Backenknochen waren betont, die Wangen kantig geschnitten – so wenigstens hatte er sie in der Erinnerung. Sie war launisch, verwöhnt, unberechenbar, ein Geschöpf ihrer Kaste. Plötzlich aber kam Wenzel dieser sonderbare, launenhafte Einfall: Diese Esther Raucheisen, sagte er sich nachdenklich, ist gewiß eine Frau, wert, sie zu erobern. Es war eine Sache, wie? Nicht ihr Reichtum würde mich interessieren, dieser Besitz bedeutet Belastung. Nein, die Frau allein, auch wenn sie nicht einen Pfennig besäße! Und wie amüsant wäre es, der alte Raucheisen würde Gift und Galle speien!

Dieser Gedanke versetzte Wenzel in strahlende Laune. Am nächsten Abend ging er mit Jenny in den Zirkus, und nach der Vorstellung speisten sie zusammen in Jennys Villa. Seit langem hatte Jenny Wenzel nicht bei so prachtvoller Laune gesehen.

2

In den nächsten Tagen aß Wenzel jeden Mittag und Abend im Adlon. Endlich erschien Esther wieder. Sie erwiderte seinen Gruß verletzend kühl, mit hochmütig hochschnellenden Brauen. Hinter ihrer launischen Stirn arbeitete es, sie dachte nach. Aber plötzlich schien sie sich seiner zu erinnern. Sie öffnete die Lippen und lächelte. Später begrüßte er sie. Sie wechselten sechs Worte, und Wenzel verließ den Saal.

Am nächsten Tag war Esther Raucheisen nicht mehr im Hotel. Sie war abgereist, nach Sankt Moritz, Stolpe stellte es fest.

Von diesem Augenblick an war Wenzel völlig verändert. Er war finster, grübelte.

Stolpe erhielt einen Auftrag, der ihm außerordentlich willkommen war. Er mußte heraus aus Berlin, und so nahm er Wenzels Order, sofort nach Sankt Moritz zu reisen, mit vergnügten Bücklingen entgegen.

Drei Tage später lief sein Bericht ein: Esther Raucheisen war im Hotel Carlton abgestiegen. Sie trieb viel Sport und befand sich meistens in der Gesellschaft eines englischen Majors Fairfax und des bekannten Pariser Bankiers Monsieur Blau. Stolpe hatte Zimmer bestellt.

Mackentin erhielt den Auftrag, die Vorbereitungen zur Reise zu treffen.

Wenzel befahl einem Sekretär, ihn mit dem Anwalt zu verbinden, der seine Scheidung bearbeitete. Er erkundigte sich bei dem Anwalt, wie weit die Angelegenheit gediehen sei.

Es zeigte sich, daß die Sache auch nicht um einen Schritt vorwärts gekommen war. Der Anwalt hatte offenbar nicht das geringste unternommen. Nach wie vor sträubte sich Lise gegen die Scheidung. Wenzel hatte ihr eine hohe Abfindungssumme angeboten. Sie verlangte das Sechsfache.

„Schicken Sie mir Ihre Liquidation!“ rief Wenzel ins Telephon. Seine Stimme klang nicht gerade höflich.

Am gleichen Tage noch konferierte er mit einem Anwalt, der ein hervorragender Spezialist in Scheidungsangelegenheiten war. Dieser Anwalt hieß Vollmond. Er war schlicht, nüchtern, ruhig. Wenzel trug ihm seine Angelegenheit vor, und Vollmond schoß wie aus der Pistole kurze Fragen gegen ihn ab.

„Es wird gehen, Herr Schellenberg,“ führte Vollmond hierauf in seiner hastigen Sprechweise aus. „Wir setzen den Hebel bei den Kindern an. Wir werden Frau Schellenberg drohen, ihr die Kinder wegnehmen zu lassen. Wir werden den Nachweis erbringen, daß die Lebensführung von Frau Schellenberg nicht geeignet ist, die Erziehung der Kinder günstig zu beeinflussen.“

Wenzel unterbrach ihn. „Ich möchte, wenn es geht, diesen Weg nicht einschlagen.“

„Dieser Weg ist der einzige, der rasch zum Ziele führt,“ entgegnete der Anwalt. „Ich betrete ihn selbst nicht gern, man ist doch ein Mensch. Aber solch hartnäckigen Frauen gegenüber bleibt etwas anderes nicht übrig. Wir werden Frau Schellenberg beobachten lassen, sind Sie damit einverstanden?“

„Auch das möchte ich gern vermeiden.“

„Dann werden Sie die Scheidung nie erreichen! Also Sie stimmen zu? Wir werden Frau Schellenberg beobachten lassen und dann unsere Trümpfe ausspielen. Es geht nicht anders, glauben Sie mir. Ich habe hundert derartige Fälle bearbeitet. Ich werde Sie auf dem laufenden halten, Herr Schellenberg.“

Schließlich pflichtete Wenzel allen Vorschlägen des Anwaltes bei. „Es ist ja möglich, daß ich mich wieder verheiraten möchte,“ sagte er lachend.

„Ich verstehe Sie, Sie wollen in erster Linie klare Verhältnisse.“

Wenzel spielte nur mit dem Gedanken einer möglichen Heirat. Aber auf jeden Fall traf er bereits seine Vorbereitungen. Seit einem vollen Jahre hatte er seine Scheidungsangelegenheit völlig außer acht gelassen.

Mackentin hatte ein Flugzeug bestellt. Um zehn Uhr morgens waren die Koffer verstaut, und zehn Minuten später hob sich die Maschine in die Luft. Schon begann Mackentin die Handtasche zu öffnen, die er mit in die Kabine gebracht hatte. Er entnahm ihr eine Flasche Sherry, zwei Gläser und ein Schachbrett. Sie hatten kaum das Weichbild von Berlin verlassen, als sie schon eifrig im Spiel waren. Mackentin rieb sich die Hände. Endlich einmal eine ruhige Partie!

Mit Behagen steckte er seine Zigarre in Brand.

Der Pilot schob einen Zettel in die Kabine: „Das Rauchen ist untersagt.“

Wenzel antwortete ihm auf einem Zettel: „Bauen Sie Ihre Kähne so, daß sie nicht brennen können!“

Über Leipzig zeigte es sich, daß Wenzel einen groben Fehler gemacht hatte. Er fluchte und gab die sorgfältig angelegte Partie auf. Sofort begannen sie ein neues Spiel. Über dem Fichtelgebirge kamen sie in ein Schneetreiben, aber das kümmerte sie nicht. Als sie über Nürnberg waren, schien die Partie für Wenzel sehr günstig zu stehen, aber als sie den Bodensee überquerten, zeigte es sich, daß Mackentin listig und verschlagen einen Ausweg gefunden hatte. Er erzwang den Damenabtausch, und Wenzels Siegesaussichten waren nur noch gering. Mackentin versuchte verzweifelt ein Remis zu erzwingen. Aber Wenzel kämpfte heroisch, während die Maschine über schneebedeckte, glitzernde Gebirgszüge dahinflog. Schließlich blieb ihm indessen nichts anderes übrig, als die Partie remis zu geben.

„Welcher Wahnsinn!“ schrie Wenzel wütend. „Ich hatte die Partie schon gewonnen!“

„Hahaha!“ Mackentin packte vergnügt seine Handtasche zusammen. „Und hier ist ja schon Sankt Moritz!“ sagte er und deutete auf ein gleißendes Gebirgsmassiv, das, eine ganze Provinz aus Eis und Schnee, vor ihnen lag. „Die Berninagruppe.“

Der Motor schwieg, und die Maschine tauchte sanft in den blendenden Sonnenschein hinab.

„Man könnte glauben, man sei in New York!“ rief Mackentin aus, als die Maschine an den vielstöckigen Hotels entlangstrich, deren tausend Fenster in der Sonne funkelten.

„Und da ist Stolpe!“ Mackentin deutete auf eine winzige Gestalt, die mit komischer Hast über das besonnte Schneefeld torkelte. „Wie er läuft!“

Sie waren angekommen.

3

Und da war in der Tat der kleine Stolpe, atemlos, strahlend, kupferrot gebrannt von der Sonne. Die Haut schälte sich von seiner Nase.

„Alles in Ordnung?“ fragte Wenzel.

„Alles in Ordnung,“ erwiderte Stolpe. „Ich habe die Gunst des Portiers mit dreihundert Franken gekauft und glücklich die Zimmer erhalten. Und hier kommt der Schlitten!“

Wenzel hatte im Hotel kaum den Koffer ausgepackt, als die Sonne hinter den Berggipfeln verschwand. Das Berninamassiv flammte düster auf, dann aber fiel rasch schwärzeste Finsternis über das Tal. Wenzel speiste auf dem Zimmer und legte sich früh schlafen, nachdem er an Jenny ein kurzes Telegramm abgesandt hatte. Seit Monaten kam er zum erstenmal wieder frühzeitig ins Bett. Er schlief bis in den hellen Morgen hinein, volle zwölf Stunden, ohne auch nur ein einziges Mal zu erwachen. Als er, wundervoll ausgeruht, aus dem Hotel trat, mußte er geblendet die Augen schließen.

Der weite Talkessel, in dem Sankt Moritz winzig und versteckt liegt, fing wie ein Hohlspiegel die Sonne auf, um sie in tausend blitzenden Feuern zurückzuschleudern. Die Luft, eisig von den Gletschern und gereinigt von den endlosen Schneefeldern, war erfüllt von dem fröhlichen Klingeln der Schlittenglocken. Es wimmelte von lachenden Menschen in bunten Vermummungen. Auf den Eisplätzen der Hotels blitzten die Schlittschuhe, die Bobs sausten durch den in einer Schneelawine versunkenen Hochwald, die Skeletons klirrten die steilen Eisrinnen hinab. Skiläufer, von Pferden in rasender Fahrt gezogen, flogen, in eine Schneewolke gehüllt, dahin. Es kamen ganze Ketten engbesetzter Rodelschlitten, übermütiges Volk. Die Gesichter kupferrot und schwarz gebrannt von der Sonne. Und überall Fröhlichkeit, Lachen, Gesundheit. Ein lustiger Ort, er gefiel Wenzel.

Während die übrige Menschheit sich anstrengte, die schwere Tagesarbeit zu bewältigen, ohne vor Erschöpfung zusammenzubrechen, war hier eine ausgelassene Schar von früh bis nachts fieberhaft bemüht, sich die nötige Müdigkeit für einen gesunden Schlaf zu erarbeiten. Um fünf tanzte man in den Dielen und Teestuben. Die Jazzorchester tobten. Um acht Uhr aber waren alle die tagsüber in dicke Wolle verpuppten Wesen plötzlich, gereizt von den Fluten elektrischen Lichtes, ausgeschlüpft – zarte Seide, zartes Fleisch, zarter Duft. Es war ein Ort ganz nach Wenzels Geschmack.

„Ich habe diesen Tisch hier belegen lassen,“ sagte Stolpe eifrig und führte Wenzel in eine Ecke des Speisesaales.

Sie hatten den Löffel kaum in die Suppe getaucht, so erschien auch schon Lady Weatherleigh, begleitet von ihren beiden Trabanten, die sie zu Tisch führten.

Ihr Erscheinen erregte, wie immer, Aufsehen im Saal. Alles an ihr funkelte und blitzte. Die Augen, Zähne, Lippen, das Haar, die Schultern, Hände. Das kühne Profil herausfordernd in die Luft geworfen, rauschte und funkelte sie dahin. Das Lächeln der großen Dame, die gewohnt ist zu siegen, wo sie erscheint, umspielte ihren tiefrot gemalten, hochmütigen Mund.

„Wer ist das?“ murmelte Mackentin hingerissen. Stolpe machte ihm ein Zeichen.

Wenzel aber wurde schweigsam. Er saß mit zusammengezogenen Brauen, die Kinnladen fest aufeinander gepreßt, wie bereit zum Angriff. So sah er stets aus, wenn er einen Entschluß gefaßt hatte. Und Wenzel Schellenberg hatte einen Entschluß gefaßt, als er Esther funkelnd und strahlend durch den Saal rauschen sah und alle Leute aufblickten. Was flüchtiges Spiel der Gedanken war, wurde zum Vorsatz. Er wollte Esther Raucheisen erobern, koste es was es wolle.

4

Nach Tisch begrüßte er Esther in der Halle des Hotels, ungezwungen und keineswegs in der ehrfürchtigen Haltung, die die Herren annahmen, wenn sie vor sie hintraten. Hier in der Halle pflegten sich die Gäste des Hotels von der Tagesarbeit und den Strapazen der Tafel eine Stunde lang auszuruhen, um Kräfte für den Ball und die Bar zu sammeln.

Esther war nicht im geringsten überrascht, Wenzel plötzlich vor sich zu sehen. Es wimmelte in Sankt Moritz von ihren Bekannten aus Paris, London und Berlin. Wo sie hinblickte, sah sie bekannte Gesichter.

„Sie sind hierhergekommen, um Sport zu treiben, Herr Schellenberg?“ fragte sie, während sie lächelte und ihn mit raschem, gewandtem Blick musterte, sein Gesicht, seine Kleidung, seine Haltung, alles im Bruchteil einer Sekunde.

„Ich nicht, aber meine Pferde,“ erwiderte Wenzel. „Ich werde meine Pferde hier laufen lassen, mich persönlich aber so wenig wie möglich anstrengen.“

Esther fand seine Antwort belustigend. Sie machte ihn mit ihren Trabanten bekannt. Durch Stolpe war Wenzel bereits genügend informiert. Da war also der bekannte Millionär Bankier Blau aus Paris, einer der reichsten Männer Frankreichs, der im Kriege sein Vermögen verzehnfacht hatte. Da war Major Fairfax, Sir Stuart Fairfax aus London, Inhaber der Golfmeisterschaft von England.

„Weshalb haben Sie nicht auch zu dem Rennen auf dem See gemeldet, Baron?“ wandte sich Esther an den Baron Blau.

„Mein Trainer befürchtet, die dünne Luft sei den Pferden nicht günstig,“ antwortete der Bankier gelangweilt, während er seine schwarzen runden, melancholisch glänzenden Augen aufmerksam und gänzlich ungeniert auf Wenzel richtete.

Der Bankier war ein zierlicher Herr mit pechschwarzem Scheitel und schon etwas angegrauten Schläfen. Im Gegensatz zu den meisten Gästen war sein Gesicht nicht braun gebrannt von der Sonne, sondern von einer leidenden Blässe, einer Art glasiger, bläulicher Glasur überzogen. Seine Miene war hochmütig und gelangweilt, und die nervös eingezogenen Nasenflügel erweckten den Eindruck, als sei er stets etwas gekränkt. Er hatte die Angewohnheit, zuweilen die Schultern in die Höhe zu ziehen und sich zu strecken, als versuche er, sich größer zu machen. Wenzels Größe schien ihn zu verletzen, er schien sie als Anmaßung und Herausforderung zu empfinden.

Baron Blau war, ganz wie Wenzel, nicht nach Sankt Moritz gekommen, um Sport zu treiben. Er lief allerdings jeden Vormittag eine Stunde Schlittschuh, und zwar genau von zehn bis elf Uhr. Da sah man ihn auf der spiegelglatten Eisfläche des Hotels mit etwas verdrossener Miene seine Acht fahren. Von Viertelstunde zu Viertelstunde machte er eine Pause, um den Rauch einer dünnen Zigarette durch die Nase zu stoßen. Dabei sah er mißmutig den andern Schlittschuhläufern zu. Er trug schwarzweiß karierte, weitausladende Breeches und einen auffallenden himmelblauen Sweater, über den Wenzel laut lachen mußte. Am Nachmittag spielte er eine Partie Curling. Runde Steine, gepreßten Käsen ähnlich, in der Größe von Wärmflaschen, wurden über die spiegelglatte Bahn nach einem Ziel geschossen. Es war mehr ein Spiel der alten Herren, die diesem Sport mit großer Begeisterung oblagen. Sie schabten und kehrten das Eis mit kleinen Besen, fieberhaft, um die Geschwindigkeit des Steines zu beschleunigen. Oft sah es aus, als ob sich eine Gruppe von Straßenkehrern auf der Eisfläche tummelte. Das war die ganze Beschäftigung des Barons. Am Tage sah man ihn nur wenig, jede Nacht aber ging er als letzter schlafen.

Major Fairfax dagegen war der typische Sportsmann. Er war hager, noch etwas größer als Wenzel, Körper und Kopf nichts als Haut und Knochen. Auf seiner mächtigen Adlernase schälte sich die Haut, so vollständig schwarz gebrannt war er von der Sonne. Er trug eine kleine rote Zahnbürste als Schnurrbart, und seine rötlichen Haare standen in eigensinnigen Büscheln um den kahl werdenden Schädel. Wo andere Leute Augen haben, hatte der Major etwas wie geschmolzenes Silber.

Am Vormittag pflegte der Major auf dem Skeleton zu trainieren. Mit dem Bauch auf dem niedrigen Schlitten liegend, schnellte er im Hechtsprung über die vereisten Fahrrinnen, die schräg wie ein Dach abstürzten. Er hatte an seinem Schlitten zwei Stoppuhren angebracht, deren Mechanismus er während der rasenden Fahrt auslösen konnte. Wenn er dahinsauste, war seine gebogene Nase kaum eine Spanne von der harten Eisfläche entfernt. Am Nachmittag saß er am Steuer seines Bobs „Old England“. Da lag er ebenfalls auf dem Bauch, das Steuer in den ausgemergelten Händen, die Augen auf die ihm entgegenrasende Schneebahn gerichtet. Er trainierte für das große Bobrennen, das in vierzehn Tagen stattfinden sollte. Auf ihm lag Lady Weatherleigh, und hinter ihr lagen noch drei Mitfahrer. Lord Hastings, einer der berühmtesten Fasanenschützen Englands, bediente die Bremse. Mit dem Ausdruck der tödlichen Langweile auf seinem Bulldoggengesicht saß er da, wenn der Bob in die Tiefe fuhr. Gestern hatten sie umgeworfen, und Lord Hastings hatte sich den Arm verstaucht.

Esther, stets von einem Schwarm von Verehrern umlagert, schien diese beiden Trabanten an die Spitze ihrer Bewerber gestellt zu haben. Beide, so erzählte man sich, hatten ihre Anträge gemacht und warteten auf ihre Entscheidung. Baron Blau bot ihr seine Millionen, seine Schlösser, seine Minen, seine Provinz in Tunis, seine Dampfjacht. Major Fairfax bot ihr seinen Titel eines Golfmeisters von England, immerhin eine Sache, seine Gesundheit, seine Größe von einem Meter neunzig und seine Faust aus Eisen, die ein Pferd niederschlagen konnte. Er hatte kein Geld, nur Schulden. Die beiden pflegten Esther seit zwei Jahren überall nachzureisen, nach Ägypten, nach Monte Carlo, Paris, den französischen Modebädern. Esther zog sie hinter sich her, ohne sich je zu erklären.

„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Schellenberg,“ wandte sich Baron Blau an Wenzel, nachdem er ihn lange genug ungeniert gemustert hatte. „Wir sind ja, irre ich nicht, für die gleichen Ziele tätig.“ Er sprach französisch, immer im gleichen Ton, auf einer Note, gleichgültig, unbeteiligt, als spräche ein fremder Mensch aus ihm, der sich nur seiner Stimmbänder und seines Adamsapfels bediente.

Wenzel zeigte eine erstaunte Miene.

„Wenn ich mich nicht irre, haben wir schon zusammen korrespondiert,“ fuhr Baron Blau im gleichen Ton fort. „Oder sind Sie nicht jener Herr Schellenberg, der für die Vereinigten Staaten von Europa und für den Frieden unter den Nationen tätig ist?“

Wenzel schüttelte den Kopf. „Ich bedaure, Sie enttäuschen zu müssen, Herr Baron,“ antwortete er. „Es ist mein Bruder, von dem Sie sprechen. Ich für meine Person gebe mich derartigen Illusionen und Träumereien nicht hin.“

„Sie also nicht? Und Sie sagen, Illusionen? Oh!“ erwiderte Baron Blau enttäuscht, aber mit der alten gleichgültigen, gelangweilten Stimme.

„Baron Blau ist Delegierter des französischen Roten Kreuzes und fanatischer Pazifist,“ erklärte Esther.

Der Baron streifte ihr Gesicht mit einem argwöhnischen, verletzten Blick. Es schien ihm, als ob Esther Pazifisten verachte. Wie die meisten Damen der Gesellschaft schien sie Männer zu bevorzugen, die sich in Stücke schießen ließen. Wie die meisten dieser Damen wußte sie nicht aus welchem Grunde.

„Sie glauben also nicht, daß ein dauernder Friede zwischen den Völkern möglich ist?“ wandte sich Baron Blau wieder an Wenzel, die Brauen hochgezogen.

„Nein,“ sagte Wenzel mit nachsichtigem Lächeln.

„So glauben Sie also, daß diese Kriege ewig währen müssen?“

„Ich glaube es. Die Menschen müssen eine Lüge haben, für die sie töten dürfen und sterben können.“

Baron Blau prallte zurück.

Esther übersetzte Wenzels Antwort ins Englische, da der Major keine andere Sprache als seine Muttersprache verstand.

Kaum hatte Major Fairfax begriffen, so streckte er Wenzel begeistert die knochige Hand hin. „Right you are! Right you are!“ schrie er.

In diesem Augenblick aber kam eine kleine runde Dame, braun gebrannt wie eine Nuß, auf sie zu und rief aufgeregt: „Major Fairfax!“

Der Major bog den Körper zur Erde, und sie flüsterte ihm etwas in das knorplige Ohr. Fairfax schien aufs äußerste betroffen.

„Was sagte Peggy?“ fragte Esther voller Neugierde.

Der Major antwortete: „Peggy sagte, daß Nutcracker meine beste Zeit um drei Sekunden unterboten hat.“ Nutcracker war der Name eines rivalisierenden Bobs.

„Sie gingen heute zu hoch in die Kurven, Major Fairfax, Nutcracker geht ganz eng herum,“ erwiderte Esther mit leisem Tadel. Zu Wenzel sagte sie: „Ich erwarte übrigens morgen meinen Vater, Herr Schellenberg. Es wird ihn gewiß freuen, Sie hier zu finden.“

Seine Freude wird nicht ungetrübt sein, dachte Wenzel mit einem leisen Triumph im Herzen. Sie kennt nicht die Eitelkeit alter Männer, die schlimmer ist als alle Eitelkeiten. Und weiter dachte er: Vor diesen beiden Burschen da habe ich keine Angst. Was sind sie? Nichts!

Man hatte schon wieder genügend Kräfte gesammelt und begab sich, um die Zeit bis zum Ball totzuschlagen, ins Billardzimmer. Esther war eine leidenschaftliche Billardspielerin, und für Baron Blau bedeutete diese Partie Billard nach der Abendmahlzeit die Entschädigung für einen ganzen Tag des Wartens. Er spielte sehr gut, mit allen Finessen, geschult in den ersten Billard-Akademien von Paris. Der Major spielte nicht. Er sah zu, die Pfeife im Mund, und verfolgte jede Bewegung Esthers. Wenzel wollte sich verabschieden, aber Esther lud ihn ein, mitzukommen. Sie liebte es, gutgewachsene und gutaussehende Männer in ihre Gefolgschaft einzureihen.

Die Blicke der Gäste, die, in die tiefen Sessel gebettet, noch verdauten, folgten ihnen. Man flüsterte. Manchmal waren es fünf, manchmal mehr, einige Tage waren es nur zwei gewesen, aber heute war schon ein Neuer hinzugekommen. Eine schöne, verführerische Frau, gewiß, aber ...

5

Auf dem Marktplatz des Dorfes, inmitten der blendendweißen Schneemassen – es war Neuschnee gefallen – erblickte Wenzel plötzlich die Gestalt eines kleinen, anscheinend älteren Herrn, dessen Gang ihm sofort auffiel. Der kleine Herr war in einen dicken Pelz gehüllt, und sein Kopf verschwand fast vollständig unter der hohen Pelzmütze. Die Füße staken in pelzgefütterten Überschuhen. In der Hand trug der Herr einen Stock mit eiserner Spitze. Er schien sich nicht im geringsten um das Leben auf dem Marktplatze zu kümmern. Eine Schar von Schlitten, mit buntem, lachendem Volk beladen, zog übermütig vorüber, aber der Herr wandte nicht einmal den Kopf. Zuweilen blieb er stehen und stieß mit dem Stock auf irgendein Eisstück der Straße, dann schritt er wieder vorsichtig weiter. Einige Schritte hinter dem Vermummten spazierte ein Diener. Am Gang, an einer eigenwilligen, rechthaberischen Bewegung des Armes erkannte Wenzel den kleinen Herrn. Es war Raucheisen in höchsteigener Person!

Ganz im geheimen, wie ein Fürst, der inkognito reist, war der Herr des Eisens und der Kohle, der Erfinder des kombinierten vertikalen und horizontalen Trustsystems, nach Sankt Moritz gekommen. Bis Chur hatte ihn ein Salonwagen gebracht. In einem geschlossenen Schlitten fuhr er zum Hotel, und hier hatte der vorausgereiste Sekretär schon Vorsorge getroffen, daß niemand das Antlitz des Gewaltigen erblickte. Raucheisen ertrug den Anblick der Menschen nicht mehr, er ertrug auch nicht mehr die Blicke der Menschen.

Nun lebte er den ganzen Tag verborgen in seinen Zimmern, still wie eine Maus. Nur zuweilen verließ er das Hotel und stapfte eine halbe Stunde im Schnee hin und her. Er war ja nur gekommen, um seine Tochter zu sehen. Dann kehrte er wieder zu dem Berg von Telegrammen zurück, der von Tag zu Tag auf seinem Schreibtisch höher wuchs.

„Mein Vater ist hier!“ rief Esther Wenzel lebhaft zu. „Er wird Sie zu sich bitten, sobald er etwas ausgeruht ist.“ Und Esther zog die zinkgelbe Zipfelmütze über ihren wilden roten Haarschopf und legte sich auf dem Bob zurecht.

„Abfahrt!“ rief der Starter, und der Bob setzte sich weich und lautlos in Bewegung. Major Fairfax hielt das Steuerrad in seinen mageren, schwarzgebrannten knochigen Händen, die Augen fest auf die glitzernde Bahn geheftet. An der Bremse saß mit dem gleichen Ausdruck der tödlichen Langweile Lord Hastings. „Hallo! Wie geht es Ihnen?“ rief er Wenzel zu, als sie vorüberglitten.

Schon aber begann der Bob zu sausen, und einen Augenblick später verschwand er zwischen den von Schnee und Reif starrenden Bäumen.

Schon am nächsten Abend lud Raucheisen Wenzel zur Tafel. Wenzel hatte sich in große Gala geworfen und erwartete den Alten, einen stillen Triumph in den Augen. Aber er erschrak, als er Raucheisen in den kleinen Salon eintreten sah. Raucheisen schien kleiner und dünner geworden, zusammengezogen vom Alter. Sein Gesicht war fahl, kreidig, von gelben Flecken bedeckt. Er betrachtete Wenzel einen Augenblick mit seinen lebhaften, schnellen Blicken und reichte ihm die kleine, lasche Hand, die beim Gruß nie einen Druck gab.

„Ich freue mich, Herr Schellenberg,“ sagte er und versuchte es mit einem Lächeln, das freundlich sein sollte. „Sie sind noch ganz der gleiche, Sie sind noch in dem Alter, in dem man sich nicht verändert. Wieviel Jahre ist es schon her? Ich aber –?“

Aber er wartete Wenzels Antwort nicht ab. Er begrüßte Baron Blau und schritt hastig zur Tafel, als habe er keine Minute zu versäumen. Er tat es ja nur seiner Tochter zuliebe, daß er mit den beiden Herren speiste.

Baron Blau begann augenblicklich mit seiner monotonen, etwas hohen Stimme zu plaudern. Er sprach, lebhafter als gewöhnlich, von besonderen Schiffahrtsplänen im Mittelmeer, die ihn außerordentlich interessierten und für die er, so schien es Wenzel, den alten Raucheisen zu gewinnen suchte. Raucheisen indessen, der kaum die Speisen berührte, schien nicht hinzuhören. Aber nach einer Weile schüttelte er den kleinen Kopf.

„Das Mittelmeer,“ sagte er ohne aufzublicken, „hat seit dem Kriege noch mehr von seiner einstigen Bedeutung verloren. Es ist zu einer nebensächlichen Pfütze geworden, in die ich keine tausend Tonnen schicken würde.“

Baron Blau schwieg eine Weile. Sein blasses Gesicht wurde ganz allmählich von einer eigentümlich hellen Röte überzogen. Sein dunkles Auge brannte. Der geringschätzige Ton, mit dem Raucheisen seine Pläne abgetan hatte, hatte ihn verletzt. Aber er gab sich keineswegs geschlagen. Es war ja gerade seine Absicht, den Verkehr auf dem Mittelländischen Meer wiederum zu beleben. „Sie beliebten zu sagen: nebensächliche Pfütze,“ rief er, noch immer gekränkt, aus. „Das ist doch wohl etwas übertrieben. Bedenken Sie, Frankreich, Italien, Ägypten –“

Aber Raucheisen antwortete nicht mehr. Er hatte sich längst von diesem Thema abgewandt. Wie ist es nur möglich, daß dieser Baron ein Vermögen gemacht hat, dachte er.

Nun begann Esther lebhaft von Ägypten zu erzählen, wo sie den letzten Winter zugebracht hatte. „Welch ein wundervolles, märchenhaftes Land, Papa! Und dabei jeglicher Komfort, jegliche Bequemlichkeit. Du mußt es unbedingt kennenlernen. Fahre mit mir nach Ägypten, Papa!“

„Ich habe keine Zeit für eine solch lange Reise, mein Kind,“ erwiderte Raucheisen.

Wenzel machte darauf aufmerksam, daß man heute in wenigen Stunden nach Ägypten fliegen könne. Das war ein Vorschlag, den Esther begeistert aufgriff. „Ja, fliegen wir, Papa!“ rief sie aus.

Raucheisen aber schüttelte den Kopf. „Ich bin zu alt,“ erwiderte er. „Ich habe Furcht vor der Luft. Die neue Generation hat diese Furcht überwunden.“

Dann sprach er mit Wenzel über die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands. Es schien fast, als sei er, der Kühnste von allen, dessen Wagemut kein Zögern kannte, der der Wirtschaft die Gesetze diktierte, in dem alle den Meister bewunderten, als sei er ganz plötzlich unsicher geworden. Er sah Schwierigkeiten, Hindernisse, Dunkelheiten, durch die sein Blick nicht dringen konnte. Neue Fragen erhoben sich, Probleme, die unlösbar schienen.

„Ich habe neulich lange mit Ihrem Bruder Michael konferiert,“ sagte er. „Ihr Bruder hat diese Probleme erkannt. Er versucht in sie einzudringen. In vielen Punkten hat er mich überzeugt. Zum Beispiel, daß wir eine neue Generation gesunder Arbeiter erziehen müssen, sollen wir nicht auf dem Weltmarkt in Bälde geschlagen werden. Und vieles andere. Nie haben sich die Probleme derart gehäuft, nie schien ihre Lösung schwieriger. Wir müssen Mut haben.“

Wenzel sah die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands mit hoffnungsvolleren Blicken. Er äußerte sich zuversichtlich.

„Vielleicht sehen Sie schärfer als ich,“ entgegnete Raucheisen. „Ihre Augen sind jünger.“ Er erhob sich, um sich zurückzuziehen. „Wir sehen uns noch, Herr Schellenberg,“ sagte er, indem er sich verabschiedete. „Ich möchte mit Ihnen noch über dies und jenes sprechen.“

Aber Raucheisen log, oder er vergaß es, denn Wenzel sprach ihn nicht mehr. Geheimnisvoll, wie der alte Mann gekommen war, verschwand er.

6

Wenzel gehörte nunmehr zu Esthers Gefolge, ganz wie der Baron und Fairfax, als sei es von jeher so gewesen. Tag für Tag verbrachte er in ihrer Nähe. Auf dem Schlitten, auf dem Eisplatz, beim Tanz in der Teestube, im Billardzimmer und nachts in der Bar, wo die Jazzband lärmte. Hier thronte Esther, hoch über allen Gästen, wie eine Königin. Wenzels offene und ungenierte Art schien ihr zu gefallen. Häufig brach sie in ein lautes Gelächter aus über eine seiner witzigen und sarkastischen Bemerkungen. Dann rückte Baron Blau verletzt und unruhig auf seinem Sessel. Die Augen des englischen Majors aber glänzten selbstbewußt: er hatte das Bobrennen gewonnen! Nutcracker, sein gefährlichster Rivale, hatte in der Haarnadel-Kurve beim dritten Lauf umgeworfen.

Eines Tages, als ein heftiger Sturm Schnee und Dunkelheit um das Hotel wirbelte, rief Esther plötzlich in Wenzels Zimmer an und bat ihn, bei ihr Tee zu trinken.

„Ich habe heute eine große Bitte an Sie,“ sagte sie, als er bei ihr eintrat, und ihr Mund zeigte nicht das übermütige, manchmal etwas frivole Lächeln. Sie erschien ernst und der Blick ihrer großen Augen war nachdenklich und etwas abwesend. „Ich fürchte zwar, daß Ihnen meine Bitte nicht sonderlich angenehm sein wird, aber ich muß sie doch aussprechen.“

„Ich stehe Ihnen zur Verfügung,“ erwiderte Wenzel verwundert und blickte ihr in die Augen.

„Nehmen Sie Platz, Herr Schellenberg. Und nun hören Sie. Ich habe Sie einmal gesehen, als ich noch ein ganz junges Mädchen war. Man hatte mir gesagt: Heute kommt der Offizier, in dessen Armen dein Bruder gestorben ist. Ich habe meinen Bruder sehr geliebt, er war ein herzensguter Junge. Wollen Sie mir erzählen, wie er starb?“

Wenzel runzelte die Stirn. „Weshalb?“ sagte er, bereit sich zu erheben. „Weshalb diese Dinge? Wir wollen sie vergessen.“

„Ich bitte Sie darum, Herr Schellenberg! Und ich bitte Sie, mir alles ausführlich und sorgfältig zu berichten und mir nichts, auch nicht eine scheinbar unbedeutende Einzelheit zu verschweigen. Versprechen Sie mir dies?“

„Sie werden es bereuen,“ erwiderte Wenzel und begann zu erzählen.

Er berichtete von dem Furchtbaren, dem Entsetzlichen dieser Tage, von dem noch Entsetzlicheren jener Stunde, da der junge Raucheisen in seinen Armen verblutete.

„Gehen Sie,“ sagte Esther leise, während sie ihre Hand über die Augen breitete.

„Ich wußte, daß Sie es bereuen würden. Weshalb rühren Sie an diesen Dingen, die vergangen sind?“ entgegnete Wenzel und verabschiedete sich.

Am nächsten Morgen aber klingelten wieder die Schlittenglocken, die Sonne glitzerte und brannte. Man frühstückte auf dem Eisplatz, die Schlittschuhe an den Schuhen, die Bobs schossen durch den verschneiten Wald. Abends tanzte man wiederum in der Bar, und nur zuweilen war es Wenzel, als ob Esther seinen Blick meide.

7

Am Morgen hatte Esther noch ein großes Programm für die Woche entworfen, am Mittag erklärte sie, einer plötzlichen Laune folgend, daß sie morgen früh nach Paris abreisen werde.

Die Freunde gaben ihr ein Abschiedsbankett, und Esthers brennendroter Haarschopf sah in der Tat kaum eine Handbreit aus den Bergen von Blumen hervor, die man auf der Tafel angehäuft hatte. Sie genoß strahlend ihren Triumph.

Schon war das Foyer des Hotels angefüllt mit ihren Koffern. Und in einer Ecke türmten sich die eleganten, nagelneuen Koffer des Barons Blau, der es sich nicht nehmen ließ, Esther persönlich nach Paris zu begleiten. Major Fairfax mußte, so sehr er es bedauerte, noch eine Woche in Sankt Moritz bleiben, da er zum Skeletonrennen gemeldet hatte. Am Morgen standen die Schlitten bereit, einer für Esther und Baron Blau, ein zweiter für die Blumen und ein dritter für die Dienerschaft der beiden.

„Leben Sie wohl, Schellenberg,“ sagte Esther lachend auf englisch zu Wenzel. „Ich hoffe, Sie wiederzusehen.“

Wenzel hatte Esther ein Riesenbukett von gelben Rosen ins Coupé bringen lassen, einen ungeheuren Strauß, der eine ganze Ecke ausfüllte.

„Oh, hier sind ja auch noch Blumen!“ rief Esther mit der Stimme eines erfreuten Kindes aus und nahm die Karte aus dem Bukett „Wenzel Schellenberg!“ sagte sie. „Seht an! Wie originell!“

Es war ihr gar nicht aufgefallen, daß Wenzel ihr bis zu dieser Minute keine Blumen gesandt hatte. Sie nahm es als selbstverständlich an. Alle hatten ihr Blumen geschickt, natürlich auch Wenzel. Sein origineller Gedanke, sich auf diese Weise bei ihr nochmals in Erinnerung zu bringen, fand ihren Beifall.

Sie wußte nicht, daß Wenzel sich einen ganz besonderen Plan zurechtgelegt hatte.

Als Esther ihre Gemächer im Hotel de Riz in Paris betrat, waren natürlich auch diese Räume schon angefüllt mit Blumen. Die Pariser Freunde hießen Esther willkommen. Während die Abschiedssträuße aus Sankt Moritz auf irgendeinem Kehrichthaufen eines rußigen Bahnhofs verwelkten, war hier schon ein neuer Blütengarten aus Flieder, Rosen, Maiglöckchen, Tulpen, Narzissen wie durch Zauberei erstanden.

Und dieses Riesenbukett gelber Marschall-Niel-Rosen, erinnerte es nicht an den Strauß Schellenbergs, der in Sankt Moritz die Ecke des Abteils völlig ausgefüllt hatte, wie? Genau so, die Farben, die Größe.

Sie griff nach der Karte: Wenzel Schellenberg!

„Seht an, Wenzel Schellenberg,“ sagte Esther leise und erstaunt. Sie wurde nachdenklich, warf den Blick rasch durch das Zimmer. Irgend etwas an dieser Sache war sonderbar. Und nun fiel es ihr ein: Wenzel konnte natürlich telegraphisch ein Bukett bei einem Pariser Blumenhändler bestellen. Er konnte die Art des Straußes und die Farbe genau bezeichnen, aber die Karte, wie sollte die Karte hierher kommen?

Sie fragte den Diener. Er wußte nichts. Der Strauß war mit der Karte im Hotel abgegeben worden.

Das ist höchst merkwürdig und rätselhaft, sagte sich Esther, die hartnäckig über dieses Rätsel nachdachte, das sie nicht lösen konnte. Dieser Schellenberg ist gewiß ein merkwürdiger Bursche, dachte sie, der drollige Einfälle hat. Aber meine Abreise kam ja so plötzlich, daß er unmöglich die Zeit finden konnte, die Karte in einem Brief zu senden.

Aber als Esther, funkelnd und glitzernd in einer wunderbaren neuen Pariser Robe, eine Stunde später in den Speisesaal rauschte, wer stand da, kupferbraun, fast schwarz wie ein Neger durch den Kontrast des weißen Frackhemdes, mit blitzenden Zähnen, und die Hände so braun, daß die Fingernägel korallenrot aussahen? Wenzel!

Baron Blau, der Esther in den Speisesaal geleitete, starrte auf Wenzel wie auf eine Erscheinung. Er glaubte im ersten Augenblick, es sei Zauberei, eine heimtückische und auf jeden Fall unbehagliche Zauberei. Und schlecht verbarg er hinter der erstaunten Miene seinen Verdruß. Er hatte nichts gegen Schellenberg, oh, ganz und gar nicht, aber dieses Große, Gesunde, Kraftstrotzende irritierte unaufhörlich seine Nerven. Er schleudert Felsen, dachte er sich, er sieht stets aus, als sei er zu Gewalttätigkeiten bereit, und wenn er lacht, muß man sich Watte in die Ohren stopfen.

„Bei Gott, es ist Schellenberg!“ rief Esther mit heller Stimme aus, überrascht, erfreut, geschmeichelt. Sie verstand augenblicklich.

„Auch ich habe dringende Geschäfte in Paris,“ antwortete Wenzel lachend und schüttelte ihr die Hand.

Es war gar keine Zauberei im Spiel. Wenzel war mit dem nächsten Zug von Sankt Moritz nach Zürich gefahren und von Zürich aus mit dem Postflugzeug nach Paris gekommen. Er war schon seit heute mittag hier.

Mit einem resignierten Lächeln setzte sich Baron Blau zu Tisch. Seine Stimme schwang hoch und gekränkt. Endlich hatte er gehofft, einige Tage allein mit Esther verbringen zu können, ohne diesen fürchterlichen Bobfahrer und ohne alle diese andern, die unaufhörlich Esthers Fingerspitzen küßten. Nein, mit diesem derben Burschen da war nicht zu spaßen. Wie hatte er das Hotel erfahren? Wie packte er alles an? Und diese naive Zudringlichkeit, zartfühlend war er gewiß nicht.

„Herr Schellenberg ist zum ersten Male in Paris, Baron,“ sagte Esther.

Der Baron hatte sein Gleichgewicht noch immer nicht zurückgefunden. „Zum ersten Male?“ fragte er mit gelangweilter Stimme. „Ist es möglich? Und wie gefällt Ihnen Paris?“

Aber es tröstete das Herz des Barons einigermaßen, daß Wenzel von Paris förmlich berauscht war. „Es lohnt sich in der Tat, mein lieber Baron,“ rief er aus, „sich Paris in tausend Meter Höhe zu nähern. Zuerst ist da eine Staubwolke am Horizont, rotbraun wie ein Wüstensturm. Dann erscheint eine Vision, eine Fata Morgana über der Staubwolke – eine Moschee, schneeweiß und durchsichtig. Ich traute meinen Augen nicht, glaubte beinahe, wir hätten uns verflogen. Diese schneeweiße Moschee ist Sacré coeur, wie man mir später sagte. Die Staubwolke lichtet sich, man erblickt ein Stadtviertel, und urplötzlich ist die Staubwolke gänzlich verschwunden und eine ungeheure Stadt mit Millionen funkelnden Fenstern erstreckt sich von Horizont zu Horizont.“

Wenzel hatte bereits vier Stunden lang die Stadt im Auto nach allen Richtungen durchquert. Er hatte Stadtviertel gesehen, die der Baron, ein geborener Pariser, kaum dem Namen nach kannte. Er hatte Gewohnheiten des Volkes entdeckt, die dem Baron nie aufgefallen waren. Eine ganze Reihe von Industrien hatte er festgestellt, von deren Existenz der Baron nichts ahnte.

„Welche Vitalität!“ dachte Baron Blau mit einem melancholischen Blick.

„Ich werde Ihnen Paris zeigen, Schellenberg,“ sagte Esther. „Es gibt eine Anzahl kleiner Theater, Kneipen und Tanzlokale, wo Sie noch das echte Pariser Leben beobachten können. Wollen Sie uns begleiten, Baron?“

„Sie wissen, welche tiefe Abneigung ich vor diesen Dingen habe, meine Freundin. Weshalb quälen Sie mich also?“ entgegnete der Baron mit verletzter Miene.

„Dann müssen wir leider auf Ihre Gesellschaft verzichten. Oh, es wird ganz wunderbar sein, Schellenberg. Wir werden uns sehr schlicht kleiden, manchmal wie Apachen. Ich werde Sie durch das ganze unbekannte Paris führen. Wenn Sie Lust haben, heißt das.“

„Natürlich habe ich Lust!“ erwiderte Wenzel.

Baron Blau zankte ärgerlich mit dem Kellner. Er haßte diese Neigung Esthers, durch obskure Lokale zu ziehen. Die blasse Glasur seines Gesichtes wurde von einer leisen, eigentümlich hellen Röte überzogen.

„Wann fangen wir an?“ fragte Wenzel in bester Laune.

„Heute, wenn Sie wollen,“ entgegnete Esther.

„Nun gut, dann heute.“

Aber Baron Blau legte hier feierlichen Protest ein. Die melancholischen Tieraugen auf Esther gerichtet, erinnerte er sie mit gekränkter Miene daran, daß sie den ersten Abend ihren Freunden versprochen habe. Ah, nun war es offenbar, daß der Teufel diesen Schellenberg auf dem Rücken nach Paris getragen hatte.

Jeden Abend, den sich Esther, eifersüchtig umlagert von ihren Freunden, frei machen konnte, durchstreifte sie mit Wenzel diese große, unheimliche Stadt, die mehr Geheimnisse birgt als irgendeine Stadt der Welt, die großen Städte Chinas vielleicht ausgenommen. Sie besuchten Theater, in denen man derbe Possen aufführte, wo die Zuschauer mitspielten und Bemerkungen auf die Bühne hinaufriefen. Sie besuchten Varietés, Tingeltangel, Verbrecherkeller, Künstlerkneipen. Da und dort ging es etwas ausgelassen zu. Esther schüttelte sich vor Lachen. Da Wenzels Französisch nicht so weit reichte, so machte sie den Dolmetscher.

„Es sind etwas starke Dinge,“ sagte sie.

„Weshalb sollen sie nicht stark sein? Alle Völker, die gesund und phantasievoll sind, hassen die Prüderie.“

Sie besuchten die Tanzlokale der Studenten. Sie besuchten Bars, wo kleine Tänzerinnen so, wie Gott sie geschaffen hatte, auftraten. Sie streiften bei Nacht in den Hallen umher, zwischen Bergen von Gemüsen und Blumen, und aßen in einem kleinen Restaurant die Zwiebelsuppe, die die Lastträger aßen. Es war herrlich, und niemals hatte Wenzel sich so wohl gefühlt. Welch eine wundervolle Stadt, bis zum Rand mit Energien angefüllt!

Die Nähe dieser verwöhnten und launenhaften Frau, die an jedem Abend, in jeder Stunde anders war, wirkte auf ihn wie starker Wein. Sein Blick glitt über ihren feinen, zarten Nacken, auf dem ganz feine, kaum sichtbare hellbraune Härchen schimmerten. Sein Blick lag auf ihrem hellrot gemalten Mund – den er bald küssen würde, das wußte er. Sein Blick lag auf ihren Wangen, die sie rot und braun malte, und auch diese Wangen würde er bald mit Küssen bedecken. Dann sollte ihr das frivole, leichtfertige Lachen vergehen! Gib acht, gib acht! Sein Blick lag auf ihren schmalen und wundervoll gepflegten Händen. Bald würde er sie in seine Hand nehmen, um sie zusammenzupressen. Sein Blick tastete über ihren Körper, und bald kannte er jede seiner Linien. Bald würde er ihn mit seinen Küssen verbrennen. Hüte dich, Esther Weatherleigh! Zuweilen standen Wildheit und Begierde so deutlich in seinen Augen, daß sie es fühlte. Und nichts war für Esther verwirrender, als wenn sie hörte, daß seine Stimme vor Erregung schwang. Ihre Miene aber blieb kühl und undurchdringlich.

Die Besuche der verschiedenen Kneipen und Varietés erlaubten kleine Vertraulichkeiten, wie der Speisesaal des Hotels und das Licht der großen Theater sie nie erlaubt hätten.

„Sie haben den schönsten Nacken, den ich je bei einer Frau sah,“ sagte Wenzel.

Esther zog ungnädig die Brauen in die Höhe. „Sie können mich betrachten, solange Sie wollen,“ antwortete sie. „Aber ich wünsche nicht, daß Sie über Ihre Entdeckungen sprechen.“

Eines Tages wurde Wenzels Verlangen, diese hellrot gemalten Lippen zu küssen, so unwiderstehlich, daß er Esther, als er ihr aus dem Auto half, ohne darüber nachzudenken, in die Arme nahm, an sich preßte und küßte.

Esther stand völlig überrascht. Sie starrte Wenzel mit offenem Munde an und fand keine Worte. Nie in ihrem Leben hatte ein Mann eine solche Verwegenheit gewagt, und noch dazu vor dem Tor des Hotels, durch dessen Scheiben der Nachtportier starrte.

„Wie töricht Sie sind!“ sagte sie ganz leise, tadelnd und zurechtweisend, indem sie ins Hotel trat.

8

Einige Tage sah und hörte Wenzel nichts von Esther. Er wartete, aber wenn die Stunde vorüber war, in der sie sich gewöhnlich mit ihm verabredet hatte, verließ er das Hotel, um sich in den Strudel von Paris zu stürzen.

So war es wahr, daß er diese Frau liebte und begehrte, so wahr war es auch, daß sie Jahrzehnte warten konnte, ehe er den ersten Schritt zur Aussöhnung tun würde. So war es wahr, daß er sich nach dieser Frau verzehrte, so wahr war es auch, daß es tausend verführerische und schöne Frauen in dieser Stadt gab, die reizend plauderten und deren Reize entzückten. So war es wahr, daß Wenzel sich in jeder Minute nach dieser Frau sehnte, so wahr war es auch, daß er in dieser gleichen Minute das Leben in vollen Zügen in sich trank und sich keineswegs sentimentalen Schwärmereien hingab. Da war also Wenzel Schellenberg, da war Esther Weatherleigh, und da war Paris.

Des Mittags pflegte Wenzel im Hotel zu speisen. Esther mied den Speisesaal seit jenem Vorfall. Eines Tages aber kam sie mit Baron Blau und einem blonden, hübschen, außerordentlich sorgfältig gekleideten jungen Herrn in den Speisesaal. Sie winkte Wenzel zu sich an den Tisch, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.

„Sie müssen mit uns speisen!“ rief sie aus. „Und hier ist Sir John, mein früherer Gatte. Sie sehen, wir sind gute Freunde geblieben.“

Am nächsten Abend schon machten sie einen ihrer gewöhnlichen Abendausflüge nach einem Vorstadttanzlokal, ganz als sei nichts geschehen.

Einige Tage später reiste Wenzel nach Berlin, aber nach fünf Tagen war er schon wieder in Paris.

9

Es fing bereits an zu dämmern. Christine, den kleinen Georg auf dem Arm, stand am Waldrand – gerade da, wo sich früher die ersten Arbeitsschuppen befunden hatten – und spähte die Landstraße hinab. Schon eine Stunde stand sie hier und wartete. Ihr Gesicht schimmerte bläulich in der Dämmerung, das Umschlagetuch auf ihren schmalen Schultern flatterte im Abendwind. Endlich erblickte sie Georg. Mit seiner kleinen Reisetasche in der Hand kam er raschen Schrittes daher. Als er seine Frau mit dem Kinde sah, begann er zu laufen. Auch Christine lief.

„Willkommen zurück!“ rief sie und streckte ihm das Kind entgegen.

Georg herzte das Kind und küßte Christine. Sie umschlang ihn, und während sie vor Freude lachte, sprangen ihr die Tränen über das Gesicht.

Georg war verreist gewesen, volle vier Tage. Zum ersten Male, seit sie nach Glückshorst gekommen waren, hatten sie sich getrennt. Diese vier Tage aber waren Christine endlos erschienen. Sollte man es für möglich halten, wie lange ein Tag sein konnte? Abend für Abend war sie mit dem Kinde die Landstraße entlang gegangen, obwohl sie wußte, daß Georg erst heute kommen konnte. Endlich war er wieder bei ihr.

„Wie geht es euch, und was gibt es Neues?“ fragte Georg.

„Eine Menge Post ist da!“ antwortete Christine, während sie den Arm um Georgs Schulter legte. „Ich habe alle Telephongespräche aufgeschrieben, und – fast hätte ich es vergessen – der Plan von Glückshorst ist aus Berlin zurückgekommen.“

„Genehmigt?“ Georg blieb voll Spannung stehen.

„Ja, genehmigt! ‚Genehmigt, Schellenberg‘ steht unten am Rand.“

Mit dem Kind auf dem Arm, vollführte Georg einen Freudentanz auf der Straße.

„Wie wunderbar!“ rief er aus. „Und doch muß ich noch Verbesserungen anbringen. Was ich gesehen habe in diesen Tagen! Nun, ich werde es dir erzählen.“

Schon begannen die Lichter von Glückshorst zu glitzern. Weit auseinandergezogen lag die Siedlung da. Die großen Fenster der Tischlereien und Werkstätten und ganze Reihen von Arbeiterbaracken leuchteten in die Dämmerung. Jene hellstrahlenden drei Fenster waren das Gasthaus, die Herberge, in der Mutter Karsten, plappernd und plaudernd von früh bis nachts, das Zepter führte. Gleich daneben blinzelte ein kleines Licht. Das war der Laden des Schlächters Moritz, der noch arbeitete. Das ruhig schimmernde Fenster rechts gehörte zum Hause eines pensionierten Lehrers, der die Schule übernommen hatte. Und die übrigen verstreuten Lichter, das waren die Häuser von Siedlern, die mit ihren Familien nach Glückshorst gekommen waren. Ein Arzt, eine Krankenpflegerin, Kaufleute, Handwerker. Schon war fast jeder Beruf vertreten. Weiter unten am Kanal stand eine ganze Reihe blendender Fenster. Es sah fast aus wie ein Bahnhof in der Nacht. Das waren die Werkstätten einer Fahrradfabrik, die sich hier niedergelassen hatte. Eben heulte ihre Sirene in den stillen Abend.

Ja, in der Tat, eine richtige kleine Stadt war Glückshorst schon geworden. Weit über die Heide greifend, erkannte man schon ihre zukünftige Gestalt.

Es war Ende Mai, aus den Gärten stieg der feuchte Atem der Fruchtbarkeit, die riesigen Gärtnereien dufteten.

Christine hatte ein herrliches Empfangsmahl hergerichtet. Sie hatte einen ihrer jungen Hähne geopfert, blutenden Herzens, denn sie liebte ihre Tiere, und diesen Hahn hatte sie buchstäblich an ihrem Busen aufgezogen. Als Küken war er krank gewesen, und um ihn zu wärmen, hatte sie ihn auf ihrer Brust getragen. Dazu hatte Christine Radieschen und frischen, jungen Salat aufgetischt, alles aus ihrem Garten, und – eine Überraschung für Georg – eine Schale voll Erdbeeren, herrliche, große, fehlerlose Früchte.

„Du hast schon Erdbeeren?“ fragte Georg erstaunt, als sie sich zu Tisch setzten.

„Ich habe ein kleines Warmbeet, ganz im geheimen,“ lachte Christine.

Georg bewunderte Größe und Glanz der Früchte. „Ich sehe, du hast den Gärtnern schon ihre Kunst abgeguckt!“

Nun aber ging es ans Erzählen. Noch jetzt war Georg ganz benommen. Was er alles gesehen hatte!

„Es ist unglaublich, was sie da geschaffen haben, Christine! Es ist unvorstellbar! Wir waren alle völlig berauscht, und Schellenberg wurde von allen Seiten beglückwünscht.“

Er war in dem großen Siedlungsgebiet „Neuland“ gewesen, wohin Michael Schellenberg eine große Anzahl seiner Mitarbeiter gebeten hatte. „Neuland“ war ein Komplex von acht Städten, die neu angelegt und neu geschaffen werden sollten. Industriegartenstädte, in mächtiger Ausdehnung auf der ungeheuren Heide angelegt, die sich nördlich von Hannover bis hinauf nach Lüneburg und zur Elbe erstreckt. Man hatte vom Mittellandkanal in Hannover aus einen Kanal begonnen, der, mit einer Anzahl von Abzweigungen versehen, quer durch die Heide zur Elbe führen sollte. Diese Kanäle bedeuteten die Arbeit vieler Jahre. Scharen von Arbeitslosen, Kolonnen jugendlicher Freiwilliger und Bataillone von Strafgefangenen waren mit dem Bau beschäftigt. In diesem Netz von Kanälen waren die neuen Stadtkomplexe gelagert, alle schon fix und fertig vermessen und zum Teil schon begonnen. Riesige Gärtnereien, Wälder, Parkanlagen, ungeheure Industrieterrains. Eine Million Menschen sollte in „Neuland“ die Heimat finden.

Staub, Rauch, Maschinen, Dampfpflüge, Traktoren, Walzen, Arbeiterkolonnen. Und vordem war hier nichts als ein kläglicher Wald mit verdorrtem Boden und unfruchtbare Heide. Georg fand in seiner Erzählung kein Ende.

„Aber nun an die Arbeit, Christine!“ rief er plötzlich aus, indem er ungeduldig aufsprang. „Nicht eine Stunde wollen wir versäumen.“

Die Tür zu der Kammer, in der das Kind schlief, stand offen. Georg hatte den großen Plan von Glückshorst mit Reißnägeln auf den Zeichentisch geheftet, und nun legte er sich darüber, um den Plan noch einmal nach seinen neuen Erfahrungen zu überprüfen. Die Pläne wurden von Schellenbergs Städtebauern in großen Umrissen vorgezeichnet. Aber der Chef jeder Station hatte sie bis in die kleinsten Einzelheiten durchzudenken. Jede Einzelheit für die zukünftige Entwicklung der Siedlung mußte vorgesehen werden.

Am Kanal entlang zog sich das Industriegelände, und in der Mitte lagen die großen Gärtnereien. Dies war der Platz, vorgesehen für spätere Parks, Verwaltungsgebäude, Kirchen, Schulen, das Herz der Stadt. In fünf Jahren konnten diese Bauten begonnen werden. Der einzige Bau, der zur Zeit in Angriff genommen war, war ein Flügel des Schulhauses. Auch ein Platz für einen Kanalhafen war vorgesehen. Ebenso der Gürtel eines Parks, der die Stadt umschließen sollte und den Übergang bildete zu den Großlandwirtschaften, die die Bestimmung hatten, diese Stadt künftig zu ernähren.

„Ich bin noch nicht zufrieden mit der Lage des Bahnhofs,“ sagte Georg erregt. „Ich muß alle Gesichtspunkte noch einmal durchdenken.“

Christine stand neben ihm und blickte eifrig in den Plan, in dem sie zu lesen gelernt hatte, ganz wie Georg. Wie er, sah sie die vollendete Stadt vor sich.

„Vielleicht war der frühere Platz doch besser, Georg.“

„Wir müssen alles noch einmal durchdenken, Christine,“ wiederholte Georg, dessen Wangen vor Eifer brannten.

Christines Wange streifte seinen Kopf. Sie war glücklich. Und wie ruhig das Kind schlief!

10

Lise Schellenberg hatte den ganzen Winter an der italienischen Riviera verbracht. Nicht zu ihrem Vergnügen, sondern um eine leichte Entzündung ihrer Stimmbänder auszuheilen, die sich beim Singen störend bemerkbar machte. Die leichte Heiserkeit, die selbst beim Sprechen auffiel, hatte sich verloren, und als es warm wurde in Deutschland, kehrte Lise wieder nach Berlin zurück.

Müde von der Reise, widmete sie sich den ersten Abend ihren Kindern, für die sie nach der langen Trennung eine unsägliche Zärtlichkeit empfand. Sie sah sich in ihrer Wohnung um, die ihr fremd geworden war. Sie telephonierte an alle ihre Bekannten. Und schließlich sah sie die Post der letzten Woche durch, die nicht mehr nachgesandt worden war. Nichts von Bedeutung. Das unverschämte Angebot eines Konzertagenten zu einer Tournee in der Provinz, ohne jegliches Honorar, nein, danke schön. Und hier war eine Art amtliches Schreiben. Lise nahm es mit beleidigter Miene in die Hand, während sie eine Zigarette zwischen den Lippen hin und her schob. Sie liebte behördliche Schreiben nicht. Sie liebte Gesellschaften, fröhliches Geplauder, Chopin, aber sie liebte nicht Dinge, die sie daran erinnerten, daß sie ihren Mitmenschen gegenüber, der Gesellschaft, dem Staate, Verpflichtungen hatte. Man forderte sie auf – es war gänzlich unwürdig, daß es Einrichtungen gab, die über ihre Zeit verfügen konnten.

Sie hatte aber kaum einen Blick in das Schriftstück geworfen, als sie so fahl wurde, daß ihr hellblonder Haarschopf dunkel erschien und ihre blauen Augen grau wie dunkler Schiefer. Die Zigarette entfiel ihrer Hand und qualmte auf einem Stück Papier weiter.

Was war das?

Lises Augen wurden starr vor Schrecken. Wie war das möglich? Eine Vorladung des Gerichts zu einem Termin. Wenzel hatte die Klage auf Scheidung eingereicht.

Plötzlich flammte ihr ganzer Körper, als stände sie mitten in einem Feuer. Sie sprang bestürzt auf und warf das Schreiben von sich. Wie war all das möglich? Hatte sie es mit einem Teufel zu tun? Und hier war ein Brief von Wenzels Anwalt, der sie seit Monaten mit seinen Zuschriften bombardierte. Wenzel ließ ihr mitteilen, daß er ihr eine glänzende Sicherstellung verspreche für den Fall, daß sie sofort in die Scheidung willige. Weigere sie sich aber, so werde er nicht vor dem Äußersten zurückschrecken. Oh, ja gewiß, sie hatte es hier mit einem Schurken und einem Teufel zugleich zu tun. Lise stürzte in das Kinderzimmer und riß die Kinder aus dem Bett, um sie an die Brust zu drücken und mit Küssen zu bedecken. „Sie wollen euch von mir wegnehmen!“ schrie sie. Die Kinder, verschlafen und verstört, begannen zu weinen.

Gerhard blickte sie mit den grauen Augen Wenzels an. „Wer will uns wegnehmen?“ fragte er, das Gesicht in Tränen gebadet.

„Nun, Papa!“

Oh, nun war ihr schon etwas leichter. Sie vermochte wieder zu denken, es war zuviel gewesen. Sie klingelte Michael an, und Michael ließ ihr sagen, daß er noch etwa zwei Stunden im Bureau sein werde und sie erwarte.

Augenblicklich nahm Lise einen Wagen. Es war etwas nach neun Uhr, als sie im Bürogebäude Michaels ankam. Michael saß an seinem Schreibtisch, müde und abgespannt, und diktierte Eva Dux Briefe.

„Ich stehe sofort zu deiner Verfügung, Lise,“ sagte er mit einem müden Lächeln. Eva erhob sich, ohne ein Wort zu sprechen, und verließ das Zimmer.

„Wie geht es mit der Stimme?“ fragte Michael. Nun aber bemerkte er Lises außerordentliche Erregung und Blässe. Von ihren Wimpern sprangen die Tränen. Sein Gesicht verfinsterte sich.

„Die alte Sache?“ fragte er. „Weshalb könnt ihr euch nicht in Frieden trennen?“ Diese langwierige Scheidungsangelegenheit quälte ihn tödlich.

Lise warf das Schreiben des Anwalts und die Vorladung auf den Tisch. „Lies nur, Michael, lies!“ schrie sie. „Wenzel ist ein Schurke! Ein vollendeter Schurke!“

„Weshalb diese Heftigkeit, Lise?“ sagte Michael und runzelte ärgerlich die Stirn. Er durchflog das Schreiben des Anwalts und die Vorladung des Gerichts.

Nun begann Lise leise zu wimmern.

„Du sollst mir helfen, Michael!“ flehte sie. „Ich ertrage es nicht länger! Bin ich wirklich eine Frau, der man die Erziehung der Kinder nicht anvertrauen kann?“

Michael sah sie mit einem klaren Blick an. „Ich will nichts fragen,“ sagte er nach einigem Nachdenken. „Es sind deine Privatsachen, die mich nichts angehen. Ich rate dir, was ich dir immer geraten habe: Trenne dich in Frieden von Wenzel. Ich werde morgen früh mit euren Anwälten sprechen und zu vermitteln suchen.“

„Wenzel zieht mit dieser Lady Weatherleigh durch die Tanzsäle von Paris. Ich weiß wohl, was er beabsichtigt!“ rief Lise aus.

Sie verbrachte eine unruhige Nacht und schlief erst gegen Morgen ein. Der telephonische Anruf ihres Anwalts weckte sie. Justizrat Davidsohn ersuchte sie, ihn noch im Laufe des Vormittags zu besuchen.

Der Justizrat prüfte die Schriftstücke zuerst flüchtig, dann aber studierte er sie mit großer Gründlichkeit. Er drehte sie sogar um, ob nicht auf der Rückseite noch etwas stehe. Schließlich trommelte er mit den behaarten Händen auf den Tisch. Nunmehr hatte er sich so weit gesammelt, um sich aller Einzelheiten dieser Sache Schellenberg contra Schellenberg zu erinnern.

„Sie wurden beobachtet, gnädige Frau,“ sagte er endlich, ohne jede Vorbereitung.

„Beobachtet? Von wem?“ Lise erbleichte.

„Es geht aus dem Schreiben meines Kollegen hervor, daß Sie monatelang unter genauer Beobachtung standen.“

„Das ist eine Infamie!“

„Es ist nicht schön, gewiß nicht,“ antwortete Davidsohn und schüttelte den Kopf. „Aber Sie sehen, es gibt Anwälte, die vor keinem Mittel zurückschrecken. Es fragt sich nun, wie weit die Beobachtungen auf Wahrheit beruhen. Sie waren drei Monate an der italienischen Riviera. Mein Kollege behauptet nun, daß Sie zwei Monate lang einen Freund zu Besuch gehabt hätten, der in ihrer Villa wohnte. Ein gewisser, lassen Sie sehen, Dr. Friedrich, wohnhaft Achenbachstraße 5. Trifft das zu, gnädige Frau?“

Lises Augen blitzten. „Ich antworte auf diese Frage nicht!“ erwiderte sie.

Der Justizrat lächelte nachsichtig. „Mir, Ihrem Anwalt, können Sie getrost antworten, gnädige Frau. Sie waren etwas unvorsichtig, aber erregen Sie sich bitte nicht. Mein Kollege behauptet ferner, dieser Freund habe Sie auch in Berlin schon zuweilen besucht und das Haus erst am Morgen verlassen.“

„Diese Behauptung ist eine nichtswürdige Lüge!“ schrie Lise.

Wiederum lächelte der Anwalt nachsichtig. „Sie sollen sich nicht erregen. Vielleicht haben Sie unzuverlässiges Personal. Ich habe den Eindruck. Es sind Daten genannt.“

Lise schwur, noch heute ihre beiden Dienstmädchen zu entlassen. (Sie entließ tatsächlich ein Mädchen, eine Polin, die sich unter ihrem strengen Verhör verriet. Sie gab ihr ein paar Ohrfeigen und warf sie noch in der gleichen Stunde hinaus.)

„Was die Kinder anbetrifft,“ so fuhr der Justizrat fort, „so ist das ja nicht so ernst zu nehmen. Sie werden beweisen können, daß die Kinder eine sorgfältige Erziehung genießen und nicht ganze Nächte ohne Aufsicht sind, wenn die beiden Mädchen zu Tanzvergnügungen gehen.“

„Das alles ist empörend! Das alles unsagbar empörend und eine schamlose Lüge!“

„Ich weiß, ich weiß,“ beruhigte sie der Justizrat. „Das ist ja nicht so schlimm. Und diese Bemerkungen hier, die mein Kollege in sehr taktloser Weise in sein Schreiben einfügen zu müssen glaubt, diese Bemerkung hier, einen Augenblick. Er behauptet, Sie hätten wenige Tage nach der Geburt des ersten Kindes geäußert, in bezug auf das Kind: Ein paar Pfund Fleisch, und wie häßlich!“

Hier sprang Lise empört auf. „Ich habe es mit den größten Schurken und Schuften der Welt zu tun!“ schrie sie.

Der Justizrat erhob sich an der andern Seite des Tisches und bat sie mit einer beschwörenden Handbewegung, wieder Platz zu nehmen und sich nicht zu erregen. „Das ist ja nicht von Bedeutung. Ob Sie diese Bemerkung gemacht haben oder nicht, das spielt gar keine Rolle. Aber daß Sie unvorsichtig waren, gnädige Frau, hat Ihre Position, ich darf offen sprechen, keineswegs verbessert. Das Gericht könnte immerhin der Ansicht sein, daß tatsächlich ein Ehebruch vorliegt, und Sie für den schuldigen Teil erklären.“

„Wie, mich?“ unterbrach ihn Lise maßlos erstaunt. „Ich werde nachweisen, daß Wenzel die Ehe mit einem Dutzend von Frauen gebrochen hat.“

Der Justizrat schüttelte den Kopf. „Sie kennen die Gesetze nicht, gnädige Frau. Es wäre ja immerhin möglich, und wir müssen jedenfalls damit rechnen. In diesem Falle aber, gnädige Frau, wäre Herr Schellenberg jeglicher Verpflichtung Ihnen gegenüber ledig.“

„Wie?“

„Ich will auch nicht verschweigen, daß das Gericht in diesem Falle sich dahin entscheiden könnte, Ihnen die Kinder nicht weiter zu belassen.“

„Dann sind die Gesetze einfach Unfug!“

In Anbetracht all dieser Umstände, angesichts der Tatsache, daß sich die Lage leider verschlechtert habe, unleugbar, riet der Justizrat zum Vergleich. Er werde sich bemühen, die günstigsten Bedingungen zu erzielen.

Aber Lise wollte unter keinen Umständen etwas von einem Vergleich wissen. Wenzel hatte die letzte „Brücke“ abgebrochen, und diese Bemerkung mit den „paar Pfund Fleisch“ würde sie ihm bis zu ihrem Tode nicht verzeihen. Sie liebte ihre Kinder abgöttisch, Wenzel wußte es genau, und doch ließ er diese Schurkerei von seinem Anwalt schreiben. Sie leugnete ja gar nicht, daß sie seinerzeit jene alberne Bemerkung gemacht hatte, aber spricht nicht jeder Mensch einmal eine Roheit und eine Dummheit aus?

Nein und dreimal nein! Sie wollte keinen Vergleich, und wenn er ihr zehn seiner erwucherten Millionen auf den Tisch legen würde. Sie wisse recht gut, weshalb Wenzel es plötzlich so eilig hatte, seine erste Ehe zu lösen, oh, recht gut! Sie fürchtete den Prozeß nicht, und sie würde den Richtern wohl sagen, wer hier der Ehebrecher sei.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau,“ unterbrach sie der Justizrat. „Wenzel Schellenberg hat gegen Sie Klage erhoben und nicht Sie gegen Wenzel Schellenberg. Wir können ja eine Gegenklage einreichen, und es besteht kein Zweifel, daß das Gericht ohne jedes Zögern die Scheidung aussprechen wird.“

„Nun verstehe ich gar nichts mehr!“ rief Lise verzweifelt aus. „Ich will ja die Scheidung nicht!“

Kaum hatte Lise das Sprechzimmer des Justizrates verlassen, so klingelte Davidsohn bei dem Kollegen Vollmond an. Er beklagte sich, allerdings mit großer Höflichkeit, über die Schärfe des Tones in Vollmonds Schreiben. Diese Schärfe sei leider nicht geeignet, jene Versöhnlichkeit herbeizuführen, die wünschenswert sei. Er werde sich um den Ausgleich bemühen und bäte um eine Aussprache, am liebsten morgen. Kollege Vollmond hatte am morgigen Tage keine Zeit, er müßte zu einer Verteidigung in die Provinz reisen, die etwa drei bis vier Tage in Anspruch nehmen dürfte. Trotz größter Überlastung schlage er eine Konferenz am heutigen Nachmittag vor, um sich dem Kollegen gefällig zu zeigen. Dann unterhielten sich die beiden Anwälte lebhaft über eine Sache Ledermann contra Schuster. Es waren da hohe Kosten aufgelaufen, und Ledermann, Davidsohns Mandant, stand dicht vor dem Bankerott.

Noch am gleichen Abend drahtete Vollmond an Wenzel nach Paris, daß seine Maßnahmen den gewünschten Erfolg gehabt hätten. Die Starrköpfigkeit der Gegenpartei sei besiegt. Er bitte um Angabe, um wieviel Prozent er eventuell die Abfindungssumme erhöhen dürfe.

Wenzel telegraphierte aus Paris: „Verdoppeln Sie, wenn nötig, die Summe! Setzen Sie als äußersten Termin vierzehn Tage an. Beschleunigen Sie die Angelegenheit mit allen Mitteln!“

11

Es war anfangs Juni, aber schon war die Hitze in Paris unerträglich. Die Benzinschwaden der Automobile, die alle Straßen der ungeheuren Stadt überschwemmten, verpesteten die Luft. Wenzel fuhr häufig ins Freie und betrachtete sich die Umgebung der Stadt. Nur selten begleitete ihn Esther auf diesen Entdeckungsfahrten. Sie verließ die Stadt nur ungern, es sei denn in großer Gesellschaft. Sie brauchte das Gewimmel der Menschen, das Gewimmel der Automobile, das Brüllen der Hupen, die verwirrenden Läden der Boulevards und der Rue de la Paix. Das alles brauchte sie und die bewundernden Blicke der Männer, jener Unzahl von Männern, die in Paris spazieren gehen und deren Beschäftigung darin besteht, schönen Frauen nachzusehen.

An einem Nachmittag lag eine so drückende Schwüle über der rasenden Stadt, daß die Gesichter aller Menschen in Schweiß gebadet waren.

Man wollte nach Tisch einen Zirkus besuchen, wo zwei Clowns das Publikum jeden Abend zu tobendem Gelächter hinrissen. Esther, die gerne lachte, freute sich bereits wie ein Kind darauf. Wenzel aber fand, daß es heller Wahnsinn sei, heute in der Stadt zu bleiben. „Kommen Sie mit mir ins Oisetal. Ich will Ihnen endlich mein kleines Zauberschloß zeigen,“ sagte er.

Esther rieb sich Schläfen und Wangen mit Kölnischem Wasser. In der Tat, die Luft war unerträglich, man atmete glühende Staubsplitter. „Es ist gut,“ entschied sie. „Fahren wir.“

Wenzels Zauberschloß an der Oise war ein ehemaliges Barockschlößchen, das man in ein kleines vornehmes Hotel umgewandelt hatte. Gebäude und Park waren fast unberührt geblieben und von großem Reiz. Wenzel hatte das Hotel auf seinen Ausflügen entdeckt.

Esther war hell entzückt. Eine solche Köstlichkeit, eine Autostunde von Paris, war es möglich? Es gab hier Springbrunnen mit bemoosten Tritonen, Grotten aus Muscheln, einen Irrgarten aus Taxushecken, von Rosen umwachsene Statuen, wie Esther sie bisher nur auf alten Kupferstichen gesehen hatte. Man speiste auf einer Terrasse, die den Blick über den verwunschenen Park erlaubte. An Stelle des elektrischen Lichtes leuchteten Kerzen in alten silbernen Leuchtern. Esther war zufrieden. Welche Ruhe! Der Nachthimmel wölbte sich blau wie alte Kirchenfenster, große, geschliffene Edelsteine blitzten am Firmament. Aus dem Park trieb in spürbaren Wellen ein betäubender Geruch von Flieder und Rosen. Sie speisten eine volle Stunde, der Wirt hatte seine ganze Kunst aufgeboten, und sie hatten keine Eile. Dann schlenderten sie durch den Park. Esther blieb stehen und sog langsam die Luft ein.

„Es ist in Wahrheit zauberhaft schön hier,“ sagte sie, und zum ersten Male hörte Wenzel in ihrer Stimme einen weichen, schwärmerischen Klang.

Sie besuchten den Brunnen mit den bemoosten Tritonen, die umwachsenen Statuen, und sogar in den Irrgarten aus Taxushecken wagte sich Esther, obwohl es drinnen ganz dunkel war. Sie verirrten sich wirklich, und es dauerte eine geraume Weile, bis sie unter Scherzen und Lachen den Rückweg fanden.

Nun schien es plötzlich für Esther genug zu sein. Die Stille bedrückte sie, die Schweigsamkeit des alten Parkes. Sie drängte zum Aufbruch.

Es zeigte sich jedoch, daß der Motor des Autos nicht in Ordnung war. Schweißtriefend lag der Chauffeur unter dem Wagen. Er versicherte, den Mangel spätestens in einer halben Stunde zu beheben.

„Oh, wie unangenehm!“ rief Esther ärgerlich, und augenblicklich wandte sie sich in herrischem Ton an den Wirt und verlangte einen Wagen. Der Wirt hatte einen Wagen, gewiß, aber er deutete an, daß die Herrschaften mit diesem Wagen nach Paris wohl vier Stunden fahren würden.

Esther runzelte die Stirn. „So telephonieren Sie nach einem Auto. Es muß sich doch ein Auto finden lassen? Ich habe Baron Blau versprochen, mit ihm nach dem Theater die Schokolade zu nehmen.“

Wenzel lächelte. „Telephonieren Sie in das Hotel,“ sagte er.

„Sie sind abscheulich,“ erwiderte Esther verletzt. Sie schwieg eine Weile, während sie in dem dunklen Park hin und her ging. Plötzlich schien es ihr, als ob sie Wenzel im Dunkeln lachen höre.

„Sie lachen?“ fragte sie verwundert.

Wenzel trat näher und berührte vertraulich ihren Arm. „Ich lache über Sie, Esther Weatherleigh,“ sagte er, „ich muß lachen, weil Sie so ärgerlich sind, ein paar Stunden von Paris fern bleiben zu müssen. Das Auto ist natürlich völlig in Ordnung. Ich habe den Chauffeur nur beauftragt, diese kleine Komödie zu spielen.“

Esther blieb stehen. Im Dunkeln stand sie schmal wie eine Statue vor Erstaunen. „Und was bezwecken Sie damit?“ fragte sie – oh, nun war sie wirklich schlechter Laune – und die Statue schien noch schmaler und steifer zu werden.

Lächelnd und etwas spöttisch erwiderte Wenzel: „Spielen Sie nicht die gekränkte Göttin, ich beschwöre Sie. Sie sehen ja, daß ich das Komplott sofort selbst aufdeckte, als ich sah, daß es Ihnen kein Vergnügen macht, länger hier zu bleiben. Ich will Ihnen auch ganz offen gestehen, was ich mit dieser kleinen Komödie bezweckte. Sie sind in Paris immer von einem Schwarm von Menschen umgeben, und selbst, wenn wir allein ausgehen, befinden wir uns inmitten von Menschen. Ich hatte schon lange den Plan, Sie in dieses stille Hotel, das ich durch Zufall entdeckte, zu verschleppen, um mit Ihnen ruhig über gewisse Dinge sprechen zu können.“

Esther ging weiter. „Welche Dinge wollen Sie denn mit mir besprechen?“ fragte sie mit gemachtem Erstaunen. Als ob sie gar nicht ahnen könne, um welche Dinge es sich handeln könnte.

„Es ist eine sehr einfache Sache,“ fuhr Wenzel fort, etwas unsicher und tastend. „Da ist dieser Baron Blau, und da ist dieser Major Fairfax, und ...“

„Und da sind noch andere,“ unterbrach ihn Esther.

Wenzel sah in der matten Dunkelheit des Parkes, daß ihre Zähne blitzten.

„Nun gut, und noch andere. Und da bin ich. Ich habe keineswegs Lust, die lächerliche Rolle eines Barons Blau oder eines anderen zu spielen, Esther Weatherleigh!“

Und wieder blieb Esther vor Erstaunen stehen und wurde zu einer schmalen, steifen Statue.

„Ich wollte mit Ihnen über diese Dinge ausführlich sprechen, aber es ist vielleicht besser, wenn wir wenig Worte machen. Sie sollen sich entscheiden, Esther Weatherleigh. Entweder ich oder einer der andern!“

Esther lachte. Dieses Lachen war frivol, hochmütig und verletzend. Augenblicklich verlor Wenzel die Besinnung. Viele Monate lang hatte er sich dieser Frau gegenüber beherrscht, und oft war es ihm nicht leicht gewesen. Dieses Lachen aber brachte ihn außer sich.

„Sie sollen nicht lachen über diese Frage!“ rief er, viel zu laut für einen Gentleman, und trat auf die Statue zu und faßte sie an den Schultern. Ihre nackten Arme fühlten sich wie Eis an in seinen Händen, wie Eis, das brannte. „Ich habe diese Frage nie an eine Frau mit solcher Aufrichtigkeit gerichtet.“

„Sie tun mir weh,“ sagte Esther leise, indem sie den Kopf senkte. „Oh, wie verwegen Sie sind! Ich hasse Entschlüsse. Ich hasse vor allem rasche Entschlüsse. Sie wissen sehr wohl, daß Sie mir nicht gleichgültig sind, Wenzel, aber ich liebe Sie nicht. Sie verlangen zuviel. Ich glaube nicht, daß ich aufrichtig lieben kann.“

Darauf Wenzel: „Ich verlange ja gar nicht, daß Sie mich lieben. Ich verlange nur, daß Sie meine Frau werden.“

„Das ist mir zu wenig,“ antwortete Esther.

„Dann werden Sie meine Geliebte!“

„Das ist mir zuviel,“ entgegnete Esther mit einem Lächeln. „Aber,“ fuhr sie zögernd fort, „vielleicht läßt sich darüber sprechen, Wenzel Schellenberg. Ohne Bedingungen, hören Sie. Wir wollen dem Himmel die Entscheidung überlassen. Gehen wir diese Allee hinunter. Fällt eine Sternschnuppe, so haben Sie gewonnen, fällt keine Sternschnuppe, so versprechen Sie mir, nie wieder auf diese Dinge zurückzukommen. Gilt das?“

„Es gilt!“

Sie gingen durch die Allee, die hellen Gesichter zum Firmament gerichtet. Kaum aber waren sie zehn Schritte gegangen, als ein leuchtendes Meteor über das Firmament zog.

Esther stieß einen Schrei aus und griff mit der Hand nach Wenzel. „Sie haben gewonnen, Wenzel!“ rief sie und lachte.

12

Da bist du ja wieder,“ sagte Jenny Florian freudig lächelnd und schmiegte den zarten Arm sanft um Wenzels Nacken. Ihre Augen strahlten von einer tiefen und milden Freude.

Der Klang ihrer weichen, gütigen Stimme, die zärtlich gesprochenen Vokale griffen an Wenzels Herz. Seit langer Zeit hatte er diese schöne Stimme nicht mehr vernommen.

„Da bin ich wieder, mein Liebling,“ erwiderte er laut, mit etwas gemachter Lustigkeit, um die Bewegung zu verbergen, die ihn ergriffen hatte, als er Jenny, zarter, etwas schmaler im Gesicht, eilig die Treppe herabkommen sah. Auch nicht der leiseste Vorwurf stand in ihren Augen. Er küßte sie herzhaft auf den Mund.

Jenny geleitete ihn in das Haus. Überall Blumen, er sollte sehen, daß sie sich auf seine Rückkehr gefreut hatte.

Ja, nun war also Wenzel wieder in Berlin, und es sah ganz so aus, als habe sich unterdessen nicht das mindeste ereignet und solle alles bleiben wie früher.

Wenzel verbrachte fast alle Abende mit ihr, was er früher nicht getan hatte. Sie besuchten Gesellschaften, Theater, Rennen, zumeist aber speisten sie in Jennys Haus. Wenzel war herzlich, voll Interesse für alles, was Jenny betraf, ein guter Kamerad und Freund. Sie beobachtete jedoch häufig eine sonderbare Zerstreutheit an ihm, die sie früher nie bemerkt hatte. Oft stand Wenzel auf, um nachdenklich und unruhig im Zimmer hin- und herzugehen.

„Woran denkst du?“ fragte sie.

Wenzel schüttelte den Kopf. Er gab ihr auf diese Frage keine Antwort.

Jenny hatte von seinen Beziehungen zu Esther Weatherleigh gehört, natürlich. Sie wußte, daß ihn diese Frau mehr als andere beschäftigte, aber es ging doch wohl nicht an, seine Unruhe auf diese Frau zurückzuführen. „Hast du Sorgen?“ fragte Jenny schmeichelnd.

Wenzel schüttelte den Kopf. Er hatte keine Sorgen.

„Aber vielleicht hast du doch Sorgen,“ drängte Jenny weiter. „Ich verstehe nichts von Geschäften und möchte mit dir auch nicht über Geschäfte sprechen. Aber vielleicht hast du geschäftliche Sorgen? Man sprach in Berlin davon, daß du große Verluste in einer Francsspekulation erlitten hast.“

Wenzel lachte laut auf, gutmütig und belustigt. „Wie lächerlich klein ist diese Welt!“ rief er aus. „Ich habe in der Tat anfangs einen tüchtigen Lappen Haut hängen lassen. Ich habe dir von einem Bekannten erzählt, einem Baron Blau, einem Bankier. Nun, ich war töricht genug, auf seine Ratschläge zu hören. Er behauptete, der Franc würde gestützt werden und steigen. Man soll nie auf einen Bankier hören, und so habe ich eine ziemliche Summe verloren, gegen vierzigtausend Pfund. Später aber behauptete dieser Baron Blau, der Franc würde fallen, und diesmal handelte ich seinem Rate entgegen und habe meine Verluste mehr als wettgemacht. Das ist die ganze Sache meiner Francsspekulation.“

Nach einer Woche war Wenzel plötzlich wieder abgereist. Er sandte Jenny Blumen und einen Gruß. Geschäfte! Drei Tage später kam er wieder zurück. Er blieb zwei Tage und flog nach London. In diesen Monaten war Wenzel fast ununterbrochen in D-Zügen und Flugzeugen unterwegs: Paris, London, Trouville, Ostende. Je länger diese ununterbrochenen Reisen währten, desto größer wurde Wenzels Unruhe. Jenny konnte es deutlich von Monat zu Monat beobachten. Was früher fast nie vorkam, ereignete sich jetzt häufig: Wenzel war schlechter Laune! Wenzel, der immer behauptete: Nur dumme Menschen können schlecht gelaunt sein. Wenn Wenzel früher ärgerlich war, so gab es irgendeine, oft heftige Explosion, eine Eruption von Zorn und Galle, und einige Minuten später hatte er seinen früheren Gleichmut wiedergefunden. Anders jetzt. Er saß mit verdüstertem Gesicht und schwieg.

Jenny berichtete ihm, um ihn zu zerstreuen, von ihrer Arbeit. Oh, sie arbeitete, doppelt eifrig, seit Wenzel fast immer abwesend war. Sie übte, schulte, lernte, studierte, beobachtete. Ihr letzter Film, „Der Roman einer Tänzerin“, hatte einen sensationellen Erfolg gehabt. Er ging um die ganze Erde. Man machte ihr verführerische Angebote, aber schon hatte Jenny ihr Ziel weiter gesteckt. Sie wollte zur Bühne gehen und nur noch zuweilen filmen. Wenzel hatte ein Theaterunternehmen finanziert und als Gegenleistung Jennys Engagement gefordert. Im Herbst sollte sie zum ersten Male auftreten, und man tat alles, um das Debüt zu einem Erfolg zu gestalten. Jenny erzählte von den Proben.

Wenzel hörte kaum zu. Er deutete an, daß seine Scheidungsangelegenheit ihm großen Verdruß bereite. Eines Abends aber kam er in strahlender Laune zu Jenny, nachdem er zwei Stunden vorher abgesagt hatte. Er brachte einen riesigen Korb erlesener Leckerbissen mit. Das Auto war buchstäblich bis zum Rand mit Blumen angefüllt.

„Laß deine besten Weine auftischen, Jenny!“ rief er, in jenem übermütigen Ton, den Jenny so gut von früher her kannte. „Wir wollen tafeln. Endlich hat diese unleidige Scheidungsgeschichte ein Ende gefunden.“

Fröhlich und beglückt gab Jenny ihre Befehle.

In der Tat hatte Lise an diesem Tage kapituliert. Wenzel bat am Vormittag den Anwalt Vollmond zu sich und erklärte ihm ohne alle Umstände: „Lise Schellenberg ist von der Reise zurückgekehrt. Sie werden dieses Zimmer nicht verlassen, bevor Sie die Angelegenheit nicht in Ordnung gebracht haben. Meine Geduld ist jetzt zu Ende. Hier ist das Telephon, fangen Sie an.“

Vollmond tat beleidigt, lächelte sauer, ging aber trotzdem ans Telephon. Und nun wollte er seine ganze Kunst beweisen, während Wenzel mit dem finsteren Blick und starren Nacken eines Tyrannen dasaß, der seinen Willen durchsetzen will, und gehe die Welt dabei in Scherben.

Vollmond begann mit einer liebenswürdig vorgebrachten Entschuldigung, daß er es nochmals wage, Frau Schellenberg zu stören. Er spreche jedoch weniger als der Anwalt ihres Ehemannes, er spreche vielmehr als Lises Freund, dem ihr Schicksal und das Schicksal der beiden Kinder am Herzen liege. Er rechne natürlich auf ihre Diskretion! Er berichtete also, daß Herr Schellenberg eine Klage einreichen wolle, Herbeiführung eines Gerichtsbeschlusses zur sofortigen Herausgabe der Kinder.

„Gnädige Frau!“ Der Anwalt sprach, wie gesagt, als Freund, aber schon wurde er etwas deutlicher. Er setzte ihr auseinander, daß das Gericht ohne allen Zweifel, sie könne alle Anwälte der Welt fragen, sie für den schuldigen Teil erklären würde und daß sie dann nicht einmal Anspruch auf einen roten Heller erheben könne. Herr Schellenberg habe ihm als letzten Termin den heutigen Abend, und zwar Punkt sechs Uhr genannt. Eine Minute nach sechs Uhr werde die Klage abgehen. Heute abend reise Herr Schellenberg auf vier Wochen von Berlin weg, und unterdessen werde sich das Schicksal erfüllen.

Wieder erging sich Vollmond in Freundschaftsbeteuerungen. Dann versicherte er ehrenwörtlich, daß Herrn Schellenbergs letzte Bedingungen die seien: Er biete zwei Millionen Abfindung und eine Rente von fünfzigtausend Mark jährlich. Bis heute Abend sechs Uhr. Er werde in einer halben Stunde wieder anrufen, und er hoffe auf ihre bestimmte Zusage. „Nach sechs Uhr, sechs Uhr eine Minute, gnädige Frau, keinen roten Heller.“

Dann telephonierte Vollmond – Wenzels Gesicht war immer finsterer geworden – mit dem Justizrat Davidsohn. Er beschwor den verehrten Kollegen, bei seiner Klientin seinen ganzen Einfluß geltend zu machen. Der Fall sei hoffnungslos. In einer halben Stunde werde Herr Schellenberg abreisen, und dann sei es zu Ende.

Hierauf rief er wiederum bei Lise an. Wenzel hörte Lises erregte Stimme im Apparat. Vollmond war die Liebenswürdigkeit selbst, er verbeugte sich sogar am Apparat. Dann spannten sich seine Gesichtszüge, und endlich sagte er: „Ich werde in fünfzehn Minuten bei Justizrat Davidsohn zu Ihrer Verfügung sein, gnädige Frau. Sie sagen drei Millionen? Ich bin nahezu sicher, daß Herr Schellenberg diese Forderung zurückweisen wird, aber ich bürge mit meinem Ehrenwort, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht.“ Vollmond war vor Erregung blaß geworden.

Auf diese Weise hatte Lise kapituliert. Noch am selben Abend erzählte sie bleich und verstört allen ihren Bekannten, daß Wenzel sie mit einem Butterbrot abgefunden habe, aber man habe ihr gedroht, die Kinder morgen durch die Polizei wegnehmen zu lassen. Und alle Freunde Lises erklärten Wenzel Schellenberg für den brutalsten Schurken Berlins.

13

Wenzel hatte den Familienschmuck eines früheren regierenden herzoglichen Hauses gekauft, eine wunderbare Goldschmiedearbeit italienischen Ursprungs, Perlen, Diamanten und Smaragden. Sein Einkäufer für Antiquitäten hatte die Kostbarkeit entdeckt. Wenzel brachte den Schmuck nach Paris und machte ihn Esther zum Geschenk. Es war ein Schmuck, der selbst die verwöhnte Tochter des alten Raucheisen entzückte. Baron Blaus Gesicht zuckte an diesem Abend nervös, und der Chef des Speisesaals war kaum imstande, ihm ein Täßchen Hühnerbrühe einzuflößen.

Als der alte Raucheisen von Esther die Nachricht erhielt, daß sie beabsichtige, sich mit Wenzel Schellenberg zu verheiraten, saß er bleich und still wie ein Leichnam. Sein ganzes Lebenswerk, seine Zechen, Kokereien, Walzwerke, Hochöfen, Fabriken, Schiffe, sah er vor seinen Augen in den Abgrund versinken.

„Dieser Abenteurer!“ keuchte er leise. Es gab kein Wort für Raucheisen, das eine größere Verachtung ausgedrückt hätte. Er streckte die totenbleiche Hand aus, um zu klingeln. Aber er beobachtete, daß sein Finger zu schwach war, um die Klingel herabzudrücken. Erst nach einer Weile gelang es ihm. Am Abend speiste der Sachverwalter seines Hauses, Justizrat Barenthin, bei ihm. Vor dem alten Freunde hatte Raucheisen keine Geheimnisse. Barenthin versprach, seine Fühler vorsichtig auszustrecken. Er reiste nach Paris, wo es ihm gelang, eine Aussprache mit Wenzel zu haben. Er war glücklich, Raucheisen die Mitteilung überbringen zu können, daß Wenzel Schellenberg auf einer Gütertrennung der beiden Ehegatten bestehe.

Der alte Raucheisen atmete auf. Die Ehe wird ein, zwei Jahre währen, sagte er sich. Ich kenne Schellenberg, und ich kenne meine Tochter. Aber den Gedanken, daß Lady Weatherleigh, geborene Esther Raucheisen, einen „Abenteurer“ heiratete, würde er nie verwinden können. Das fühlte er.

14

Wenzel ist seit acht Tagen in Berlin?“ Erstaunt und ungläubig sah Jenny Stobwasser an.

Ja, seit acht Tagen sei Schellenberg bereits wieder hier. Und Stobwasser berichtete, daß in der letzten Zeit fieberhaft in der Villa im Grunewald gearbeitet werde, um das Haus bis auf die letzte Leiste und den letzten Beschlag fertig zu machen.

„Er war lange verreist, er wird zu beschäftigt sein,“ versuchte Jenny Wenzel zu entschuldigen.

Aber als sie allein war, fragte sie sich betrübt und erregt: Weshalb kommt er nicht zu mir? Weshalb ruft er nicht an? Sie hatte natürlich von Wenzels beabsichtigter Heirat gehört. Es war nicht leicht für sie, dieser Gedanke bedrückte, dieser Gedanke verdunkelte, aber es mußte sein, wenn es ihm Freude machte, diese verwöhnte Frau zu heiraten. Weshalb nicht? Was kümmerte es sie? Wenn er nur der gute Kamerad blieb, der er bisher gewesen war. Mehr wollte sie nicht.

Wenzel reiste wieder ab, er kam wieder zurück. Sie hörte nichts von ihm. Eines Tages aber, es ging schon auf den Herbst, überbrachte der kleine Stolpe einen Brief von Wenzels Hand, den er nur gegen Quittung aushändigen durfte.

Welche Feierlichkeit, welche Formalität, dachte Jenny erbleichend. Sie war eben zum Ausgehen fertig, der Wagen wartete vor der Tür, um sie ins Theater zur Probe zu bringen. Die Premiere war schon angesagt, in acht Tagen sollte sie zum ersten Male auftreten.

Jenny zog die Handschuhe wieder aus und öffnete zaghaft den Brief. „Weshalb zittert meine Hand so?“ schrie sie. Sie überflog das Schreiben. Wieder wich das Blut aus ihrem Gesicht. Dann legte sie Wenzels Brief zur Seite, gab den Auftrag, das Auto wieder in die Garage zu bringen, und ließ beim Theater die Probe absagen wegen einer plötzlichen Unpäßlichkeit. Dann nahm sie den Hut ab, zog den Mantel aus und begann in ihren Räumen auf und ab zu gehen, immer hin und her. Es wurde drei Uhr. Der Tisch war gedeckt, aber Jenny schüttelte nur den Kopf. Sie unterbrach ihre Wanderung nicht. Um sechs Uhr übergab man ihr die Karte von Hauptmann Mackentin. Ach ja, in Wenzels Schreiben war ja davon die Rede, daß Hauptmann Mackentin um sechs Uhr bei ihr vorsprechen werde, um „alles Weitere“ mit ihr zu ordnen. Jenny legte die Karte weg, winkte mit der Hand ab und setzte ihre Wanderung fort.

Es wurde dunkel. Im Speisezimmer flammte das Licht auf. Das Abendessen war serviert, aber Jenny schüttelte wiederum nur den Kopf, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen. Es war schon tief in der Nacht, als sie sich auskleidete. Sie hüllte sich in ein weiches, seidenes Hauskleid, und wieder ging sie hin und her. Der Tag begann zu grauen, und plötzlich sah sie wieder Wenzels Brief im Dämmerlicht auf dem Tisch liegen. Da setzte sie sich auf einen Stuhl und begann leise in ihre Hände zu weinen. Aber sofort stand sie wieder auf und nahm bleich und verstört ihre Wanderung wieder auf.

Die erschrockene Zofe versuchte sie zu beruhigen. Das Telephon klingelte. Hauptmann Mackentin machte einen neuen Versuch, sie zu sprechen, das Theater rief an.

„Ich komme nicht zur Probe, ich spiele nicht, ich werde nicht auftreten. Sagen Sie das!“ Und wieder ging Jenny ohne Pause hin und her.

Jenny lebte in einer Art von Betäubung. Sie kam sich selbst wie eine Fremde vor. All die schönen Dinge, die sie geliebt hatte, erschienen ihr fremd und tot. Jene beiden meterhohen chinesischen Porzellanvasen – einst standen ganze blühende Fliederbäume darin, ganze Büsche von Rosen, Gladiolen, Chrysanthemen, Astern, einst, einmal, vor langer Zeit –, sie sahen sie kalt und feindselig an. Sie wünschten abgeholt zu werden. All diese Dinge ringsum gehörten ihr, Wenzel hatte ihr alles geschenkt, das Haus, alles. Aber sie wollte es nicht haben. Sie wollte nur noch einige Tage hier unterschlüpfen, bis sie einen Entschluß fassen konnte. Dann sollte er alles, alles von ihr zurück erhalten. Sie wollte nichts von ihm.

Dieser Brief!

Ja, weshalb hatte er doch diesen Brief geschrieben? Hatte er nicht mehr als drei Minuten Zeit für sie gefunden? Weshalb war er nicht gekommen, um ihr all dies zu sagen? Weshalb diese plötzliche Fremdheit, dieser fast geschäftsmäßige Ton? War sie eine Ware, die man kaufte und zurückgab, wenn sie einem nicht mehr gefiel? Wenn er schrieb, daß er „sein Leben auf eine völlig neue Basis stellen wolle“ – störte sie ihn? „Das Weitere wird Mackentin mit dir besprechen.“ Das Weitere ...

Und wiederum nahm Jenny ihre Wanderung auf. Ich bin vergiftet, sagte sie zu sich. Dieser Brief hat mich vergiftet, ich wußte nicht, daß Worte vergiften können.

Jenny bat Stobwasser zu sich. Er war augenblicklich zur Stelle, erregt, überrascht. Seit es ihm besser ging, hatte er seine drollige alte Bohemienkleidung abgelegt und sich einen neuen Anzug gekauft. Dieser Anzug war zu weit, die grelle Krawatte saß schief, der Kragen war zu hoch und die Farbe der Strümpfe war schlecht gewählt. Er sah in der Tat noch komischer aus als früher. Alle diese Nichtigkeiten beobachtete Jenny, obwohl sie von ihrem Schmerz betäubt war.

„Lesen Sie bitte diesen Brief, Stobwasser,“ sagte sie und reichte ihm Wenzels Schreiben.

Stobwasser sah sie entsetzt an, so sehr hatte sie sich in der kurzen Zeit verändert. Sie sah bleich und durchsichtig aus wie eine Schwindsüchtige. Dann senkte er die spitze Nase über Wenzels Brief. Er schüttelte unwillig den schwarzen, wilden Haarschopf.

„Ein Geschäftsbrief!“ sagte er dann empört. „Ich hätte Schellenberg eine solche Roheit niemals zugetraut.“

„Beschimpfen Sie ihn nicht,“ entgegnete Jenny leise, die Stirn zerknittert, die Hände abwehrend erhoben. „Diese Frau hat ihm die Sinne verwirrt.“

Stobwasser machte einen schwachen Versuch sie zu trösten, aber sie hörte ihm nicht zu, antwortete nicht. Da gab er es auf. Er lud sich selbst zum Abendessen ein, um der unglücklichen Jenny Gesellschaft zu leisten. Aber Jenny rührte kaum einen Bissen an. Stobwasser plauderte, er tat, als sei nichts geschehen, erzählte tausend Kleinigkeiten, einige Anekdoten. Sein Papagei Gurru war entflohen und hatte das ganze Stadtviertel in Aufregung versetzt. Schließlich hatte ihn die Feuerwehr gefangen.

Jenny lächelte unmerklich mit schiefgezogenem Mund. Sie saß in einem Sessel, das schmale Gesicht in die blassen Hände gestützt. Um zehn Uhr verließ Stobwasser das Haus, und Jenny nahm wieder ihre Wanderung auf.

Sie schrieb an Eva Dux, mit der sie nun innig befreundet war. Aber Eva konnte erst am Sonntagnachmittag kommen und auch da nur auf eine Stunde.

„Lies diesen Brief, Eva,“ sagte Jenny.

Eva, die Schweigsame, Stille, Gesammelte, las den Brief. Dann stand sie eine lange Weile still. Sie legte ihre Hände auf Jennys Schulter, strich ihr unmerklich über das Haar und sagte: „Du mußt es tragen, Jenny, das Leben ist schwer. Denke an deine Arbeit.“

Jenny schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht tragen, sie konnte nicht arbeiten.

Eine Stunde saß Eva, ohne ein Wort zu sprechen. Sie schlürfte eine halbe Tasse Tee, dann ging sie wieder, und wiederum nahm Jenny ihre Wanderung auf. Alle Vorhänge ihrer Zimmer waren zugezogen.

Fast täglich gab Hauptmann Mackentin seine Karte bei ihr ab. Endlich ließ sie ihn eintreten, aber nur um ihm zu sagen, daß sie Herrn Schellenbergs Schenkung nicht annehmen könne und daß sie Herrn Mackentin bitte, sich nicht mehr zu bemühen. Mackentin erhob Einwendungen, er begann mit Erklärungen und Entschuldigungen, aber Jenny verabschiedete ihn mit einem kleinen Winken ihrer Hand. Mit einer tiefen Verbeugung, die seine ganze Achtung vor dem Schmerze Jennys ausdrückte, zog sich Mackentin zurück.

15

Michael Schellenberg fluchte. Er fluchte eine ganze Viertelstunde lang, und seit der Gründung der Gesellschaft Neu-Deutschland hatte ihn niemand so zornig gesehen. Es war, als ob in der letzten Zeit der Teufel los wäre.

Man hatte in den Büchern Unregelmäßigkeiten entdeckt, und schließlich war es an den Tag gekommen, daß einer der Finanzdirektoren der Gesellschaft größere Unterschlagungen begangen hatte. Es handelte sich um nahezu eine halbe Million Mark. Der Skandal! Wie die Zeitungen wieder über die Gesellschaft herfallen würden!

Und in der Tat, die Zeitungen schonten die Gesellschaft nicht. Einige Blätter wiederholten ihre Forderung, daß die Gesellschaft, die zwar in enger Fühlung mit der Regierung, aber völlig unabhängig arbeitete, endlich unter die Kontrolle der Regierung gestellt werde. Manche Zeitungen gingen so weit, zu behaupten, daß die Gelder des Reiches und der Gemeinden unzweckmäßig verwendet würden. Ein Blatt schrieb: Der Sündenlohn der arbeitenden Klasse wird in den Bars und Tanzpalästen verpraßt!

„Da haben wir es,“ rief Michael und lachte wütend. „Wir, die wir nicht einen Heller besitzen, wir, die wir unsere ganze Arbeit gemeinnützigen Zwecken widmen, wir verprassen also das Geld in Tanzlokalen und Bars. Herrlich! Wunderbar! Oh, dieser Halunke!“

Dabei hatte er gerade diesem Finanzdirektor immer das allergrößte Vertrauen entgegengebracht.

„Wie kann ein Gesicht so lügen?“

Eine Atmosphäre von Übelwollen, ja Feindseligkeit umgab Michael. Häufig mußte er in diesen Tagen an Wenzel denken, der ihm diese Feindschaft schon vor Jahren prophezeit hatte. Es gab politische Parteien in Deutschland, die von der Zerrissenheit des deutschen Volkes lebten. Ihnen war er ein Dorn im Auge. Es gab Interessengruppen, die eine Schädigung ihrer Privatinteressen befürchteten. Und in der Tat zwang Michael sie durch die Konkurrenz der Gesellschaft, ihre Arbeitsmethoden zu verbessern und sich mit geringeren Gewinnen zufriedenzugeben. Auch diesen war er ein Dorn im Auge. Die Landwirtschaft betrachtete ihn mit argwöhnischen Blicken. Man las voller Neid die Statistiken der Gärtnereien der Gesellschaft, die Statistiken der technisch betriebenen Großlandwirtschaften. Es gab Ehrgeizige, die ihm seine Erfolge nicht gönnten, Neidische, die alles besser wußten.

„Oh, dieser Halunke!“ wiederholte Michael. Und dazu kamen noch die etwas peinlichen Geschichten seines Bruders, seine Scheidung, die viel Staub aufgewirbelt hatte, und jene Sache mit dem herzoglichen Familienschmuck. Manche seiner Gegner machten ihn, so grotesk es klang, verantwortlich für die Handlungen seines Bruders. Sie deuteten an, daß das Vermögen Wenzels zum großen Teil aus Geschäften stamme, die er mit der Gesellschaft Neu-Deutschland machte.

Michael ließ der Presse eine Notiz zugehen, daß die Verluste, die die Gesellschaft durch die Unterschlagung erlitten habe, von Freunden der Gesellschaft gedeckt werden würden. Er gab sich der Hoffnung hin, daß Wenzel, der häufig eine offene Hand gezeigt hatte, ihm gefällig sein würde. Aber er täuschte sich. Wenzel gab ihm nicht einmal eine Antwort.

Es dauerte immerhin einige Wochen, ehe Michael, übermüdet und überanstrengt, sein Gleichgewicht wiedergewann. Nunmehr betrachtete er alle Angriffe ruhiger.

Mochten sie toben und ihn mit Schmutz bewerfen, sagte er sich voller Triumph, eine Tatsache war nicht zu leugnen: die Gesellschaft Neu-Deutschland wuchs von Monat zu Monat. Es gab keine Provinz, keine Landschaft, keine große und kleine Stadt, die nicht Projekte und Ziele der Gesellschaft erregt diskutiert hätte. Der Plan von Deutschlands Neuaufbau lag heute bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitet vor: die Kanäle, die die einzelnen Ströme verbinden mußten, die Schnellbahnen, die die großen Wirtschaftszentralen einander näher bringen sollten, die Schnellautostraßen, die zu schaffen waren, die Wasser- und Windkraftstationen. Es war eine ungeheure Arbeit für zehn, zwanzig, fünfzig Jahre. Aber neu und groß würde das Land erstehen, und allerorts hatte man eifrig und begeistert mit der Ausführung des Planes begonnen. Hunderttausende von jungen Männern jubelten Michael zu. Hunderttausende von freiwilligen Helfern bauten Straßen und Kanäle. Die Frauenorganisationen hatten ihm ihre Mitarbeit zur Verfügung gestellt. Es gab keinen Schmutz in den Lagern der Gesellschaft, keine Krankheiten, keine zerfetzten Hemden und zerrissenen Kleider, alles dank der Fürsorge der Frauen.

Unerschrocken ging Michael – der Devise der Gesellschaft getreu – dem Hunger und dem Elend entgegen, und überall belebte sich das erstorbene Gefühl der Kameradschaft.

Seine Reformen und seine Gedanken einer wohldurchdachten organischen Wirtschaft des Reichs hatten im Ausland Aufsehen erregt. Kommissionen kamen, das wachsende Werk zu besichtigen.

Vor einem halben Jahr etwa hatte Michael die Gesellschaft „Neu-Europa“ gegründet. Ähnliche Grundsätze, angewandt entsprechend den Bedürfnissen der einzelnen Länder Europas, sollten sämtliche europäischen Staaten reformieren. Die einzelnen Länder tauschten ihre Erfahrungen aus, ohne jede Geheimnistuerei berichtete man gegenseitig über die Fortschritte des Gartenbaues, der Landwirtschaft, des Heimstättenbaues, über neue Maschinen und Erfindungen. Zufriedene europäische Völker – war es nicht einleuchtend? – würden ein zufriedenes Europa schaffen, das es heute nicht gab. Die Zölle würden fallen, die Schranken der Grenzen würden fallen, das Paßwesen würde fallen. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Übermacht der Vereinigten Staaten von Amerika würde Europa früher oder später gezwungen werden, eine Planwirtschaft für ganz Europa einzuführen, sollte es nicht zum Sklaven des amerikanischen Kapitals werden.

War Europa erst auf diesem Punkt angelangt, nun, so waren nur noch zwei, drei Schritte zu den Vereinigten Staaten Europas! Und sie würden kommen, morgen, übermorgen ...

Unermüdlich arbeitete Michael an diesen Problemen. Bis in die späte Nacht hinein saß Eva Dux über das Stenogrammheft gebeugt.

„So wird es sein, so und nicht anders!“ schrie Michael.

Die Zeitschrift „Neu-Europa“, die er gegründet hatte, wurde in Millionen von Exemplaren in allen Sprachen verbreitet. In unzähligen Versammlungen hatte er, von Beifall umtost, gesprochen. Würden die europäischen Staaten das Geld und die Arbeitsenergien, die sie heute für ihre Armen aufbrachten, produktiven Zwecken zuwenden, so gäbe es heute schon keinen Hunger und kein Elend mehr unter den europäischen Völkern! Und ein neuer Tag würde über Europa emporsteigen.

Der Tag war nahe!

„So wird es sein und nicht anders!“ schrie Michael, und Eva Dux schrieb mit fliegenden Händen.

Viele verspotteten Michaels Optimismus. Andere bekämpften ihn mit rasendem Fanatismus. Je mehr Anhänger er gewann, desto größer wurde auch die Schar seiner Feinde.

16

Knirschend hielt das pechschwarzglänzende Auto, das neu war wie ein Nagel, der aus der Maschine fällt, auf dem breiten Kiesweg vor der Schellenbergschen Villa im Grunewald. Eine Reihe von Dienern stand auf der breiten Freitreppe, der Haushofmeister, ein würdig aussehender älterer Herr, ein früherer Regimentskommandeur, stürzte eifrig die Treppe herab zum Wagen.

Wenzel stieg aus und half Esther aus dem Coupé. Sie betrachtete aufmerksam das Palais, aber man konnte deutlich ihre Enttäuschung auf dem etwas blassen, gemalten Gesicht sehen. Sie hatte die Lippen gespitzt, während sie das Gebäude musterte. Sie hatte sich das Palais etwa gedacht wie einen herzoglichen englischen Landsitz. Besonders aber enttäuschten sie die Bäume. Oh, sie hatte riesiggroße Bäume erwartet, wie in den englischen Parks, und diese Bäume hier waren unansehnlich, unbedeutend, ohne Großartigkeit und ohne jegliche Physiognomie, neue Bäume, mit einem Wort. Dazu war es Herbst, und die meisten Bäume hatten das Laub schon abgeworfen, so daß Park und Garten einen etwas kläglichen Eindruck machten.

Die Innenausstattung des Hauses aber fand Esthers Beifall. Ihre kultivierten Sinne erkannten augenblicklich, da war Geschmack, Kostbarkeit, Pracht, alles von der Hand eines Meisters angeordnet. Nicht überladen die Räume, Farben, Formen und Einrichtung in voller Harmonie – ja, ein solches Haus konnte sich auch recht gut in England sehen lassen. Man konnte seine Freunde einladen, ohne ihre Kritik fürchten zu müssen. Sie bewunderte den Speisesaal mit den gestickten Wänden, welche Arbeit, welche Linien und Farben! Die riesige Bibliothek mit den Abertausenden von Bänden und tausend alten, kostbaren Ausgaben versetzte sie in Entzücken. Ihre Gemächer hatte Wenzel in den letzten Monaten einrichten lassen. Sie gefielen ihr. Sie war zufrieden. Das Schlafzimmer, in Lachsrot und Gold gehalten, war ein vollendetes Kunstwerk. Wenzels Architekten, Kaufherr und Stolzer, hatten ihr ganzes Können eingesetzt. Esther aber liebte Lachsrot nicht, sie wünschte die Ausführung in Bordeauxrot. Das gekachelte Schwimmbad, in das eine weiße Marmortreppe hinabführte, begeisterte sie wiederum. Vor ihrem Schlafzimmer aber sollte eine helle Glasveranda angebracht werden, mit bequemen Korbsesseln und einem Teetisch, wie in England. Und sie wünschte, daß die Wege des Gartens mit großen Steinplatten ausgelegt würden, wie sie es bei Freunden in England gesehen hatte. Verschiedene Moose und Steinpflanzen in den Ritzen.

Wenzel lachte. Er versprach, alle ihre Wünsche zu erfüllen.

Den ersten Abend speiste Esther bei ihrem Vater. Am zweiten Abend aber lud Wenzel den alten Raucheisen zu Tisch. Es war eine ganz kleine Gesellschaft. Nur Mackentin, Michael und Eva Dux waren eingeladen.

Der alte Raucheisen übersah absichtlich Glanz und Prunk des Hauses. Er warf kaum einen Blick in die Bibliothek und beachtete auch die gestickten Wände des Speisesaals nicht, obschon ihn Esther darauf aufmerksam machte. Es roch hier noch nach Lack und Farbe! In Wahrheit aber war Wenzels Palais mit weit größerem Geschmack eingerichtet als das Schloß Charlottenruh des alten Raucheisen an der Ruhr, das vollgestopft war mit Kostbarkeiten von zweifelhaftem, ja sogar schlechtem Geschmack. Da saß ein Mädchen, keine Dame, das sicherlich nicht der Gesellschaft angehörte. Sie saß still und wagte kaum die Speisen zu berühren und trug zwei falsche Perlen in den Ohren. Während des ganzen Abends vermied es der alte Raucheisen mit ungeheurer Geschicklichkeit, Eva Dux auch nur eines Blickes zu würdigen.

Esther hatte Michael noch nie gesehen, war aber durch Wenzels schwärmerische Schilderungen neugierig auf ihn geworden. Seine warmen, leuchtenden Augen gefielen ihr und die weiche Linie seines Mundes. Welche Ruhe, trotz einer gewissen Müdigkeit, die auf seinem Gesicht lagerte. Er sah Wenzel ähnlich, nur daß alle Züge etwas zarter waren. Sie unterhielt sich während des ganzen Abends fast ausschließlich mit ihm. Er war ihr sympathisch – und doch beschloß sie, seine Gesellschaft in Zukunft zu meiden, soweit es anging. Sie haßte jene Klasse von Menschen, die alles gleichmachen wollten. Gewiß würde dieser Mann, wenn er die Macht hätte, überall Kartoffeln und Getreide anbauen und Parks und Golfplätze verbieten, vielleicht auch die Blumengärten, aus deren Blüten man die Parfüms destillierte? Vielleicht war es in Zukunft nicht mehr erlaubt, sich Dienerschaft zu halten. Sie erblickte in ihm einen Feind, einen Gegner von großer Gefährlichkeit, und ihre Abneigung wuchs mit jeder Minute, die sie mit ihm heiter und klug verplauderte.

Michael zuckte über Esther die Achseln. Eine mondäne Frau, sagte er sich, verwöhnt, hoffärtig und eigenwillig. Sie ist nicht nach meinem Geschmack. Möge Wenzel mit ihr glücklich werden.

„Wie gefiel dir Esther?“ fragte er Eva.

Eva dachte lange nach, dann sagte sie: „Sie ist interessant und geistreich, aber ich könnte ihr niemals volles Vertrauen schenken.“

Schon am nächsten Tage fuhr Esther nach England zurück. Mitte Dezember sollte die Hochzeit in London stattfinden. Es war Esthers Wunsch. Sie wollte alle ihre englischen Freunde um sich sehen. Der alte Raucheisen hatte ihr versprochen, zu kommen, trotz der beschwerlichen Reise. In Wahrheit hatte er aufgeatmet: wenn die Hochzeit nur nicht in Berlin stattfand.

Wenzel gab seiner Jacht „Kleopatra“ den Auftrag, ihn vom zehnten Dezember an in Nizza zu erwarten, und die „Kleopatra“ stach sofort in See.

17

Welke Blätter klebten an den Scheiben. Der Wind blies, der Regen klatschte gegen das Haus, die Tage wurden kürzer. Immer noch waren alle Vorhänge in Jennys kleiner Villa, die so fröhlich von außen aussah, zugezogen. Immer noch wanderte Jenny wie ein Gespenst in ihren Zimmern hin und her, ohne jede Ruhe. Sie wußte kaum, ob es Tag war oder Nacht.

Heute war der letzte Oktober, der letzte Tag. Sie hatte Hauptmann Mackentin mitgeteilt, daß sie ihm das Haus vom ersten November an zur Verfügung stelle. Also war heute der letzte Tag, und heute würde es geschehen.

„Ich werde Wort halten. Ich habe ihm geschrieben, daß er morgen über das Haus verfügen könne,“ sagte Jenny zu sich. „Nun gut, ich werde nicht mehr hier sein.“

Sie hatte die Gewohnheit angenommen, laut zu sprechen, während sie durch die Zimmer ging oder müde in irgendeinem Sessel kauerte. Alles war vorbereitet. Den Chauffeur und die Zofe hatte sie schon vor einem Monat entlassen. Sie waren nur im Wege. Die Köchin würde morgen das Haus verlassen. Nur noch der Hausverwalter wohnte in seinem Gartenhaus nebenan.

Ja, heute war also der letzte Tag. Nun war er da! Sie schlüpfte in ein gelbseidenes Kimono, das sie liebte, und schritt durch die Zimmer, mit einem fernen, leisen Lächeln auf den Lippen. Nur zuweilen blieb sie stehen und starrte in die Luft. Ihre Augen waren sehr groß und hell geworden. Und sie sprach laut mit Wenzel. Sie erzählte ihm das und jenes. Sie lächelte über seine Antworten, mit etwas schiefgezogenen Lippen.

Sie sagte: „Da bist du ja wieder, mein lieber Junge.“ Oder sie sagte: „Weshalb gehst du schon? Bleibe doch noch etwas hier. Ach, diese ewigen Konferenzen!“ Und sie runzelte mit gespieltem Unmut die Stirne.

Sie sagte: „Wie töricht bist du doch, Wenzel! Wenn du diese Frau heiraten willst, so heirate sie ruhig! Ich habe nie danach gefragt, ob du mich etwa heiraten willst. Es war für mich schön, so wie es war. Eine Heirat ist doch kein Grund, daß du weggehst. Du konntest mir alles sagen, du konntest mir auch sagen, daß wir fortan nur als Freunde leben würden, auch das hätte ich begriffen, ich bin doch nicht so töricht.“

Sie sah Wenzels Gesicht deutlich vor sich, diese gebräunte Haut mit etwas großen Poren, seine Zähne, seinen derben, kräftigen Mund, seine Augen. Das Augenlid bildete nicht eine geschwungene Linie, es war eckig. Wenn man Wenzels Augen zeichnen wollte, so mußte man sie mit lauter Ecken zeichnen. Und die Augen selbst waren von einem etwas strengen, harten Grau. Auch wenn Wenzel lachte und heiter war, blieben seine Augen immer etwas hart. Das lag wohl an der Farbe.

Sie durchlebte ihr Zusammenleben mit Wenzel immer wieder. Das Feuer im Kamin von Hellbronnen, wie es prasselte und blendete! Wie sagte er doch? „Ich dulde nicht das geringste von deiner Seite, aber ich verlange völlige Freiheit für mich.“ Und sie kapitulierte, ohne jeden Widerstand. Wie ein Traum die Woche auf der Ostsee, das Gewitter. Erinnerst du dich? Wie er dich auf den Armen in die Kajüte trug, während es blitzte, und wie er sagte: „Wir wollen sehen, ob die Götter Kavaliere sind.“ Jenny lachte leise auf. Es klang wie ein leiser Schrei um Hilfe.

„Oh, was für ein wilder Junge bist du doch!“ rief sie.

Und wieder sah sie sein Gesicht vor sich, so wie sie es zuerst sah. Es war etwas Furchtbares in diesem Gesicht, das sie nur zuweilen, selten darin erblickte; dann war es wieder verschwunden. Was war es doch? Woran lag es? Es war ein gewalttätiger Zug. Vielleicht war Wenzel einer jener Menschen, die morden konnten?

Und plötzlich hörte sie die Lobeshymne des kleinen Stolpe, damals, als sie im Auto zur Oper fuhren, man gab „Figaros Hochzeit“. Erinnerst du dich? Es war ihr erstes Rendezvous, und Wenzel kam zu spät und schlief dann in der Loge ein. Was sagte Stolpe? „Er hat Format, in allem, was er tut, hat er Format,“ – sagte er das? oder sagte er „Kaliber“? Wiederum erhob sich Jenny und begann ihre Wanderung. Das lange, gelbseidene Kimono schleppte hinter ihr her. Wenzel hatte es so sehr an ihr geliebt. Er hatte es ihr aus Paris mitgebracht.

„Oder hast du dich in diese Frau so sehr verliebt, daß du eine alte Freundin nicht mehr sehen kannst? Liebst du sie so rasend? Vielleicht bist du auch in deiner Leidenschaft so maßlos wie in allen Dingen. Ich zürne dir nicht, mein Liebling. Ich begreife dich nur nicht. Den Ton deines Briefes nehme ich dir schon lange nicht mehr übel. Deine Worte waren verfälscht, im Augenblick, da du nicht aufrichtig warst wie gewöhnlich. Oh, ich muß annehmen, daß du diese Frau ohne alle Grenzen liebst.“

Verwirrt irrte Jenny hin und her. Das gelbe Kimono flammte durch die Spiegel, dann verschwand es und leuchtete wieder im Glase eines dunklen Zimmers auf.

„Ich habe geträumt,“ sagte Jenny zu sich, mit gerunzelter Stirn, nachdenklich. „Ich habe von einer giftigen Blume geträumt in der letzten Nacht. Sie war klein, ein schwefelgelber, kleiner Stern. Aber von weitem sah ich sie schon und eilte auf sie zu – und es waren so viele schöne, schlichte Blumen im Walde – aber ich sah nur die glänzende, gelbe. Was tat ich mit ihr?“ Lange stand sie nachdenklich, vergrämt, weil sie sich des Traumes nicht mehr entsann.

„Gute Nacht, mein Junge,“ sagte Jenny hierauf mit einem Lächeln, „du mußt jetzt gehen, und Jenny geht schlafen,“ und sie verschränkte die Hände hinter dem Haar und rezitierte mit einer leisen Stimme, fast als ob sie im Theater spräche:

„O gib, vom weichen Pfühle,

Träumend, ein halb Gehör!

Bei meinem Saitenspiele

Schlafe! Was willst du mehr?“

Zweimal wiederholte sie die Verse, das letzte Mal mit einer leisen, wimmernden, hilfeflehenden Stimme. Dann rief sie: „Gute Nacht, Wenzel!“ und ging in das Badezimmer.

Dieses Badezimmer war kreisförmig gebaut, aus korallenrotem Marmor. Das Bassin war versenkt, es führten zwei Stufen hinunter. In Nischen standen Waschtische, und in einer Nische stand eine Bank.

Jenny ließ das heiße Wasser einlaufen, dann wandte sie sich um und blickte zur Nische.

„Da bist du ja wieder, Wenzel,“ sagte sie leise lachend. Ja, da saß er! Wie oft saß er auf dieser Bank und sah zu, wie sie badete. Überall im Hause war er, man konnte gehen, wohin man wollte. Diesen Raum hatte er am meisten geliebt, die weiche Beleuchtung, sie behagte seinen Augen. Das Licht fiel durch Schalen an der Decke, dünn und zart wie die Blätter einer Rose.

Jenny legte das Gewand ab und stieg in das Bassin. „Sieh nur zu, Wenzel,“ sagte sie gegen die Nische. Dann saß sie eine Weile still, und wieder sprach sie, aber diesmal ganz leise.

„Schlafe! Was willst du mehr?“

Dann sagte sie, wiederum zur Nische gewandt: „Nun sieh zu, wie ich schlafen gehe, Wenzel.“

Sie entnahm einem Etui ein kleines silbernes Rasiermesser und zeigte es Wenzel. „Siehst du das?“ fragte sie. Das Messer blitzte im Licht, und schon hatte Jenny sich mit einem schnellen Ruck die Pulsader der linken Hand durchschnitten. Nun floß das Blut, und sie zeigte es ihm triumphierend.

„Siehst du nun, das ist Jennys Blut?“ sagte sie, fiebrisch lächelnd, und ihre Augen waren sehr groß. Die Wunde schmerzte. Sie neigte den Arm ins Wasser, und das Blut quoll. Wie ein roter Rauch bewegte es sich im Wasser. Bald sah man ihre Hand nicht mehr, und nun verdeckte der rote Rauch ihren Schoß. Sie bewegte sich, und das Wasser des Bassins war nun genau so rot wie das Zimmer. Nun schloß sie die Augen und lag lange still. Plötzlich aber erschrak sie. Irgend etwas krachte. Es war plötzlich ein so lautes Krachen in ihren Ohren gewesen. Sie erwachte.

„Was ist? Was tue ich?“ sagte sie. „Weshalb tue ich es? O Gott, nein, ich will es nicht tun.“

Sie richtete sich auf und berührte die Klingel. „Aber es ist ja niemand im Hause,“ sagte sie hastig zu sich, und nun erschrak sie plötzlich vor der Leere des Hauses. Sie versuchte aus dem Bassin zu steigen. Zweimal fiel sie auf die Treppe zurück, so sehr zitterten ihre Glieder. Endlich gelang es. Da stand sie mitten im Badezimmer und preßte die Hand um den verletzten Arm und versuchte vorwärtszugehen, aber sie taumelte furchtbar.

„So hilf mir doch, Wenzel!“ schrie sie laut und stürzte zu Boden. „Hilf mir doch, bevor es zu spät ist. Ich will es nicht tun!“

Und da kamen auch schon Schritte. Da kam schon Wenzel. Er nahm sie auf den Arm und trug sie davon wie seinerzeit, als die Blitze um das Schiff fuhren. Oder nein, war es nicht Wenzel? War es Michael? Es war Michael, der sie dahintrug! Und weshalb lief er so schnell?

Da schwand ihr das Bewußtsein.

18

Es meldet sich niemand, sagte Hauptmann Mackentin, ungeduldig und nervös, und klingelte erneut bei Jenny Florian an. Er wollte ihr kurz mitteilen, daß er auch nicht die geringste Vollmacht habe, das Haus für Herrn Schellenberg zurückzunehmen. Sie möge darüber nach Gutdünken verfügen. Für den Fall aber, daß sie zu verreisen gedenke, sei es ihm natürlich eine Freude, das Haus während ihrer Abwesenheit zu verwalten.

Abermals meldete sich niemand auf den Anruf! Nunmehr verlangte Mackentin den Hausverwalter. Eine Viertelstunde später, während er gequält und von bösen Ahnungen gepeinigt an den Nägeln zupfte, wußte er alles.

Mackentin hatte den Auftrag, in etwa drei bis vier Tagen zur Berichterstattung nach London zu kommen. Er nahm indessen schon am nächsten Vormittag das Londoner Postflugzeug und kam nach einer stürmischen Fahrt gegen Abend in London an. Er meldete sich bei Wenzel und wurde augenblicklich vorgelassen.

Wenzel war eben dabei, sich für den Abend fertigzumachen. Er lag in einem Sessel, die langen Beine behaglich von sich gestreckt, und ließ sich vom Barbier rasieren, während ein junges, zartes Mädchen seine Hände manikürte. Das Zimmer roch intensiv nach Essenzen und Parfüms. Ein feuchtes Handtuch war zum Glätten der Haare wie ein Turban um Wenzels Kopf gebunden.

Mit einer Verbeugung trat Mackentin ein. „Melde mich ergebenst zum Vortrag,“ sagte er, bemüht, seiner Stimme einen alltäglichen Klang zu geben.

Wenzel winkte mit der Hand und nickte ihm durch den Spiegel zu. „Ich habe Sie erst übermorgen erwartet, Mackentin. Sie sehen ja so bleich aus. Nehmen Sie Platz, ich bin sofort zu Ihrer Verfügung.“

„Die Fahrt war schlecht, ich wurde seekrank,“ erwiderte Mackentin und nahm Platz.

Die Maniküre verschwand, dann verabschiedete sich auch der Friseur.

Wenzel schüttelte die langen Beine und erhob sich aus dem Sessel, um Mackentin zu begrüßen. Aber schon beim ersten Blick in Mackentins Gesicht erkannte er deutlich, daß irgend etwas Besonderes vorgefallen sein mußte. Mackentins Nase schien noch schiefer zu stehen als gewöhnlich.

„Hat es einen besonderen Grund, daß Sie zwei Tage früher gekommen sind?“ fragte er, seine Unruhe verbergend, und seine Haltung wurde straffer.

„Leider eine sehr traurige Ursache,“ entgegnete Mackentin. Und er berichtete, kurz, mit militärischer Sachlichkeit und Knappheit. Diesen militärischen Ton pflegte er stets zu wählen, wenn er völlig ratlos war.

Wenzels Gesicht kam immer näher. Es war grau wie Erde geworden. Seine blendenden Augen wurden größer, es sah ganz so aus, als ob er sich auf Mackentin stürzen wolle. Dann öffnete sich der verzerrte Mund, die Lippen rangen nach Luft, und das erdgraue Gesicht entfernte sich wieder. Als Mackentin nach einer Weile aufzublicken wagte, sah er Wenzel, die Fäuste auf den Knien, in demselben Sessel sitzen, in dem er vorhin rasiert wurde. Seine Schultern hoben und senkten sich. Endlich stand er tief aufatmend auf und ging im Zimmer hin und her, langsam, den starren Blick zu Boden geheftet.

Das Telephon klingelte. Wenzel runzelte heftig die Stirn, und es sah aus, als ob er in diesem Augenblick das Telephon und noch ganz andere Dinge verfluche. Dann aber sprach er mit ruhiger, nur etwas heiserer Stimme in den Apparat hinein. Er werde in fünf Minuten bereit sein. Mackentin hatte deutlich Esthers lebhafte Stimme im Apparat gehört. Wenzel vollendete langsam seine Abendtoilette, immer noch die Stirn gerunzelt. Er schien nicht die geringste Eile zu haben. Er schlüpfte in die Weste, band die Krawatte und zog den Frack über. In diesem neumodisch geschnittenen Frack eines Londoner Ateliers erschienen seine Schultern noch um vieles breiter als gewöhnlich. Sein Gesicht war so grau, als sei es mit Straßenstaub bestäubt.

Ein Diener legte ihm den Umhang um und reichte ihm Handschuhe und Zylinder.

Wenzel drückte Mackentins Hand. Es war ein fester, harter Druck, wochenlang spürte ihn Mackentin. „Ich danke Ihnen, lieber Freund!“ sagte Wenzel. „Heute nacht um ein Uhr erwarten Sie mich hier.“

„Sehr wohl.“

Und Wenzel ging. Er speiste an diesem Abend mit Esther bei Sir Alfred Thomson, dem Onkel Esthers. Es war eine große, blendende Gesellschaft. Fast die ganze englische Verwandtschaft Esthers und alle ihre Londoner Freunde waren zugegen. Anfangs sah das Gesicht Wenzels immer noch aus, als sei es mit grauem Straßenstaub bestäubt. Aber als er sich erst eine halbe Stunde unter den Gästen Sir Alfreds bewegt hatte, nahm es seine natürliche braune Farbe wieder an. Aber der Blick in seinen Augen blieb starr. Er lächelte sogar einigemal, dabei zuckten seine Lippen sonderbar. Er trank viel Wein, ohne daß man es ihm anmerkte.

Gegen zwei Uhr kam er ins Hotel zurück. Er warf den Frack ab und setzte sich in Hemdärmeln an den Schreibtisch.

„Und nun lassen Sie sehen, Mackentin,“ sagte er, und diktierte bis vier Uhr morgens Briefe.

„Leben Sie wohl, lieber Mackentin, ich werde Ihnen diesen Freundschaftsdienst nie vergessen!“ sagte er zum Abschied zu Mackentin. „Es hat mich tief getroffen. Glauben Sie es mir, es war der furchtbarste Abend meines Lebens. Sie war ein gütiges und in vielen Beziehungen seltenes Wesen. Es ist schade um sie. Aber ich habe keine Schuld, Mackentin! Ich habe sie nie belogen, ich war stets aufrichtig zu ihr. Sie war zu zerbrechlich geschaffen für dieses Leben. Sie mußte zerbrechen. Was kann ich dafür? Gute Nacht!“ –

19

Esther war in diesen Wochen in großer Erregung, überreizt und oft wirklich schlecht gelaunt. Sie hatte die Robe für die Trauung, die Reisekleider, die Wäsche bei einer ersten Firma in Paris in Auftrag gegeben. Aber nichts stimmte, sie waren da drüben nicht einmal imstande, ein Knopfloch richtig zu nähen. Dazu ging es nicht vorwärts, obschon sie in jeder Woche einige Boten nach Paris jagte. Schon jetzt sah Esther ein, daß die Hochzeit um einen Monat verschoben werden mußte. Es ging nicht anders.

Nun, schließlich, um ganz offen zu sein, hatte sie ja eigentlich gar keine Eile. Diese Heirat, wozu eigentlich? fragte sie sich hundertmal in jenen Tagen, da sie in schlechtester Laune war. Natürlich konnte sie jetzt nicht mehr zurück, nachdem sie ihre Wiederverheiratung all ihren Verwandten und Freunden bekanntgegeben hatte. Sie mußte wohl oder übel konsequent bleiben, aber –.

Mitte Januar wurde die Hochzeit mit großem Aufwand gefeiert. Klein, mit eingefallenen Zügen, fahlen Lippen und krankem Blick saß der alte Raucheisen bei der Tafel. Er sprach fast kein Wort. Zuweilen fröstelte er, und frühzeitig zog er sich, aschfahl vor Schwäche, zurück.

Michael ist nicht gekommen, dachte Wenzel während des ganzen Tages, und immer kehrte dieser Gedanke wieder. Alle andern hätte er entbehren können. Er empfand Michaels Absage als Kränkung, mehr als das, als eine Abkehr Michaels von ihm. Was sollten ihm diese Major Fairfax, Baron Blau und die andern? Ihre rasierten, gepflegten, gepuderten, leeren Gesichter langweilten ihn.

Am späten Abend begaben sich die Neuvermählten mit dem Nachtschnellzug nach Paris. Hier nahmen sie den Rivieraexpreß. Auf der Reede von Nizza lag in der hellen Sonne, schneeweiß und berückend schön, die „Kleopatra.“ Wenzel hatte die Jacht völlig überholen lassen. Das Boot, das die beiden an Bord brachte, war mit weißen Rosen geschmückt, ebenso das Fallreep. Die Matrosen standen in Gala, lustig flatterten die bunten Wimpel der Jacht. Wie eine Fürstin stieg Esther an Bord, fröhlich und heiter wie ein Kind, das mit naiver Selbstverständlichkeit alles entgegennimmt, was man ihm bietet.

Eine warme Brise blies vom Lande her, und mit dem Wind zog die Jacht in die glitzernde Bai hinaus. Erst jetzt bemerkte Esther, daß Wenzel den Namen der Jacht geändert hatte. Überall, wo man früher „Kleopatra“ las, stand jetzt der Name „Esther Schellenberg“. Diese Aufmerksamkeit entzückte sie. Ja, fast war sie in diesem Augenblick glücklich.

Die Jacht ging nach Süden. Sie suchte die Sonne. In Korsika und Sardinien war es noch zu kalt. Die Jacht ging nach Sizilien, von da nach Ägypten. Hier war die Sonne, und hier lag sie vierzehn Tage. Dann nahm sie wieder nördlichen Kurs. Sie lief Zypern an, dann Kreta und die griechischen Inseln. In Ragusa machte man längere Station. Hier war es schon heiß. Die Glyzinen blühten, die Orangenblüten dufteten, die Palmen setzten ihre dottergelben, fetten Blütentrauben an, und schon trieben die Agaven ihre armdicken Blütenstengel aus den stachligen Riesenleibern. Das Meer blendete, die verkarsteten Berge glühten in der Sonne. Es war eine frohe und glückliche Woche an Bord.

Schon aber trafen Stöße von Telegrammen an Esther ein, und sie gab den Befehl zur Abfahrt. Die Jacht nahm direkten Kurs auf Venedig. Hier, am Lido, wollte Esther einige Wochen verbringen, bis es Frühling wurde in Deutschland.

In Venedig traf sie schon wieder ihre alten Freunde. Baron Blau kam aus Paris, um ihr die Hand zu küssen, Major Fairfax streckte seinen braunen hageren Körper im Sande. Es kamen englische und französische Freunde in ganzen Scharen, und Esther war wieder in ihrem Element. Sie hatte sich von einem Pariser Künstler phantastische Badekostüme, Umhänge und Mäntel entwerfen lassen, die den Neid aller Frauen erregten.

Diese Kostüme waren mit solchem Raffinement komponiert, daß Esther in ihnen weitaus nackter erschien, als wenn sie unbekleidet gegangen wäre. Jede Linie ihrer Hüfte, die spitzen kleinen Brüste, die Formen ihres etwas mageren Rückens, alle ihre Reize wurden sichtbar.

20

Michael fand den Bruder verändert. Schien es nicht, als sei Wenzel etwas voller geworden? Sein Gesicht, sonst derb und kantig wie aus einem Eichenklotz gehauen, erschien etwas schwammig. Das blendende Weiß der Augen war gelblich und stumpf geworden, seine Hände zitterten. Vielleicht trinkt er zur Zeit wieder, dachte Michael. Wie lange wird er dieses Leben noch aushalten? Trotz all dieser unverkennbaren Anzeichen von Übersättigung und Übermüdung schien Wenzel zu funkeln vor Lebensfreude und Glücksgefühl.

„Ich bin also gekommen, lieber Wenzel,“ begann Michael etwas unsicher und flocht die Hände verlegen ineinander, wie er es immer tat, wenn er ein Anliegen hatte. „Ich bin also gekommen, um anzuklopfen, ob du meiner Gesellschaft einen Kredit von ein bis zwei Millionen einräumen willst.“

Wenzel legte die Stirn in Falten und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.

„Die Gesellschaft zahlt Zinsen, wenn auch nur mäßige.“

Wenzel schüttelte den Kopf und erhob sich. „Ich will nicht,“ sagte er kurz.

„Du willst nicht?“ Michael sah überrascht auf. „Schade, ich hatte auf dich gerechnet, Wenzel. Wir kommen vorwärts, aber es ist noch unendlich viel zu tun, und wir brauchen Kapital. Wüßtest du, welches Elend in den breitesten Schichten der Bevölkerung herrscht!“

Wenzel holte tief Atem und schnob durch die Nase. „Was kümmert es mich,“ sagte er mit einem erregten Kopfschütteln, „was geht mich das Elend der breitesten Schichten an?“

„Es geht dich nichts an?“ fragte Michael. Er war plötzlich bleich geworden. Ein fremder, feindseliger Klang war in Wenzels Stimme.

„Nein, es geht mich natürlich nichts an!“ fuhr Wenzel mit einer unverständlichen Erregung fort. „Es ist Sache der Regierung und des Parlaments und nicht die meinige!“

Michael senkte den Kopf. „Du weißt, Wenzel, daß weder die Regierung noch das Parlament eine derartig riesige Aufgabe lösen könnte, ohne durch tausend Widerstände gehemmt zu werden.“

„Nun, dann sollen die breitesten Schichten, die es angeht, sich um eine andere Regierung und ein anderes Parlament umtun. Was geht es mich an, wenn sie zu indolent dazu sind?“

Michael blickte mit erschrockenen, verwunderten Augen auf den Bruder. Er erwiderte nichts.

Und Wenzel fuhr mit großer Erregung fort: „Weshalb mischst du dich in die Angelegenheiten anderer Menschen? Sie lohnen es dir nicht! Im Gegenteil, ich sage es dir nicht zum ersten Male, nimm dich in acht, die Menschen haben noch immer ihre Wohltäter gesteinigt. Ich öffne die Zeitungen und lese, wie heftig man dich angreift!“

„Laß sie mich doch angreifen. Ich habe Gegner, natürlich, aber ich habe auch Anhänger, die für mich durchs Feuer gehen.“

Wenzel blieb vor dem Bruder stehen. „Du bist töricht, Michael. Weshalb greift man mich nicht an, von ein paar obskuren Blättern abgesehen? Ich will dir das Geheimnis verraten. Mein Konzern gibt jährlich Hunderttausende für Inserate aus. Wehe, wenn sie es wagten! Zuweilen kommt irgendein Revolverjournalist mit dem noch nassen Bürstenabzug eines Artikels gegen meinen Konzern oder mich zu mir. Man gibt ihnen ein Trinkgeld und wirft sie zur Tür hinaus. Warum machst du es nicht ähnlich? Niemand wird es wagen, dich anzugreifen.“

Michael schüttelte den Kopf. Er hielt den Blick lange vorwurfsvoll auf Wenzel gerichtet.

„Wenn man dich auch in der Presse nicht angreift, Wenzel, so übt man doch in der Öffentlichkeit lebhafte Kritik an dir. Man kritisiert deine Passionen, deinen Aufwand, deine Verschwendung, deine Geschäftsmethoden. Verzeihe, daß ich es dir offen sage, Bruder. Niemand wagt es ja, sie sind alle abhängig von dir und zittern vor deinem Zorn. Man spricht sehr abfällig über deine Scheidungsangelegenheit, und man hat die unglückliche Jenny Florian nicht vergessen.“

Wenzel wurde bleich vor Zorn. Seine Augen funkelten. „Wer ist man?“ schrie er. „Wer kritisiert? Sie sollen schweigen! Sage ihnen, daß sie schweigen sollen! Ich kann ihnen kein Recht auf Kritik einräumen. Es sind dieselben Leute, die mich auf der Straße krepieren ließen, als ich aus dem Krieg zurückkam. Es sind Lügner und Heuchler, ich mache diese Lüge nicht mit, sage es ihnen. Es sind Leute, die ihre Dienstboten wie Leibeigene behandeln und ihre Arbeiter wie Sklaven! Frage in meinem Hause nach, erkundige dich in meinen Betrieben. Ich gebe viele Hunderttausende im Jahre aus für Wohlfahrtseinrichtungen und Renten. Und meine Geschäftsmethoden? Sage ihnen, daß meine Geschäftsmethoden ebenso gut und ebenso schlecht sind wie die anderer großer Konzerne.“

Michael erhob sich, um das Gespräch abzubrechen. War das Wenzel? Welche Hoffart, welche Selbstherrlichkeit in dieser lauten, gewalttätigen Stimme! Es hatte keinen Sinn, dagegen zu kämpfen.

„Wir wollen das Gespräch nicht fortsetzen, Wenzel,“ sagte Michael. „Ich wollte ja eigentlich nicht von diesen Dingen beginnen. Ich kam mit ganz anderen Gedanken zu dir.“ Er blickte nochmals in Wenzels Augen. „Du willst uns das Darlehn also nicht geben?“

Wenzel wandte sich ungeduldig ab.

„Ich begreife nicht,“ fuhr Michael fort und ließ den Blick langsam durch den mit Kostbarkeiten und Prunk angefüllten Saal der Bibliothek schweifen, „ich verstehe es nicht, daß du so leben kannst, während Tausende und Abertausende deiner Volksgenossen nicht das Stück Brot haben, das nötig ist, um den Hunger zu stillen.“

Wieder lächelte Wenzel sein spöttisches Lächeln. „Weshalb richtest du derartige Fragen an mich, Michael?“ erwiderte er, um vieles beherrschter. „Frage doch die Regierung, weshalb sie zugibt, daß Frauen für zehn Pfennige in der Stunde arbeiten. Frage doch den Präsidenten der Vereinigten Staaten, weshalb er zugibt, daß einzelne Bürger Milliarden anhäufen, während Tausende in der Gosse krepieren! Frage alle diese Menschen, aber frage doch nicht mich! Ich bin doch nicht verantwortlich für diese Gesellschaftsordnung.“

Michael schwieg eine Weile. Dann sagte er sehr ruhig: „Erinnerst du dich, Wenzel, daß wir einmal eine Nacht hindurch über ähnliche, ja, die gleichen Dinge debattierten? Wir sprachen, erinnerst du dich, über den tiefen Sinn des indischen Wortes ‚Tat tvam asi ...‘ Das bist du! Das heißt: Dein Mitmensch, das bist du selbst?“

Wenzel beugte den Nacken. Er stand trotzig da, mit gespreizten Beinen. Dann sagte er, die Adern auf seiner Stirn schwollen an: „Das ist Wunsch, aber nicht Wahrheit. Es ist Lüge und Heuchelei. Buddha, Christus, und wie sie alle heißen –“

Michael wich zurück. „Du wirst bereuen,“ sagte er mit entsetztem Blick. „Ja, du wirst bereuen.“ Dann blickte er zu Boden, und nach langem Schweigen fügte er hinzu: „Lebe wohl, Wenzel.“

Er ging, ohne dem Bruder die Hand zu reichen. Wenzel kam ihm einige Schritte nach. „So höre doch, Michael,“ versuchte er einzulenken.

„Wir verstehen uns nicht mehr,“ erwiderte Michael unter der Tür, schüttelte den Kopf und ging.

21

Esther Schellenberg war im Mai nach Berlin zurückgekommen und hatte ihre Residenz im Schellenbergschen Palais im Grunewald aufgeschlagen. Tag und Nacht knirschten die Pneus der eleganten Autos auf den Kieswegen vor der Freitreppe. Tag und Nacht gingen die Gäste aus und ein. Der Haushofmeister, der ehemalige Regimentskommandeur, hatte vollauf zu tun. Fast ständig waren die Gastzimmer des Hauses besetzt. Es kamen viele ausländische Gäste. Baron Blau betrachtete sich das Haus und sagte aus Höflichkeit einige Schmeicheleien. Major Fairfax kam auf vierzehn Tage. Er beachtete das Haus kaum. Er spielte vom frühen Morgen bis zur sinkenden Nacht Tennis, mit jedermann, der gerade mit ihm spielen wollte.

Esther hatte die Absicht, den größten Teil des Jahres im Auslande zu verbringen und sich in Deutschland so wenig wie möglich aufzuhalten. Ein paar Monate im Frühling und im Sommer vielleicht und ein paar Wochen im Winter etwa, wenn das Theater- und Konzertleben Berlins sich wieder beleben sollte.

Aber auch für diese wenigen Monate mußte Abwechslung und Zerstreuung geschaffen werden. Für diese Zwecke schien ihr das Jagdschlößchen Hellbronnen ganz besonders geeignet. Vielleicht ließ sich daraus etwas machen, was ihre englischen und französischen Bekannten nicht hatten, eine Attraktion, die die Freunde von weither anlockte. Sie plante auf Hellbronnen Sommerfeste, Maskeraden, italienische Nächte, sie plante alle möglichen Dinge. Man konnte gewiß recht ausgelassen in dem Schlößchen und dem verschwiegenen Park sein, ohne irgendwie gestört zu werden. Es ließ sich dort alles mögliche arrangieren. Sie beabsichtigte zu diesen Festen ihre englischen und französischen Freundinnen, die sich auf das Leben verstanden, einzuladen. Es sollte eine Sache werden, von der man überall sprach.

„Willst du mir eine Freude machen?“ fragte sie Wenzel. „Willst du mir Hellbronnen schenken?“

„Was bietest du dafür?“ fragte Wenzel.

Esther blickte ihn an und lächelte mit den gemalten schmalen Lippen. „Du kannst fordern,“ erwiderte sie.

„Gut, so will ich dir Hellbronnen verschreiben lassen.“

„Ich kann damit anfangen, was ich will?“

„Natürlich.“

Schon am nächsten Tage fuhr Esther mit den Architekten Kaufherr und Stolzer nach Hellbronnen, um ihnen ihre extravaganten Wünsche vorzutragen. Es sollten Pavillons errichtet werden, da und dort, für die Gäste, möglichst verschwiegen, möglichst abgesondert, mit allem Raffinement ausgestattet. Der Park sollte wie ein Zaubergarten wirken. Phantastische Gondeln sollten auf den Teichen fahren, Wasserkünste, die man farbig beleuchten konnte, waren zu bauen. In einem großen Treibhaus sollten exotische Pflanzen gezüchtet werden, die man im Sommer ins Freie bringen konnte, um den phantastischen Eindruck zu erhöhen. Ein kleiner Teich aber sollte, so wie er war, vollständig mit Glas überdacht werden! Der Teich war mit ausgewählten Seerosen zu bepflanzen. Vielleicht ließ sich der Grund so behandeln, daß das Wasser türkisblau erschien? Eine Heizanlage war vorzusehen, damit man auch an kühlen Tagen in dem kleinen Teich baden konnte.

Das waren Esthers vorläufige Wünsche. Sie bat um Vorschläge, gewiß würde ihr selbst noch manches einfallen. Und Esther eilte wieder nach Berlin zurück, um die Vorbereitungen zu dem ersten großen Fest zu treffen, das sie geben wollte. –

In der gleichen Nacht, in der dieses Fest stattfand, von dem die Gesellschaft Berlins lange Wochen sprach, in dieser gleichen Nacht starb fern von Berlin der alte Raucheisen auf seinem Schloß Charlottenruh an der Ruhr.

Am Abend hatte ihn ein leichtes Unwohlsein befallen, eine vorübergehende Schwäche des Herzens. Der Arzt war ohne jede Besorgnis. Er schlief fest und tief in seinem Zimmer, nachdem er dem Kammerdiener, der die Nachtwache hielt, den Auftrag gegeben hatte, ihn augenblicklich zu wecken, wenn es irgendwie nötig werden sollte.

Und in der Tat schlief der alte Raucheisen zwei Stunden lang ganz vorzüglich. Dann aber erwachte er plötzlich und setzte sich hastig aufrecht und lauschte. Eine matte Ampel erhellte den Raum. Ein kleines blasses Männchen, saß er in dem riesigen Bett mit den dunkelblauen seidenen Vorhängen, kaum größer als ein Knabe. Nicht einmal so groß wie ein Knabe, fast wie ein Kind sah er zwischen den schweren dunkeln Vorhängen aus. Dieses Kind war bleich, die Nase sprang weiß und eckig vor. So saß er da und atmete hastig und leise, und die Hände tasteten mit gespreizten Fingern über die seidene Decke. Es waren die Hände eines Toten.

Und er lauschte.

Von seinem Bett aus sah er am Tage das Förderrad der Zeche Charlotte Raucheisen in der Luft schwirren. In der Nacht sah er die Hochöfen flammen ringsum, es war das große Eisenwerk Himmelsbach. Er sah auch, wenn er den Kopf etwas vorstreckte, die glühenden Koksberge aus den Öfen quellen, von feurigen Männern umtanzt. Er sah Glut und Rauch am Himmel, als lohe eine Feuersbrunst. Diese Feuersbrunst, gewohnt seit vielen Jahren, ängstigte den kleinen Mann nicht, sie beruhigte ihn.

Hinter diesen Koksöfen aber lagen – am Tage – hellgrüne Ebenen. Das waren die Siedlungen, die er für seine Arbeiterschaft geschaffen hatte. Hunderte von Morgen Gärten, Spielplätze, Parks, Schulen. Man hatte diese Gärten und Spielplätze und Schulen in den Zeitschriften abgebildet als vorbildliche Einrichtungen – aber niemand hatte es ihm gedankt. In jenen Tagen, da die Massen gährten, hatte man seinen Generaldirektor erschlagen, und er selbst – Raucheisen – mußte im Nachtgewand im Zuge schreiten, eine Tafel in der Hand, worauf stand: „Ich bin der Blutsauger Raucheisen.“

Ja, daran dachte der kleine blasse Mann, ohne Bitterkeit. Es waren Zeiten der Verwirrung, der Verirrung, längst vergangen. Alles war wie früher.

Und da unten, gerade hier, unter dem Bett mit den dunkelblauen seidenen Vorhängen, da unten, da liefen die Stollen und Querschläge. Da unten waren jetzt sechshundert Männer beschäftigt, für die Zeche Charlotte die Kohle zu schlagen. Hörst du, hörst du nicht, wie die Picken klingen? Und kleine Lämpchen wandern durch die Dunkelheit? Oh, der alte, kleine Mann sah die Lämpchen wandern. Dicht unter dem Bett, gerade unter dem Bett, in siebenhundert Meter Tiefe, lief das Flöz Charlotte II, von einer Mächtigkeit von einem Meter siebzig, sehr selten im Ruhrgebiet. Dieses Flöz war der Reichtum der Zeche. Hier unten hatte der kleine, bleiche Mann vor mehr als fünfzig Jahren die Kohle geschlagen, als er praktizierte, nicht lange natürlich, nur um alles zu sehen. Und hier unten klangen jetzt die Picken, und er hörte sie bis hier herauf. War das nicht sonderbar? Wie der Berg heute den Schall trug! Und wie die Scharen von Lämpchen hin- und herwanderten, wie sie zwischen den Verschlägen und dem Wald der Stützungspfosten verschwanden. Und der Schweiß rann über das Gesicht der schwarzen Männer.

Ganz deutlich hörte der kleine, bleiche Mann die Picken klingen, nun klangen sie sogar in der Mauer, dicht neben ihm. Hunderttausende von Stahlpicken hämmerten ringsum, und der kleine, bleiche Mann lächelte verzückt. Da waren sie, und wie fleißig sie doch waren! Wie sie arbeiteten, immerzu, ohne Pause, nicht eine Sekunde pausierten sie, und sie arbeiteten alle für ihn.

Plötzlich aber pochte es ganz laut und deutlich gegen die Tür. Hörst du nicht? Der kleine, bleiche Mann lächelte und sagte leise: „Herein“.

Dann sank er in das Kissen zurück, und das große, matterleuchtete Zimmer lag ganz still, bis der Morgen kam.

Als die Scharen der Morgenschicht in den Zechenhof strömten, sahen sie eine schwarze Fahne auf Charlottenruh. „Den alten Raucheisen hat heute nacht der Teufel geholt!“ sagten sie und stiegen in den Förderkorb, der klirrend in die Tiefe fegte.

Esther hatte nur wenige Stunden geschlafen, als sie die Nachricht vom Ableben ihres Vaters erhielt. Während sie tanzte und lachte, war ihr ein ungeheures und unübersehbares Vermögen in den Schoß gefallen.

22

Im Sommer ging Schellenbergs Jacht nach der Isle of Wight. Ein ganzes Geschwader von Jachten und Motorkreuzern, die Esthers Freunden gehörten, kam hier zusammen. Baron Blau übertrumpfte sie alle mit seiner großen, luxuriösen Dampfjacht. Esther aber gab an Bord Tanzgesellschaften, die bald in der ganzen englischen Sportwelt berühmt wurden.

Wenzel war den ganzen Sommer über zwischen Berlin und England unterwegs.

Den ersten Winter verbrachte Esther, abgesehen von einer Reise nach Paris und Sankt Moritz, ganz gegen ihre frühere Absicht, in Berlin. Wiederum wimmelte ihr Haus von Gästen. Alles, was Namen und Geld hatte, verkehrte bei ihr. Der alte Adel, soweit er nicht verarmt war, die Finanz, Wissenschaft und Kunst, die Presse. Träger berühmter Namen, bekannte Politiker und Minister gingen bei ihr ein und aus. Man bewarb sich um Einladungen zu ihren Festen. Ihr Kostümball – die „Voliere“, man mußte als Vogel kostümiert erscheinen – war ein gesellschaftliches Ereignis. Von dem Tanzturnier, das sie im Februar veranstaltete, sprach ganz Berlin. Die illustrierten Zeitungen brachten sogar die Bilder der Sieger. Den ersten Preis unter den Herren hatte Katschinsky erhalten, heute eine Berühmtheit als Filmschauspieler und Bühnenkünstler.

Wenzel fühlte sich in seinem Element. Es gab keine leere Stunde mehr, keine Stunde der Langeweile. Fast jeden Tag Gäste, in der Nacht Tanz, Spiel, Gelächter. Aber als die Tage länger wurden, begrüßte er den Schluß der Saison. Die gesellschaftlichen Anstrengungen allein hätten genügt, die Gesundheit eines Menschen zu vernichten. Wenzel aber leistete nebenher noch eine ungeheure Arbeit. Dazu hatte er auf Esthers Wunsch eine Aufsichtsratsstelle im Raucheisenkonzern angenommen, wodurch sich sein Arbeitspensum bedeutend vergrößerte.

Sobald es Frühling wurde, fuhr Esther jeden zweiten, dritten Tag nach Hellbronnen, um den Umbau und Ausbau von Hellbronnen zu leiten. Sie war in diesen Monaten in prachtvoller Laune, voller Ausgelassenheit. Immerzu war sie von einem Schwarm von Bewunderern und Anbetern umgeben. Wenzel aber fühlte sich glücklich. Sein Leben hatte einen Mittelpunkt, um den es sich bewegte. Seine Arbeit, seine Erfolge, sein Reichtum, alles schien plötzlich erst den richtigen Sinn erhalten zu haben. Er spielte eine tonangebende Rolle in der Gesellschaft. Man drängte sich an ihn. Politiker, Redakteure, Künstler, Gelehrte von Ruf suchten seine Freundschaft. Kapazitäten der Wirtschaft und Industrie erbaten seinen Rat. Minister zogen ihn in eine Ecke, um seine Ansicht zu hören. Man sah ihn in den Salons der Gesandten und Botschafter aller Nationen, die Presse nannte seinen Namen voller Achtung. Und dazu erfreute sich Wenzel einer ausgezeichneten, unvergleichlichen Gesundheit!

Wenzel war nicht eitler als andere Menschen, keineswegs. Aber zuweilen empfand er doch etwas wie eine Art Hochachtung vor sich selbst, war er ganz erfüllt von Befriedigung.

„Das also ist Wenzel Schellenberg, seht an!“ sagte er sich manchmal, wenn er sich, in großer Gala, im Spiegel betrachtete. „Und doch ist dies erst der Anfang! Der Anfang – ah, man wird ja sehen!“ Ehrgeizige Träume berauschten ihn –.

Im Mai jedoch – es war einer der letzten Tage im Mai – ereignete sich ein kleiner, eigentlich ganz unbedeutender Vorfall, dessen Folgen niemand voraussehen konnte.

An diesem Tage, einem warmen, wundervollen Frühlingstag, wie sie in Berlin selten sind, begleitete Wenzel Esther in den Zoologischen Garten. Esther schwärmte für Tiere, wie die meisten Frauen, und in dieser Zeit gab es im Zoologischen Garten junge Löwen, Affen und kleine Bären zu bewundern. Der schöne Tag hatte alle Welt herbeigelockt, und der Garten wimmelte von heiteren Menschen und lärmenden Kindern. Plötzlich – beinahe hätte es Wenzel nicht einmal beachtet, sie standen in der Nähe des Bärenzwingers – drängte sich ein kleines, milchweißes Windspiel freudig an Esther heran, beschnupperte sie, sprang winselnd und kläffend vor Erregung an Esther empor und versuchte ihr das Gesicht abzulecken. Wenzel lachte. Das Windspiel war in der Tat in seiner Freude äußerst reizvoll. Es hatte rosige Pfoten, ein rosiges Maul und rosiggeränderte sanfte braune Augen. Fast vermochte Esther sich der Liebkosung des Tieres nicht zu erwehren.

„Meine liebe, kleine Philly, wie geht es dir? Sei nicht so närrisch,“ rief sie wieder und wieder aus.

Die reizende Szene erregte die Aufmerksamkeit einer großen Anzahl von Menschen.

Da ertönte plötzlich ein kurzer, schriller Pfiff, irgendwo, das Windspiel stutzte und verschwand augenblicklich in der Menge.

„Woher kennt dich der Hund?“ fragte Wenzel.

„Er gehört einem meiner Bekannten,“ erwiderte Esther lächelnd und widmete sich wieder den jungen Bären.

Das war alles. Das war der ganze Vorfall, unbedeutend, geringfügig, und Wenzel vergaß ihn nach einigen Tagen vollkommen.

Eines Abends aber, als er spät in der Nacht nach Hause kam und nicht einschlafen konnte, da er überarbeitet war – Esther war heute nach Hellbronnen gereist und kehrte erst morgen zurück –, fiel ihm plötzlich wieder diese bedeutungslose Szene mit dem Windspiel ein. Er ging auf und ab, und ganz unerwartet – denn er lächelte sogar bei der Erinnerung an diese Szene – erschien eine Falte auf seiner Stirn. Was sollte an dieser Sache besonderes sein? fragte er sich, indem er auf- und abging und seine Zigarre tauchte. Ein Hund begrüßt meine Frau, ein Hund, der irgendeinem ihrer Bekannten gehört. Aber nun zerbiß er plötzlich die Zigarre, was er zu tun pflegte, wenn er in schlechte Laune geriet.

„Es ist doch etwas Besonderes an dieser Sache,“ sagte er plötzlich. „Nämlich die seltene und ganz außergewöhnliche Freude dieses Windspiels! Das Tier war ja völlig närrisch. Sie läßt darauf schließen, daß Esther sehr häufig mit diesem Windspiel zu tun hat. Ich aber habe dieses Tier nie gesehen, weder auf einem Rennen noch sonst irgendwo. Und dann dieser Pfiff! Warum hat der Bekannte Esther nicht begrüßt. Nun, sehr einfach, es war auch möglich, daß er sie gar nicht gesehen hat, daß er nur seinen Hund vermißte. Warum aber sagte Esther, als er sie fragte, nicht den Namen dieses Bekannten? Vielleicht schien es ihr völlig gleichgültig. Wandte sie sich nicht etwas hastig nach diesem Vorfall mit dem Hund dem Bärenzwinger zu?“

Eigentlich war der Vorfall ja wirklich unbedeutend, und es war lächerlich, sich überhaupt damit zu beschäftigen. Es war nur seine Abgespanntheit und seine Gereiztheit.

Sonderbarerweise aber blieb doch eine Unruhe in ihm zurück. Er erinnerte sich plötzlich eines Blickes, den Major Fairfax mit Esther ausgetauscht hatte. Dieser Blick hatte in seinem Gedächtnis geschlafen, um urplötzlich wieder wach zu werden. Es war damals, als sie auf ihrer Hochzeitsreise von Ragusa nach Venedig kamen. Nur ein Blick! Auch dieser Blick war ganz unbedeutend und nicht der Mühe wert, sich mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht hatte er diesen Blick völlig mißdeutet.

Trotzdem, die Unruhe nagte. Er beschloß, so lächerlich ihm dieser Vorsatz selbst vorkam, auf jeden Fall den Besitzer des Windspiels auszukundschaften. Wie? Nun, das würde sich finden. Er nahm eine doppelte Dosis Schlafpulver und begab sich zur Ruhe.

Am nächsten Morgen war der erste Gedanke, mit dem er erwachte, der Gedanke an dieses Windspiel mit den rosigen Pfoten und dem rosigen Maul. Ganz deutlich sah er das Hündchen vor sich. Er würde es aus dem Gedächtnis malen können. Wie es tänzelte! Wie eine Gazelle ging es, den Kopf zurückgebogen. Ohne jeden Zweifel, unter hundert Windspielen würde er das Tier herausfinden. Er nahm sich vor, die Augen aufzumachen und nach diesem Windspiel überall Ausschau zu halten.

Indessen, das Windspiel schien aus Berlin verschwunden zu sein. Wenzel besuchte häufig den Zoologischen Garten, er war auf allen Rennplätzen, er kam nun häufig zu den Tees, die Esther im Garten gab. Die Gäste brachten oft ihre Hunde mit. Von dem Windspiel keine Spur. Vielleicht war der Bekannte, dem das Tier gehörte, aus Berlin abgereist? Endlich, nach einigen Wochen, begann Wenzel über seine Marotte, in einer Millionenstadt nach einem Hund zu suchen, zu lachen, und schließlich hatte er das Windspiel vergessen.

23

Aber plötzlich, eines Tages, als Wenzel gar nicht mehr an den Hund dachte, sah er das Windspiel zu seiner großen Verblüffung in einiger Entfernung dicht neben einem Herrn stehen! Er erkannte das Tier augenblicklich wieder. Er war bei einem Tennisturnier, und er war nur gekommen, um Esther abzuholen.

Dort also stand das Windspiel, nach dem er so lange gesucht hatte! Eine Täuschung war unmöglich. Der Herr trug einen silbergrauen Sommerüberzieher und einen silbergrauen Hut. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, übertrieben elegant, schlank, groß, blond. In diesem Augenblick drehte er sich um, da das Tier an ihm in die Höhe sprang, und Wenzel erblickte sein Gesicht. Augenblicklich erbleichte Wenzel.

Es war jener junge Mann, der im Frühjahr das Tanzturnier gewonnen hatte, wie war doch sein Name? Er kannte ihn seit Jahren, traf ihn zuweilen in einem Spielklub, er war ein Freund von Jenny Florian gewesen. Jetzt spielte er eine gewisse Rolle bei der Bühne und beim Film. Er hatte diesem jungen Mann nie Vertrauen geschenkt, vielleicht weil er sogenannte schöne feminine Männer haßte. Da fiel ihm der Name ein. Katschinsky hieß der junge Mann.

Weshalb hatte Esther damals nicht Katschinskys Namen genannt?

Von einer dumpfen Unruhe bedrückt, verließ er den Turnierplatz, ohne weiter nach Esther zu suchen. Er ließ ihr den Wagen zurück, mit dem Bescheid, daß ihn ein dringendes Geschäft ins Büro zurückrufe.

Er ging eine Stunde spazieren, ohne Ziel. Die Luft, die Bewegung erfrischten ihn. Plötzlich begann er über seine unsinnigen Kombinationen zu lachen.

„Es sind ja nur die Nerven!“ sagte er sich. „Wir werden drei Wochen auf die See gehen!“

Trotz allem, von diesem Tage an war Unruhe über Wenzel gekommen. Er ging nicht an die See. Nach einer Woche ertrug er diese Unsicherheit nicht mehr.

Er kannte zuverlässige Leute, denen man derartige heikle Angelegenheiten anvertrauen konnte. Und ganz im geheimen gab er diesen Vertrauensleuten seine Aufträge.

Er beobachtete Esther. Es schien ihm, als ob sie gerade gegen Katschinsky, der übrigens nur selten sein Haus betrat, eine ganz besondere Zurückhaltung übe. Er versuchte in ihrem gepuderten und gemalten Gesicht zu lesen. Es lag etwas Fremdes in diesem Gesicht, die Künste der Toilette verschleierten es. Ihre Augen schienen infolge der Färbung der Haare dunkler geworden zu sein und, wie es Wenzel schien, rätselhafter.

Je länger er dieses Gesicht betrachtete, desto fremder erschien es ihm. Je mehr er diese Frau zu ergründen suchte, desto unbekannter schien sie ihm zu sein. In der Tat, eine völlig fremde Frau lebte mit ihm in seinem Hause.

Er erinnerte sich plötzlich eines Gesprächs, das zwei Herren über Esther im Teeraum des Londoner Hotels führten. Sie waren augenblicklich verstummt, als sie bemerkten, daß er zuhörte, und behandelten ihn von diesem Augenblick an mit ausgesuchter Höflichkeit, als hätten sie etwas gut zu machen. Das war kurz vor seiner Hochzeit gewesen. Sein Englisch war nur mangelhaft, und doch schien es ihm jetzt, als hätten die beiden Herren mit einer gewissen Frivolität über Esther gesprochen. Es lag mehr im Ton als in den Worten. Esthers erste Ehe, ihre Scheidung, ihr ganzes Leben, bevor sie in seinen Gesichtskreis trat, war ihm bis heute völlig gleichgültig gewesen. Nunmehr interessierte ihn plötzlich alles über alle Maßen. Wer war diese Frau, die seinen Namen trug?

Es traf sich, daß Goldbaum in den nächsten Tagen nach London fahren mußte. Wenzel hatte mit ihm eine vertrauliche Aussprache. Goldbaum war klug und taktvoll genug, um sich für eine derartig schwierige Mission besonders zu eignen.

Goldbaum sträubte sich anfangs, wälzte den dicken, rothaarigen Schädel verdrießlich hin und her, versprach aber endlich, sein möglichstes zu tun und bei seinen Freunden ein „bißchen herumzuhorchen“.

Voller Unruhe erwartete Wenzel seine Rückkehr. Mit noch größerer Unruhe erwartete er den Bericht seiner Berliner Vertrauensleute. Esther ahnte nicht das geringste.

Es fiel ihm ein, daß Mackentin einmal, sehr taktvoll und vorsichtig, eine Bemerkung über Esthers allzu große Außerachtlassung der gesellschaftlichen Formen gemacht hatte. Er hatte damals mit Esther gesprochen und sie um mehr Zurückhaltung gebeten.

„Die Leute hier sind nicht Leute der großen Welt, Esther,“ sagte er. „Sie sind zum größten Teil Spießbürger, die die Dinge mit andern Augen sehen und manches mißdeuten könnten.“

Esther warf die Lippe in die Höhe.

„Laß sie doch,“ sagte sie mit einem hochmütigen Zurückwerfen des Kopfes. „Ich tue, was ich will, du weißt es, und kümmere mich nicht um die Menschen.“

Diese Antwort erschien Wenzel nunmehr unsicher und ausweichend.

Da kam Goldbaum zurück und erstattete über seine Reise Bericht. Wenzel empfing ihn in seinem Arbeitszimmer und gab den Auftrag, niemanden vorzulassen. Zuerst besprachen sie ausführlich die geschäftlichen Angelegenheiten. „Nun, und die andere Sache?“ fragte Wenzel und wurde dunkelrot, da er sich schämte.

Goldbaum verzog das Gesicht und machte Ausflüchte. Klatsch, Geschwätz und Gerede hätten ihm seine Freunde zugetragen, nichts sonst, nichts Positives, keine einzige positive Tatsache.

Wenzel bat ihn, ihm wenigstens zu sagen, was man über Esther rede. Auch das interessiere ihn. Er bitte ihn als Freund.

Und schließlich berichtete Goldbaum, daß man manches über die Ehe Esthers mit Sir Weatherleigh zusammenfasele. Es sei da nicht alles so glatt und einfach gegangen. Natürlich nur Klatsch und Geschwätz. So erzählte man, daß Esther mit einem Major Fairfax ein Verhältnis gehabt habe. Sie habe vier Wochen mit ihm zusammen in einem ägyptischen Hotel gewohnt – behaupten die bösen Zungen. Man habe auch die Namen von anderen Männern genannt, aber wie gesagt, all das sei einfacher Klatsch, wie er in jeder Gesellschaft üblich sei.

Wenzel tat gleichgültig und drückte Goldbaum die Hand. „Ich hatte bestimmtere Dinge gehört,“ sagte er. „Dieses Geschwätz kümmert mich natürlich nicht im geringsten.“

Er war allein, und nun sah sein Gesicht plötzlich anders aus. Er erinnerte sich an den Gesichtsausdruck der beiden Herren, die über Esther tuschelten und deren Gespräch er unterbrach. Damals im Teeraum des Londoner Hotels. Er sah das Bild der Hochzeitstafel vor sich. Da saß Fairfax – nun verstand er den Blick, den er seinerzeit in Venedig auffing –, da saßen andere gutaussehende junge Männer. Vielleicht lachten sie im geheimen über ihn, während er feierlich neben Esther an der Tafel saß.

Jedenfalls, er wollte Gewißheit haben, und am nächsten Tage verließ einer seiner Agenten mit dem Londoner Flugzeug Berlin.

Von seinen Berliner Vertrauensmännern hörte er nichts Positives. Katschinsky war nicht in Berlin, er filmte irgendwo in Frankreich. Also hieß es sich gedulden.

Nach einer Woche schon kam der Agent aus London zurück. Es war sein Beruf, sich ernsthaft mit den Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen abzugeben, und so berichtete er ausführlich über alles, was er in Erfahrung gebracht hatte.

Nicht Fairfax allein, eine ganze Reihe anderer Liebhaber wurde mit Bestimmtheit genannt. Jeder Mensch in London wußte, daß Sir Weatherleigh als Gentleman die Schuld auf sich genommen hatte, um den Skandal zu vermeiden.

Man erzählte sich auch, daß Baron Blau einmal eine Schuld Esthers in der Höhe von zwanzigtausend Pfund eingelöst habe und daß seine Beziehungen zu ihr, wenn auch nur ganz kurze Zeit, intim gewesen seien.

Der Boden brach unter Wenzels Füßen ein. Er fing an zu ahnen, wer Esther war.

Wohlgemerkt aber, wohlgemerkt, alles, was vor seiner Verheiratung geschehen war, ging ihn nichts an. Es war ihm nicht gleichgültig, keineswegs, aber er hatte nicht das Recht, darüber zu richten. Esther hatte nie die Tugendhafte und Prüde gespielt. Sie schwieg, aber sie heuchelte nicht.

Wehe aber, wenn sie, seit sie seinen Namen trug, ihre Pflichten verletzt haben sollte! Er sagte wehe – mehr wollte er nicht sagen.

Wenzel betäubte sich mit Arbeit, Wein und Schlafmitteln. Er blieb seinem Hause möglichst fern. Seine Unruhe wuchs mit jedem Tag. Katschinsky war seit einer Woche zurückgekehrt. Bald würde er Gewißheit haben, so oder so.

Eines Abends ließ sich der Vertrauensmann melden. Wenzel verschloß die Türen. Der Vertrauensmann zog ohne große Einleitung ein Notizbuch aus der Tasche und legte es vor Wenzel auf den Tisch. Da stand alles schwarz auf weiß notiert. Dienstag, den soundsovielten, um fünf Uhr das Haus betreten, um sieben Uhr verlassen, Freitag um sechs Uhr das Haus betreten, um einhalb acht Uhr verlassen, am Sonntag nach dem Theater das Haus um elf Uhr betreten, um ein Uhr verlassen.

Dann machte der Vertrauensmann noch auf einen Tennisspieler sehr bekannten Namens aufmerksam. Er werde auch diese Spur verfolgen, wenn Herr Schellenberg es befehle. Allerdings sei er in diesem Fall noch keineswegs sicher. –

Wenzel saß regungslos am Tisch, wie aus grauem Stein gehauen.

„Es ist nicht nötig,“ sagte er, doch seine Stimme klang ruhig und völlig unverändert. Seine Hände aber zitterten so stark, daß er sie unter der Tischplatte verbarg. Plötzlich funkelten seine Augen: „Wehe, wenn Sie mich belügen, Herr!“ schrie er den Agenten an. „Ich werde mich überzeugen, ob Sie die Wahrheit sprechen! Wehe Ihnen!“

Der Agent wich erschrocken zurück. „Herr Schellenberg können sich überzeugen.“

24

Eine ganze Woche lang verließ Wenzel an den Nachmittagen sein Büro nicht eine Minute. Er arbeitete an einer Neuorganisation des Schellenberg-Konzerns, die die Verwaltungskosten um ein Drittel vermindern sollte. Ein ungeheurer Plan, zu dessen Durcharbeitung er nie die Zeit gefunden hatte. Er verbiß sich in die Arbeit. Nur zuweilen erhob er sich, um einen Blick durch das Fenster zu werfen: Das Mietsauto stand an der Ecke.

Plötzlich, an einem Nachmittag etwas nach fünf Uhr, kam der Anruf des Vertrauensmannes.

Wenzel erbleichte. Er nahm den Hut und eilte auf die Straße, um das Mietsauto an der Ecke zu besteigen. Straße, Nummer, warten, bis ich Order gebe, zwanzig Mark Trinkgeld. Der Chauffeur fuhr. Vielleicht gibt es wieder einmal eine Schießerei, dachte er, er scheint ganz rabiat zu sein.

Der Beobachtungsposten war gut gewählt. Wenzel saß regungslos im Wagen, die Augen auf das bezeichnete Haus gerichtet, und rauchte. Es war eine kleine Villa in Charlottenburg, ganz in der Nähe vom Steinplatz. Der Stein ist im Rollen. Die Lawine geht zu Tal, es wird sich vollenden, dachte Wenzel und hielt den Blick auf das Haus geheftet. Die Gedanken jagten. Er rauchte eine Zigarette nach der andern und wartete. Eine Stunde verging. Schon war der Wagen ganz verqualmt. Er verfiel in eine Art von Halbschlaf. Seine Gedanken standen still, sie bewegten sich nur noch um kleine Nebensächlichkeiten. Wer diese Villa wohl gebaut hatte? Welche Gagen ein Schauspieler beziehen mußte, um diese Villa bewohnen zu können? Oder erhielt er noch Bezüge von anderer Seite? Dort an der Ecke stand der Vertrauensmann, las die Zeitung und aß eine Banane. Er verabscheute ihn.

Etwas vor sieben Uhr öffnete sich die Tür und eine Dame erschien. Sie trug einen kleinen, koketten zimmetfarbenen Hut und ein dünnes, weiches Cape der gleichen Farbe, das sie dicht um den schlanken Körper gelegt hatte. Ein Windspiel schlüpfte durch die Haustür, wurde aber sofort ins Haus zurückgerufen. Die Dame verließ das Haus, unauffällig, sorglos, so wie täglich in jeder großen Stadt tausend Damen irgendein Haus zu dieser Stunde verlassen.

Aber diese Dame trug seinen Namen.

Gelassenen Schrittes ging Esther die Straße entlang, dann nahm sie ein Mietsauto und fuhr davon.

Eine Weile noch wartete Wenzel regungslos in seinem Wagen. Der Agent ging vorüber und wandte das Gesicht gegen die Scheibe. Dann befahl er dem Chauffeur, ihn in sein Büro zurückzufahren.

Es ist also nichts geworden, dachte der Chauffeur, kein Gericht, keine Zeugenschaft.

Wenzel blieb nur einige Minuten in seinem Büro. Mechanisch unterzeichnete er einige Dutzend Briefe. Dann fuhr er nach dem Grunewald zurück.

Er betrat das Haus mit finsterer Miene. Seine Stirn war böse gerunzelt. Ohne Laut flüchtete die Dienerschaft vor seiner schlechten Laune.

„Die Damen sind im chinesischen Zimmer.“

Das chinesische Zimmer war ein Raum in exotischem Charakter, keineswegs chinesisch, aber es wurde so genannt. Es war ganz gekachelt, ultramarinblau, die Decke vergoldet und bemalt. Esther liebte diesen Raum zur Dämmerstunde.

Schon vernahm Wenzel die Stimmen der Damen. Sie sprachen englisch und französisch. Zwei Freundinnen waren seit gestern auf Besuch gekommen. Die Frau eines englischen Teegroßhändlers, Violet, madonnenhaft frisiert, mit lüsternem Mund, und Georgette, eine kleine quecksilberige pechschwarze Französin, die ihrem Mann durchgebrannt war und sich bei Esther versteckte. Die Damen sprachen eifrig über das geplante Nachtfest in Hellbronnen, das in den nächsten Tagen stattfinden sollte. Man wartete nur auf wärmeres Wetter. Von Esthers Empfangssalon aus sah Wenzel in das chinesische Zimmer. Der Rauch der Zigaretten hatte unter der Decke eine unbewegliche schwebende Schicht gebildet.

In diesem Augenblick wurde Esther eine Karte überreicht, und gleich danach trat die Gestalt eines jungen Mannes ein. Wenzel erkannte Katschinskys Stimme.

„Sie waren lange weg, Herr Katschinsky,“ sagte Esther, fast gleichgültig, fast gelangweilt.

„Ich hatte im Ausland zu tun,“ erwiderte Katschinsky. „Ich bin seit einigen Tagen wieder hier, finde aber erst heute eine freie Stunde.“

„Meine Freundinnen Violet Taylor aus London und Madame Georgette Leblanc aus Paris.“

Plötzlich war Wenzels ganzer Körper mit Schweiß bedeckt.

„Oh, welch schamlose Komödie!“

Sein Gesicht war grau, wie Blei, das lange an der Luft liegt.

Langsam stieg er die Treppe empor. Die Treppe knarrte unter seinem Gewicht. Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und ließ bestellen, daß man ihn nicht zu Tisch erwarten solle. Er habe dringende Geschäfte zu erledigen.

Stöße von Depeschen und Schriftstücken, von seinem Sekretär bereitgelegt. Er beachtete sie nicht. Er ging in seinem halbdunklen Arbeitszimmer hin und her, immer hin und zurück, und wiederholte immer von neuem: „Oh, welch schamlose, erbärmliche Komödie!“ Wiederum war sein ganzer Körper mit Schweiß bedeckt.

Es wurde Mitternacht, und noch immer ging Wenzel finster und stumm rasend und halblaut redend in seinem Zimmer hin und her. Von unten herauf erklangen zuweilen Stimmen und Gelächter. Es schienen noch mehr Gäste gekommen zu sein.

Betrug, Lüge, Heuchelei. Die Lawine war ins Rollen gekommen. Sie wird mich und sie und alle erschlagen! Oh, welche Infamie!

Plötzlich schien es ihm, als hätten alle Blicke von Männern und Frauen, die in seinem Hause verkehrten, immer einen ganz merkwürdigen und sonderbaren Ausdruck gehabt. Als verbärgen sie ihm etwas, was sie nicht ganz zu verbergen vermochten. Er sah, wie oft in diesen Tagen, die Hochzeitsgesellschaft in London vor sich, die jungen, gutgewachsenen Männer, Major Fairfax, Baron Blau, und plötzlich schien es ihm, als säßen sie alle herausfordernd da und blickten ihn mit kaltem Spott in den Augen an.

Er preßte die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Wie entsetzlich schamlos war das alles! Sie hat mich in den Schmutz gezogen und, was weitaus furchtbarer war – furchtbarer in Wenzels Augen –, sie hat mich dem Spott und dem Hohn der Gesellschaft ausgeliefert. Oh, gewiß, diese Fairfax und Blau und Katschinsky und alle, mußten sie nicht toll lachen über ihn? Er wollte es nicht anders, er hatte, was er wollte. Alle wußten, was sich ereignen würde, nur er nicht.

„Ich werde es nicht dulden, daß man mich in den Schmutz tritt!“ knirschte Wenzel. „Ich werde mich rächen, ich werde mich furchtbar rächen!“

Freiheit forderte sie, Freiheit in jeder Beziehung. Er wußte es. Er hatte sie ihr zugebilligt. Aber waren ihrer Freiheit nicht Schranken gezogen, durch ihr Geschlecht und die Gebote der Gesellschaft? Aber vielleicht gab es diese Schranken für sie nicht? Vielleicht war sie ebenso maßlos im Genuß wie er selbst? Vielleicht war sie ein weiblicher Wenzel Schellenberg? Vielleicht? Was wußte er von ihr? Eine fremde Frau, unbekannt wie ein unbekanntes Tier, dessen Eigenschaften niemand kennt.

Immer düsterer, immer furchtbarer erschien ihm sein Schicksal. Von unten herauf drang Gelächter. Der Flügel. Man tanzte.

„Ich werde es nicht dulden!“ rief er abermals und wieder und wieder aus, mit verzerrten Zügen.

Es war eine furchtbare Nacht.

25

Vor dem Gebäude der Gesellschaft „Neu-Deutschland“ drängten sich unübersehbare Scharen von Arbeitslosen, Kopf an Kopf. Ihr Geschrei erfüllte die Straße.

„Gib uns Arbeit, Schellenberg! Gib uns Brot!“

Die Tore der Gesellschaft waren geschlossen.

Michael sprach von der Treppe aus zu den Scharen der Entmutigten. Er erklärte, daß die Gesellschaft in den letzten Wochen Abertausende eingestellt habe, daß sie aber vorläufig über keine weiteren Mittel verfüge. Er werde erneut bei der Regierung und dem Magistrat vorsprechen.

Die wirtschaftliche Krisis hatte sich verschärft. Auf den Zechen häuften sich Gebirge von Kohlen, eine große Zahl von Hochöfen war bereits ausgeblasen worden. Der Export war auf ein Minimum herabgesunken. Jahrelang hatte er tauben Ohren gepredigt.

Tag für Tag drangen die Rufe bis in sein Arbeitszimmer: „Gib uns Arbeit! Komm heraus, Schellenberg!“

Lärm brauste auf. Die Straße tobte, Fensterscheiben wurden eingeworfen. Die Polizei schritt ein.

Vor einigen Tagen war ein Trupp Arbeitsloser durch die Fenster eingedrungen. Man hatte alle Mühe, die Verzweifelten zur Ruhe zu bringen. Gestern erschien ein Betrunkener, der sich wie ein Tobsüchtiger gebärdete. Er hatte schon früher bei der Gesellschaft gearbeitet, war aber entlassen worden, da er zu irgendeiner Arbeit überhaupt nicht zu gebrauchen war. Er forderte, sofort wieder eingestellt zu werden, oder er werde das Gebäude in die Luft sprengen. Er habe eine kranke Frau und vier kleine Kinder, die in einem Kellerloch verhungerten! Mit einem Stuhl in der Faust, drang er auf die Beamten ein. Er war Steinträger, ein krummbeiniger, breitschulteriger Bursche mit rotem Schnauzbart und schwammigem Trinkergesicht. Endlich gelang es, ihn zu überwältigen und an die Luft zu setzen. Der Rasende schwor, morgen wiederzukommen!

Und in der Tat, er kam wieder.

An diesem Tage sollte eine Sitzung von Vertretern der Regierung und Arbeitgeberverbände stattfinden, zu der Michael eingeladen war. Er sollte seine Pläne vortragen.

Etwas verspätet, wie gewöhnlich, stieg Michael eilig die Treppe hinab, so rasch, daß Eva, die ihn zur Sitzung begleitete, kaum zu folgen vermochte.

Michael pflegte in diesen unruhigen Tagen das Gebäude durch einen Nebenausgang zu verlassen. Kaum aber hatte er den Fuß auf die erste Stufe des Nebenausgangs gesetzt, als er einen heftigen Schlag gegen die linke Schulter verspürte. Es war ihm, als habe man ihn mit einem schweren Stock, mit einer massiven Eisenstange gegen die Schulter gestoßen. Er taumelte und wäre beinahe gefallen. In dieser Seitenstraße waren nur wenige Menschen, und er sah nichts Auffälliges. In diesem Augenblick aber beobachtete er, wie sein Chauffeur, der neben dem Wagen gestanden hatte, sich auf einen Mann stürzte und ihn zu Boden warf. Sofort sammelten sich Menschen an.

„Er hat auf Schellenberg geschossen,“ schrie der Chauffeur und deutete auf das schmutzbedeckte schwammige Gesicht des Mannes, den er zu Boden geschlagen hatte. Es war der Steinträger mit dem roten Schnauzbart, der gestern Rache geschworen hatte.

Michael hatte nicht einmal einen Schuß gehört. Der Knall war im Lärm der Straße verhallt.

Das alles dauerte kaum zwei Sekunden. Michael stand noch immer und begriff nicht. Er spürte immer noch den heftigen Schmerz an der Schulter.

„Bist du getroffen?“ fragte Eva, die Augen geweitet in Angst und Besorgnis, und blickte ihm ins Gesicht. Michael schüttelte den Kopf, er vermochte kein Wort zu erwidern. Der Schlag gegen die Schulter war immer stärker spürbar.

„Oh, du blutest ja!“ rief Eva aus, und sie nahm ihr kleines Taschentuch und schob es hastig unter seine Weste. Erregt versuchte Eva ihn wieder ins Gebäude zurückzudrängen.

Endlich vermochte Michael zu sprechen. „Es ist nichts,“ sagte er. „Was kann es sein? Was wollte er?“ schrie er dem Menschenknäuel zu, der sich um den Steinträger ballte.

Das alles geschah am hellichten Tag, gegen drei Uhr nachmittags.

Eine Stunde später heulte die Meute der Zeitungsverkäufer, die mit den feuchten Blättern durch die Straßen rannten.

„Attentat auf Michael Schellenberg! Ein Arbeitsloser schießt auf Schellenberg!“

Die Abendzeitungen brachten nur eine kurze Notiz. Ein Arbeitsloser habe auf den bekannten Volkswirt und Chemiker Michael Schellenberg, den Gründer und Leiter der Gesellschaft „Neu-Deutschland“, ein Revolverattentat verübt. Die Volksmenge machte Miene, den Attentäter zu lynchen, aber Michael Schellenberg sei für ihn eingetreten. Der Zustand des Verletzten gäbe, soweit sich dies feststellen ließe, zu Besorgnissen keinen Anlaß.

Die Morgenblätter brachten ausführliche Berichte. Der Attentäter war ein Steinträger namens Heinecke, ein notorischer Trinker, der schon wiederholt mit den Gerichten in Konflikt gekommen war. Seine Aussagen waren verworren. Die Zeitungen neigten dazu, Heinecke für geistig minderwertig zu erklären. Die Motive des Attentats waren höchst unklar.

Einmal behauptete Heinecke, die Not habe ihm die Waffe in die Hand gedrückt. Schon hatten Reporter seine häuslichen Verhältnisse untersucht und allerdings konstatieren müssen, daß die kranke Frau des Steinträgers und seine vier kleinen Kinder in einem vier Quadratmeter großen feuchten Kellerverschlag in unbeschreiblichem Elend hausten. Ein andermal erklärte Heinecke, er habe sich an Schellenberg rächen wollen. Er habe bei der Gesellschaft „Neu-Deutschland“ gearbeitet, man habe ihm einen Hungerlohn gezahlt und ihn dann einfach hinausgeworfen. Dabei besitze Schellenberg ein Palais im Grunewald, einen Palast mit hundert Sälen und einen Rennstall, alles mit dem Schweiße der Arbeitslosen erworben. Eine tragische Verwechslung, schrieb eine Zeitung. Der Attentäter hat den Volkswirt Michael Schellenberg mit seinem Bruder, dem Industriellen und Geldmann Wenzel Schellenberg, verwechselt!

Man machte Heinecke auf seinen Irrtum aufmerksam. Es ist ein und dasselbe, erwiderte er, sie sind alle gleich. Schließlich sagte er, er habe geschossen, um ins Zuchthaus zu kommen. Es sei ihm nur noch die Wahl zwischen dem Zuchthaus und dem Strick geblieben, da er Arbeit doch nicht finden konnte.

Wie gesagt, ein verworrener Kopf, ein geistig minderwertiger Trinker.

Die Berichte der Ärzte, die die Morgenzeitungen veröffentlichten, lauteten günstig. Die Kugel, die das Schlüsselbein zerschmetterte, war noch in der Nacht entfernt worden. Michael Schellenberg werde in wenigen Wochen, wenn nicht irgendwelche Komplikationen eintreten sollten, wiederhergestellt sein.

Michael hatte etwas erhöhte Temperatur, die sich am Abend zu leichtem Fieber steigerte. Das war alles. Sein allgemeines Befinden war vorzüglich. Schon am dritten Tage verlangte er, aus der Klinik entlassen zu werden, um seine Arbeit wieder aufnehmen zu können. Die Ärzte aber widersprachen, sie steckten sich hinter Eva, deren Einfluß auf den Patienten sie kannten, und so mußte Michael wohl oder übel in der Klinik bleiben. Die Kommissare kamen, um ihn zu vernehmen.

„Lassen Sie den armen Teufel laufen,“ sagte Michael. „Es ist ein Opfer der allgemeinen Notlage. Seine verzweifelte Tat ist nicht der Akt eines einzelnen, die Verzweiflung von Abertausenden von Arbeitslosen fand darin ihren Ausdruck.“

Nach einer Woche war die Wunde so weit verheilt und die Temperatur so befriedigend, daß die Ärzte Michael erlaubten, täglich zwei Stunden lang die Berichte seiner Direktoren entgegenzunehmen. Nun fühlte er sich sofort um vieles wohler! Eva wich nicht aus seinem Zimmer.

Eines Tages ließ sich Wenzel in der Klinik melden.

Wenzel war ein paar Wochen von Berlin abwesend gewesen. Wie ein Racheengel erschien er bei einer großen Zahl seiner Unternehmungen, nur in Begleitung von Mackentin und Stolpe. Seine Miene war kalt und finster, und die Direktoren und Prokuristen zitterten vor seinem Blick. Eine Reihe von Direktoren erhielt den Abschied. Nein, Wenzel Schellenberg war nicht der Mann, der hohe Gehälter bezahlte dafür, daß man sich auf die faule Haut legte. Sie täuschten sich. Er brauchte schöpferische Köpfe, die unausgesetzt das Interesse des Konzerns im Auge hatten.

Auf der Reise hatte er von dem Attentat auf Michael Kenntnis erhalten. Er kaufte in Hannover eine Zeitung, bevor er in den Kölner Schnellzug einstieg. Es war am Morgen nach dem Attentat. „Sehen Sie her, Mackentin!“ rief er Mackentin erbleichend zu. „Was ist das?“ Augenblicklich erhielt Stolpe den Auftrag, nach Berlin zu reisen und ausführlich nach Köln zu berichten. In Köln raffte Wenzel alle Zeitungen zusammen. „Lesen Sie, Mackentin,“ sagte er mit einem verstörten Lächeln. „Eigentlich hat die Kugel dieses Lumpen mir gegolten. Wenn etwas mit Michael passiert, so habe ich es auf dem Gewissen.“ Tagelang sah Mackentin die folternde Unruhe in Wenzels Blicken.

Die Berichte über Michaels Befinden lauteten täglich günstiger, und Wenzel schien ruhiger zu werden. „Es ging noch einmal vorüber, Gott sei Dank!“

Nach Berlin zurückgekehrt, fuhr er vom Bahnhof geradewegs zur Klinik.

Aber die Ärzte verbaten noch immer Besuche, die Michael erregen konnten. Infolgedessen mußte Wenzel sich damit zufrieden geben, Eva Dux zu sprechen. Eva fand Wenzel auffallend verändert, als ob ihn plötzlich eine Krankheit befallen habe. Er schien um einige Jahre älter, die Züge hart und fast entstellt. Sie mußte ihm versprechen, täglich zweimal telephonischen Bericht zu geben. Sie versprach es gern. Wenzel schien zu leiden.

Nun durfte Michael schon das Bett verlassen! Man erlaubte ihm einige Zigaretten und schwarzen Kaffee. Aber die Ärzte hielten ihn noch in der Klinik fest, da sich zuweilen in der Nacht geringes Fieber eingestellt hatte. Sie gestatteten dagegen leichte geistige Beschäftigung, natürlich keine schwere, ach, sie waren gnädig, die Herren Ärzte.

Behaglich die Zigarette rauchend, ging Michael im Zimmer auf und ab.

„Wir finden nun Zeit für manchen Gedanken, den wir immer zurückstellen mußten, Eva. Da ist zum Beispiel dieser Plan mit den schwimmenden Werkstätten, die überallhin leicht transportiert werden können. Willst du schreiben, Eva?“

Eva streikte. Das sei eine zu anstrengende Arbeit. Sie erinnerte dann, daß der Termin des Preisausschreibens bereits überschritten war.

Auch damit war Michael einverstanden.

Die Gesellschaft hatte vor mehreren Monaten ein Preisausschreiben veröffentlicht. „Verbesserungen und Vorschläge zum Bebauungsplan der Lüneburger Heide.“ Städtebauer, Architekten, Ingenieure und Volkswirte hatten sich an dem Preisausschreiben beteiligt, und es war nur selbstverständlich, daß sich unter den Bewerbern eine große Anzahl seiner Mitarbeiter befand. Die Durchsicht der eingereichten Arbeiten erfreute Michael. Das Kollegium trat zusammen, und es zeigte sich, daß einer seiner jüngsten Mitarbeiter, ein in der Öffentlichkeit völlig unbekannter Mann, die beste Arbeit geliefert hatte. Er hieß Georg Weidenbach und war der Leiter einer der kleineren Siedlungen in der Nähe von Berlin.

Michael bat Weidenbach zu sich, um ihn zu beglückwünschen. Ein schmächtiger junger Mann mit blondem Haar, gebranntem Gesicht und strahlenden Augen trat in sein Zimmer.

„Sie haben eine vorzügliche Arbeit geliefert,“ sagte Michael zu ihm und schüttelte ihm die Hand. „Ich werde Ihnen die Leitung einer Abteilung übergeben. Halten Sie sich bereit, nach Berlin zu kommen. Sobald ich aus der Klinik heraus sein werde, hören Sie von mir.“ Er betrachtete Georg aufmerksam. „Wo habe ich Sie schon gesehen?“ fragte er dann.

Georg erinnerte ihn an jene Szene, da er ihn bat, seine jetzige Frau mit nach Glückshorst nehmen zu dürfen.

„Oh, Sie sind es!“ entgegnete Michael. „Ich erinnere mich noch deutlich. Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Sie sehen um vieles besser aus als damals.“

Wenige Tage, nachdem die Ärzte Michael als geheilt entlassen hatten, rief er Weidenbach nach Berlin. Er führte Georg persönlich in die Abteilung ein, deren Chef er wurde, und übergab ihm seine Arbeitsräume.

„Also Glückauf und immer vorwärts, Weidenbach!“ rief er ihm zu.

Auf diesem Umweg war Georg nach langer Zeit wieder nach Berlin zurückgekehrt, durch dessen Straßen er einst verstört irrte, wie ein Hund, der seinen Herrn verlor.

Schwere Wochen für Christine! Sie war mit dem kleinen Georg nach Berlin gekommen, um die Wohnung einzurichten, die ihnen die Gesellschaft überwiesen hatte. Christine kaufte ein! Oh, bescheiden, sie drehte jeden Pfennig dreimal um, bevor sie ihn ausgab. Tag und Nacht nähte sie an den Vorhängen. Aber endlich war es soweit, und das kleine Einweihungsfest konnte stattfinden. Es prasselte und krachte in Christines kleiner Küche.

Als Gäste erschienen: Lehmann, der Einarmige, Georgs früherer Chef in Glückshorst, man erinnert sich? Er brachte eine Flasche Burgunder mit. Dann kam der Schlächter-Moritz. Er eilte aus Glückshorst herbei, berstend von Gesundheit und Kraft, beladen mit Produkten seiner Kunst. Dann kam Stobwasser, der jetzt sein Atelier am Nollendorfplatz hatte. Er brachte einen schwarzen Kater mit, von dem er sich nicht trennen konnte. Er brachte ferner einen Riesenstrauß mit, der kaum durch die Türe ging.

„Da seid ihr ja wieder!“ schrie er außer sich vor Freude und umarmte die Freunde.

26

Wenzel war in dieser Zeit fast immer in Geschäften unterwegs. Nur zuweilen kehrte er auf ein bis zwei Tage nach Berlin zurück. Er wohnte in seinem Hause im Grunewald, lebte aber völlig zurückgezogen. Er arbeitete.

Esther vermißte ihn nicht. Sie war zu sehr mit ihren Plänen für das Sommerfest in Hellbronnen beschäftigt. Das Fest sollte eine ganze Woche dauern, von Sonntag zu Sonntag. Ein junger Dichter hatte „Drei Szenen aus dem Leben Casanovas“ geschrieben, die an drei aufeinanderfolgenden Abenden aufgeführt werden sollten. Katschinsky führte die Regie. Esther hatte vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein zu tun. Sie war vollauf beschäftigt. Konferenzen mit Malern, Architekten, Schauspielern, Musikern, Dutzende von Depeschen und Briefen, sie lachte und ereiferte sich – es fiel ihr gar nicht auf, daß Wenzel, wenn er zuweilen auf zwei, drei Tage zurückkam, auf seinem Zimmer speiste und sie ihn fast nicht zu Gesicht bekam.

Wenzel fing an, an sich irre zu werden. Die Sicherheit, mit der Esther ihm gegenübertrat, ihre Herzlichkeit, wenn er auf wenige Minuten in ihrem Freundeskreis erschien, machte ihn stutzig. Sollte er ihr, trotz allem, Unrecht tun?

Eines Tages beobachtete Wenzel, daß das Benehmen Mackentins scheu und unsicher wurde. Ah, kein Zweifel, er täuschte sich nicht, das war nicht der alte Mackentin. Es war fast, als habe er ein schlechtes Gewissen. Er wich seinem Blick aus, seine Stimme klang belegt. Er schien etwas zu verbergen. Endlich stellte Wenzel ihn zur Rede.

„Was ist mit Ihnen, Mackentin? Was ist in Sie gefahren? Was geht hier vor?“ drang er in ihn.

Mackentin erblaßte, seine Hände zupften verlegen an der Zigarre. „Oh, nichts,“ erwiderte er, während er Wenzels Blick auswich. „Oh, nichts, gar nichts oder fast nichts. Indessen, ich schäme mich, ich glaube es Ihnen als Freund schuldig zu sein. Sie waren mir gegenüber immer großmütig und ließen mich mit in die Höhe kommen, obwohl ich doch von Geschäften nichts verstehe und Ihnen sogar häufig Schaden zufügte.“ Und endlich fiel Mackentin wieder in jenen Ton, den er bei Unannehmlichkeiten wählte. Es war ein etwas kurzer, etwas schnarrender Ton, der an den früheren Soldaten erinnerte. Kurz und gut, ohne viele Umstände erklärte Mackentin, er halte es für seine Pflicht, Wenzel daran hinzuweisen, daß der Schauspieler Katschinsky in aller Öffentlichkeit damit prahle, der Geliebte Esther Schellenbergs zu sein. Stolpe habe es ihm vor einigen Tagen mitgeteilt.

Wenzel saß mit grauem Gesicht. Es hatte wieder die Farbe von Blei, das lange an der Luft liegt. Er faßte sich indessen rasch, es ging nun zu Ende. Er nahm Mackentin das Wort ab zu schweigen. Dann hatte er eine längere Aussprache mit Stolpe. Stolpe stand das Wasser in den Augen, als er, zitternd an allen Gliedern, Wenzels Zimmer verließ.

An demselben Nachmittag noch verließ Wenzel Berlin im Automobil. Ein Narr! Welch ein Narr! Fast wäre er an sich irre geworden. Dieses Stück, das man spielen wollte, diese „Drei Szenen aus dem Leben Casanovas“, hatten ihn beinahe düpiert. Oh, welch grandiose Dummheit! Es traten ihm fast die Tränen in die Augen, aus Trauer über ein solches Ausmaß von Naivität und Borniertheit. Der Dichter dieses Stückes wohnte bei Katschinsky. Er erfuhr alle diese Dinge nebenher, und eines Tages, in einer totalen Verdunkelung seines Gehirns, hatte er sich folgendes Blendwerk vorgegaukelt: der Dichter des Stückes wohnt bei Katschinsky, dem Regisseur. Esthers unfaßbare Begeisterung für dieses Fest. Vielleicht ging sie zu Katschinsky, vielleicht berieten sie zu dritt, debattierten, ereiferten sich. Oh, es war möglich, daß sich alles ganz einfach, lächerlich einfach erklärte – während er sich die Brust mit beiden Händen aufriß. Oh ja! Ein Narr! Welch ein Narr! Nun aber hatte ihn der Keulenschlag mitten ins Gesicht getroffen. Man muß dich schlagen, wie man den Stier schlägt, bevor du begreifst.

Dieser Bursche überhaupt, dieser „Regisseur“! Wie? Er erinnerte sich, wie lange war es her? Es war damals, als er die Geschichte mit Jenny Florian hatte. Am Anfang. Damals erhielt er einen anonymen Brief: „Hüten Sie sich vor dem Maler K. Er hat Ihnen Rache geschworen! Rache für Jenny Florian!“ Er zeigte diesen Brief Jenny. Sie sagte: Er selbst hat diesen Brief geschrieben.

Seht an! Seht an!

Der Wagen fegte durch Schmutz und Regen. Wenzel klopfte an die Scheiben, und der Wagen hielt.

„Wohin fahren Sie?“

„Nach Warnemünde, wie Herr Schellenberg befohlen haben,“ antwortete der Chauffeur.

Wenzels Blick schweifte leer durch den Regen. Er besann sich. „Es schien mir, als führen Sie falsch.“ Wieder fegte der Wagen durch Schmutz und Regen. Es wurde Nacht. Also gut, Warnemünde. Es war höchst gleichgültig. In Warnemünde lag die Jacht.

Gegen Mitternacht kamen sie in Warnemünde an. Es regnete und der Wind fegte. Die Scheinwerfer des Autos blendeten über Glasveranden. Sie schienen in eine Stadt von Treibhäusern geraten zu sein. Am Bollwerk, gegenüber vom Kai, lag die Jacht vertaut. Die Jacht schien wie verlassen.

Der Chauffeur pfiff, er schrie den Namen der Jacht, und Wenzel zuckte, wie geschlagen, zusammen, so oft der Chauffeur in die Nacht hineinbrüllte: „Halloh, Esther Schellenberg!“ Nichts regte sich. Endlich fand der Chauffeur einen Nachen, der Schellenberg übersetzte. Und endlich zeigte sich auf der Jacht ein verschlafenes und verstörtes Gesicht.

„Schlaft ihr alle?“ schrie Wenzel zornig, und in diesem Augenblick wurde die Jacht lebendig. Licht flammte auf, Schritte eilten. Der Kapitän war nicht an Bord. Wenzel befahl, ihn sofort zu holen und die Jacht segelfertig zu machen. Ja, plötzlich war es ihm in den Sinn gekommen, in das Meer hinauszufahren. Das Wasser rauschte, der Wind trillerte in den Tauen. Schon saß Wenzel in der Kajüte, und plötzlich fühlte er sich freier und stiller. Welche Ruhe! Welche wunderbare Stille! Sein Zorn verging. Wie wunderbar rauschte das Wasser!

Der Steward brachte heißen Kaffee, in den Wenzel Kognak goß, dann zündete er sich eine Zigarre an und ging auf und ab. Fast hatte er seine ganze Schmach und Schande vergessen. Als der Kapitän der Jacht nach einer Stunde, bestürzt und verwirrt, Entschuldigungen stammelnd, in den Salon trat, war Wenzels Zorn schon verraucht.

„Machen Sie keinen Unsinn,“ unterbrach er den Kapitän, einen früheren U-Bootführer, namens Wittgenstein. „Wir sind unter uns Kameraden, und es ist doch völlig einerlei, wenn Sie eine Nacht nicht an Bord schlafen. Leisten Sie mir Gesellschaft beim Essen! Ich habe es plötzlich in Berlin nicht mehr ausgehalten. Ich brauche etwas frische Luft. Wir werden einen Schlag in die See machen. Sind Sie bereit?“

Wittgenstein erwiderte, daß er nach dem Schleppdampfer geschickt habe, es werde wohl eine geraume Weile vergehen.

„Wir haben ja Zeit, Wittgenstein!“ rief Wenzel gutgelaunt aus. „Wir werden essen und trinken.“

Er ließ Wein bringen und stürzte ein Glas um das andere hinunter. „Ich bin zur Zeit mit den Nerven fertig, Wittgenstein!“ rief er lachend aus. „Sehen Sie, wie meine Hände fliegen. Ich muß ein paar Tage auf die See. Auch die Mannschaft soll trinken, Wittgenstein. Es ist schlechtes Wetter, und ich habe sie um ihre Nachtruhe gebracht. Geben Sie jedem eine Flasche von diesem Bordeaux und ein paar tüchtige Schnäpse!“

Der Morgen graute, als der Schleppdampfer das Tau loswarf und die Jacht klatschend gegen die See ankämpfte. Wittgenstein hatte wegreffen lassen, was möglich war, es war schweres Wetter.

„Welchen Kurs befehlen Sie, Herr Schellenberg?“

„Nehmen Sie Kurs auf Kopenhagen. Wie wunderbar ist es hier auf der See!“

Stampfend und klatschend flog die Jacht dahin. Als die dänische Küste in Sicht kam, befahl Wenzel den Kurs auf Bornholm.

„Kreuzen Sie, fahren Sie, wohin Sie wollen,“ sagte er. „Ich will nur nicht in die Nähe von Menschen kommen.“ Am Nachmittag schlief er ein, und am Abend begann er wieder mit Wittgenstein zu zechen. Um Mitternacht war das ganze Schiff betrunken. So flogen sie dahin.

Wenzel war laut und ausgelassen. „Was würden Sie sagen, Wittgenstein,“ schrie er dem Kapitän zu, „wenn ich einen Menschen totschlüge?“ Eine See brach zischend über das Deck.

„Ich würde es sehr bedauern. Sie werden es gewiß nicht tun.“

„Vielleicht doch, Wittgenstein! Vielleicht hören Sie es eines Tages.“

Etwas später wandte er sich lachend an den Kapitän. „Hören Sie, Wittgenstein, ich habe einen prachtvollen Gedanken. Wie wäre es, wenn wir zwei eine Schmugglerfirma aufmachen würden? Wir könnten Alkohol nach Norwegen und Finnland schmuggeln, ein wunderbarer Beruf für zwei alte Kriegsleute, wie wir es sind!“ Und Wenzel brach in ein lautes Gelächter aus.

Was ist mit ihm vorgefallen? fragte sich Wittgenstein. Er war bemüht, so wenig wie möglich zu trinken, so sehr ihn auch Wenzel nötigte. Kühl und nüchtern blieb er während der ganzen Fahrt.

Drei Tage und drei Nächte jagte die Jacht unter grauen Regenböen in der schweren See dahin. Dann endlich war es auch für Wenzel genug. Sie steuerten nach Warnemünde zurück, und Wenzel begab sich ins Hotel, um sich augenblicklich zu Bett zu legen.

27

Wenzels Körper glühte. Er stöhnte im Schlaf.

Er träumte, daß er auf der Flucht sei. Irgend etwas war geschehen, etwas Schreckliches, und er war entflohen. In einem Schnellzug jagte er dahin. Die Scheiben klirrten, schwankend ging er durch den Zug in den Speisewagen. Plötzlich bemerkte er, daß seine linke Manschette blutig war. Er erhob sich rasch, warf erschrocken Blicke um sich, und kehrte durch den schwankenden Zug in sein Abteil zurück. Da sah er zu seinem Schrecken, daß seine Weste mit Blut befleckt war. O ja, das war es, er hatte gemordet! Wen? warum? Er wußte es nicht. Und plötzlich wußte er ganz deutlich, daß er auf der Flucht war und daß er den Führer des Zuges bestochen hatte, möglichst dahinzurasen. Phantastisch war die Stadt, in der er ankam, voll vom Gebrüll von Dampfern, ein Wald qualmender Schlote, die Sirenen heulten und schrillten. Und hier lag ein Dampfer, der eben zur Abfahrt fertigmachte. Er hieß „Creol“. Er tutete dumpf, die Luft erbebte. Eben waren sie im Begriff, die Schiffstreppe einzuziehen, schon wurden die Taue gelöst. Gerade im letzten Moment gelang es Wenzel noch, an Bord zu kommen.

Ja, nun war er gerettet, er atmete auf. Der Dampfer fuhr brüllend und tutend dahin, und der Wald rauchender Schornsteine versank. Sicherheit, Ruhe, kein Mensch konnte ihn mehr einholen.

Beim Diner bemerkte Wenzel plötzlich, daß auf seinem Frackhemd ein kleiner Blutfleck zu sehen war, der sich immer mehr vergrößerte. Schon blickten ihn viele Augen argwöhnisch an. Er erhob sich erbleichend, schlüpfte rasch in ein neues Hemd. Aber als er zurückkam, siehe, da waren plötzlich auf dem weißgestärkten Frackhemd Spuren von blutigen Fingerspitzen zu sehen. Nun aber schien ihn niemand mehr zu beachten.

Der Dampfer jagte dahin, mit rasender Schnelligkeit zog er durch das Meer. Ein Strom, breit und kochend wie der Rhein, war das Kielwasser. Niemand schenkte Wenzel besondere Aufmerksamkeit, auch der Steward, der seine Kabine aufräumte, schien gar nicht zu beachten, daß seine Taschentücher blutig waren und selbst die Bettwäsche Blutspuren zeigte.

„Wo sind die Passagiere?“ fragte Wenzel in bester Laune den Kapitän, als er den Speisesaal betrat. Auch der Kapitän hatte sein alltägliches Gesicht aufgesetzt. Anfangs schien es Wenzel, als verfolge er ihn mit prüfenden Blicken.

„Sie sind seekrank.“

Und weiter jagte der Dampfer, der den Namen „Creol“ trug. Ein sonderbarer Name.

Aber die Passagiere kamen nicht wieder. Mehr und mehr schien der Dampfer auszusterben. Es war nur noch ein einsamer Steward an Deck, und auf der Brücke ging ein einsamer Offizier hin und her.

„Was ist eigentlich los?“ schrie Wenzel zu dem einsamen Offizier auf der Brücke empor.

Aber der Offizier schüttelte nur den Kopf und antwortete nicht. Und der Dampfer raste dahin, die Maschine bebte. Schwarze Rauchwolken wirbelten aus den drei Schornsteinen.

Wenzel klingelte nach dem Steward, niemand kam. Er öffnete die Tür der Kabine und rief in den Korridor hinaus, niemand antwortete. Er ging an Deck, niemand war zu sehen. Er schritt durch das ganze Schiff, kein Mensch. Und dabei zitterte der Dampfer von oben bis unten, so furchtbar raste er dahin. Auch auf der Brücke war niemand mehr zu finden. Wenzel stieg in den Heizraum hinab. Niemand. Da ergriff ihn eine unbeschreibliche Angst. Er eilte durch alle Korridore, durch alle Etagen des dahin rasenden Schiffes, auf alle Verdecke eilte er, nach Menschen suchend, und plötzlich erkannte er, daß er allein war auf dem Schiffe. Nun aber, gerade in diesem entsetzlichen Augenblick, begann die Sirene des Dampfers, von einer unsichtbaren Hand bedient, dumpf und furchtbar zu tuten.

Da streckte er die Hände empor zum Himmel und schrie voller Entsetzen: „Ich habe gemordet! Ja, ich bin es!“

In diesem Augenblick erwachte er, in kalten Schweiß gebadet. „Ich habe geträumt,“ sagte er, „etwas ganz Entsetzliches.“ Er betrachtete seine Hände. Was war es doch mit meinen Händen?

Er klingelte, und ein Kellner trat ein und fragte nach seinen Wünschen. Wenzel starrte ihn lange an. Er begriff nicht, er wußte nicht, wo er war. War er nicht eben auf einem Schiff gewesen? Da sah er endlich, daß ein Kellner vor ihm stand.

„Bringen Sie mir starken schwarzen Kaffee,“ sagte er.

Draußen tutete ein Dampfer, und plötzlich erinnerte sich Wenzel, daß er sich in Warnemünde befand.

28

Auf den Rat der Ärzte war Michael auf einige Wochen nach Sperlingshof gegangen, um sich völlig zu erholen. Dann nahm er seine Arbeit in Berlin wieder auf. Sonderbar, in all den Jahren hatte er nie Gelegenheit gehabt, sich so lange auszuruhen, und doch schien es ihm, als ob ihm die Arbeit nicht so leicht wie sonst von der Hand ginge. Die Zeiten waren indessen nicht danach, daß man sich hinlegen konnte, wenn man müde war, oder schlafen, wenn man schläfrig wurde. Es mußte gehen, und es ging auch einige Zeit. Eines Tages aber erlitt er mitten in einer Sitzung einen Schwächeanfall. Er war gezwungen, die Sitzung zu unterbrechen. Ganz plötzlich hatte ihn starkes Fieber überfallen. Eva rief augenblicklich die Ärzte.

Die Ärzte kamen und machten besorgte Gesichter. Der längst verheilte Wundkanal schien sich aus irgendeinem Grunde wieder entzündet zu haben. Ein leiser Schmerz stellte sich in der Schulter ein, und am nächsten Tage war der linke Arm von der Schulter an leicht gelähmt. Diese Erscheinung ging indessen rasch vorüber. Das hohe Fieber aber blieb bestehen.

Michael war ein höchst ungeduldiger Patient. „Ich kann doch nicht wegen des bißchen Fiebers wochenlang im Bett liegen!“ rief er aus.

Aber Eva beschwor ihn, den Ärzten gehorsam zu sein. Sie wich Tag und Nacht nicht von seinem Lager. Wann schlief sie? Michael wußte es nicht, denn immer war sie gegenwärtig. Wenn sich am Abend das Fieber steigerte, legte sie ihm ihre kühlen Hände auf die Stirn. Das beruhigte ihn.

Da lag er, und das Blut sang in seinen Ohren. Auf seiner Haut knisterten Funken, und zuweilen brauste es in seinem Hirn.

Sein Werk! Wie albern, hier untätig liegen zu müssen in einer Zeit, da jede Arbeitsstunde kostbar war! Sein Blut kochte, und ungeduldige, gebieterische, rasche Gedanken jagten durch seinen Kopf.

Oh, erst jetzt war er imstande, die ungeheure Aufgabe zu übersehen!

Billiger, besser, rationeller, schöpferischer. Jede Einzelheit mußte überprüft werden. Die hygienischen Gesichtspunkte waren noch mehr zu beachten. Er brauchte Erholungsheime, er brauchte Bäder, an den Häusern ließ sich noch viel sparen, die Geräte mußten verbessert werden, vereinfacht. Ein Spaten zum Beispiel, wieviele Spatenstiele verfaulten jedes Jahr, wieviele Hämmer wurden im Jahre nutzlos weggeworfen, weil die Stiele abbrachen. Gerade das Kleinste und Unscheinbarste war bei einer solch ungeheuren Organisation das Wichtigste.

„Versuche zu schlafen,“ bat Eva und legte ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn.

Michael schüttelte den Kopf und starrte sie mit fiebernden Augen an. „Ich kann nicht schlafen, mein Liebling,“ sagte er.

Ja, wie sollte er schlafen können, wenn die Gedanken ihn überrannten? Man mußte die Verpflegung verbessern und die Bekleidung. Man mußte besondere Arbeitsschuhe und Arbeitskleidung schaffen. Ging es da oben in Ostfriesland vorwärts, wo sie den Schlick des Meeres als Dünger für das Ödland benutzten? Man mußte besondere Waggons konstruieren zum Transport des Schlicks. Er verwandelte den Sand in Weideland. Und wie ging es in der Lüneburger Heide? Wer leitete dort die Arbeiten? Er hatte den Namen vergessen.

Ärgerlich, dieses Fieber! Diese Arbeit in der Lüneburger Heide würde zehn Jahre dauern. Weshalb hatte ihm die Regierung verweigert, die Strafgefängnisse aus Berlin nach der Heide zu verlegen, wo er Arbeitskräfte brauchen konnte ohne Zahl? Weshalb zögerten sie noch immer, die Vorlage einzubringen, daß alle Freiheitsstrafen in Arbeitsleistungen umzuändern seien? Nichts ging vorwärts. Er hatte seit vierzehn Tagen keinen Bericht erhalten über die Fortschritte des Kanals Hannover-Elbe. Die Ärzte erlaubten nicht, daß man ihn über das Notwendigste unterrichtete. Und die Industriesiedlungen am Mittellandkanal, gingen sie vorwärts? Und die Bauernsiedlungen in Ostpreußen und auf den bayrischen Hochmooren? In vierzehn Tagen sollte der Kongreß der Wasserbautechniker stattfinden. Würde er bis dahin genesen sein? Und der Weser-Main-Kanal? Die Gärtnereigürtel an den Peripherien der Städte, die Gärten und Gärtnereien für die Schulen, welch ein wichtiges Thema! Welch ein wichtiges Kapitel die Sommerschulen im Freien! Die Probleme waren ohne Zahl.

„Versuche doch zu schlafen,“ bat Eva.

„Daß die Ärzte nicht imstande sind, solch ein bißchen Fieber zu heilen,“ antwortete Michael und schüttelte den Kopf.

29

Bald!“ sagte Wenzel und nickte bedeutsam. Er blickte Esther nach, die in einer phantastischen Abendrobe, halbnackt, über den Korridor schritt und sich von der Zofe in den Abendmantel hüllen ließ.

Bald! Bald! Wenzel war sehr schweigsam geworden, seitdem er wieder in Berlin war. In seinem Bürogebäude zitterte man, wenn man ihn von weitem sah. Wenzel war laut, heftig, häufig sogar zornig gewesen. Man hatte sich daran gewöhnt. Es war nicht so gefährlich, wie es sich anhörte. Aber der schweigende Wenzel war ein Schrecken. Die Abteilungsvorsteher näherten sich auf Zehenspitzen seinem Schreibtisch. Da saß er, die Stirn umwölkt, die Lippen zusammengekniffen, und bemühte sich, äußerst höflich und äußerst korrekt zu sein. Man hätte es lieber gehört, wenn er laut und ärgerlich wie früher gewesen wäre. Häufig streifte ein forschender Blick Mackentins Wenzels kaltes und verschlossenes Antlitz. Was brütete er? Mackentin kannte Wenzel so lange und so genau, daß er wußte, daß etwas ganz Ungewöhnliches in Wenzel vorging.

Wie damals, als er anfing, verbrachte er die Abende wieder in den Weinstuben in der Nähe des Gendarmenmarktes. Er saß immer allein. Er vertrug keine Gesellschaft. Er spielte auch nicht mehr Schach.

Mackentin arbeitete oft die halbe Nacht hindurch. Wie häufig kam es vor, daß Wenzel um zwei, um drei Uhr nachts sein Büro betrat, um stundenlang auf- und abzugehen. Worüber grübelte er?

Mackentin hatte Wenzel in seinem Hause beobachtet. Wie sonderbar, Wenzel schien gut gelaunt wie früher. Er plauderte und scherzte, als sei nichts geschehen, als brüte er nicht über irgendeiner geheimnisvollen Sache. Aber Mackentin kannte Wenzels Stimme zu genau. Er hörte die Verstellung heraus, aus dem etwas zu hellen Klang, und häufig beobachtete er Wenzels Augen, wenn er Esther nachsah. Es war ein Glanz in diesen grauen Augen! Sie waren ja niemals gütig gewesen, aber in diesen Sekunden war ein Glanz in diesen Augen, der nichts Gutes versprach.

Zu Hause spielte Wenzel mit Mackentin häufig Schach, Billard und Karten. Sie rauchten, das Weinglas zur Seite, als habe sich nicht das mindeste ereignet. Aber wie spielte Wenzel jetzt Schach? Er, der etwas wie ein kleiner Meister gewesen war, ein verschlagener, zäher Gegner, er spielte wie ein Anfänger. Mackentin wußte genau, daß alles nur Verstellung war. Dieses schlechte Schachspiel verriet ihn mehr als alles andere.

Fast an allen Abenden, die Wenzel zu Hause zubrachte, lud er Mackentin zu sich ein. Es schien Mackentin, als ob er ihn brauche, vielleicht um die Ruhe zu bewahren, vielleicht um seine Rolle durchzuspielen.

Worüber grübelte er?

Gestern abend hatten ihn zwei Angestellte des Konzerns in einem kleinen Café am Alexanderplatz zufällig gesehen. Was tat er dort? Er, Wenzel, der sonst Tag und Nacht in seinem Auto herumjagte, benutzte fast nie mehr seine Privatwagen. Der Chauffeur besprach sich mit Mackentin. Er fand Herrn Schellenberg auffallend verändert. Mackentin zuckte die Achseln und lächelte.

„Er ist überarbeitet,“ sagte er. „Das ist alles. Er hat mehr Sorgen als wir.“

Häufig ging Wenzel viele Stunden spazieren. Dann geschah es, daß er oft laut vor sich hinsprach.

„Es muß geschehen,“ sagte er. „Es gibt nur diese eine Lösung.“

Ja, damals auf der Jacht, als er auf der Ostsee herumjagte, war ihm diese Lösung eingefallen. Es gab keine andere. Er hatte es dem alten Raucheisen nie vergessen können, daß er ihn tadelte, weil er zehn Minuten zu spät kam. Was sollte er nun tun, da man seinen Namen in den Schmutz trat?

„Es wird wohl so sein müssen!“ sagte Wenzel laut zu sich, während er unter dunklen Bäumen dahinging. „Es gibt nur diese eine Lösung! Das Schicksal hat gesprochen. So wahr ich lebe, mein Leben hätte keinen Zweck mehr. Es wäre verächtlicher als das eines Jagdhundes. Man wird mich verstehen, und alle werden begreifen, daß es eine andere Lösung nicht gab.“

Und so oft er Esther nachblickte und der harte Glanz in seine Augen trat, dachte er und sagte er: „Bald! Bald!“

Und Esther? Sie tänzelte dahin, sie lachte, sprühte von witzigen Bemerkungen, bewegte sich in ihrem Hofstaat, in Konzerten, Theatern, Gesellschaften. Ihre Beschäftigung bestand darin, das Programm für jeden Tag zu entwerfen und es zu absolvieren. Sie ahnte nichts, sie wußte nicht, daß er, Wenzel, ihren Tod beschlossen hatte ...

30

Nein, es gab keine andere Lösung. Wenzel wußte es. Er wiederholte es sich tausendmal am Tage und tausendmal in der Nacht. Er oder sie, etwas anderes gab es nicht. Kein Mensch kann ohne Selbstachtung leben, ein Wenzel Schellenberg auf keinen Fall. Zu infam hatte sie gehandelt, es gab Grenzen, die man nur mit dem Einsatz seines Lebens überschreiten durfte. Was weiter geschah, darum kümmerte er sich nicht.

Er untersuchte seinen Vorsatz gründlich, von allen Seiten betrachtete er ihn. Wenn man ihm einen Ausweg angeben würde, so wollte er ja gern diesen Ausweg wählen. Aber es gab keinen Ausweg. Niemand konnte ihm einen Ausweg sagen. Er konnte ja zum Beispiel nach Südamerika gehen, in die Wälder des Amazonenstromes, wo ihn niemand fand, niemand kannte, aber das war keine Lösung. Das schamlose Lächeln dieser Frau würde ihm folgen, ihr hochmütiges Gesicht und ihre freche Stirne. Er würde auch nicht eine Sekunde vergessen können, daß diese Frau seine Würde und Selbstachtung, alles, was er war, in den Schmutz getreten hatte. Es gab keinen Ausweg, es gab nur diese eine Lösung.

Er hatte nur noch diesen einen Gedanken im Kopf, Tag und Nacht. Er war wie ein Mensch, der unter einer Felsplatte begraben liegt und nicht mehr atmen kann. Erst von diesem Augenblick an würde er wieder atmen können – und was dann kam, kümmerte ihn nicht. Sieh doch zu, alles andere ist völlig einerlei, sagte er sich. Er war wie ein Mensch, dem man andauernd, Tag und Nacht, ins Gesicht spie, und diese ewige, ekelhafte Besudelung würde erst von diesem Moment an aufhören.

Nein, es gab keine andere Lösung!

Soweit war er. Und nun überlegte er, in aller Ruhe, wie er seinen Vorsatz in die Tat umsetzen sollte. Er würde nicht leugnen, gewiß nicht, aber er war kein gewöhnlicher Totschläger. Er konnte Esther auf die Jacht locken und ins Meer stürzen, er konnte sie bei dem Sommerfest in Hellbronnen vor allen Gästen töten. Er konnte sie erwürgen, in ihrem Schlafzimmer, um ihren letzten Blick, den Blick des letzten Erschreckens zu sehen.

Noch war er unschlüssig. Er brütete. Da kam ganz unerwartet aus England Besuch. Drei Herren, ein älterer und zwei jüngere, und zwei Damen. Vielleicht waren die beiden jungen Männer frühere Liebhaber Esthers? Wer weiß es? Esther plante zu Ehren ihrer englischen Gäste ein großes Fest.

Und plötzlich stand Wenzels Entschluß fest: Dieses Fest sollte sie noch erleben. Noch einmal sollte sich ihre Eitelkeit in der Bewunderung ihrer Gäste spiegeln, noch einmal sollte sie sich den Blicken der Männer preisgeben dürfen. Noch einmal sollte sie alles genießen, was ihr das Leben bedeutete. Nach dem Fest aber würde er sie erschlagen, erschlagen, höchst einfach, genau so, wie man einen Hund erschlägt.

„So wahr ich Wenzel Schellenberg bin!“

Nun, da der Entschluß feststand, fühlte sich Wenzel erleichtert. Die Fahlheit seines Gesichts wich, seine Wangen färbten sich wieder, seine Stimme schien wieder ihren alten Klang zu bekommen.

Vielleicht hat er die Krisis überstanden, dachte Mackentin, den das freie Lachen Wenzels überraschte. Selbst er ließ sich täuschen.

31

Das Fest kam heran.

Die Autos rollten über den Kiesweg der Auffahrt. Schultern, Arme, Roben, Lackschuhe und Fräcke quollen aus den Autos. Es kamen Minister und Diplomaten, Botschafter und Gesandte, die Finanz, der alte Adel, die neuen Vermögen, Industrielle mit starken Backenknochen, es kam die Presse. Die Photographen waren schon durch einen Seiteneingang in das Haus geschlichen und lauerten. Es kamen Leuchten der Wissenschaft und berühmte Namen der Kunst. Es kamen auch einige Sterne vom Theater und vom Film.

Auch Katschinsky befand sich unter den Gästen. Wenzel hatte ihn recht gut gesehen. Oh, ob er ihn gesehen hatte! Vollendet spielte Wenzel die Rolle des Gastgebers. Für jeden Gast hatte er ein höfliches Wort. Aber er übersah Katschinsky. Niemand fiel es auf, Katschinsky selbst nicht. Es waren gegen zweihundert Personen geladen. Das ganze Haus strahlte vor Licht. Wie ein gleißender Würfel lag es im Grunewald. Durch die Säle fluteten die Gäste. Glanz, Licht, Brandung der Stimmen, mitten darin Esther wie eine Fürstin, die empfängt.

Esther hatte die Haare für das heutige Fest brennendrot gefärbt, um ihre Freunde und Freundinnen zu überraschen. Sie trug ein silbergraues, ganz dünnes Kleid, das jede Linie ihres Körpers, die Form ihrer kleinen Brüste mit den mädchenhaften Knospen, den Schwung ihrer Schenkel allen Blicken preisgab.

Sie ahnt nichts, dachte Wenzel triumphierend. Würde sie es ahnen, so würde sie mir vor allen Leuten zu Füßen fallen, um nur ja diese Welt voller Musik und Glanz, voll Heiterkeit und törichter Worte, voll ewig wechselnder Kleider und blitzender Steine nicht verlassen zu müssen.

Sie hatte den alten herzoglichen Schmuck angelegt.

Wenzel trank an diesem Abend nur zwei Gläser Sekt und eine Tasse Kaffee. Er betrachtete seine Hände. Sie waren ruhig, sie bebten nicht. Ja, vollendet spielte er seine Rolle als Wirt. Er sprach mit den Gesandten über Politik, mit den Industriellen über die Industrie und mit einem Filmstar, der ihm große blaue Augen machte, über die Schwierigkeiten ihres Berufes. Und da, in irgendeinem Winkel, entdeckte er den Bildhauer Stobwasser. Er schob die Hand unter seinen Arm und ging mit ihm in ein stilles Zimmer und unterhielt sich mit ihm über seine Tiere, ob er noch den Papagei habe, der singen konnte: Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr? Wenzel lachte laut heraus, so daß Stobwasser, der einen viel zu weiten Frack und viel zu große Schuhe trug, in Verlegenheit geriet, so laut und merkwürdig lachte Wenzel. Dann unterhielt Wenzel sich mit ihm über einen Brunnen, den er für seinen Garten gern besäße. Er habe da einen Gedanken, und Stobwasser möge sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen lassen. Und Wenzel entwickelte ganz konfuse Pläne.

Schon war Wenzel gegangen. Er verbeugte sich vor einer älteren, über und über bemalten Dame, die eine flachsfarbene Perücke trug. Stobwasser sah Wenzel mit noch immer verdutztem Gesicht nach. Er ist irrsinnig, dachte er.

Das Geklirr der Bestecke, das Klingen der Gläser, die Reihen der Diener. Der Haushofmeister, der frühere Regimentskommandeur, schwitzte Blut. Es war natürlich viel leichter, ein Regiment zu kommandieren.

„Weshalb sind Sie so aufgeregt?“ fragte ihn Wenzel und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

„Ich bin in der Tat heute außerordentlich nervös,“ stammelte der Haushofmeister. „Ich bitte um Ihre Nachsicht!“

Das Diner war beendet. Wieder brausten die Stimmen auf. Welch ein ungeheurer Lärm! Die Stimmen der Damen schwangen, mitten darin Esthers Lachen. Musik brauste. Irgend jemand sang, wunderbar tönte ein Cello. Wiederum entdeckte Wenzel Stobwasser und wollte mit ihm sprechen, aber der Bildhauer war plötzlich verschwunden. Er wich Wenzel aus, er fürchtete sich vor ihm. Er, dessen Beruf es war, das menschliche Antlitz zu ergründen, war der festen Überzeugung, daß Wenzel Schellenberg irrsinnig geworden war. Man wird es morgen in den Zeitungen lesen, sagte er sich und verließ das Haus, ihm graute.

Die Musik spielte zum Tanz. All die Lackschuhe und Fräcke, Vorhemden, Roben, dünnen Seidenstrümpfe, nackten Schultern und Arme flossen durcheinander. Wenzel sah Esther zu, wie sie tanzte. Sie tanzte fast ausschließlich mit den jungen Engländern, die kürzlich gekommen waren.

Sie ahnt es nicht, dachte er. Würde sie es ahnen, so würde sie mir zu Füßen fallen, nur um diese Welt nicht verlassen zu müssen, wo man tanzt.

Der Haushofmeister hatte schon den dritten Kragen gewechselt. Die Musik verstummte. Die Photographen verschwanden mit ihren Kästen. Die Diener hielten die Mäntel bereit. Die Autos fuhren knirschend über den Kiesweg ab. Der Haushofmeister trank ganz im geheimen in einem Winkel rasch zwei Gläser Sekt, er atmete auf. Die letzten Autos fuhren ab. Die Gäste, die im Hause wohnten, stiegen lachend und scherzend die Treppe empor. Die Lichter erloschen. Ganz plötzlich lag der große Saal dunkel, und der graue Tag blickte durch die hohen Fenster. Wenzel blickte Esther nach, wie sie in ihren Räumen verschwand. Sie waren von seinem Schlafzimmer nur durch den Korridor getrennt.

32

Nun lag das ganze Haus in Finsternis. Wenzel saß in seinem dunklen Zimmer und lauschte, er wagte kaum zu atmen. Oben, in den Gastzimmern, lachte noch eine weibliche Stimme. Georgette, die Französin, die ihrem Mann durchgebrannt war, dann wurde es ganz still.

Plötzlich aber knackte ein Schritt, eine Türe ging. Wer schleicht durch das Haus? Wenzel ging leise zur Treppe und horchte. Er hatte sich umgezogen. Er trug einen Straßenanzug. Nun klinkte er leise die Tür zu Esthers Gemächern auf und verschwand. Das Haus war ganz still, nichts regte sich. Er stand eine Weile und atmete. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Hier kannte er jeden Quadratfuß, jedes Möbelstück, jeden Gegenstand, alles, denn wie oft war er nachts hier in der Dunkelheit eingetreten? Aus dem Vorzimmer kam er in den kleinen Salon. Auf dem Fußboden stand ein blühender Busch. Aber es war kein Busch, es waren riesige Dahlien in einer hohen, bauchigen japanischen Vase. Daneben stand eine zierliche, kleine Toilettenkommode, die all die Lippenstifte, Bürsten, Farben, Schminken enthielt. Auf dieser kleinen Kommode stand ein schwerer Bronzeleuchter, eine italienische Arbeit, Menschenleiber, männliche und weibliche, die sich ineinander verschlangen. Diesen Leuchter nahm Wenzel in die Hand, er prüfte sein Gewicht. Dann stellte er ihn wieder vorsichtig auf die Kommode zurück. Es würde wohl besser mit den Händen geschehen. Plötzlich erschrak er. Aus dem kleinen Seitenspiegel starrte ihm eine schneeweiße Maske entgegen. Es war sein Gesicht. Ich bin etwas bleich, dachte er und klinkte vorsichtig die Tür zu Esthers Schlafzimmer auf. Er öffnete sie weit. Die Tür machte nicht den geringsten Laut. Wunderbar war alles in diesem Hause gearbeitet. In Esthers Schlafzimmer brannte Licht. Er war nicht überrascht, er wußte, daß sie eine kleine Ampel zu brennen pflegte.

Nun war es also so weit ...

Da lag sie ausgestreckt auf einem Bett, das wie eine Muschel geformt war, wie eine breite Muschel, in der gut vier Menschen schlafen konnten. Das Bett war silbern bemalt.

Da lag sie, das rote Haar hingeweht wie das Feuer einer Fackel, ihr einer Arm lag auf der Decke, der Mund stand halb offen. Er ging näher, Schritt für Schritt. Das war sie also, und Wenzel ging näher, er achtete gar nicht darauf, ob seine Schuhe knarrten oder nicht. So stand er und betrachtete sie. Plötzlich begann Esther sich zu regen. Die Augen schienen zu blinzeln, ihr Mund öffnete sich.

Wenzel beugte sich über sie, er hielt den Atem an, schon hob er die Hände vor: da begann Esther plötzlich im Schlaf zu lachen. Es war ein kleines, klingendes und helles Lachen, das Wenzel bis ins tiefste Herz erschreckte. Seine Hände sanken herab, und er stand lange still. Wieder lachte Esther. Es war das Lachen eines heitern, unschuldigen Kindes.

Nun begann Wenzel zu schleichen. Er schlich vorsichtig rückwärts und verließ das Zimmer.

Am andern Morgen war Esther erstaunt, daß alle ihre Türen offen standen. Lachend erzählte sie beim Frühstückstisch ihren Gästen, daß sie wirklich einen kleinen Schwips gehabt haben müsse.

Wenzel aber erwachte zu seinem großen Erstaunen in dem einfachen Schlafzimmer, das er noch immer in seinem Bürogebäude beibehielt und wo er zuweilen, wenn er müde war, schlief. Er erwachte, und sofort schloß er wieder die Augen. Er wagte nicht zu denken.

Was war geschehen?

33

Mit geschlossenen Augen lag Wenzel viele Stunden. Irgend etwas war geschehen. Er wußte es nicht, sein Kopf war leer. Irgend etwas Furchtbares mußte sich ereignet haben. Hatte er sie getötet? Er wußte es nicht. Wie kam er hierher? Er klingelte und bestellte das Frühstück. Sein Blick lauerte. Er beobachtete jede Miene des Dieners. Aber die Miene des Dieners war wie an andern Tagen. Also schien dieser Mann noch nichts zu wissen. Es war schon spät am Tage. Mit leerem Kopf saß Wenzel. Dann erhob er sich und kleidete sich langsam an. Er war kaum mit der Toilette fertig, als Mackentin sich melden ließ. Auch Mackentins Gesicht war ganz wie sonst. Es war also nichts vorgefallen, und doch, er erinnerte sich, einen schweren Gegenstand, irgend etwas aus Bronze, in der Hand gehalten zu haben.

„Sie haben mir gestern befohlen, Sie zum Rennen abzuholen, Schellenberg,“ sagte Mackentin gut gelaunt und aufgeräumt.

Wenzel sagte: „Ich bin sehr müde. Es ist heute nacht sehr spät geworden. Wieviel Uhr ist es, und was ist das für ein Rennen?“

Mackentin lachte laut auf und zündete sich eine Zigarre an, deren Spitze er, wie gewöhnlich, mit den Zähnen abbiß. „Sie scheinen noch zu schlafen, Schellenberg!“ rief er aus. „Es ist drei Uhr. Kommen Sie, der Preis von Brandenburg wird heute gelaufen.“

Oh, nun erinnerte sich Wenzel. Er hatte das schnellste Pferd seines Stalles, die Stute „Spaßvogel“ gemeldet.

„Schön, gehen wir,“ sagte er, indem er aufstand und mühsam ein Gähnen unterdrückte. Er hatte alles vergessen. Ein Teil dieser Nacht war in seinem Gedächtnis wie ausgelöscht. Er erinnerte sich noch, daß er mit dem Haushofmeister gesprochen hatte, dann war einer Dame die Perlenkette gerissen – sonst wußte er nichts mehr.

Während der ganzen Fahrt redete Mackentin. Er erzählte von dem herrlichen Fest heute Nacht. Selten war ein Fest so gut gelungen. Die Gäste waren des Lobes voll. Und Mackentin erzählte eine schnurrige Geschichte: Der Haushofmeister, der frühere Regimentskommandeur, ein Graukopf, etwas bekneipt wohl, hatte Madame Georgette Leblanc einen Antrag gemacht, der alte Knabe. Allerdings schien Frau Esther Schellenberg ihn aufgehetzt zu haben – aber Wenzel schien zu schlafen, er hörte gar nicht zu.

Die Rennbahn, die Tribünen, Farben, Geschrei, Lärm. Er hörte und sah nichts. Kühl und teilnahmslos sah sein Gesicht aus. Aber sein Blick suchte etwas.

In diesem Moment bemächtigte sich der Tribünen eine ungeheure Erregung. Die gelbe Schellenbergsche Jacke flog dem Feld voran. „Spaßvogel“ lag sicher in Front, als das Rudel in den Auslauf einbog. Plötzlich aber verlangsamte sie ihr Tempo. Die gelbe Jacke blieb plötzlich stehen. Dieser Vorfall hatte die Tribünen in rasende Erregung versetzt. Die sichere Favoritin war geschlagen.

„Aber sehen Sie doch, Schellenberg!“ rief Mackentin, „Spaßvogel wurde angehalten!“

Wenzel erwiderte nichts. Er schüttelte nur den Kopf. Sein Blick suchte, und plötzlich hatte er gesehen, was er suchte. Er wußte nicht, was er tat und was er wollte. Dort stand Esther. Sie stand in einem Rudel von Freunden, mitten in ihrem Hofstaat, die englischen Gäste waren da, die englischen Damen, eine große Anzahl der Gäste des gestrigen Festes. Georgette Leblanc, frech und ausgelassen, die ihrem Mann durchgebrannt war, Violet Taylor, mit der Madonnenfrisur und dem lüsternen Mund. Wenige Schritte von Esther entfernt aber stand der Schauspieler Katschinsky. Neben ihm sein kleines Windspiel. Wenzel sah ihn eigentlich nicht. Erst als er auf Esther zuging und Esther plötzlich im Lachen innehielt und ihn mit einem großen Blick ansah, äußerstes Entsetzen in den Augen, erst in diesem Augenblick sah er Katschinsky, der leichtfertig und in blendender Laune lächelte. Sofort änderte Wenzel die Richtung und ging auf Katschinsky zu. Er hatte es nicht beabsichtigt, plötzlich stand er vor ihm. Immer noch lächelte der Schauspieler.

In diesem Augenblick aber gewahrte ihn Katschinsky und erbleichte. Seine Nasenspitze wurde schneeweiß, ein kleines Eiterbläschen.

Ganz ruhig blickte Wenzel ihn an und sagte mit einer ruhigen, klaren Stimme, alle hörten es, ganz ruhig sagte er: „Wenn man mit einer Dame eine Liebschaft hat, junger Herr, so erzählt man es nicht allen Leuten.“ Dann hob er die Faust, und augenblicklich stürzte Katschinsky zu Boden. Er hatte ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Dann ging Wenzel, ohne jemanden anzublicken, ruhig seines Wegs.

Was war geschehen? Er hatte es nicht beabsichtigt. Was ging mit ihm vor?

Niemand folgte ihm. Ganz allein verließ er die Rennbahn.

34

Plötzlich hielt das Auto, und Wenzel kletterte mit etwas müden, steifen Beinen aus dem Wagen. Er befand sich in Hellbronnen. Wahrscheinlich hatte er dem Chauffeur diesen Namen zugerufen, als er den Rennplatz verließ und ins Auto stieg. Er wußte es nicht mehr. Die Landschaft, durch die sie fuhren, hatte er nicht beachtet.

Es dämmerte schon, als er das Kaminzimmer des Jagdschlößchens betrat.

Irgend jemand zündete Licht an und fragte nach seinen Wünschen. Er wünschte nichts. Schweigsam, mit einem Gesicht, dessen Züge sich nicht veränderten, auch wenn er sprach, saß er auf einem Stuhl. Nach einer Stunde meldete irgend jemand, daß gedeckt sei. Er begab sich in das Speisezimmer, ganz automatisch, und aß etwas kaltes Fleisch. Den Wein berührte er nicht. Dann kehrte er wieder in das Kaminzimmer zurück und saß still auf dem gleichen Stuhl. Er erinnerte sich, daß er hier in diesem kleinen Raum einst mit Jenny Florian gesessen hatte. Damals flammte das Feuer im Kamin, und noch heute war der Glanz ihrer blonden Haare in der Luft und ein Widerhall ihrer schönen weichen Stimme. Der Gedanke an Jenny Florian beunruhigte ihn nicht. So war das Leben: man tötete, oder man wurde getötet. Erst tief in der Nacht, als die Erinnerung an diese Frau mehr und mehr in ihm erwachte, spürte er ein leises Frösteln. Sie ist nicht der einzige Mensch, den du unglücklich gemacht hast, sagte er sich. Ja, in der Tat, wenn er über die letzten Jahre blickte, er hatte manchen Menschen niedergeworfen, daß er sich nicht mehr erhob. Was konnte er dafür? Er war ein Mensch, der schnell und tief atmete. Das war alles. Welche Gewalten hatten ihn unwiderstehlich vorwärtsgetrieben?

Nun aber war das Ende gekommen. Es war vorbei, ein für allemal. Dieser Faustschlag in das Gesicht eines lächerlichen Wichtes hatte ihn in das eigene Gesicht getroffen! Der Skandal, was kümmerte ihn der Skandal? Der gesellschaftliche Boykott, nicht einmal gewiß, kümmerte ihn noch weniger. Er verachtete diese Gesellschaft. Vielleicht würde sich Katschinsky in seiner Schmach töten? Was ging es ihn an? Aber, wie lächerlich, er würde sich keineswegs töten, er würde vielleicht auf einige Zeit Berlin verlassen und dann wieder auftauchen, und nichts war geschehen. Die Gesellschaft, verächtlich wie sie war, würde den Faustschlag längst vergessen haben. Und Esther? Er hatte sie vor aller Welt gezüchtigt und entblößt. Nun, sie würde nach London oder nach Paris reisen, nach Nizza, lachen, plaudern, in eleganten Wagen dahinrollen und neue Kleider anprobieren. Es war nicht der erste Skandal in ihrem Leben, und ihre Freunde würden rasch alles vergessen. Die Scheidung, das war eine Formalität, die ging ihn nichts an. All das lag weit hinter ihm.

Trotz allem, es war zu Ende mit ihm. Wenzel Schellenberg war nicht mehr. Er selbst hatte sich gerichtet. Der alte Wenzel Schellenberg war dahin. Vielleicht glaubten manche Leute, wenn sie ihn sahen, daß er noch existiere? Oh, nein, sie täuschten sich. Er war dahin. Vielleicht hatte ein Leben voller Unrast und Ausschweifungen ihn vernichtet?

Man hatte ihn in den Schmutz getreten – und er mußte sich erheben, furchtbar. Ein Faustschlag, war das alles? Er hatte ein Insekt zertreten. Das kleine kindliche Lachen einer Frau, die träumte, hatte ihm Furcht eingejagt. Nun, dieses kleine kindliche Lachen hatte ihn ausgelöscht. Wenzel Schellenberg war in seiner eigenen Schmach versunken. Was dann geschah, diese lächerliche Szene – tausend verächtliche Menschen hätten ebenso handeln können. Zu seiner Schmach hatte er noch die Lächerlichkeit gefügt.

Nun war es ganz klar, es war entschieden. Diese Frau mit den gemalten Wangen hatte über ihn triumphiert. Sie, der einzige Mensch, hatte ihn besiegt, sagen wir es offen, den er in seinem Leben wahrhaft geliebt hatte. Und vielleicht liebte er sie nur wegen ihrer Lasterhaftigkeit und Schamlosigkeit, wer weiß es? Nun verzog sie wohl spöttisch die Lippen, wenn sie an diesen Tölpel Schellenberg dachte, der in seiner lächerlichen Eifersucht einem Nebenbuhler vor aller Welt ins Gesicht schlug wie ein Fuhrknecht.

Wenzel krümmte sich zusammen. Gut, daß der Morgen kam. Als der Tag graute, ging er durch den Park. Pavillons, Treibhäuser, Brücken, Baumaterial. Eine Welt, mit der er nichts mehr gemein hatte. Er weckte den Chauffeur, der noch schlief, und fuhr wieder ab. Er fuhr nach Warnemünde. Wohin sollte er sonst fahren? Trotzdem er kein geringes Vermögen besaß, war er jetzt ohne jede Heimat. Die Jacht stach in See. Wittgenstein konnte deutlich sehen, daß ein völlig veränderter, ein fremder Mann an Bord war. Wenzel sprach kein Wort. Er kam nicht an Deck. Er saß unten in der Kajüte und brütete vor sich hin, und plötzlich gab er den Befehl zur Rückkehr. Auch hier an Bord waren die folternden und quälenden und beschämenden Gedanken. Es schien, als ob selbst die Matrosen ihm deutlich ansehen mußten, daß er ein verächtlicher, zu Boden getretener, in den Schmutz gezogener Mann war, den man erniedrigen konnte, ohne daß er sich wehrte.

„Leben Sie wohl, Wittgenstein,“ sagte er, als er sich verabschiedete, zu dem Kapitän. „Es hat sich manches geändert, und es wird sich noch vieles ändern. Ich brauche die Jacht nicht mehr. Ich werde sie Ihnen schenken, so wie sie steht. Ich werde Ihnen die notarielle Urkunde zuschicken, sobald ich etwas Sammlung finde. Leben Sie wohl, vielleicht können Sie doch noch den Spiritusschmuggel anfangen.“ Und Wenzel versuchte es mit einem gequälten Lächeln.

Wittgenstein schüttelte den Kopf. Schellenberg war krank geworden.

Und wieder war Wenzel im Automobil unterwegs. Er besuchte ein großes Gut in Mecklenburg, das ihm vor Jahren aus der Konkursmasse eines Schuldners zugefallen war und das er noch nie besichtigt hatte. Hier blieb er drei Tage. Er schlief fast die ganze Zeit und sprach kaum mit dem Verwalter. Aber nachdem er sich gründlich ausgeschlafen hatte, schien es plötzlich, als habe er einen Ausweg gefunden. Eines Morgens erwachte er frisch und voller Entschlußkraft.

„Ich kehre um! Ich kehre um! Ja, ich kehre um! Ich bin in voller Fahrt gegen eine Mauer gelaufen und zerschellt,“ sagte er. „Dieses ganze Leben war unsinnig. Ich werde zu Michael gehen und ihm sagen: Bruder, hier bin ich wieder, ich kehre um.“

Ja, Michael, er war der einzige, zu dem man kommen konnte, woher man auch kommen sollte.

Zum erstenmal sah der Chauffeur, der Wenzel gut kannte und diese letzte Irrfahrt mitgemacht hatte, aus dem verfallenen Gesicht seines Herrn wieder die alten Züge auftauchen. Fast hörte es sich an, als ob die alte Stimme Wenzels wieder gekommen sei, etwas gedämpfter als sonst freilich.

„Wir fahren nach Berlin zurück,“ befahl Wenzel. „Aber auf dem Rückweg werden wir meinen Bruder auf seinem Gut Sperlingshof besuchen. Sie kennen den Weg?“ Wenzel hatte erfahren oder gelesen, daß Michael sich zur Zeit auf Sperlingshof aufhalte.

Aber welche Enttäuschung! Michael war nicht auf Sperlingshof. Man wollte den Verwalter benachrichtigen, der ihm gewiß Auskunft geben könne, wo Michael sich zur Zeit aufhalte. Wenzel wartete geduldig, und während er wartete, ging er auf dem Gut hin und her. Wie eine saftstrotzende Oase lag Sperlingshof in der armseligen Landschaft. Trotz aller Versprechungen, die er Michael gemacht hatte, war er noch nie nach Sperlingshof gekommen. Nun staunte er. Hier herrschte Ordnung, Fleiß, Wille, Sinn. Alles blühte und grünte, die Versuchsbeete, die Treibhäuser. Tausende von Kübeln, in denen Pflanzen zu Versuchszwecken wuchsen, standen in Reih und Glied, alle sauber mit Etiketten versehen.

Der Verwalter, ein alter Mann mit buschigen grauen Haaren und gekrümmten, abgearbeiteten Händen, kam herbei und begrüßte Wenzel mit bestürzter Miene.

„Sie wissen nicht, daß Herr Michael Schellenberg in Berlin ist?“ fragte er. „Er ist krank, sehr krank, Sie wissen es nicht?“

„Krank? Er ist wieder krank?“

„Seit längerer Zeit. Wir haben schlechte Nachrichten.“

Augenblicklich fuhr Wenzel nach Berlin. Gegen Abend kam er in der Stadt an, und im Geschäftshaus der Gesellschaft in der Lindenstraße sagte man ihm den Namen des Sanatoriums, in dem sich Michael befand. Auch hier, in der Lindenstraße, sah er bestürzte Mienen. Er gebot dem Chauffeur höchste Eile.

Das Sanatorium lag ganz still. Eine Pflegerin führte ihn durch einen matterleuchteten Gang und bat ihn, sich in einem Wartezimmer zu gedulden. Einen Augenblick später trat der Arzt ein.

„Wir haben nur noch wenig Hoffnung, Herr Schellenberg,“ sagte der Arzt. „Seien Sie ganz leise.“

Und als Wenzel das Krankenzimmer seines Bruders betrat, übersah er mit einem Blick alles.

35

Viele Tage hatte Michael mit dem Fieber gekämpft. Endlich unterlag auch die sprichwörtlich zähe Schellenbergsche Konstitution. Und nun war Michael schon drei Tage und drei Nächte ohne Bewußtsein. Die Pfleger mußten ihn mit aller Gewalt im Bett zurückhalten, er wollte weg von hier. Er habe keine Zeit zu versäumen.

Hunderttausende von Hungernden sah er, Armeen von Hungernden, die durch die Riesenstädte marschierten, ohne einen Laut zu sprechen, ohne einen andern Vorwurf als den ihrer fahlen Gesichter. In den Höfen sah er Hunderttausende von Kindern, verfallen, gelb und schwindsüchtig. Er sah Hunderttausende von alten Menschen, die auf der Straße niederfielen vor Erschöpfung. Er sah die Massenquartiere, in denen Tausende zusammengepfercht, Leib an Leib, die Nächte verbringen. Und er sah die Hölle des Lasters, in die das Elend diese Unglücklichen stürzte, den Brand am Volkskörper, der das ganze Volk vernichten würde. Dies alles sah er in diesen Fiebernächten, da er mit riesigen Kräften mit den Pflegern rang.

Nun aber war er still geworden. Er lag ohne jede Bewegung. Er atmete leise. Er tat keiner Fliege mehr etwas zuleide. Die Pfleger konnten ruhig schlafen. Er war besiegt, und er sah es ein. Eva hatte sein Haupt höher gebettet, und so lag er nun, bleich und fahl, blutleer das Gesicht, und lächelte. Seine Augen glänzten, und Friede und Glück lagen auf seinen fahlen, lächelnden Lippen. Nun sah er nicht mehr die Stätten des Elends, er sah gleißende Ebenen, die Erde. Und der Regen rieselte durch die Sonne, und die grüne Saat schob sich aus dem Boden. Und er sah die Saat sprießen und wachsen.

Er sah goldene Flächen. Das war der Weizen, das Brot, das im Winde wogte. Er sah glänzende Wasserstraßen, die blühende Länder durchzogen, er sah blühende Siedlungen voll gesunder Menschen. Die Glashallen der Werkstätten, wo die Maschinen schwirrten, voll brauner, starker Männer, die Gärtnereien, erfüllt vom Gewimmel gesunder Kinder. Er sah Städte, die von Arbeit fieberten, er sah Schiffe dahinziehen, beladen mit Gütern. Und da fing alles an zu blinken und zu funkeln, alles war in Licht und Sonne getaucht. Und Michael seufzte, als erfüllte ihn Glückseligkeit.

Plötzlich wandte sich Eva Dux vom Lager ab und legte ihre schmale Hand vor die Augen.

Das war in der neunten Abendstunde. Um ein halb zehn senkte sich die Flagge der Gesellschaft – weiß, mit drei goldenen Ähren – auf dem Verwaltungsgebäude in der Lindenstraße auf Halbmast. Unaufhörlich aber jagten die riesigen Flammenschriften über die Front des Gebäudes und blendeten hinaus in die Nacht:

Tod dem Hunger!

Tod der Krankheit!

Es lebe die Kameradschaft!

36

Still, ohne ein Wort zu sprechen, ohne sich von jemandem zu verabschieden, schlich sich Wenzel aus dem Sanatorium. Er schickte den Wagen fort und ging langsam durch die Straßen. Ja, nun war es zu Ende. Er fühlte ganz deutlich, daß das Schicksal gegen ihn aufgestanden war, um ihn zu Boden zu werfen. Gott hatte die Stirn gerunzelt ...

Mitten in der Straße krampfte er die Hände vors Gesicht – fast hätte er geschluchzt. Michael – er hatte ihn geliebt, nicht weil er sein Bruder war. Nein, es war etwas in Michael, das ihn seit seiner Jugend anzog. Der Attentäter aber hatte auf Michael geschossen, weil er sich aus dem Schweiß der Arbeitslosen ein Palais erbaut hatte. Nun eilte Wenzel dahin. Dies war der Keulenschlag, mit dem ihn das Schicksal niederschlug.

Fast hatte er geschluchzt, aufgeschrien, aber er schluchzte nicht, er schrie nicht auf. Er wanderte zum Bahnhof und wartete auf einer Bank des Wartesaals geduldig auf den ersten Zug, der nach dem Osten ging. Früh um fünf Uhr ging dieser Zug, es war ein Personenzug, und er stieg ein. Ohne jegliche Ungeduld fuhr Wenzel die Nacht und den folgenden Tag, und endlich erreichte er die Station, wo er aussteigen mußte.

Vor drei Jahren hatte er ein Gut in Ostpreußen gekauft, das niedergebrannt war, ein Gut von fünfzigtausend Morgen, das er für fast nichts erwarb. Es hieß Schwarzlake. Er hatte das Gut nie gesehen. Es war seine Absicht gewesen, sich dahin zu begeben.

Es war dunkel, als er den Personenzug auf der kleinen Station verließ. Bald war er einsam in der Dunkelheit auf der Landstraße und schritt tüchtig aus. Gegen Mitternacht erreichte er das Gut. Ein Hund kläffte. Er rief. Endlich zitterte ein kleines Licht, und aus einem Fenster fuhr der Kopf eines alten Weibes.

„Was wollen Sie?“ rief sie unwirsch und keifend.

„Ich bin Schellenberg,“ erwiderte Wenzel.

Aber die Alte hatte seinen Namen nie gehört. Wie wunderbar war es, in eine Gegend zu kommen, wo man seinen Namen nicht kannte!

„Ich bin der Besitzer des Gutes.“

Argwöhnisch verschwand die Alte, und nach geraumer Weile kam ein vom Alter krummgezogener Knecht aus dem Hause, der wußte, daß das Gut vor Jahren an einen Herrn Schellenberg in Berlin verkauft worden war. Ratlos stand der Knecht.

„Was wollen Sie hier?“ fragte er. „Das Gutshaus ist ja abgebrannt.“

Und in der Tat, selbst in dieser undurchdringlichen Dunkelheit konnte Wenzel etwas wie eine langgestreckte Ruine zwischen den Bäumen entdecken. Man roch noch den Brand.

„Ich will hier auf dem Gute leben,“ sagte Wenzel.

Der Knecht ging ins Haus, zündete eine Laterne an und bat ihn, einzutreten. Es war das Haus der Dienstleute. Nebenan lag ein größeres Gebäude, in dem früher der Verwalter wohnte.

„Es ist aber nicht in Ordnung,“ sagte der Knecht.

„Lassen Sie mich ruhig hier sitzen,“ erwiderte Wenzel. „Schlafen Sie, und stören Sie mich nicht.“

So saß er still auf der Treppe, mitten in der Nacht, und groß gingen die Gestirne über ihn dahin. Der Morgen graute. Ketten rasselten im Stall, ein Hahn krähte, Kühe schnaubten. Der alte Knecht und das alte Weib nahmen ihre Arbeit auf. Aus der Dämmerung stiegen deutlich die Umrisse der Gebäude, Stallungen und auch der niedergebrannten Ruine des Gutes.

Das also ist Schwarzlake, dachte Wenzel. Er war sehr zufrieden. Hier würde er bleiben. Die Alte setzte ihm heiße Milch auf den Tisch, und daneben legte sie ein Stück Roggenbrot. Ja, hier würde er bleiben.

37

Die Alte stellte ein primitives Bauernbett in die frühere Stube des Verwalters, dazu einen kleinen Tisch und einen wackligen Stuhl. Auf eine Kiste stellte sie ein Waschbecken und einen Krug mit Wasser.

So war Wenzel eingerichtet. Schwarzlake war völlig verfallen. Das Gras wuchs auf dem Hof, die Äcker waren verwahrlost, die Wiesen versumpft. Nur ein ganz geringer Teil des ungeheuren, von vielen schwarzen Weihern durchzogenen Geländes war bewirtschaftet. Im Stall standen vier Kühe und zwei alte Pferde. Das Gutshaus selbst war eine geschwärzte Ruine, langgestreckt, mit gähnenden Fensterlöchern und eingestürztem, verbranntem und verkohltem Dach. Der Schutt und das verbrannte Holzwerk lagen genau noch wie am Tage nach der Feuersbrunst.

Wenzel hauste nun vierzehn Tage auf Schwarzlake in seinem kleinen, primitiven Zimmer. Am Tage sah man ihn wenig, in den Nächten aber saß er bis zum grauenden Tag auf der Treppe und blickte in die Nacht hinaus. Schon war der Hofhund zutraulich geworden, und es sah aus, als bewachten beide die Ruine.

Der Knecht fragte, was geschehen solle, was der Herr anordne. Wenzel schüttelte den Kopf.

„Später,“ sagte er. „Wir werden sehen.“

Eines Tages aber begann er plötzlich den Schutt des Gutshauses aufzuräumen. Er geriet in Eifer, mit Schaufel, Karre und Axt schaufelte er und schleppte mit mächtigen Armen, und bald war sein Gesicht vom Schweiß überströmt. Täglich arbeitete er von früh bis spät in die Nacht hinein. Er hatte noch einen Knecht und eine Magd angenommen. Aus den Nachbarflecken kamen die Bauhandwerker, und bald wimmelte es auf dem Hof von Zimmerleuten, Steinmetzen, Stellmachern, Tischlern, Wenzel mitten unter ihnen, das Gesicht schweißüberströmt. Die Handwerker staunten über ihn. Nie hatten sie solch einen Arbeiter gesehen.

Plötzlich war wieder Leben über Wenzel gekommen. Er telephonierte nach Berlin. Einige Tage später traf Goldbaum auf Schwarzlake ein. Der fette Goldbaum strahlte vor Vergnügen, als er Wenzel frisch und bei guter Gesundheit wiedersah.

„Hoffentlich haben wir Sie bald wieder in Berlin, Schellenberg,“ sagte er. „Wir vermissen Sie an allen Ecken und Enden. Diese letzten Wochen waren eine höllische Arbeit.“

Wenzels Gesicht wurde düster. Er schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht zurück,“ sagte er, und er gab Goldbaum den Auftrag, seinen gesamten Besitz allmählich zu liquidieren. Er mußte Rücksicht nehmen auf Tausende und Abertausende von Arbeitern und Angestellten, anders hätte er seinen Besitz um jeden Preis unbedenklich losgeschlagen. Und er gab Goldbaum ferner den Auftrag, Land zu kaufen, wo er es immer erlangen könne. Es sei ihm ein Plan durch den Kopf gegangen.

„Mackentin wird vorläufig die Verwaltung dieser neuen Ländereien übernehmen, und den kleinen Stolpe entlassen Sie.“

Auch das Haus im Grunewald sollte verkauft werden, wie es liegt und steht.

Eines Tages kam auch ein junger, hochaufgeschossener Mann mit ernster, gesammelter Miene, bescheiden, höflich. Einer jener sachlichen anspruchslosen Menschen, wie sie mehr und mehr auftauchten, die nichts für sich wollten, sondern einer Idee dienten, unvorstellbar der früheren Generation. Diesen jungen Mann hatte Wenzel die Gesellschaft Neu-Deutschland gesandt, deren Rat er erbeten hatte. Der junge Mann lebte beinahe eine Woche auf Schwarzlake. Er schlief auf einem Strohsack in einer leeren Stube. Er war völlig anspruchslos. Am Tage, vom frühen Morgen bis zur Dunkelheit, untersuchte er das Gelände, den Boden, die sumpfigen Wiesen, die schwarzen, schilfbestandenen Weiher, die von Wasservögeln wimmelten. Wenzel hatte von dem Tischler einen großen Arbeitstisch anfertigen lassen, und auf das rohe Holz war ein großer Plan des Gutes Schwarzlake genagelt. Daran arbeitete der junge Mann bis in die späte Nacht. Entwässerungsgräben, Verbindungsgräben der Weiher, Straßen. Ein Kanal.

„Es ist ja nur ein provisorischer Vorschlag,“ sagte der junge Mann. „Ich werde Ihnen Ingenieure und Landwirte schicken, sobald ich nach Berlin zurückkehre.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar. Leben Sie wohl, Herr Weidenbach,“ erwiderte Wenzel.

Am Tage arbeitete er nun am Wiederaufbau des Gutshauses, der Ausbesserung der Scheunen und Ställe. Ein neuer Stall sollte angelegt werden. Am Abend aber saß er beim Licht von zwei Kerzen über dem Plan von Schwarzlake. In wenigen Jahren sollte Schwarzlake so aussehen. Wo heute Unkraut wuchs, sollte Getreide wachsen. Wo das Wasser in den Wiesen stand, sollten die Herden weiden. Eine richtige kleine Stadt aber hatte Wenzel entworfen. Und diese Stadt würde entstehen in zehn bis zwanzig Jahren, und sie sollte den Namen Schellenberg tragen. Nicht seinen Namen, dem Gedächtnis seines Bruders war sie gewidmet.

Eines Tages, Wenzel schrie gerade mit den Zimmerleuten, die den Dachstuhl aufsetzten, meldete man ihm, daß eine Dame angekommen sei und ihn zu sprechen wünsche. Wenzel runzelte die Stirn und blickte finster in den Hof hinaus. Sofort aber erhellte sich sein Gesicht wieder. Da kam die Dame schon. Es war Eva Dux. Ruhig und still, mit einem herzlichen Leuchten in den Augen begrüßte sie ihn, als hätte sich seit ihrem letzten Wiedersehn nicht das geringste ereignet.

„Ich komme erst jetzt zu Ihnen, Herr Schellenberg,“ sagte Eva. „Ich habe die letzten Wochen damit zugebracht, Michaels Papiere zu sichten. Ich habe sie Ihnen mitgebracht. Sie sind in meinem Koffer.“

Es waren Michaels Aufzeichnungen, seine Pläne, Entwürfe, Notizen, Manuskripte, Aufsätze, Vorträge. Noch am gleichen Abend begann Eva ihm Stück für Stück vorzulesen und zu erläutern.

„Und dies hier,“ sagte Eva, „schrieb er in den letzten Tagen seiner Krankheit. Es ist sein Testament. Er muß es geschrieben haben, wenn ich schlief.“

Mit fiebernder Hand hatte Michael diese Aufzeichnungen hingeworfen. Sie waren nur für Eva lesbar.

„Lesen Sie, lesen Sie,“ bat Wenzel.

Und Eva las:

„Neue Welt, Erde glücklicher Geschlechter. So wird es sein und nicht anders. Der große Tag wird kommen, und er ist nicht mehr ferne.

So wird es sein. Mitten auf dem Meere kommen sie zusammen, alle Kriegsschiffe der Erde, begleitet von einer Flotte von Schiffen, die die weiße Flagge zeigen. Und man wird die Kriegsschiffe in die Tiefe des Meeres versenken, und die Menschen auf den Begleitschiffen werden jubeln, und der Funke wird es dem Erdball verkünden, daß der Augenblick des großen und ewigen Weltfriedens gekommen ist.

Auf dem Lande, in allen Ländern wird man Geschütze und Kriegsgerät zu Pyramiden häufen und verbrennen, und die weiße Flagge wird im Winde wehen.

So wird es sein. Es wird keine Grenzen mehr geben, und der Mensch, gleich welcher Farbe und welcher Rasse, wird sich bewegen können auf dieser Erde, wo er will.

So wird es sein. Die Rohstoffe der Erde werden allen Völkern gehören und nach Bedarf verteilt werden.

So wird es sein. Die Heere der Freiwilligen aller Nationen, die Jünglinge werden hinausziehen in die Welt und künftigen Geschlechtern die Wohnstätten bereiten. Sie werden die Urwälder des Amazonenstromes und die Urwälder des Kongos in fruchtbares Land verwandeln. Sie werden die Wüsten kultivieren, es wird keine Wüsten mehr geben.

So wird es sein. Es wird keinen Haß mehr geben zwischen den Völkern, keinen Egoismus der Nationen wird es mehr geben, keine Bedrücker und keine Unterdrückten, welcher Farbe sie auch seien. Der Welt-Bund wird die Schicksale des Erdballs leiten, und geehrt wird nur der sein, der die menschliche Glückseligkeit vermehrt und die menschliche Arbeitsleistung mindert. Nicht zur Versklavung werden die Maschinen gebaut werden, diese ungeheuren, unvorstellbaren Maschinen der Zukunft, zur Befreiung der Menschen wird man sie erbauen. Wissenschaft und Kunst werden blühen. Und die Weisheit wird höher im Range stehen als Reichtum und Geburt.

Dann wird der Tag kommen, da die Menschen das verlorene Paradies wiederum gefunden haben werden, nach tausendjährigen Qualen und tausendjährigen Verirrungen.

Die Erde wird ein Paradies glücklicherer Geschlechter sein. Es wird keinen Hunger und kein Elend mehr geben, und die Kameradschaft wird die Religion aller Menschen sein.

So wird es sein und nicht anders!“


Eva ging auf dem Hofe hin und her, die schmalen Hände auf dem Rücken, und betrachtete mit großen, stillen, aufmerksamen Augen die Arbeit der Werkleute. Sie blieb heute, sie blieb morgen, sie traf keine Anstalten zu gehen. Sie bemühte sich, Wenzel nicht im Wege zu sein, ihm nicht lästig zu fallen, und doch war sie fast immer in seiner Nähe. Sie hörte Michaels Stimme in Wenzels Stimme. In seinem Gang erkannte sie Michaels Gang. Aus Wenzels Gesicht blickte, nur für sie erkennbar, Michaels Gesicht.

Eines Tages sagte sie: „Es gefällt mir hier auf Schwarzlake, Herr Schellenberg. Haben Sie Arbeit für mich, so möchte ich gern bleiben.“

„Bleiben Sie, Eva,“ erwiderte Wenzel. „Es gibt hier viel Arbeit, auch für Sie.“

Still und schweigsam saß Wenzel in der Nacht auf der Treppe, den Hofhund zur Seite, und blickte in die Dunkelheit hinaus.

Immer mußte er an Michael denken und an sein Testament, das Eva abgeschrieben hatte und das er auswendig konnte.

„Vielleicht,“ dachte er, „war Michael mehr als ein Träumer, vielleicht war er ein Seher. Vielleicht sind seine Gesichte morgen Wahrheit, und die billigen Wahrheiten der Zweifler sind vielleicht morgen zuschanden.“

Schon graute es im Osten, und über die schwarzen Weiher stieg sanft die Morgenröte eines neuen Tages empor.

Ende

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):