Title: Die Falkner vom Falkenhof. Zweiter Band.
Author: Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem
Release date: December 30, 2014 [eBook #47820]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Roman von
Euf. v. Adlersfeld-Ballestrem
Fünfundzwanzigste Auflage
Zweiter Band
Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
Gedruckt 1922 in der Druckerei von Philipp Reclam jun.
Leipzig
Dolores hatte in der letzten Nacht schwere, seltsame Träume. Ihr träumte, sie müßte gegen dichte wogende Nebel ankämpfen in kalter Nacht auf einem unebnen, steinigen Wege, dessen scharfe Kanten ihre Füße verletzten. Endlich aber stand sie vor einer undurchdringlich grauen Wand – sie wußte nicht, war's Nebel, war's ein Felsen, der den Weg versperrte. Rechts und links gähnten tiefe Abgründe, die ins Unendliche zu führen schienen, und als sie sich wendete, um zurück zu gehen, da hatte ein rauschender Strom den Weg überschwemmt oder fortgerissen, so daß sie verloren schien. Und in der furchtbaren Angst, die sie befiel, klopfte sie an den Felsen wie an eine Thür. Und siehe da – die kahle graue Wand schien sich auseinander zu schieben, die Nebel schienen zu zerreißen, dünner und dünner zu werden, und endlich sah sie durch die Wand hindurch, und sah – sich in ihrem eignen Zimmer sitzen. Aber sie war nicht allein. Ihr gegenüber hatte Doktor Ruß Platz genommen. Der sprach eifrig in sie hinein – sie hörte den musikalischen Ton seiner Stimme, aber sie verstand seine Worte nicht. Und er schob ein auf großem, weißem Bogen entworfenes Schriftstück auf dem Tisch zu ihr hinüber und sie sah, wie sie selbst das Dokument ergriff, zerriß und in das Feuer warf, welches im Kamin brannte. Da erhob sich Doktor Ruß und drückte auf den Kopf der linken Kaminmantelfigur und der ganze Kamin drehte sich hinein in die Wand mitsamt dem Doktor Ruß wie ein Karussell, und als er wieder mit seiner Vorderseite erschien, war Doktor Ruß verschwunden. Da begannen wieder Nebel zu ziehen über das klare Bild – hastig, wie vom Sturm gejagt, und wieder zerrissen die grauen Wolken, und wieder sah Dolores sich selbst stehen im Dämmerlicht, im weißen Kleid, Hand in Hand mit Alfred Falkner. Und der Ort, an dem sie standen, war das Hexenloch unten im Park. Schwarz schimmerte das scheinbar regungslose Wasser, geheimnisvoll flüsterten die Tannen und Buchen über ihren Häuptern, es webte in der stillen Abendluft seltsam und geheimnisvoll, und wo im Westen der Park eine Lichtung hatte, schimmerte blutrot ein Streifen an der Stelle, wo die Sonne eben untergegangen war. Und Alfred Falkner ließ ihre Hände los und schritt durch die Lichtung dem Streifen entgegen. Da ward es ganz dunkel. Und es hob sie ein Etwas empor, und die Wasser des Hexenloches schlugen über ihr zusammen, und es ward dunkel und dunkler um sie – –
Und als sie die Augen aufschlug, träumte ihr weiter, da sah sie sich langsam durch den Park schreiten, einen Brief in der Hand mit einem fremden Poststempel. Sie zerriß das Couvert und begann den Brief zu lesen, aber während sie dazu ihre Schritte anhielt, schlug etwas in das Briefblatt, sie wußte nicht was, doch sie sah, daß ein erbsengroßes, rundes Loch mit versengten Rändern in dem Papier entstanden war. Und wieder ward es licht, und sie sah sich abermals selbst auf die Terrasse des Falkenhofes hinaustreten, wo Frau Ruß und ihr Mann standen. Hinter ihr brachten Diener einen fertig besetzten Theetisch, und alle nahmen Platz und Dolores schenkte drei Tassen Thee ein. Da kam Engels hastigen Schrittes die Terrasse herauf, die Flinte über der Schulter, einen erlegten, mächtig großen Vogel in den Händen, und alles sprang auf, die Beute zu sehen, und während Engels die Flügel des Vogels auseinanderlegte, sah Dolores sich selbst die Spannweite der Flügel messen. Währenddessen schien es ihr, als thäte Doktor Ruß ein Stück Zucker in ihre Theetasse, und sie schrie auf: »Nicht so süß! Nicht so süß!« Aber sie trank den Thee dennoch, und er schmeckte nicht süß, aber fremdartig, ihr ekelte es vor dem Getränk. Während sie aber trank, sah sie die kalten, hellblauen Augen der Frau Ruß mit seltsam forschendem, grausamem Ausdruck auf sich gerichtet, und diese Augen bohrten ihren Blick bis tief hinein in ihr Herz, daß eine furchtbare Angst sie ergriff, und doch, der Schrei um Hilfe vor diesem schrecklichen Augenpaar kam nicht über ihre Lippen, Angstschweiß, wahrer Todesschweiß trat auf ihre Stirn –
Da legte sich eine sanfte, kühle Hand auf ihr Haupt – der Alp wich, und zitternd erwachte sie aus dem quälenden Traume –
Doch nur halb erwachte sie, um halb wachend sogleich wieder weiter zu träumen, denn ihr war's, als ruhe die kühle Hand immer noch auf ihrer Stirn, und als sie die Augen aufschlug, sah sie die Gestalt der Ahnfrau Maria Dolorosa im schwachen Schein der Nachtlampe neben ihrem Bette stehen, freundlich lächelnd, genau wie das Bild in der gefundenen Kapsel. Und die Gestalt beugte sich herab und küßte mit kalten Lippen die Wangen der Träumenden.
»Dolores, Erlöserin!« flüsterte es in ihr Ohr, »Gott hat dich gewürdigt, hinter den Schleier der Zukunft zu schauen. Du kennst nun die Gefahren, die sie für dich birgt – aber sei stark und mutig, eine echte Falkner. Und bleibst du hier, so bleib' auch ich dir zur Seite mit meinem Schutz, der die Warnung ist. Mehr darf ich dir nicht geben – o, daß du nicht unterliegen möchtest, Dolores, Blut von meinem Blute –«
Mehr hörte Dolores nicht, denn ruhig und fest schlief sie weiter, doch als Tereza sie am Morgen weckte, schmerzte sie der Kopf, und sie mußte über ihren Traum nachdenken, bis er wieder in jeder Einzelheit vor ihrem geistigen Auge stand.
»Solch' wirres, thörichtes Zeug,« schalt sie sich selbst. »Das macht der starke Thee von gestern Abend.«
Aber es fröstelte sie trotzdem, als sie des schrecklichen Blickes gedachte, von dem ihr geträumt, doch an den Kuß der toten Ahnfrau dachte sie ohne Grauen. Und je mehr sie nachdachte über die Träume der vergangenen Nacht, je mehr hätte sie darauf schwören können, daß sie die Erscheinung der Freifrau Dolorosa wirklich gesehen, daß kein Traum ihr dieselbe gezeigt, kein Zustand von halbem Wachen und halbem Schlafen, und es gewährte ihr eine Beruhigung, sich diese Unmöglichkeit vorzustellen und einzureden mit der klaren Begründung, daß es eben eine Unmöglichkeit war.
»Ich werde nervös,« dachte sie am Ende. »Luft und Arbeit – Arbeit, damit die Traumgestalten weichen.« –
Als Engels dann mit seinen Rapporten und Akten erschien – »als vortragender Rat vor Ihrer Majestät der regierenden Herrin von Falkenhof,« wie er sich gern scherzhaft selbst nannte – da sah er sie lange kopfschüttelnd an.
»Fräulein Dolores, Sie gefallen mir gar nicht,« sagte er endlich, als ihre nervös bebenden Hände die Feder fallen ließen, mit der sie ihre Unterschrift geben sollte.
»Aber lieber Engels, das wäre ja schrecklich,« versuchte sie zu scherzen.
»Blasse Wangen, blaue Ränder unter den Augen – es kleidet Sie ja, aber richtig ist es doch nicht,« sagte er kopfschüttelnd. »Und nun gar noch den Tadderich in den Händen – na! na!«
»Ich habe schlecht geschlafen – schreckliche Dinge geträumt – Gespenster gesehen,« erwiderte sie lachend.
»Weiter nichts?« fragte er. »Na, dagegen giebt's Mittel, gute Mittel. Erstens spazieren gehen bis Sie rechtschaffen müde sind; zweitens abends nicht zuviel essen oder starken Thee trinken – –«
»Und gegen die Gespenster?« fragte sie, als er einhielt.
Da holte er seinen Stock, den er an der Thür stehen gelassen hatte, und machte eine sehr deutliche Bewegung damit.
»Lassen Sie mich mal aufpassen,« bat er, »und ich garantiere Ihnen, daß kein Gespenst mehr erscheint.«
»O, ich bin von dem Erfolge im voraus überzeugt,« rief Dolores lachend. »Aber seien Sie ruhig – die Sorte von Gespenstern beschwöre ich schon allein, und es hat sich auch noch keines an mich herangewagt.«
»Wäre auch höchst unvorsichtig,« brummte Engels und kehrte zu seinen Papieren zurück.
Dolores setzte ihren Namen unter das letzte Aktenstück und reichte es ihm hinüber.
»Das werden Sie nächstens allein besorgen müssen,« sagte sie leicht.
»Wieso allein?«
»Nun zum Winter mache ich mich aus dem Staube – das heißt aus dem nordischen Schnee nach dem Süden. Da sind Sie dann Alleinherrscher im Falkenhofe.«
»Dazu brauchte ich aber eine Vollmacht,« brummte Engels.
»Die sollen Sie auch haben,« erwiderte Dolores. »Sogar eine Generalvollmacht, wie sich's für den großen Besitz schickt. Apropos, Sie waren ja Jurist, lieber Engels, und können mir eine Frage beantworten, die in das Fach schlägt.«
»Gern. Aber ich fürchte, ich habe mein corpus juris längst vergessen und pfusche mit meinem Rat unserem Justizrat bloß ins Handwerk –«
»O bewahre – der müßte ja überdies noch gefragt werden. Also setzen wir einmal den Fall, daß ich den Falkenhof verschenken wollte – sagen wir, an den nächsten männlichen Agnaten –«
»Der ihn nicht genommen hat,« unterbrach Engels trocken.
»Nein. Nun aber nehmen wir weiter an, daß dieser Agnat sich verheiratet –«
»Mit Ihnen? Hurra!« schrie Engels, rot vor Freude.
»Nein, nicht mit mir,« unterbrach Dolores den Enthusiasmus des guten alten Menschen etwas scharf. Sie war blaß geworden.
»Nicht mit Ihnen?« meinte Engels kleinlaut. »Na, dann ist's ja egal – dann mag er wegen mir Teufels Großmutter heiraten.«
»Ich hoffe, er wird einen besseren Geschmack entwickeln,« sagte Dolores und lächelte etwas gezwungen. »Auf alle Fälle aber möchte ich der künftigen Frau von Falkner den Falkenhof als Morgengabe verschreiben. Geht das an, lieber Engels?«
»Nee, das geht gottlob nicht,« war die prompte Erwiderung. »Das hieße ja den Agnaten schädigen.«
»Schädigen, Engels? Schädigen, wenn ich seiner Frau verschreibe, was er bloß aus – aus eigenen Gründen nicht zurücknimmt, trotzdem es ihm doch besser zukommt als mir, der Frau, die doch nur ein dürrer Ast ist an dem Stammbaum?«
»Ich werde Ihnen mal was sagen, Fräulein Dolores,« meinte Engels gemütlich. »Wie Sie, hab' ich ja anfangs auch gedacht. Das wissen Sie. Aber schließlich habe ich doch noch Einsicht genug bewahrt, um mir zu sagen, daß das alles Unsinn ist, Unsinn, der in Ihren vom Falkenhof unabhängigen Mitteln seinen Ursprung hat. Sie sind reich – gut für Sie! Aber nehmen Sie an, Sie wären's nicht, da wäre der lebenslängliche Besitz des Lehens doch ein Segen für Sie, trotz der ideal-verrückten Ansicht, daß Reichtum nicht glücklich macht. Warum sollen Söhne alles, Töchter nichts haben? Nein, die Primogenitur im Falkenhof ist nur eine Gerechtigkeit. Aber davon wollten wir eigentlich nicht reden, sondern von der Verschreibung des Besitzes an die Frau des Agnaten. Deswegen brauchen Sie den Justizrat nicht erst zu belästigen, denn es liegt ja klar am Tage, daß diese Idee sich zwar bei jedem ixbeliebigen Privatbesitz, nicht aber beim Falkenhof realisieren läßt.«
»Ich sehe den Grund, der dagegen spricht, noch nicht ein.«
»Aber Fräulein Dolores, Sie haben doch sonst ein so helles Köpfchen,« meinte Engels sanft tadelnd. »Nehmen Sie also mal an, daß der Falkenhof wirklich der jungen Frau verschrieben wird. Nehmen Sie weiter an, daß das junge Paar sich trennt, sich scheiden läßt –«
»Unmöglich bei Katholiken,« unterbrach Dolores.
»Gott, man hat schon erlebt, daß Religionen aus diesen Gründen gewechselt wurden wie die Handschuhe,« entgegnete Engels achselzuckend. »Außerdem – wissen Sie's denn schon so genau, daß Baron Falkner auch eine Katholikin wählen wird?«
Dolores verneinte nur stumm, denn es war ihr eingefallen, daß Prinzeß Lolo Protestantin war.
»Na also!« fragte Engels. »Also lassen Sie die Sache mal schief gehen und die Ehe sich lösen, dann zieht die junge Frau ohne Schwierigkeit mit einem anderen Mann ein in den Falkenhof, und der der nächste dazu ist, hat das Nachsehen für immer. Auf diesen Eventualitäten basiert sich die Unmöglichkeit, ein Lehen zu verschenken.«
»Damit muß ich mich wohl bescheiden, Sie Unglück, Scheidung und andere schreckliche Dinge krächzender Rabe,« versetzte Dolores scherzend. »Wer denkt denn überhaupt an solche Dinge, wenn zwei sich heiraten sollen?«
»Natürlich nur der Jurist, wenn man von den bösen Zungen von Profession einmal absehen will,« gab Engels zurück, und da die Geschäfte für heut' erledigt waren, so empfahl er sich auch. In der Thür machte er noch einmal kehrt.
»Hören Sie, Fräulein Dolores,« sagte er unsicher, »das war alles ganz gut und schön mit mir, als ich unter meines Freundes und Brotherrn stets wachsamen Augen dem Falkenhof als Verwalter vorstand. Aber ob ich zum Generalbevollmächtigten tauge, weiß niemand und Sie am allerletzten. Können Sie keinen Besseren finden?«
»Nein, keinen Besseren,« erwiderte Dolores mit solch' überzeugender Freundlichkeit, daß Engels mit leuchtenden Augen ihre kleine Hand ergriff und sie sogar küßte. Und er sagte dann auch weiter nichts als: »Bon! Mein Schaden ist's ja nicht!« – und verließ mit dieser originellen Danksagung »das Lokal,« wie er sich ausdrückte, das brave Herz innen aber geschwellt von Dankbarkeit und dem gerechten Stolze eines redlichen Mannes, der sein Brot lange in oft nicht gerade süßer Abhängigkeit gegessen und sich dafür endlich in einer Stellung sieht, die dem Schiffbrüchigen des Lebens als ersehntes Ziel stets vor Augen geschwebt.
Der Abend brachte dann die Gäste aus Monrepos und Arnsdorf, und Dolores empfing sie an der Seite des Rußschen Ehepaares, das sich dem kleinen Kreise vollkommen anpaßte, wenn ihm ja auch durch jahrelange Einsamkeit der leichtere Konversationston abhanden gekommen war. Zwar fand sich Doktor Ruß, der ganz ausgezeichnet gut und bedeutend aussah, ohne Übergang leicht in den Ton hinein, der ihm von Jugend an fremd gewesen, aber er gehörte eben zu den selten begabten Menschen, welche instinktiv gesellige Formen und Allüren finden, sobald sie deren bedürfen, im Gegensatz zu denen, welche neben mühsam errungener geistiger Bildung in ihrem Auftreten stets ungeschliffen und unbeholfen bleiben. Fräulein von Drusen, die Hofdame, welche stets sehr scharf gegen Mesalliancen eiferte und der früheren Freifrau von Falkner die ihrige nie vergeben und vergessen hatte, war nach einer halben Stunde entzückt von ihrem Tischnachbarn, dem »simplen« Doktor Ruß, der nicht nur wie ein Gentleman aussah und sprach, sondern es auch war. Und wie das Herz der alten Hofdame, so gewann er sich auch zweifellos nicht nur die Zustimmung, sondern auch die entschiedene Approbation der anderen. Frau Ruß sah sehr stattlich aus in der von Theresa verfertigten schwarzen Schleierhaube, sie sprach wenig und fühlte sich ausrangiert, trotzdem sie bei Tisch neben dem Herzog saß. Der Herzog suchte sich viel mit ihr zu unterhalten, sie blieb aber einsilbig, beobachtete dafür aber scharf und ihre kalten Augen schienen sich jedermann in die Seele bohren zu wollen.
Nach Tisch begann Lolo dann eine ziemlich ungenierte Inspektion der von Dolores bewohnten Räume, in welche man nach aufgehobener Tafel hinaufgestiegen war. Sie fand das Erkerzimmer »reizend,« den Rokokosalon »himmlisch,« erklärte den Ahnensaal für »bezaubernd aber gruselig, der vielen Augen wegen, die einen aus den Rahmen ansehen,« und meinte, den zwischen dem Saal und dem Schlafzimmer liegenden, getäfelten Raum, den Dolores sich als Bücherei und abendliches Arbeitszimmer eingerichtet, würde sie sicher nicht viel benutzen.
»Denn Sie wissen, ich sehe mir alles schon so genau an, weil es ja doch mein Hochzeitsgeschenk ist,« flüsterte sie Dolores übermütig zu, doch als letztere ihr erklärte, daß sie mehr versprochen, als sie halten könne und den Falkenhof nicht verschenken dürfe, that dies der guten Laune der Prinzessin keinen Eintrag.
»Er, der herrlichste von allen, ist ja doch der Erbe,« tröstete sie sich.
»Nach meinem Tode erst,« warf Dolores ein.
»So?« machte das Prinzeßchen mit großen Augen und setzte mit dem ihr eigenen Optimismus hinzu: »Schadet nichts! Sie können ja sterben oder früher abdanken, wie Papa es thun will – und wenn Sie keins von beiden thun, so bleiben Sie unsere Erbtante und verziehen unsere Kinder. Abgemacht?«
»Natürlich,« sagte Dolores, wider Willen zum Lachen gezwungen durch die starke Naivetät des Herzogstöchterleins, das bei seinem weiten Blick in die Zukunft noch nicht einmal wußte, ob »der herrlichste von allen« ihr sein Herz überhaupt geschenkt.
Im Ahnensaal standen indes der Erbprinz und Falkner vor dem schönen Bilde der unglücklichen Freifrau Dolorosa.
»Das ist ja eine stupende Ähnlichkeit mit unserer liebenswürdigen Wirtin,« meinte ersterer, der sich von dem Bilde nicht trennen konnte.
»Es ist in der That eine wunderbare Laune der Natur, der Enkelin die Züge der Ahne zu geben,« sagte Falkner. »Doch zum Glück fehlt meiner Cousine der Zug von Schmerz, der auf dem Antlitz der ›bösen Freifrau‹ liegt.«
»Finden Sie?« fragte der Erbprinz leise. »Ich meine, diesen Ausdruck schon in den Augen der Freiin Dolores gesehen zu haben.«
»Hoheit sind ein scharfer Beobachter,« erwiderte Falkner wider Willen gereizt. »Ich habe davon noch nichts bemerkt – wie käme auch Schmerz in den Blick der Satanella?« setzte er fragend hinzu, doch ohne die scharfe Bitterkeit von früher.
Der Erbprinz hörte den Unterschied aber nicht heraus.
»Die arme Satanella!« rief er spöttisch. »Falkner, Falkner, wie kann man sich nur so in ein Vorurteil verbeißen!«
Aber Falkner zuckte mit den Schultern. Er hatte seine Frage anders gemeint; daß sie anders aufgefaßt wurde, ließ ihn kalt. Die anderen traten nun auch hinzu, und auf die Erklärung, daß dies wunderbare Ebenbild der Schloßherrin auch des Schlosses Irrgeist sei, ruhte Prinzeß Lolo nicht eher, bis sie die Geschichte der »bösen Freifrau« erfahren hatte. Nun blühte Doktor Ruß' Weizen, denn Dolores mußte ihm den Band der Familienchronik jener Zeit reichen – man gruppierte sich um das Bild, und er trug mit seinem weichen, leisen, musikalischen Organ den still und erschüttert Lauschenden die todestraurige Geschichte vor, die wir schon kennen.
»Die Arme! Was muß sie gelitten haben,« sagte Prinzeß Alexandra leise, als die Tragödie voriger Tage verklungen war. Dies erste Wort war für Graf Schinga das Signal, sich zu schneuzen, daß es im Saal ein vielfaches Echo erweckte.
»Ich kann solch' trauriges Zeug gar nicht hören,« versicherte er mit übergehenden Augen, wie einer, der niesen will und nicht darf. »In ›Maria Stuart‹ habe ich mal so heulen müssen – wie ein Schloßhund, wahrhaftig, daß das andere Publikum schon Mitleid mit mir hatte und der Logenschließer mich hinausbugsieren wollte. Seitdem sehe ich mir nur noch Lustspiele an und höchstens mal eine Oper, denn wenn der Tenor schmettert:
das ist ja kolossal rührend, aber doch nicht so steinerweichend.«
Nach dieser Erklärung kam Doktor Ruß wieder auf die Freifrau Dolorosa zurück, und er schilderte ihr traurig Ende.
»Sie soll aber noch einmal zu klarem Bewußtsein gelangt sein,« schloß er. »Denn es wird in der Chronik berichtet, daß Gott den Schleier des Wahnsinns kurz vor ihrem Tode von ihrer Seele nahm und ihr die Gabe des Hellsehens verliehen habe. In diesem Zustande, in welchem sie von allem wußte, nach allem fragte und Anordnungen traf für ihr letztes Stündlein, in diesem Zustande soll sie dem Geschlechte der Falkner eine Prophezeiung hinterlassen und sogar aufgezeichnet haben.«
»Eine Prophezeiung?« fragte man unwillkürlich, Falkner mit inbegriffen, der so gesessen hatte, daß er während der ganzen Geschichte der Freifrau Dolorosa fortwährend das Profil von Dolores sehen mußte, welches sich von dem rubinroten Plüsch ihres Sessels klar und bleich abhob wie eine antike Kamee.
»Und wie lautet diese Prophezeiung?« fragte Gräfin Schinga interessiert.
»Sie mag wohl verloren gegangen sein,« antwortete Doktor Ruß. »Ich habe sie wenigstens beim Ordnen des Archivs und der Bibliothek nicht finden können.«
»Oder sie ist überhaupt eine Fabel,« meinte der Herzog. »Und wenn sie's ist, so wär's das beste, denn meist erwecken solche Prophezeiungen, selbst wenn sie nachträglich gemacht werden, nur den Aberglauben und seine traurigsten Folgen. Ich halte nicht viel davon, denn etwas Humbug ist immer dabei im Spiel.«
»Da möchte ich zu widersprechen wagen, Hoheit,« entgegnete Doktor Ruß. »Was wir gemeinhin Hellseherei und als deren Produkt Prophezeiung nennen, ist ein hypnotischer Zustand, der für uns zwar heutzutage noch viel Unerklärtes in sich schließt, wissenschaftlich beleuchtet aber immer verständlicher wird. Und warum sollen die Leute dazumal dem Hypnotismus weniger zugänglich gewesen sein, als heut' die vielen ›Medien‹ von Profession? Die Prophezeiungen alter Tage sind in hypnotischem Zustand abgegebene Erklärungen – Reisefrüchte einer Seele in jenes ferne Land, das wir die Zukunft nennen.«
»Hm! Hm! Ich bin hierin etwas skeptisch, lieber Doktor,« erwiderte der Herzog, während der Erbprinz ausrief:
»Ah, also ein Bundesgenosse! Du siehst daraus, lieber Papa, daß ich nicht allein stehe mit dem, was du gemeinhin unter die Rubrik ›Blödsinn‹ rangierst.«
»Kinder, laßt mich in Ruhe,« meinte der Herzog mit behaglichem Lächeln. »Zu meiner Zeit, da wußte man nichts von Hypnotismus und solchem Zeug, womit die Leute nur verrückt gemacht werden. Da ließ man die Menschen wahrsagen und träumen, was sie Lust hatten, und man brauchte es nicht zu glauben, wenn man nicht wollte. Aber jetzt möchte man sich abends schon mit Angst ins Bett legen bei dem Gedanken, daß die Seele einen kleinen Abstecher macht, Gott weiß wohin, und am Ende das Wiederkommen gar vergißt. Denn nach meinem Herrn Sohn sind Träume auch hypnotische Produkte, zu welcher Ansicht ich mich leider so lange nicht bekennen kann, als ich noch jedesmal vor feierlichen Gelegenheiten träume, daß mir bei Staatsakten allemal die notwendigsten Kleidungsstücke fehlen. Prophetisch können die Angstträume nicht sein, denn so lange ich noch bei Verstande bin, werde ich voraussichtlich Landtage und Ausstellungen nicht in einem Kostüm eröffnen, das für meine afrikanischen Kollegen ganz praktisch, bei uns aber ganz ungewöhnlich ist.«
»Papa ist eben ganz unüberzeugbar,« sagte der Erbprinz, wider Willen einstimmend in das lustige Lachen, das die herzogliche Traumdeutung hervorrief durch die ruhige, trockene Art, wie der hohe Herr sie vortrug.
Falkner, der nicht lachte, weil er gar nichts von des Herzogs Rede gehört hatte, sah nur das feine bleiche Profil an der Stuhllehne ihm gegenüber sich wenden und den schönen Mund lachen – eigentlich nur lächeln, um sofort wieder ernst zu werden.
»Trotz der entschieden unprophetischen Träume Eurer Hoheit gehöre ich aber auch zu den Frondeuren gegen Ihre Ansicht,« sagte Dolores. »Darf ich meine Beweise vorbringen, daß Träume kein bedeutungsloser Unsinn sind, oder sein können?«
»Ich bitte darum, und bin ganz Ohr,« erwiderte der Herzog, und alles lauschte gespannt, als Dolores begann:
»O, ich werde kurz sein. Mir träumte also von der bösen Freifrau, und ich sah sie naturgemäß, genau in derselben Kleidung, wie hier vor uns auf dem Bilde!«
»Hu! Wie graulich,« machte Prinzeß Lolo mit kokettem Erschauern.
»Nein, mir war es nicht zum Fürchten,« fuhr Dolores fort, »denn sie sprach sehr freundlich und liebevoll mit mir. Und mir träumte weiter, daß sie mir ein Geheimfach zeigte, und ich sah deutlich, wie es zu öffnen war. Daran wäre nun nichts Wunderbares – Bedeutung erhält der Traum aber durch den Umstand, daß ich später das Geheimfach wirklich fand und es öffnen konnte durch den Mechanismus, welchen mir die Ahnfrau im Traume gezeigt.«
Ein allgemeines »Ah« des Staunens durchlief den kleinen Kreis bei dieser Erzählung, und der Herzog meinte schmunzelnd:
»Hoffentlich hat der allerdings ganz wunderbare Traum auch seine praktische Seite, denn ich vermute, daß Sie in dem Geheimfache einen Schatz gefunden haben.«
»Einen Schatz fand ich zwar nicht darin, wohl aber die Prophezeiung, deren Doktor Ruß vorhin erwähnte!«
Ein plötzliches, wunderbares Naturereignis hätte den kleinen Kreis nicht in stupenderes Staunen, in größere Aufregung versetzen können, als die einfachen, ruhig gesprochenen Worte Dolores Falkners es thaten. Namentlich der Erbprinz war ganz Feuer und Flamme geworden und wollte von der Erzählerin alle Details des Traumes wissen, was sie während desselben gefühlt, was nachher empfunden.
»O, wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich eingestehen, daß ich heut' noch darauf schwören möchte, alles im wachenden Zustande erlebt, nicht geträumt zu haben,« erwiderte Dolores. »Doch das ist ja natürlich Unsinn – es war ein Traum, das beweist die Unfähigkeit, mich zu regen, welche ich während desselben empfand.«
»Hypnotismus!« rief der Erbprinz triumphierend. »Gnädiges Fräulein, Sie ahnen nicht, welchen Wert Ihr Zeugnis für meine Studien hat!« –
»Ach liebes, liebes Fräulein Dolores, bitte, geben Sie uns doch diese Prophezeiung zum besten,« schmeichelte Prinzeß Lolo und gespannt blickte Doktor Ruß nach der Angeredeten hinüber. Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe.
»Es steht nichts darin von Gift und Dolch, Mord und Totschlag – ist also gar nicht pikant,« sagte sie.
»Ja, aber irgend etwas muß doch darin stehen, wenn es eine Prophezeiung ist,« beharrte die Prinzeß auf ihrem Wunsche. »Ich meine, irgend etwas Interessantes für die Familie.«
»Es scheint so,« erwiderte Dolores kühl. »Durchlaucht werden mich aber trotzdem entschuldigen, wenn ich es als gegenwärtige Lehnsherrin ablehnen muß, ein Dokument zu zeigen, das ich als ›sekret‹ betrachte.«
»Wenn dies mit Grund geschieht, so kann ich Ihnen nur zustimmen, Cousine,« sagte Falkner fest.
»Nun hetzen Sie auch noch,« schmollte die Prinzeß, der wohl noch selten eine Bitte versagt worden war, doch Prinzeß Alexandra sagte verweisend:
»Unsere liebenswürdige Wirtin ist im Recht, Lolo, und wir haben keines, aus bloßer Neugier oder zum Spaß Familienangelegenheiten zu durchstöbern!«
»Meinetwegen kann die ganze, dumme Prophezeiung auch eingepökelt werden,« sagte die junge, fürstliche Dame schmollend mit dem ganzen Trotz eines ungezogenen Backfisches, der für gleichgültig erklärt, was ihm verboten worden ist, und als Prinzeß Alexandra ein leis ermahnendes »Aber Lolo« hören ließ, spannte der kleine reizende Übermut die niedlichen Hände mit den rosigen Fingern Tandem vor ihr Näschen als Antwort, d. h. sie machte der entthronten Autorität ihrer Schwester eine ganz unfürstliche, schusterjungenmäßige »lange Nase.«
Als sie diese Heldenthat vollbracht, sprang der stets bizarre Sprünge machende Geist Prinzeß Lolos sofort auf eine andere Idee über.
»Famos, solch' ein Familiengespenst,« rief sie und betrachtete das Bild der bösen Freifrau. »Wir haben ja natürlich auch unsere graue Dame, aber ich hab' sie leider noch nicht gesehen, auch nicht von ihr geträumt, wie Sie! Sie geht immer die Korridore im Schlosse lang bis in die Kapelle und steigt dann zur Ahnengruft hinab. Apropos, Baroneß, haben Sie auch eine Ahnengruft? Und ist die Freifrau Dolorosa dort beigesetzt?«
»Ich habe wirklich noch nicht danach gefragt,« sagte Dolores.
»Da kann ich Auskunft geben,« warf Doktor Ruß ein. »Der Sarg der Freifrau Dolorosa steht in dem verschlossenen Raum der Gruftkapelle zwischen den Särgen der beiden Brüder Falkner, welche ihre Gatten gewesen sind.«
»In der sogenannten Bleikammer,« ergänzte Falkner.
»Ach, gehen wir doch hinein – bei Fackellicht! Es ist schon ganz finster,« rief Prinzeß Lolo aufspringend.
»Unsinn, Lolo,« sagte der Erbprinz.
»Na, ich dächte, das wäre doch ein unschuldiges Vergnügen,« erwiderte sie empört.
»Unschuldig – ja! Vergnügen – nein!«
»Das ist Geschmacksache,« entgegnete das blonde Prinzeßchen weise. »Mir zum Beispiel macht es ein wonnevoll grausiges Vergnügen, nachts in eine Ahnengruft zu steigen, um den Sarg einer spukenden Ahnfrau zu sehen. Und die Baronin Dolores wohnt sogar in ihren Zimmern und schläft in ihrem Bett. Aber ihr gönnt mir nichts. Nicht wahr, Baronin, ich darf in die Ahnengruft?!«
»Natürlich,« lächelte Dolores ergötzt.
»Ach, da kommen wir gleich,« rief Prinzeß Lolo und sprang auf.
»Heut' noch, Durchlaucht? Ein andermal –« –
»Nein, nein, gleich!« beharrte die Prinzeß. »Sascha würde zu Haus bloß predigen und mir haarklein beweisen, daß einer Prinzeß von Nordland nicht Extrawürste, wie andere Sterbliche sie speisen, gebraten werden dürfen. Das kenne ich schon!«
»Nun denn, vorwärts, wenn Seine Hoheit nichts dagegen hat,« sagte Dolores resigniert und amüsiert zugleich, während Prinzeß Alexandra ihrem Bruder zuflüsterte:
»Wenn ich nur wüßte, wo Eleonore diese Ausdrücke her hat!« –
Der Herzog hatte natürlich gar nichts dagegen, und nachdem Dolores an Ramo die nötigen Befehle gegeben hatte, brach man auf zu der alten Gruftkapelle, welche, in einem fernen Parkwinkel gelegen, unter hohen, uralten Eichen ein engbegrenztes, aber sehr stimmungsvolles Bild gab. In einem früheren Stil als der Falkenhof erbaut, hatte die Gruftkapelle schon Geschlechtern zur letzten Ruhestätte gedient, welche dahingegangen und erloschen waren, und durch die Eichenallee, durch welche nun die kleine Tafelrunde der Lehnsherrin Dolores lachend und plaudernd dahinschritt, war manch' ein Falkner hinausgetragen worden zum letzten langen Schlafe.
Alfred Falkner mußte unwillkürlich an seinen letzten Gang durch diese Eichenallee denken – als er dem Sarge des Onkels folgte, ein entthronter Erbe, ein bloßer Agnat im Gefolge der »Theaterprinzeß«! Auch heut' schritt sie ihm voran, aber an der Seite eines regierenden Herzogs, und er konnte nicht anders, als hinblicken auf sie, auf diese leicht schreitende, schlanke Gestalt, in deren goldnem Haar sich mitunter ein Mondenstrahl fing, der durch eine Lichtung im Gezweig huschte. Und dann glänzte dies Haar auf und sprühte wie Feuer und leuchtete metallisch wie poliertes Kupfer – dies Haar, dessen »Satansfarbe« er so gehaßt hatte. Nun freilich wußte er, daß dieser Haß Selbstbetrug gewesen – –
Da hing sich leicht ein Arm in den seinen, und ein reizendes Gesichtchen blickte auf zu ihm mit thränengefüllten Augen – Prinzeß Lolo.
»Sehen Sie nicht immer nur hin nach ihr,« flüsterte sie mit erstickter Stimme, »sie macht sich doch nichts aus Ihnen – gar nichts!«
»Das wußt' ich eher, wie Sie, Prinzeß,« erwiderte er in der Bitterkeit seines Herzens, und dann ärgerte ihn das rasche Wort. Was brauchte dies kleine Schoßkind des Glückes davon zu wissen?
»Das wissen Sie? Gott sei Dank!« flüsterte es an seinem Arme zurück.
»Wie meinten Durchlaucht?« fragte er steif.
»Ich sagte: Gott sei Dank, daß Sie es wissen,« kam es trotzig zurück, aber etwas lauter. »Ich will nicht so laut sprechen – was brauchen es die andern zu hören?«
»Was hören?«
»Daß Sie umsonst den Toggenburg spielen vor dem Falkenhof:
deklamierte die kleine Prinzeß.
»Durchlaucht belieben starke Ausdrücke,« gab er hochmütig zurück. »Denn wenn ich zu etwas nicht Anlage habe, so ist es zum Toggenburg.«
»Dazu wären Sie auch zu schade –« –
»O wirklich –?«
»Ja, denn Sie sollen siegen, aber nicht schmachten. Schmachten ist für einen Mann etwas Gräßliches – Jämmerliches. Wenn man Sie als Prometheus an einen Felsen schmiedete, und die Geier an Ihrem Herzen hackten –« –
»Es war die Leber, Durchlaucht!« – unterbrach er sie ironisch.
»Und die Geier an Ihrem Herzen hackten,« fuhr sie unbeirrt fort, »dann würde ich so viel glühende Thränen weinen auf Ihre Fesseln, bis sie schmölzen. Aber für einen Gefangenen im Bagno mit der Kugel am Fuß rühre ich keinen Finger!«
Die kleine, leidenschaftliche Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Falkner führte gerührt und geschmeichelt – vielleicht letzteres noch mehr, das reizende kleine Händchen, das auf seinem Arm lag, an die Lippen.
»O, Prinzeß Lolo!« murmelte er.
»Nennen Sie mich doch nicht auch mit diesem schrecklichen Namen,« bat sie leise mit schmeichelnder Stimme.
»Eleonore!« sagte er da, ohne Titel, ohne Prädikat.
»Alfred!« jauchzte es noch leiser zurück, aber mit solchem Herzensjubel, daß er davor erschrak. Was war geschehen? Was hatte er gethan? Doch zum Überlegen war keine Zeit – man war an Ort und Stelle.
Vor der Kapelle, die grau und verwittert unter dem dichten Blätterdach der sie umgebenden Eichen lag, standen zwei Diener mit Fackeln – sie hatten einen näheren Weg genommen, um die Herrschaften zu erwarten.
Der Herzog setzte sich sogleich auf eine Steinbank vor der Pforte. »So! Nun macht, was ihr wollt, ich bleibe hier,« erklärte er behaglich; die Lust in die Gruft hinabzusteigen, war übrigens auch bei den anderen nichts weniger als groß und man zögerte vor der nun geöffneten Pforte, bis Dolores zu Prinzeß Lolo sagte:
»Nun denn, so muß ich Ihnen allein die Honneurs dort unten machen, Durchlaucht!«
Aber der kleinen Durchlaucht war längst die Lust vergangen – sie hatte durchgesetzt, was sie sich eingebildet hatte, mehr wollte sie eigentlich nicht, und ihr Hasenherzchen fing merkwürdig an zu zittern und zu klopfen vor der Kapellenthür, auf welcher das Fackellicht unheimlich flackerte.
»Gehen Sie mit?« fragte sie zaghaft, zu Falkner emporsehend.
»Gewiß,« sagte dieser. »Dort unten habe ich sogar Repräsentationspflichten und größere Rechte, als meine Cousine, die Lehnsherrin!«
»Ein bitterer und grausiger Humor,« meinte Dolores ernst und gelassen.
»Ich schließe mich gleichfalls an,« erklärte Doktor Ruß sehr zum Mißfallen seiner Frau, und die Vier betraten die Kapelle, gefolgt von Ramo, der eine Stocklaterne entzündet hatte und mit derselben leuchtete.
Im Kapellenraum brannte hinter rotem Glase eine ewige Lampe, deren herrliche Form in schwerem Silber von der Decke herabhing. Der Altar, darin an bestimmten Tagen ein Priester Seelenmessen las für die ewige Ruhe der hier beigesetzten Falkner, war reich und prächtig bestellt – fromme Gaben Hinterbliebener, welche all diese gold- und silberstrotzenden Antependien, Leuchter, Vasen, Evangelien- und Episteltafeln als Opfer niedergelegt hatten für die dahingeschiedenen Geliebten.
Dolores, Falkner und Ramo neigten sich bekreuzend vor dem geschlossenen Tabernakel – dann öffneten sie ein Gitter, das eine steile aber breite Treppe abschloß und sie schritten, Ramo voran, dieselbe herab, hinter der Prinzeß, welche nur zaghaft den ihr zukommenden Vortritt nahm. Die Treppe mündete in einen hallenartigen Keller, in dessen gewölbten Nischen Särge standen von allen Größen, viele bedeckt mit verdorrten Kränzen.
»Hu, wie schrecklich!« flüsterte die Prinzeß halb weinend.
»Das sind neuere Generationen,« erklärte Falkner. »Die eigentliche Gruft liegt hinter jener Thür, und dieser Raum wurde ehedem als Kapelle benutzt, ehe es da drinnen zu enge wurde und man die Vorhalle droben als Kapelle einrichten mußte. Tempus fugit,« setzte er bedeutungsvoll hinzu.
»Tempus fugit,« wiederholte Doktor Ruß. »Künftige Geschlechter werden sich eine neue Stätte für ihren letzten Schlaf errichten müssen.«
»Es ist noch Platz hier für die beiden letzten Falkner,« erwiderte Dolores, seltsam bewegt. »Die Nischen sind gefüllt – hier aber, mitten im Raum, sind zwei aufgemauerte Postamente für die Särge, und hier trifft sie früh die Morgensonne durch das Gitterfenster, und frei kann die Waldluft sie umwehen. Es sind die besten Plätze, und niemand kann sie ›dem letzten Falkenpaare‹ wehren, denn wenn der letzte hinabgetragen ist, dann wird die Thür oben zugemauert, und die ewige Lampe erlischt –«
»Wer aber wird das letzte Falkenpaar sein?« fragte Prinzeß Lolo beklommen, und als niemand antwortete, stieß sie einen leisen Schrei aus. »Sie beiden?« flüsterte sie scheu, auf Alfred und Dolores deutend.
»Wer weiß es?« sagte ersterer und schritt der verschlossenen Thür zu, sie zu öffnen, während Dolores die prophetischen Worte der Ahnfrau einfielen:
»Verschwinden,« schien das Echo zu sagen, welches das gedachte Wort gar nicht erweckt hatte.
Der Raum, den sie jetzt betraten, war bedeutend kleiner, und die feuchte Grabesluft des großen Gruftgewölbes fehlte ihm, denn die Wände waren mit Blei bedeckt, von dessen blinden Flächen noch schwarze Tuchfetzen herabhingen, mit denen die Wände ehedem zum »pompe funèbre« behangen waren.
»Der Luxus unserer Vorväter hatte dieselben mehr konserviert als es jede Einbalsamierung thun konnte,« sagte Doktor Ruß, indem er auf die Bleiwände deutete. »Deshalb können wir auch heute noch beurteilen, ob der Maler der ›bösen Freifrau‹ geschmeichelt hat oder nicht.«
Er winkte Ramo, und dieser beleuchtete drei nebeneinander stehende reichbeschlagene, mit Samt bekleidete Prachtsärge, auf deren mittelsten eine Tafel angebracht war zu Füßen des Kruzifixes, auf welcher man deutlich den Namen: »Dolorosa, Freifrau von Falknerin« lesen konnte. Doktor Ruß und Falkner faßten den Deckel bei den Handhaben, hoben ihn herab und enthüllten einen zweiten Bleisarg, der in dem Prunksarg eingelassen war. Auch dessen Deckel wich und Dolores sah mit einem Ausruf höchster Überraschung eine Gestalt in dem Sarge liegen, von deren Haupt das Haar zwar glanzlos, aber genau so kupferrot leuchtete, wie auf dem ihren, und näher tretend konnte sie die von der Zeit zwar vergilbten, aber wunderbar erhaltenen Züge der »bösen Freifrau« erkennen, wie sie hier so friedlich zu schlafen schien im silbergestickten, weißen Damastkleide, das sich über einem goldgestickten, mattgrünen Unterkleide von Atlas öffnete. Die schmalen, schlanken Hände, welche aus den übergeschlagenen Spitzenmanschetten der hochgepufften Ärmel hervorragten und nun wie vergilbtes Elfenbein aussahen, waren über der Brust gefaltet, welche ein tiefer Ausschnitt des Kleides halb entblößte, der feingestickte, spitzenbesetzte mächtige Kragen aber leicht bedeckte. Um den Hals lag ein dünnes Goldkettlein, die rotgoldenen Haare waren dicht gekräuselt und in den leichten Federlöckchen lag im seltsamen Gegensatze zu dem grünen Unterkleide, eine spitze, lange, schwarze Witwenschneppe.
Mächtig erschüttert sah Dolores auf die Ahne herab, deren Züge sie trug, diese Züge, auf denen die Bleibekleidung der Wände und der bleierne Sarg dies Wunder der Erhaltung ihrer irdischen Reste bewirkt – sie hatte unwillkürlich die Hände gefaltet, und ihre Augen wurden feucht, als sie den Körper der Unglücklichen vor sich sah, die im Leben so heiß geliebt, so schwer gelitten hatte –
Da tönte ein gellender Schrei durch die stille Gruft –
»Die Augen – sie hat die Augen aufgemacht –« kam es in Tönen des Entsetzens von Prinzeß Lolos Lippen, und die Arme wild emporgereckt, die Augen stier und die Lippen blaß, flog sie auf Falkner zu und brach zu seinen Füßen zusammen.
»Das ist die Folge, wenn Backfische das Gruseln lernen wollen,« murmelte Doktor Ruß vor sich hin, während Dolores sagte:
»Schnell – schaffen Sie sie hinauf, Alfred! Das arme Kind kann Krämpfe davon tragen von ihrer Angst –«
Falkner hatte sich schon gebückt und hob die Prinzeß empor, welche krampfhaft schluchzend die Arme um seinen Hals schlang und das blonde Köpfchen an seine Wange drückte wie ein kleines Kind, das man mit dem schwarzen Mann in Schrecken gejagt. Der gellende Schrei hatte auch die vor der Kapelle Zurückgebliebenen aufgeschreckt.
»Das war Lolo –! O, ich dachte es wohl!« rief Prinzeß Alexandra und trat in die Kapelle. Doch da erschien schon Falkner oben an der Treppe mit seiner Bürde, die sich schluchzend fest an seinen Hals klammerte.
»Sie wird sich in der frischen Luft bald erholen,« sagte er auf den fragenden Blick der älteren Schwester.
Aber Prinzeß Lolo erholte sich nicht so schnell. Sie war von Falkners Halse nicht loszureißen und weinte Ströme von Thränen.
»Sie hat die Augen aufgemacht und mir gewinkt,« schluchzte sie, »aber ich will nicht sterben, Alfred, ich lasse dich nicht – laß du mich auch nicht – du bist mir gut – nicht wahr? Laß mich nicht sterben – nicht sterben – nicht sterben!«
Jetzt riß dem Erbprinzen die Geduld.
»Eleonore!« sagte er streng und scharf, daß das Schluchzen sofort nachließ, wie oft bei grundlos weinenden Kindern. »Eleonore, was soll das? Schäme dich!«
Langsam lösten sich die runden, weichen Arme von Falkners Hals, aber das verweinte Gesichtchen blieb an seine Brust gelehnt, bis der Herzog hinzutrat und, seine Tochter an der Hand fassend, diese hinwegzog.
»Fräulein von Drusen,« sagte er, »haben Sie die Güte, die Prinzeß nach Hause zu begleiten und dort zu Bett bringen zu lassen!«
»Papa!« schrie sie empört auf.
»Du weißt, ich liebe Scenen nicht,« entgegnete der Herzog ärgerlich. »Außerdem wünsche ich nicht, mir den schönen Abend weiter zu verderben. – Sie werden uns nämlich noch nicht los,« wandte er sich an Dolores, »denn Sie haben uns ein Lied versprochen.«
»Und ich hoffe, meine Schuld mit Zinsen einlösen zu können, Hoheit,« erwiderte Dolores liebenswürdig, und nur ein feiner Kenner hätte in ihrer Stimme ein leises Schwanken wahrnehmen können. Und so ging es die Allee zurück nach dem Falkenhof – fast in der alten Ordnung – Dolores voran mit dem Herzog, Ruß mit Fräulein von Drusen, der Kammerherr mit Frau Ruß, welche leichenblaß war und vor Aufregung zitterte infolge der Scene vor der Kapelle. Dem ersten Paare hatte sich Gräfin Schinga, dem zweiten ihr Gatte zugesellt, Prinzeß Alexandra folgte, den Arm um ihre Schwester geschlungen und leise mit dieser flüsternd, zuletzt, etwas weiter zurück, folgten der Erbprinz und Falkner.
Nach einer Pause ergriff ersterer das Wort.
»Baron Falkner,« sagte er, »wie soll ich mir diese Scene mit meiner Schwester deuten?«
»Genau wie Hoheit sie sahen. Es liegt nichts dahinter,« erwiderte Falkner ruhig. Daß man eine Erklärung fordern würde, dessen hatte er von Anbeginn sicher sein können, und er sah ihr gefaßt entgegen mit dem Gefühl eines Mannes, dem das hingebende Anschmiegen, das rückhaltlose Hervorbrechen der Zuneigung eines reizenden Weibes wohlgethan hatte, nachdem die Zärtlichkeit einer Mutter für ihn unter Kontrolle stand, und er verscherzt glaubte, was niemals sein gewesen.
»Es liegt nichts dahinter?« wiederholte der Erbprinz. »Meinen Sie damit, daß die Reden meiner Schwester spontane Eingebungen waren, welche Sie selbst überraschten?«
»Zum Teil thaten sie dies allerdings, Hoheit,« war die ebenso ruhige und sichere Antwort.
»Zum Teil! Und zum anderen Teil?« war die heftigere Frage.
»Zum anderen Teil bekenne ich mich schuldig, auf dem Wege zur Kapelle durch ein unvorsichtiges Wort Hoffnungen in dem jungen Herzen erweckt zu haben, welche, so fürcht' ich, nur auf Sand gebaut sind.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Fürstentöchter sind schon zu Vasallen herabgestiegen – doch diese hatten dann mehr zu bieten als Äquivalent, als ich.«
»Darauf kommt es nicht an, Falkner,« erwiderte der Erbprinz ruhiger. »Es handelt sich für mich nur darum, zu wissen, wessen Neigung stärker ist – die meiner Schwester für Sie, oder die Ihrige für meine Schwester!«
»Dann fragen Hoheit die Prinzessin Eleonore selbst – ihre Antwort ist die meinige,« entgegnete Falkner.
Der Erbprinz seufzte, aber schwieg. Er konnte sich's ungefähr erklären, wie alles gekommen war, er kannte seine »kleine Schwester,« und im Grunde seines Herzens lebte die feste Überzeugung, daß Prinzeß Lolo bei ihrer Neigung »zum Durchgehen« besser aus der Sphäre herausgedrängt wurde, in welcher sie geboren war, und an der Seite eines Mannes wie Falkner die Festigkeit erlangte und die Stütze fände, deren sie so sehr bedurfte, als daß sie in einer Konvenienzehe, sich selbst überlassen, dem Abgrunde zutrieb, von dem vielleicht nichts mehr sie retten konnte.
Im Falkenhof wieder angelangt, blieb man, Prinzeß Lolo inbegriffen, noch versammelt, aber die Konversation blieb gezwungen und die Gemütlichkeit war entflohen, und während Gräfin Schinga eine der wundervollen ungarischen Rhapsodien von Liszt spielte, beobachtete Doktor Ruß, scheinbar in den Kunstgenuß versunken, wie es in den Zügen des kleinen Kreises nacharbeitete von der Scene an der Grabkapelle. Denn der sonst stets gutgelaunte Herzog suchte ersichtlich Herr seiner Mißstimmung zu werden, und mitunter flog ein Blick aus seinen gutmütigen Augen hinüber nach seiner zweiten Tochter, der so ernst und mißbilligend war, als er's überhaupt zuwege bringen konnte. Der reizenden Delinquentin sah man's an, daß Zorn und Thränen in ihr kämpften. Prinzeß Alexandra sah bekümmert aus, Frau Ruß rang nach Atem, und Falkner stand da wie einer, der den drohenden Sturm gefaßt erwartet. Die Unbefangenen waren Keppler und Graf Schinga – unbefangener und ganz gelassen schien Dolores, als ginge der Sturm im Wasserglase sie gar nichts an. Und wirklich hatte die Scene draußen sie nicht in dem Maße überrascht, als die anderen – sie war ja die Vertraute der kleinen Prinzeß –
»Sie wird weinen, er wird sich in Stolz hüllen, und dann wächst Gras über die ganze alberne Sache,« dachte sie, nicht ohne Bitterkeit.
Und dabei ahnte sie nicht einmal, was diese Selbstbeherrschung ihr wert war. Denn Doktor Ruß beobachtete scharf, und hätte er ein Zucken in ihren schönen Zügen entdeckt, einen verräterischen Blick erhascht – – was alles hängt nicht im Leben oft an einem »wenn!« Und als Gräfin Schinga ihre leidenschaftliche Rhapsodie geschlossen, da sang Dolores einige Lieder mit fester, klarer Stimme, und als ihre Gäste dann die Heimkehr antraten, nahm sie Abschied von ihnen, als sei niemals etwas geschehen, was die Harmonie des heutigen Abends stören konnte.
»Das war ein interessanter Abend,« sagte Doktor Ruß, als er Dolores gute Nacht wünschte.
»Ach ja – die Herrschaften sind wirklich sehr angenehme Nachbarn,« erwiderte sie, ohne den doppelten Sinn verstehen zu wollen.
»Schade nur, daß das blonde Prinzeßchen ihre romantische Idee, nachts die Gruft zu besuchen, so schwer büßen mußte,« setzte er lächelnd hinzu. »Aber wer weiß, wozu es gut war, daß sie ihr Herzensgeheimnis dabei verriet,« meinte er sinnend. »Es wird wohl einen Sturm geben, drüben in Monrepos, aber nach Stürmen pflegt die Sonne gemeiniglich viel heller zu scheinen.«
»Man muß es hoffen,« entgegnete Dolores.
***
Zu einem richtigen Sturm kam es aber in Monrepos doch nicht, kaum daß ein Donnerwetter die nötige Luftreinigung besorgte. Der Herzog hatte am selben Abend noch eine längere Unterredung mit seinen beiden ältesten Kindern und darauf eine bedeutend kürzere mit Falkner, der abermals hier alle Schuld auf sich selbst lud und die Neigung der Prinzeß für sich selbst also in ein ideales Licht stellte.
Und die dem Idealen stets so geistig nahe Prinzeß Alexandra brachte ihrer Überzeugung und ihrer an das Erhabene streifenden Schwesterliebe ihre hohen Ideen vom Fürstenberuf zum Opfer und ward die Fürsprecherin einer Verbindung, welche der Erbprinz aus Prinzip, der Herzog aber in dem vagen Gefühl bekämpfte, daß es seine Pflicht sei, eine Mesalliance zu verhindern. Daß Falkner keinen Reichtum zu bieten hatte, machte ihm nicht die größten Sorgen.
»Seine Kinder sind versorgt, die erben den Falkenhof,« meinte er. »Und Gott sei Dank, ich hab's ja, um meine Tochter ihr Leben lang ganz passabel glänzend zu stellen.«
Prinzeß Alexandra aber siegte mit ihren Argumenten. Sie zeichnete dem Vater rückhaltlos den Charakter ihrer Schwester mit all' seinen Schwächen, sie stellte ihm all' die Gefahren vor, welchen ein solcher Charakter ausgesetzt ist, Gefahren, die eine Konvenienzehe geradezu beschwört, und die nur eine Herzensneigung abwenden kann. Und als der Herzog immer noch ablehnend sich verhielt, da wagte sie das letzte, das stärkste.
»Papa, denke an unsere Mutter, und wie sehr Lolo ihr in allem und jedem gleicht,« sagte sie leise und mit glühenden Wangen.
Da senkte der alte Herzog traurig sein graues Haupt, und die vergangene schwere Zeit, da die hochselige Herzogin ohne Liebe seine Gemahlin wurde, und ihr heißes Herz erwacht war, diese Zeit kam mit Gewalt zu ihm zurück. Aber er wußte auch, was es seiner Tochter kosten mußte, um ein Bild herauf zu beschwören, das er und seine Kinder mit dem Schleier der Vergebung und der Pietät verhüllt hatten, und er begriff jetzt ihre Herzensangst um das Wesen, dem sie mehr als eine Schwester, dem sie eine Mutter gewesen war. Sie hatte die wilden Triebe in der jungen Seele nicht ganz ausrotten können, sie wußte, daß sie eines Tages emporschießen würden, und hoffte, daß die Liebe allein mit starker Hand und ohne Schmerz zurückhalten würde, was ohne ihren Sonnenglanz nicht zu gedeihen vermag.
Und so kam es, daß Falkner nach Mitternacht sich zur Ruhe begab als verlobter Bräutigam und als anerkannter künftiger Schwiegersohn des Herzogs von Nordland. Der Wahrheit die Ehre zu geben, er fühlte sich in beiden Eigenschaften gehoben, denn einmal that ihm die rückhaltlos offenbarte Liebe des reizenden Fürstenkindes wohl, und dann schmeichelte ihm der Gedanke, einem regierenden Hause so nahe zu treten.
Drüben im Falkenhof war alles still und umfangen vom nächtlichen Frieden, und wirklich schlief die junge Lehnsherrin einen erquickenden Schlaf, unbehelligt durch schwere Träume, während Doktor Ruß seinerseits sich leise erhoben hatte, als seine furchtbar von den Ereignissen des Abends aufgeregte Gattin endlich zur Ruhe gekommen war, ahnungslos über das, was sich drüben »bei Hofe« indes vollzog. Rastlos und leise, als schritte er auf Gummisohlen, ging er im Wohnzimmer auf und nieder und dachte, dachte, dachte, bis das erste Flimmern des jungen Tages durch die Ritzen der geschlossenen Vorhänge drang – da erst legte er sich nieder und stand ein paar Stunden später mit der Miene eines Mannes auf, der die ganze Nacht wie ein Heiliger geschlafen, und als er, nach seinem kalten Bade frisch und bis zum Tüpfelchen auf dem i jeder Zoll ein gutgekleideter Gentleman, seine Gattin am Frühstückstisch fand, da hätte diese sicher am letzten geahnt, daß er die ganze, liebe, lange Nacht hindurch nicht nur nicht geschlafen, sondern anstrengend gedacht hatte.
Als der Morgen dann zu einer decenten Stunde vorgeschritten war, stieg er hinauf zu Dolores und ließ sich bei ihr melden. Er fand sie in dem Turmzimmer am Schreibtische vor, Bücher und Belege vor sich.
»Immer thätig, immer bei der Arbeit,« sagte er, und küßte ihre Hand.
»Was hilft's? Engels zwingt mich ja zu diesem reizlosen Geschäft,« lächelte Dolores und seufzte dazu resigniert. »Er giebt keine Ruhe, ehe ich nicht selbst die Bücher vergleiche und die Belege revidiere. Und dabei hasse ich nichts mehr, wie Rechnen und Zahlen. Aber ›ich bin des trocknen Tons nun satt,‹« setzte sie mit dem übermütigen Blick früherer Tage hinzu, indem sie das Buch zuklappte und ihre Hand darauf legte.
»Ich wundre mich nur, daß Sie den ›trocknen Ton‹ so lange ertragen haben,« gab Doktor Ruß zurück.
»Nun, was Mephisto konnte, wird doch von Satanella nachzuahmen sein?« sagte sie leicht.
»Wer weiß,« erwiderte er und setzte dann hinzu: »Wissen Sie, Dolores, daß Sie mich damit unbewußt auf das Thema gebracht haben, wegen dessen ich eben zu Ihnen heraufkam? Ich habe, offen gesagt, nicht recht gewußt, wie beginnen, denn ich möchte Ihr Mißtrauen nicht erwecken und nicht selber die Rolle einer mißgünstigen Rothaut in Ihren Augen spielen –« –
»Das ist ja eine schreckliche Vorrede,« lachte Dolores, sichtlich sympathisch berührt von dem Tone des Biedermanns, den Doktor Ruß so meisterhaft beherrschte.
»Eine schreckliche Vorrede, nicht wahr?« gab er mit komisch-kläglichem Tone zu, fügte aber gleich wieder ernst hinzu: »Aber sie ist noch nicht zu Ende, meine Vorrede. Denn sehen Sie, Dolores, Sie müssen mich nicht mißverstehen, nicht glauben wollen, daß ich Ihnen einen Rat aufdränge, dessen Sie nicht bedürfen und den Sie nicht wünschen, oder gar, daß ich mich von irgend welchem Übelwollen leiten lasse – von einem Übelwollen gegen Engels, der mich nicht leiden mag. Denn um Engels handelt es sich.«
»Ach bitte, sagen Sie nichts gegen ihn,« bat Dolores so treuherzig, daß ein anderer, als Doktor Ruß, sicher still gewesen wäre.
»Nein, o nein,« beeilte er sich zu versichern. »Sie müssen nicht denken, daß ich ihn verdächtigen will, denn die Offenheit, mit welcher er seine Abneigung gegen mich zur Schau trägt, gemahnt an das klassische Vorbild der Nibelungenzeiten und hat mich immer mehr ergötzt als beleidigt. Denn gegen seine Antipathie kann kein Mensch, nur daß sie in diesem Falle wirklich nicht auf Gegenseitigkeit beruhte –« –
»Jetzt fang' ich aber wirklich an, neugierig zu werden, um was es sich handelt,« sagte Dolores amüsiert.
»Ich komme schon zur Sache, aber diese Einleitung hielt ich eben für nötig, denn meine Angelegenheit ist zu ernst, um mit der Thür ins Haus zu fallen,« erwiderte Doktor Ruß. »Es handelt sich also um den guten Engels, oder, wenn Sie wollen, um den Falkenhof. Sie wissen ja, wie der verstorbene Freiherr, Ihr Onkel, stets in die Verwaltungsgeschäfte selbst mit eingegriffen hat und Engels in allem und jedem dareinredete, als wäre derselbe nichts gewesen, als ein subalterner Beamter und nicht der selbständige Verwalter eines solch' enormen Güterkomplexes wie der Falkenhof. Das aber lähmt die Thatkraft, schwächt das Selbstvertrauen, und Engels, dessen landwirtschaftliche Kenntnisse und Ansichten noch von Anno Tobak datieren, hat nichts dazu gelernt, wie ich gern zugebe, aus dem obengenannten Grunde. Und in der That ist er nichts weiter, als ein guter, tüchtiger Inspektor, dem seine Buchführung nachgerade sauer genug wird und sie, wie figura zeigt, gern teilweise auf Sie abholzen möchte.«
»Und der langen Rede kurzer Sinn ist, daß ich Engels pensionieren soll,« warf Dolores kühl und scharf ein.
»Da – hatt' ich unrecht, wenn meine ›schreckliche Vorrede‹ Ihrem Mißtrauen vorbeugen sollte?« fragte Doktor Ruß lächelnd und in ganz harmlosem Tone. »Also für's erste und letzte – nein, tausendmal nein, ich will nicht, daß Sie Engels pensionieren sollen, denn das hieße den Besitz schädigen. Was ich meine, betrifft nur die rentamtliche Verwaltung. Die hat Ihr Onkel stets besorgt, wie Sie aus den Büchern ersehen werden, und wenn Engels dazu jetzt nicht taugt, so ist's nicht seine Schuld, denn woher soll ihm plötzlich eine Wissenschaft kommen, die er nie gepflegt hat. Nun aber sind Sie, liebe Dolores, gleichfalls unerfahren in der Verwaltung eines solchen Besitzes, Sie halten Engels für Ihre beste, zuverlässigste Stütze und haben darin auch nicht unrecht. Aber Sie vergessen, daß die Kopfarbeit ihm auch über den Kopf wachsen muß, und daher halte ich es für meine Pflicht, mögen Sie es so oder so deuten, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Falkenhof nicht vorwärts kommen kann, wenn, bei aller Sorgfalt und Pflichttreue des Verwalters, das geistige Oberhaupt mangelt. Verstehen Sie, was ich meine?«
Dolores hatte sehr aufmerksam zugehört und antwortete nicht sogleich.
»Ich verstehe all' das vollkommen, mehr noch, ich sehe ein, daß die ganze Last für Engels zu groß ist,« sagte sie dann. »Aber nichtsdestoweniger danke ich Ihnen herzlich für den guten Rat, der mir Ihre freundschaftliche Gesinnung so warm dokumentiert.«
»Sie wälzen einen Stein von meinem Herzen, wenngleich Sie mir deshalb nicht zu danken brauchen,« erwiderte Ruß lebhaft – eine seltene Kundgebung bei ihm.
»Doch, doch,« rief Dolores. »Hat doch der König seine Räte! Aber, aber, die ganze Vorrede hat mir doch gezeigt, daß die kleine Scene drüben im Ahnensaal Sie verletzt hat, daß Sie meinen Abweis jeglicher Einmischung in persönliche Angelegenheiten falsch oder doch zu scharf aufgefaßt haben. Denn wirklich, es galt nur dem Persönlichen, galt einer delikaten Frage, welche ich abgethan und begraben wähnte –« –
»Ihre Entschuldigung beschämt mich nur noch mehr,« fiel Ruß ein und reichte ihr seine Hand herüber, in die sie flüchtig die ihre legte. »Und um nun auf unser früheres Thema zurückzukommen –« –
»O, in diesem Falle bin ich sehr stolz, daß mein Instinkt mit Ihrer Fachkenntnis und Ihrer tiefen Einsicht im Einklange steht,« unterbrach ihn Dolores freundlich, »denn ich selbst habe längst gefunden, daß die Regierungsmaschine des Falkenhofes geordnet und einer Autorität unterstellt werden muß –« –
»Ah, sehen Sie wohl –!« rief Doktor Ruß mit einem Blick des Triumphes.
»Und gewissermaßen ist diese Angelegenheit schon geordnet,« fuhr Dolores fort, nicht ohne eine gewisse, sie sehr gut kleidende Wichtigkeit in Ton und Miene zu legen. »Ich habe Engels zum Generalbevollmächtigten ernannt und werde ihm einen Inspektor speciell für den Falkenhof unterstellen und damit den Stab seiner Inspektoren um einen leitenden technischen Beamten vermehren. Die nötigen Gehilfen für Engels auf dem Rentamte wird Justizrat Müller auf meinen Wunsch anwerben und mir verpflichten.«
Sie hatte all' das mit Eifer und, wie gesagt, mit einer sehr reizenden Wichtigthuerei berichtet, und, obgleich sie sich damit direkt an Doktor Ruß wendete, nicht bemerkt, daß er um einen Schatten blässer wurde und seine, den Bart drehende, weiße und wohlgepflegte Hand plötzlich so unsicher ward, daß er sie herabnehmen mußte und, um ihr Zittern zu verbergen, tief in seine Rocktasche vergrub.
»Und nun, was sagen Sie zu diesem excellenten Plan, auf den ich sehr stolz bin?« schloß Dolores heiter.
»Ich auch,« erwiderte Ruß mit seltsam schwerer Zunge, so daß sie ihn verwundert anschaute. »Und ist alles schon legal und perfekt?« fragte er dann in seiner gewöhnlichen, gewinnenden Weise.
»Ja. Ich erwarte den Justizrat heut' oder morgen. Aber,« fuhr sie liebenswürdig fort, sichtlich bemüht, für den anscheinend so uneigennützig und bieder gegebenen Rat Dankbarkeit zu zeigen, »aber ich rechne beim Einrichten der neuen Verwaltung auf Ihren Rat. Da Sie mir die Freude machen wollen, bis zum Herbst mein Gast zu sein, so hoffe ich noch viel von Ihrem praktischen, sowie auch nicht minder von Ihrem theoretischen Wissen zu profitieren.«
Doktor Ruß verbeugte sich.
»Es macht mich stolz, mein geringes Können von Ihnen so hoch gestellt zu sehen,« sagte er mit seinem musikalischen Tonfall. »Aber,« setzte er lebhafter hinzu: »Aber ich fürchte, fürchte, daß Engels meinen Rat nicht begehren, mehr noch, nicht dulden wird –«
»Nein, da thun Sie ihm unrecht. Er ist so einsichtsvoll und weiß sehr genau, wo es ihm fehlt. Er wird sich freuen, bezüglich der Verwaltung wertvolle Winke von Ihnen zu erhalten.«
Doktor Ruß wiegte lächelnd den Kopf.
»Ich zweifle dennoch,« meinte er.
»Aber ich bitte Sie, wenn ich es wünsche!« rief Dolores, deren Widerspruch und Machtgefühl eine kleine Reizung erhielt. Doch Doktor Ruß wehrte ihr mit leisem Lachen mit beiden Händen ab.
»Ich den guten Engels unterrichten, der Vorurteile hat wie ein Italiener und eigensinnig ist wie gewisse graue Tiere – nein, liebe Dolores, so weit reicht Ihre Macht nicht. Das müßten Sie mir schriftlich geben, wenn Sie mich wünschen.«
»Nun, wenn Sie meinen, daß mein geschriebenes Wort Engels mit größerer Ehrfurcht erfüllt, so sollen Sie's haben,« lachte Dolores, auf den Scherz, für den sie das Ganze hielt, eingehend. Dabei ergriff sie einen großen Bogen Papier, warf hastig ein paar Zeilen daraus und reichte sie lächelnd Ruß herüber.
»Ich ernenne hiermit den Herrn Doktor Ruß zum Bureauvorsteher meines Rentamtes,« las er unterhalb des Datums. »Sehr gut. Sie haben nur die Unterschrift vergessen.« Und damit legte Ruß das Papierblatt wieder vor Dolores auf den Schreibtisch, welche sich höchlich über den »Spaß« amüsierte.
»Und die zwei Zeugen!« meinte sie, die Feder über den leeren Platz gleiten lassend. »Dolores Freiin von Falkner,« schrieb sie mit ihren großen, kräftigen Zügen, die so viel Charakter verrieten.
Doch als Doktor Ruß wieder nach dem Blatte griff, nahm sie es schnell fort und zerriß es noch rascher in mehrere Stücke.
»Nehmen Sie den Unsinn mit dem ›Bureauvorsteher‹ nicht übel,« sagte sie und warf die Fragmente in den Kamin.
Wieder lachte Doktor Ruß, aber diesmal ging Dolores der Ton durch und durch, daß sie zusammenzuckte.
»Was sich liebt, neckt sich,« sagte er und mußte sich räuspern, weil seine Stimme heiser geworden war. »Doch verzeihen Sie, daß ich Sie so lange belästigt habe, ja?« –
»Nein, es war ja so sehr freundlich von Ihnen,« erwiderte sie ganz überzeugt, worauf Doktor Ruß wieder ihre schlanke, feine Hand küßte und sich empfahl.
Draußen im Korridor aber kam es ein-, zweimal röchelnd aus seiner Brust, daß er den Knopf seines Leinenkragens lösen mußte, weil er ihm zu eng wurde.
»Es war der letzte Versuch,« stöhnte er. »Vom Hoffen zum Fehlschlagen, von der dann erreichten ersten Staffel in den Abgrund zurückgeschleudert – das macht die Nerven kaput. O Dolores!«
Und wieder schloß er den Knopf, denn die Selbstbeherrschung war sein oberstes Lebensprinzip.
»Ich hab's ehrlich gemeint – was kann ich dafür, wenn es nicht angenommen wurde?« sagte er im Weiterschreiten zu sich selbst.
»Ehrlich, wirklich ehrlich, denn ich bin kein Zulukafferhäuptling und kein Schusterle, dem's nur um das Abschlachten zu thun ist. Also jetzt Geduld, Geduld! Damit hat Napoleon die Welt unterjocht, und mit ihm sage ich: Tout le monde vient à celui qui sait attendre.«
O du stolze Frau Ruß, der das bloße Brot der Duldung in diesem Hause stets so hart und bitter war, dich hätte der Schlag getroffen, wenn du geahnt hättest, daß nach dem fehlgeschlagenen Versuch deines Gatten, sich zum Generaldirektor des Falkenhofs zu machen, dieser den »Scherz« der Lehnsherrin mit dem Bureauvorsteherposten für bitteren Ernst genommen hatte! »Denn,« so hatte er gerechnet, »wer das Kleine nicht ehrt, ist des Großen nicht wert,« und einmal im Nest, wäre der unbequeme Engels schon herauszudrücken, und der lockende Posten, der das Einkommen jeder Professur weit überschritt, dann dennoch sein gewesen. Denn darin machen's die Menschen nicht besser als die Tiere – es drückt einer den anderen fort, wenn er dessen Nest für das wärmere und bessere hält. »Nur die Lumpe sind bescheiden,« sagte Altmeister Goethe, und der hat das Leben doch sicher verstanden.
Daß dem Doktor Ruß nichts daran lag, den Falkenhof und mithin die Fleischtöpfe Ägyptens zu verlassen, um in einer Welt, der er fremd geworden, ein Brot zu suchen, dessen Sicherheit und Güte er durchaus nicht gewiß war, war ihm am Ende nicht zu verargen. Es schreibt sich am täglich kostenlos gedeckten Tisch, der unter dem Regimente der neuen Lehnsherrin bedeutend besser geworden war, leichter hin und wieder ein geistreich-ästhetisches Essay, als beim ängstlich eingeteilten Brot ums liebe Leben, und wenn Doktor Ruß auch zu denen gehörte, welche selbst in der Einsamkeit nicht rückwärts schreiten, weil sie den Drang zur Fortbildung in sich tragen, so wußte er doch sehr genau, daß die Zeit manche Lücken in seinem Wissen verursacht hatte, und daß es ihm blutsauer werden würde, in der Welt einigermaßen anständig fortzukommen. Andererseits aber hatte Dolores auch keinen Grund, die Familie Ruß dauernd als notwendiges Übel unter ihrem Dach zu behalten, denn wenn sein Wissen sie auch anregte und seine Person ihr nicht gerade unsympathisch war, so konnte sie an Frau Ruß doch keine Spur von Sympathie verschwenden, und im Gegenteil war ihr deren Gegenwart so antipathisch, daß sie ihr, wo nur thunlich, gern auswich. Die kalten, hellen, harten Fischaugen dieser Frau schafften ihr ein Unbehagen, das sie nicht überwinden konnte, und wenn sie sich auch gelobt hatte, späterhin wieder eine Einladung an das Ehepaar aus verwandtschaftlichen Rücksichten ergehen zu lassen, so hatte sie sich doch darauf gefreut, der Frau nicht mehr zu begegnen. Und nun wollten sie noch bis zum Herbst bleiben – mehr als ein Vierteljahr vielleicht? Dolores hatte zwar über diese gezwungene Gastfreundschaft geseufzt, sich aber fest vorgenommen, sich zu bezwingen und beiden den Aufenthalt im Falkenhof, so lange sie ihre Gäste waren, so angenehm als möglich zu gestalten und ihnen zu beweisen, daß sie hierin nicht in die Fußstapfen ihres seligen Onkels trat, der dem geduldeten Paare das Gnadenbrot gab. Sie nahm also mit ihnen ein gemeinschaftliches, spätes Mittagbrot und oft das zweite, das Gabelfrühstück ein, ohne sich gegebenenfalls in dieser Hinsicht Zwang aufzulegen. Im übrigen wurde die Bedienung des Paares bedeutend besser. – Dolores hatte, als Doktor Ruß sie droben in ihrem Turmboudoir verlassen hatte, mechanisch eine Streichholzbüchse ergriffen und die Fragmente der im Scherz ausgestellten Urkunde im Kamin entzündet. Sie wußte selbst nicht, weshalb sie es that, aber es kommt ja oftmals vor, daß die Hände etwas vornehmen, wovon der mit anderem beschäftigte Geist keine Ahnung hat. Und wie sie sich so vor den Kamin kauerte und zusah, wie die Flamme die einzelnen Papierstücke zu verzehren begann, da fiel ihr mit einem Mal der erste Teil des seltsamen Traumes ein, daß ihr neulich nachts geträumt, wie Doktor Ruß ihr das große Blatt Papier gereicht, wie sie es zerrissen und dann verbrannt. »Das ist seltsam,« dachte sie, und dann erinnerte sie sich daran, wie ihr weiter geträumt, daß Doktor Ruß durch den Kamin verschwunden sei. »Und das ist der Unsinn dabei,« sagte sie vor sich hin, doch stand sie trotzdem auf und begann den Mantel des Kamins genau zu untersuchen, hier drückend, dort zu schieben versuchend, aber ohne Erfolg. Nun überlegte sie, welcher Raum wohl an den Turm stoßen mochte, und da sie den nördlichen Flügel noch nicht betreten, so beschloß sie sofort, eine Expedition in denselben zu unternehmen – vielleicht, daß sich die seit geraumen Zeiten unbewohnten Räume irgendwie ausstatten und als Fortsetzung ihrer eigenen Zimmerflucht mit derselben verbinden ließen. Da einmal gefaßte Entschlüsse bei Dolores stets zur raschen Ausführung kamen, so läutete sie Ramo, dem sie alsbald ihren Wunsch mitteilte, und der wiederum seinerseits mit dem notwendigen Schlüsselbunde erschien, eigentlich mit nur zwei notwendigen Schlüsseln, indem er Dolores respektvoll mitteilte, Mamsell Köhler sei sehr froh, die Expedition nicht mitmachen zu müssen, da es im nördlichen Flügel umgehe, denn sie habe, auch in letzter Zeit, deutlich bei später Arbeit in den zur ebenen Erde liegenden Vorratsräumen eben dieses Flügels gehört, wie leise Schritte durch die unbewohnten Räume gegangen waren.
»Ratten,« schloß Ramo bedeutungsvoll.
»Natürlich,« nickte Dolores, »der guten Mamsell Köhler ist's ja gar nicht wohl, wenn sie sich nicht vor irgend einem Gespenst fürchten kann.«
Ramo öffnete, voranschreitend, die eiserne Thür, welche dicht neben dem Turmzimmerausgange den nördlichen Flügel beinahe hermetisch von der übrigen Außenwelt abschloß. Es bot sich ihren Augen nun vor allem ein eichengetäfelter Korridor, dessen Fenster nach dem Hofe herausgingen, wie die der anderen Korridore des Falkenhofs. Die Thüren, welche in die Zimmer selbst führten, waren aber alle fest verschlossen und widerstanden jedem Öffnungsversuche. Am Ende des Korridors endlich schloß der zweite der von Mamsell Köhler bezeichneten Schlüssel eine schmale, einfache Thür auf, und diese, in den nördlichen Turm führend, gestattete den Eintritt in den verlassenen Flügel, dessen weite und hohe Räume es sicher nicht verdient hatten, von den Herren vom Falkenhof so stiefmütterlich behandelt zu werden. Daran aber war die Überfülle an Raum schuld, welche dies feudale Schloß barg, und – –
»Aber Ramo, sind das nicht die Zimmer, in denen meine Eltern wohnten?« fragte Dolores erstaunt beim Weiterdringen, während Ramo vorausging, die meist ganz verschlossenen Fensterläden zu öffnen.
»Ja, Herrin,« erwiderte der alte Diener mit einem Seufzer, in welchen Dolores einstimmte. Denn wohl waren diese Zimmer groß und teilweise sogar mit wertvollen alten Möbeln ausgestattet, aber sie entbehrten des Sonnenlichts, und eine beklemmende Moderluft lag in den Räumen, in denen die Stille des Todes herrschte.
»Arme Mutter,« dachte Dolores wehmütig, »und sie hatten keinen anderen Raum hier für dich, als diese gruftartige Zimmerflucht, in der du, des Südens sonnengewohnte Tochter, jahrelang dahinsiechen und welken mußtest – – – –«
Sie waren jetzt in einem Gemach angelangt, das, vollkommen eingerichtet mit schweren, geschnitzten, schwarzen Eichenmöbeln, nur diesen einen Eingang zu haben schien, und durch dessen letztes Fenster ein schräger Sonnenstreifen hineinfiel, direkt auf einen tiefen gepolsterten Sessel, welcher in der Fensternische stand.
»Hier hat die Herrin immer gesessen und auf die Sonne gewartet, und die Sonne dann solange auf ihr Gesicht scheinen lassen, bis sie wieder fortging,« erklärte Ramo bewegt und deutete auf den Sessel am Fenster.
Da wurde es Dolores recht schwer ums Herz, und auch sie setzte sich an den Platz, auf dem ihre Mutter die vielgeliebte Sonne erwartet hatte, welche ihr nur einen so kurzen und spärlichen Besuch machte zur Sommerszeit, während sie im Winter diese verlorene Ecke gar nicht erreichte.
»Stößt dies Zimmer nicht an meinen Turm?« fragte Dolores nach einer Pause, und als Ramo bejahte, sprach sie die Absicht aus, die Verbindungswand durchbrechen zu lassen, um wenigstens diesen Raum mit dem von ihr bewohnten Flügel zu verbinden. Doch statt aller Antwort sagte Ramo mit einem Mal:
»Mamsell Köhler hat doch Schritte gehört, keine Ratten. Und hier sind die Fußspuren!«
Er deutete nach dem Fußboden, auf dessen Parkett, wie in den anderen Zimmern auch, dichter Staub lag; Staub, der so alt war, als die Falkners damals nach dem Streite der Brüder den Falkenhof verlassen hatten. Und in dieser dicken, grauen Decke waren in der That Fußspuren zu sehen, augenscheinlich von dem Fuße eines Mannes, der in absatzlosen Schuhen durch das Zimmer gegangen war, und zwar führten diese Spuren aus der linken Ecke der nördlichen Schmalseite des Zimmers erst planlos und vielfach durchkreuzt durch das Zimmer, dann aber nach dem Kamin zu, der, wie Dolores sich's berechnete, genau mit dem ihres Turmzimmers zusammenstoßen, und dessen Feuerstätte in denselben Schornstein münden mußte.
»Ramo, wie alt sind diese Fußstapfen?« fragte sie nach einer Weile, nicht sehr erbaut über diese ungebetene und unheimliche Nachbarschaft.
»Die sind ganz frisch,« erklärte Ramo kopfschüttelnd. »Hier sind noch mehr Spuren, aber sie sind schon wieder halb verstaubt.«
Mit diesen Worten ging er den direkt zum Kamin führenden Schritten nach und entdeckte, daß die Fußspuren sich jenseits des vergoldeten Gitters in dem weiten Feuerschlunde fortsetzten, und ein schnell entzündetes Streichholz zeigte ihm nun auch Fingerabdrücke an der verräucherten eisernen Rückwand des Feuerplatzes.
Diesen Spuren folgend, tastete er ohne Rücksicht auf seine tadellos weißen Manschetten an der Wand entlang, bis er unten einen Knopf fand, welcher, seinem kräftigen Drucke nachgebend, leise, wie frisch geölt, sich bewegte, worauf die Wand leicht und lautlos sich nach oben bewegte und, einen Raum lassend, daß ein Mensch tiefgebückt durchschreiten konnte, die Aussicht freigab auf einen zweiten Feuerplatz, der in demselben Rauchfang mündete, und von diesem in – das Turmzimmer, welches Dolores als ihre ureigenste Domäne betrachtete.
»Höre, Ramo, das ist ja eine recht unangenehme Entdeckung,« rief sie nach der ersten Pause des Erstaunens. »Wer weiß, wer mir da schon manch' ungebetenen Besuch und zu Gott weiß welchem Zweck abgestattet hat.«
Ramo betrachtete seine rußigen Hände und schüttelte den Kopf.
»Herrin,« sagte er dann, »vor allen Dingen werde ich selbst den Schlosser aus dem Dorfe holen und so hereinbringen, daß er nicht gesehen wird. Der mag die Feder hier zusammenschweißen mit der Thür, und niemand kann mehr durch – oder er mag die Thür im Zimmer der Herrin mit dem Boden zusammennieten. Dann aber will ich suchen, wo die Fußspuren hereingekommen sind.«
Dolores war damit zufrieden und dankte innerlich ihrem Schöpfer, daß sie in Ramo solch' treuen und intelligenten Wächter besaß, doch das hatte er ihr freilich nicht gesagt, daß er eines Fuchseisens Aufstellung in dem diesseitigen Kaminschlunde plante, »denn wenn man soviel entdeckt, will man den Lump doch auch haben,« meinte er voll gerechter Entrüstung.
Dolores aber dachte an ihren Traum von dem sich drehenden Kamin, und es überlief sie ein leiser Schauer, als sie die Wirklichkeit mit demselben verglich. Und da sie allzeit ein guter Denker gewesen, so trat die Figur des Doktor Ruß vor ihr geistig Auge.
Sollte ihr dadurch zur Warnung dienen, daß Doktor Ruß – –?
Aber mit großer Willenskraft wies sie diesen unwürdigen Gedanken von sich, und sie schämte sich dieses momentanen Verdachtes gegen einen Menschen, der gut erzogen und gebildet wie sie selbst, ihr noch keine Beweise gegeben hatte, daß er ein feindlicher Eindringling sei, der nächtlicherweile kam, um ihre Papiere zu durchstöbern. Denn was anders hätte er wollen können? Nein, dem diese Fußspuren im Staube gehörten, er war gekommen oder wollte kommen, um zu stehlen – ein niedriger Mensch, ein Dieb, denn wenn er auch vielleicht noch nicht vollführt, was er geplant – – schon der Gedanke, schon die Absicht, nicht die That allein macht zu dem, was man werden will.
Fröstelnd wendete sie sich ab, den nördlichen Flügel zu verlassen, aus dessen düsteren Räumen aller Ecken Schatten zu kriechen schienen wie Gespenster, und so stark wurde dies Gefühl des Unheimlichen in ihr, daß sie schnellen Schrittes hinauseilte und erst aufatmete, als im Korridor das helle Licht sie umwogte, und sie in die sonnengebadete Landschaft hinausblickte.
Und dennoch – sie fühlte es über sich hängen, wie die Wolke kommenden Unheils, und wenn die Sonne auch jenes eben gespürte Unbehagen fortscheuchte aus ihrem Herzen, die Wolke blieb, die hatte sie mitgebracht aus den verlassenen Räumen, in denen das Verbrechen einherschritt und sein lichtscheues Wesen trieb.
Aber sie schalt sich selbst ernsthaft wegen dieser Ahnung nahenden Unheils, sie nannte sich hysterisch, unvernünftig, thöricht. Freilich, der Wille thut's auch nicht immer, und die Wolke blieb, und sie sah nach ihr aus, wie der Landmann, der einen vernichtenden Hagelschlag fürchtet und die drohende Angst nicht los werden kann.
Und wie sie am Fenster ihres Schlafgemaches stand, in welchem ihr die früher ganz ungekannte Gewohnheit des Träumens gekommen war, da sah sie Alfred Falkner von Monrepos herüberkommen, mit festem Schritt, hoch, stolz, jeder Zoll der Sproß eines edlen Hauses. Und es kam ihr die Frage an das Schicksal: »Warum hat er mich hassen gemußt, daß ich den Panzer des Stolzes wider ihn anlegen mußte? Er, der einzige Mensch, an dessen Liebe mir gelegen gewesen wäre? Warum? Warum?«
Und sie versank in ein Grübeln und dachte darüber nach, was sie gethan haben mußte, das zu verscherzen, was sie ihr Glück genannt hätte – – –
Nach einer halben Stunde wurde der Freiherr von Falkner ihr gemeldet, und sie empfing ihn im Ahnensaal. Ihm fiel auf, daß sie ungewöhnlich blaß war.
»Ich komme wegen zweierlei Dingen,« sagte er, als sie ihn unbefangen, aber ein wenig hochmütig begrüßte, jede Vertraulichkeit von vornherein ausschließend, denn sie hatte eine stolze Seele, die zwar bereitwillig vergab, aber so schnell nicht vergessen konnte und – wollte.
»Sie machen mich neugierig,« antwortete sie Platz nehmend.
»Ja, das erste ist eine Mitteilung, das zweite eine Bitte.«
»Eine Bitte?« wiederholte sie erstaunt und setzte mit dem alten Spott, der ihn stets so sehr verletzt hatte, hinzu: »Also eine natürliche, von vornherein sichere Angelegenheit, die von meinem Gewähren oder Versagen unabhängig ist, nicht wahr?«
»Vielleicht doch nicht,« erwiderte er ruhig. »Eine ganz richtige Bitte,« fügte er mit leisem Lächeln hinzu.
»Das ist ja fast, als ob ein Eskimo seinen Antipoden um einen Trunk aus der Feldflasche bitten wollte,« gab sie ebenso zurück. »Oder sollte das Ende der Welt nahe sein?«
Einen Moment gab er keine Antwort, denn es stieg eine tiefe Röte in seinen braunen Wangen auf, welche erst herabgekämpft werden mußte.
»Ich denke, wir haben Frieden geschlossen?« fragte er dann ruhig und nicht ohne Humor.
»Ach ja, richtig!« rief sie lachend. »Schieben Sie das Vergessen auf das Ungewohnte. Also zur Sache!«
»Zur Sache,« erwiderte er. »Zuerst nun meine Mitteilung. Ich habe mich, unter Zustimmung des Herzogs, mit der Prinzessin Eleonore von Nordland verlobt.«
Also doch! Aber Dolores kämpfte tapfer ein seltsames Gefühl von Hoffnungslosigkeit nieder, das ihr ans Herz griff, und sie reichte Falkner lächelnd die Hand. Nur so weit reichte ihre Beherrschung nicht, daß sie dieser kalten Hand ihre natürliche Wärme hätte wiedergeben können.
»Ich gratuliere,« sagte sie und setzte, scheinbar heiter, hinzu: »Aber Sie überraschen mich nicht –«
»O, nach dem, was gestern Abend vorgefallen ist –« warf er ein.
»Ich hatte daran gar nicht gedacht,« meinte sie. »Doch da Ihre Prinzeß Braut mich schon vorher zur Vertrauten zu machen geruhte, so war mir das Neue in der That nicht mehr ganz neu. Ich freue mich aber sehr, daß die Zustimmung des Herzogs zu diesem glücklichen Ausgange geführt hat.«
»Es ist sehr großmütig von Ihnen, sich überhaupt mit mir zu freuen,« erwiderte Falkner in einem Ton, von dem Dolores nicht genau wußte, wie sie ihn deuten sollte, ob ironisch, ob einfach konversationsmäßig, oder ob beziehungsvoll.
»Gehört wirklich Großmut dazu, anderer Leute Freude zu begreifen?« fragte sie mit einem matten Lächeln. »Mir scheint, Ihr Glaube an meine vielgerühmte Herzlosigkeit hat seinen Umsturzprozeß doch noch nicht ganz vollzogen.«
Ein bitteres Gefühl hatte ihn seine Worte nicht ohne Ironie meinen lassen, jetzt aber bereute er dieselbe sofort.
»Mea culpa,« sagte er bittend. »Aber,« setzte er lächelnd hinzu, »Sie selbst sind auch nicht ganz ohne Schuld, denn wenn man meint, Ihr wahres Ich zu erblicken, so setzen Sie flugs die berühmten zwei Satanellahörnchen auf, die einen so schadenfroh anfunkeln, daß man ein kaltes Sturzbad zu erhalten meint.«
»Nun gestehen Sie selbst Ihr Unrecht,« entgegnete sie. »Kalt Wasser ist allzeit wohlthuend – ich dachte aber, daß es in der Hölle – heiß sei.«
»O, allzu heiß und allzu kalt – das sind Gegensätze, die entschieden in der Hölle erfunden worden sind,« sagte er mit einem Seufzer und fügte warm hinzu, wie sie ihn nie sprechen gehört: »Nein, wirklich, Dolores, auch Sie müssen an meine schwer errungene, bessere Überzeugung glauben!«
»Soll das ein Kompliment sein?« fragte sie neckend.
»Nein,« erwiderte er ehrlich. »Aber warum auch nicht das? Eine schwer errungene Sache zeugt von einem Siege gegen manche menschliche Schwachheit, und da ich die gewonnene Überzeugung eine bessere nannte, so kann dies auch ein Kompliment sein, nur ums Himmels willen nicht im gewöhnlichen Sinne gedankenlosen Salongeschwätzes.«
Da sah Dolores ihn ernst an und freundlich dazu.
»Sie haben recht,« sagte sie mit gänzlich verändertem Ton. »Ich will mich bemühen, stets dieser Auffassung eingedenk zu sein nach dem Wahlspruch unseres Hauses: ›Alle Falken ehrlich.‹ Und mehr noch – heut', da Sie mir die Nachricht bringen, daß die Freifrau von Falkner gewählt worden ist von Ihnen, heut' verspreche ich, Vergangenes vergangen, vergessen und begraben sein zu lassen!«
»Dolores!« rief er und ergriff ihre Hand und küßte sie, die willig aber ohne Druck in der seinen lag, und dann sah er sie an, lange, mit seltsam verschleiertem Blick: »Das also war der Preis, die Bedingung unseres Friedens?« fragte er langsam.
»Ja,« sagte sie mit fester, aber freundlicher, beinahe freudiger Stimme.
Da ließ er ihre Hand los. »Ich fange an, Sie zu verstehen, Dolores!«
Nun reichte sie ihm die Hand von selbst.
»Das freut mich von Herzen,« sagte sie so warm, so schlicht und voll wirklicher Anmut, wie er nie geahnt hatte, daß sie sich geben konnte. Und all' das war nicht für ihn, zu hoch, zu unerreichbar, und wie das Auge von ferne nur glorreiche, wunderbare Berggipfel anzustaunen vermag, die unzugänglich sind für Menschenwitz, Menschenneugierde und Menschenfuß, so auch wurde ihm gezeigt, was er ohne die goldene Fessel, die ihn gefesselt hatte, nicht schauen gedurft.
»Und nun zu Ihrer Bitte, Vetter Alfred,« rief sie heiter nach einer langen Pause, die ihr das innere Gleichgewicht wiedergeben mußte. »Ich bin furchtbar stolz darauf, die Erfüllung eines Ihrer Wünsche in meiner Macht zu haben!«
»Ich bin nur nicht ganz sicher, ob Sie meine Bitte nicht für Neugierde sans phrase halten,« erwiderte Falkner, mühsam auf ihren Ton eingehend.
»Jetzt machen Sie mich aber unverhältnismäßig neugierig!«
»Ich möchte gern die Prophezeiung der Ahnfrau hören,« erwiderte er bittend. »Ist das eine große Schwäche?«
Da wechselte die Blässe ihres Gesichtes mit jäher Röte.
»Nein, nein,« sagte sie erschreckt, aber sie erhob sich im Moment. »Einen Augenblick Geduld,« fügte sie hinzu, »ich hole meinen Fund sogleich.«
Im Nebenzimmer aber stand sie einen Moment still und preßte die Hände gegen die Schläfen.
»Das also war's,« dachte sie mit Bezug auf das Gefühl nahenden Unheils, das sie vorhin beschlichen.
Dann holte sie das Missale der Ahnfrau aus seinem Versteck.
»Vorwärts!« sagte sie sich. »Auch das muß noch überwunden werden.«
Und wieder trat sie in den Saal, wo Falkner vor dem Bilde der Freifrau Dolorosa stand.
»Es war doch ihr Ernst mit dem Bericht von dem wunderbaren Funde der Prophezeiung?« fragte er, als sie vor ihm stand.
»Ja gewiß,« und nochmals erzählte sie ihm ausführlich von ihrem Traume und versprach, ihm das dadurch entdeckte Geheimfach zu zeigen.
Und nun nahm er mit einem gewissen Gefühl von Ehrfurcht und Rührung das Buch mit den verblichenen, vielfarbigen Bändern aus ihrer Hand und schlug den Deckel auf, und las laut und langsam die steilen, krausen Schriftzüge:
***
Und dieses Edelfalkenpaar, die letzten Falken aus dem alten Nest, für die drei Jahrhunderte früher die Hand einer Unglücklichen diese Zeilen niedergeschrieben zu haben schien – sie standen sich jetzt gegenüber unter dem Bilde der unseligen Prophetin – Falkner wunderbar erregt, Dolores blaß zwar, aber scheinbar unbewegt und kühl.
»Ein seltsames Elaborat,« unterbrach er dann die herrschende Stille. »Es fällt, angesichts dieser verworrenen, gereimten Andeutungen schwer, an den klaren Geisteszustand der Schreiberin zu glauben, den sie selbst so feierlich betont, doch das Geheimnisvolle, Unklare ist ja das Zeichen aller Sybillen.«
Dolores nickte.
»Wollen Sie das Geheimfach sehen?« fragte sie etwas unvermittelt. Er schien die Frage gar nicht gehört zu haben.
»Dolores, Sie und ich, wir sind die letzten Falkner,« sagte er, sie voll anblickend.
Sie versuchte zu lächeln.
»Uns hat sie aber nicht gemeint,« rief sie, auf das Bild deutend.
»Abergläubische würden das trotzdem glauben,« entgegnete er, »denn drei Zeilen dieses wunderbaren Ergusses zeigen ja geradezu mit Fingern auf uns. Die erste ist auch der Beginn der Prophezeiung, wenn man's überhaupt eine solche nennen will – die andern beiden Zeilen:
diese Zeilen werden ja lebendig, wenn Sie neben dies Bild treten!«
»Das ist Zufall,« sagte sie lächelnd. »Denn wenn auch diese Zeilen anwendbar sind auf Sie und mich, so wissen wir's doch nicht, ob wir die letzten Falken sind, weil eine Freifrau von Falkner in spe alle Lust bezeugt, die dritte im Bunde zu werden.«
»Ah, das ist freilich ein schlagender Beweis,« erwiderte Falkner, indem er das Buch in ihre Hände zurücklegte.
»Ich hebe es als Familienreliquie auf für –« für Ihre Kinder, wollte sie sagen, brach aber ab und fügte hinzu: »Für Sie.«
Und dann zeigte sie ihm das Geheimfach hinter dem Madonnenbilde des Beato Angelico, und nachdem sie davon noch harmlos eine Viertelstunde verplaudert, empfahl er sich, und sie gab ihm das Geleit bis zur Thür.
»Sie haben Ihrer Mutter von Ihrer Verlobung natürlich schon Mitteilung gemacht?« fragte sie während des kurzen Ganges.
»Gewiß. Ich war zuerst bei ihr.«
»Und sie freute sich natürlich sehr?«
»Soweit sie Gefühle äußern kann und darf, glaube ich es annehmen zu dürfen,« erwiderte Falkner bitter, fügte aber gleich in anderem Tone hinzu: »Und werden Sie kommen, in Monrepos zu gratulieren?«
»Ich komme heut' noch,« versprach sie, und als sie ihm dann die Hand reichte, sagte er:
»Also unser Bündnis gilt von heut' an? Denn ich habe Ihr Versprechen des Vergebens und – des Vergessens.«
»Ja,« antwortete sie, ihm frei ins Auge sehend: »Alle Falken ehrlich!«
Und Falkner ging, aber nicht so leichten Herzens, wie er gedacht hatte. Er wußte, sie würde ihr Versprechen halten; das war ihm ein wahrhaft freudiges Gefühl, als hätte er dadurch etwas Dunkles, Schweres abgestreift, das ihn befleckt hatte, und er fühlte sich frei und erfrischt. Aber das Weh im tiefsten Herzen – das Weh war zurückgeblieben, und am liebsten wäre er umgekehrt auf der Treppe und wäre wieder vor sie hingetreten und hätte gesagt: »Dolores, wir sind das Edelfalkenpaar, das letzte! Wann werden wir uns finden?« – Aber er durfte nicht mehr, seine Ehre war verpflichtet, sein Wort gegeben. »Arme Lolo!« dachte er. »Aber du sollst nicht leiden darunter, denn nun, da sie vergeben und vergessen hat, werd' ich dir leichteren Herzens so viel Glück geben, wie mir übrig geblieben ist.« – Und während er nicht ohne Rührung der rückhaltlosen Liebe des Fürstenkindes für ihn gedachte, war es sein heißer Wunsch, das kleine, elfengleiche Wesen wirklich glücklich zu machen.
Am Fuß der Treppe begegnete ihm »zufällig« sein Stiefvater.
»Ei der Tausend! Das war ja ein langer Besuch – wenn das durchlauchtige Bräutchen dadurch nur nicht eifersüchtig gemacht wird,« sagte Doktor Ruß scherzend.
»Das könnte passieren, wenn du es ihr in geschickter Weise plausibel machst,« gab Falkner gereizt zurück, denn der zweite Gatte seiner Mutter machte ihn nervös. Er ärgerte sich selbst stets darüber, aber immer wieder brach die unsägliche Antipathie durch.
Doktor Ruß lachte leise vor sich hin, wie er's gleichfalls unabwendlich gewohnt war, wenn sein Stiefsohn unter seinen Worten wie ein gestochenes Roß sich emporbäumte. Was aber die Worte nicht thaten, vollendete dann dieses Lachen – wütend ließ Falkner den Doktor stehen und ging zu seiner Mutter, um ihr Lebewohl zu sagen.
»Meine Braut wird zu dir kommen mit Fräulein von Drusen,« sagte er ihr, und über die blassen, käsigen Züge der Frau Ruß flog ein Rot des Stolzes, und die kalten Augen blitzten triumphierend und fast zärtlich zu dem Sohne hinüber.
»Ich freue mich so sehr,« sagte sie im heftigsten Stricken, »besonders aber, weil du den Rotkopf nicht hast zu heiraten brauchen.«
»Ist Dolores dir so unsympathisch?« fragte er erstaunt.
»Ich kann sie nicht leiden,« stieß Frau Ruß hervor. »Ich habe sie schon als Kind nicht gemocht, den wilden, ungezogenen Balg. Und daß Ruß wieder versprochen hat, bis zum Herbst hier zu bleiben, ist mir gar nicht recht. Aber was ist da zu machen – er will eben!«
Falkner konnte sich's schon denken, warum »er« wollte, denn er wußte es so gut wie jener, daß sich hier besser und bequemer die gesuchte Professur erwarten ließe. Aber er überging dies Thema wohlweislich, denn einmal hatte seiner Mutter langer Aufenthalt das Peinliche für ihn verloren, und dann war es sein Grundsatz, die Wege des Doktor Ruß so wenig wie möglich zu kreuzen.
»Dolores ist aber eigentlich sehr nett dir gegenüber,« sagte er deshalb nur. »Ich begreife deine Abneigung nicht.«
Frau Ruß ließ den Strickstrumpf sinken, sah sich um, ob niemand Unberufenes in der Nähe war, überzeugte sich auch, daß ihr Gatte draußen immer noch vor einer seltenen Zierpflanze stand, und sagte dann flüsternd:
»Ich bin eifersüchtig auf sie, Alfred!«
»Aber Mutter – –«
»Eifersüchtig, sage ich dir,« fuhr sie leidenschaftlich fort. »Freilich, noch weiß ich's nicht gewiß, ob sie ihn verführen will, oder ob er Feuer gefangen hat an den roten Satanshaaren. Aber so oder so – sie stört meinen Frieden!«
»Da kannst du ruhig sein, Mutter – sie wird deinen Frieden nicht antasten,« entgegnete Falkner, warm für Dolores eintretend und zugleich voll Mitleid für die arme Frau, die sich das elende Leben, das sie führte, selbst noch zu verbittern versuchte in der schlimmsten Weise.
Hinten herum, um Doktor Ruß nicht noch einmal zu begegnen, ging er nach Monrepos zurück, und Ekel erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß das Herz seines Stiefvaters wirklich schneller schlagen könnte für seine Gastfreundin. Und dann mußte er lachen, als er der anderen Version seiner Mutter gedachte. Vor einem Monat hätte er vielleicht noch daran geglaubt und die Achseln dazu gezuckt, aber heute konnte er darüber lachen, gottlob.
Wohin aber mit seiner Mutter, wenn der Aufenthalt im Falkenhofe endlich einmal zu Ende ging? Sie zu sich nehmen? Gern, obwohl er und sie sich nicht verstanden, nie verstanden hatten. Aber das hätte ihn nicht zum Gegenteil bestimmt. Doch mit ihrem Gatten sie aufnehmen – nun und nimmermehr! Und Falkner überlegte, wo er darauf wirken konnte, daß Ruß eine unabhängige Stellung irgendwo erhielt, die ihm eine anständige Subsistenz für seine Frau ermöglichte und deren Lebensstellung nicht herabdrückte zur Unerträglichkeit für die stolze Frau.
Als er nach Monrepos kam, sah er den Herzog im Gartenkostüm, mit einer Riesenschere bewaffnet, den Hut im Genick, vor seiner jüngsten Tochter stehen, welche auf einem niedrigen Gartenstuhle mehr lag als saß, das Gesicht mit beiden Händen verhüllt hatte, anscheinend weinend, und von Zeit zu Zeit den Fußboden mit den niedlich bekleideten Füßchen stampfte und schlug. Erstaunt blieb er einen Augenblick an der Pforte stehen – was war da vorgegangen?
»Höre, Lolo,« hörte er den Herzog sagen, »das ist eine Unvernunft!«
Die Antwort schien nur erneutes Schluchzen zu sein.
Anscheinend ratlos schnappte der hohe Herr ein paarmal mit der Gartenschere in die leere Luft.
»Und außerdem blamierst du dich vor den anderen und machst dich vor den Dienstboten lächerlich,« fuhr er fort, und als ihm darauf ein leiser Schrei, etwa wie ungezogene Kinder zu schreien pflegen, antwortete, da sagte er ganz ärgerlich: »Wo hat denn nur der Kuckuck diesen Falkner?«
»Hier, Hoheit,« antwortete der vom Gitter her, das er nun hinter sich schloß und der Gruppe zuschritt. Seine Stimme aber gab nur das Signal zu einem Schrei- und Weinkonzert, welches nun bei Prinzeß Lolo unaufhaltsam losbrach und zwar mit einer Vehemenz, daß der Herzog sich die Stirn zu trocknen begann und Falkner nicht wußte, ob er stehen bleiben oder vorwärts gehen sollte. Als er letzterem denn doch den Vorzug gab, neben die Prinzeß trat, den Arm um ihre Schultern legte und leise sagte: »Lolo! Ich bin hier,« da sprang sie empor, ballte die niedlichen Fäustchen und stampfte wütend den Boden.
»Du kannst bleiben, wo du warst! Wohl bei ihr, der rotköpfigen Komödiantin! Mich so warten zu lassen – und am ersten Tage unserer Verlobung – geh'. Ich mag dich nicht mehr sehen!«
Ganz erstaunt hatte Falkner diesen Ausbruch über sich ergehen lassen – jetzt zog er ruhig die Uhr hervor.
»Als ich heut' früh nach dem Falkenhofe fortging, sagte mir Lolos Kammerfrau, daß Durchlaucht vor zwölf Uhr mittags niemals draußen erschienen und zu sprechen sei. Es ist jetzt zehn Minuten vor zwölf Uhr,« sagte er.
»Das ist nicht wahr! Es ist mindestens zwei Uhr! Ihr habt die Uhren zurückgestellt, um mich zu täuschen!« tobte das Prinzeßchen weiter, aber nicht mehr so heftig als vorher.
»Kommen Sie, Falkner,« rief der Herzog, dessen Geduld entschieden zu Ende zu gehen schien. »Gegen die Unvernunft giebt's kein Mittel!«
Falkner zögerte einen Moment.
»Lolo! Aber Lolo!« sagte er leise.
Da flog sie an seine Brust und in seine offenen Arme, und vergnügt schmunzelnd ging der Herzog seiner Wege.
»Ja, ja, Sascha hat recht,« dachte er, »für dieses Köpfchen brauchten wir einen Petrucchio. Und fürstliche Petrucchios giebt's nicht. Habe wenigstens nie etwas davon gehört. Wird ja Grund zum Gerede geben, diese Heirat – billiges Vergnügen das – kann man sich gefallen lassen.«
Indes hielt Falkner seine kleine, blonde Braut in den Armen und streichelte ihr weiches, lichtes Haar.
»Ich hatte mich heut' schon so auf dich gefreut,« gestand sie ihm, »ich war schon um halb elf Uhr draußen – da warst du fort, und nun habe ich gewartet, gewartet, gewartet – o, so schrecklich lange!«
»Eine halbe Ewigkeit,« ergänzte Falkner lächelnd und küßte das reizende Gesichtchen, das sich so innig an seine Brust schmiegte, aus dessen Augen er las, daß er wirklich geliebt sei, geliebt, wie kein anderer Mensch auf der weiten Welt ihn liebte. Was also nützte es, nach einer anderen Liebe zu verlangen, die für ihn nicht erreichbar war? Und während er auf das leidenschaftliche Geschöpfchen an seiner Brust herabsah, gelobte er sich, es zu führen und zu leiten und dessen nicht mehr zu gedenken, was hätte sein können.
Auf Monrepos war nun mit der Verlobung des jüngsten Prinzeßchens ein neues Leben eingezogen. Der Herzog hatte die Vermählung seiner Tochter für den Herbst fixiert, ehe man den Landbesitz, fern von der großen Straße, verließ, um in die Residenz zurückzukehren. Dann sollte das junge Paar eine Hochzeitsreise machen, und bis dahin gedachte der Herzog seinem Schwiegersohn einen Gesandtschaftsposten zu erwirken, oder besser gesagt, einen Posten als Gesandter. Außerdem war Monrepos als Morgengabe der fürstlichen Braut zugedacht und diese Schenkung schon verbrieft, und der Herzog dachte nicht daran, an diesen längst getroffenen Bestimmungen zu ändern oder zu rütteln.
Daneben gestaltete sich der Verkehr zwischen Monrepos und dem Falkenhofe immer nachbarlicher und freundschaftlicher, denn der Umstand, daß Prinzeß Sascha sich mehr und mehr zu Dolores hingezogen fühlte und auch der Erbprinz sich sehr wohl in ihrer Gesellschaft befand und dieselbe häufig auch suchte, ließ viel von den Schranken fallen, welche die Etikette sonst aufrichten mußte. Aber die fürstliche Familie kannte in der Sommerfrische keinen Etikettenzwang, von dem sie im Winter noch genug verspürte, denn gewöhnlich werden die starren Gesetze aus dem Codex der Etikette an kleinen Höfen viel strenger und verschärfter befolgt, als an großen Hoflagern – wahrscheinlich ist der Grund dafür der, daß man fürchtet, der heilsame »Zug,« der das eintönige Leben zusammenhält, möchte bei milderer Anwendung nach und nach einschlafen und der »Hof« zu einem einfachen adeligen Haushalt herabsinken. Aber zu Monrepos war man, wie gesagt, nur Gutsnachbar, nicht regierender Herr, um so mehr und um so lieber, als Schloß und Gut auf fremdem Boden lagen. Im Bunde die Dritten waren oft Graf und Gräfin Schinga, und wenn ersterem auch, wie er daheim unverblümt versicherte, die Leute in Monrepos und Falkenhof zu »gebildet waren,« »ihm zu viel auf dem Flügel droschen, grölten und sogenanntes ästhetisches Blech quasselten,« so fühlte er sich doch, wie er sich allein gestand, »kolossal gekratzt,« in ihrem exklusiven Kreise, der sich über ihn amüsierte, ein ständiges Glied zu sein. Dabei versicherte er seiner Frau unverblümt und mit naivster Offenheit, daß er in das »prachtvolle Weib,« Dolores Falkner, bis über die Ohren »verschossen« sei und ihr »riesig die Cour schneiden« müsse. Die Gräfin rührte dies Bekenntnis nicht weiter, geschweige denn, daß es sie eifersüchtig machte, denn da ihr Gehirn entschieden ausgebildeter war, als das ihres Gatten, Eifersucht außerdem ein Luxus war, den ihre Ehe nicht kannte, und Dolores ihr sympathisch war, so nahm sie des Grafen in Hyperbeln sich bewegenden Enthusiasmus so kühl hin, wie alles andere von ihm. Dolores hingegen bat recht oft um den Besuch der Arnsdorfer Herrschaften, erklärte der Gräfin aber die positive Unmöglichkeit, zu ihr kommen zu können wegen der Schlangen. Gleichmütig wie alles und absolut erhaben über die Kleinlichkeiten eines Kerbholzes über abgestattete und abzustattende Besuche nahm Gräfin Schinga auch diese Erklärung auf, versprach recht oft von selbst zu kommen und nahm Dolores den angegebenen Grund gar nicht übel.
»Ich begreife nur nicht, wie Sie mit dieser Aversion gegen Schlangen in Brasilien existieren können,« meinte sie, und Dolores gestand, daß ihr diese exotische Landplage den Aufenthalt im Heimatlande ihrer Mutter allerdings unerträglich machen würde.
Das freundnachbarliche Verhältnis zwischen Falkenhof und Arnsdorf wurde aber noch durch den Umstand besiegelt, daß Dolores den berühmten Pony des Grafen Schinga kaufte und einen Preis dafür zahlte, für welchen sie ein Vollblutpferd erster Klasse erhalten hätte.
»Dreitausend Mark für diesen Ziegenbock, welcher rohrt, Gallen hat und am Hahnentritt leidet!« schrie Engels, als er die Anweisung zur Auszahlung erhielt. »Nicht dreihundert ist dieses Biest wert! Und außerdem alt wie Methusalem. Das ist ja niederträchtiger Betrug!«
Aber Dolores lachte.
»Das weiß ich ja alles, lieber Engels,« sagte sie sehr heiter. »Aber Sie wissen, das Pferd ist Graf Schingas Tollpunkt und für gute Beziehungen mit den lieben Nachbarn kann man schon 'mal etwas ausgeben.«
»Ja, wenn Sie sich noch in den Reichstag, oder ins Abgeordnetenhaus wählen lassen wollten, aber so –!« Und Engels zuckte mit den Achseln und erklärte Dolores innerlich für »meschugge.«
Und doch wußte sie, was sie mit diesem lächerlichen Kaufe that, denn auch sie war, wie alle Welt, von den derangierten Verhältnissen des Grafen unterrichtet, sowie von seiner dadurch bedingten, krampfhaft und chronisch gewordenen Eigentümlichkeit, alle Welt anzuborgen (pumpen nannte er selbst diesen Vorgang). Um diesen unvermeidlichen Akt in eine andere Form zu kleiden und ihm zuvorzukommen, proponierte Dolores dem Grafen den Kauf der Schindmähre und bat ihn, den Preis selbst zu fixieren. Da nun Graf Schinga überzeugt war, daß Dolores versuchen würde, von der genannten Summe nach dem Grundsatze: »Sagt er zwölfe, meint er zehne, will er acht haben – sechs ist's wert, vier möcht' ich geben, biet' ich zwei« – einen beträchtlichen Teil abzuhandeln, so nahm er den Mund gleich ordentlich voll und forderte den exorbitanten Preis, der Engels in helle Wut versetzt hatte. Aber Graf Schinga blieb einfach der Mund offen stehen, als Dolores sich, ohne zu zucken, mit der Summe einverstanden erklärte – er fuchtelte mit den langen Armen umher, schlug sich auf die Kniee, daß es knallte und – schämte sich eigentlich »kolossal.«
»Nee, nee!« schrie er endlich, »das geht nicht! Soviel können Sie dafür nicht geben!«
»Doch,« erklärte Dolores etwas von oben herab. »Sonst müßte ich ja glauben, daß Sie mich hätten übervorteilen wollen.«
Darauf wurde Graf Schinga ordentlich rot, denn seinen »Schmu« hatte er ja machen wollen, das »stimmte wie Apfelkuchen mit Schlagsahne,« und wenn er sich nicht bloßstellen wollte, mußte er dies Geld einfach nehmen. Und er nahm es auch. Dolores aber hatte dadurch wirklich den gefürchteten Borg verhindert, denn nach diesem Kauf noch damit zu kommen – das that selbst ein Graf Schinga nicht.
Aber er that etwas anderes mit dem Gelde – er erklärte, davon eine »kolossal noble Gesellschaft, das reine Katzenschießen« geben zu wollen. Er fuhr also zum Zweck der nötigen Einkäufe nach Berlin, verspielte dort zwei Drittel des Geldes, vergeudete von dem übrig gebliebenen die Hälfte und kam dann mit einem Riesenkater, sowohl physischem als moralischem, nach Hause. Der erstere hielt aber bedeutend länger vor.
Jedenfalls waren das Resultat dieser Kunstreise Einladungen auf steifstem Kartonpapier, welche im »Triangel« versendet wurden, und nach deren Tenor Graf und Gräfin Schinga sich die Ehre gaben, zur Soiree – u. s. w. u. s. w. ganz ergebenst einzuladen. Auf der an Dolores adressierten Karte hatte die Gräfin in Parenthese bemerkt, daß die Schlangen für diesen Abend in einem verschlossenen Kasten beim Inspektor aufbewahrt werden würden, und Graf Schinga hatte in seiner unbehilflichen Sextanerhand dazugeschrieben: »Sagen Sie um Gottes willen diesen sauren Mops nicht ab – es giebt Hummern und kein solch verächtliches Zeug, wie deutschen Sekt, sondern Röderer carte blanche.«
Dolores lachte Thränen über diese vorgehaltene Lockspeise, aber Engels, der gerade dabei war, als die Einladung ankam, sagte wütend:
»Ei behüte, wir haben ja das Pferd dafür,« erwiderte Dolores, und sagte dann ernster: »Hören Sie, Engels, ich habe schon daran gedacht, Arnsdorf zu kaufen. Was meinen Sie dazu?«
»Wenn Sie's so billig kriegen können, wie das Pferd –«
»Ah, das war ein Extravergnügen.«
»Na, warten wir damit, bis es subhastiert wird, dann ist's ja am Ende keine so üble Erwerbung,« schlug Engels vor, und Dolores beugte sich gern seiner besseren Einsicht und Erfahrenheit.
Natürlich war das Fest bei Schingas ein glänzendes Unikum. Abgesehen von der schäbigen Eleganz der Einrichtung des wackeligen Arnsdorfer Herrensitzes, abgesehen auch von dem Umstande, daß das Abstäuben selbst an diesem Tage als rein äußerlich für unnötig befunden ward, brachte der Abend nur Überraschungen, wie alte Kochtöpfe als Sektkühler neben den schwersten Silberschüsseln, verbogene Hornmesser neben prachtvollen Bestecks, und in den herrlichen Damasttafeltüchern Mäuselöcher und Messerschnitte. Daß die berühmten Hummern unaufgeschlagen erschienen, soll nur nebenbei erwähnt werden, da es schon in größeren Häusern ähnlich passiert sein soll, aber daß die kleinen Rosinen im Apfelmus sich als schnöde darin ertrunkene Fliegen erwiesen, als man der Sache auf den Grund ging, war doch schon eine stärkere Zumutung, die allein die Spitze verlor durch den unleugbaren Umstand, daß alles mit dem freundlichsten Gesicht von der Welt gegeben ward und die Wirte selbst ersichtlich ahnungslos darüber waren, daß es bei ihnen so ganz anders war, als sonstwo.
Prinzeß Lolo wollte sterben vor Lachen über alles was sie sah und genoß, oder vielmehr genießen sollte, denn es war wirklich nicht alles dafür geeignet, und Falkner hatte alle Mühe, laute Lachsalven und leise sein sollende Bemerkungen seiner übermütigen Braut durch Bitten zu dämpfen oder im Sinne von »Europens übertünchter Höflichkeit« auszulegen, denn wenn jemand uns etwas bietet mit der ersichtlichen Überzeugung, sein Bestes gethan zu haben, und wäre dieses Beste auch wirklich mehr außergewöhnlich und grotesk als unseren Lachmuskeln zuträglich ist, so haben wir immer noch nicht das Recht, den Geber ins Gesicht zu verhöhnen, selbst wenn wir die löbliche Absicht haben, ihn hinter seinem Rücken lächerlich zu machen. Im Grunde genommen ist eins so jammervoll wie das andere, aber obgleich das erstere noch wenigstens Mut bezeugt, so ist es doch peinlich für den Dritten, und so erging's Falkner auch bei den rücksichtslosen Heiterkeitsausbrüchen seiner kleinen Braut, und aus dem peinlichen Gefühl wurde heller Ärger, als er sah, wie sie sich, eines besseren Publikums sicher, an Dolores wandte, und diese, errötend über die taktlos lauten Witzeleien, auf dieselben nicht nur nicht einging, sondern sie sogar sehr kühl und entschieden ablehnte. Obgleich der herrschende Ton dieses Festes zwanglos und heiter war, so atmete Falkner doch auf, als die Wagen von Monrepos vorfuhren und der Abend damit ein Ende nahm. Und beim »Gute Nacht,« als Dolores ihm freundlich die Hand reichte, sagte er ihr: »Wenn Sie wüßten, wie oft ich Ihnen schon im Herzen abgebeten habe –«
»Aber wir haben ja abgemacht, am Vergangenen nicht mehr zu rühren,« sagte sie lächelnd und mit bittendem Blick.
»Ich meine ja nur so, Cousine, weil Sie meine Braut heut' vor ihrem Übermut bewahrt haben. Ich habe es wohl beobachtet.«
»O, das wird niemand scharf auffassen,« entgegnete Dolores, »denn Prinzeß Eleonore ist noch so jung, so voll von Lustigkeit –«
»Und Sie schon so alt und gesetzt!« erwiderte er scherzend.
Da lachte sie doch, trotz ihrer Bemühung, die Mißstimmung Falkners zu besänftigen.
»Vier Jahre Unterschied machen viel bei einer Frau,« meinte sie dann weise, »und außerdem,« fuhr sie ernster fort, »außerdem habe ich so etwas wie eine Schule des Lebens durchgemacht.«
»Ich wollte, Lolo hatte auch ein paar Klassen dieser Schule hinter sich,« murmelte Falkner. Er war ernstlich mißgestimmt, denn das Benehmen seiner Braut dünkte ihm weniger kindliche Lustigkeit als Mangel an Herz und Gemüt, und wenn ein Bräutigam das findet, so ist es ein schlimmes Zeichen für die künftige Ehe.
Dasselbe dachte Dolores auch, als sie, selbst kutschierend, durch die warme, sternenhelle Nacht nach Hause fuhr, und sie freute sich nur, daß er nicht dabei gewesen und es nicht gesehen, wie Prinzeß Lolo die Gräfin Schinga so lange gequält, bis diese ihre Schlangen holen ließ und um die Arme legte, und die Ahnungslose dann mit hellem Gelächter auf die vor Abscheu blasse Dolores zustieß, daß die kalten, glatten Leiber der ekelhaften Reptile sie berührten und das eine derselben zischend und züngelnd auf sie losfuhr. Diesen »Scherz« nannte sie ihrerseits nun wieder mit anderem Namen, um so mehr, als ihr bei dem bloßen Gedanken an die Berührung mit den verhaßten Tieren noch die Zähne zusammenschlugen vor Entsetzen. Über solche Abneigungen gegen gewisse Tiere zuckt die Wissenschaft nur die Achseln, nennt sie gelehrt Idiosynkrasie, aber eine Erklärung dafür hat sie noch nicht gefunden.
Dolores war's jedenfalls lieb, daß Falkner der Schlangenscene nicht beigewohnt hatte, denn wozu Flecken werfen auf das Bild seiner Auserwählten. Freilich waren ihr schon Zweifel gekommen, ob Prinzeß Lolo wirklich sein Ideal, seine Erwählte sei, oder ob nicht der Vorfall in und an der Gruftkapelle ihn dazu verpflichtet hatte, ihre Hand zu erbitten. Das allerdings begriff sie nicht, warum die herzogliche Familie sich so schnell bereit gefunden hatte, diese fürstliche Hand dem Vasallen zu bewilligen, denn am Ende war die öffentliche Liebeserklärung der Prinzeß ja nicht vor der ganzen Welt, sondern vor einem kleinen Kreise geschehen, dem man durch ein Wort hätte bedeuten können, von dem Gehörten keinen Gebrauch zu machen.
Aber es geschehen mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als jedermann sich erklären und zusammenreimen kann, und darum grübelte Dolores auch nicht weiter darüber, »wie es wohl gewesen sein könnte,« aber mit tiefem Schmerz im Herzen sagte sie sich, daß Glück und innere Befriedigung ihm durch diese Braut wohl nicht erblühen könnte. Und dieser Gedanke machte sie unsäglich traurig, und sie verwünschte die Fügung, die sie vor Jahr und Tag zur Bühnenlaufbahn gedrängt, denn längst hatte sie diese als Wurzel alles Übels erkannt, und das war's, was ihr die Wiederaufnahme derselben zur Unmöglichkeit machte, wenn auch Prinzeß Alexandra freudig ihre Überredungsgabe als das Entscheidende bei diesem Entschlusse pries. Erst hatten der Stolz und der Widerspruchsgeist sich in ihr aufgebäumt gegen den Entschluß, aber nicht, weil Prinzeß Alexandras engerer Horizont die Tiefen einer echten Künstlerlaufbahn nicht umspannte, sondern weil Falkner sich in Antipathie davon abwandte, und sie um keinen Preis ihn hätte glauben machen wollen, es geschehe seinetwegen, daß sie ihrem zuerst gewählten Berufe entsagte. Und dann hatte der Impuls eines Momentes die Entscheidung gebracht, und nun – nun that es nichts mehr zur Sache, was er sich dabei dachte. Sie hatten Frieden geschlossen miteinander, ehrlichen Frieden durch sein männlich mutiges Eingeständnis seiner Vorurteile und des daraus entsprungenen Unrechts – was wollte sie weiter?
Am Eingang zum Falkenhofer Park hielt sie die Pferde an und sprang vom Wagen – es gelüstete sie, bis zum Hause zu gehen, um die Kühle nach dem heißen Tage noch zu genießen. Nachdem sie dem Groom die Zügel gegeben und ihm empfohlen hatte, im Schritt zum Stalle zu fahren, bog sie in eine Seitenallee des Fahrwegs ein, nahm den Hut ab und ging langsam dahin – kaum daß der Kies unter ihrem leichten Fuß knirschte.
In einem Rondel, das sie durchschreiten wollte, sah sie eine Cigarre glühen und erkannte in dem Raucher bald den Doktor Ruß, welcher also in seiner Weise den schönen Abend genoß. Eigentlich lag ihr nichts an einem erneuten Plauderzwang, aber da sie fürchten mußte, in dem weißen Kleide, das sie der Hitze wegen mit dem schwarzen heut' zum erstenmal vertauscht hatte, auch in dem Dunkel des Baumschattens entdeckt zu werden, so ergriff sie lieber die Initiative und rief heiteren Tons:
»Dolores, sind Sie's?« rief Doktor Ruß aufspringend. »Ich hörte den Wagen zurückkehren und dachte Sie nun längst in Ihren Zimmern.«
»Die schöne Nacht verlockte mich noch zu einem Spaziergange,« erklärte sie. »Doch ich bin auf dem direkten Wege zum Hause und bitte Sie, sich nicht stören zu lassen.«
»Ganz und gar nicht,« versicherte Ruß. »Es ist ohnedem Zeit zur Ruhe, und meine Frau wird mir eine Gardinenpredigt halten wegen Nachtschwärmens.«
Dolores mußte bei dieser affektierten Pantoffelheldenerklärung lächeln, denn sie zweifelte, ob Frau Ruß die Courage zu einer ganzen Predigt finden würde. Sie traute der verschlossenen und von ihrem Gatten wohltrainierten Frau kaum das tadelnde Wort zu, das sie vielleicht erleichtert hätte, während sie ihre Mißbilligung in sich hineinwürgte und mit vermehrter Bitterkeit an ihrem Herzen nagen ließ.
Ruß erkundigte sich nun, wie es bei Schingas gewesen sei. Er hatte mit seiner Frau niemals in Arnsdorf Besuch gemacht, war daher auch nicht eingeladen worden, aber er und der Graf kannten sich vom Begegnen, und er hatte genug von der polnischen Wirtschaft bei demselben gehört, um Interesse für ihn zu haben. Dolores antwortete aber nur mit der allgemeinen Erklärung: »sehr nett,« und da sie gern eine Kritik des heutigen Abends vermeiden wollte, mit welcher Doktor Ruß am Ende an seinen Stiefsohn gegangen wäre, so ließ sie dies Thema schnell fallen und erzählte ihm, was sie bisher unterlassen hatte zu thun – nämlich die Entdeckung von der verstellbaren Kaminwand, welche ihr Zimmer mit dem Nordflügel verband.
»Ah,« meinte Ruß mit Interesse, »das würde ich an Ihrer Stelle ordentlich verschließen lassen, denn wenngleich ein Eindringen von dieser Seite wohl kaum zu fürchten ist, das Bewußtsein dieser Geheimverbindungen, wie unsere Vorfahren sie liebten, ist immerhin unbehaglich genug.«
Dolores erklärte nun, daß Ramo diesen sicheren Verschluß bereits besorgt und zum Überflusse noch auf der anderen Seite ein Fuchseisen gelegt habe.
»Nun, ich hab' es ja immer gesagt, dieser Ramo ist eine Perle,« rief Ruß scheinbar sehr amüsiert. »Da wäre es ihm ja ordentlich zu wünschen, daß sich der Fuchs in dieser unfreundlichen Falle finge. Freilich zweifle ich, daß es je einer versucht hat, bei Ihnen auf diesem Wege einzudringen.«
Jetzt erörterte Dolores auch die gefundenen Fußspuren, was Doktor Ruß entschieden ernst nahm, denn er versprach bei der Nachforschung zu helfen, auf welchem Wege wohl der Inhaber dieser Pedalabdrücke in den Nordflügel gekommen sein könnte. Und damit trennte sich Dolores von ihrem Gaste, der noch einen Moment draußen zögerte und dann bei seiner Frau eintrat, welche sich sogleich erhob und ihr Strickzeug zusammenrollte. Dabei warf sie einen scharfen Blick auf ihren Gatten, welcher mit unsicheren Händen Bücher zusammenraffte, welche den Tisch mit der Lampe darauf bedeckten.
»Ist dir schlecht, Ruß?« fragte sie. »Du bist so blaß.«
Er schüttelte den Kopf und begann leise eine Melodie zu pfeifen.
»Das ist keine Antwort,« sagte sie gereizt, und als er auch darauf nichts erwiderte, fuhr sie heftig fort: »Aber du wirst dir noch ein tüchtiges Wechselfieber holen mit diesem Herumstrolchen in den ungesunden Nachtnebeln. Wie dir das so allein Vergnügen machen kann, fasse ich nicht.«
»O, ich war aber nicht allein, mein Täubchen,« erwiderte er sanft. »Dolores war, als sie von Schingas nach Hause kam, durch den Park gegangen. Dort begegneten wir uns, und ich begleitete sie nach Hause.«
Nun war die Reihe, blaß zu werden, an Frau Ruß, denn ihr Mann wußte, daß sie eifersüchtig war, und er hatte seinen Pfeil wohlbedacht entsendet, doch daß er getroffen, wagte sie ihm nicht zu sagen, und so ließ sie ihn sich weiter bohren in ihr thörichtes, altes Herz, und was er wirkte, war Gift und Galle und Haß und Bitterkeit.
Das freilich hatte Doktor Ruß mit seinem Trumpf erreicht, daß die Aufmerksamkeit seiner Frau von ihm und seiner Blässe abgelenkt ward, denn was, zum Teufel, brauchte sie's zu wissen, daß die Fußspuren droben im Nordflügel ihm mehr noch zu überlegen gaben, als der vernietete Kamin und das Fuchseisen des braven Ramo? – – –
Und zur selben Zeit durchlebte Falkner auf Monrepos böse Stunden, denn zu all seiner Mißstimmung hatte Prinzeß Lolo ihm selbst mit kleinen Übertreibungen ihrer Heldenthat die Geschichte mit den Schlangen erzählt und aus vollem Halse über das geradzu wahnsinnige Entsetzen »der dummen Satanella« gelacht.
»Du, zu ihrem Geburtstage schicke ich ihr anonym eine kleine Natter in einem Kästchen zu,« hatte sie geschlossen, »wenn ich nur dann bloß den Luftsprung sehen könnte, den sie machen wird, wenn das Vieh ihr so – tsch! – entgegenzischt.«
Falkner war außer sich, denn was wirklich über die Hälfte ungebundener, fesselloser Übermut war, nannte er, gereizt, wie er einmal war, herzlos und unweiblich.
Auf Monrepos angelangt, arbeitete ihm Prinzeß Alexandra, welche seinen tadelnden Blick in Arnsdorf und sein Schweigen auf die Erzählung seiner Braut bei der Heimfahrt ganz richtig aufgefaßt hatte, noch in die Hände, indem sie beim Gute Nacht sagen die Schwester liebevoll umfaßte und, Falkner die andere Hand reichend, sagte:
»Zu deinem Besten, Lolo, weil ich dich so lieb habe und deinen Verlobten schon als meinen Bruder betrachte, muß ich dir heut' etwas sagen, und zwar vor seinen Ohren, damit es auch wirkt und nicht bloß als leerer Schall verhallt. Du warst heut' Abend zu laut, Herzchen, zu wild fast! Das schickt sich nicht für eine junge Braut, welche vor dem ernstesten Schritt ihres Lebens steht!«
Da riß Prinzeß Lolo sich los aus den Schwesterarmen und stand nun sprühenden Auges, mit geballten Fäustchen vor den beiden.
»Nun hab' ich's satt, das ewige Schulmeistern und Sittenpredigen,« sprudelte es rapid über ihre Lippen. »Eben weil ich eine Braut bin, verbitte ich's mir, eben weil ich Braut bin, kann ich sein wie ich will. Ich will hinaus aus eurem ledernen Zwange, aus der tödlichen Langeweile eures lächerlichen kleinen Hofes, und weil ich mich nicht in eine eben solch' blödsinnige Mausefalle sperren lassen will, heirate ich mir statt eines dummen Prinzen lieber den da, als dessen Frau ich wenigstens thun kann, was mir paßt und was ich mag!«
»Nun, nun, Lolo, ich denke doch, du heiratest den Baron, weil du ihn so recht von Herzen lieb hast,« sagte Prinzeß Alexandra sanft, als ihre Schwester atemlos schwieg.
»Natürlich, deswegen auch,« rief die kleine Durchlaucht mit einem raschen Blick auf Falkner. Sie war über und über rot geworden.
»O nein, nur deshalb« meinte die ältere Schwester mit einem bittenden Blick, der die ganzen Unabhängigkeitsgefühle in der kleinen Furie wieder entfesselte.
»Ich will nicht geschulmeistert werden, und was ich gesagt hab', das hab' ich gesagt,« zischte sie und flog dann ohne weiteren Gruß von dannen und in ihr Zimmer, wo sie sich durch das Zerschlagen einiger kostbaren Nippes wesentlich erleichterte. Prinzeß Alexandra aber blickte Falkner trüben Lächelns an.
»Da werden Sie noch viel zu erziehen haben, trotz meiner redlichen und unverdrossenen Mühe,« sagte sie leise.
Er küßte ehrfurchtsvoll die warm gebotene Hand.
»Das ist gärender Most, Durchlaucht,« erwiderte er gegen seine bessere Überzeugung, denn was sollte er sonst sagen? »Aber ich will dafür sorgen, daß es klarer, goldiger Wein wird,« setzte er, sich mit Gewalt bezwingend, in ehrlichster Meinung hinzu.
Falkner aber konnte heute nicht zur Ruhe kommen, denn die erlebten Scenen hatten ihm einen starken Stoß gegeben. Ihm graute vor der Zukunft, ihm graute vor dem, was hinter ihm lag, nur beides in verschiedener Weise. Was sollte daraus werden? Wie würde die Frau erst die Würde verlieren, welche die Braut schon, wie vorhin, mit Füßen trat, als ob solch' zertretenes und zerknülltes Ding sich wieder ganz glätten und mit Erfolg anziehen ließe! Und wenn er sich als redlich wollender Mensch auch vorzustellen versuchte, daß vielleicht gerade dies unverdrossene »Erziehen,« das Prinzeß Alexandra an der ihr anvertrauten Schwester erprobt, zu dem negativen Resultat geführt hatte, weil nicht eben jede Natur sich in die Form pressen läßt, die andere für sie ausgesucht und ausgeklügelt haben, so war es doch immerhin noch zweifelhaft, in welcher Form der eigenwillige Sprühteufel aus seinen Händen hervorgehen würde. Und es ist auch solch' eine eigene Sache mit der Erziehung der Frau durch den Mann, denn wenn die Liebe der ersteren nicht groß und nicht stark genug, wenn ihr Charakter nicht doch schon so fest ist, um ihn unbedingt dem ihres Mannes anzupassen, so giebt's doch nur einen Mißklang, den das »Erziehen« nur noch schlimmer macht, wenn's eben so betrieben wird, daß es ein Schulmeistern bleibt und nicht ein ganz unbewußtes Führen an der Hand der Liebe, die ja alles vermag. Denn wenn den Menschen etwas toll machen kann, widerspruchsvoll und eigensinnig, so ist es unablässiges Reden, Korrigieren und Verweisen.
Das alles sagte sich Falkner ohne Beschönigung, und dabei mußte er an die Ironie des Schicksals denken, das ihm jetzt als zu hoch vorstellte für seine Wünsche, was ihm früher zu niedrig gewesen. Und als ihm dann die Augen aufgingen und er sich bücken wollte und dem so niedrig geglaubten Wesen die Hand reichen, da war es zu weit geworden dazu, und jetzt –? Jetzt war es zu hoch und vielleicht auch zu spät. Vielleicht? Nein, es war gewißlich zu spät, denn er war gebunden, gebunden durch sein Wort und durch seine Ehre. Und als er dessen gedachte, da preßte er die Zähne fest zusammen.
»Vorwärts,« sagte er sich, »vorwärts und nicht rückwärts geschaut – das hat noch kein Falkner gethan. Und sie drüben im Falkenhof, sie wird es auch so halten, denn nicht umsonst tragen wir die Devise: ›Alle Falken ehrlich!‹«
Die Redensart: »Man weiß nicht was der nächste Tag bringt,« ist eine oft gedankenlos gehörte, gedankenlos gesprochene – d. h. gedankenlos im Sinne des Gewohnheitsmäßigen, das ja meist gedankenlos ist, weil maschinenhaft. Es denken aber wirklich nur wenige an den tiefen Sinn der Redensart vom nächsten Tage und der Ungewißheit menschlicher Vorausbestimmung, denn mit demselben Recht wie den nächsten Tag, können wir die nächste Stunde nennen, und auch von den sechzig Minuten dieser kurzen Zeitspanne, die vielen so lang werden kann, ist keine einzige, über die wir mit Gewißheit gebieten können. Und das ist einer der größten Beweise göttlicher Weisheit, daran geistiger Hochmut jene Demut lernen könnte, die der Heiland von uns verlangt.
Es ist ja nicht allein, daß der menschliche Geist, dessen Stärke die Tiefen der Erde und die Höhen der Luft durchdringt, dessen Ziel keine Grenzen kennt, daß dieser willensstarke Geist machtlos steht wie ein Kind vor der nächsten Stunde, von der er zwar sagt: ich werde sie so oder so ausfüllen und anwenden. Aber der menschliche Geist in seinem Hochmut – dem schlimmsten, den es giebt – im Vollgefühl seiner Stärke, durch die er Großes geschafft und noch Größeres schaffen will – was ist er im Angesicht jener Macht, die ihm die nächste Stunde nicht einmal anvertraut zur eigenen Verfügung? Was ist er, daß er diese Macht so gerne leugnet und sich über sie stellt? Die Antwort ist tief demütigend. Und so hat's der Schöpfer wohl gewollt in seiner Weisheit, doch wer denkt daran, wenn man sagt: »Ich werde dann das und das thun, morgen jenes vornehmen und in Wochen, in Monaten soll dies geschehen –« Es ist, als wenn ein Kind sagt: »Mutter, ich werde den Mond herunternehmen und putzen – er sieht so trübe aus.« Ja, da lächeln wir wohl oder ärgern uns gar über den kindlichen Unverstand, über das Unsinnige solcher Reden, für die, wenn ein Erwachsener sie anwendet, er sicherlich unter geistige Bewachung kommt, d. h. für verrückt erklärt wird, aber sind wir denn anders als die Kinder mit ihrem »ich werde das und das thun?« Darin eben liegt der Hochmut, der Größenwahn des menschlichen Geistes, der mit Bewußtsein darüber gebietet, worüber er keine Macht hat, nur das er sich diese Machtlosigkeit nicht klar macht, nicht klar machen will in jener Selbsttäuschung, die so süß ist. Und darum sage ich, daß die Redensart: »Man weiß nicht, was der nächste Tag bringt,« nur gedankenlos in Anwendung kommt, denn wäre man sich klar darüber, man würde mit weniger Sicherheit und mehr Demut über denselben verfügen.
Auch der Tag nach dem Schingaschen Feste brachte Veränderungen in den herzoglichen Landaufenthalt, welche man vor vierundzwanzig Stunden noch für unmöglich gehalten. Man hatte schon so schön für kommende Tage »Bestimmungen zu treffen geruht,« man »gedachte« noch etwa zwei Monate in der stillen Zurückgezogenheit von Monrepos zu verleben, dann die Hochzeit der Prinzeß Lolo in kleinem Kreise zu feiern u. s. w. u. s. w. Und während man noch über all' das Beratungen pflog, reiste das kleine, beschriebene Blättchen Papier schon, das alles, alles änderte und umstürzte.
Dieses Briefblatt aber war ein Heiratsantrag für Prinzeß Alexandra.
»Als ich vor fünf Jahren um den unschätzbaren Besitz Ihrer Hand bat,« schrieb der Fürst, von dem er kam, »da sagten Sie mir, Ihre Mission an Ihrer Prinzeß Schwester sei noch nicht erfüllt, und Sie hätten sich gelobt, Ihren Posten nicht eher zu verlassen, bis Eleonore von Nordland versorgt und geborgen sei. Ihr Entschluß schien unabänderlich damals, und ich mußte mich ihm beugen, doch ich ging mit Ihrem Geständnis, daß ich Ihnen nicht gleichgültig sei. Heut' höre ich, daß Prinzeß Eleonore sich vermählt, und unverweilt klopfe ich wieder an Ihre Thür und an Ihr Herz, und wenn Jakob um Rahel auch noch länger freite – fünf Jahre geduldigen Wartens aber sind für unsere kurzbemessene Lebensspanne wohl auch eine Probe, eine Liebesprobe, Alexandra, von der ich hoffe, daß sie nicht umsonst war –« – – – – – – – – – – – – – – – Und sie war nicht umsonst. Was lange Jahre hindurch verborgen und ungeahnt von andern im Herzen dieses edlen Fürstenkindes geruht, es wachte auf mit diesen Zeilen und sehnte und drängte ans Tageslicht, denn das Glücksbedürfnis lebt in jeder Menschenbrust und stirbt nicht, wenn es auch künstlich zum Schlafen gebracht wird.
Der alte Herzog war entzückt, als seine Tochter ihm von diesem Briefe erzählte, denn er liebte den Schreiber desselben, und der Korb, den er vor fünf Jahren erhalten, hatte ihn mit großem Unwillen erfüllt, ganz abgesehen von den übrigen Körben, welche sie in Abundanz ausgeteilt. Aber der treffliche alte Herr ward noch viel mehr entzückt, als Prinzeß Alexandra ihm auf sein Befragen errötend gestand, daß sie die Hand des treuen Bewerbers annehmen wolle. Auch der Erbprinz war hoch erfreut, doch Prinzeß Lolo sagte lachend:
»Also den alten, langweiligen Stiefel willst du heiraten? Na, dann guten Morgen! Was doch die Leute für verdrehte Geschmäcker haben!«
Unwillig verwies Prinzeß Alexandra ihrer Schwester einmal die schlechte Grammatik ihrer Apostrophe, dann aber besonders scharf den ganz unpassenden Ausdruck »Stiefel« für einen Menschen, der ihr so hoch stände – einen Ausdruck überhaupt, der sich wohl für die Grooms schicke, nicht aber für eine Dame von hoher Geburt.
Die kleine Durchlaucht war aber nicht mundtot zu machen.
»Bitte, ich habe den famosen Ausdruck schon gefürstet gebraucht,« entgegnete sie, »denn die Grooms sagen: Stiebel!«
Prinzeß Alexandra wandte sich ernstlich erzürnt ab mit der Frage, woher ihr die Kenntnis des Stalljargons käme.
»Ich höre ihnen immer vom Balkon aus zu, wenn sie die Pferde putzen und satteln,« gestand Prinzeß Lolo lachend, »und dabei sangen sie gestern ein reizendes Lied:
Prinzeß Alexandra gab es seufzend auf, hier noch Unkraut jäten zu wollen und dachte über das Rätsel der Natur nach, daß trotz sorgfältigster Erziehung und gänzlicher Fernhaltung alles und jedes Gemeinen ein Wesen dennoch die Gassenhauer der Grooms für »reizend« erklären und den ungeschminkten Naturlauten dieser Menschenklasse überhaupt mit Vergnügen und ersichtlich mehr Erfolg als den höchsten Erziehungsprinzipien lauschen kann. Und wenn Prinzeß Alexandra in dieser bittern Stunde der Erkenntnis, daß ihre Opfer umsonst gebracht und verfehlt waren, es thatsächlich bereute, das ersehnte Glück nicht schon vor fünf Jahren erreicht zu haben, so wird ihr dies niemand verargen können, denn das Bewußtsein treuester Pflichterfüllung konnte ihr selbst diese egoistische Regung nicht rauben.
Mit wendender Post traf auf das gegebene Jawort ein dreifacher Brief des Entzückens von dem fürstlichen Bräutigam an den Herzog, den Erbprinzen und die hohe Braut selbst ein; doch neben der Verheißung, daß die Werbung in aller Form und der nötigen Etikette wiederholt werden sollte, wurde auch die Bitte dringend laut, verschiedener Angelegenheiten wegen den Termin der Vermählung zu beschleunigen, und da diese Angelegenheiten dem Herzoge zwingender und wichtiger deuchten als die ersichtliche Ungeduld des endlich Erhörten, das langerwartete Glück auch zu besitzen, so wurde als zeitigster Termin der Hochzeit der Geburtstag der Prinzeß, sechs Wochen de dato fixiert. Doch da hierbei auch der Brautstand der Prinzeß Lolo in Betracht kam, d. h. die Stellung, welche dem Freiherrn von Falkner bei den Vermählungsceremonien einzuräumen war, der zur Konferenz zugezogene Kammerherr als stellvertretender Hofmarschall aber der entschiedenen, von Fräulein von Drusen eingeimpften Ansicht war, daß eine Stellung bei der Vermählung der älteren Prinzeß mit einem regierenden Fürsten dem Freiherrn von Falkner nur als Gatten der jüngeren Prinzeß zu geben sei, indem ein – hm, hm – unebenbürtiger, also auf diplomatischem Wege amtlich nicht notifizierter Bräutigam einer Prinzeß überhaupt gar keine Stellung habe, so wurde die Vermählung dieses Paares um acht Tage früher als die andere fixiert und Falkner dies mitgeteilt. Es bedurfte übrigens gar nicht der drastischen Neckereien des Prinzeßchens, mit denen sie Falkner »sein auf diplomatischem Wege amtlich nicht notifiziertes Bräutigamsdasein« drollig genug vorhielt, um ihn verstehen zu machen, was der Grund dieses beschleunigten Hochzeitstermins war, denn er hatte lange genug an Höfen gelebt, um das zu begreifen, aber im Grunde war er ganz damit zufrieden. Das Band war ja durch ihn nicht mehr löslich, und ob es zwei oder drei Monat später für ihn zur lebenslänglichen Fessel wurde oder in fünf Wochen – was that das?
Doch es wurde noch mehr beschlossen im Rate der Familie, denn da man das Ende des Juli noch für zu früh im Jahre hielt für den programmmäßigen Ausflug nach dem Süden, so ward die Ummöblierung von Monrepos alsbald festgesetzt, damit das junge Paar daselbst seine Flitterwochen verleben konnte. Andere Vorschläge von seiten des Bräutigams wurden, als nicht üblich, gar nicht erbeten, und auch Prinzeß Lolo opponierte nicht, denn es war schon eine ganz andere Sache, Schloßherrin auf Monrepos zu sein, nach dem berühmten Muster Cäsars, welcher auch lieber auf dem Dorfe der erste, als in Rom der zweite war. Zudem spukten in dem blonden Köpfchen eigene Ideen von Visiten in Stadt und Land – und es sollte ganz amüsant werden auf Monrepos. »Die alte Bude soll sich wundern, wie ich sie aufmöbeln und aufkratzen werde,« gelobte sie sich innerlich.
Doch so sehr des Herzogs Vaterherz sich freute über das Glück seiner Töchter, die er so gern echt bürgerlich und gemütlich »seine Mädels« nannte – die fortgesetzten Konferenzen, Korrespondenzen und Depeschenwechsel dieser letzten Tage versetzten sein ruhebedürftiges Gemüt in einen harten Anklagezustand gegen das Schicksal, das ihm nicht 'mal seine paar Sommermonate in Ruhe gönne und seinen Rosen ungestraft gestatte, so wilde Triebe anzusetzen, als ihnen beliebe, denn wer kam in diesem Trubel dazu, auch nur eine Raupe von den Stämmen zu lesen? Und nun sollte es gar vorzeitig zurückgehen in die staubige Residenz, in das große Schloß mit dem englischen Park, in welchem ihm die Etikette verbot, zu arbeiten – kurz, er sollte um zwei volle Monate eher aufhören, ein Mensch zu sein! Das war mehr für das geduldige Temperament des trefflichen alten Herrn, als er es ertragen konnte, und Entschlüsse, welche vorläufig nur als schwarze Gedanken in seinem Busen geruht, wurden in ihm reif – Entschlüsse, welche zwar nicht erschütternd an die Fundamente seines Landes und des Reiches griffen, welche aber für sein Haus immerhin Bedeutung hatten. Und nun war die Reihe, Konferenzen abzuhalten, an ihm – d. h. er legte, als seine Entschlüsse zur Reife gediehen und unwiderstehlich in ihm aufstiegen, Gartenschere und Okuliermesser mit der Entschiedenheit und der Hast beiseite, welche ebensosehr auf eine Unabänderlichkeit seiner Ideen, als auch auf deren rasche Erledigung deuteten, und nachdem er sich noch etlichemal die Hände gerieben und ein halb Dutzend Mal um ein Rosenrondel gegangen war, ließ er seinen Sohn, den Erbprinzen, zu sich bitten und blieb mit demselben nahezu zwei Stunden eingeschlossen. Des Herzogs Kammerdiener hörte seinen hohen Herrn dabei mehrmals mit erhobener Stimme reden – aber was immer auch besprochen wurde, es hatte einen friedlichen und befriedigenden Ausgang, denn als nach besagten zwei Stunden der Herzog mit seinem Erben wieder hinaustrat in den Garten und der Erbprinz nach seinem Hute griff, da reichte der Vater dem Sohne die Hand.
»So, dann Glück auf, mein Junge,« sagte er herzlich. »Es hat so kommen sollen – und contre la force il n'y a point de résistance. Die zwingende Gewalt liegt eben im Menschen selbst – das ist die Natur. Willst du heut' noch nach dem Falkenhofe?« –
»Ja, Vater. Wozu auf morgen verschieben, was man heut' ebensogut erfahren kann?« –
»Ja, ja! Also nochmals: Glück auf, Emil!« –
Der Erbprinz küßte seines Vaters Hand und verließ Monrepos auf dem Wege zum Falkenhofe. Er ging aber nicht schnell, wie ein Mensch, der seiner Sache gewiß ist. Langsam schritt er hin und blieb oftmals grübelnd stehen, aber am Ende kam er doch an sein Ziel und wurde von Ramo unverzüglich bei der Herrin des Falkenhofes gemeldet.
Draußen brütete die Schwüle des Sommernachmittags über den Bäumen – aber die Sonne neigte sich schon nach dem Westen. Die dicken Mauern, wie sie nur die Architektur vergangener Jahrhunderte kannte, ließen nicht viel Hitze von außen hinein in die gewölbten Räume des Falkenhofes, und erquickt atmete der Erbprinz die Kühle ein, die ihm beim Eintritt in das feudale Schloß entgegenwehte. In denkbar kürzester Zeit kam Ramo wieder herab und meldete, daß Dolores den Erbprinzen erwarte. Gerade als letzterer sich anschickte, die Treppe hinaufzusteigen, erschien Doktor Ruß in der Vorhalle und begrüßte überrascht den hohen Besucher und schickte sich an, denselben nach oben zu begleiten.
»Ich war gerade im Begriff, meiner Nichte dieses Buch, das eben eintraf, zu bringen,« sagte er, auf eine Broschüre in seiner Hand deutend.
Doch zu seiner größten Überraschung nahm der Erbprinz ihm das Heft aus der Hand, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen.
»Ich kann Ihnen diese Mühe abnehmen,« meinte er, grüßte freundlich, aber in der Weise, welche nur den Regierenden eigen ist, wenn sie jemand entlassen, und schritt, dem voraneilenden Ramo folgend, die breite, teppichbelegte Treppe zu dem von Dolores bewohnten Flügel hinan.
Doktor Ruß aber richtete sich von seiner tiefen Verbeugung auf und konzentrierte sich rückwärts nach seinen Gemächern.
»Das war kurz – und deutlich,« murmelte er vor sich hin. »Hm! Hm! Also man will allein sein oben. Vielleicht enfin seuls! Und warum will man allein sein? Weil man etwas zu besprechen hat, wozu ein Dritter überflüssig ist. Um das zu erraten, dazu gehört nicht viel Kombinationsgabe. War dieser Besuch erwartet? Kommt er unerwartet? Schade nur, daß –«
Und die Gedanken des Doktor Ruß verloren sich in ein vielsagendes Kopfschütteln.
Oben im Korridor aber sagte der Erbprinz zu Ramo:
»Ich wünsche Ihre Herrin, die Baroneß, allein und ungestört zu sprechen. Bitte, sorgen Sie also dafür, daß niemand gemeldet oder ungemeldet eindringt, so lange ich hier bin. Niemand; – auch Doktor Ruß nicht!«
»Sehr wohl, Hoheit,« erwiderte Ramo respektvoll, aber nicht servil. Er mochte den Erbprinzen gern leiden, den Doktor Ruß aber nicht, trotzdem sich letzterer stets sehr freundlich dem Kammerdiener gegenüber zeigte.
»Willkommen, Hoheit,« sagte Dolores, als der Thronerbe bei ihr eintrat. »Ah – Sie bringen mir ein Buch!«
»Ich nahm es Doktor Ruß ab, der es Ihnen eben bringen wollte,« erklärte der Erbprinz, die dargebotene Hand küssend.
»O, zu gütig –« –
»Nein, es war keine Güte, nicht einmal Gefälligkeit. Ich wollte Sie heut' allein sprechen.«
»Allein, Hoheit?« fragte Dolores erstaunt. »Das klingt ja ganz mysteriös und macht mich sehr neugierig. Sind es Staatsgeheimnisse, welche ich hören soll?« –
»Auch das,« erwiderte er, auf ihren Ton eingehend. »Große Staatsgeheimnisse eines kleinen Staates. Also nur für Ihre Ohren allein bestimmt!« –
»Ei, wie reizend! Ich habe mir immer gewünscht, Mitwisserin von Staatsgeheimnissen zu sein,« meinte sie nicht ohne ein leises Staunen, denn er hatte den letzten Satz merkwürdig ernst gesprochen, ernster, als er sonst zu reden pflegte.
Ramo hatte inzwischen die Jalousien des Salons, wo Dolores ihren Gast empfangen hatte, emporgezogen, denn die Sonne lag nicht mehr darauf, aber er hatte die Fenster trotzdem noch geschlossen.
»O Ramo, die Fenster auf!« rief Dolores, als er eben noch die Salonthür schloß.
»Es ist noch zu heiß draußen, Herrin,« murmelte er in seinem leisen, wohlerzogenen Kammerdienertone und setzte noch leiser spanisch hinzu: »Man versteht unten auf der Terrasse jedes hier gesprochene Wort bei offenen Fenstern.«
Und damit glitt er leise aus dem Salon und schloß sogar die Thür zum Turmzimmer hinter sich.
Dolores fühlte sich entschieden intriguiert. Zwar mochte sie Angelegenheiten von Wichtigkeit auch nicht mehr im Turmzimmer besprechen, seit sie das Geheimnis des Kamins kannte, durch welches die Passage freilich abgeschnitten war, hinter dessen Wand man aber im Nordflügel jedes im Turmzimmer gesprochene Wort vernehmen konnte. Denn selbst der findige Ramo hatte nicht entdecken können, wie der Inhaber der gefundenen Fußspuren in dieses Zimmer hinein gelangt war. Aber Ramo kannte auch die unausgesprochenen Wünsche seiner Herrin – er wußte, daß das Turmzimmer ihr nicht eher wieder lieb werden konnte, ehe es nebenan nicht sicher war, und da er selbst ein leises Unbehagen empfand bei dem Gedanken, daß es dicht neben den Wohnräumen dieser geliebten Herrin einen geheimnisvollen Schlupfwinkel gab für unbekannte Schleicher, daß die Wände dieses Zimmers sozusagen Ohren hatten, so schnitt er diesen lieber ab, was der Erbprinz zu sagen hatte.
Dieser und Dolores nahmen im Salon indes einander gegenüber Platz.
»Also nun zu den Staatsgeheimnissen,« meinte sie, ersichtlich gespannt. »Nach dem zu dieser Unterredung nötigen Apparate bin ich doch wohl berechtigt, etwas ganz Außergewöhnliches zu erwarten und zu hören!«
»Und doch erraten Sie gewiß nicht, daß von Ihnen in dieser Stunde das Bestehen oder Aufhören eines Staates abhängt,« erwiderte der Erbprinz mit jenem Lächeln, das auch Ernst bedeuten kann.
»Von mir?« fragte Dolores erstaunt. Aber dann lachte sie. »O Hoheit, die Hundstage und die Sauregurkenzeit, wo man vergebens nach Enten sucht, um die Zeitungen zu füllen und die Konversation zu beleben – die sind doch noch nicht da, und vor denen brauchen Sie sich doch nicht zu fürchten!«
»Das ist sehr freundlich bemerkt, aber mir lag wirklich jeder Scherz fern,« versicherte der Erbprinz. »Also darf ich mein Staatsgeheimnis erzählen? Und werden Sie mich geduldig anhören, bis ich zu Ende damit bin?«
»Ich werde keine Silbe sagen, bis Hoheit mir erklären, daß Sie fertig sind,« entgegnete sie freundlich und lehnte sich zurück in ihren Sessel. »Also ich höre und verspreche, kein Wort zu verlieren.«
»Nun wohl,« sagte der Erbprinz, »ich verspreche dagegen auch, kurz zu sein und Ihre Geduld nicht zu schwer zu prüfen. Um mit dem neuesten zu beginnen, so muß ich also berichten, daß wegen der in sechs Wochen stattfindenden Vermählung meiner Schwester Alexandra, von der Sie gestern ja gehört haben, die Hochzeit meiner Schwester Lolo schon Anfang August stattfinden muß. Entscheidend waren dabei Etikettenfragen in Rücksicht auf meinen künftigen Schwager Falkner – wir haben das heute Morgen besprochen und bestimmt.«
»Gehört das zur Sache?« warf Dolores etwas kühl ein.
»Doch, denn es leitet die Sache selbst ein,« entgegnete der Erbprinz und fuhr fort: »Aber der durch diese Hochzeiten zu erwartende Trubel und der Umstand, daß, da Monrepos dem jungen Paare als buen retiro für den Honigmond eingerichtet werden soll, wir alle diesen lieben Aufenthalt in den nächsten Tagen verlassen müssen, all' dies hat den Herzog, meinen Vater, etwas nervös gemacht. Er ist ein Mensch mit stillen Neigungen und dem Hange zu einem ruhigen Leben, und nichts ist ihm schrecklicher, als sich in eine Uniform zwängen zu müssen und Pflichten zu erfüllen, die ihn nicht befriedigen, die ihm das leere Gefühl hinterlassen, nichts gethan zu haben und doch in Bewegung gewesen zu sein. Und nun sein Haus leer wird und ihn die Rücksicht für seine Töchter nicht mehr fesselt, nun will der Herzog einen langgehegten Wunsch erfüllen und auf die Regierung verzichten. Er ließ mich also vorhin zu sich rufen und teilte mir seinen Entschluß mit.«
»Ah, das also ist das Staatsgeheimnis!« rief Dolores interessiert. »Aber, Hoheit, warum würdigen Sie mich, es mir gerade anzuvertrauen?«
»Weil, wie ich Ihnen schon sagte, das Bestehen und Aufhören unseres kleinen Staates von Ihnen abhängt,« erwiderte der Erbprinz.
»Sesam, öffne dich!« rief sie lächelnd.
»Ich komme zur Sache. Nachdem der Herzog mir also seinen Entschluß, zu resignieren, kundgegeben hatte, billigte ich denselben vollständig, denn ich teile ganz die Lebensansichten meines Vaters und dessen Neigungen. Ich sagte ihm also, ich begriffe voll und ganz die Motive, die ihn Scepter und Krone niederlegen ließen, aber ich würde diese Resignation auch gerechtfertigt finden, wenn sie aus dem Grunde geschähe, daß damit zugleich unser Land dem Reiche einverleibt würde, welches unsere Souveränität vertragsmäßig anerkennt, dem wir aber damit doch ein Hindernis sind. Ich habe als Vergleich dafür nur den dahinbrausenden Blitzzug, welcher über Zeit und Raum triumphierend den Erdball durchmißt und dazu genötigt wird, jedesmal vor einer kleinen Haltestelle ein unliebsames Halt zu machen, um Ballast aufzunehmen, der ihn nicht beschwert, aber aufhält und belästigt.«
»Das ist eine großherzige politische Auffassung, Hoheit!«
»Sie wäre es, Baroneß, wenn ich nicht ein Mensch wäre und als solcher eigennützige Motive im verborgensten Winkel meines Herzens bärge.«
»Wer soll Ihnen das glauben, Prinz?«
»Hören Sie mich zu Ende, und Sie werden es glauben müssen. Also mein Vater gab mir von seinem Gesichtspunkt aus recht, denn seine partikularistischen Ideen von ehedem sind längst einer wirklich großherzigen, weiten Auffassung von politischer Einigkeit und Größe gewichen, und er hätte auch sicher seine engbegrenzte Souveränität für diesen großen Gedanken geopfert, wenn er nicht geglaubt hätte, das Aufrechthalten derselben mir, seinem einzigen Sohne und Erben, schuldig sein zu müssen. Nach dieser Eröffnung glaubte ich meinen Moment zum Sprechen gekommen, und ich erklärte meinem Vater, daß ich seinem Beispiel freudig folgen und auf einen Thron verzichten wollte, dem gegenüber, ganz abgesehen von meiner politischen Überzeugung, mir ein Leben als mediatisierter Fürst weit größere geistige Vorteile böte. Aber nun komme ich auf des Pudels Kern. Der Herzog fragte mich, als erfahrener Menschenkenner, ob dies allein mein Motiv sei, und da mußte ich freilich gestehen: nein. Denn das wahre Motiv für mich ist – eine Dame, eine Dame, welche ich liebe, und welche mir nicht ebenbürtig ist. Und ich setzte dem Herzog auseinander, wie ich davon geträumt hätte, den Herrscherpflichten zu entsagen – nicht um der Liebe willen, welche ja stets hinter Pflicht zurücktreten muß, sondern rein meiner politischen Überzeugung wegen, und wie ich dann, ein freier Mann, mich einfach nach meiner ererbten Privatbesitzung Graf von Waldburg nennen wollte, um der Dame meines Herzens mit meiner Hand auch meinen Namen bieten zu können. Was nach dieser Erklärung zwischen meinem Vater und mir als Herzog und Erbprinz und endlich als Vater und Sohn besprochen wurde, gehört nicht hierher, ich will nur sagen, daß ich siegte – vielleicht weil der Sieg meiner Schwester Eleonore dem meinen vorausgegangen war. Aber ich habe alles von der Entscheidung jener Dame abhängig gemacht. Nimmt sie meine Hand an, dann werden die Reichslande um ein paar Quadratmeilen größer – refüsiert sie mich, so übernehme ich die Regierung, bis ein geeigneter Moment die Verzichtleistung unauffällig vollzieht.«
»Und das sollte in meiner Hand liegen?« fragte Dolores, als er schwieg.
»Ja,« sagte er fest, »weil Sie die Dame sind, die ich liebe, und weil ich nicht als Erbprinz mit der linken Hand, sondern als Graf von Waldburg vor Sie hintrete, Ihnen Herz, Rechte und Namen biete und Sie frage: wollen Sie mein Weib werden?«
Dolores war aufgestanden – blaß lehnte sie an dem Tisch, der hinter ihr stand und sah zu dem Prinzen herüber, der sich gleichfalls erhoben hatte.
»Hoheit sehen mich aufs höchste überrascht,« sagte sie nach einer Pause ruhig und gefaßt. »Der mich so hoch ehrende, liebe und in letzter Zeit vertraute Verkehr mit Monrepos hat mich nie, auch nicht im entferntesten ahnen lassen, daß –« sie stockte.
»Daß ich Sie liebe,« vollendete der Erbprinz. »Nein, Dolores, ich weiß, daß ich mich nicht verraten habe, denn ich halte es für einen Mann in meiner Stellung für gewissenlos, eine Frau mit seiner Liebe zu verfolgen, der er im besten Falle nichts bieten kann als einen Trauring zur linken Hand, einen fremden Namen und eine stets untergeordnete, peinliche Stellung in seinem Hause. Das waren die Motive, die mich veranlaßten, Ihnen meine Neigung zu verbergen, aber ich wußte, daß wenn Ihr Herz für mich spräche, Sie dies auch in sich verschließen würden. Nun aber hab' ich's erreicht, ich darf sprechen und trete vor Sie hin mit meinem Geständnis. Dolores, darf ich auf Erhörung, darf ich auf Gegenliebe hoffen?«
Nun ward es still in dem hohen, kühlen Raume, so still, daß man das Summen der Fliegen an den Fensterscheiben hören konnte. Dolores stand, die großen, dunklen Augen traumverloren in die Ferne gerichtet und sann, der Erbprinz wartete auf ihre Antwort – –
»Hoheit,« sagte Dolores nach einer Weile, »ich würde Sie schwer täuschen, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß die wahrhaft herzliche Sympathie, welche ich für Sie empfinde, Liebe ist. Wenn Sie diese verlangen – ich habe sie nicht!«
»O Dolores!« rief er schmerzlich bewegt. »Ich habe es wohl geahnt, daß ein anderer – –«
»Nein, nein!« unterbrach sie ihn schnell, »kein anderer. Es steht niemand zwischen Ihnen und Ihrer Werbung. Und vielleicht ist die herzliche Sympathie, von der ich Ihnen sprach, auch der rechte Kitt für eine glückliche Ehe – –«
»Vielleicht ist es auch die Liebe selbst, ohne daß Sie es wissen,« fiel er bittenden Blickes ein.
Sie aber schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.
»Nein, Hoheit – wir wollen uns beide darüber nicht täuschen. Es frägt sich nur, ob Ihnen genügt, was ich zu bieten habe – –«
»Dolores – –«
»Sie sollen nicht sofort ›Ja‹ sagen, Hoheit,« fiel sie ihm ins Wort, »Sie sollen sich prüfen, ob Sie vorlieb nehmen wollen mit einem Herzen, das ja nicht verneint, lieben zu können, und das auch nicht sagt: Ich werde Sie niemals lieben, denn ich glaube und begreife, daß eine Frau Sie lieben kann. Aber mehr noch als Sie bedarf ich der Prüfung. Es hat so viel verlockendes, Ihren Antrag anzunehmen, weil es der Antrag eines redlichen, großdenkenden Mannes ist, weil ich mir einbilde, Ihr Herz könnte eine Heimat werden für mein heimatloses Herz und weil die Einsamkeit mich oft so trostlos ansieht – aber all' das darf mich nicht verleiten, das Lebensglück – Ihr Lebensglück auf eine Karte zu setzen, von der ich nicht weiß, ob sie gewinnt. Und darum muß ich mich prüfen und Sie müssen mir Zeit lassen, ja?«
»Kann ich ›Nein‹ sagen?« fragte er mit einem Seufzer zurück. »Und wie lange soll ich auf Ihre Entscheidung warten? Denn ich habe für mich schon entschieden!«
»Wie lange?« sagte Dolores träumerisch. »Ich kann nicht wissen, wie lange ich brauche, um die Zweifel meines eignen Herzens zu bekämpfen. Denn wenn ich kämpfe, so geschieht es offenen Visiers und ehrlich, auch gegen mich selbst – –«
»Das weiß ich, Dolores! Und ich will warten – warten, bis Sie mich rufen. Doch eins muß ich Ihnen sagen: auch ich werde kämpfen, aber nicht mit mir, denn in mir ist alles klar, aber um Sie, und ich will damit nicht eher aufhören, als bis Sie selbst mir sagen, daß es vergebens ist, daß Sie einen anderen lieben. Und vielleicht siege ich auch, denn ich gehe ja nicht hoffnungslos von Ihnen.«
Da lächelte sie schmerzlich.
»Mit einem armseligen ›vielleicht,‹« sagte sie leise.
»Nicht armselig,« erwiderte er warm, »denn haben Sie nicht gehört, was ein Geistreicher gesagt, daß das Wörtchen ›vielleicht‹ die Visitenkarte der Hoffnung ist?«
»Und wenn die Hoffnung nun darauf schriebe: p. p. c. – pour prendre congé?« fragte Dolores.
Einen Augenblick sah der Erbprinz ihr in die angstvoll auf sich gerichteten Augen, dann erwiderte er zuversichtlich:
»Das müßte ich schwarz auf weiß haben, denn die Hoffnung nimmt niemals für immer Abschied von den Menschen.«
Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe – sie wußte es besser.
Und der Erbprinz ging, und wenn er das Wörtchen »vielleicht,« auf das er so viel Hoffnung setzte, zurückdrängte, so blieb ihm freilich nicht mehr viel übrig, um darauf zu bauen. Aber Menschen in seiner Lebenslage bauen dennoch – luftige, hohe Schlösser auf sandigen Boden, bis der Windstoß kommt, der sie vor ihren Augen zusammenbrechen läßt und ihnen nichts davon bleibt, als Schutt, Trümmer und Scherben. – –
Dolores war allein zurückgeblieben mit klopfendem Herzen und fliegenden Pulsen, denn kaum war der Erbprinz gegangen, da traten vor ihren redlichen Sinn schon die Fragen: Was hast du gethan? Welches Recht hast du, ein Herz zu versprechen, das du voll und ganz nicht mehr geben kannst? Welches Recht hast du, Hoffnungen zu erwecken, die du nicht erfüllen kannst?
Und doch hätte sie am liebsten gleich »Ja« gesagt, denn ihr schien Hand und Herz des Erbprinzen wie ein wohlgeborgener Hafen, in welchem sie sicher war vor sich selbst, in welchen sie sich allzeit retten konnte, wenn auch die hohe See des Lebens ihr den Gischt in die Augen schleuderte und sie blendete, daß sie ihren Weg nicht mehr klar sah vor sich. Und sie glaubte glücklich werden zu können an der Seite eines solch' edeln Menschen, selbst wenn sie ihn nicht so liebte, wie sie dachte und glaubte, lieben zu sollen, und endlich wußte sie es nicht und ahnte nicht, wie schwer ihr Herz getroffen war und wie unheilbar seine Wunde. Diese Erkenntnis ward ihr noch vorbehalten – sie wäre ihr erspart geblieben, wenn es sie an jenem Abend nicht herausgetrieben hätte, um im Freien in Gottes klarer Luft besser denken, besser prüfen zu können, trotzdem das Zünglein der Wage sich schon tief herabneigte nach der Wagschale des Erbprinzen, denn, wie gesagt, Dolores hatte noch nicht genug gekostet vom Apfel der Erkenntnis, hatte auf die Sprache des eigenen Herzens noch nicht gelauscht oder dieselbe doch gebieterisch zum Schweigen gebracht – kurz, sie war noch nicht sehend geworden.
Während der Erbprinz droben war bei ihr, hatten Doktor Ruß und seine Frau auf der Terrasse vor ihren Zimmern Platz genommen, und kurz darauf kam auch Falkner von Monrepos herüber, um, wie er sogleich sagte, seiner Mutter den heut' von der herzoglichen Familie fixierten Tag seiner Hochzeit zu melden.
»Die Einladungskarten werden jedenfalls zur rechten Zeit hier eintreffen,« schloß er, »aber ich denke, der Herzog wird noch vor seiner Abreise von Monrepos Gelegenheit nehmen, davon zu sprechen, das heißt seine Einladung persönlich anbringen.« –
Frau Ruß strickte ihre Nadel ab, an deren Maschen sie eifrig zählte. »Dreiundzwanzig – vierundzwanzig,« schloß sie und ließ dann das Strickzeug sinken, um auf die Einladungsfrage einzugehen. Diesen Moment aber hatte Doktor Ruß sehr wohl abgepaßt.
»Wäre es nicht besser, lieber Alfred,« begann er, »wenn du drüben in Monrepos einen Wink darüber fallen lassen könntest, daß die Einladung besser ganz unterbleibt? Du würdest dadurch deiner Mutter den peinlichen Moment der Entschuldigung über ihr Fernbleiben von deiner Hochzeit ersparen.« –
Frau Ruß hatte ihren Gatten, während er sprach, angesehen, ohne ihn zu unterbrechen. Jetzt nahm sie mit einem Ruck ihr Gestrick wieder auf, doch um ihren festgeschlossenen Mund zuckte es seltsam.
Falkner aber hielt sein Erstaunen nicht zurück.
»Warum willst du meiner Hochzeit nicht beiwohnen, Mutter?« fragte er.
Wieder öffnete Frau Ruß den Mund zur Antwort und wieder übernahm Doktor Ruß dieselbe.
»Deine Mutter hat drei Gründe für ihre Weigerung,« sagte er. »Erstens sind wir pekuniär nicht so gestellt, um die für einen solchen Tag und an solchem Orte nötigen Ausgaben für Reise, Kleider etc. bestreiten zu können.« –
»Nun, meine Mutter wird die Deckung dieser Auslagen von mir in diesem Falle wohl annehmen,« fiel Falkner dem Redner ins Wort.
»Zweitens,« fuhr Ruß unbeirrt fort, abermals eine Antwort seiner Frau abschneidend, »zweitens will deine Mutter einer derartigen Feier niemals ohne ihren Gatten – meine Wenigkeit – beiwohnen.«
»Man wird aber auch am herzoglichen Hofe den Takt haben, diesen Gatten meiner Mutter mit einzuladen,« fiel Falkner abermals ein.
»Diesen Fall vorausgesetzt, wird deine Mutter drittens sich nicht der Möglichkeit aussetzen, in der Hofrangordnung auf eine Stufe gestellt zu werden, welche vielleicht ihrer jetzigen bürgerlichen Stellung, nicht aber ihrem Geschmacke entspricht; ganz abgesehen davon, daß es ihr peinlich wäre, mich, ihren Gatten, dabei übersehen und beiseite schieben zu lassen,« schloß Doktor Ruß.
Falkner konnte dem klugen, alles erwägenden Manne in diesem Falle nicht unrecht geben.
»Ich glaube kaum, daß ihr euch in eurem Verhältnis zu mir derartigen Dingen aussetzen würdet,« sagte er indes sehr ruhig.
»Nein, du glaubst es nicht, und ich glaube es auch nicht, was den Herzog und die Seinen persönlich anbetrifft,« erwiderte Ruß, »aber die Hofrangordnung macht der Hofmarschall, und du wie wir sind dessen eben nicht sicher, sowie seiner Ansichten über den Fall. Sparen wir also dem Herzog das Peinliche, seine Gegenschwieger deplaziert zu sehen, und sparen wir uns den Ärger, es zu sein!«
»Nun, das wird sich alles noch finden,« meinte Falkner, um das Gespräch zu beenden.
»Der zweite und dritte Punkt vielleicht – der erste sicher nicht,« beharrte Doktor Ruß. »Denn,« fuhr er fort, »es fällt mir nicht ein, mich in Schulden stürzen zu wollen dieses einen Tages wegen, der uns vielleicht nur Kränkung und Zurücksetzung bringt.«
»Herrgott, wie kann man immer nur daran denken,« fuhr Falkner auf. »Dieses ewige Mißtrauen macht euch elend und stellt der übrigen Welt doch ein geistiges Armutszeugnis aus, das sie nicht verdient.«
Doktor Ruß zuckte mit den Achseln und lächelte ein bedeutsames Lächeln, dann aber stand er auf, trat an seine Frau heran, umfaßte sie liebevoll und drückte sie an sich.
»Teures Weib, hier ist dein Platz, den du dir selbst gewählt,« sagte er mit dem vollen Wohlklange seiner modulationsfähigen Stimme. »Hier ist dein Platz, der dein bleibt, ob auch die Welt dich verstößt wegen deiner Herzenswahl. Denn was nützen uns Rangkronen und Titel, wenn das Herz fehlt?«
Und er beugte sich herab, ihren zuckenden Mund zu küssen und ihre vor Rührung überquellenden Augen zu trocknen.
»Na, da schlag' Gott den Teufel tot,« murmelte Falkner ziemlich deutlich, denn diese Komödie täuschte ihn nicht und sollte es vielleicht auch nicht thun. Denn einmal hielt er seinen Stiefvater für einen viel zu klugen Mann, um ihm solch' unlogisches und ungerechtfertigtes Vom-Zaun-brechen einer Rührscene zuzutrauen, und dann wußte er sehr genau, daß es dieser Ton war, mit welchem er seine Mutter sich gewann und unterordnete, mit dem er sie aufreizte und zu seinen Ansichten und Plänen bekehrte. Ob es nun zu diesen gehörte, oder ob wirklich sein Mißtrauen und die Furcht, nicht für voll anerkannt zu werden, in ihm vorherrschte – genug, er wußte seine Frau genau ebenso denkend zu machen. Frau Ruß bewieß auch sofort, daß ihres Mannes Taktik für sie berechnet und mit Erfolg gekrönt war, wie gewöhnlich.
»Ja, mein Lieb,« sagte sie, mit den Thränen kämpfend, »wir bleiben fern von dem Orte, an dem wir nur geduldet werden würden. Ich brauche die ganze hochmütige Clique nicht,« fuhr sie heftig fort, »und wer mich frägt, wer ich bin –: ich bin die Frau Ruß, nichts mehr und nichts weniger!« –
»Aber liebe Mutter, wer ist dir denn je in dieser Beziehung zu nahe getreten?« fragte Falkner beruhigend, doch Doktor Ruß winkte ihm nur ab und drückte den Kopf seiner Frau lange und stumm an seine Brust. Die Wirkung war komplett, der Sieg war gewonnen über ein verbittertes Weib. Deshalb blieben Falkners Worte auch gänzlich unbeachtet, und er war im Begriff, sich zu erheben und zu gehen, als Doktor Ruß, wieder Platz nehmend, ein anderes Thema aufnahm.
»Da wir gerade einmal in Ruhe bei dem Thema deiner Heirat sind, lieber Alfred,« sagte er, »so mag zugleich eine Frage erledigt werden, welche nahe liegt. Was haben deine Mutter und ich von deiner Heirat zu erwarten?«
»Das verstehe ich nicht,« erwiderte Falkner verwundert.
»Nun wohl, ich meine, welch' materielle Vorteile können und sollen uns daraus ersprießen?«
»Materielle Vorteile?« wiederholte Falkner. »Offen gesagt sehe ich für euch als Kollektivbegriff keine, doch werde ich nach wie vor bemüht sein, aus meinen Überschüssen meiner Mutter diejenige Hilfe zu gewähren, welche ich eben gewähren kann.«
Frau Ruß reichte ihrem Sohne die Hand und wollte etwas sagen, doch ein vielsagendes »Hm!« ihres Gatten hielt das freundliche und dankbare Wort auf der Stelle zurück.
»Was soll das heißen?« fragte Falkner gereizt.
»Ich wollte damit nur sagen, daß wir natürlich keine Rothschild-artigen Revenüen von dir verlangen,« erwiderte Ruß sehr gelassen, »denn wir wissen ja, daß die Apanage deiner Braut durch ihre unebenbürtige Heirat erlischt und ihr mütterliches Vermögen nur eine unantastbare Leibrente bildet. Ich habe also auch nicht von pekuniären Vorteilen gesprochen, sondern von materiellen.«
»Jedenfalls bist du sehr gut informiert,« sagte Falkner sarkastisch.
»Nicht wahr?« nickte Doktor Ruß seinem Stiefsohne so harmlos zu, daß diesem das Blut in die Stirn stieg und er alle Mühe hatte, eine heftige Antwort zurückzudrängen.
»Ich bitte also um eine Erklärung, was du unter materiellen Vorteilen von meiner Heirat verstehst,« rief er ungeduldig, »du mußt meiner schweren Begriffsfähigkeit hierin etwas zu Hilfe kommen.« –
»Gern, lieber Alfred,« entgegnete Ruß sehr sanft und freundlich. »Ich meine nämlich, es dürfte jetzt die Zeit gekommen sein, wo du statt deiner vielgerühmten Hilfen aus deinen Überschüssen –«
Nun sprang aber Falkner empor im hellen Zorn.
»Wie kannst du wagen, von ›vielgerühmten‹ Hilfen zu sprechen,« sagte er leise mit flammendem Auge. »Ich habe das Wenige, was ich meiner Mutter geben konnte, in meinem Herzen stets um seiner Wenigkeit willen beklagt, aber ich war nie solch' ein Lump, mich dessen zu rühmen, was ich gab; denn wer sich erfüllbarer Pflichten rühmt, ist nichts als ein alberner Selbstanbeter und ein verächtlicher Renommist obendrein!«
Doktor Ruß sah ein, daß er zu weit gegangen war und seinen Stiefsohn unnötig gereizt hatte. Er nickte ihm deshalb lächelnd zu und klatschte leise Beifall.
»Bravo! Bravo!« rief er, »Adelheid, geliebtes Weib, sieh' deinen Sohn, dein Fleisch und Blut! In welch' schönen Zorn er für dich geraten kann –« –
»Was soll das wieder?« unterbrach ihn Falkner drohend. Aber Doktor Ruß war nicht so leicht einzuschüchtern.
»Nein, du hast mich nicht recht verstanden, oder ich, vielmehr, habe mich nicht richtig ausgedrückt,« sagte er mit seinem gewinnendsten Ton. »Ich meinte vielgerühmt in dem Sinne, als deine Mutter, und ich mit ihr, es in der That stets viel gerühmt haben, daß du von dem Deinen trotz den großen Ansprüchen, welche deine Carriere, dein Name und die große Stadt an dich stellten, immer noch für deine Mutter übrig hattest –«
»Daran ist auch von dir nichts zu rühmen,« unterbrach ihn Falkner kurz und scharf, denn der schnelle Blick, den Frau Ruß auf ihren Mann geworfen hatte, war ihm nicht entgangen und hatte ihm gesagt, daß sein Stiefvater das böse Wort nur zu seinen Gunsten gedreht, und seine Fertigkeit in dieser Kunst abermals bewiesen hatte.
»Doch! doch!« widersprach der Unerschütterliche auf das Süßeste, und fuhr dann fort: »Um also endlich auf des Pudels Kern zu kommen, so hatte ich sagen wollen, daß deine Mutter und ich erwarten, daß es dir nunmehr gelingen wird durch deinen unleugbaren Einfluß am Hofe des Herzogs, deines Schwiegervaters, für mich eine Stellung zu erwirken, welche deine Mutter auf eine Stufe stellt, die für dich nichts Peinliches hat. Der meinem Namen mangelnde Adel dürfte dann auch wohl so schwer nicht zu beschaffen sein.«
Falkner, welcher stehen geblieben war, ergriff jetzt seinen Hut.
»Ich fürchte, dich enttäuschen zu müssen,« sagte er, sich vollständig bezwingend. »Ich bin so ganz und gar nicht der Mann dazu, der durch eine nähere Verbindung mit den Großen dieser Erde, diese sogleich dazu benutzt, um seine Verwandten zu poussieren. Das war ein Geschäft für die Pompadour und ihresgleichen. Deine eigenen Bemühungen um eine Professur werden da jedenfalls erfolgreicher sein. Du brauchst dann auch den Adel nicht, dessen in meinen Augen ein gebildeter Mensch überhaupt nicht bedarf, um vorwärts zu kommen. Und bis ich soweit bin, das heißt bis ich in der Intimität mit den neuen Verwandten soweit gedeihe, daß ich eine derartige Bitte aussprechen würde – bis dahin bist du längst in Amt und Würden.«
»Natürlich,« erwiderte Doktor Ruß seltsam zerstreut.
»Dies ist meine persönliche Ansicht davon,« fuhr Falkner fort, »aber es kommt noch ein anderer Faktor dazu, der deinem Wunsche entgegentritt. Es ist dies die wahrscheinliche Resignation des Herzogs und seines Hauses und die Einverleibung Nordlands in die Reichslande.«
»Ah –!« machte Doktor Ruß mit demselben unsteten Blick wie zuvor.
»Ich bitte euch, diese Mitteilung aber geheim zu halten,« schloß Falkner, verwundert, daß die Zunge seines Schwiegervaters keinen scharf zugespitzten Pfeil auf seine Weigerung hatte. »Ich habe,« setzte er hinzu, »nur deshalb davon gesprochen und dir gegenüber Gebrauch von dieser nur in Umrissen skizzierten Idee gemacht, um den Beweis zu liefern, daß Egoismus und böser Wille mich nicht leitet.«
»Gewiß! Gewiß!« meinte Doktor Ruß, wie wenn jemand, sehr beschäftigt, ein fragendes Kind abfertigen will.
»Und nun adieu, liebe Mutter,« sagte Falkner, sich zu Frau Ruß wendend. »Ich reise morgen früh ab und habe heut' noch mehreres zu thun.«
»Adieu, lieber Junge,« erwiderte sie in ihrer kalten, kurzen Weise. »Es ist noch früh am Abend – mußt du schon gehen?«
»Ich wollte Dolores noch Lebewohl sagen, Mutter.«
»Dolores? Ah, da wirst du heut' nicht angenommen,« fiel Doktor Ruß mit der altgewohnten Aufmerksamkeit ein. »Der Erbprinz ist oben.«
»Darin sehe ich noch keinen Grund, nicht auch angenommen zu werden,« erwiderte Falkner, der einen Moment gestutzt hatte.
Nun berichtete Ruß mit leisem, bedeutsamem Lachen, wie er vorhin an der Treppe kurz und bündig von dem Erbprinzen »entlassen« worden war, und er legte in seinen Bericht eine Bedeutung, die er ja, wie wir wissen, in der That erraten hatte, welche er aber kaum berechtigt war, hereinzulegen.
»Nun, so richtet ihr Dolores wohl meine Empfehlungen aus,« meinte Falkner gleichgültig, küßte seiner Mutter die Hand, berührte die Fingerspitzen des Doktor Ruß und ging durch die große Lindenallee der Grenze von Monrepos zu. Sein Stiefvater aber raffte auch mit leisem Singen seine Siebensachen zusammen, warf seiner Frau eine Kußhand zu und verschwand im Hause, um es alsbald von einer anderen Seite aus wieder zu verlassen, als er von einem Diener erfuhr, daß der Erbprinz schon fort und »Baroneß« in den Park gegangen sei.
Falkner änderte inzwischen auch seine Absicht, direkt nach Monrepos zurückzukehren. Das stattgehabte Gespräch mit seinem Stiefvater hatte ihn, wie alle derartigen Gespräche mit demselben, geärgert und erregt, mehr aber noch gab ihm die nach Ruß' Version wichtige Anwesenheit des Erbprinzen im Falkenhofe zu denken. Was hatte dieser mit Dolores zu besprechen, daß er keine Zeugen zu haben wünschte? Grübelnd und seltsam erregt, ging er vorwärts, bog in dem Gefühl, sein Gleichgewicht erst durch einen Spaziergang wiederherstellen zu müssen, in einen Seitengang ein und schritt die denselben mehrfach kreuzenden, schattigen Laubsteige benutzend, planlos weiter. Am Abend war eine erfrischende Brise von Osten hergekommen, und die Sonne sank in wunderbar leuchtendem Glanz im Westen hinab. Da begann im Dorfe die Abendglocke zu läuten – weich und weihevoll schwebten die gedämpften Glockentöne durch die Luft, und Falkner nahm unwillkürlich den Hut vom Kopfe und blieb lauschend stehen. Er dachte mit seltsam wehmütigem Gefühl der Zeit, da er noch zur Abendglocke den Angelus betete, bis die Welt ihren Staub über jenen frommen Brauch legte und er ihn verlor. Denn man hört ja im Geräusch der Welt und der großen Städte keine Glocken mehr läuten, und wer ihren Klang nicht im Herzen trägt, den rufen sie bald nicht mehr zu dem geweihten Ort, dem sie dienen – – –
Und wie er stand und darüber nachsann, wie man so leicht vergißt, was nicht von dieser Welt ist, da tönte durch den Glockenklang eine wunderschöne, volle, weiche Frauenstimme zu ihm herüber –
»Dolores!« dachte er und eilte vorwärts. Mit wenigen Schritten war er am Hexenloch, an dessen malerischem Ufer sie stand. Im Hintergrunde flüsterten leis die uralten Blutbuchen. Sie hatte das Angesicht dem purpurroten Sonnenuntergange zugewendet, der durch eine Lichtung in den Bäumen auf die kaum bewegten Äste und auf das geheimnisvoll dunkle Wasser des Hexenloches leuchtende Tinten zauberte. Ihr wunderschönes Antlitz mit den dunkeln Augen, die ungeblendet hineinsahen in den Sonnenuntergang war goldrot beleuchtet.
So stand sie im weißen Kleide, Sonnenlicht in dem schimmernden Goldhaar, wie eine Elfe, seltsam überirdisch zu sehen, und sang ein Lied, dessen weiche Modulation, dessen wie von Schluchzen durchbebte Melodie wunderbar hineinpaßte in das stimmungsvolle Bild. Es war ein italienisches Lied, vielgesungen, weitbekannt, aber hier durchweht von hoher Künstlerschaft, von tiefstem Empfinden, das also hinausklang in den stillen, glockendurchzitterten Abend:
[1]: Nach dem Italienischen des L. M. Cognetti von der Verfasserin.
Und wie Falkner stand und dem Liede lauschte, ungesehen von der einsamen Sängerin, da fiel ihm die Zeichnung des Blattes ein, das dem Liede als Umschlag diente, und das er einst drüben in Monrepos gesehen –: vor der untergehenden Sonne, die auf die »träumenden Veilchen« herabblickt, zwei beschwingte Schatten, welche sich zum Kusse zusammenneigen – –
»Vorrei morir – vorrei morir« – verklang es wie ein schluchzender Hauch. »Dolores –!« und er stand neben ihr, plötzlich, unerwartet, aber sie erschrak nicht vor seinem schnellen Kommen, sondern sah durch die Lichtung hinein in das Abendsonnengold, als wäre sie allein, wie vorher.
Und es wurde still unter den Blutbuchen am Hexenloch wie in einer Kirche, nur seine tiefen, schweren Atemzüge waren zu hören.
»Vorrei morir –« wiederholte er dann leise. »Warum nur möchten Sie sterben, Dolores?«
Da sah sie ihn an, wortlos, aber er schien keiner anderen Antwort zu bedürfen.
»Ich war im Falkenhof und wollte Ihnen Lebewohl sagen, denn ich reise morgen ab,« fuhr er nach einer Pause fort. »Und Prinzeß Alexandra läßt Ihnen sagen, daß Sie zu meiner Hochzeit nach Nordland kommen sollen.«
»Ja,« sagte Dolores mechanisch. Es war ihr erstes Wort.
»Ja,« wiederholte er. »Leben Sie wohl!« Und er reichte ihr die Hand. Als sie die ihre hineinlegte, ohne Druck, wie apathisch, da sprach sie mit seltsam klingender Stimme: »Sie kommen dann vielleicht auch zu meiner Hochzeit.«
Da prallte er zurück, wie getroffen.
»Der Erbprinz!« fuhr es ihm durch den Sinn, daß er den Namen laut aussprach. Sie nickte bejahend.
»Und Sie haben ›Ja‹ gesagt,« fragte er.
»Noch nicht,« erwiderte sie, »aber ich werde es wohl thun. Es ist das beste. Denn er ist ein guter, edler Mensch.«
»Und trotzdem singen Sie's in die Welt hinaus, daß Sie sterben möchten?« fragte er wieder, und als sie darauf keine Antwort hatte, fuhr er, dicht an sie herantretend, fort: »Wenn ich das noch sagen wollte, ich, Dolores! Ich, der ich ein namenloses Glück in blindem Wahn, in unsinniger Verblendung von mir stieß, eine königliche Lilie in den Staub trat und dafür ein Flatterröslein erwarb! Und dieses Glück war mir so nahe gelegt, und, meinen Sie nicht, daß es mir gelungen wäre, es zu erwerben?«
Doch statt zu antworten, wendete sie das schöne Haupt ab von ihm und sah wieder hinein in das Abendrot, das zu rosigen und violetten Tönen zu verblassen begann.
»Dolores,« sagte er leise, und sich zu ihr hinneigend, »Dolores, nur ein Wort sagen Sie mir! Hätte ich mein Glück erringen können, oder war es zu hoch für mich?«
»Zu hoch ist nichts für menschliches Wünschen,« antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und als er mit leisem Ausruf bis dicht vor sie hintrat, fuhr sie mit seltsamem Schwanken in der Stimme fort: »Aber jetzt ist es zu spät.«
»Zu spät!« wiederholte er stöhnend. »Nun denn, wenn es zu spät ist, so leben Sie wohl, Dolores!«
»Leben Sie wohl, Alfred,« kam es mit erstickter Stimme zurück.
»Nein,« sagte er heftig, »nein, so gehe ich nicht! Ich muß etwas mitnehmen für diese Reise durchs Leben, etwas, das mich stärkt, wonach mich hungert und dürstet zugleich. Sie müssen mich noch einmal ansehen –!«
Da wendete sie den ernsten, umschleierten Blick zu ihm zurück und sah ihm in die Augen, wortlos zwar, aber ein leises Rot stieg in ihre blassen Wangen dabei, und dann senkte sie das blonde Haupt und ein leises, unterdrücktes Schluchzen durchbebte ihren Körper.
Da legte Falkner seinen Arm um sie und zog sie an seine Brust, und so ruhte sie einen kurzen, seligen Augenblick lang.
»Dolores, ich liebe dich von ganzem Herzen,« flüsterte er zu ihr herab, »und nun weiß ich's, daß auch du mich liebst!«
»Ja,« antwortete sie einfach – was aber lag alles in diesem kurzen, schlichten »Ja.« Und dann machte sie sich frei aus seinen Armen. »Du mußt jetzt gehen,« sagte sie, »denn die Sonne ist untergegangen, und es ist spät geworden – zu spät!«
Da sagte er gehorsam: »Lebewohl,« doch ehe er ging, nahm er einen Zweig der Blutbuche, den sie vorhin abgebrochen hatte, aus ihrer Hand, küßte ihn, und sprach: »Laß es mir als einziges, was mir von dir bleiben darf –:
Und dann ging er, ohne sich umzuwenden, und sie sah ihm nach mit umflortem Blick, wie er der Lichtung zuschritt, dem verblassenden Abendrot entgegen, und seine Gestalt zeichnete sich hoch und gebietend ab auf dem goldenen Grunde des scheidenden Lichtes, denn unter den Bäumen war es ganz dunkel geworden, dunkler noch auf den trägen Wassern des Hexenloches, auf welchem weiße Nymphäen blühten wie verlorene Sterne am dunkel umwölkten Nachthimmel.
Und da war es ihr, als ob eine Hand sie herandrängte hart an den Rand des Tümpels, und ehe sie noch erschrocken Widerstand leisten oder sich umsehen konnte, verlor ihr Fuß den Halt, mit einem lauten Aufschrei stürzte sie das graue Ufer hinab und die schwarzen Wellen des Hexenloches schlugen über ihr zusammen – – – –
Doch einer hörte den Schrei – Falkner – und sich blitzschnell umwendend, sah er eben noch die weiße Gestalt in dem unheimlichen Tümpel verschwinden.
Entsetzt, aber ohne einen Moment zu verlieren, kehrte er im raschesten Laufe zurück, und wie er das Hexenloch erreichte, sah er sie wieder emportauchen in ihrem Kleide, gehoben von den, der Sage nach unergründlich tiefen Fluten, kämpfend, ringend mit dem nahen Tode.
Und er rang mit dem Allbesieger um dies junge Leben, lautlos in der tiefen Dämmerung suchte er dem Strudel, dessen Wirbeln und Gurgeln dem Hexenloche die einzige Bewegung gab, sein Opfer zu entreißen, und obwohl ein tüchtiger Schwimmer, mußte er doch hart und verzweifelt kämpfen, um sich mit seiner Last, die, sich an seinen Hals klammernd, jetzt das Bewußtsein verlor, aus dem verderblichen Wirbel herauszuarbeiten. Aber er siegte, trotz aller Schwierigkeiten, über den Tod, der seine Runen schon in das blasse, schöne Gesicht seines Opfers gezeichnet hatte, und atemlos, erschöpft fast, stieg er endlich ans Ufer und legte Dolores sanft auf den grünen Rasen. Im ersten Augenblick, als er nur undeutlich ihre Züge in dem schwachen, verglimmenden Lichte unter den hohen Bäumen unterscheiden konnte, und vergeblich auf einen Atemzug lauschte, da glaubte er sie tot, und ein wilder, unsäglicher Schmerz ergriff ihn, daß er ihren leblosen Körper wieder emporrichtete, an seine Brust ihr todblasses Haupt legte und ihre kalten Lippen küßte, als könnte er ihr mit seinem Atem wieder das entflohene Leben einhauchen. Und da that sie einen tiefen, tiefen Atemzug und schlug die Augen auf.
»O, du hast mich gerettet?!« murmelte sie matt, wie schlafbefangen. Doch nun ließ er sie nicht ruhen. Er rieb ihre kalten Hände, und strich ihr das nasse Haar aus der Stirn, und richtete sie endlich völlig empor.
»Fühlst du dich stark genug, nach dem Falkenhof zu gehen?« fragte er liebevoll, »sonst mußt du hier bleiben, bis ich Leute hole, die dich ins Haus tragen helfen, denn es ist ein weiter Weg für dich!«
»Nein, nein, nicht hierbleiben,« erwiderte sie, mit leisem Schauer hinüberblickend nach dem Hexenloch, das wieder ruhig und unbewegt dalag, als hätte ein Mensch nicht eben noch in ihm um sein Leben gekämpft und gerungen. »Ich bin ganz stark und erholt und kann sehr gut gehen –«
Aber es ging doch noch ein wenig schwach und matt, woran die nassen Kleider viel schuld hatten, die Nervenerschütterung und die Erschöpfung aber noch mehr. Falkner stützte und trug sie halb, und so gingen sie langsam auf dem kürzesten Wege nach dem Falkenhofe zurück, und wenn sie, blasser und blasser werdend, einhielt im Gehen, da legte er sanft ihren Kopf an seine Schulter und strich ihr ebenso sanft über Stirn und Haar.
»Warum bin ich nicht lieber gestorben?« fragte sie einmal und faltete die Hände.
»Es hing an einem Haare!« erwiderte er ernst. »Aber es scheint, du sollst noch leben!«
Und langsam weiterschreitend, fragte er sie, wie es gekommen, denn im ersten jähen Schrecken hatte er geglaubt, sie habe selbst den Tod gesucht.
»O nein,« erwiderte sie stolz, »Selbstmord ist eine Feigheit, und ich habe sogar den Mut zum Leben.«
»Daran erkenn' ich meine stolze Dolores,« sagte er bewundernd, und als sie mit einem halben Lächeln zu ihm emporsah mit ihren großen, dunkeln Augen, die jetzt einen so ganz anderen, weichen Ausdruck hatten, da setzte er hinzu: »Denn die stolze Dolores war bewunderungswürdig und schön – die demütige Dolores aber ist noch tausendmal schöner.«
Da senkte sie, matt errötend, den Blick wieder zu Boden.
»Nein,« sagte sie nach einer Pause, »nein, es war nicht mein Wille, das Hexenloch zu meinem Grabe zu machen. Ich weiß auch nicht mehr, wie es kam – ich muß durch einen unbedachten Schritt ausgeglitten sein, und wenn es nicht einfach unmöglich wäre, es zu behaupten, so würde ich sagen, ich hatte das Gefühl, als hätte mich irgend etwas hinabgestoßen.«
»Vielleicht hat das plötzliche Ausgleiten und die damit verbundene Erschütterung das Gefühl erzeugt,« meinte er.
»So wird, so muß es sein,« sagte sie matt.
Endlich kamen sie zum Falkenhof, der im matten Dämmerlicht, im letzten Schimmer des geschiedenen Tages dalag, ruhig und friedlich, und großartig. Vor der Terrasse unten stand Doktor Ruß und schnitt mit seinem Taschenmesser welke Blätter von einem Rosenbaum, doch schien er die Schwüle des zur Rüste gegangenen Tages noch nicht überwunden zu haben, denn er mußte sein Geschäft oft unterbrechen, um seine Stirn mit dem Taschentuch zu trocknen, ja der sonst so kühle, blasse Mann war rot und erhitzt, als wäre er überrasch gegangen. Da er mit dem Rücken gegen den Park stand, so sah er das Paar auch nicht, das über das weiche bowling-green quer geschritten kam, und wandte sich erst um, als er die Stimme seines Stiefsohnes hörte, der Dolores eben sagte, daß er sie bis nach oben führen würde. Überrascht, Falkner heut' Abend nochmals hier zu sehen, wandte Doktor Ruß sich um, und fuhr bei dem Anblick der totenblassen, von ihren schweren, nassen Kleidern umhüllten Dolores so heftig zurück, daß ihm das Messer abglitt und tief in seine Hand fuhr.
»Herr des Himmels, was ist geschehen?« preßte er, blasser als Dolores selbst, hervor.
Doch diese lächelte. »Ich habe die Hexenprobe im Hexenloch bestanden,« sagte sie scherzend. »Das heißt,« fuhr sie sich verbessernd fort, »ich habe bewiesen, daß ich keine Hexe bin, denn ich wäre entschieden untergesunken, wenn Alfred mich nicht herausgeholt hätte, was ihm schwer genug gefallen ist.«
»Aber, um alles in der Welt, wie kam es denn, daß Sie in den gefährlichen Tümpel fielen?« forschte Doktor Ruß weiter, das Taschentuch um seine blutende Hand wickelnd.
»Mir war's, als hätte mich jemand, der nicht da war, hineingestoßen,« erwiderte sie, immer im scherzenden Tone, »aber das ist nur die sensationelle Lesart – die richtige ist leider, daß ich einfach ausgeglitten bin und das Gleichgewicht verloren habe, was einem zuweilen passieren soll,« fügte sie mit einem matten Abglanz früherer Schelmerei hinzu.
»Du bist dem sicheren Tode nur durch den Umstand entronnen, daß ich noch nahe genug war, deinen Schrei zu hören und zu Hilfe zu eilen,« sagte Falkner ernst. »Aber zu Erklärungen ist jetzt keine Zeit, denn vor allem mußt du die Kleider wechseln und sofort zur Ruhe gehen, damit das Nachspiel dieses Falles nicht tragischer endet, als dieser selbst.«
»Gewiß – so schnell wie möglich zu Bette, liebe Dolores,« redete nun Doktor Ruß auch zu; »doch auch du, Alfred, mußt dich hier umkleiden. Ich gehe, Ihnen aus meiner Apotheke ein Vademekum gegen Erkältung zu holen!« – Damit eilte er hinein, und Falkner führte Dolores ins Haus und bis vor ihre Zimmer. Dort wollte sie ihm danken, aber er ließ es nicht zu.
»Daß deine Rettung mir gelang, war ja keine Heldenthat, sondern barer Egoismus,« meinte er, und verließ sie so schnell, daß sie ihm eben nur noch ein halb ersticktes »Lebewohl« zurufen konnte.
In Kleidern von Doktor Ruß, die ihm zur Not paßten, langte Falkner erst spät in Monrepos an, begrüßt von besorgten Fragen seines späten Kommens wegen, das man natürlich einem besonderen Ereignis zuschrieb. Nur Prinzeß Lolo, welche sich in Zorn und Ungeduld über das lange, unentschuldigte Ausbleiben ihres Verlobten in Wein- und Schreikrämpfe versetzt hatte, wollte von triftigen Gründen nichts wissen, und beruhigte sich erst, als Falkner nach diversen, sehr geduldigen Versuchen, sie zur Vernunft zu bringen, sich kurz auf dem Absatz umdrehte und das Zimmer verlassen wollte. Da hörte das Schluchzen und Schreien wie mit einem Zauberschlage auf, und derselbe Mund, der eben noch verzerrt und zuckend geschrieen hatte, wie ein eigensinniges Kind, er lachte hell auf und fragte:
»Aber wie siehst du denn aus? Dein Rock schlägt ja auf dem Rücken eine Wasserfalte.«
»Weinen und Lachen steckt in einem Sacke,« murmelte der Herzog, dessen Autorität sich diesem Kinde gegenüber wieder als machtlos bewiesen, während die Bitten der Prinzeß Alexandra um Mäßigung die Sache entschieden verschlimmert hatte.
Falkner wandte sich auf die Anrede seiner Braut um, heißen Zorn im Antlitz, aber äußerlich sehr ruhig und beherrscht.
»Ich werde dir den Rock, der einen so wohlthätigen Einfluß auf deine Stimmung hat, schenken,« sagte er nicht ohne Schärfe, welche dem Erbprinzen, den das Benehmen seiner Schwester unsäglich reizte und empörte, viel zu schwach und »bräutigamhaft« erschien. »Vielleicht,« fuhr er nicht ohne Galgenhumor fort, »vielleicht ist die Wasserfalte eine natürliche Folge davon, daß ein Sprung ins Wasser mein spätes Kommen verschuldet hat.«
Und nun berichtete er kurz von dem Unfall, der Dolores betroffen, bei größter Anteilnahme der herzoglichen Familie, welche seinem von ihm nur flüchtig berührten Rettungswerke die wärmste Bewunderung spendete.
»Da hättest du denn bei dem Herausfischen deiner Cousine selbst ertrinken können?« fragte Prinzeß Lolo, welche bis dahin mit großen Augen zugehört.
»Es gehört ein harter Kampf dazu, dort das eigene Leben zu retten, geschweige denn das anderer,« sagte der Erbprinz, welchen die Gefahr, in welcher Dolores geschwebt, aufs Tiefste erschüttert hatte.
»Dann war es schlecht von dir, hinein zu springen,« rief Prinzeß Lolo außer sich, »du hast kein Recht dazu, dich für andere in Gefahr zu begeben, du gehörst mir!«
»Lolo!« mahnte Prinzeß Alexandra empört, »vergiß nicht, was der Dichter sagt:
Und Falkner hat sich als ›ein braver Mann‹ gezeigt! Muß dich das nicht mit Stolz erfüllen? Die einzige Entschuldigung für dich ist, daß dieser empörende Egoismus nur ein Ausbruch deiner nachträglichen und gerechtfertigten Angst um sein Leben war!«
»Ratteltatteltattel!« äffte die kleine Durchlaucht blitzenden Auges ihrer Schwester nach. »Was ihr nicht immer über mir zu meistern habt! Ich habe mir gar nichts anderes gedacht, als ich gesagt habe, und bleibe dabei, daß Alfred gar nicht das Recht hat, sich in Gefahr zu begeben. Was hast du überhaupt mit Dolores Falkner abends am Hexenloch zu thun?« setzte sie eifersüchtig hinzu.
Falkner wollte diesen unbewußt gerechtfertigten Ausbruch mit Stillschweigen übergehen und unbeantwortet lassen, aber ein forschender Blick des Erbprinzen schien ihm dieselbe Frage vorzulegen. Er antwortete daher, was die reine Wahrheit war:
»Ich wollte auf dem Wege über das Hexenloch nach Monrepos zurückkehren und traf sie dort an. Der Unfall ereignete sich erst, als ich schon im Weitergehen war – glücklicherweise nicht weit genug, um noch helfen zu können.«
»Glücklicherweise!« höhnte Prinzeß Lolo mit so eigenem Ausdruck, daß Falkner auffuhr, sich aber beherrschte und von dem Herzog die Erlaubnis ausbat, sich zurückziehen zu dürfen, da das lange Tragen der nassen Kleider ihm ein gewisses Gefühl des Unbehagens verursacht habe. Als er seiner Verlobten aber Gute Nacht sagte, hatte diese schon die Reue erfaßt.
»Sei nicht böse,« flüsterte sie, »es war ja nur, weil ich eifersüchtig auf dich bin! Ich werde mir heut' Nacht noch die Augen ausweinen in dem Gedanken an die Gefahr, in der du geschwebt – und weil ich dich geärgert habe. Aber du darfst wirklich nicht böse sein!«
Er küßte ihr die kleine, rosige Hand und ging – schuldbewußt, elend und glücklich zugleich, denn er war sich einer Untreue gegen seine Verlobte bewußt, welche nur strengste Buße, absolutes, unbedingtes Entsagen zu sühnen vermochte vor dem Richterstuhl seines eigenen unbeugsamen, strengen Gewissens, das selbst seinen Schmerz um ein verscherztes Glück und seinen Unwillen gegen die Ungezogenheiten seiner Braut nicht freisprechen wollte. Und was er sich der Stimme seines Gewissens gegenüber heut' Abend gelobte, er wußte, er würde es halten, und er wußte, daß Dolores es achten würde.
Die herzogliche Familie schickte am selben Abend noch nach dem Falkenhof einen Boten, der sich nach dem Befinden der Baroneß erkundigen sollte und die Nachricht zurückbrachte, daß sie ruhig und fest schlafe.
Und in der That schlief Dolores ruhig und fest, erschöpft von ihrem Kampfe mit den schrecklichen Wassern, bewacht von der alten treuen Tereza, welche die Nacht nicht von dem Bette der Herrin wich. Diese aber träumte, sie flöge durch einen weiten, weiten Raum, unten aber stand Falkner mit ausgebreiteten Armen sie aufzufangen, doch ein Windstoß riß sie dahin, bis sie in den Wolken verschwand und nichts mehr sah. Plötzlich aber zerrissen die Wolken wie ein Vorhang, und einer Laterna magica gleich zog die Scene am Hexenloch noch einmal an ihr vorüber, nur anders in einzelnen Dingen, und wie sie das Wasser über sich zusammenschlagen sah auf dem Bilde in den Wolken, da wachte sie auf und wußte, sie hatte das schon einmal geträumt – –
Geträumt und erlebt?
Doch ihr Geist war allzu schlafbefangen, um darüber grübeln zu können, und als sie die Augen wieder schloß, glaubte sie es neben ihrem Bette rauschen zu hören wie von seidenen Kleidern, und als sie die Augen deshalb wieder mühsam öffnete, sah sie die Ahnfrau Dolorosa über sich gebeugt.
»Das war der zweite Traum, den ich dir gezeigt,« meinte sie es flüstern zu hören. »Denk' an die beiden anderen Traumbilder und hüte dich!«
Da fuhr sie hoch empor aus ihren Kissen – es war niemand zu sehen.
»Tereza, war jemand hier?« fragte sie die sich besorgt über sie beugende Dienerin.
»Verzeihe, Herrin – ich war eingeschlafen,« sagte diese, »da hat mir geträumt, es kam eine schöne, fremdartig gekleidete Dame herein und ging an dein Bett, und ich hörte sie mit dir flüstern. Und wenn es nicht ein Traum sein müßte, weil doch niemand hier ist, so würde ich schwören, ich hätte sie mit eigenen Augen gesehen!«
»Es war doch nur ein Traum,« dachte Dolores und schlief wieder ein.
***
Doch noch ein anderer hatte im Falkenhof unruhige Träume – das war der Doktor Ruß, und wenn er auch dabei fast ununterbrochen schlief, so störte er doch seine Frau durch sein lautes Sprechen im Schlafe, und ihre Müdigkeit wich vollends, als sie ihren Gatten öfters den Namen »Dolores« aussprechen hörte. Wilde, wahnsinnige Eifersucht ergriff das Herz der alternden Frau, und mit der Freude der Selbstqual, mit dem Verlangen jener Leidenschaft, »welche mit Eifer sucht, was Leiden schafft,« opferte sie gern den eigenen Schlaf, um aus den abgerissenen Worten und Sätzen ihres sich unruhig hin- und herwerfenden Mannes einen Zusammenhang herauszufinden, aus dem sie mit wilder Freude neue Qualen herausdüfteln konnte für ihr altes Herz, das in seiner eisigen Hülle in dem einen Punkt schlug wie vor dreißig Jahren, als der selige Freiherr von Falkner, ihr erster Gatte, ihr noch Grund gab zur Eifersucht.
Aber die Ausbeute dieser Nacht war nur gering, denn alles, was sie erlauschte und verstand, drehte sich unablässig um drei Dinge: »Dolores – zum zweitenmal gerettet – wer hätte gedacht, daß sie schreien würde. –« – – –
Daraus konnte sie sich keinen Vers machen.
***
Der Haushalt in Monrepos wurde einige Tage nach dem Unfall am Hexenloch aufgelöst, und die herzogliche Familie nahm herzlichen und warmen Abschied von Dolores, welche das Versprechen geben mußte, den Hochzeiten in Nordland beizuwohnen – ersterer als Verwandte des Bräutigams, letzterer als Freundin und Palastdame der künftigen Großherzogin Alexandra, welche ihr versprach, das Patent rechtzeitig von ihrem hohen Verlobten zu erbitten. Dolores war tief bewegt von soviel Güte und wahrhaft tiefe Herzensbildung verratendem Entgegenkommen, doch Prinzeß Alexandra, welche ihr etwas altjüngferliches Wesen mit einem Schlage abgeworfen zu haben schien, wollte davon nichts einräumen, sondern schob alles auf die glänzenden äußeren und inneren Eigenschaften der einst so angezweifelten Herrin vom Falkenhof, welche das Vorurteil so rasch besiegt und gründlich ausgerottet hatte, das man gegen sie gehegt. Und als dann Dolores versicherte, dieser Sieg sei der schönste ihres Lebens, und sie fühle sich so hoch erhoben und beglückt durch die Freundschaft der hohen Frau, daß es wahrlich nicht noch jenes vielbeneideten und heißersehnten Titels einer Palastdame bedürfe, um ihr das kostbare Gut dieser Freundschaft gewissermaßen auf dem Wege eines Gnadenaktes verbrieft und versiegelt zuzusichern, da sagte Prinzeß Alexandra mit jenem feinen Takt und jener seltenen Gabe, welche ein Geschenk wert macht durch die Absicht:
»Nein, liebe Dolores, Ihre Ernennung soll auch kein Gnadenakt sein, keine sogenannte Rehabilitierung als Lehnsherrin vom Falkenhof nach Ihrer Bühnenlaufbahn, am allerwenigsten aber ein leerer Schall – aber ich will's Ihnen bekennen, was ich dabei im Auge habe. Sie würden in Ihrer Bescheidenheit von selbst ja doch nicht kommen, mich aufzusuchen, Sie würden sogar eine Einladung ablehnen aus demselben Motiv – aber Sie müssen kommen, wenn Ihr Amt Sie ruft, bei besonderen Gelegenheiten Dienst zu thun bei mir. Sie sehen also, daß Ihr Patent nur mein Anrecht an Sie verbriefen und den schnödesten selbstsüchtigsten Motiven dienen soll.«
Was konnte Dolores thun dieser herzgewinnenden Art, zu geben, gegenüber? Sie konnte nur geben, was so geboten wurde, und daß es ein warmes Gefühl im eigenen Herzen verursachte, war eine ganz natürliche Folge.
Doch ehe es leer wurde und still in Monrepos, waren es drei Dinge, die ihr Schmerzen verursachten und Pein. Das erste war Falkners Abschied. Er war am Morgen nach dem Unfall abgereist, ohne sie gesehen zu haben, ohne Wort, ohne Botschaft. Sie mußte ihn dafür um so höher achten, er stieg darum in ihrer Bewunderung, und sie sagte sich auch, daß er als Ehrenmann nur so handeln durfte – aber es schmerzte sie darum doch, und sie war noch nicht so gestählt im Entsagen, daß es sie nicht mit Bitterkeit gegen ihr Schicksal und tiefstem Schmerz erfüllt hätte. Und dabei bäumte ihr Stolz sich in heftigen Selbstvorwürfen auf, daß es ihm gelungen war, ihr das Geständnis ihrer Liebe zu entreißen, gegen ihren festen Willen, der so stark gewesen, und ihr reines, thörichtes Herz so schwach. – – – – –
Und Pein machte ihr dann der Erbprinz, dessen Augen mit stummen Fragen auf sie gerichtet waren, dem sie jetzt nicht um alles in der Welt hätte sagen können, daß sie seine Werbung nicht annehmen könnte, weil eine hoffnungslose Liebe es ihr so bald schon unmöglich mache, einen Bund fürs Leben zu schließen. Und aus diesem Grunde mied sie es, mit ihm allein zu sein, und als er an einem der letzten Tage dennoch Gelegenheit fand, sie ohne Zeugen zu sprechen, das heißt ihr einfach zu sagen:
»Scheide ich mit oder ohne Hoffnung? Sagen Sie mir nur soviel!« – da rang sie stumm die Hände und erwiderte dann schmerzlich:
»Sie müssen mir Zeit lassen, Prinz! Ich bin ja noch nicht fertig mit mir selbst. Soll ein entscheidendes Wort aber heute noch fallen, so ist es ein ›Nein.‹«
»Ich werde warten,« hatte er einfach geantwortet.
Der dritte aber, der ihr Pein verursachte, war Keppler, welcher auch bis zum letzten Moment bleiben mußte, an seinen Porträts beider Prinzessinnen zu malen, um dieselben für die letzten Lasuren und Retouchen in seinem Atelier fertig zu stellen. Er kam, um von ihr Abschied zu nehmen, mit finsteren Zügen, wie ein Fremder zurückhaltend, so daß sie verwundert den Kopf schüttelte.
»Was habe ich Ihnen gethan?« fragte sie sanft und vorwurfsvoll.
»Mir? Nichts und alles,« erwiderte er, »aber Sie haben sich selbst am meisten getroffen.«
»Können Sie mir's immer noch nicht vergeben, daß ich zur Bühne nicht zurückkehren will?« sagte sie mit mattem Lächeln, aber freundlich.
»Das wäre der eine Punkt,« gab er nach einer Pause zu. »Ich hoffe aber, Sie haben Ihr Ultimatum darin noch nicht gesprochen.«
»Doch, lieber Freund, es ist entschieden.«
»Es ist eine himmelschreiende Sünde an der Kunst. Sie hätten berühmt werden können wie die Catalani und die Malibran und der erbleichende Glanz des Sternes einer Patti fing an, auf Sie überzugehen!« rief Keppler, aufrichtige Überzeugung im Tone.
»Man soll nach den Sternen nicht begehren,« erwiderte Dolores, mit einem Versuche zu scherzen.
»Sie thaten es einst – warum jetzt nicht mehr?« fragte er erregt.
Sie errötete tief und sah zur Seite.
»Ich kann nicht – diese Sterne haben ihren Reiz für mich verloren, ich begehre sie nicht mehr.«
Da seufzte er tief, fast ungeduldig.
»Was würden Sie von mir sagen, würfe ich eines Tages Pinsel und Palette ins Feuer und sagte: Ich kann nicht mehr malen.«
»Ich habe ja aber nur Schminke und Puderquasten und falschen Hermelin ins Feuer geworfen,« entgegnete Dolores. »Mir bleibt meine Musik für alle Zeit, und ich hoffe noch manches Lied zu ersinnen, das ›den Komponisten der Satanella‹ dem Herzen näher bringt – Sie wissen, solch' ein Lied, von dem Geibel sagt:
Hat dieser Ehrgeiz Grenzen, welche Ihnen weit genug dünken für mich? Muß ich denn durchaus dabei noch heut' den armen Lohengrin fragen, woher er kommt, morgen dem Troubadour versichern, daß ich unter Thränen lächle und übermorgen als Traviata an der Schwindsucht sterben?«
Keppler mußte unwillkürlich lächeln.
»Mit Frauen läßt sich nicht logisch streiten,« sagte er, »aber ich will ja auch nicht weiter forschen, denn Sie würden mir ja doch nicht sagen, was diese Wandlung in Ihnen bewirkt hat. Nur eine Frage muß ich thun: Haben Sie hier schon komponiert?«
»Im Anfang schrieb ich ein paar Lieder,« erwiderte sie zögernd.
»Und seitdem nichts mehr?«
»Nichts.«
»O, was hat dieser Falkenhof aus Ihnen gemacht!« rief er schmerzlich.
»Es hat doch jeder Mensch einmal im Jahre Ferien,« meinte Dolores, mit einem Versuche gleichgültig zu bleiben.
»Als ob Ihnen das Schaffen, das Denken in Tönen eine Arbeit wäre, die der Erholung bedürfte,« entgegnete Keppler finster. »Ihre Schwingen sind Ihnen eben salonfähig gestutzt worden, und man hat dabei leider auch die ganze Schwungkraft derselben gelähmt. Ist's nicht so?«
»Vielleicht,« nickte sie etwas kühl.
»Soweit wäre es nie gekommen, wenn Sie meine Frau hätten werden wollen,« rief er heftig.
»Vielleicht,« wiederholte sie, blaß werdend, aber eben so ruhig.
Da sprang er auf und trat dicht vor sie hin.
»Dolores,« sagte er mit stockendem Atem, »Dolores, noch können Ihre Schwingen wieder wachsen! Kehren Sie allem den Rücken, und werden Sie mein Weib – noch einmal bitte ich Sie darum, flehe ich Sie an!«
Jäh erblassend wandte sie sich ab – mußte auch das noch kommen, sie zu peinigen.
»Dolores, Ihre Antwort!« bat er leise vor Erregung.
Da wandte sie ihm wieder ihr schönes Antlitz zu.
»Nein,« sagte sie fest.
»Nein! Wieder nein!« rief er außer sich. »Dolores, heut' habe ich ein Recht zu fragen, warum Sie meine Hand, die Hand eines redlichen Menschen, der Sie so sehr liebt, zum zweitenmal zurückweisen. Zurückweisen mit einem kurzen, harten ›Nein,‹ unversüßt, unvergoldet durch die üblichen Versicherungen von Achtung und Freundschaft – hab' ich auch das verwirkt?«
»Warum quälen Sie mich so?« fragte sie schmerzlich.
»Quäle ich Sie? Nein, bei Gott, das will ich nicht, denn es ist nicht edel, Gleiches mit Gleichem zu vergelten,« erwiderte er bitter und ergriff seinen Hut. »Also leben Sie wohl! Aber eins müssen Sie wissen und sollen es bedenken: Es ist nicht gut, ein Herz von sich zu weisen, das wahrhaft liebt. Und wenn einst Ihr Herz gebrochen und Ihr Kranz verblüht ist, dann ist es zu spät, sich in die Arme der Kunst zu flüchten – sie wird nichts mehr haben für Sie als höchstens – Mittelmäßigkeit.«
Sie wollte ihm antworten: »Sie sind ein zu spät geborener Prophet, denn mein Herz ist gebrochen, mein Kranz ist verwelkt,« – aber sie schloß die Lippen wieder und schwieg, blaß und kalt, und als er in der Thür noch einmal umkehrte, voll Reue über seine harten Worte, und ihr zögernd die Hand reichte, da legte sie freilich die ihre hinein, aber sie war kalt und bewegungslos, wie eine Marmorhand.
Und als sie dann endlich allein war, da war auch ihre Kraft erschöpft, elend an Leib und Seele, sank sie zu Boden und rang die Hände und klagte ihr Schicksal an, das ihr die Liebe zweier redlicher Männer, die sie nicht wieder lieben konnte, bescherte, während sie den, den sie liebte mit der ersten Liebe ihres Herzens, nicht lieben durfte.
Derselbe Bahnzug, der die Bewohner von Monrepos fortführte in ihrem auf der Station deponierten Salonwagen, verabschiedet auf dem Perron von den Bewohnern von Falkenhof und Arnsdorf, welche den Scheidenden eine Überfülle von Rosen mitgaben auf den Weg – derselbe Zug brachte Dolores von der anderen Seite Gäste: Professor Balthasar und seine liebenswürdige Frau, welche mit ihrem Gatten, dem berühmten Historienmaler, siegreich in die Schranken trat durch ihre stimmungsvollen Landschaftsbilder, welche ihr Pinsel in Aquarell duftig und mit hoher Meisterschaft hinzauberte aufs Papier. Dolores begrüßte diese lieben Freunde mit aufrichtiger Freude, denn von dem nicht nur äußerlich, sondern von innen heraus liebenswürdigen und bedeutenden Paar, dessen Unterhaltungsgabe noch außerdem hervorragend war, hoffte sie viel für ihr Gemüt, dessen sonnige Eigenschaften die letzte Zeit so sehr getrübt. Doch ihre frühere Heiterkeit, Energie und Thatkraft wollten trotz der anziehenden Gesellschaft nicht zurückkehren, und mehr als einmal fragten sich der Professor und seine Frau: »Was ist mit ihr vorgegangen? Was hat sie getroffen? Von der geistsprühenden, harmlos heiteren, entzückenden Dolores, was ist geblieben? Ein schönes ernstes Mädchen, bei dessen Anblick man staunend fragt: Ist das die berückende Satanella von ehedem? Welche Wandlung!«
»Aber eine Wandlung zum Schöneren,« behauptete der Professor, und seine Frau riet mit echt weiblichem Instinkt auf eine unglückliche Liebe als auf des Wandels Ursache.
Und die Wochen schwanden dahin, und Balthasars verließen wieder den Falkenhof mit großem Bedauern, diesmal aber zusammen mit Dolores, welche nach Nordland fuhr – zu Alfred Falkners Hochzeit als Gast der Prinzessin Alexandra. Es war nur eine Leidensstation mehr auf dem Kreuzwege ihres Herzens, und nicht einmal die letzte, wie sie wußte. Aber sie haderte nicht mehr mit ihrem Schicksal, das ihr Ruhm und Besitz gewährt und ihr das Glück versagte, denn sie hieß nicht umsonst – Dolores, die Schmerzensreiche. Sie war ruhiger geworden mit der Zeit, und als sie nun dem schweren Tag seiner Hochzeit entgegenfuhr, da glaubte sie fest und ehrlich ganz und vollkommen entsagt und überwunden zu haben.
Doktor Ruß und seine Frau waren im Falkenhofe zurückgeblieben – sie hatten ihr Fernbleiben von der Hochzeit in Nordland durchgesetzt, und da sie ja erst im Herbst mit Dolores zusammen den Falkenhof verlassen sollten, so hüteten sie einstweilen das Haus. Die Anwesenheit des Balthasarschen Ehepaares hatte ihnen übrigens eine sehr angenehme Abwechslung geschaffen, unter welcher sogar Frau Ruß ein wenig aufthaute und weniger schroff schien wie früher, wohingegen Doktor Ruß und der Professor sich in vielen Dingen fanden und sich gegenseitig sehr ansprachen. Auch Schingas hatten in dieser Zeit gute Nachbarschaft gehalten, und soweit der heiße Sommer die Gräfin nicht im tiefsten Negligé in ihr Zimmer bannte in Gesellschaft ihrer Schlangen und ihres Zola, waren sie häufige Gäste im Falkenhof.
Dolores wurde in Nordland von einer herzoglichen Equipage abgeholt und in dem grandiosen Schlosse von Prinzeß Alexandra, welche ihr Zimmer neben ihren eigenen Appartements angewiesen hatte, empfangen. Und als sie bald nach ihrer Ankunft im kleinen Kreise zum Familienthee befohlen wurde, dem Falkner aber nicht beiwohnte, da sah sie, daß man das leichte, bürgerliche Gewand aus Monrepos vollkommen mit dem Hofkleide vertauscht hatte, welches ja an kleinen Höfen viel steifer ist, als an großen, hier aber freilich anmutender wurde die persönliche, schlichte, und herzgewinnende Weise seiner Träger. Prinzeß Lolo, welche heute Mittag eine Abschiedscour absolviert hatte, war übermütig und naseweis wie immer und machte den Damen und Herren jede Verbeugung, jede Antwort mit sehr viel Beobachtungs- und Nachahmungsgabe nach, nur daß sie eben alles ins Lächerliche zog und Dolores, wider Willen mitlachend, eigentlich froh war, daß Falkner nicht zugegen war, denn die amüsante Darstellung schien ihr etwas moquant und herzlos, und sie wußte, daß er für das Herunterziehen und Persiflieren von jedermann kein Verständnis hatte.
»Ich hätte schreien können vor Lachen, als all' diese Karikaturen an mir vorbeimarschierten in Gänsemarsch und jedes mir einen Kuß auf den rechten Handschuh applizierte,« schloß Prinzeß Lolo ihren Bericht. »Sascha, wenn du deine Cour hältst, dann rate ich dir, laß dir einen Blitzapparat in der Corsage deines Kleides anbringen und photographiere dir damit die schönsten Gestalten und Komplimente. Da ist ein alter General, der setzte sich einfach aufs Parkett vor mich hin, als er im Anmarschieren plötzlich parierte – er wird sich auch vor dich hinsetzen. Und dann die ganzen Landpomeranzen, die Komplimente machen als hätten sie einen Schuß in die Kniee bekommen, und über ihre großen Zehen stolpern! Ich habe in dieser Menagerie heut' nur den Grafen Schinga vermißt in seinem Schweinetreiberkostüm und meine künftige Schwiegermutter in ihrer altmodischen Faltentaille ohne Kragen, mit Scheulederscheiteln, Diamantringen auf dem Zeigefinger und ihrem ewigen Strickstrumpf!«
Nun war Frau Ruß Dolores gar nicht sympathisch, aber es war ihr noch nicht eingefallen, die starke, unmodern und nachlässig gekleidete, aber doch noch stattliche Frau lächerlich zu finden. Daß es aber von seiten der Braut ihres Sohnes geschah, berührte sie unsäglich unangenehm, und als gar bei den letzten Worten Falkner den Salon betrat, da errötete sie für die lose Zunge der Prinzeß, und der erschrockene, abbittende Blick, der jener zugekommen wäre, traf ihn aus Dolores' Augen, das Aufleuchten seiner Augen aber sagte ihr, daß er sie verstanden habe und ihr danke.
Die übrige Gesellschaft, bestehend aus der Familie, einigen wenigen zur Hochzeit erschienenen fürstlichen Verwandten, einigen hohen Hofchargen und dem Verlobten der Prinzeß Alexandra, welchem sie Dolores als ihre liebe Freundin und künftige Palastdame vorgestellt hatte, verfiel in peinliches Schweigen, als Falkner unter ihnen stand, ehe seine Braut kaum ihre Rede vollendet hatte. Er küßte derselben, nachdem er seine pflichtschuldigen Reverenzen gemacht, die Hand und sagte ihr, nur hörbar den Zunächststehenden:
»Es giebt eine Posse, in welcher ein unzufriedener Sohn die klassischen Worte spricht: ›Man kann nicht vorsichtig genug sein in der Wahl seiner Eltern.‹ Diese Weisheit läßt sich ja auch auf Schwiegereltern anwenden und zwar um so erfolgreicher, als man hier wirklich diese gerühmte Vorsicht zur Anwendung bringen kann.«
Prinzeß Lolo lachte.
»Ach was – ich heirate dich ja, nicht deine Mutter!«
»Eben darum sollte sie wohl besser außerhalb deiner Karikaturengalerie bleiben,« entgegnete er sehr ernst.
»Aha,« machte die Prinzeß böse, »darum nennt man den Abend vor der Hochzeit wohl den Polterabend, weil der Bräutigam schon das Recht zu haben glaubt, seiner Braut poltrige Reden zu halten!« – Sprach's und drehte sich auf dem Absatz um.
Dolores, welche ein Gespräch mit Falkner fürchtete und erhoffte, sah sich getäuscht, denn er fand oder suchte keine Gelegenheit mit ihr zu sprechen.
Auch am anderen, dem Hochzeitstage, wechselten sie nur wenige Worte. Das war nach der Trauung in der Schloßkapelle, deren Altar Ihre Durchlaucht die Prinzeß Eleonore von Nordland hoch erhobenen Hauptes, die Augen zwar nicht feucht vor innerer Bewegung über den Ernst des Augenblickes, sondern sehr munter leuchtend und lachend als Freifrau von Falkner verließ. Das Brautpaar nahm in einem Salon, bevor das Frühstück serviert wurde, die Glückwünsche der wenigen Anwesenden entgegen, und so mußte auch Dolores sich bezwingen, beiden ein Glück zu wünschen, das ihr nicht vergönnt war. Sie trat auf die kleine, reizende, spitzenumrieselte, atlasumrauschte Braut zu und reichte ihr die Hand.
»Glück auf, Cousine,« sagte sie. »Hie guet Falkner alleweg! Und,« setzte sie hinzu, ein Etui aus der Tasche ziehend, »was ich der Prinzeß von Nordland wohl kaum bieten durfte – die Verwandte bitte ich's freundlich anzunehmen.«
Die junge Frau nahm lächelnd das blaue Samtetui entgegen und öffnete es – da funkelte, leuchtete und blitzte auf weißem Kissen eine Brosche von Brillanten in Form einer graziös geschlungenen Schleife, welche eine Kaiserin geschmückt hätte, so groß waren die Steine, so rein ihr Wasser, so mächtig ihr Feuer, so reizend die Form der Fassung und so wahrhaft fürstlich die Größe des nach einer »Rokoko-Corsage« modellierten Schmuckes. Lolo Falkner stieß einen Schrei der Bewunderung aus, das verwöhnte Fürstenkind war geblendet. In ihrer stürmischen Art fiel sie der Geberin freudestrahlend um den Hals.
»Nein, wie reizend von Ihnen – von dir! Wir nennen uns doch jetzt ›du,‹ nicht wahr? Ich hab' es ja aber immer gesagt, du bist eine famose, urnette Rübe, Dolores! Nein, diese Diamanten! Selbstgewachsene, was?«
»Wenigstens bei mir in Brasilien teilweise selbstgefunden,« erwiderte Dolores amüsiert, als die weichen, zarten Arme sie freigaben und der kleine rosige Mund einen Moment still stand. Und während die Braut mit ihrem Schatz zu den anderen flog, um ihn zu zeigen und ihn bewundern zu lassen, stand Dolores neben Falkner, stumm, nach dem Worte suchend, das sie ihm sagen sollte.
»Ich wollte, ich hätte am heutigen Tage auch ein gutes Wort von dir mit auf den Weg nehmen können,« sprach er endlich leise.
Da sah sie auf zu ihm mit ihrem klaren, reinen Blick und reichte ihm die Hand.
»Ein Wort, Alfred?« wiederholte sie. »O, ein ganzes, langes Gebet für dein Glück, das hat Gott gehört!«
»Ich danke dir,« sagte er mit einem tiefen Atemzuge, »das wiegt den Wert deiner Gabe für meine – meine Frau so reichlich auf, weil es unschätzbar ist.«
Das waren die einzigen Worte, welche sie wechselten, denn nach dem Hochzeitsfrühstück reiste das junge Paar sogleich ab.
Prinzeß Alexandra wollte nichts von einer sofortigen Heimkehr Dolores' nach dem Falkenhofe wissen und behielt sie in Nordland zurück bis zu ihrer eigenen Vermählung, welche zehn Tage später mit großem Pomp und der ganzen Entwicklung fürstlicher Etikette stattfand. Als das Jawort am Altar gesprochen war, trat Dolores an die Seite der fürstlichen Braut, welche wunderschön, weil ganz verklärt, aussah, denn in ihrem Patent war sie zur Palastdame der Großherzogin Alexandra ernannt und übernahm mit dem Augenblicke des Ringwechsels auch alle Funktionen ihres Amtes. Daß aller Blicke sich dabei, wie vorher auch, auf sie richteten, war natürlich vermöge ihrer außergewöhnlich schönen Erscheinung, welche heute, umrauscht von der weißen, golddurchwirkten Courschleppe, zur vollsten Geltung kam, und was das on dit dabei von ihrem Reichtum, ihren Talenten und ihrer kurzen, siegreichen Künstlerlaufbahn sagte, glich schon einem ganzen Roman, da Frau Fama den Mund dabei recht voll nahm, und die gewohnheitsmäßigen bösen Zungen, welche natürlich »Allerlei« wußten, wurden einfach überstimmt und mußten sich auf eine günstigere Gelegenheit vertrösten, wo sie ihren Tropfen Gift loswerden konnten, der, wenn er auch »leider« keine Aussicht hatte, den moralischen Tod der Begeiferten zu verursachen, doch mindestens einen Flecken oder eine Narbe hinterlassen mußte. Ja, ja –
Jedenfalls war die demonstrative Freundschaft der nunmehrigen Großherzogin für die junge, interessante Erbherrin vom Falkenhof ein Schild, daran viele der giftigen Pfeile abprallten, denn die Welt verträgt es nun einmal nicht, wenn Schönheit, Reichtum und Genie sich in einer Person, besonders einer weiblichen, vereinen. Und es waren auch vielleicht einige darunter, welche sich einer sehr festen, entschiedenen und unzweideutigen Ablehnung ihrer Huldigungen aus der Zeit erinnerten, da Dolores als Doña Falconieros die Satanella sang – – nun war die Gelegenheit vielleicht gekommen, Rache zu nehmen für diese Abweisungen beleidigender Huldigungen, denen eine schutzlose Frau so leicht ausgesetzt ist. Aber wie gesagt, die Stimmen der Verleumdung und hämischer, vieldeutiger Worte verhallten in dem Chor der Bewunderung für die »Brasilianerin,« deren natürliche, ungemachte Würde, deren reiner, stolzer Blick ihrem Siege auf dem glatten Parkett des Hofes einen sehr soliden Hintergrund verlieh, durch das »noli me tangere,« welches daraus sprach.
Der Hochzeit wohnte natürlich auch der Freiherr von Falkner mit seiner jungen Frau bei, welche in Rosa mit Silber, die Brillantschleife von Dolores an der Brust, rosa Federn und Brillantsterne im Haar, einen Watteau entzückt hätte durch ihre jugendfrischen Reize, welche sie einem Figürchen von Sèvresbiskuit ähnlich machte, und deren sie sich auch voll bewußt war.
Das sah Falkner, und er sah sie auch mit ihrer Jugendschöne kokettieren. Sein Blick suchte unwillkürlich Dolores, auf welche er einst, befangen von Vorurteilen, als auf eine »Komödiantin« verächtlich herabsehen zu müssen geglaubt und deren von jeder Gefallsucht freies, natürliches Auftreten er nicht nur bemerken und anerkennen, sondern auch bewundern mußte. Da war nicht ein Hauch von Koketterie in ihrem Wesen und war es auch auf der Bühne nicht gewesen, weil es ihrem Charakter fern lag, weil ihr Stolz sich dagegen sträubte, die Bewunderung der Welt durch künstliches Hervorheben und Aufmerksammachen auf ihre Schönheit zu provozieren, aber sie war sich auch bewußt, daß ihre Schönheit siegend war ohne diese Mittel und durch das Unbewußte, Keusche, mit dem sie sich gab. Aber der Blick, mit welchem er hinübersah nach ihr, wie sie im weißen Spitzenkleide, die schimmernde, golddurchwirkte Courschleppe zu ihren Füßen, um den wunderschönen, alabasterweißen Hals eine einzige, schlichte Rivière von Diamanten, einen Halbmond von Diamanten im leuchtenden, wie poliertes Kupfer glänzenden, hochaufgesteckten Haar, am Altar stand neben der knieenden Gestalt der hohen Braut, dieser Blick wurde aufgefangen von der jungen Freifrau und erweckte sofort ein heißes Gefühl von Eifersucht in ihrem jungen Herzen. Und als dann die Trauung vorbei war und alles zur Cour sich begab, da trat sie dicht an ihn heran.
»Du!« sagte sie mit halbem Lachen, aber dem Weinen doch näher, »du, ich sage dir, kokettiere nicht mit der schönen Cousine – c'est défendu!«
»Das weiß ich, kleine Weisheit,« erwiderte er freundlich, »aber selbst wenn ich wollte – zum Kokettieren gehören meistens zwei!«
»Ja, ist wahr, du bist ihr riesig gleichgültig,« lachte Lolo Falkner nun wirklich. »Natürlich schmeichelt das deiner Eitelkeit nicht, denn ihr Männer seid doch nun einmal reichlich so eitel wie wir!«
»Auch wie du?« fragte er, auf ihren Ton eingehend.
»O, viel eitler,« protestierte sie. »Aber,« setzte sie flüsternd hinzu, alle Dämonen der Schelmerei und Schadenfreude in den lachenden Augen, »aber, wenn du's etwa nicht glauben willst, wie entsetzlich gleichgültig du ihr bist, so will ich dir ein Geheimnis verraten. Ich habe mir nämlich damals in Monrepos eingebildet, daß du Dolores wegen dem Testament des buckligen Freiherrn heiraten würdest, und habe sie deswegen interpelliert.«
»O, Lolo!« seufzte Falkner auf seinen taktlosen kleinen Tollkopf von Frau herab.
»Ja, da hat sie dich mir mit einer Bereitwilligkeit abgetreten, welche stupend war, sage ich dir. Ergo – du bist ihr ganz Wurscht!« –
Und mit dieser neuesten Errungenschaft zur Vervollständigung ihres Sprachlexikons tanzte sie triumphierend davon. Falkner aber fiel eine Binde von den Augen, er sah klarer in die Vergangenheit und eines der Rätsel dieses stolzen Herzens war gelöst.
»Arme Dolores!«
Im übrigen traten sie sich auch bei dieser Gelegenheit nicht näher, als beim zufälligen Begegnen zur Aufrechterhaltung der äußeren Formen nötig war, und die Welt, welche alles beobachtet, alles sieht, sagte:
»Er kann es nicht verwinden und ihr nicht vergeben, daß nicht er, sondern sie den Falkenhof bekommen hat.«
Und Fragern, welche die einfachste Lösung dieses Erbfolgekriegs in einer Vermählung der Erbin mit dem Enterbten sahen, wurde geheimnisvoll geantwortet:
»Ja sehen Sie - er hat sie nicht gemocht, weil sie doch Opernsängerin gewesen ist. Und sie ist ihm auch zu antipathisch; das kann ja jedes Kind sehen. Rote Haare sind eben auch nicht jedermanns Sache.«
***
Am Tage nach der Vermählung der Prinzeß Alexandra hielt der Freiherr von Falkner mit seiner Frau den Einzug in Monrepos, das ihr der Herzog, vollständig eingerichtet, als Morgengabe geschenkt zum Sommeraufenthalt, während Dolores dem großherzoglichen Paare auf einige Tage in dessen Residenz folgte, um dort bei den Einzugsfeierlichkeiten ihres Amtes zu walten – und so kam es, daß sie erst nach vierzehntägiger Abwesenheit in den Falkenhof zurückkehrte.
***
Die junge Freifrau von Falkner hatte sich in Monrepos sofort mit großem Selbstbewußtsein installiert und energisch Besitz ergriffen von ihrem Regiment. Bis dahin immer noch halb als Kind behandelt, jeden Zwang hassend, war sie in einer Atmosphäre aufgewachsen, welche, wie ihrer Mutter, ihren ganzen Neigungen widersprach. Die programmmäßigen, geregelten Vergnügungen machten ihr gar keinen Spaß, sie wollte Vergnügungen nach ihrem eigenen Maßstabe. Auch liebte sie's gar nicht, erzogen zu werden, und emancipierte sich auch vielfach mit Erfolg von den guten Lehren, welche sie nicht als solche anerkannte, sondern sie einfach für eigens zu ihrer Qual erfundene Plackereien hielt. Daß das Leben eine sehr ernste Sache sei, und der Schmerz, als ein herber, doch treuer Gast dem Menschen kaum von der Seite weicht, das begriff sie nicht und lachte insgeheim über die »Thränenweiden,« welche die Aufgabe dieses Lebens in einer Vorbereitung für das künftige erblickten und das Elend aufsuchten, um es zu lindern. Das Leben war für Eleonore von Nordland ein ewiger Tanz, in welchem man wohl Pausen machte, sich zu erholen, aber um Gottes willen nicht ganz aufhörte zu tanzen. Es ging ihr eben wie so vielen anderen, welche für ihre Eigenart zu früh und zu spät geboren werden – und bei ihr war entschieden das Letztere der Fall, denn wenn König Jerôme »lustiken« Andenkens diese leichtblütigste Prinzeß der Welt kennen gelernt und, da sie ganz sein Genre war, zur Königin gemacht hätte, so wäre es sicher noch viel, viel »lustiker« zugegangen im schönen Wilhelmshöhe.
Da man aber nun leider nicht mehr in diesen vergnügten Zeiten lebte und auf dem Vulkan tanzte, lachte und Tollheiten trieb, sondern unsere Zeit darin entschieden decenter und würdiger geworden ist, so wünschte Prinzeß Lolo nichts sehnlicher, als, da sie doch den König Jerôme nicht heiraten konnte, herauszukommen aus dem Zwange eines Hofes und dem Schicksal zu entrinnen, dereinst als »sitzengebliebenes« Herzogstöchterlein in dem Familienstift als Äbtissin desselben zu enden. Da war Falkner, den sie bisher eigentlich schon zu den »Alten« gerechnet hatte, erst in Monrepos so recht in ihr Leben getreten, und nachdem er ihr erst imponiert, hatte sie sich sterblich in ihn verliebt – eine Backfischliebe, wie sie fast immer vorkommt, wenn Schulmädchen der ersten Klasse oder Selekta sich in einen der Lehrer – meist den Zeichen- oder Gesangslehrer – verlieben, heimliche, sehr schlechte Gedichte an ihn machen und sonstigen Kultus mit ihm treiben, von dem er keine Ahnung hat. Da Prinzeß Lolo nun aber keine höhere Töchterschule und kein Pensionat besucht hatte, ihre Privatlehrer aber alle sehr gesetzten Alters und keine Epigonen des schönen Adonis waren, so hatte sie dieses Herzensstadium auch nicht durchgemacht und sie trat erst in dasselbe, als der Freiherr von Falkner mit seiner imposanten Erscheinung, seinem kühl-vornehmen, ernsten Wesen zu Monrepos ihren Weg kreuzte. Nun fing das junge, unerfahrene Herzchen Feuer, und da sie wußte, daß Prinzessinnen auf den Bällen nicht engagiert werden, sondern selbst ihre Tänzer wählen und befehlen, so versicherte sie sich erst, daß die gefährliche Konkurrenz von Dolores keine Nebenbuhlerschaft war, und präsentierte ihm, der sich von Dolores aussichtslos zurückgewiesen sah, ihr junges Herz mit einer Deutlichkeit, die ihm bei der Jugend und der Unerfahrenheit der Herzogstochter schmeichelte und wohlthat. Durch welche Motive der Herzog bestimmt worden war, seine jüngste Tochter außerhalb ihres hohen Standes zu verheiraten und sie einem simplen Edelmann zu geben, mit dessen Haus er freilich lange schon befreundet war, wissen wir.
Für Falkner gab es nach der Scene an der Gruftkapelle kaum noch einen anderen Weg, als den, welchen er eingeschlagen hatte, und nun er ganz gebunden war, wußte er auch, daß Dolores ihr Herzensgeheimnis niemals preisgegeben hätte, nie sich hätte abringen lassen, wenn es anders gekommen wäre, wenn der Herzog dem Vasallen die Hand seiner Tochter versagt hätte.
Und so fand denn die Schließung einer Ehe statt, die ein vierfach verfehltes Rechenexempel war, die ein Blick in die Zukunft verhindert hätte. Freilich hätte auch jetzt noch dieser eine Blick beiden viel ersparen können, doch es soll ja nicht sein, wir sind, zu unserem Glück meist, unwissend über die Ereignisse der nächsten Stunden und Tage. Die Freifrau von Falkner nahm also Besitz von ihrer Freiheit mit einem Eifer und einer Energie, welche deutlich bewiesen, wie die langersehnte Selbständigkeit ihr wohlthat. Ihr Anordnen, ihr Befehlen, Arrangieren verriet eine Sicherheit, welche bezeichnend war und erstaunlich zugleich, wenn man die Abhängigkeit in Betracht zog, in welcher sie bisher gelebt hatte. Nun fühlte sie sich ganz Schloßfrau, und am Tage nach ihrer Ankunft in Monrepos hatten viele Hände viel zu thun, denn ihr Geschmack verwarf die meisten Arrangements, änderte, setzte Möbel um, verlegte ganze Zimmer, und als sie dann erklärte, es sei so gut, da war freilich ein genialer Zug, ein gewisser künstlerischer Sinn nicht zu leugnen, der in den Arrangements lag.
Eine ganze, volle Woche lang beschäftigte das neue, unumschränkte Eigentum, das eigene Heim den unruhigen Geist der jungen Freifrau wie ein langersehntes, oft begehrtes Spielzeug; eine ganze Woche lang war sie auch glücklich und zufrieden in Gesellschaft ihres Gatten, welcher alles that, ihr dieses neue Heim durch seine Gesellschaft anziehend zu machen, welcher freundlich und liebreich einging auf ihre Intentionen, ihre bizarren Gedankensprünge, und in dem glücklichen und zufriedenen Ausdruck ihrer lachenden blauen Augen Ersatz fand für manches Verlorene, oder vielmehr zu finden glaubte und zu finden hoffte. Für ihn selbst war ja diese Zeit des gezwungenen dolce far niente ein Opfer, das er angesichts des elfenhaften, quecksilbernen Wesens an seiner Seite ein kleines nannte, das er auch in dieser leicht gleitenden, ruhevollen ersten Woche auf Monrepos als solches empfand. Aber er liebte die Arbeit und liebte Beschäftigung, und da er »auf höheren Befehl bis auf weiteres« von allem und jedem Dienst freigegeben war, bis sich der gesuchte höhere Posten, wie er sich für den Schwiegersohn eines regierenden Fürsten schickte, gefunden hatte, so war er entschlossen, diese Pause in seinem Arbeitsleben durch selbstgewähltes Studium auszufüllen. Damit freilich kam er in dieser ersten Woche nicht weit, denn wenn er Lolo in einem entfernten Zimmer wirtschaften, räumen und befehlen hörte und die Bücher aufschlug, da war sie gewiß im nächsten Moment schon da, steckte das Köpfchen mit der winzigsten Spur einer Frauenhaube auf dem Blondhaar zur Thür hinein und fragte lachend und eifrig tausend und eine Frage, bis er resigniert die Bücher zusammenklappte und freundlich auf ihre Wünsche einging.
Aber eine Woche verstreicht schnell, besonders wenn sie Glück bringt und Friede, und Falkner hatte den allerbesten Willen für beides.
Und so geschah es denn genau eine Woche nach dem Einzuge des jungen Paares auf Monrepos, als beim ersten Frühstück an einem herrlichen Sommermorgen auf der Veranda die junge Frau ihre Theetasse hinsetzte, die kleinen rosigen Hände im Schoß faltete, sich zurücklehnte und – gähnte.
»Ei, noch müde, Lolo?« fragte Falkner lächelnd, denn es war nicht gerade mehr sehr früh am Morgen.
»Müde? Nein, langweilig,« gestand Frau Lolo offenherzig genug.
»O! O! Ich fühle mich sehr geschmeichelt,« meinte Falkner heiter.
Das aber nahm seine Frau übel.
»Dabei ist gar nichts zu lachen,« sagte sie pikiert. »Es ist langweilig, das wirst du auch nicht leugnen können. Man spricht sich halt am Ende aus.«
»Findest du, Lolo?«
»Ja, ganz entschieden! Ich bin jetzt mit den Arrangements fertig, was soll ich anfangen?«
»Wir wollen zusammen lesen, zusammen studieren,« schlug Falkner vor, der schon manche Lücke im Wissen seiner kleinen Frau entdeckt hatte. Sie aber streckte abwehrend beide Hände aus und machte die Augen vor Entsetzen weit auf.
»Um Gottes willen!« rief sie. »Lesen? Studieren? Ich danke bestens. Ich bin kaum der ewigen, unausstehlichen Schulstube entronnen, und soll jetzt wieder damit anfangen? Dazu habe ich doch nicht geheiratet?«
»Aber Lolochen, man soll doch niemals aufhören zu lernen und sich zu bilden,« erwiderte Falkner freundlich und ohne hofmeisternden Ton.
»Das ist purer Unsinn,« meinte Lolo mit souveräner Verachtung. »Ich habe aufgehört zu lernen, und wer mir schon solch' langweiliges Geschichtsbuch von weitem zeigt, der macht mich ganz wild. Ich bitte dich um alles in der Welt, es ist doch so egal, ob Kolumbus das Pulver erfunden und Berthold Schwarz Amerika entdeckt hat –«
»Umgekehrt, Lolo,« sagte Falkner mehr amüsiert, als entsetzt.
»Da hast du's,« entgegnete Lolo überlegen, »das Pulver ist da und Amerika ist da, was braucht man damit geplagt zu werden, wie die Leute hießen, die es entdeckt haben? Und die römischen und deutschen Kaiser vollends, die sind mir riesig egal, ob sie Nero hießen oder Ferdinand, und wenn du mich auf die Litteratur bringst, da wirst du auch kein Glück haben mit mir, denn dann erklärte ich dir im voraus, daß Goethe der langweiligste Mensch von der Welt war und Schiller mich nervös macht, trotzdem, oder vielmehr, weil ich habe den ›Grafen von Habsburg‹ auswendig lernen müssen.«
»Vielleicht eben deshalb, Lolo,« erwiderte Falkner amüsiert. »Aber ich hoffe, daß es mir gelingen wird, dir eine bessere Meinung über diese Plagegeister beizubringen. Und es giebt doch auch gewisse Dinge in Litteratur und Geschichte, welche man wissen muß, wenn man auf der Straße allgemeiner Bildung fortkommen will.«
»Na, dann danke ich schön, dann mag ich gar nicht gebildet sein,« gestand sie mit verblüffender Offenheit. »Und das war deine Idee, mich lernen und studieren zu lassen? Da möchten ja die Hühner darüber lachen! Als ob ich dazu geheiratet hätte!«
»Bitte, und wozu hast du sonst geheiratet?« fragte Falkner, diese Offenherzigkeiten immer noch nicht ernst nehmend.
»Wozu? Das ist doch sonnenklar: um mit dir zusammen zu sein, und um mich zu amüsieren.«
»Aha!« machte er mit einem lächelnden Kompliment. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß du mich als erste Ursache nahmst. Was nun die zweite anbelangt, so wirst du dich schon noch etwas gedulden müssen, denn der Herzog wünscht einmal, daß wir bis zum Herbst hier bleiben, und hat dir außerdem Monrepos so wunderhübsch ausgestattet, daß es ihn kränken würde, wenn du seiner Gabe so bald schon müde würdest.«
»Das ist doch aber wieder eine schändliche Tyrannei, uns hier festzuhalten,« rief sie heftig und verzog das Mündchen wie zum Weinen.
»Ich habe diese Bestimmung, welche überdies die taktvolle Form eines Vorschlages hatte, als liebevolle Fürsorge und Zuvorkommenheit aufgefaßt,« erwiderte Falkner ernst werdend und etwas scharf.
»Tyrannei ist es, nichts weiter,« widersprach Lolo noch heftiger. »Aber ich werde ihnen zeigen, daß ich mich davon frei zu machen weiß,« setzte sie trotzig hinzu.
Falkner sah sie einen Moment fest und prüfend an.
»Also willst du abreisen?« fragte er ruhig.
»Ja, ja, reisen wir ab,« rief sie lustig, sprang auf und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich hab's ja immer gesagt, daß du ein kolossal vernünftiges altes Haus bist,« jubelte sie.
»Aber du hast mich mißverstanden, Lolo, es ist mir nicht im Traume eingefallen, die in wahrhaft väterlicher Güte für uns entworfenen Pläne des Herzogs wie ein undankbarer Rüpel über den Haufen zu werfen, trotzdem ich eine geregelte, bestimmte Arbeit sehr vermisse.«
Sie ließ langsam die Arme sinken.
»Also damit wär's nichts,« seufzte sie resigniert.
»Nein,« erwiderte er ruhig, und als sie sich darauf wieder setzte, fragte er herzlich: »Hast du's denn schon satt, Lolo, bei mir zu sein? Bist du meiner ausschließlichen Gesellschaft schon überdrüssig?«
»Nun, es könnte schon ein bißchen mehr los sein,« erwiderte sie mit so drolliger Ehrlichkeit, daß es nicht gut übel zu nehmen war. Falkner mußte auch darüber lächeln.
»Aber Kind, wir können Monrepos jetzt nicht verlassen,« meinte er.
»Ach nein,« sagte sie, »das habe ich mir gleich gedacht. Aber weißt du, Alfred, wir könnten es in Monrepos selbst lustiger machen – durch Gäste.«
Er sah sie einen Moment ernst an, dann mußte er wieder lächeln.
»Also doch schon meiner überdrüssig, Lolo?«
Sie errötete tief und ward sichtlich verlegen.
»Unsinn,« rief sie verwirrt, »siehst du denn nicht ein, daß man sich zu zweien einmal ausspricht, daß man sich lächerlich macht, wenn man so lange, abgeschieden von der Welt, wie ein paar Turteltauben in einem nid d'amour sitzt?«
»Lolo,« sagte Falkner ernst, fast traurig.
»Jawohl, lächerlich!« rief sie rechthaberisch und eigensinnig. »Es hat schon genug Aufsehen gemacht, daß ich dich geheiratet habe, aber die Welt muß sich ja begraben vor Lachen, wenn sie sieht, daß wir nichts thun wollen als zu zweien zu kosen!«
Falkner antwortete nicht. Sein Blick wanderte von ihren erregten Zügen hinaus ins Grüne und nach der Richtung des Falkenhofes – – –
»Sie ist noch ein halbes Kind,« dachte er mit einer gewaltsamen Anstrengung, gerecht zu sein. Und sich selbst überwindend, wandte er sich wieder zu ihr und streckte ihr die Hand über den Frühstückstisch entgegen.
»Lolo, nicht wahr, du hast das alles nicht im Ernst gesagt und gemeint?« fragte er freundlich.
»Doch nicht etwa im Spaß?« fragte sie zurück, ohne seine Hand zu sehen. Aber er überwand sich nochmals.
»Das wär' aber doch die einzig mögliche Auslegung,« meinte er etwas ernster und mit Betonung. Da sah sie ihn betroffen an.
»Das seh' ich nicht ein!«
»O, wenn du nur willst, Lolo –«
»Nun gut, dann will ich nicht,« entgegnete sie heftig.
Jetzt zog Falkner seine Hand zurück.
»Eleonore!«
Sie erblaßte ein wenig, als er ihren vollen Namen aussprach, ernst, verweisend, schmerzlich fast. Aber ihr Trotz bäumte sich um so höher auf.
»Eleonore Luise Wilhelmine Friederike ist mein voller Taufname,« sagte sie schnippisch, und als er jetzt Miene machte, sich zu erheben, fügte sie hinzu: »Nein, nein, Alfred, ich gebe nicht nach, wenn du auch à la Jupiter donnerst. Sei doch nicht so garstig.«
»Wir können Monrepos jetzt nicht verlassen,« erwiderte er beherrscht und sehr kühl.
»Aber ich sagte dir doch, wenn wir Gäste hätten, könnten wir meinetwegen ja bleiben,« entgegnete sie nachlässig.
»Wirklich?« fragte er, aber es klang mehr traurig als ironisch. »Dein Wunsch ist übrigens schon halb erfüllt, denn Keppler schrieb mir, er bedürfe noch ungefähr einer Woche zur Vollendung deines Porträts. Ich werde ihm also schreiben, daß er kommen mag!«
»Aber der langweilige Farbenkleckser!« rief die junge Frau enttäuscht. »Ein geborner Bauernjunge!« setzte sie vorwurfsvoll hinzu.
»Seine Bildung ist doch aber wohl für uns entscheidend, nicht wahr?« sagte Falkner. »Wenigstens mir imponiert ein wohlerzogener und gebildeter Bauernjunge mehr als eine ungezogene Prinzessin!«
Wenn er mit dieser Bemerkung eine ernste Rüge beabsichtigt hatte, so mußte er sich abermals schwer enttäuscht fühlen, denn Lolo lachte laut auf.
»Gott, er wird anzüglich!« jubelte sie, sprang auf und fiel ihm lachend um den Hals. »Jetzt wirst du vernünftig, alter Brummbär, hörst du?«
»Ich höre und – staune,« erwiderte er kühl.
Sie aber drückte ihm einen Kuß auf die Wange und setzte sich wieder.
»Der langen Debatte kurzer Sinn ist also der, daß ich meine, wir möchten endlich in der Nachbarschaft unsere Besuche machen,« sagte sie.
»Wenn du die Gewogenheit gehabt hättest, diesen kurzen Sinn früher zu exponieren, so hätte dir das jene bösen Worte erspart, welche so wenig für dich paßten,« erwiderte Falkner immer noch kühl und verletzt.
»Ja, wenn!« lachte sie. »Siehst du, ich habe da einmal ein Gedicht auswendig lernen müssen, da verkleidete sich ein Schäfer als Abt, und ein Kaiser frägt ihn, wie lange er braucht, um die Erde zu umreiten. Und da antwortet ihm der Schäfer: ›Wenn ich mit der Sonne aufstehe,‹ etc. etc. Da lacht der Kaiser und sagt: ›Ihr füttert die Pferde mit Wenn und mit Aber.‹ Du scheinst mir auch solch' ein Hans Bendix zu sein. Als ob ich was dafür könnte, daß ich irgend etwas gesagt habe. Wenn! Ja, wenn ich zwei Räder hätte, wäre ich wahrscheinlich ein Bicycle und nicht die Baronin Falkner geborene ungezogene Prinzessin von Nordland.«
Nun flog doch ein leises Lächeln über Falkners Züge, und die junge Frau erkannte daraus, daß sie gewonnen hatte.
»Also die Besuche,« setzte sie mit wichtiger Miene hinzu.
»Die können wir heut' noch machen,« erwiderte Falkner. »Schingas und Dolores – falls letztere schon zurück ist – damit wären wir fertig.«
»Dolores soll gestern Abend gekommen sein,« meinte Lolo, »aber daß wir damit fertig wären, ist ganz und gar nicht meine Ansicht. Wir sind ja kein ›Hof‹ mehr in Monrepos, warum uns also so exklusiv machen? Das war früher langweilig genug! Ich bin ja gottlob keine Prinzessin mehr und will auch 'mal andere Leute sehen als den berühmten Keppler, den lumpigen Schinga und die schöne Dolores.«
»Und wer sollen die anderen sein?«
»Nun, liegt nicht ein und eine halbe Meile von hier die berühmte Stadt Kuckucksnest mit ganzen dreitausend Einwohnern? Liegt nicht in dieser selben Seestadt am Mühlgraben ein Ulanenregiment in Garnison? Also auf nach Kreta!«
Falkner überlegte.
»Es ist wahr,« meinte er dann, »wir könnten dort Besuche machen bei den verheirateten Offizieren. Dein Vater hat zwar daran nie gedacht, aber es ist ja hier etwas anderes, und man wird in der Garnisonsstadt die Zurückgezogenheit von Monrepos wohl bedauert haben.«
»Hurra! Nun wird's hübsch!« jubelte Lolo, selig, daß sie gesiegt hatte, und als Falkner ihr sagte, so schnell ginge das nicht, denn man müßte doch erst die Gegenbesuche und die ersten Einladungen abwarten, ehe man an einen wirklichen Verkehr denken könne, da erwiderte sie sehr naiv:
»Aber ich bitte dich! Unser Erscheinen in Kuckucksnest wird das Signal zu den ersten Besuchen der unverheirateten Offiziere bei uns sein. Und das ist doch die Hauptsache. Was mache ich mir aus den Ehemännern und Ehefrauen!«
»Ich dachte doch aber, du wärst auch eine,« warf Falkner ein, halb amüsiert über ihre drollige Unverblümtheit, halb skandalisiert über die unbewußte Frivolität, welche daraus sprach. Und es fiel ihm das Wort der Prinzeß Alexandra ein: »Sie werden noch viel zu erziehen haben an ihr.« – »Vielleicht noch mehr zu bändigen, als zu erziehen,« dachte er mit einem Seufzer.
Lolo plauderte aber immerzu von ihren geselligen Plänen, und wie ein Mühlrad plapperte das rosige Mündchen der jungen Frau rastlos weiter und weiter, während er nur halb hinhörte, mehr angeregt zum Nachdenken als zum Hören. Denn ihm ahnte, daß für diese kleine Widerspenstige ein Petrucchio von besonderer Art gehören müßte, aber er gelobte sich's treulich, es zu werden.
»Ich sehne mich so nach anderen Gesichtern,« plauderte Lolo weiter, »denn siehst du, es war zu Hause wirklich zu eintönig. Und hier in Monrepos im Sommer auch. Der alte Schinga ist ja ganz spaßhaft, aber man will doch 'mal eine Abwechslung haben. Und Dolores wäre ja in ihrer Art sehr nett, aber ich war doch einmal sehr eifersüchtig auf sie und kann den Gedanken nicht los werden, daß ich's wieder werden könnte. Denn, wie ich mir's auch überlege, ich kann mir nicht zusammenreimen, warum ihr euch nicht geheiratet habt.«
»Und das wäre ein Grund zur Eifersucht?« fragte Falkner ironisch, aber im Innern seltsam angemutet von den Worten seiner Frau.
»Nein,« sagte diese, »das wäre eigentlich kein Grund. Aber ich weiß nicht – die Eifersucht muß doch nicht ganz von mir gewichen sein. Ich bilde mir immer ein, daß du sie schöner finden mußt als mich.«
»Nun, dann wollen wir ihr aus dem Wege gehen,« erwiderte Falkner, »nicht, weil ich fürchte, diesem Zauber zu unterliegen, sondern um dir jegliche Bitterkeit und Selbstqual zu ersparen.«
Und in der That hatte er sich vorgenommen, den Falkenhof möglichst zu meiden aus genau dem angegebenen Grunde. Nein, er fürchtete sich nicht, denn er hielt sich mit Recht für stark genug, das Banner der Pflicht allzeit hoch zu tragen, aber er wollte Dolores mehr die Bitterkeit dadurch nehmen, daß er ihr fern blieb, als seiner Frau, auf welche sein Entschluß ja auch jetzt zu passen schien. Dieses Fernbleiben, dieses völligste Entsagen hatte er sich zur Richtschnur gemacht – er wußte, ohne daß sie's ihm gesagt hatte, daß Dolores genau ebenso dachte und handeln würde, daß sie, wie er, mit der ganzen Kraft ihres starken Herzens vergessen lernen würde und verschmerzen. Und er hoffte, daß es dazu nicht zu spät war für beide – daß der Geier, das Leben, sein Werk noch thun und ihren Namen aus seinem Herzen reißen würde, ja er hoffte fast, daß sie etwas thun möchte, das diesen Namen in Lethe tauchen konnte für alle Zeit.
Und so wandten sie sich den nächsten Nachbarn etwas ab und dem Verkehr in der Ulanengarnison zu, welche das interessante Paar freudig begrüßte, denn das weltferne Leben in dem kleinen Nest bot nicht so viel Abwechslung, daß man sich über einen neuen Verkehr nicht gefreut hätte. Die Junggesellen des Regiments besonders waren entzückt über das Haus, das sich ihnen eröffnete, und lagen der reizenden blonden Herrin von Monrepos in corpore zu Füßen. Es gehörte sehr bald zum täglichen Brot, daß allabendlich mehrere der jüngeren Offiziere in Monrepos erschienen, dort der Frau vom Hause Reitunterricht gaben, mit ihr spazieren fuhren und sich jederzeit sehr gut amüsierten. Und als die Manöverzeit dann herankam und die Kuckucksnester Garnison ausrückte, wurde diese Waffe abgewechselt durch Einquartierung. Da kamen und gingen alle Waffengattungen, und zuletzt lag ein ganzes Regiment Soldaten verteilt in Monrepos, Falkenhof und Arnsdorf, über drei Wochen lang.
In dieser Zeit war Lolo Falkner nicht viel daheim. Sie fuhr oder ritt hinaus zum Exerzieren und Manövrieren ins Terrain, dann kam die Mittagstafel mit den Herren, welche auf Monrepos im Quartier lagen, worauf sich dann meist noch die Herren aus den anderen Kantonnements zusammenfanden, besonders von Arnsdorf her, wo die Quartiere schlecht, die Verpflegung noch schlechter war, wenn auch liebenswürdig und gern gegeben. Da hiervon ein junger Leutnantsmagen aber leider nicht satt wird, ebensowenig wie ein älterer Rittmeistermagen, so kam man meist nach Monrepos herüber, wo die kleine reizende Frau von Falkner jeden ganz kameradschaftlich begrüßte und in dem heiteren Herrenkreise übersprudelte von Lustigkeit und Lebenslust.
singt Heine in seinem Liede von den »blauen Husaren.« Und Falkner konnte sich's nicht verhehlen, daß viel Einquartierung in dem Herzen seiner Frau lag, welche in dieser »wilden Wirtschaft« für ihn höchstens hin und wieder ein flüchtiges Wort oder einen zerstreuten Gruß hatte. Aber daß es »viel« Einquartierung war, das beruhigte ihn und ließ ihm die Sache harmlos erscheinen, wenngleich es ihn mit Besorgnis erfüllte, nicht für jetzt, aber für später. Denn Lolo kokettierte unbedingt, dafür gab es keine Beschönigung, und wenn er freundlich mit ihr sprechen wollte und sie ermahnen, vorsichtiger zu sein, da hatte sie entweder »keine Zeit« oder sie war so »entsetzlich müde,« daß sie für ihn ebenso gut oder noch besser hätte in Haparanda wohnen können, denn dort hätte sie doch wenigstens ein Brief von ihm erreicht, während er hier nicht einmal mit ihr sprechen konnte. Und als er sie einmal zwang, ihn anzuhören, und er ihr ernstlich den freien Ton, das Kokettieren, den ungebundenen Verkehr verwies, da lachte sie ihm ins Gesicht und nannte ihn einen Philister, doch als er ihr die vornehme, ruhige und würdevolle Art und Weise vorstellte, mit der Dolores ihre Einquartierung empfangen hatte und mit ihr verkehrte, da flammte sie plötzlich auf in heller Eifersucht und verbat sich einen Vergleich mit der »Komödiantin« und trieb es nur noch toller wie bisher. Falkner mußte sich gestehen, daß der Charakter der »Satanella,« dem er so unsympathisch gegenüber gestanden hatte, sich nun in seiner Frau entwickelte und unter seinen Augen wuchs, ohne daß er ihm steuern konnte. So stand er unter diesem lauten, lustigen Treiben in seinem Hause allzeit auf dem Posten als liebenswürdiger und aufmerksamer Wirt, aber ernst und unbefriedigt im Herzen die drohende Frage: Was soll das werden? So standen die Dinge in Monrepos, so begann Falkners junge vielbesprochene Ehe.
***
Im Falkenhof war Dolores nach den Hochzeiten der Prinzessinnen wieder eingezogen. Der schöne Besitz war ihr so lieb, so traut, aber sie hätte ihn trotzdem gerne bald verlassen wegen Falkners Nähe und hielt sich doch durch ihre dem Rußschen Ehepaare gegebene Zusicherung, bis zum Herbst zu bleiben, für gebunden durch die Bande der Gastfreundschaft und der Rücksicht auf Falkners Mutter, in welcher sie ihn mit feinem Takt zu ehren gedachte. Daß er sich mit seiner Frau nur in den seltensten Fällen im Falkenhofe sehen ließ, dankte sie ihm von Herzen und verstand es voll und ganz, und so lebte sie hin in der schönen Einsamkeit dieser Sommertage, ganz versenkt in ihre Musikstudien, in ihre Träumereien, welche ihr manch stimmungsvolles Lied, manche wehmütige Weise in den Griffel diktierten. Und da sie ihre Gastfreundschaft nach englischem Muster übte, das heißt ihren Gästen die persönliche Freiheit gewährte und sie nicht in ein geselliges Joch spannte, so war sie am Tage meistens allein und nur zur Dinerzeit mit Doktor Ruß und seiner Frau zusammen. Die beginnende Manöverzeit überraschte sie und störte sie widerwillig auf aus ihrer Zurückgezogenheit, denn sie hatte gar nicht daran gedacht, daß sie Einquartierung bekommen könnte, ungewohnt dieses Zustandes des »Kriegs im Frieden,« den sie im Auslande nicht kennen gelernt hatte. Und als zum erstenmal ein Quartiermacher vor ihr stand, seinen Zettel in der Hand, verstaubt, hungrig und wild aussehend, da bedauerte sie schmerzlich, daß sie nicht dennoch fortgereist war. Aber die Bildung des deutschen Offiziers und die Bescheidenheit und Gutmütigkeit der Leute machten ihr die gefürchtete Sache doch leichter, als sie gedacht hatte. Sie nahm die ungebetenen Gäste mit allem Komfort auf, erschien selbst als Wirtin präsidierend an der allgemeinen Mittagstafel, plauderte wohl noch ein Stündchen mit auf der Terrasse und zog sich dann zurück, es den Herren völlig freistellend, zu bleiben oder ihre eigenen Zimmer aufzusuchen.
Als dann die Husaren auf drei Wochen eingezogen und der Stab, sowie die Offiziere von drei Schwadronen in den Falkenhof gelegt wurden, da ward es fast noch gemütlicher als bei dem ewigen Kommen und Gehen, und sie saß wohl abends nach dem Diner noch ein wenig länger mit Herrn und Frau Ruß in dem angenehmen Kreise der verheirateten Offiziere, während die Junggesellen nach dem »Gesegnete Mahlzeit« meist hinübergingen nach Monrepos, nachdem sie entdeckt, daß Dolores ein Bild ohne Gnade sei und mit einem Kokettieren pour passer le temps hier nicht zu reüssieren war. Wohl entflammten sich ein paar leicht entzündliche Herzen an ihrer unleugbaren Schönheit, aber es wurde von ihrer Seite auf diese Herzensflammen so gar kein Öl gegossen, worauf das Strohfeuer knisternd erlosch und sich drüben in Monrepos neu entzündete. Und es kamen auch Söhne des Mars, welchen die Manichäer hart auf den Sohlen saßen und welche Dolores für eine »verflucht gute Partie« erklärten und besiegen wollten, aber leider merkte sie die Absicht und wurde verstimmt, und als wirklich jemand ein ernstes Werben um sie zeigte, da war die Manöverzeit fast vorüber und Dolores mußte schweren Herzens einen Korb flechten und ihn vergolden, so gut es ging, trotzdem ihr sein Empfänger leid that und ganz leidlich gefiel. Aber aus Mitleid ist nicht gut heiraten und das bloße Ganz-gut-gefallen thut's auch noch nicht.
Jedenfalls aber hätte selbst die böseste Zunge dieser jungen Schloßherrin in ihrem Benehmen gegen die Einquartierung auf dem Falkenhofe nicht den leisesten Vorwurf machen können.
Mit Doktor Ruß stand sie nach wie vor auf einem angenehmen Konversationsfuße und sie warf es Engels oft vor, daß er den belesenen, klugen Mann falsch beurteile, denn was dieser ihm nachsagte – Eigennutz und Falschheit – das glaubte sie ganz und gar nicht in ihm zu finden, je näher sie ihn kennen lernte, obgleich ihr manchmal der Gedanke kam: »Meint er es ehrlich?« – Doch sie glaubte diese Frage nicht verneinen zu dürfen – hatte er ihr doch noch keinen Beweis vom Gegenteil gegeben! Dagegen war sie überzeugt, daß Frau Ruß es nicht gut mit ihr meine. An die kurze, absprechende Art derselben hätte sie sich mit der Zeit gewöhnt, aber der kalte, musternde, scharfe Blick dieser hellen Fischaugen, welchen sie oft auf sich ruhen fühlte, verursachte ihr ein Unbehagen, das sie sich gar nicht erklären konnte, dessen Vorempfindung schon so stark in ihr war, daß sie sich oft unter einem Vorwande der Gesellschaft dieser unliebenswürdigen und seltsamen Frau entzog und es gar nicht mehr versuchte, Zuneigung zu erringen. Ihr erschien es eine Sisyphusarbeit, das Vertrauen der Frau Ruß zu gewinnen, denn jedes freundliche und entgegenkommende Wort prallte ab an dem schroffen Felsen dieses unzugänglichen Frauenherzens.
Dieses Zurückweisen ihrer selbst betrübte Dolores mehr, als es sie verletzte, denn Frau Ruß war ihr nicht sympathisch, aber sie hätte ihr gern Liebe erwiesen um ihres Sohnes willen. Mehr noch aber als das verursachten ihr die Nachrichten aus Monrepos thatsächlich Qual, denn die Berichte von dem rastlos tollen Treiben der jungen Frau, und ein gelegentlich aufgefangener müder, doch angstvoller und dann wieder drohender Blick Falkners erzählten ihr von einem traurigen Beginn dieser Ehe, die nichts Gutes verhieß. – –
Es war am Tage vor dem Einrücken der Husaren im Falkenhof. Dolores war am Nachmittage bei Engels in dessen Turmwohnung erschienen, nach langer Zeit zum erstenmal wieder, stürmisch begrüßt vom Teckel Knieper und der Katze Ida.
»Daraus sieht man, wie lange Sie nicht hier waren,« meinte Engels, als Knieper sein Freudengebell etwas gemäßigt und Ida sich auf dem Schoß von Dolores niedergelassen hatte.
»Ja, ja, Sie haben ganz recht mit Ihrem Vorwurf,« erwiderte sie, »aber es ist so manches andere auch noch anders geworden.« – Und sie seufzte.
»Das weiß der Kuckuck!« bestätigte Engels. »Besonders Sie selbst sind anders geworden.«
»Hoffentlich zum besseren,« sagte sie mit schwachem Lächeln.
»Kommt auf die Anschauung an,« meinte Engels. »Mir waren Sie früher lieber – sprühend vor Lebenslust und Laune, die ganze liebe, warme, leuchtende Gottessonne im Herzen, im Blick – – das bißchen ›Teufelin,‹ das Sie darein mischten, kleidete Ihnen gut, sehr gut. Heut' – du lieber Gott! Heut' sind Sie eine Frau, der das Leben irgend etwas Schweres angethan zu haben scheint, und was von Ihrem alten, sonnigen Wesen geblieben ist, das leuchtet nur noch schwach, wie die Abendsonne. Was ist Ihnen eingefallen, daß Sie vom Morgenrot zur Abendsonne übergesprungen sind? Es giebt im Leben doch auch noch einen Mittag und einen Nachmittag! Da haben Sie die Wahrheit!« –
»Ja, aber sie stimmt nicht ganz,« entgegnete Dolores. »Wer sagt Ihnen, daß es wirklich nur noch Abendsonnenglanz ist, was Sie aus mir leuchten sehen? Es giebt Tage, an denen die Sonne um Mittag so schwach und nichtssagend leuchtet, als stände sie schon tief im Westen. Und wenn es Abend wäre – – es wäre das beste, denn dann kommt die Nacht, und in der Nacht ist Ruhe und Schlaf –
sagte Irrgang, als er sich in den Schnee schlafen legte.«
»Gott erbarm' sich!« sagte Engels erschrocken und aus tiefstem Herzensgrunde heraus, und als Dolores schwieg, stand er auf und trat dicht an sie heran, beugte sich tief zu ihr herab und flüsterte:
»Der Kerl drüben, der Ruß, hat über Ihren Unfall am Hexenloch eine Andeutung, ein Wort eigentlich bloß fallen lassen, das man sich hätte deuten können, als ob Sie selbst – – Sie verstehen mich. Ich hab's aber nicht glauben wollen, Fräulein Dolores – und es ist auch nicht wahr, nein?«
»Nein!« sagte sie und lachte dabei. Dann aber wurde sie wieder ernst. »Ich würde den Tod selbst niemals suchen, denn Selbstmord ist eine erbärmliche Feigheit, eine Fahnenflucht vor dem Leben.«
»Aber,« fügte sie nun gleichfalls flüsternd hinzu. »Aber, je mehr ich mir diesen Augenblick zurückrufe, je fester möcht' ich daran glauben, daß ich nicht ausgeglitten bin, nicht selbst die verhängnisvollen zwei oder drei Schritte gemacht habe, welche mich von dem Hexenloch noch trennten.« –
»Wie denn?« fragte Engels leise, eifrig. »Mußten Sie dann aber nicht fühlen, daß ein anderer Sie schob?« –
»Ich war in tiefen Gedanken, und es ging alles schneller, als man es sagen kann,« entgegnete Dolores nachdenklich. »Eh' ich nur etwas hören, sehen oder fühlen konnte, schlug das Wasser schon über mir zusammen. Nur das eine weiß ich genau, daß ein Ausgleiten bei einem Schritte vorwärts mich noch nicht bis ins Wasser bringen konnte. Vielleicht bin ich aber in Gedanken unbewußt ein paar Schritte gegangen, denn es ist mir schon passiert, daß, wenn mein Geist ganz von anderen Sachen in Anspruch genommen war, ich mich im nächsten Zimmer befand, ohne mich besinnen zu können, daß und wie ich hineingegangen bin. Es ist also möglich, daß ich diese wenigen Schritte doch gemacht habe. Aber nun kommt die Einbildung dazu und macht mir weiß, daß ein Etwas mich von rückwärts hineingedrückt, denn gestoßen ist zuviel gesagt.« –
»Ja, dann müßten Sie aber doch eine Hand, einen Arm – kurz ein Wesen verspürt haben, das Ihnen nahe war, das Sie berührt hat!«
»Ich weiß es nicht. Im Augenblick, als ich wieder am Lande war und meine volle Besinnung wieder hatte, hätte ich schwören können, daß niemand in meiner Nähe war, niemand mich berührt hat. Aber die stets post festum kommende Einbildung will mir jetzt weismachen, daß ich leise Schritte hinter mir gehört, daß eine Hand mich berührt hat.«
»Ah! Gesetzt aber, Sie hätten diese Schritte gehört, war es da nicht natürlich, daß Sie sich umwandten – natürlich und unwillkürlich?«
»Eben deshalb nenne ich es eine Einbildung, lieber Engels.«
»Ist es auch,« entgegnete dieser. »Ihre andere Lesart, daß Sie unbewußt und in Gedanken die paar Schritte auf das Wasser hin gethan haben, ist entschieden glaubwürdiger und einleuchtend genug. Denn wer in aller Welt hätte denn einen Grund, Sie meuchlings ins Wasser zu stürzen? Keine Seele! Höchstens der Freiherr selbst, der doch zum Falkenhof der Agnat ist.«
»Der hat mich ja aber gerade herausgeholt, ganz abgesehen davon, daß ich ihm nachsah, wie er fortging, als es geschah.«
»Na eben darum!« nickte Engels bestätigend. »Warum, zum Teufel, macht dann aber der alte Schleicher, der Ruß, ein Gesicht, als ob Sie lebensmüde wären?«
»Ach, Engels, das haben Sie wohl falsch aufgefaßt!«
»Vielleicht, Fräulein Dolores. Man weiß ja nie, wie man seine halben Worte und Winke deuten und auffassen soll. Nimmt man eine Redewendung so, und es kommt anders, da sagt er dann sicher: Aber ich habe es Ihnen ja gleich gesagt! Der Teufel mag sich mit dem alten Fuchs ausfinden!«
»Engels, Engels! Da galoppiert Ihre Abneigung wieder mit Ihnen davon!«
»Ach – galoppiert nie übers Ziel!« machte Engels. Dann, nach einer Pause, nahm er einen Brief aus einer Mappe. »Hier,« sagte er, »ist ein spanisches Schreiben von Ihrem brasilianischen Bevollmächtigten. Es wird sich wohl um die Pflanzen handeln, welche Sie von da verschrieben haben, hier im Treibhaus ziehen und dann acclimatisieren wollen. Die Adresse ist deutsch und an mich gerichtet, aber da ich Spanisch leider nicht kann, wollte ich Sie bitten, mir's zu übersetzen – schriftlich, damit ich's mit dem Original meinen Belegen beiheften kann.«
»Gern,« erwiderte Dolores. »Sie werden es morgen früh beim Rapport bereit finden. Und nun guten Abend – ich muß hinein, denn es giebt mit Mamsell Köhler noch eine Menge zu besprechen für die neue Einquartierung!«
»Guten Abend, Fräulein Dolores. Und – nichts für ungut!«
»Ach, wegen Ihres Selbstmordverdachtes? Nein, nein – nichts für ungut,« erwiderte Dolores lächelnd und ging.
Aber der Abend war schön und die Luft rein und klar nach einem köstlich erfrischenden Regen, und darum machte sie doch noch einen kleinen Umweg, ehe sie ins Schloß zurückkehrte. Sie ging in einem an beiden Seiten dicht mit Buschwerk bestandenen Laubgange dahin, zog den Brief aus dem Couvert mit der fremdländischen Marke darauf und begann ihn durchzulesen, hin und wieder einen Moment stehen bleibend. Und in einem solchen Moment erklang ein schnalzendes Geräusch, wie das Zusammenschlagen zweier Hände, nicht lauter, und Dolores war es, als bekäme der Brief in ihrer Hand einen Schlag, und als sie den Bogen wieder glättete, sah sie, daß sich ein kleines, sehr kleines, rundes Loch mit angesengten Rändern darin befand, das sie bisher nicht bemerkt. Einen Moment stand sie frappiert, dann sah sie rechts und links in das Gebüsch, es beiseite biegend und ging darauf den Weg zurück zu dem Turme, den Engels bewohnte.
Der war sehr erstaunt, sie wieder eintreten zu sehen.
»Haben Sie etwas vergessen, Fräulein Dolores?«
»Nein,« sagte sie ruhig. »Ich wollte nur fragen, ob der spanische Brief dieses kleine Loch schon hatte, als Sie ihn mir gaben.«
Engels nahm den Brief, setzte sich die Hornbrille auf und beobachtete mit hochgezogenen Brauen das kleine, seltsame Zeichen.
»Ist mir nicht aufgefallen,« sagte er verwundert. »Da ist ja ein Schuß durchgegangen!«
»Eben darum frage ich,« erwiderte Dolores gelassen.
»Hm –! Soviel ich weiß, war diese Kugelmarke nicht in dem Briefe. Die müßte ich ja gesehen haben, nicht wahr? Merkwürdig kleines Kaliber – wie aus einer Teschinpistole.«
»Ja,« sagte Dolores lakonisch, und als sie Engels' fragenden Blick sah, zuckte sie mit den Achseln. »Vielleicht wieder ein Selbstmordversuch von mir,« meinte sie mit einem kurzen Lachen, das etwas forciert war.
»Donnerwetter!« machte Engels.
»Nein, bitte, kein Wort davon,« bat sie. »Das bleibt unter uns. Aber die Augen wollen wir beide offen halten, nicht wahr?«
Und damit ging sie wieder, furchtlos und langsam, denselben Weg nach dem Falkenhof zurück und direkt bis in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie das Schubfach ihres Nachttisches auf – da lag die winzige, kleine Teschinpistole, wie immer, daneben stand das Blechbüchschen mit den Patronen. Sie hatte die Gewohnheit, die kleine Waffe allabendlich zu laden und früh die Patrone wieder herauszuziehen – auch jetzt war der Schuß herausgezogen.
»Ich muß doch die Patronen einmal zählen,« dachte sie. Es waren noch dreißig Stück in der Büchse, und die schloß sie fort.
Die nächste Stunde ihres Nachdenkens war nicht gerade erbaulich. Sie dachte zwar nicht an die für sie rätselhafte Episode am Hexentümpel, wohl aber an den rätselhaften Schuß, der sein Ziel wahrscheinlich verfehlt hatte, denn wer hätte die kühne Idee, einen Brief zu durchschießen, der gerade gelesen wurde? Höchstens doch ein Kunstschütze von der Fertigkeit eines Ira Aldridge. Nein, der Schuß galt ihr. Aber warum? Wem hatte sie etwas gethan? Wer hatte ein Interesse daran, sie zu töten?
Sie dachte an einen ihrer brasilianischen Vögte, den sie neulich auf den Bericht ihres Bevollmächtigten, und weil er sie bewiesenermaßen bestohlen, entlassen hatte. Sollte der Mann sich haben rächen wollen? Unmöglich war das nicht, aber wie wäre er von Brasilien nach Norddeutschland gekommen? Das ist ein weiter Weg, und ehe er zurückgelegt ist, wozu Zeit und – Mittel gehörten, da ist die erste Wut schon abgekühlt. Aber es war der einzige Anhaltepunkt für sie, und als sie beim besten Willen keinen anderen fand und der Kopf sie anfing zu schmerzen, da ging sie herab und fand auf der Terrasse die sie suchte – Doktor Ruß mit Frau. Denen erzählte sie die Geschichte dieses Schusses, und Doktor Ruß riet sofort einen Kriminalkommissar kommen zu lassen, der im Falkenhofe Wohnung zu nehmen hätte, um dem geheimnisvollen Schützen auf die Spur zu kommen. Doch davon wollte Dolores nichts wissen. Sie teilte Doktor Ruß ihren Verdacht mit und meinte, es würde wohl auch durch Ramo zu erfahren sein, ob ein Fremder sich hier herumtriebe, denn irgend jemand müsse ihn doch sehen, da ein Mensch Nahrung brauche und dieselbe wieder nur durch Menschen zu erlangen sei.
Doktor Ruß billigte im ganzen den Plan, Ramo auf die Spur des Attentäters zu hetzen, hielt aber seine Idee für erfolgreicher. Frau Ruß sagte, wie gewöhnlich, nichts, doch bemerkte Dolores, daß sie ihr Strickzeug ruhen ließ und die großen, hellen, kalten Augen, welche durch eine merkwürdig kleine Pupille und durch eine sehr große Iris etwas seltsam Steinernes hatten, fest auf ihren Gatten heftete und denselben unausgesetzt ansah, trotzdem es schon zu dämmern anfing.
»Sie sucht in seinem Gesicht zu lesen, was sie von der Sache denken darf und was nicht,« sagte sich Dolores und war froh, daß diese schrecklichen Augen nicht auf sie starrten – unausgesetzt starrten, ohne daß ihre Wimpern gezuckt hätten. Doch auch dem Doktor Ruß, der es anfangs nicht zu bemerken schien, wurde dies Anstarren zu viel.
»Es ist feucht, mein Liebling,« flötete er, sich plötzlich zu seiner Frau wendend. »Ich fürchte für deinen Rheumatismus. ›Refma‹ nennt unser guter Graf Schinga dieses Übel,« wandte er sich lächelnd an Dolores.
»Ich habe keinen Rheumatismus,« sagte Frau Ruß, ohne ihrem Blicke eine andere Richtung zu geben.
»Dennoch würde ich dir raten, hineinzugehen, damit du ihn nicht bekömmst,« schlug Doktor Ruß liebevollen Tones vor, und da seine Frau noch zögerte, sagte er etwas scharf: »Nun, meine Teure?«
Da begann sie gehorsam ihren Strickstrumpf zusammenzurollen, ohne die Augen von ihm abzuwenden, doch ehe sie noch fertig damit war, erscholl unten eine helle, frische Stimme. Es war Lolo Falkner.
»Salem aleikum!« rief sie, die Treppen hinaufspringend. »Ich komme, mir eine Tasse Thee und ein Butterbrot ausbitten, Dolores, denn ich habe einen Mordshunger. Wir haben heut' früher diniert, weil unsere Herren von der Artillerie abrücken mußten – na, die vertragen schweres Geschütz vom alten Rheinwein! Dann, wie sie weg waren, habe ich geschlafen und nun bin ich hergelaufen, weil mir so furchtbar einsam war. Darf ich bleiben?«
»Aber ich bitte darum,« sagte Dolores, die vorher den beiden noch zuflüsterte: »Bitte, nichts von dem Schuß sagen!«
Lolo reichte ihr und Doktor Ruß die Hand, that, als ob sie die ihrer Schwiegermutter küßte, und setzte sich, den Hut fortwerfend.
»Wo ist denn dein Mann?« fragte Frau Ruß, welche nun ruhig sitzen blieb.
»Alfred? Ich weiß nicht – er wird wohl zu Hause sein,« meinte Lolo unbefangen.
»Ja, weiß er denn nicht, daß du hier bist?« inquirierte Frau Ruß weiter.
»I, keine Spur,« versicherte die junge Frau. »Woher soll er's denn wissen? Ich hab's ja niemand gesagt, als ich fortging.«
»Nun, dann brauchte dir ja nicht so furchtbar bange zu sein, wenn Alfred zu Hause war,« setzte Frau Ruß das Gespräch fort.
»Was? Mit Alfred allein bleiben? Schrecklicher Gedanke,« rief Lolo entsetzt. »Ein Ehepaar allein zusammen ist der Inbegriff der Langeweile, das mußt du ja aus doppelter Erfahrung selbst wissen, Mama!«
»Hm! Hm! Hm! Hm!« sang Doktor Ruß eine harpegierte Quart und kicherte lautlos in sich hinein, während über Dolores ein Zorngefühl kam, als müsse sie aufspringen und die kleine Freifrau gründlich beuteln.
»Ich finde, diese Erfahrung kommt für dich etwas früh,« entgegnete Frau Ruß schlagfertig, aber fliegenden Atems vor Erregung.
Lolo Falkner lachte.
»Er ist ja sonst ganz nett,« gab sie großmütig zu, und dann ihre langen Handschuhe zusammenballend und in die Luft werfend, sang sie aus voller Kehle: »Und morgen kommen die Husaren –! – Du, Dolores, morgen kommt auch dein alter Freund, der Kleckser, um mein Gesicht fertig zu pinseln – na, wie heißt er denn gleich?«
»Der Name Johannes Keppler ist von europäischem Ruf,« sagte Dolores finster und steif.
»Als ob mich das verpflichtete, jeden Anstreicher zu kennen,« lachte Lolo in unverändert guter Laune.
In diesem Moment bog Falkner um die Ecke und trat alsbald auf die Terrasse.
»Ah – da haben wir ja denselben Gedanken gehabt,« meinte Lolo gedehnt, als sie ihm zwei Finger zum Gruß reichte. »Du kommst doch auch, Dolores zu besuchen?«
»Auch das, wenn sie es gestattet,« erwiderte Falkner etwas scharf. »Aber ich kam eigentlich, dich zu holen –«
trällerte Lolo.
»Es wäre in jedem Falle sehr freundlich gewesen, mich von deinem Ausgange zu unterrichten,« bemerkte Falkner.
»Na, da habt ihr die Standpauke,« rief Lolo mit komischer Resignation. »Ich hab's ja gleich gesagt, solch' ein Ehepaar ist eine schöne ›Stütze der Gesellschaft,‹ in Bezug auf interessante Konversation.«
»Ich höre eben, daß Keppler morgen kommt,« fiel Dolores schnell ein, um weitere Auseinandersetzungen der jungen Frau zu verhindern.
»Ja, er kommt,« sagte Falkner rauh, »aber ich fürchte, seine Zeit wird verloren sein, denn die Stunden, die mir verweigert sind, dürften ihm kaum gewährt werden.«
»Cela dépends,« warf Lolo lustig ein.
Falkner stand auf.
»Wir wollen nach Hause gehen,« sagte er, mühsam beherrscht.
Aber sie rührte sich nicht vom Flecke.
»Erst mein Abendbrot,« rief sie, mit ihren Handschuhen spielend.
Und sie blieb wirklich, bis Thee und kalte Küche serviert waren, dann erhob sie sich auf das Zeichen ihres Mannes.
deklamierte sie lustig.
Auf dem Heimwege sprachen sie kein Wort, und Lolo füllte den langen Weg damit aus, daß sie wie ein Gassenbube allerlei Gassenhauer pfiff. In Monrepos angelangt, öffnete Falkner ihr die Thür ihres Boudoirs.
»Du wirst nach all dem wohl dein Zimmer einem gemeinschaftlichen Zusammenbleiben, das so wenig Chic ist, vorziehen,« sagte er.
»Mach' kein so brummiges Gesicht,« erwiderte sie lächelnd statt einer Antwort, und als er, finster genug dareinschauend, ein paar Schritte zurücktrat, fügte sie hinzu: »Wer wird denn jedes Wort, das man sagt, auf die Goldwage legen! Man renommiert manchmal und meint es anders – und besser!«
»Soll das eine Entschuldigung sein für dein Benehmen?« fragte er, trat in das Zimmer und schloß die Thür hinter sich.
»Entschuldigung?« murmelte sie verwundert. »Ja, habe ich denn nötig, mich zu entschuldigen? Und bei dir?«
Falkner nahm die Thürklinke wieder in die Hand.
»O, wenn du es nicht fühlst und dessen nicht bedarfst, dann ist die Sache ja erledigt,« sagte er bitter. Aber im Gehen besann er sich, daß er mit dem kleinen blonden Geschöpfe dort eine Verantwortung übernommen hatte – eine Verantwortung, schwer und ernst wie selten eine. Er beherrschte sich also nochmals und trat nah an die junge Frau heran. »Lolo,« sagte er herzlich und freundlich, »Lolo, ist es denn dir nie eingefallen, daß du mich durch deine Vernachlässigung kränken und betrüben könntest? Ist dir in dem tollen Treiben dieser Woche niemals der Gedanke an mich gekommen?«
»Wieso denn?« fragte sie naiv zurück. »Du warst ja immerzu da!«
»Aber deinem Herzen so weit,« ergänzte er herzlich.
Sie sah ihn groß an und tippte mit dem Zeigefinger ihrer rosigen Rechten auf ihre Stirn, auf der das blonde Haar wie Federn so duftig und leicht lag.
sang sie leise.
Ihm stieg die Zornesröte siedend ins Antlitz, und ein heftiges, böses Wort drängte sich ihm auf die Lippen, aber er bezwang beides.
»Lolo, kannst du ein ernstes Wort nicht auch einmal ernst anhören? Habe ich denn schon ganz aufgehört, dir etwas zu sein?«
»Ach, du guter, alter, dummer Schatz!« lachte sie ihn an, daß alle Grübchen in ihrem reizenden Kindergesichtchen zu Tage traten. »Wann wirst du nur aufhören, ein sentimentaler Ehemann zu sein?«
»Ist das Sentimentalität, Lolo?« sagte er ernst, fast traurig.
»Natürlich, krasse Sentimentalität,« erwiderte sie. »Und nun will ich schlafen gehen, denn morgen kommen die Husaren!«
»Eleonore –!«
»Ja, ja, ja,« rief sie und hielt sich die Ohren zu. »Ich weiß schon, was du sagen willst, aber es soll doch eine lustige Zeit werden, denn tel est mon plaisir!«
Da verließ er sie, zornig, betrübt und empört zugleich und saß die ganze Nacht auf und sann, und ging mit sich zu Rate, was hier zu thun seine Pflicht sei, denn er durfte sie diese schiefe Ebene nicht weiter gehen lassen, damit sie nicht ins Rollen kam und am Abgrund keinen Halt mehr hatte. Er hatte in den schönen, stolzen Zügen von Dolores gelesen, wie sie über das Wesen und Gebaren seiner jungen Frau dachte, aber er hatte darin auch zu lesen geglaubt, daß sie ihn verantwortlich machte dafür, und dieser Gedanke gab ihm neue Kraft, wenn der gerechte Zorn über Lolo ihn übermannte und er das übermütige kleine Geschöpfchen als unverbesserlich beiseite schieben wollte.
»Noch drei Wochen, und ich bin wieder allein mit ihr, und dann will ich mit leiser, zarter Hand, daß sie's nicht merkt, die wilden Schößlinge in ihrem Charakter zu veredeln suchen,« dachte er mit dem festen Vorsatz eines Mannes, der die Pflicht zur Richtschnur genommen hat und weder rechts noch links sehen will. Aber er dachte es auch mit jener souveränen Zeitbestimmung der Menschen, welche ihr »Ich werde es thun« aussprechen, als wären sie der Ausführung ihres Vorsatzes sicher. Hätte Falkner gewußt, wie es in drei Wochen hüben wie drüben aussehen würde – doch auch Lolo dachte an jenem Abende noch an Dolores, denn wie sie vor den Spiegel trat, da fiel ihr ein, wie die Lehnsherrin vom Falkenhof bei ihren unbesonnenen, vielleicht wirklich nur halbgemeinten Worten sie angeschaut – vorwurfsvoll und mit unverhehlter Verachtung, wie sie meinte.
»Schon ganz altjüngferlich,« dachte sie zornig. »Und wenn sie Alfred bedauert wegen seiner schlechten Behandlung durch mich, warum hat sie ihn denn nicht geheiratet? Er war ja zu haben, ehe ich in Betracht kam! Wart', Donna Dolores Falconieros, für diese Gardinenpredigt ohne Worte werd' ich dir schon noch einen Schabernack spielen.«
Im Falkenhofe beschäftigte man sich natürlich auch mit dem Paare. Frau Ruß gab ihrem Manne gegenüber ihrer schwiegermütterlichen Entrüstung vollsten Ausdruck – das war der Instinkt, mit dem die Löwin ihr Junges, die Henne ihr Kücken verteidigt, selbst gegen imaginäre Gefahren. Doktor Ruß beantwortete diesen Ausbruch seiner Gattin mit Lächeln und Achselzucken.
»Wenn dein Sohn kein Pantoffelheld ist, so wird er sich schon zu helfen wissen. Sie sind eben noch in den Flitterwochen, die beiden, und trotzdem ich sie für einen kleinen Satan halte, denke ich doch, daß er den Spieß bald umdrehen wird,« meinte der erfahrene Mann.
Doch Frau Ruß war einmal herausgetreten aus sich und ihrem Schweigen, und ihr volles Herz mußte das, wovon es überlief, erst von sich geben.
»Ah, du glaubst, Alfred wird ein Ehemann werden von deinem Schlage,« sagte sie anzüglich, »ein Knechter, ein Unterdrücker, ein unbarmherziger Niedertreter des eigenen Willens und eigenen Fühlens.«
»Ei, ei, Frau Adelheid Ruß, da hört man ja plötzlich eine Meinung von Ihnen,« hohnlachte er, sichtlich sehr amüsiert über dieses Rütteln an den Ketten, diesen Ausbruch lang zurückgehaltenen Unmuts.
»Hab' ich etwa nicht recht?« fragte Frau Ruß. »Hab' ich mich heut' Abend nicht ins Haus schicken lassen müssen von dir, wie ein unartiges Kind?«
Diese Worte machten der Heiterkeit des Doktor Ruß sofort ein Ende.
»Warum hast du mich so unausgesetzt angesehen?« fragte er.
Nun zuckte sie mit den Achseln.
»Sieht doch die Katze den Kaiser an,« erwiderte sie kurz.
»Ei, ei! So, so!« machte Doktor Ruß langsam. »Nun, mir ward es lästig, und ich schickte dich darum hinein, meine Süße.«
Sie antwortete nicht, doch ein seltsam forschender Blick huschte hinüber zu ihm.
Da trat er hart an sie heran und sah ihr in das kalte, wieder ganz ausdruckslos gewordene Gesicht.
»Ich will wissen, warum du mich so angesehen hast,« sagte er leise, fast zischend, und als sie darauf nur gleichgültig mit den Achseln zuckte, fuhr er fort: »Ich werde deiner Erinnerung etwas zu Hilfe kommen. Es war, als Dolores uns die Geschichte von dem Schuß erzählte.«
»Ja,« erwiderte Frau Ruß unbewegt. »Ich wollte gern wissen, ob du sie für wahr hieltest –«
»Und weiter hatte dein auffälliges Anstarren keine Bedeutung?« forschte er weiter.
»Ich wüßte nicht, welche,« gab sie zurück.
»Ich wollte dir's auch geraten haben,« murmelte er laut genug, um verstanden zu werden, und ging dann ein paarmal im Zimmer auf und ab, ohne es zu bemerken, daß Frau Ruß ununterbrochen die Schlingen an ihrem Strickzeug fallen ließ – eine Nachlässigkeit, die ihr sonst kaum passierte. Aber sie hob die Schlingen nicht wieder auf, sondern strickte in einem Tempo weiter, welches sehr gut und täuschend das Zittern ihrer großen, weißen Hände verbarg. Und Doktor Ruß sah weder auf die Hände, noch auf die Socken von Estremadura, welche für ihn entstanden, und er sah auch nicht die verlorenen Maschen, welche ihm hätten sagen müssen, daß das innere Gleichgewicht seiner Frau in wildem Schwanken begriffen war. Doch, wie gesagt, das Tempo, in welchem sie weiterstrickte, ohne anzuhalten, maskierte all' das vollständig, und nach einer Pause nahm Doktor Ruß das Gespräch wieder auf.
»Der Schuß kann den Ursprung haben, den Dolores ihm beimißt,« begann er, »obgleich die Idee, daß ein rachsüchtiger Brasilianer aus Südamerika eigens dazu herreisen sollte, um sich für seine Absetzung zu rächen, stark abenteuerlich und romanhaft ist. Aber unmöglich ist es immerhin nicht, und Ramo wird schon aufpassen. Ich für meinen Teil denke aber, das Papier wird die Kugelmarke schon gehabt haben, als es hier ankam, und Engels hat sie einfach übersehen, als er sah, daß der Brief spanisch war und er ihn doch nicht lesen konnte. Nun glaubt ja Dolores, die Detonation der Waffe gehört, den Briefbogen in ihrer Hand sich bewegen gefühlt zu haben. Beides kann auf Täuschung beruhen, denn es giebt Schußwaffen, deren Knall kaum dem Schnalzen der Zunge an Stärke gleichkommt –«
»Ich weiß es,« sagte Frau Ruß. »Dolores hat eine Pistole, mit der sie neulich Scheibe schoß. Man hörte die Schüsse kaum.«
»So?«
»Sie hatte dir die Waffe ja wohl geliehen, als sie verreist war?« fragte Frau Ruß unbefangen.
»Mir? Wie kommst du darauf?« fragte er, stehenbleibend, scharf. »Hast du mich damit schießen sehen?«
Die Nadeln flogen, und die Maschen fielen ungezählt, wie gesäet – –
»Nein, ich dachte nur, weil du davon sprachst, dir die Waffe zu leihen.«
Wieder ging er auf und ab.
»Nein, ich that es nicht,« meinte er, »es hat keinen Zweck, und die Pistole kann unkundigen Händen gefährlich werden, wie Dolores sagte. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Ich war immer ein schlechter Schütze.«
»Ja,« sagte Frau Ruß. »Gottlob!«
»Wie so, teures Weib?«
»Nun, es ist schon so viel Unglück passiert mit dem dummen Schießen,« schloß sie, und er nickte bestätigend.
Daß Dolores selbst an jenem Abende noch lange über diesen vielbesprochenen Schuß nachdachte, ist selbstverständlich, wenn man erwägt, daß sie sich als Zielscheibe dafür ansehen mußte. Ramo, dem sie nun auch davon erzählte und ihm auftrug, wachsam zu sein, war mehr erschrocken als er zeigte, und kombinierte sogleich die Fußstapfen im Nordflügel, der nunmehr für die Einquartierung wieder eingerichtet war, mit dem Schützen im Park. Doch Dolores wollte das nicht einleuchten.
»Denke nur, wie lange es her ist, seitdem wir damals diese Fußspuren fanden,« meinte sie. »Es ist viel Zeit dazwischen, mehr als jemand nötig hat, um einen geeigneten Moment zum Abfeuern des Schusses zu finden.«
Ramo mußte seiner Herrin recht geben, und obgleich Dolores sich einzureden versuchte, daß die Kugelmarke wirklich vorher schon in dem Briefbogen war, ging sie doch mit dem unheimlichen Gefühl zur Ruhe, daß es anders war und jemand existierte, der ihr feindlich gesinnt war.
Beim Durchgehen durch das kleine Bibliothekzimmer neben ihrer Schlafstube fand sie einen mächtigen Band auf dem Tische liegen, den sie vorher nicht gesehen. Auf ihre Frage berichtete Ramo, daß Doktor Ruß den Band heut' Nachmittag, als Dolores ausgegangen war, selbst heraufgebracht und, da er sie nicht antraf, hier niedergelegt und mit Zeichen versehen hatte. Er, Ramo, sei indes abgerufen worden und als er nach ein paar Minuten wieder zurückgekehrt sei, um dem Herrn Doktor die Thür zu öffnen, habe er Doktor Ruß oben nicht mehr angetroffen.
»Ich hab's im ganzen nicht gern, wenn jemand sich in meinen Zimmern aufhält, während ich ausgegangen bin,« meinte Dolores, sich setzend, »doch das soll kein Tadel für dich sein, lieber Ramo.«
»Ich weiß, meine Herrin ist gütig,« murmelte der erprobte Diener beschämt. »Und wenn mich Tereza nicht für einen Moment in den Korridor gerufen hätte, wäre Herr Doktor auch nicht allein hier zurückgeblieben.«
»O, ich meine ja nicht, daß Doktor Ruß oder jemand anderes hier etwas Unrechtes thun würde,« erwiderte Dolores lächelnd über die Auffassung Ramos. »Mir ist nur der Gedanke fatal, daß ich meine Zimmer nicht immer für mich allein habe.«
»Sehr wohl,« erwiderte Ramo, dessen Fehler langsames Begreifen nicht war, und ging mit einem unterthänigen »Gute Nacht!«
Dolores schlug den gebrachten Band auf – es war eine alte Meriansche Chronik, von welcher Doktor Ruß ihr gesprochen und die er aus der großen Bibliothek hervorgesucht hatte. Trotzdem sie für diese Litteratur großes Interesse hatte, las sie heut' dennoch nicht jene naiven und schlichten Berichte »kurioser Begebenheiten« vergangener Jahrhunderte, sondern blätterte zerstreut in den Kupferstichen und Holzschnitten, welche verschwenderisch die Chronik zierten. Darüber wurde sie müde, und als sie sich erheben wollte, um schlafen zu gehen, da überkam es sie mit solcher Mattigkeit, daß sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte und die Augen schloß. Da hatte sie das angenehme, wohlige Gefühl, langsam und leise zu schweben, gelehnt in einen festen, sicheren Arm, und als sie wieder festen Boden unter sich spürte und mit Anstrengung versuchte, die Augen zu öffnen, da sah sie sich oder glaubte sich vor dem Bilde der Ahnfrau drinnen zu sehen im Saal, trotzdem sie keinen Fuß gerührt hatte, hinein zu gehen. Und die Ahnfrau trat aus dem Rahmen heraus und an ihre Seite.
»Ich habe seinen Arm berührt, daß die Kugel dich nicht traf,« hörte sie die sanfte, traurige Stimme sagen.
»Wer? Wessen Arm?« wollte Dolores sagen, aber sie fühlte, daß sie ihre Zunge nicht regen konnte. Und die Ahnfrau legte die weißen, schlanken Hände auf ihr Haupt.
»Es ist nicht an uns, anzuklagen und zu richten. Denke daran, daß die Gefahr noch nicht vorüber ist,« schien sie zu sagen.
Und wieder war es Dolores, als schwebte, schwebte, schwebte sie, und käme wieder hinab auf die Erde – da fuhr sie empor mit einem Schrei.
»Die Herrin hat schon geträumt,« sagte Tereza mit einem Lächeln auf den schwarzen Zügen, indem sie aus der Thür, in der sie gestanden, näher trat.
»Geträumt?!« wiederholte Dolores schlafbefangen.
»Nur kurz, nur ganz kurz,« meinte die alte Negerin beruhigend. »Du gingst hinein in den Saal, Herrin, und kamst sehr bald wieder zurück, und sankst in deinen Stuhl und träumtest. Soll ich dich nicht lieber zu Bett bringen?«
»Ja,« sagte Dolores. »Also ich war im Saale drinnen?«
***
Der andere Tag kam, und mit ihm kamen die von Lolo Falkner so heiß ersehnten Husaren und brachten neues, frisches Leben mit einem Schlage wieder in die grüne Waldeinsamkeit des Falkenhofs und von Monrepos. Freilich, mit der träumerischen Ruhe, die über den Schlössern schwebte und webte, war's wieder für Wochen vorüber, denn Sporenklirren, Säbelrasseln, Wiehern, Stampfen und Trompetensignale verscheuchten die Stille des thaufrischen Morgens, der Sommermittagsschwüle und der warmen Abende, und der Mond, der sein Licht so gern aufsaugen ließ von den goldbronzefarbenen Haarmassen auf Dolores' Haupt und von ihren weißen Kleidern, die sich so weich um ihre schöne Gestalt schmiegten – der es funkeln, flimmern und gleißen ließ in dem Staubsprühregen der Fontänen und geheimnisvoll durch das dichte Laubwerk und über die stillen dunkeln Wasser des Hexenloches huschen ließ – dieses selbe Licht versilberte jetzt noch die Tressen, Schnüre und Waffen der Husarenoffiziere, wenn sie abends auf der Terrasse saßen und auf die köstlichen Pfirsiche, welche die Spaliere des Falkenhofs lieferten, kalten Sekt gossen und diese köstlichste und einfachste aller Bowlen behaglich schlürften. Denn das Wetter befürwortete diese langen, herrlichen Abende auf der Terrasse sehr – es war ein ideales, warmes, sonniges Erntewetter, und das Plus an Hitze milderte ein gelegentlicher kurzer, aber erquickender Gewitterregen stets zur richtigen Zeit. Natürlich waren von den im Falkenhof einquartierten Herren zwei Drittel passionierte Jäger. Sie hatten zum Teil sogar ihre Hühnerhunde mitgebracht und, kaum waren sie aus dem Dienste gekommen und vom Pferde gestiegen, benutzten sie sogleich die gegebene Erlaubnis und gingen auf die Hühnerjagd. Die Jagd auf Hasen sollte zwar erst eröffnet werden, doch die Waldungen des Falkenhofs boten auch ein reich bestelltes Revier für Rehe und Hirsche, und so wurde das Reich der Freiin Dolores für die gewaltigen Nimrode im Husarenattila ein Paradies, das einst verlassen zu müssen sie heut' schon mit tiefstem Bedauern erfüllte.
Gewaltiger noch wurde die Aufregung und Jagdleidenschaft, als die Herren eines Abends die Nachricht mitbrachten, daß ein Steinadler mit gewaltiger Flugspannung im Falkenhofer Revier gesehen worden sei. Ein Förster meldete gleichzeitig, daß der Gewaltige schon Raubzüge auf Rehkitzen und junge Feldhühner mit Erfolg ausgeführt habe. Nun wurde dieser höhere Sport zur Notwendigkeit, doch die List und Wachsamkeit dieses verflogenen königlichen Vogels trotzte beharrlich der Geschicklichkeit und sicheren Hand seiner Verfolger.
Mit den Husaren war auch Keppler wieder in Monrepos angekommen und hatte sich alsbald auch im Falkenhof gemeldet.
»Da bin ich schon wieder,« hatte er gesagt, »ich, der ich kaum früher Zeit hatte, um die Aufträge der Fürsten dieser Welt anzunehmen, ich bin freiwillig hier, um das rosige Kindergesichtchen einer Lolo Falkner zu vollenden. Nein, Fräulein Dolores, Sie müssen mich nicht tadelnd ansehen, denn was können Sie für den Geschmack Alfred Falkners? Nichts, obgleich ich ihm einen besseren zugetraut hätte; oder wollen Sie's leugnen, daß die Baronin Lolo hübsch, aber oberflächlich und unbedeutend ist? Ja, wenn's noch die Großherzogin Alexandra wäre –!«
»Warum sind Sie denn gekommen?« fragte Dolores abweisend.
Keppler sah sie an und lächelte trüb.
»Warum? Es zog mich her – ich hatte keine Ruhe daheim, keine Ruhe auf der beabsichtigten Studienreise. Und die Leute hier sind ein schöner Völkerschlag – ich kann auch hier Studien machen.«
»Lolo wird wenig oder gar keine Zeit für Sie haben,« sagte Dolores ernsthaft.
»Wahrscheinlich nicht, denn sie ist fast noch ein Kind, das gern mit Puppen spielt. Und die Husaren leuchten so schön in ihren roten Röcken, während ich einen grauen Sommeranzug trage und nicht einmal mehr den Frack, wie in jener Zeit, da ich Ihre Durchlaucht, die Prinzeß Eleonore von Nordland malte. Falkner wollte es so.«
»Natürlich. Wenn Sie aber wissen, daß Lolo Ihnen nicht sitzen wird –«
»In der Ahnengalerie des Falkenhofs fehlt noch Ihr Bild, Fräulein Dolores, und ich bin ehrgeizig genug, dieses Porträt malen zu wollen. Was sagen Sie dazu, daß ich unter die Streber gegangen bin, unter die Bewerber um solchen Preis?«
Was sollte sie dazu sagen? Sie konnte die Bescheidenheit, die Demut des größten Porträtmalers nur bewundern und fand sie rührend – aber sie hätte doch verstehen müssen, daß diese Demut in der Liebe ihren Ursprung hatte.
»Sie haben mich schon einmal gemalt –« wandte sie ein.
»Als Satanella, ja. Aber dies Bild ist mein, es erinnert mich an die Zeit, da Sie den Purpurmantel wahrer Künstlergröße trugen,« erwiderte er. »Jetzt ist der Purpur abgestreift und er liegt zu Ihren Füßen, ein Teppich, über den Sie hinwegschreiten. Doch ich gestehe gern, daß Ihnen das weiße Gewand der Châtelaine, der Waldfrau einen neuen, vielleicht höheren Reiz verleiht, und was als Satanella dämonisch aus Ihren Augen leuchtete, es ist geläutert, verklärt und vergeistigt. Wodurch? Das habe ich mich oft schon gefragt, mir aber nie zu beantworten gewagt.«
»Sie haben mich scharf studiert, Herr Keppler,« meinte sie, leicht verwirrt.
»Das ist meines Amtes als Kopist der Natur,« erwiderte er.
Und dabei blieb es, er malte sie in der weißen, goldgestickten Atlasschleppe und dem duftigen Kleide von kostbaren alten, echten Spitzen, ganz ohne anderen Schmuck als den ihrer Schönheit und ihres Goldhaares, nur in diesem, schräg schwebend hoch über ihrer Stirn malte er den Halbmond von Diamanten, wie sie ihn auf der Hochzeit der Großherzogin getragen hatte. Die Arbeit ging rasch und flott vorwärts, und auffallend schnell modelte sich die herrliche weiße Gestalt heraus auf dem schmalen, hellgetönten Paneel – ein lichtes Gedicht, eine Symphonie in Farben, vielleicht nicht so genial wie die Satanella, sicher aber schöner, zum Herzen sprechender.
Einmal beim Malen kam Falkner hinzu in Begleitung von Lolo – er ging selten allein in den Falkenhof.
»O wie schön,« sagte er unwillkürlich, als er vor das Werk des Meisters trat.
»Meinst du das Original oder das Bild?« fragte Lolo und warf den Kopf zurück.
»Meine Frau bringt mich in ein Dilemma,« erwiderte er ruhig. »Denn meine ich das Original, so kränke ich vielleicht den Meister, und meine ich das Bild – was soll das Original von meiner Höflichkeit denken. Folglich wähle ich die goldne Mittelstraße, die hier zur Wahrheit führt, und sage: Das Porträt ist getreu dem Original!«
»Gut gebrüllt, Löwe,« citierte Keppler lachend seinen Shakespeare, indem er ruhig weiter malte.
Dolores sagte nichts. Sie stand auf ihrer Estrade in dem zum Atelier eingerichteten einstigen Tanzsaal des Falkenhofes – einem wundervollen großen Raum mit weißem Stuckmarmor bekleidet und bemalter Decke, auf der es im Rokokogenre von Göttinnen, Nymphen, Amoretten und Seeungeheuern, welche Arnold Böcklin entzückt hätten, zwischen Blumen und Fruchtgewinden wimmelte, der aber entschieden sehr einer Restauration bedürftig war. Aber der nach Norden gelegene Raum war kühl und hatte gutes Licht, das durch hohe, schmale Fenster voll auf die weiße Gestalt flutete, welche ungezwungen neben einem niederen, plüschbezogenen Lehnsessel aus der Renaissanceepoche stand und die schlanke, lilienweiße Linke leicht auf die Lehne stützte.
»Ich fasse nicht, wie du das Modellstehen aushalten kannst, Dolores,« meinte die junge Frau, indem sie an den Spitzen von Dolores Kleid zupfte. »Ich wenigstens werde davon so müde, als hätte ich im Felde Kartoffeln gehackt.«
»Ich bin auch sehr müde,« sagte Dolores und erblaßte in diesem Moment so, daß Keppler erschrocken die Palette hinlegte.
»Dolores – du solltest dich nicht so anstrengen,« rief Falkner, neben sie tretend. »Komm herab – laß es genug sein für heute.«
»Nein, nein,« sagte sie mit mattem Lächeln, »es geht immer sehr schnell vorüber –«
»Wie, du leidest öfter daran? Was ist es?« fragten Falkners a tempo.
»O, eigentlich nichts,« erwiderte Dolores apathisch. »Es mag eine Folge des heißen Sommers sein, daß ich so träge geworden bin seit Tagen – seit einer Woche etwa. Ich ermüde bei jeder Beschäftigung, und es ist mir alles ganz gleichgültig, ob es so wird oder so. Und manchmal kommen die kleinen Frostanfälle, von denen ich eben einen hatte, und die mir dann alles Blut für einen Moment erstarren machen.«
»Aber du solltest doch einen Arzt fragen,« sagte Falkner, besorgt in das schöne, aber vergeistigt blasse Antlitz seiner Cousine sehend.
»Wozu? Es ist nichts, wird vorübergehen,« entgegnete sie.
In diesem Moment trat Ruß in den Saal.
»Ah, ah! Ein ganzes Convivium hier versammelt?« fragte er überrascht. »Wenn das Mama gewußt hätte –«
»Wir kommen noch, ihr guten Tag zu sagen,« fiel Falkner ein, »heut' galt aber Dolores unser Besuch in erster Linie. Doch vor allem ein Wort an dich: du mußt deinen Einfluß geltend machen, daß Dolores einen Arzt konsultiert.«
»Ist sie krank – unsere lebensfrische, starke, gesunde Dolores?« fragte Doktor Ruß überrascht und wandte sich nach ihr um. Dabei fiel das Licht so auf sein Gesicht, daß es sich einzig und allein in seinen ungefaßten, starken Brillengläsern sammelte und diesen das Aussehen von enormen Augen ohne Lider, Wimpern, Iris und Pupille verlieh, wie wir sie in ihrem regungslosen Glanze bei Schlangen sehen.
Dolores fuhr vor diesen auf sie gerichteten, durch die Beleuchtung furchtbaren Augen mit einem leisen Schrei zurück – ein Beweis für die Abgespanntheit ihrer Nerven – und ein Schauer des Entsetzens überrieselte sie. Aber sie bezwang sich schnell.
»Ich glaube, der Einfluß des Herrn Doktors auf mich wird überschätzt,« sagte sie kühl und vielleicht schroffer, als sie gewollt. »Lassen wir also meine kleine Indisposition beiseite, und hören wir lieber, was die Herrschaften von Monrepos heut' nach dem Falkenhofe geführt hat.«
»Ah – ich bitte ungebeugte Willenskraft, unbeeinflußte Unabhängigkeit bei der sogenannten Patientin festzustellen,« rief Doktor Ruß scherzend und scheinbar unberührt von der unzweideutigen Abweisung.
»La garde meurt, mais elle ne vomit pas,« vollendete Lolo mit einem Kompliment gegen Ruß, welcher, da die anderen lächelten und lachten, es nolens volens mitmachte. »Das ist nämlich Graf Schingas Devise, die er sich selbst übersetzt hat,« erklärte die junge Frau, »er hat sich im Lexikon das Wort ›übergeben‹ statt ›ergeben‹ gesucht – folglich nicht La garde ne se rend pas, sondern elle ne vomit pas.«
»Ja, es ist eine böse Sache um Sprachen, die man nicht versteht,« sagte Falkner amüsiert. »Überhaupt sind die fatalen Fremdwörter eine böse Klippe für unseren guten Grafen, der neulich in Berlin bei einer befreundeten Familie den ›Cicero‹ spielen mußte und sie unter anderem auch in den ›Theologischen‹ Garten führte.«
»Ah,« meinte Keppler, »die Garde des Grafen Schinga erinnert mich an einen guten Freund, welcher in einer englischen Familie, mit der ich noch besser befreundet war, gastliche Aufnahme gefunden hatte und sich bei seiner Heimkehr gedrängt fühlte, den Gastfreunden nochmals dafür zu danken. Er drockste also einen recht steifen englischen Brief zusammen, den er sich erst deutsch aufgesetzt hatte, und der mit dem Satze schließen sollte: Gott bewahre Sie und Ihre liebe Familie. Da fehlte ihm das rechte Wort für ›bewahren‹ – und er fand dafür in seinem Lexikon: to conserve, to preserve and to pickle. Die beiden ersten Vokabeln schienen ihm aber in keiner Weise den Sinn wiederzugeben, und so schrieb er denn stolz den Schlußsatz nieder: ›May God pickle you and your dear family.‹ – Ob der Gastfreund von dem Wunsche, nebst den Seinen in Essig gelegt zu werden, sehr erbaut war, ist zu bezweifeln.«
Die harmlose kleine Geschichte Kepplers fand die nötige Würdigung, erheiterte die Stimmung merklich und klärte die kleine Wolke, welche die scharfe Zurückweisung von Doktor Ruß' Einfluß auf und durch Dolores hervorgerufen hatte, vollkommen.
»Und nun zu des Pudels Kern,« meinte Falkner, indem er sich wieder an Dolores wandte. »Wir sind gekommen, dich zu bitten, deinen Geburtstag drüben bei uns in Monrepos zu feiern.«
»Ihren Geburtstag? Wann ist der?« fragte Keppler elektrisiert.
»Morgen,« erwiderte Dolores, und indem sie Falkners zulächelte, setzte sie hinzu: »Es ist so freundlich von euch, meiner zu gedenken, aber morgen müßt ihr mit euren Gästen zu mir kommen. Es ist mein erster Geburtstag als Lehnsherrin, und da muß ich doch allem, was da fleucht und kreucht im Bereiche des Falkenhofs, ein Fest geben, inklusive meiner Gäste, der Husaren. Also abgemacht?«
»Abgemacht,« rief Lolo, doch Falkner sagte:
»Schade –! Wir hätten dich gern bei uns gefeiert, doch ich sehe, daß du Pflichten an diesem Tage zu erfüllen hast.«
Da stieg eine feine Röte in ihre blassen Wangen.
»Es thut mir so leid, daß es nicht dein Geburtstag ist, den die Falkenhofer feiern sollen,« sagte sie leise mit bittendem Blick, als wäre es ihre Schuld.
»Ich weiß es und bin überzeugt davon,« erwiderte er freundlich und heiter, »und,« setzte er, nur für sie hörbar, hinzu: »was an Bitterkeit je davon bestanden – es ist bereut und überwunden, und zur Süßigkeit geworden –«
Da stieg wieder ein feines Rot auf in ihren Wangen – das zarte, duftige, hingehauchte Rot der Meeresmuscheln.
»So – dieses leise Inkarnat der maiden-blush-Rose und diesen weichen Ausdruck in Ihren Augen muß ich festhalten,« sagte Keppler und sah sie fest an, »beides paßt so trefflich zu der lichten Stimmung des Bildes – und steht in solch schroffem Gegensatz zur Satanella,« setzte er eifrig malend hinzu.
Da wurde das Rot auf Dolores' Wangen etwas tiefer, Falkner aber trat neben Keppler heran und sah seiner Arbeit zu.
»Es ist ein Umschwung, daß Sie, der sonst stets oder mit Vorliebe auf tief gesättigtem Hintergrund malten, meine Cousine im weißen Kleide an die weiße Marmorwand stellen,« meinte er.
»Es ist eine Ausnahme, zu welcher der Stoff nicht nur verleitet, sondern gebieterisch hinweist,« erwiderte der Maler.
»Ich wollte, es wäre morgen mein Geburtstag,« sagte Lolo auf der Estrade zu Dolores' Füßen hockend.
»Warum? Hast du solche Sehnsucht, älter zu werden?« fragte Ruß.
»Nein, aber man bekommt da immer eine Masse hübscher Sachen geschenkt,« erklärte die kleine Freifrau ehrlich.
»Ich wüßte nicht, wer mir etwas schenken sollte,« warf Dolores ein.
»Ach du Ärmste,« gähnte Lolo. Sie langweilte sich schon wieder sehr. Doch plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Ich werde dir etwas schenken,« jubelte sie und begann vor Freude einen Solotanz zu tanzen. »Ich habe ja eine gottvolle Idee –« –
»Desto besser,« sagte Dolores lächelnd, »ich werde dir auch wieder etwas schenken.«
Als sie dann nach Hause fuhren, fragte Falkner seine Frau, was sie der Cousine zu geben gedächte.
»Abwarten!« erwiderte Lolo geheimnisvoll. »Ihr werdet alle Kopf stehen und ›paff‹ sein.« – –
Dolores war wirklich, wie der Engländer sagt, »out of sorts.« Sie war nicht gerade krank, aber sie war jenen kalten Schauern ausgesetzt, von denen der Volksaberglaube sagt: Der Tod lief über mein Grab. Diese Schauer kehrten so oft nicht wieder, um ernste Krankheitssymptome zu bedeuten, aber sie fühlte sich matt und müde und apathisch. Statt, wie sie es gewohnt war, stets beschäftigt zu sein, konnte sie jetzt stundenlang sitzen und denken. Aber ihre Gedanken wanderten dabei irr hin und her oder verloren sich in ein Dunkel und in solch' ungemessene Weiten, daß sie ganz erschöpft von dem Suchen und Halten in eine Lethargie verfiel, welche nicht abzunehmen schien, sondern sich oft so lange verlängerte, bis Tereza und Ramo vereint sie aufrüttelten. War sie dann im Gespräch mit anderen, so ward es besser, doch die Lebhaftigkeit und Schlagfertigkeit von früher war fort und von ihr gewichen.
»Ich bin zu allem zu faul,« sagte sie oft zur Gräfin Schinga, welche jetzt öfters kam und ihr Chopin vorspielte.
»Die Dilettantin muß die Meisterin anregen,« pflegte sie zu sagen, wenn sie sich zum Flügel setzte, aber Dolores hörte sie gern spielen, denn was ihr an tieferem Studium abging, ersetzten Genie und Instinkt.
Der Geburtstagsmorgen wurde wie alltäglich einer Porträtsitzung gewidmet, bei welcher Keppler ihr das eigene Porträt, wenn auch noch unvollendet, als Angebinde überreichte. Sie war überrascht und erfreut und wunderte sich doch, wie mühsam und farblos der Dank ihr von den Lippen kam. Dann kamen Herr und Frau Ruß und überreichten eine antike Armspange, welche sich in ihrem Besitz befand, und Dolores fragte sich, wie es möglich sei, daß das Grauen, welches sie gestern vor Doktor Ruß infolge einer optischen Täuschung empfunden hatte, heute wiederkehren konnte bei seiner wohlgesetzten kleinen Rede.
»Ich muß wirklich krank sein, daß ich so thöricht bin,« dachte sie, ohne das Furchtgefühl, das sie wieder beschlich, bekämpfen zu können, und erleichtert atmete sie auf als Engels erschien, gefolgt von Knieper, welcher zur Feier des Tages ein Halsband von Blumen und einen Strauß am Schwänzchen trug.
»Na, immer noch nichts gefunden von dem brasilianischen Meuchellumpen?« fragte der Verwalter in der Thür den öffnenden Ramo.
»Nichts, Herr Engels,« antwortete der Diener.
»Schadet nichts, werden den Galgenstrick schon kriegen,« versicherte der Frager mit Zuversicht.
»Nur nicht den falschen,« meinte Doktor Ruß mit Hohn.
»Glauben Sie, daß hier so viele herumlungern?« fragte Engels treuherzig, worauf Doktor Ruß nur mit den Achseln zuckte.
Zur Dinerstunde fanden sich um sechs Uhr abends neben den auf dem Falkenhof einquartierten Herren noch Graf und Gräfin Schinga ein – die Herrschaften von Monrepos kamen mit ihren Gästen erst im letzten Moment und weit hinter der Zeit. Der Kommandeur des Husarenregiments reichte nach ihrem Eintreffen Dolores sofort den Arm und führte die in schlichter, aber unendlich geschmackvoller weißer Wollrobe Gekleidete zur Tafel, welche in der reich und verschwenderisch im Renaissancestil ausgestatteten Banketthalle des Falkenhofs gedeckt und mit den Silberschätzen des Hauses geschmückt war. Als man schon saß, rief Lolo plötzlich aus:
»O, Dolores, ich habe mein Geschenk für dich im Wagen gelassen!«
»Wir können es nach dem Essen ansehen,« nickte Dolores dankend.
»Ja ja! Aber laß es inzwischen holen und ins Haus tragen,« bat die junge Frau. »Es ist ein vergoldeter Korb – aber daß niemand ihn öffnet. Hört ihr?« ermahnte sie die Diener.
»Das ist ja beinahe, als ob Sperlinge darin wären,« schrie Schinga über den Tisch herüber.
erwiderte Lolo übermütig.
Falkner glaubte jetzt zu verstehen, denn seine Frau besaß solche Figuren, welche eine Feder in die Höhe schnellte, wenn man den Kasten öffnete, in welchem sie sich befanden.
Eine solch' vergnügte Gesellschaft hatte der Falkenhof seit Jahrzehnten nicht beherbergt, wie heute, denn die Speisen waren gut und die Weine aus den tiefen, kühlen Kellern vortrefflich. Außerdem dufteten die Rosen in den Aufsätzen von Silber und altem Meißner Porzellan, und um die Tafel saß ein Teil der goldenen Jugend der großen Armee, an ihrer Spitze aber als Hausfrau und Wirtin Dolores Falkner – da hätte schon viel dazu gehört, um die allgemeine frohe Manöverstimmung herabzudrücken.
Die Toaste, welche außerdem noch ausgebracht wurden, trugen durch den Brauch, allemal dabei auszutrinken, wesentlich zur Erhöhung der rosigen Stimmung bei. Erst erhob sich der Kommandeur und dankte der Schloßherrin für die vortreffliche, fast fürstliche Aufnahme seiner selbst und seiner Offiziere im Falkenhof, deren Jäger immer noch hofften, ihr den lang umpürschten Steinadler als Geburtstagsgeschenk nachträglich überreichen zu dürfen. Dann ließ Graf Schinga Dolores als Nachbarin leben in ebenso kunstlosen wie unverständlichen Redewendungen, worauf Doktor Ruß ein kleines Meisterwerk von Rede vom Stapel ließ. Zuletzt aber schlug Falkner an sein Glas, erhob sich, und rief, es hoch empor hebend: »Der Herrin vom Falkenhof!«
Dolores wußte wohl, was dieser kurze Toast für sie bedeutete – eine Anerkennung ihrer Rechte, eine Abbitte zugefügten Unrechtes, den Schlußstein zu der Brücke, welche über den Abgrund führte, der einst beide getrennt. Beglückt, umbraust von dem dreifachen Hoch ihrer Gäste, erhob auch sie sich und ließ ihr Glas mit dem Falkners zusammenklingen.
»Hie guet Falkner alleweg!« sagte sie mit dankbarem Herzen.
»Es trafen sich die Gläser und gaben guten Klang,« summte Doktor Ruß vor sich hin, als die geschliffenen Krystallkelche leise und hell zusammenstießen.
»Prosit, Dolores,« rief Lolo herüber und streckte die Hand mit dem gefüllten Glase aus. Die Gerufene dankte lächelnd, berührte leicht das hingehaltene Glas mit dem ihren und klirr – – lagen beide Gläser zersprungen und zersplittert auf dem weißen Tafeltuch.
»Das haben wir aber geschickt gemacht,« lachte Lolo, während Gräfin Schinga, welche vielem Aberglauben huldigte, entsetzt die Hände faltete.
»Thut nichts, wir haben mehr von dieser Sorte,« nickte Dolores, welche in dieser Beziehung keine Vorurteile hatte, aber das brechende Glas hatte ihre Nerven für einen Moment doch ins Schwanken gebracht.
Nach beendigter Tafel sollte der Aufzug der Dorfbewohner vor der Terrasse stattfinden, darauf aber ein Feuerwerk abgebrannt werden, das die Beamten des Lehns ihrer Herrin stifteten. Ehe man aber heraustrat, kam Dolores an Lolo heran und reichte ihr die Hand.
»Die dummen, zerbrochenen Gläser haben dich doch nicht erschreckt?« fragte sie. »Das hat ja gar keine Bedeutung.«
»Natürlich nicht,« erwiderte die junge Frau überlegen.
»Nun, es freut mich, daß du den thörichten Köhlerglauben über solche Dinge nicht teilst,« meinte Dolores. »Ich glaube auch nicht an eine besondere Bedeutung derartiger Zufälligkeiten. Aber jetzt mußt du mir dein Geschenk zeigen!«
»Ja, ja, mein Geschenk,« rief Lolo begeistert. »Ich hatte es schon wieder ganz vergessen – komm!«
Auf einem Seitentischchen in der großen Halle, welche auf die Terrasse mündete, hatte man das runde, flache Körbchen von vergoldetem Span hingestellt, welches Lolo von Monrepos herüber gebracht hatte. Umgeben von der Schenkerin, Falkner und mehreren Herren, schritt Dolores darauf zu, öffnete das an der kleinen Haspe hängende Schlößchen, schlug den Deckel auf und – fuhr im nämlichen Augenblick mit lautem Schrei zurück, denn auf dem rosa Atlaspolster ringelte sich ängstlich und wild gemacht eine jener bräunlichen Nattern, wie unsere Wälder sie oft bergen, und fuhr zischend auf Dolores los, welche vor Schreck und Entsetzen bewußtlos zusammenbrach und eben nur noch von Falkner und einem der Offiziere aufgefangen wurde, während ein anderer schnell entschlossen das geängstigt auf dem Fußboden sich windende und schlagende Tier mit einem der zunächst stehenden Säbel tötete. Es war ein ganz harmloses Reptil, aber es war nicht klein, und wer ein Grauen davor hat, dem verrichtet's denselben Dienst wie eine Riesenschlange, der man unerwartet gegenüber steht.
Dolores erholte sich in derselben Minute wieder, in welcher Schreck und Antipathie sie besinnungslos gemacht, aber sie war totenblaß und ihre Hände steif und kalt, während schwere, eisige Tropfen auf ihrer Stirn standen. Man versicherte ihr sofort, daß die Schlange unschädlich gemacht sei, aber sie brachte dennoch kein Wort über die Lippen und als Lolo sich ihr, sichtlich betreten über den Erfolg ihres gemachten Spaßes, langsam näherte, da wandte sie sich ab von ihr.
Mit der ihrem Charakter eigenen Selbstbeherrschung erklärte sie sich im nämlichen Augenblick bereit, auf der Terrasse zu erscheinen und ließ sich von Falkner hinausführen.
»Dolores, glaubst du, daß ich in dieses – dieses Geschenk eingeweiht war?« fragte er, zu ihr herabgeneigt.
»O nein,« erwiderte sie freundlich.
Und dann nahm sie Platz inmitten ihrer Gäste und der Aufzug der Bauern mit ihren Frauen und Mädchen in deren malerischer Landestracht begann. Die Schulzen aus den verschiedenen Dörfern, die zum Falkenhof gehörten, hielten Reden, die Mädchen brachten Kuchen, Eier, Hühner und Lämmer als Geschenk und sagten Gedichte auf, und Dolores hatte für jedes einen herzgewinnenden Dank, ein besonders freundliches Wort. Auf dem Dominialhofe waren Tafeln gedeckt und dorthin mündete der Zug zum leckeren Mahle von Schweinebraten, Klößen, Salat, Kuchen und Obst, und die Leute an den aufgelegten Bierfässern hatten alle Hände voll zu thun, die Gläser zu füllen, während es am Schulzentische, wo die Gemeindevorsteher saßen, reichlich Wein gab, welchen Dolores selbst ihren Untergebenen zutrank, um nach vollendetem Mahle den Tanz auf dem Rasen selbst zu eröffnen und einen Glücksbeutel herum zu reichen, daraus ein jeder sich eine Nummer ziehen konnte, welche ihm ein hübsches, praktisches Geschenk aus der bunten Marktbude am Parkeingang einlöste.
Es war alles so hübsch und sinnig geordnet mit vollstem Verständnis für Geschmack und Neigung der Landleute, welche bei aller Disciplin freie Bewegung hatten, daß man rückhaltlos die Begabung der jungen Lehnsherrin für derartige Feste anerkannte. Und in der That gehört mehr dazu, den schlichten Landmann zu erfreuen, als Geld und eine offene Hand – es gehört ein offenes Herz dazu und liebevolles Eingehen in das, was ihm lieb ist durch Tradition und eigene Neigung, es gehört dazu eine von Herzen kommende Freundlichkeit, nicht jene Herablassung, welche auch das freundlichste Wort hohl klingen läßt und zum Stachel macht. Und wer da meint, daß ihm durch ein Gespräch mit dem niederen Mann ein Stein aus der Krone fällt, der kann sich darauf verlassen, daß dieser Stein sehr schlecht und locker gefaßt war, denn wir können aus dem gesunden, ursprünglichen Urteil des geringen Mannes oft mehr lernen, als aus Dutzenden von Büchern. Die Erziehung und die Bildung machen uns ja erst von dem Volke verschieden, denn der Schneeschipper unten auf der Straße hat vielleicht genau dieselbe Quantität Gehirn wie du, nur daß es bei dir geweckt durch den Ruf »Excelsior,« während es bei ihm schlummert, roh weiter arbeitet oder am Ende ganz einschläft.
Das Volksfest im Falkenhof war also ein solches im besten Sinne des Wortes, denn Dolores wußte durch ihre Arrangements, die sie mit Engels ausgearbeitet, ihre Untergebenen zu erheitern und harmlos zu unterhalten, immer mitten unter ihnen erscheinend und alle Mütter auffordernd, ihre Kinder morgen nach dem Falkenhof zu bringen zu Spielen und süßen Bissen.
Doch als die Fässer leer waren und die letzte Fiedel verklungen und die bunten Papierlaternen und Stocklaternen verlöschten, und alles sich lachend und singend mit donnernden Hochs auf die Lehnsherrin entfernte, als auch die Nachbarn fort waren und man sich Gute Nacht sagte, da brach Dolores fast zusammen. Es war zuviel für sie gewesen, die, sonst so stark und gesund, das Wort »Anstrengung« nicht kannte. Sie erschreckte Tereza erst durch eine lange Ohnmacht, aus welcher sie total erschöpft erwachte, um dann in einen ruhelosen, fieberhaften, traumgequälten Schlaf zu verfallen.
Tereza hatte in ihrer Angst erst Mamsell Köhler herbeigerufen, welche mit Essigäther, Salmiakgeist und Eau de Cologne hinzueilte und die Bewußtlose damit zu beleben suchte. Als dies gelungen war und Dolores zu Bett lag, hatte sich's die Beschließerin aber nicht versagen können, Frau Ruß, welche noch wach war, von dem Vorkommnis zu unterrichten, worauf Doktor Ruß nach oben eilte und es von Tereza durchsetzte, an das Bett der Kranken geführt zu werden. Dort prüfte er den Puls der unruhig Schlafenden, maß ihre Temperatur durch Einlegen eines Maximalthermometers in die linke Achselhöhle, was Tereza sehr mißtrauisch beobachtete, und ging dann wieder herab.
Nach einer Weile erschien er bei seiner Frau, ein Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit in der Hand.
»Liebes Weib,« sagte er, »unsere teure Dolores scheint heut' Abend zu viel gethan und ihre Nerven überspannt zu haben – hm, hat entschieden Fieber, wenn auch nicht in hohem Maße. Ich habe ihr hier drei Tropfen Aconit der dreifach verdünnten Potenz in Wasser zurecht gemacht, und bitte dich, nach oben zu steigen, den Inhalt des Fläschchens in ein Glas Wasser zu mischen und dieses der Kranken löffelweise während der Nacht durch Tereza verabreichen zu lassen.«
Frau Ruß rührte sich nicht.
»Willst du gehen, liebste Adelheid?« fragte der Doktor sanft.
»Nein,« sagte sie laut und hart.
»Nein?« wiederholte er. »Ich habe wohl nicht recht verstanden?«
»Doch,« erwiderte sie kurz.
Da lachte er leise in sich hinein.
»Also immer noch eifersüchtig, Geliebte?« fragte er mit vollem Brustton, doch sie antwortete nicht.
»Nun, ich kann dich nicht zwingen,« fügte er hinzu. »Du willst also sicher nicht diese Arznei nach oben tragen?«
Da stand sie plötzlich auf. »Ja,« sagte sie, »gieb her!«
»Ah, das ist vernünftig. Und die Vorschrift des Gebrauchs – –«
»Ich kenne den ganzen homöopathischen Humbug,« erwiderte sie trocken, nahm die Flasche aus seiner Hand und ging.
Auf dem zweiten Treppenabsatz nach oben befand sich aus guter alter Zeit her in die Wand eingelassen ein kupfernes Behältnis für Wasser, das aus einem Delphinrachen in ein kupfernes Becken in Muschelform rann und ehedem wohl zum Spülen von Gefäßen bestimmt war, da ein Abzugsrohr das gebrauchte Wasser nach unten leitete. Vor diesem Becken stand Frau Ruß, Licht und Flasche in der Hand, unschlüssig still – es arbeitete seltsam in den harten Zügen dieser Frau, Haß, Schreck und Entsetzen und etwas wunderbar Weiches spiegelten sich auf ihrem Antlitz wieder, dann, mit einer raschen Bewegung setzte sie das Licht nieder, goß den Inhalt des Fläschchens in das Becken aus, spülte das Fläschchen drei-, viermal aus und füllte es endlich wieder ganz mit klarem Wasser. So gab sie es an Tereza ab, die es ihrerseits auch wieder fortgoß, denn sie hielt in ihrem schlichten Negerverstande den Dilettantismus in der Homöopathie mit so vielen anderen für einen Unsinn ohne Ziel und Zweck.
Dolores aber befand sich am nächsten Morgen auch ohne die drei Tropfen Aconit des Herrn Doktor recht wohl und fühlte sich verhältnismäßig frisch.
***
Falkner hatte seiner Frau gegenüber kein Wort verloren über das Geschenk der Schlange an Dolores. Zwar, was er im Innersten empört eine unglaubliche Herzensroheit nannte, war ja kaum mehr als ein Kinderstreich, dessen Tragweite nach keiner Seite hin bemessen oder erwogen war, aber der Vorgang hatte so auf ihn gewirkt, daß er sich bei einer Vorstellung darüber nicht die nötige Ruhe zutraute, mit welcher er Lolo zu überzeugen hatte. Darum schwieg er vorläufig ganz – vielleicht, daß die junge Frau dadurch eher zur Überlegung gelangte, obgleich er das kaum zu hoffen wagte. Seine Taktik, obwohl er es kaum so nennen konnte, was ihm Schweigen auferlegte – seine Taktik erwies sich aber als von Erfolg, denn Lolo, welche nach dem gehabten Effekt ihrer »gloriosen Idee« heftige und wohlverdiente Vorwürfe fürchtete, war über das Ausbleiben derselben erst erleichtert, dann erstaunt und zuletzt beunruhigt, denn sie sah und erkannte wohl aus dem Benehmen ihres Gatten, daß dieser Streich seinem Vertrauen zu ihr einen heftigen Stoß versetzt hatte. Und sie, die sich zuerst mit dem nötigen Trotz gewappnet hatte, um seinen Vorwürfen keck entgegenzutreten, sie fühlte ihn in einem gewissen Unbehagen schwinden und schmelzen, und dieses Unbehagen wurde allgemach zur Angst, die Angst zum Herzklopfen. Am Abend nach dem Fest im Falkenhofe aber hielt sie's nicht länger aus, und sie suchte ihren Gatten in dessen Zimmer auf.
»'n Abend, Alfred,« sagte sie, scheinbar harmlos eintretend.
»Guten Abend, Lolo. Willst du etwas von mir?« kam es kalt und erstaunt zurück.
»Nein,« erwiderte sie gedehnt, denn sie hatte ganz vergessen, sich für ihr ungewohntes Erscheinen einen Vorwand auszudenken. Zugleich aber faßte sie einen herzhaften Entschluß. »Ja,« setzte sie kühn hinzu, »ich wollte dich fragen, ob du böse auf mich bist. Du hast seit gestern kaum ein Wort mehr mit mir gesprochen!«
»Hast du das vermißt?« fragte er nicht ohne Bitterkeit und legte das Buch fort, in dem er gelesen hatte.
»Es scheint beinahe so,« murmelte sie.
»Ja, wirklich, Lolo? O, dann brauche ich noch nicht alles für verloren zu halten,« sagte Falkner herzlich – er war entwaffnet, und es hätte in der That schon sehr schlimm stehen müssen mit beiden, wäre er's nicht gewesen. Und nun stellte er ihr vor, welche Menschen- und Tierquälerei der »kapitale Spaß« gewesen, den sie gestern mit der Schlange bei Dolores ausgeübt. Sie hörte es ganz ernsthaft mit an, aber es überzeugte sie nicht ganz.
»Aber Lolo, denke nur, welche Furcht du vor Mäusen hast,« suchte Falkner dieser Lücke nachzuhelfen. »Was würdest du sagen, wenn Dolores dir zum Geburtstag Mäuse in einem Körbchen schenken wollte, um dich mit deiner Idiosynkrasie zu necken!«
»Ich kriegte die Krämpfe und kratzte ihr dann die Augen aus,« rief Lolo mit blitzenden Augen bei dem bloßen Gedanken.
»Nun also! Und du kaufst einem Waldhüter diese von ihm gefangene extra große Natter ab und bescherst sie der armen Dolores. Du hast den Effekt gesehen und kannst sehr froh sein, daß der furchtbare Schreck sie nicht auf dem Fleck tötete – als Geburtstagsgeschenk!«
»Hältst du das für möglich?« fragte sie mit großen Augen und gedämpfter Stimme wie ein Kind im Finstern.
»Gewiß,« sagte Falkner. Er war dessen zwar nicht ganz sicher, hielt aber starke Farben in diesem Falle für die einzig richtige Kur.
»Nun also, dann sei nicht mehr böse, Alfred,« bat sie kleinlaut. »Ich werde Dolores nie wieder eine Schlange schenken.«
Jetzt mußte er sich abwenden, ein Lächeln zu verbergen.
»Damit ist es aber noch nicht gut gemacht, Lolo,« sagte er dann. »Du wirst Dolores wohl ein Wort der Entschuldigung sagen müssen!«
Da stieg der jungen Frau das Blut ins Gesicht.
»Nein,« rief sie, sich emporbäumend, »nein, niemals. Ich werde mich vor ihr nicht demütigen.«
»Du mußt es nicht so auffassen, Lolo,« suchte er sie zu überzeugen. »Du hast es ja so leicht, da du Böses nicht beabsichtigt, sondern nur im Leichtsinn und unüberlegt gehandelt hast.«
»Ich thue es nicht,« sagte sie trotzig.
»Und Dolores wird dir mehr als auf halbem Wege entgegenkommen,« fuhr er fort.
»Woher weißt du das?« fragte sie scharf, mißtrauisch.
»Weil ich es von Dolores nicht anders erwarte,« erwiderte er ruhig.
»Nein, diese hohe Meinung, die du von ihr hast!« rief sie nervös und voll Hohn.
»Ich hoffe, sie hat die gleiche von mir, Lolo!«
»O, zweifellos. Aber ich sage nicht ›Peccavi‹ vor ihr.«
Falkner zuckte mit den Achseln.
»Wie du willst – ich kann dich dazu nicht zwingen, sondern dir nur raten.«
»Es liegt mir gar nichts an ihrer guten Meinung über mich,« behauptete die junge Frau bebend, und als Falkner darauf nichts erwiderte, brach sie in Thränen aus. »Du weißt doch, daß ich eifersüchtig auf sie bin.«
»Du solltest aber auch wissen, daß ich nicht der Mann bin, den dir am Altar geleisteten Eid zu brechen,« erwiderte er ernst.
»Es haben ihn aber schon viele gebrochen,« warf sie ein.
»Dann war's ein Meineid wie jeder andere,« entgegnete er. »Oder hältst du einen Gott geleisteten Eid für geringer, als einen solchen vor Gericht?«
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie verwirrt. »Das ist zu hoch für mich. Aber Dolores Abbitte leisten – – niemals!« setzte sie eigensinnig hinzu.
»Warum hast du denn diese Unterredung gesucht, wenn du das Begangene nicht gut machen willst?«
»Weil mir an deiner Meinung etwas liegt – an der von Dolores nichts.«
»Es gehört aber zu meiner guten Meinung, daß man seine Schuld durch ein freies, ehrliches, offenes Wort bekennt und wieder gut macht. Was nützt mir alles Trotzen und Debattieren, wenn man dazu den Mut nicht hat?« fragte Falkner sehr bestimmt.
Doch es war nichts auszurichten – sie blieb eigensinnig bei ihrer Weigerung, trotzdem sie sah, daß es ihn verstimmte und abstieß. Infolgedessen entschloß er sich, dem Falkenhofe fern zu bleiben, machte aber Lolo, um es ihr ganz leicht zu machen, den Vorschlag, eine Zeile an Dolores zu schreiben.
»Die Tochter des Herzogs von Nordland entschuldigt sich nicht bei ihres Vaters Unterthanen,« brauste die »Durchlaucht« in der jungen Frau auf.
»Dann mußte die Tochter des Herzogs von Nordland auch keinen seiner Unterthanen heiraten,« gab Falkner gereizt zurück, und wünschte trotz aller guten Vorsätze und blindestem Pflichtgefühl, zum erstenmal unverhohlen vor sich selbst, daß es in der That so gewesen wäre. Er hielt unter diesen Umständen eine Annäherung an Dolores für die Zukunft für ausgeschlossen, und da es ihm nicht einfallen konnte, vor der Welt mit seiner Frau zu brechen, so mußte er dem Falkenhofe gleichfalls fern bleiben. Er schrieb deshalb an Dolores, zerriß den Brief aber in mehreren Concepten, denn es hatte sich zwischen die Zeilen desselben jedesmal ein warmer Ton geschlichen, den er vermeiden wollte, weil er vor dem strengen Richterstuhl seines Gewissens nicht bestehen konnte. Er hielt daher Keppler an, ehe dieser zur Sitzung nach dem Falkenhofe hinüberging, teilte ihm das Notwendigste mit, nämlich, daß seine Frau ihren unpassenden Scherz nicht als solchen einsehen wollte und er infolgedessen den Falkenhof nicht besuchen könnte, da er sich von seiner Frau nicht trennen wolle und dürfe. Er bat Keppler, Dolores dies zu sagen mit seinem tiefsten Bedauern, diese Maßnahmen ergreifen zu müssen.
»Schreiben Sie das lieber, Falkner,« meinte Keppler.
»Nein. Es ist besser so,« entgegnete er, und Keppler ging, aber der Auftrag war ihm peinlich, und er entledigte sich seiner auch erst gegen das Ende der Sitzung. Der Ausdruck von Schmerz und Qual in dem schönen Antlitz der Lehnsherrin, der seiner Mitteilung folgte, erschreckte ihn tief, aber er sagte nichts, da auch sie nichts erwiderte. Doch als die Sitzung schloß und sie die Estrade verließ, sagte sie:
»Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, Herr Professor, bis ich mich umgekleidet habe, so will ich Sie nach Monrepos begleiten.«
»Sie wollen nach Monrepos – Sie?« fragte er erstaunt.
»Ja,« erwiderte sie fest. »Soll ich die Eris sein, welche den Zankapfel wirft in diese Ehe? Da sei Gott vor, und wenn ich einen Bruch da drüben verhüten kann und ich thäte es nicht – wie könnt' ich das im Jenseits verantworten?«
»Es wird nicht jeder so groß denken,« sagte Keppler bewegt.
»Ich sehe nichts Großes darin, nur das rein Menschliche.« Sie nickte müde, und rauschte in ihrer goldgestickten Schleppe hinaus, die Kleider zu wechseln, während er noch an der Stickerei und den Spitzen auf dem Gemälde weiterarbeitete. Als er dann die Palette beiseite legte und hinunterging, fand er Dolores schon wartend, und schweigend schritten sie über das Bowling-green nach der Allee, welche nach Monrepos führte. Endlich brach Keppler das Schweigen.
»Ich habe noch gar nicht einmal gefragt, wie Sie sich heut' fühlen.«
»Besser und weniger matt,« erwiderte Dolores in Gedanken.
Da blieb Keppler stehen.
»Hätte ich doch das Recht, ein offenes Wort mit Ihnen zu sprechen,« rief er, sichtlich erregt.
»Das Recht gebe ich meinen Freunden gern,« sagte sie erstaunt, aber freundlich.
»Wirklich? O, dann lassen Sie mich kraft dessen eine Bitte wagen: kehren Sie um! Thuen Sie nicht diesen Gang nach Monrepos.«
»Warum?«
»Weil – weil – – kurz, dieser Gang hat seine Gefahren,« erwiderte er mit sichtlichem Kampfe.
»Ja –
singt die Gräfin in Gasparone,« scherzte Dolores. »Aber ich fürchte mich nicht,« schloß sie lächelnd.
»Dolores, es ist mir heiliger Ernst,« sagte Keppler. »Hören Sie mich an, ja?«
»Sprechen Sie.«
»Nun dann – nochmals, kehren Sie um; lassen Sie das Verhältnis mit Monrepos auf diesem Fuße stehen, den Falkner einnimmt – seine thörichte, eigenwillige Frau thut Ihnen und ihm den größten Dienst damit!«
»Das verstehe ich nicht,« sagte Dolores kühl und verwundert.
»Dolores, Sie müssen mich verstehen,« rief er beschwörend.
»Nein,« wiederholte sie kurz und kühl.
Da rang er mit sich einen kurzen Augenblick.
»Dolores,« sagte er dann leise und schnell, »ich weiß, wie es mit Ihnen und Falkner steht – er hat sich bei der Scene mit der Schlange unbewußt verraten – Sie schon früher. Ich habe alles gesehen. –« –
»Sie haben Gespenster gesehen, Herr Professor Keppler und überschreiten das Ihnen erteilte Recht eines offenen Wortes in unverantwortlicher Weise,« unterbrach sie ihn, blaß bis an die Lippen, aber fest, kalt und hochmütig, doch in ihrem Herzen rang der Schrei sich los: »Um Gott, ist es so weit gekommen, daß das Tote wieder erwacht und sich aus mir verrät? Und aus ihm?«
Und wie der echte, rechte Mut zu wachsen pflegt im Augenblick der Gefahr, wie Heldenherzen lieber gegen sich selbst den Stoß richten, ehe sie wanken und irren, so fand auch Dolores in diesem Moment den Mut der Selbstentäußerung, denn ehe Keppler noch etwas erwidern konnte, fuhr sie schon fort:
»Und dies Überschreiten Ihrer Rechte zwingt mich, Ihnen ein Geheimnis preiszugeben, dessen Wahrung ich Ihrer Ehre anvertraue – ich werde mich mit dem Erbprinzen von Nordland vermählen!«
Wieder blieb Keppler stehen – vernichtet, betäubt.
»Die morganatische Gemahlin eines regierenden Duodezfürsten – dazu sind Sie zu schade!« brach er dann los.
»Die Beurteilung dieses Schrittes bitte ich mir zu überlassen,« erwiderte sie heftig, sprühenden Blickes.
Da schwieg er, und sie gingen weiter, doch ehe sie bis dicht an das Gitter von Monrepos kamen, da reichte er ihr bittenden Blickes die Hand.
»Es war gut gemeint, verzeihen Sie.«
»Gern,« erwiderte sie tonlos.
»Ich habe Sie und meinen Freund Falkner auch mit keinem Hauch eines Verdachtes gekränkt,« fuhr er fort, »und warnen kann nicht beleidigen –« –
»Gewiß nicht. Aber ich vertraue darauf, daß ich den Warner in der eigenen Brust trage,« unterbrach sie ihn stolz.
Da lächelte er trübe.
»Das Herz ist oft stärker und siegt,« war seine Antwort.
Doch sie waren bei Monrepos angelangt und das Gespräch damit zu Ende. Dolores sah zu ihrer Freude, daß Falkner und Lolo allein an einer Blumenrabatte standen und wohl ihre Gäste zum Lunch erwarteten. Und während Keppler sich zurückzog, trat sie schnell auf die Überraschten zu.
»Liebe Lolo,« sagte sie herzlich, aber auf den Wangen noch die Blässe der Erregung, »liebe Lolo, ich komme dir zu sagen, daß ich neulich nach meinem thörichten Schreck über die Schlange, recht abweisend und unhöflich zu dir war, die als Gast bei mir weilte. Das thut mir herzlich leid, denn ich bin überzeugt, daß du dir nur einen Scherz machen wolltest, weil du nicht wußtest, wie weit meine Antipathie gegen diese Tiere geht. Sei mir also nicht böse, und du auch nicht, Cousin Alfred!«
»Siehst du nun, wer unrecht hatte?« rief die junge Frau triumphierend. »Und da sollte ich mich vor ihr demütigen, die jetzt zu mir kommt? Haha, ich werde deiner Abgötterei, die du mit Dolores treibst, keinen Weihrauch mehr liefern!«
»Eleonore!« rief Falkner erschrocken, aber Dolores, welche auf diese Wendung freilich nicht gefaßt war, mußte unwillkürlich lachen.
»Bravo, Lolo,« rief sie gutmütig, »da hast du aber recht, denn Weihrauch macht mir stets Kopfschmerzen.«
»Und ich muß davon niesen,« gestand Lolo, deren momentane Empörung gegen die eingebildete Ungerechtigkeit ihres Gatten der rosigsten Laune wich, weil ihr von der Seite recht gegeben wurde, auf der Falkner ihr das Unrecht gezeigt.
In diesem Augenblicke erschienen auf der Veranda die auf Monrepos einquartierten Offiziere, und die junge Frau ging ihnen strahlend heiter entgegen. Nach der gegenseitigen Begrüßung erklärte Dolores indes nach Hause gehen zu müssen, und Falkner begleitete sie bis an das Thor.
»Das war ein Schritt von dir, Dolores, welcher dir alle Ehre macht, eine große Selbstverleugnung, deren Motive ich zu erraten glaube,« sagte er beim Abschied, »aber du hast gesehen, wie Lolo es aufgefaßt hat. Das verzogene Kind wird dadurch von dem eigenen Unrecht nicht überzeugt –«
»Das hab' ich auch nicht gewollt,« unterbrach sie ihn. »Ich war ihr diese Rechtfertigung schuldig, denn ich habe sie als meinen Gast verletzt!«
»O, wäre sie nur halb so wie du,« murmelte er, doch sie war davon geeilt, ehe er den Satz vollendet hatte.
Im Parke hielt sie ein im schnellen Gehen – die erregten und aufgestachelten Nerven ließen nach, und die alte, rätselhafte Schwäche, Müdigkeit und Apathie kam wieder, unterbrochen von Momenten bittersten Wehs und heftiger Anklagen gegen Keppler. Was hatte dieser Mann davon, den Schleier von ihrem Herzen zu ziehen und ihr armes, unseliges Geheimnis bloß zu legen? Welches Recht hatte er, ihr die Harmlosigkeit Falkner gegenüber zu rauben, ihr den Glauben zu nehmen, daß sie überwunden hatte?
Todesmatt, fiebernd und elend im Herzensgrunde kam sie in den Falkenhof zurück und setzte sich gleich an den Schreibtisch, den Brief an den Erbprinzen zu schreiben, der ihm ihr Jawort bringen sollte. Aber ihr Kopf schmerzte sie, und die Gedanken verwirrten sich, daß sie abstehen mußte davon und sich zur Ruhe legen.
Ein kurzer, aber erquickender Schlaf that ihr unendlich wohl, doch ließ sie sich am Mittagstisch entschuldigen und Frau Ruß bitten, ihren Platz an der Spitze desselben zu vertreten.
Erst gegen Abend ging sie wieder hinaus und stattete Engels einen Besuch ab, fand ihn aber nicht vor.
»Herr Engels ist mit den Herren Offizieren zum Pürschen gefahren,« hieß es.
Da ging Dolores durch den Park zurück, brach unterwegs ein paar Rosen und ging dann nach der Terrasse, auf der Ramo eben den Theetisch ordnete und Herr und Frau Ruß schon wie gewöhnlich saßen.
»Nun, geht es besser, liebe Dolores?« fragte Doktor Ruß, ihr entgegen kommend.
»Danke, ja,« erwiderte sie. »Ich freue mich jetzt auf eine Tasse Thee!«
Und damit übernahm sie die Bereitung des belebenden, durstlöschenden Trankes, während Doktor Ruß seine Bücher ins Haus zurücktrug und sich seine Cigarrentasche mitbrachte.
»Unsere Herren Husaren sind alle auf der Jagd,« berichtete er, Platz nehmend. »Es wurde heut' bei Tisch viel Jägerlatein gesprochen, und definitiv die Hoffnung aufgegeben, den Steinadler zu erlegen, trotzdem er noch im Falkenhofer Revier gesehen worden sein soll.«
»Wirklich? Wer weiß!« sagte Dolores, den Theeextrakt in die Tassen gießend und aus dem Samowar mit kochendem Wasser auffüllend. Und dabei hatte sie ein eigentümlich schwankendes Gefühl und den Gedanken: das hab' ich schon erlebt – hier den Theetisch, dort das Abendbrot und jetzt werden sie den Adler bringen – –
Man nennt es Hallucinationen, dieses Erinnern an eine Vergangenheit, welche uns unbekannt ist, weil sie vielleicht nur im Lande des Traumes liegt – oder diesen Blick in die Zukunft. Man hat noch nicht entdeckt, was die richtige Bezeichnung ist für diesen Zustand, in welchem man das Gefühl hat, als wäre man ganz anderswo, als berührten unsere Füße den Boden nicht. Und verwandt, eng verschwistert damit ist jenes seltsame Gefühl, das man manchmal beim Betreten fremder Häuser, beim Anblick uns bis dahin unbekannter Gegenden hat –: das kennst du schon, hier bist du schon einmal gewesen – –
Wann?
Vielleicht im Traum, wo die Seele unbeherrscht von der physischen Willenskraft umherschweift. Aber wer kann dieses Rätsel lösen, wer eindringen in diese Mysterien? Wir haben nur ein »Vielleicht« für dies alles, und dieses »Vielleicht« hat Freidenker zur Irrlehre der Seelenwanderung geführt, trotzdem wir aus dem Evangelium wissen, daß wir nach dem Tode zwar weiter leben, aber nicht im Fleische, sondern im Geiste, daß also diese Hallucinationen, wie die Wissenschaft dies Erinnern und Hellsehen bezeichnet, keine Erinnerungen sind aus einem früheren Leben in anderer Gestalt. So schnell wie diese seltsamen Blitze durch die Seele fliegen, so schnell verschwinden sie auch, aber dennoch überschauerte es Dolores ganz eigen, als eben, wie sie ihre Tasse an die Lippen setzte, Engels, gefolgt von zwei Forstgehilfen, die eine seltsame Last trugen, um die Turmecke rechts von der Terrasse bog. Schon von weitem zog er den Hut und schwenkte ihn hoch in der Luft.
»Seltene Beute,« rief er laut herüber, »wir haben ihn, den König der Lüfte!« –
Und in der That brachten sie den gewaltigen Vogel herauf und legten ihn mit ausgebreitetem Flug auf den Steinestrich der Terrasse.
»Drei Schüsse haben ihn gefehlt, der meinige ihn getroffen,« berichtete Engels ganz stolz und mit leuchtenden Augen. »Die Herren Offiziere wollten ihn zu Ihren Füßen legen, Fräulein Dolores, und nun wird mir diese Freude und Ehre.« –
Gerührt reichte Dolores dem Getreuen die Hand, die er mit abgezogenem Hut ehrfurchtsvoll an die Lippen führte.
»Wir lassen ihn ausstopfen, und dann soll er einen Ehrenplatz bekommen in meinem Zimmer,« sagte sie erfreut.
»Welche enorme Flügelspannung,« bewunderte Doktor Ruß. »Ich möchte wohl seine Weite kennen!« –
»Dort ist ein Maß in meinem Arbeitskorb,« sagte Frau Ruß und wollte es holen, doch ehe sie über den Vogel weg zurück an den Tisch gelangen konnte, war er schon dort und suchte in dem Korbe, den Rücken den anderen zugekehrt – –
Plötzlich erhielt Dolores einen Stoß, der sie, die neben dem Adler auf dem Boden kniete, fast umgeworfen hätte. Es war Frau Ruß, die an sie gestoßen hatte, und sich jetzt, ganz rot im Gesicht, wieder aufrichtete.
»Verzeih',« murmelte sie, »ich wollte nur auch den Adler sehen –«
Doch ehe Dolores sich über das eigentümliche Gebaren der Tante wundern konnte, war Doktor Ruß mit dem Maße neben ihr und begann mit Hilfe der anderen die Breite des Fluges zu messen.
»Eins – zwei – zwei Meter sieben Centimeter,« meldete er, sich aufrichtend, und wischte sich von der Anstrengung dicke Schweißtropfen von der Stirn, so daß Engels noch gutmütig neckend sagte:
»Na, Doktor, Sie müssen auch mal wieder in Training, sonst werden Sie bald ein richtiger Apoplektiker. Donnerwetter, schwitzt der Mann von dem bißchen Bücken!« –
Doktor Ruß lachte etwas nervös zu der medizinischen Meinung des »lieben Engels.«
»Ja ja, uns alten Herren wird der Training nur etwas sauer, wenn wir heraus sind,« meinte er.
»Nun aber eine Tasse Thee mit viel Rum, lieber Engels,« rief Dolores, und nachdem die Forstgehilfen gegangen waren, setzte man sich wieder an den gemütlichen runden Tisch. Engels hatte bald seine Tasse vor sich stehen, deren Inhalt den euphemistischen Namen »Thee« führte, in der That aber ein ehrlicher, steifer Grog war, dessen weniges Wasser eine Theekanne passiert hatte.
Als nun Dolores dem glücklichen und von den andern Jägern sicher sehr beneideten Schützen des Adlers auch noch eine Schüssel voll zierlich belegter Sandwiches zugeschoben hatte, nahm sie selbst endlich ihre Tasse und führte sie zum Munde, und als sie dabei aufsah, nahm sie wahr, wie Frau Ruß ihre Augen auf sie geheftet hatte, starr, unbeweglich, mit einem seltsamen Ausdruck darin von Angst, Drohung, Haß, Neugier – –
Wie gebannt begegnete Dolores diesem Blicke, der so steinern und doch so ausdrucksvoll war, der ohne die Wimpern zu zucken nach ihr hinübersah – und da beschlich sie vor diesem Blicke ein solch' furchtbares Grauen, eine solch' entsetzliche Angst, die sie sich selbst nicht hätte erklären können, daß etwas von dem Gefühl eines zu Tode gehetzten Wildes über sie kam und sie fort wollte, fort, und doch nicht konnte, gefesselt von diesen kalten, hellen Augen, welche sie unverwandt ansahen – –
Da fiel die nur halb geleerte Tasse klirrend aus ihren Händen hinab auf die Steinfließe der Terrasse, und dieses Geräusch erlöste sie aus einem, wie ihr deuchte, endlosen, in der That aber nur Sekunden währenden Bann, sie stieß einen halberstickten, halbgelähmten Schrei aus, taumelte ein paar Schritte weiter und fiel bewußtlos über den mächtigen Körper des toten Adlers zu Boden – – – – –
Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie auf ihrem Bett, neben welchem Tereza und Frau Ruß standen – –
»Fort!« rief sie letzterer in höchster Angst zu, »fort – fort – um Gottes willen – ich fürchte mich vor dir –« –
Da zuckte es über das kalte, ausdruckslose Gesicht der großen Frau wie Wetterleuchten, aber sie wandte sich sofort ab und ging hinaus. Draußen im Korridor aber stand sie still, schlug beide Hände vor ihr blasses Gesicht und schluchzte, thränenlos, und mußte, um sich fassen und mit ihrem gewöhnlichen Ausdruck unten erscheinen zu können, lange stehen, ehe sie wieder hinabstieg und von ihrem Gatten mit einem teilnahmsvollen: »Nun, wie steht es oben?« empfangen wurde.
Indes fuhr Engels mit den schnellsten Pferden nach der Stadt, um dort für Dolores einen Arzt zu holen, welcher nach der unvollkommenen Beschreibung des Zustandes seiner Patientin auf eine schwere Nervenerschütterung schloß und sich mit einigen beruhigenden Präparaten versah. – Auf dem Rückwege von der Stadt begegnete er Falkner zu Pferde, und dieser war sehr erschrocken über die schlechten Nachrichten von Dolores und ritt nun sofort mit nach dem Falkenhofe. Doch war das, was er von Doktor Ruß über den Fall hörte, wenig genug, aber im ganzen beruhigend und überzeugend. – »Die Nerven sind es, die Nerven!« meinte er. »Entsinne dich, wie gesund sie war, als sie die Musik eine Zeitlang ganz ruhen ließ. Plötzlich aber warf sie sich mit nervöser Hast auf das, was ja entschieden ihr Beruf ist, was ihren Neigungen entspricht, spielte stundenlang, sang und komponierte, bis ihre Nerven dem Reize nachgaben. Sie kann froh sein, wenn sie einem Nervenfieber entgeht, was ich aber glaube, wenn sie die richtigen Arzneien bekommt: Schlaf und Ruhe.«
Der Ausspruch des Arztes, den Falkner erwartete, lautete ähnlich. Er hatte ihr ein neu erfundenes, auf die Nerven wunderbar beruhigend wirkendes Präparat eingegeben und verschrieb nun noch ein Präservativ gegen erneute »Anfälle,« denen er aber etwas für ihn noch Unerklärliches nicht absprach.
Dolores verbrachte, dank dem Schlafmittel, eine ruhige, ungestörte Nacht, in welcher ihr unaufhörlich träumte, daß die Ahnfrau Dolorosa blaß und traurig vor ihr stände und sie beschwor, ihren Sieg über den Bösen nicht halb sein zu lassen, sondern zu vervollständigen, damit sie Erlösung fände.
Dieser Traum und die wiederholten Worte standen so klar und deutlich vor ihr, als sie erwachte, daß sie darüber nachdenken mußte. Diesen häufigen Träumen, in welchen eine Warnung vor »dem Bösen,« vor einer vagen Gefahr, immer wiederkehrten, seit sie im Falkenhofe war, fing sie an die Schuld an ihren herabgestimmten Nerven beizumessen, denn seit sie von Nordland zurück war, war kaum eine Nacht vergangen, die ihr nicht einen Traum gebracht, in welchem die Ahnfrau und deren Warnungen eine Rolle spielten. Freilich, der Schuß durch den spanischen Brief und der trotz aller Gegenvorstellungen nicht eingeschlafene Verdacht, daß ihr Sturz ins Hexenloch kein zufälliger gewesen, waren ja schließlich genug, um die unablässigen aufregenden Träume von nahen Gefahren für die zu rechtfertigen, welche an eine Einwirkung auf die Seele im Traume glauben, aber Dolores hatte sie eigentlich immer vergessen, wenn das Sonnenlicht kam und die klaren Gedanken ihres klaren Kopfes warm durchleuchtete. – Und wie sie nach dieser letzten Nacht erwachte und wieder die Erinnerung an den Traum derselben die Klarlegung der Vorgänge des vergangenen Tages verdrängten, der ihr eine so starke seelische Erregung gebracht, da überkam sie ein Wunsch, ein Gedanke –: »Fort von hier!« Und dieser Wunsch wurde so stark in ihr, daß er sie förmlich kräftigte und sie trotz der Gegenvorstellungen Terezas aufstand und sich in einen weichen, weißwollenen Schlafrock gehüllt auf dem Balkon ihres Salons das Frühstück servieren ließ. Dort sah sie der unten promenierende Doktor Ruß, fragte an, ob er störe und ließ sich auf die verneinte Antwort bald darauf ihr gegenüber nieder, ein wohlverbundenes und etikettiertes Fläschchen in der Hand, dessen wasserheller Inhalt ganz unschuldig aussah.
»Es freut mich unendlich, Sie wieder wohlauf zu sehen, teure Dolores,« sagte er mit dem tiefen, leisen Wohlklange seines Organs. »Aber,« fügte er, das Fläschchen schüttelnd, hinzu, »aber Sie müssen auch ›brav‹ sein und dies Tränkchen nehmen, das Doktor Müller für Sie verschrieb, und das ich selbst gestern Abend noch aus der Apotheke für Sie holte.«
Dolores versicherte, daß sie Arznei im ganzen ohne Schwierigkeiten nähme, sofern dieselben nicht bestimmte, ihr widerwärtige Mixturen enthielten, und schluckte darauf zum Beweise sofort einen Theelöffel voll, den Doktor Ruß ihr füllte.
»Schmeckt es schlecht?« fragte er lächelnd, als Dolores den Mund etwas verzog.
»Schlecht ist zuviel,« meinte sie, »aber es ist ein merkwürdiger Geschmack, ich weiß nicht wonach – ein Geschmack, der mich verfolgt, denn ich habe ihn schon in gewöhnlichen Speisen und Getränken verspürt.«
»Einbildung, pure Einbildung, liebe Dolores,« sagte Doktor Ruß. »Aber es ist ein Beweis krankhaften Zustandes.«
»Freilich wohl! Denn woher schmeckten mir sonst verschiedene Dinge ganz gleich?«
Sie spielte eine Weile sinnend mit der Etikette des Fläschchens, welche »zweistündlich einen Theelöffel« vorschrieb und begegnete, aufsehend, dem auf sie gerichteten Blicke des Doktor Ruß. Nervös erregt, wie sie war, machte selbst dieser Blick sie erschauern, doch sie bekämpfte schnell ihr Unbehagen.
»Lieber Doktor,« sagte sie dann nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, »nicht wahr, Sie sind nicht böse, wenn ich Sie und die Tante für den Monat, den ich noch hier bleiben wollte, auslade. Ich muß aber fort, sonst geht meine Gesundheit ganz zu Grunde. Ich denke, die See soll mir jetzt noch gut thun. Dafür aber besuchen Sie mich nächsten Sommer wieder hier recht lange, nicht wahr?«
»Natürlich, natürlich, liebe Dolores! Bedarf es zwischen uns der Formalitäten? Sicherlich doch nicht!« erwiderte Ruß hastig und lauter als gewöhnlich. »Und wann wollen Sie fort?« setzte er gespannt hinzu.
»Sobald die Einquartierung fort ist – also genau in einer Woche. Es wird mir schwer genug, auch diese noch hier zu bleiben, denn ich fühle, daß ich einer Reparatur meiner Nerven dringend bedarf.«
»Sicherlich,« stimmte Doktor Ruß zu. »Aber ein Wort noch, liebe Dolores, in dieser Sache. Sie können nicht allein reisen, nicht allein im Seebade bleiben – die Welt urteilt so leicht – und –«
»O nein, ich weiß, daß man den ›bösen Zungen‹ Konzessionen machen muß,« fiel sie ein, »obgleich ich gestehe, daß ich dieselben stets hart meinem Stolze und meinem reinen Bewußtsein abringen muß. Tereza ist unterwegs genug für mich, Ramo nicht zu vergessen, und im Seebade werden Balthasars mich bevatern und bemuttern.«
»Ah? Und dann?«
»Dann gehe ich auf vier Wochen zu der Großherzogin auf deren Lustschloß an der See – wir haben das schon abgemacht. Den Winter aber verlebe ich mit dem alten Freunde meines Vaters und dessen Gattin in Italien.«
»Also alles fait accompli?«
»Alles. Nicht wahr, Sie sind nicht böse, daß ich Sie für diesen folgenden Monat aus-, und daher zum nächsten Sommer einlade. Aber wäre ich nicht so ›Halali,‹ wie Engels es bezeichnet, so wäre ich sicherlich geblieben,« schloß sie liebenswürdig und reichte ihm die Hand, welche feucht und kalt war.
Doch obgleich Doktor Ruß sich vollkommen wohl befand, so hatte Dolores von seiner Hand genau dieselbe Empfindung, die sie abstieß und ihr unangenehm war.
»Nun, das fehlte noch, daß Sie sich deswegen bei uns entschuldigen wollten,« erwiderte er heiter, aber mit belegter Stimme.
»Und Sie? Wohin werden Sie die Achse lenken?« fragte Dolores.
»Jedenfalls zuerst nach Berlin,« meinte er sorglos. »So wenigstens habe ich es mit meiner Frau besprochen.«
Bald darauf verabschiedete er sich und stieg in seine Wohnung herab, wo seine Frau nähend saß.
»Dolores ist auf, will fort und hat uns gekündigt,« sagte er mit forcierter Lustigkeit. Und als Frau Ruß erstaunt aufsah, setzte er, etwas aus der Rolle fallend, hinzu: »Du brauchst mich nicht so erstaunt anzuglotzen, wie die Kuh das neue Thor – heut' über acht Tage wird der Falkenhof geschlossen, und wir sind mit einer Einladung fürs nächste Jahr an die Luft gesetzt. Fürs nächste Jahr! Wenn du ein Murmeltier bist, so lege dich bis dahin schlafen, oder wenn du ein Dachs bist, so vergrabe dich und zehre an deinem eigenen Fett, wie es diese ökonomischen Tiere zu thun pflegen!«
Und damit lachte er höhnisch und ging in sein Zimmer, dessen Thür er hinter sich verriegelte.
Frau Ruß war leichenblaß geworden – die Arbeit glitt der sonst unablässig Fleißigen aus der Hand, und sie saß, den Blick geradeaus gerichtet, wohl eine halbe Stunde da, ohne sich zu rühren, wie ein Steinbild. Endlich erhob sie sich mühsam, streifte die niederen Schuhe von den Füßen, schlich zu der Thür, durch welche ihr Gatte verschwunden war und sah durch das Schlüsselloch. Er saß, wie sie vermutet hatte, vor dem Rokokopult mit Aufsatz dessen er sich stets als Schreibtisch bediente, und schrieb – malte vielmehr mit der Feder, langsam und oft absetzend, auf einem Blatte Papier und sah oft dabei auf ein anderes Blatt, das vor ihm lag, das Frau Ruß aber nicht erkennen konnte. Er kopierte augenscheinlich etwas. Dabei hörte sie ihn öfters Ausrufe der Unzufriedenheit und Mißbilligung ausstoßen, und endlich stand er auf und öffnete links eine der kleinen schrägen Schubladen, welche den Aufsatz des Pultes an den stumpfen Ecken flankierten, und tastete mit der Hand, nachdem er die Lade ganz herausgezogen hatte, in der leeren Höhle umher, bis ein scharfes, schnappendes Geräusch von der angespannt Lauschenden vernommen wurde. Da erhob er sich und suchte in dem schrankartigen Mittelfach umher – was er dort that und trieb, deckte sein Rücken – Frau Ruß konnte es nicht sehen. Nach einer Weile aber hörte sie wieder das schnappende Geräusch, worauf Doktor Ruß die Schublade in ihr Fach zurückschob und seine Schreibereien zusammen zu packen begann.
Da kehrte Frau Ruß leise auf ihren Platz zurück und saß ruhig nähend da, als nach zehn Minuten ihr Mann wieder erschien, den Hut auf dem Kopfe und den leinenen Staubmantel an.
»Engels wollte um elf Uhr den Arzt wieder holen lassen,« sagte er, »und da mir Schreibmaterialien fehlen, so werde ich mitfahren und dieselben besorgen. Du magst mir also vom Lunch einiges aufheben lassen.«
»Ja,« nickte sie, »es ist gut. Wann soll ich mit dem Packen beginnen?«
»Das hat Zeit,« erwiderte er und ging.
Wieder saß Frau Ruß still, bis sie einen Wagen aus dem Stallhofe rollen hörte und sie, hinausspähend, Doktor Ruß in seinem Staubmantel fortfahren sah. Da erhob sie sich und ging in das Zimmer ihres Gatten und an dessen Schreibtisch, dessen Pult verschlossen war, wie die Schrankthüren des Aufsatzes. Zunächst suchte sie nun die Schublade an der linken, stumpfen Ecke des letzteren, und nachdem sie mehrere dieser langen engen Dinger herausgezogen und die Fächer untersucht hatte, fand sie in dem mittelsten derselben einen ziemlich flachen Knopf, welcher sich in einer Rille weiterschieben ließ. In der Aufregung, in welcher sie sich befand, machte sie sogleich ein Experiment damit, und ein scharf schnappendes Geräusch im Innern des Schränkchens belehrte sie, daß hier ein Mechanismus ein verborgenes Fach geöffnet haben mußte, und zwar ein in dem Schränkchen selbst zugängliches Fach. Doch wie hierzu gelangen ohne Schlüssel? Mechanisch zog sie ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche, das ihre eigene Spinde und Kommode schloß, und ließ es nachdenklich durch die Finger gleiten. Es war unter den französischen Schlüsseln auch einer, der in eine kleine Rokokokommode paßte, in welcher sie ihre Hauben und feine Wäsche verwahrte – ein elendes Ding von einem Schlüssel mit verschnörkeltem Bartausschnitt. Diesen Schlüssel steckte sie zweifelnd und ohne seine Schließfertigkeit zu erhoffen, in das Schloß des Pultes – und siehe da, er schloß das primitive Schloß ohne Schwierigkeiten auf.
Klopfenden Herzens, aber mit vorsichtiger Hand zog sie die Ledermappe mit Löschblattfüllung, auf welcher ihr Gatte stets schrieb, heraus, und da lagen auch gleich die frischen Schriftproben – Blätter, auf denen der Schreiber einzelne Worte geübt und einzelne Buchstaben – alles in den charakteristischen, auffallenden Schriftzügen von Dolores Falkner! Und hier – hier war auch ein Brief von ihr mit nichtigem Inhalt, der als Vorlage für diese Übungen gedient haben mußte.
Vorsichtig schob sie alles wieder zusammen und schloß das Pult und – siehe da, der verachtete und oft geschmähte kleine Schlüssel schloß auch die Schrankthür des Aufsatzes auf. Nun probierte sie wieder den Knopf in dem Schubfache – er arbeitete leicht und sicher und öffnete in dem Schränkchen, das mit allerlei Bildern vollgeklebt war, wie man es oft in diesen alten Spinden findet, ein Geheimfach, dessen Thür unfindbar für den aufmerksamsten Sucher, mit einem bunten kleinen englischen Stich, der die Porträts des Königs Wilhelm III., der Königinnen Mary II. und Anna und deren Gemahl, dem Prinzen Georg von Dänemark, trug, verkleidet war – ein seltenes Schmähblatt dadurch, daß es die für die letzten Stuarts schmeichelhafte Unterschrift trug:
[2]: Seltenes Flugblatt aus der Regierungszeit Wilhelms III. von England und der Königin Mary II.
Frau Ruß interessierte dies illustrierte Pamphlet von der Größe eines Oktavblattes aber gar nicht. Mit fliegender Hand langte sie hinein in das Fach – es enthielt nichts als ein paar Pappschachteln mit weißem Pulver ohne Aufschrift, nur mit lateinischen Ziffern in I und II numeriert und ein kleines Fläschchen von blauem Glase mit Glasstöpsel. Vorsichtig zog sie diesen halb heraus und roch daran – ein betäubender Duft von bitteren Mandeln machte sie aber sogleich zurückfahren und aufhusten. Schnell setzte sie alles wieder an Ort und Stelle, schloß Geheimfach und Schrank, schob die Schublade in ihr Fach und setzte sich dann hin, die Hände verschränkend und dachte nach.
Aber nicht lange, denn ein Blick auf die Uhr ließ sie bald wieder aufschrecken. Schnellen Schrittes verließ sie das Zimmer und fragte draußen im Korridor nach Mamsell Köhler, zu welcher sie in die Speisekammer gewiesen wurde.
Dort, in dem kühlen, gewölbten Raum stand das kleine graue Hausgeistchen des Falkenhofes und hatte alle Hände voll zu thun, um zum Lunch kalten Schinken, Roastbeef und Braten aufzuschneiden, Pasteten mit goldklarem, pikantem Aspic zu verzieren und eine Schüssel delikaten russischen Fleischsalates mit zierlich ausgestochenen roten Rüben, Pilzen, Haricots u. s. w. zu garnieren, indes drüben in der Küche die warmen Gerichte auf dem mächtigen Herde in kupfernen, spiegelblanken Kasserollen und Töpfen, welche zum Lehen gehörten und mit dem Falknerschen Wappen graviert waren, zischten, brodelten und brieten.
Frau Ruß trug das Anliegen ihres Mannes wegen Aufhebens von Essen für ihn vor.
»Sehr wohl, Frau Baronin, soll besorgt werden,« versprach Mamsell Köhler, welche nie unterließ, Frau Ruß ihren Titel aus der ersten Ehe zu geben, wie sie Lolo Falkner stets mit einer Sündflut von »Durchlauchts« überschüttete, wo sich es thun ließ. »Ich weiß wieder nicht, wo mir der Kopf steht,« schwatzte sie weiter, eine dem Eisschrank entnommene Blechbüchse mit Kaviar öffnend und den milden, grauen, großkörnigen Inhalt in eine Schüssel entleerend. »Die Herren Offiziere können jeden Augenblick von dem Manöver zurückkommen und haben dann stets einen gottgesegneten Hunger. Lieber Himmel, mit solchem Appetit aß unsere gnädige Baronesse früher auch, und jetzt –? Was hat sie sich bestellt? Ein Kaviarbrötchen und eine Scheibe Roastbeef! Wie für einen Sperling! Und wird auch davon noch die Hälfte herunterschicken, da wette ich darauf!«
Während Mamsell Köhler ihre Zunge gehen ließ wie ein wohlgeöltes Maschinenrad, musterte Frau Ruß den Inhalt dieses geschmackvollen Raumes, insbesondere aber ein Regal, auf welchem Kolonial- und Spezereiwaren in weißen Porzellanfäßchen mit Aufschrift des Inhalts standen. Daneben waren Blechkästen und Büchsen mit Thee, Cakes und Dessert aufgestellt – alles so appetitlich und einladend wie möglich, wie es eben »nur Mamsell Köhler« verstand.
»Haben Sie noch gebrannte Mandeln?« fragte Frau Ruß.
»Sind leider ganz alle, Frau Baronin,« seufzte die Kleine mit Bedauern und viertelte eine Citrone. »Ach Gott, überhaupt die Süßigkeiten! Die essen die jungen Herren Leutnants auch wie das liebe Brot – tellerweise! Und dabei noch die viele Schlagsahne – man wundert sich bloß, daß den jungen Herren nicht manchmal schlecht wird in dem Magen –«
»Ich werde mir ein paar rohe Mandeln zum Knuspern mitnehmen,« unterbrach Frau Ruß diese Bewunderung eines Leutnantsmagens, hervorgegangen aus der völligen Unkenntnis dieses oft verblüffenden Organs. Und mit diesen Worten öffnete sie eine der Porzellantonnen und griff tief in dieselbe hinab.
»Das sind ja bittere,« rief Mamsell Köhler warnend, indem sie die Kaviarschüssel mit Citrone und Petersilienbüscheln garnierte.
»Ach so – ich habe mich versehen,« erwiderte Frau Ruß, und ließ den Inhalt ihrer Rechten ungesehen in die Kleidertasche gleiten. Dann entnahm sie der Tonne mit der Aufschrift »Knackmandeln« eine Handvoll der großen, süßen Früchte, nickte Mamsell Köhler zu und ging in ihr Zimmer zurück, wo sie die Schalmandeln ruhig in ein Kästchen that und die »irrtümlich« ergriffenen und behaltenen bittern Mandeln hervorholte. Auf einem saubern Papier unterzog sie sich der Mühe, die Mandeln mit einem Federmesser zu schaben, und hatte dann die feinen Spänchen eben in ein Musselinläppchen gebunden und in ein Viertel Wasserglas voll Wasser gelegt, als der Tamtam durch den Falkenhof dröhnte zum Zeichen, daß der Lunch serviert sei. Schnell schloß sie das Glas fort in ein Schränkchen, ordnete ihren Scheitel, wusch die Hände und ging nach dem Speisesaal, wo sie an Stelle ihrer Nichte der Tafel präsidierte.
Am Nachmittage kam Falkner mit Lolo von Monrepos herüber, um sich nach dem Befinden von Dolores zu erkundigen und fanden sie, trotz des warmen Wetters fröstelnd in ein großes, weiches Tuch aus weißer Wolle gehüllt, in ihrem Salon vor, »blaß und durchsichtig wie ein schönes Gespenst; – wie die ›Traviata‹ im letzten Akt,« sagte Lolo Falkner später zu ihren Gästen.
Falkner war tief erschüttert von diesem Schattenbilde der einst so strahlenden Dolores und wollte gleich wieder gehen, um sie ruhen zu lassen.
»Ach nein, bleibt nur,« bat sie. »Ihr wißt, daß die Einsamkeit mir sonst so lieb ist, aber heut' habe ich mich förmlich vor ihr gefürchtet. Ich bin so schrecklich allein –«
Falkner wußte, daß seine Mutter nicht die Sympathien von Dolores hatte, darum brachte er sie nicht als Gesellschaft in Vorschlag.
»Wenn du die Gräfin Schinga zu dir herüberbitten wolltest – sie käme gewiß gern,« meinte er.
»O ja, ich habe an sie noch nicht gedacht,« sagte Dolores, angeregt von der Idee. »Sie müßte nur nicht verlangen, daß ich spreche,« setzte sie hinzu, »denn ich bin so müde – –«
»Ich werde gleich hinüberfahren nach Arnsdorf und die Gräfin selbst holen,« meinte Falkner aufstehend. Dolores war sehr erfreut über Falkners Bereitwilligkeit und versicherte ihm mit mattem Lächeln, es sei sehr gütig von ihm.
Lolo, froh, auf so gute Manier aus der »langweiligen Bude,« wie sie den Falkenhof nannte, heraus zu können, schloß sich ihrem Gatten an, und Dolores war wieder allein.
Aber nur wenige Minuten, da klopfte es leise und Frau Ruß trat hinein, schüchtern fast, denn sie hatte Dolores seit dem vorigen Abend nicht wiedergesehen und wurde selbst ganz blaß bei dem Anblick der weiß eingehüllten, durchsichtigen Erscheinung ihrer Nichte. Dolores selbst hatte das Entsetzen noch nicht vergessen, das diese Frau ihr gestern Abend eingeflößt durch ihren Blick, und darum klang ihr erzwungener Willkommsgruß vielleicht kälter und kürzer, als sie selbst gewollt.
»Mein Mann ist noch nicht zurück aus der Stadt – der Arzt muß also auswärts gewesen sein,« sagte Frau Ruß fast schüchtern.
»Wahrscheinlich. Er kann mir ja doch nichts nützen,« erwiderte Dolores.
»Nein,« stimmte Frau Ruß bei, »der kann dir nichts nützen. Du mußt einen anderen Arzt haben. Darf ich für dich an X. nach Berlin schreiben? Er wird gewiß dann bald kommen?«
»O, das ist überflüssig. Es wird schon von selbst wieder werden,« entgegnete Dolores gleichgültig.
»Nein, du darfst das so nicht hingehen lassen,« rief Frau Ruß dringend, »wirklich nicht! Laß mich an den Arzt schreiben, oder besser noch telegraphieren.«
»Das würde mich sofort mit dem behandelnden Arzte überwerfen – wir müssen sein Gutachten erst abwarten,« sagte Dolores kurz.
Vor diesem Einwande verstummte Frau Ruß.
»Kann ich dir deine Arznei geben?« fragte sie nach einer Weile.
»Du bist sehr gütig. Sie steht dort auf dem Tisch.«
Frau Ruß ging hin, nahm die Flasche und entkorkte sie.
»Du hast wenig davon genommen.«
»Zweimal,« sagte Dolores. »Mir ist der nichtssagende Geschmack so widerwärtig. Aber es schmecken mir viele andere Dinge ebenso – meist der Thee am Abend.«
»Ja,« nickte Frau Ruß, aber indem sie die Flüssigkeit in den Löffel laufen lassen wollte, fiel die Flasche herab und entgoß ihren Inhalt auf den Teppich, welcher ihn sofort aufsaugte.
»Nun habe ich wenigstens eine Entschuldigung für mein Nichtnehmen,« meinte Dolores erleichtert.
In diesem Augenblick ließ Keppler sich melden. Er hatte bis jetzt drüben im Marmorsaal an dem Porträt gemalt, d. h. an dem Kleide, welches zu diesem Ende auf dem Podium auf einem Kleiderständer drapiert war. Dolores ließ den Künstler bitten, einzutreten, froh, daß sie des Alleinseins mit Frau Ruß überhoben war. Diese blieb indes auch – sie ward aber schweigsam wie gewöhnlich und ging endlich, als Falkners mit der Gräfin Schinga zurückkehrten – aber sie hatte auf Keppler den Eindruck gemacht, als hätte sie etwas sagen wollen und die Gelegenheit dazu nicht gefunden.
Dolores war froh, als sie fort war, und begrüßte die Gräfin mit freudiger Dankbarkeit für ihr Kommen. Und so nahmen die vier denn Platz um die Kranke, und eine halblaute, aber eifrige Konversation, welche Dolores sichtlich anregte, begann, bis sie sich müde und erschöpft zurücklehnte.
»Wollen Sie etwas Musik?« fragte Gräfin Schinga, und Dolores nickte.
»Aber etwas recht Sanftes,« bat sie.
Die Gräfin öffnete den Flügel, dachte eine Weile nach, und dann spielte sie die Introduktion zum letzten Akt der »Traviata,« diese von Todesahnung durchzitterte Weise, in welcher das zum Sterben verurteilte Herz noch einmal hoch aufklopft für einen kurzen Moment und dann erlischt:
Während Gräfin Schinga spielte, hatte Dolores sich aufgerichtet, hatte das Tuch von sich geworfen und war neben die Spielende getreten, sich mit ihr durch einen Blick verständigend. Und so flocht letztere denn nach der beendeten Einleitung ein paar Accorde der Recitative mit ein und ging über in die Begleitung des letzten Aufschluchzens der Violetta, und Dolores fiel ein mit ihrer Stimme, leise, leise, wie ein Hauch zuerst, dann stärker anschwellend und wieder erlöschend, wie das junge Leben der Singenden:
Sie schloß schon nach dem ersten »tutto, tutto fini« – »alles, alles zu Ende,« aber nie vielleicht hatte sie so erschütternd gesungen. Einmal hatte sie gestockt nach den ersten Zeilen, als der Name »Alfredo« ihr auf die Lippen trat, aber sie hatte weiter gesungen. – Was that es zur Sache, daß sie seinen Namen jetzt in der Verbindung mit ihrer Liebe nannte – denn tutto, tutto fini – –
Und wie sie geendet hatte und Gräfin Schinga die Hände von den Tasten sinken ließ, da war es einen Augenblick sehr still in dem kleinen Kreise, so still, daß man das Summen der Bienen draußen in der warmen Spätsommerluft hörte. Und Dolores strich mit der Hand über ihre Stirn.
»Tutto fini –« sagte sie. »Das war mein letztes Lied.«
»Nein, nein!« rief Keppler abwehrend, die Stimme rauh vor Erregung.
»Tutto fini,« wiederholte Dolores. »Mir bleibt nur noch einiges zu besprechen mit dem Erben vom Falkenhof.« –
Indes war unten Doktor Ruß endlich mit dem Arzt angelangt, und Frau Ruß unternahm es, den jovialen alten Herrn hinaufzuführen.
»Nun, wie geht's oben?« fragte er so heiter, als hätte Dolores den Schnupfen.
»Es flackert so auf mit ihr und läßt wieder ganz nach,« erwiderte Frau Ruß. »Ich hörte sie eben noch singen. Aber sie ist doch sehr krank – –«
»Krank?« lachte der kleine Doktor. »Ich bitte Sie, Verehrteste! Ihr Herr Gemahl hat mir so Andeutungen gemacht über eine unglückliche Herzensangelegenheit – wer ist es denn, der Er nämlich?«
»Mir ist davon nichts bekannt,« sagte Frau Ruß erstaunt.
»Haha!« pustete der alte Herr, »na, dann nicht, liebe Seele! Ich werde an dem Ungenannten nicht ersticken! Herr Gemahl war aber kolossal positiv, ja, ja! Hat Selbstmordgedanken, die schöne Herrin vom Falkenhof – lustige Gesellschaft, frische Luft – ein chacun für die chacune, das ist die richtige Medizin dafür – werden ja sehen – hm, hm –!«
»Selbstmordgedanken?« fragte Frau Ruß, entsetzt stehen bleibend.
»Pst! So 'was sagt man nicht so laut wie Sie,« tuschelte der Doktor. »Dazu braucht's aber keine Apotheke, sondern man muß es eben nur wissen! Ja, wenn ich zur Diagnose immer die Winke des Herrn Doktor Ruß hätte, dann wollt' ich sie schon immer richtig stellen!« – – –
In den nächsten zwei Tagen wurde es wieder besser mit Dolores, so daß sie spazieren fahren und sich auch etwas an der Gesellschaft beteiligen konnte. Von Monrepos kamen täglich Boten nach dem Falkenhof, welche sich nach dem Befinden der Kranken erkundigten – Falkner selbst aber kam nicht, denn Lolo behauptete, sie könnte kranke Leute nicht leiden und es nicht hören, wenn jemand von seinem Tode redete – ihr sei gar nicht zum Sterben zu Mute, im Gegenteil –!
Und so hielt auch er sich fern und hörte nur von Keppler Genaueres. Danach war sie ja, mit Ausnahme des bleischweren Gefühls in den Gliedern, einiger Frostanfälle und Stunden gänzlicher Apathie, relativ wohl, ja selbst heiter, und klagte nur über die schlaflosen Nächte, die so langsam und tödlich bedrückend dahinschlichen. Der gute Doktor Müller mit seiner Rußschen Diagnose kam nicht mehr wieder.
»Einquartierung hilft besser als ich,« hatte er pfiffig behauptet, Dolores Sekt und Kaviar verordnet und war froh gewesen, die langen Fahrten nach und von dem Falkenhofe wieder mit seinem gewohnten Skat im »Grünen Hirsch« zu Kuckucksnest vertauschen zu dürfen. Von einem anderen Arzte wollte Dolores nichts wissen, und die Gesellschaft der darauf dringenden Frau Ruß vermied sie möglichst, besonders unter vier Augen.
Am Abend des vierten Tages, als Gräfin Schinga, die ihr treulichst Gesellschaft leistete, nach Hause gefahren war, trat Doktor Ruß bei der müde und abgespannt dasitzenden Dolores ein.
»Ich kann es gar nicht mehr mit ansehen, daß Sie nicht schlafen,« sagte er sanft und teilnahmsvoll. »Darum bin ich heut' Nachmittag nach der Stadt gefahren und habe mit Doktor Müller gesprochen. Derselbe konnte leider nicht selbst kommen, hat mir aber ein Schlafmittel für Sie mitgegeben, welches Sie in Wasser nehmen sollen, sobald Sie fühlen, daß der Schlaf wieder nicht von selbst kommt.«
»O, ich danke Ihnen tausendmal,« rief Dolores, das Fläschchen von blauem Glase entgegennehmend, das er ihr reichte.
»Ich habe das Rezept gelesen,« meinte Doktor Ruß. »Chloralhydrat mit etwas Sirup und Bittermandelwasser – es wird schon seine Dienste thun.«
Damit wollte er sich entfernen, doch Dolores reichte ihm nochmals die Hand.
»Gute Nacht und herzlichen Dank,« sagte sie, und fügte hinzu: »Durch diesen Zaubertrank kann ich ja mit Wallenstein sagen:
Freilich hatte der Generalissimus einen längeren Schlaf als er dachte, denn er wurde ermordet.«
»Gute Nacht,« erwiderte Doktor Ruß so leise und mit so veränderter Stimme, daß Dolores dieselbe gar nicht wieder erkannte. Und er glitt zur Thür hinaus wie ein Schemen.
Ein Weinglas mit Wasser neben sich nebst der blauen Flasche, legte sie sich zeitig zur Ruhe und wartete auf den Schlaf, doch derselbe kam nicht. Nebenan in dem Ankleidekabinett war Tereza eingeschlafen – die treue Seele hatte all' die vorigen Nächte gewacht und war zu Tode ermüdet.
Auf dem Uhrturm des Falkenhofes schlug es elf Uhr, und als es Mitternacht schlug, machte Dolores Licht, goß den Inhalt des Fläschchens in das Wasser und trank das stark nach bitteren Mandeln duftende Medikament in einem Zuge aus. – – – – –
Und es schlug Eins. Da erhob Dolores sich resigniert von ihrem Lager, weil doch auch das Schlafmittel nicht wirken wollte, warf ihren Schlafrock über, nahm ein Licht und ging in die kleine Bibliothek, mit Lesen die langen, langen Nachtstunden zu kürzen.
Sie entzündete eine Lampe und holte ein Buch, aber es wollte nicht gehen mit dem Lesen, denn sie war zu müde, ihre Augen zu übernächtig. Und weil die Augen sie schmerzten von dem vielen Wachen und vom Licht, so lehnte sie sich zurück und schloß die Lider, und wer jetzt hineingetreten wäre, hätte sie müssen für gestorben halten, so blaß und regungslos saß sie da in dem matten Lichte der bläulichen Glaslampe. Mit einem Mal war's ihr, als hörte sie nebenan im Saal eine Thüre gehen und leise, leise Schritte – – »Tereza,« dachte sie müde und blinzelte unter den Lidern hervor nach den Portieren, welche den Saal von dem Kabinett abschlossen. Und die Schritte kamen näher und hin und wieder knisterte unter ihnen ein locker gewordenes Teilchen des alten Parketts – endlich ward die Portiere zurückgeschlagen und – – Doktor Ruß stand auf der Schwelle.
Dolores sah ihn stehen und der Gedanke durchfuhr sie: »Was will er hier, mitten in der Nacht?« Still und ruhig blieb sie sitzen, die Augen geschlossen, und leise, leise schlich er näher und stand endlich dicht vor ihr und beugte sich herab, auf ihre Atemzüge zu lauschen, die sie künstlich zurückhielt.
»Sie ist tot,« murmelte er, griff in die Brusttasche seines Rockes und zog ein Blatt Papier hervor, das er auf den Tisch legte.
Da schlug Dolores die Augen auf zu ihm.
»Was wollen Sie hier, Doktor Ruß?« fragte sie laut.
Da fuhr er zurück mit einem heiseren Schrei, der wie das Brüllen eines gereizten Panthers klang.
»Was haben Sie mich erschreckt,« sagte er nach einer sekundenlangen Pause gefaßt, »ich dachte, Sie schliefen –«
»Den ewigen Schlaf. Sie sagten so,« ergänzte Dolores.
Langsam trat er wieder näher und legte die Hand wie zufällig auf das Papier auf dem Tische.
»Sie sahen so furchtbar bleich aus,« entgegnete er. »Das macht dies nichtswürdige blaue Licht,« setzte er hinzu, und es klang wie wenn er dazu mit den Zähnen knirschte. Dabei fuhr die Hand mit dem Papier zurück in die Brusttasche.
»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, warum Sie hier sind zu so ungewöhnlicher Zeit,« erwiderte sie kühl, aber im Herzen ein vages Gefühl von Angst.
»Ich war aufgewacht, und es war mir eingefallen, daß ich vergessen hatte, Ihnen zu sagen, Sie sollten nur die halbe Dosis des Schlafmittels nehmen,« erklärte er sein Erscheinen plausibel genug. »Da hatte mich die Angst, Ihnen durch Nachlässigkeit geschadet zu haben, aus dem Bette getrieben, und ich war leise heraufgekommen –«
»Sehr leise. Zu leise für Ihre gute Absicht,« warf sie ein.
»Aber ich sehe zu meiner Beruhigung, daß Sie das Mittel gottlob gar nicht gebraucht haben,« schloß er.
»Doch,« sagte sie, »ich habe es sogar ungeteilt genommen – Ihre Vorsicht käme also zu spät, wenn das Mittel, wie alle Mittel des Doktor Müller, nicht so ausgezeichnet wirkungslos gewesen wäre.«
»Genommen? Das Ganze genommen?« wiederholte er wie ein Träumender.
»Bis zum letzten Tropfen,« nickte Dolores etwas spöttisch.
»Das ist nicht wahr!« brach er los.
Da erhob sie sich heftig, schritt in ihr Schlafzimmer und kam gleich darauf mit der leeren Flasche zurück, die sie auf den Tisch warf.
»Hier,« sagte sie sprühenden Blickes. »Und nun verlassen Sie mich, und wenn ich's Ihnen nachsehe, daß Sie mich der Lüge geziehen haben, so schieben Sie's auf das Konto dieser späten Stunde, in der Sie vielleicht nicht wußten, was Sie redeten!«
Doktor Ruß hatte mit zitternden Händen die blaue Flasche ergriffen und stand Dolores gegenüber, stumm, aber mit keuchendem Atem und gierigem, raubtierartigem Blick. Und wieder packte Dolores, die stets so mutige, ein unbestimmtes Angstgefühl – im Falkenhof war's still zu dieser Nachtstunde, keine Menschenseele war wach und Tereza schlief so fest, daß man sie bis hier herein atmen hörte – – und wenn dieser Mann wollte – –
Da glitt ein Schatten über die Lampe und im selben Momente stand Ramo zwischen seiner Herrin und ihrem Gaste.
»Baronesse haben geläutet?« fragte er ruhig, als wäre es mitten am Tage. Sie hatte es nicht gethan, aber sie begriff die Wachsamkeit des treuen Menschen.
»Du sollst Herrn Doktor Ruß die Treppe herab leuchten – er hat kein Licht,« sagte sie mit einem tiefen, freudigen Atemzuge.
Doktor Ruß aber hatte sich ganz wiedergefunden.
»Gute Nacht, liebe Dolores – versuchen Sie's noch, ein wenig zu schlummern. Ich werde wegen des Chlorals morgen mit Doktor Müller sprechen. Er hat Ihre Natur für allzu nachgiebig gehalten mit dieser schwachen Dosis,« sagte er und reichte ihr die Hand.
Aber Dolores schien dieselbe nicht zu sehen, sondern wandte sich einfach ab und ging gelassen in ihr Schlafzimmer, das sie hinter sich verschloß mit klopfendem Herzen und fliegenden Pulsen.
Aber sie fand dennoch ein wenig Schlaf, und es träumte ihr, die »böse Freifrau« streiche leise mit ihrer kalten Hand über ihr Haar, und sage mit frohem Lächeln in ihr Ohr: »Bald! Bald! Dolores! Erlöserin!« Ganz wie in ihrer ersten Nacht im Falkenhofe.
***
Frau Ruß aber hatte am andern Morgen eine böse Zeit mit ihrem Gatten, der in seiner schlechtesten Laune war und sie mit giftigstem Hohne überschüttete, nervös lachte und in einem Zustande fieberhafter Reizbarkeit seine Kleider durchsuchte nach einem Blatt Papier in einem offenen, unbeschriebenen Couvert, das er verloren haben wollte. Frau Ruß suchte schweigend mit, aber es war nicht zu finden, und dann mußte sie hinausgehen in die kleine Bibliothek, um nachzusehen, ob er es dort verloren habe. Doch es war auch dort nicht zu finden, trotzdem noch niemand das Kabinett betreten hatte, weil es dicht neben dem Schlafzimmer der Schloßherrin lag, diese aber noch schlief und nicht gestört werden sollte. Auch Ramo, welcher die Lampe ausgelöscht hatte, nachdem er Doktor Ruß herabgeleuchtet, hatte nichts gesehen oder aufgehoben.
Hätte Doktor Ruß geahnt, daß sich ihm das Papier so nahe befand, daß es in der Kleidertasche seiner Frau war –! Aber das ahnte er nicht. Und während er umherging, rastlos, blaß, mit unstetem Blick, da saß seine Frau da, die Hände im Schoß gefaltet, müßig, und unter den Augen tiefe, blaue Ränder, die Wangen hohl und in dem verblaßten, blonden Haar ein schneeweißer Streifen, der gestern noch nicht dagewesen war.
»Wie sitzest du da? Arbeite!« fuhr er sie an, und als sie sich daraufhin nicht rührte, höhnte er: »Du siehst aus, wie eine getrocknete Leichenpredigt! Was fehlt dir? Hast du einen Geist gesehen?«
»Das ganze wilde Heer,« erwiderte sie mit zuckenden Lippen.
»Wohl bekomm's!« zischte er.
Um die Mittagszeit, ehe zum Lunch geläutet wurde, kam Falkner und fragte nach Dolores, die er in der Halle mit Engels traf – blässer denn je, aber scheinbar wohler.
»Lolo hat sich in den Kopf gesetzt, heut' ein Picknick am Hexenloch zu veranstalten,« sagte er, »und da bin ich denn beauftragt, dich zu fragen, ob du es uns erlaubst und selbst teilnehmen wirst mit deinen Gästen. Es soll statt des Diners gelten.«
»Ach ja, das ist eine hübsche Idee,« erwiderte sie freundlich. »Wir wollen das gleich mit Mamsell Köhler besprechen, meine Gäste treffe ich jetzt beim Lunch und werde es ihnen dabei sagen, damit sie ihren Dienst vorher abmachen.«
»Aber wirst du selbst denn kommen können?«
»Ich hoffe, ja. Und wenn ich mich heimlich eher entferne als die anderen, so bitte ich dich, die Pflichten des Wirtes zu übernehmen und meinen Rückzug zu decken. Bleibst du zum Lunch?«
»Nein – ich danke dir. Ich will Lolo nicht daheim allein lassen mit den Herren.«
»Das ist recht,« stimmte sie zu. »In diesem Sinne darf ich dich nicht halten.«
Fräulein Köhler stöhnte innerlich zwar große Stücke über »den Picknickunsinn,« aber er wurde dennoch ins Werk gesetzt.
Dolores zog sich sofort nach dem Lunch zur Ruhe in ihr Zimmer zurück, und so oft Frau Ruß an diesem Tage oben anklopfte oder bei dem unablässig wachsamen Cerberus Ramo anfragte, ob sie Dolores sehen könnte, so oft wurde ihr gesagt, daß die Herrin vom Falkenhof ruhe, und als es so weit war, um zum Picknick am Hexenloch aufzubrechen, da war Gräfin Schinga oben – Frau Ruß also überflüssig geworden.
Dolores war seit jenem verhängnisvollen Abende nicht mehr am Hexenloch gewesen, trotzdem sie diesen wildromantischen, geheimnisvoll malerischen Fleck Erde unter den Blutbuchen und den hohen, ernsten Tannen früher so sehr geliebt hatte. Daß der Platz, an den sich so viele unheimliche Sagen knüpften, an dem sie die süßeste und doch auch bitterste Stunde ihres Lebens verlebt, an welchem sie fast den Tod gefunden, heut' wiederhallen sollte von heiterem Lachen und lustigen Worten, das schien ihr, als sie sich's überlegte, freilich ganz undenkbar, aber es ist ja schließlich der Lauf der Welt, und so fuhr sie im leichten Parkwagen an der Seite ihres vornehmsten Gastes, des Kommandeurs, zum Picknickplatz, denn der Weg war ihr zu weit geworden für ihre schwankende Gesundheit, und sie wollte dann lieber zurück gehen. Die anderen waren alle schon da, als sie am Hexenloch ankamen, und lagerten auf dem grünen Rasen um das weiße, ausgebreitete Tafeltuch, darauf ausgebreitet stand, was eine feine Küche zu liefern vermag.
Dolores überlief unwillkürlich ein kalter Schauer, als sie die Stätte betrat, wo sie mit den dunkeln, tückischen Wassern um ihr Leben gekämpft – aber damals war es offener Kampf gewesen mit einem Feinde, der sie besiegt hätte ohne Alfred Falkners Hilfe; heut' aber kämpfte sie denselben Kampf mit einem Feinde, den sie nicht zu nennen wußte, und ihr ahnte, daß sie diesem verkappten Unhold erliegen würde. Denn er hatte sich zu ihr gestohlen wie der Dieb in der Nacht, er hatte ihre blühende Gesundheit untergraben, ihr Kraft und Lebensmut geraubt und lag mit bleierner Schwere in ihren Gliedern.
Und es war fast wie damals am Hexenloch, nur daß die Sonne höher stand und neugierige Strahlen warf auf das blitzende Silberzeug der improvisierten Tafel auf dem Rasen, auf die leuchtenden Uniformen der Husaren, auf Dolores Falkners schimmerndes Haar. Es waren außer ihr nur noch drei Damen zugegen: Lolo, Gräfin Schinga und Frau Ruß. Und letztere hatte sich neben Dolores gesetzt, doch wurde sie, der bunten Reihe wegen, bald von ihrer Seite gedrängt.
Als man beim ersten Glase Sekt miteinander anstieß, da ließ Dolores auch das ihrige mit dem des Doktor Ruß zusammenklingen.
»Seien Sie nicht böse – ich bin eine kranke und nervöse Person,« sagte sie mit Bezug auf die Vorgänge der letzten Nacht, denn sie hatte sich's überlegt, wie leicht man manchmal ein Wort spricht, wie »es ist nicht wahr,« ohne dabei etwas zu meinen in diesem Ausruf des Staunens. Und der Mann hier, dessen Blick sie mehr erschreckt, als seine Worte sie empört hatten – er war ihr Gast.
»Man ist Damen niemals böse,« erwiderte Doktor Ruß und zog ihre Hand an seine Lippen.
Bald thaten der Sekt und die muntere Gesellschaft ihre Schuldigkeit – denn durch den Park klang weithin das laute, herzliche Lachen des sorglos fröhlichen Kreises. Und die lauteste darunter, ein Sprühteufel an Witz und Laune, war Lolo Falkner!
Doch auch Dolores' matte Lebensgeister belebte der Wein und die hinreißend gute Laune der künftigen Schlachtenlenker, und sie lachte ein paarmal sogar fröhlich auf bei einem besonders unwiderstehlich guten Scherz derselben.
Da jagten sich lustige Manövergeschichten mit lustigeren Schnurren, und manch' ein Kalauer wurde mit lachendem »Au! au!« im Chore abgelehnt – ein Kobold, der zu einer Thür hinausgeworfen, zur anderen wieder hereinkam mit lachendem Gesicht, ein gar nicht loszuwerdender Lachgeist im heiteren Kreise.
Da fiel es plötzlich jemand ein, nach dem Ursprung des Namens »Hexenloch« zu fragen, und Doktor Ruß erzählte mit seinem wohltönenden Organ die Legende desselben, wie sie verzeichnet stand in den Annalen des Falkenhofs. Erst hörte nur der Frager zu, dann noch andere und zuletzt schwieg der ganze Kreis und lauschte auf eine jener finsteren Tragödien finsteren Aberglaubens aus längstverklungener Zeit, meisterhaft erzählt mit allen Mitteln, allen Raffinements eines Vortragsmeisters.
»Donner Wachsstock! Auf das gruselige Zeug muß man eins gießen,« sagte Graf Schinga, als Doktor Ruß geendet.
Und damit trank er ein großes Glas Sekt, das er sich schon während der Erzählung vom Hexenloch mit frischen Pfirsichen präpariert hatte, auf einen Zug aus.
Das wievielte es war, wußte kein Mensch zu sagen, man konnte es aber an seinen funkelnden Äuglein und der sich sanft rötenden Nase ungefähr berechnen.
»Hu! 's wird einem ganz kalt!« sagte Lolo Falkner und schüttelte sich. »Wie kann man sich nur einen so schönen, lustigen Abend mit solch' schauerlichen Geschichten verderben! Mir sind die lustigen Geschichten lieber. Wer erzählt eine?«
»Du, Erfurt, erzähle 'mal der Baronin deine Erlebnisse aus dem letzten Quartier,« rief ein Leutnant dem andern zu.
»Ja, ja, erzählen! Das ist nämlich eine kapitale Geschichte! Und dazu der Erfurt –! Nein, zum Schreien!« schwirrte es durcheinander.
»Silentium! Der alte Graf will eine Geschichte erzählen!« rief der Kommandeur lachend.
Der also Aufgeforderte war ein ganz ›junger‹ Leutnant, der etwas spät erst des Königs Rock angezogen und einen kahlen Kopf hatte, weshalb er der alte »Graf Erfurt« genannt wurde. Charakteristisch bei ihm war, daß er sehr zerstreut war und nie eine Geschichte zu Ende erzählte, da er diese durch das Dreinreden und Aushelfen der Kameraden längst vergessen hatte, bis er dazu kam.
»Ja,« sagte er jetzt nachdenklich. »Wie war denn die Geschichte eigentlich?«
»Na, du lagst beim Bankier Schweigeles im Quartier,« half ein Leutnant ein.
»Richtig,« nickte der alte Graf erfreut. »Schöne Frau, wohlerzogen und vornehm –«
»Die Schweigelessen?« fragte Graf Schinga.
»Ja. Konnte ebensogut Gräfin Schweigeles sein. Famose Frau! Wirklich! Reizend, nett und so was Angenehmes –«
»Und der alte Schweigeles?« fragte jemand.
»Greulicher Kerl, protzig, eklig – auf jedem Finger einen Brillantring – wie der zu dieser Frau gekommen, ist mir ein Rätsel!«
Pause.
»Aber die Geschichte, Erfurt!« rief der Kommandeur.
»Ja so!« sagte der alte Graf zur allgemeinen Heiterkeit. »Also dieser Lulatsch, der Schweigeles –«
»Halt!« rief Lolo dazwischen, »das ist etwas für den Doktor Ruß! Er muß uns einen Vortrag halten über den klassischen Ursprung und die ästhetische Berechtigung des Wortes ›Lulatsch.‹«
»Nachher! Der Herr Vorredner hat das Wort,« erwiderte Ruß lächelnd.
»Ja, nun weiß ich gar nicht mehr, wie es war,« sagte der alte Graf perplex.
»Es fing mit dem Mittagessen an,« soufflierte einer der Offiziere.
»Ah, ja richtig!« nahm der alte Graf den Faden wieder auf. »Mockturtlesuppe. Dann gab es solches grünes Zeug –«
Er machte die Bewegung des Bohnenschnitzelns und man begriff.
»Dazu Lachs und – na, wie nennt man das?« fragte er, auf seine herausgestreckte Zunge tippend.
»Ochsenzunge,« übersetzte nach dem Anblick des fraglichen Objektes ein Leutnant die Pantomime, und als sich das um den Kreis laufende Kichern gelegt hatte, fuhr der Erzähler fort:
»Eben! Ox tongue heißt es englisch. Nachher kam so eine gebackene Splitterteig-Chose, gefüllt mit einem Mansch von Krebsschwänzen, Spargeln und – und – und« er klopfte mit dem Zeigefinger auf den Kopf.
»Kalbsgehirn,« interpretierte man die bezeichnende Bewegung.
»Jawohl,« sagte der Erzähler freudig, aber nun war es vorbei mit aller Fassung und ein brausendes Gelächter versenkte auf ewig die »kapitale Geschichte« in das Meer der Vergessenheit. Der Graf nahm auch den Fund von Kalbsgehirn und Ochsenzunge bei ihm selbst gar nicht übel, er war froh, daß er schweigen durfte und den guten Sekt trinken.
»Und nun der Vortrag des Doktor Ruß,« rief Lolo, als das Lachen sich gelegt hatte.
»Er ist noch nicht ausgearbeitet,« wehrte der Angeredete ab.
»Ich höre hübsche, nette Geschichten für mein Leben gern,« gestand der Kommandeur. »Es hört sich so behaglich zu, besonders hier im Freien, eine gute Cigarre dazu als Würze. Wer erzählt noch eine Geschichte?« rief er laut.
»Ich,« sagte Frau Ruß in das allgemeine Schweigen hinein.
»Du? Liebes Weib, du scherzest,« flötete Doktor Ruß taubensanft.
»Frau Ruß hat das Wort,« sagte der Kommandeur erstaunt, aber sehr höflich, und alles lauschte gespannt, was wohl diese Frau, welche immer die Rolle der Stummen spielte, erzählen könnte.
Frau Ruß aber suchte mit den Augen ihren Sohn und nickte ihm zu, dann richtete sie die Augen auf das Wasser und begann:
»Es war einmal eine Frau –«
»Also ein Märchen,« sagte Graf Schinga mit langem Gesicht.
»Ja, ein Märchen,« sagte Frau Ruß und begann nochmals: »Also, es war einmal eine Frau, die war Witwe und hatte ein Kind, das einmal einen großen Besitz erben sollte. Erbschaften aber sind Güter im Monde – Luftschlösser. Und auch dieses Luftschloß zerfiel in Staub und Spreu und das Kind der Witwe blieb arm. Die Witwe aber heiratete wieder –«
»Kommt zuweilen vor,« brummte Graf Schinga.
»Und sie heiratete einen bösen Mann,« fuhr Frau Ruß fort.
»So? Sonst sind meist die Weiber die Xantippen,« sagte Graf Schinga trocken, doch Frau Ruß erzählte unbeirrt weiter.
»Sie heiratete einen bösen Mann – einen schlechten Mann. Denn er liebte, weil seine Frau alt und welk wurde, ein junges, schönes Mädchen, die Erbin der Güter, als deren Herrn er seinen Stiefsohn erträumt – –«
Sie hielt einen Augenblick inne, ohne den Blick vom Wasser abzuwenden, ohne auf das fest auf sie gerichtete Antlitz ihres Sohnes zu sehen, ohne das blasse Gesicht von Dolores mit den Augen auch nur zu streifen.
»Eine recht uninteressante Geschichte, mein Herz,« sagte Doktor Ruß leise, mit seltsam schwankender Stimme.
Währenddem war auch Falkner neben seine Mutter getreten.
»Möchtest du uns deine Geschichte nicht lieber zu Hause erzählen, Mutter?« fragte er leise, sich über sie beugend. Aber sie achtete weder auf den einen, noch auf den anderen.
»Und weil der zweite Mann der Witwe das junge Mädchen nicht sein nennen konnte, und weil sie ihn nicht wieder liebte, beschloß er sie zu töten.«
»Gott, wie romantisch,« gähnte Lolo.
»Unangenehmer Gentleman,« knurrte Schinga, Doktor Ruß aber lachte laut auf. Er lachte sonst immer leise.
»Das glaubte nämlich seine Frau,« fuhr Frau Ruß in ihrer gleichen, monotonen Weise fort. »Aber es mochte ihn noch anderes treiben – der Besitz. Denn der Sohn der Witwe war der Erbe des Mädchens, und als Stiefvater des Besitzers dachte er sich wohlversorgt. Vielleicht war das auch der richtige Grund – aber die Frau war eifersüchtig, weil sie alt geworden war, weil er jünger war als sie, und sie keinen Reiz mehr auf ihn ausüben konnte. Und weil die Frau eifersüchtig war, da spürte sie seinen Wegen nach – o, so sacht, so unverdächtig, so sicher! Sie schlief nachts nicht einmal mehr, denn der Mann hatte die Gewohnheit im Schlafe zu sprechen, und sie lauschte alle Nächte mit bitterem Weh und wild schlagendem Herzen, ob er von dem schönen Mädchen und seiner Liebe zu ihr im Traume reden würde. Doch nur selten nannte er ihren Namen. Aber die Frau erfuhr aus seinen Reden etwas anderes – nämlich, daß er ein Mörder sei, daß er das Mädchen töten wollte. Und so erfuhr sie, wie er sie belauscht am Wasser, und daß sie einen anderen liebte – wen sagte er nicht. Aber er redete wild davon, wie er sie ins Wasser gestoßen und ein anderer sie gerettet – ›Wer hätte auch voraussehen können, daß sie schreien würde!‹ so sagte er unablässig in jener Nacht.«
Von den Zuhörern flüsterten längst während der Erzählung der Frau Ruß Zwei und Zwei oder Gruppen miteinander. Nur Dolores hörte hoch aufgerichtet, aber leichenblaß zu, Doktor Ruß zupfte die Rippen eines Buchenblattes aus und Falkner stand wie hypnotisiert und sah nach Dolores hinüber.
»Als aber das Mädchen aus dem Wasser errettet worden war, versuchte es der Mann mit einem anderen Mittel,« fuhr Frau Ruß fort. »Denn das Mädchen hatte eine Schußwaffe, die nahm er, als sie abwesend war, und übte sich damit. Er wollte sie erschießen und die Pistole dann in ihre Hand geben, als hätte sie es selbst gethan, und er bereitete alles vor, indem er erzählte, daß das Mädchen lebensmüde sei aus unglücklicher Liebe. Aber der Schuß ging fehl, und er fand Zeit, die Waffe zurückzulegen an ihren Platz, ehe das Mädchen sie suchen konnte. O, seine Frau spürte ihm wohl nach und sah alles, alles, alles. Denn sie hatte eine wilde Freude an seinem Thun, weil sie das Mädchen haßte, haßte, haßte! Und weil sie eifersüchtig war. Als nun aber der Mann sah, daß er so nichts ausrichtete, da fing er an, dem Mädchen Gift zu geben, ein langsames, schleichendes Gift, das die sonst so Gesunde hinsiechen und hinwelken machte, wie eine Blume im Herbst. Da erwachte das Gewissen der Frau bei dem Anblick dieser welkenden Lilie und sie schlug an ihre Brust und sagte: ›mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa,‹ wie sie in der Messe oft so gedankenlos gethan. Aber sie sagte dem Manne nicht, daß sie ihn entdeckt habe, denn sie wußte, er würde sie töten aus Rache und Angst vor ihrer Mitwisserschaft, sie wußte, daß der Tod ihr sicher sei für ihre Entdeckung, weil der Mann grausam war – eine Bestie unter dem Firnis höchster Kultur. Und die Frau suchte seine Wege zu durchkreuzen, um das fressende Gift in dem Mädchen aufzuhalten und es womöglich zu retten. Aber das Mädchen verstand nicht, was sie wollte, und entsetzte sich vor den warnenden Zeichen, die sie ihm gab. Und das Gift wirkte dem Manne zu langsam, unerkannt sogar von dem Arzte, der herbeigeholt werden mußte, und er beschloß, die Sache abzukürzen. Wieder erzählte er von dem Lebensüberdruß und den Selbstmordgedanken des Mädchens, denn er wollte sie mit einem schnellen Gift töten und neben ihre Leiche einen gefälschten Brief legen, darin er sie ihren Selbstmord bekennen läßt – –«
So weit war Frau Ruß gekommen, jetzt aber wandte sie sich um und sah die wenigen, die ihr zuhörten, triumphierend an.
»Aber die Frau hatte einen Nachschlüssel. Sie schüttete das Gift aus, das die Aufschrift ›Blausäure‹ trug, und weil es nach bitteren Mandeln roch, that sie in die leere, sorgsam gereinigte Flasche etwas Wasser, parfümiert mit bitteren Mandeln – mit weniger, als man zur Würze einer Mehlspeise braucht. Der Mann aber, der davon nichts ahnte, machte die Etikette los von der Flasche, schrieb eine andere Etikette und brachte sie dem Mädchen als Schlaftrunk. Und ohne die rastlos spürende Frau schliefe sie jetzt den ewigen Schlaf –«
»Den ewigen Schlaf –« wiederholte Dolores leise, denn sie spürte ein seltsames, unbekämpfbares Ohnmachtsgefühl in sich aufsteigen.
»Nun, und wie endete die Geschichte?« fragte der Kommandeur interessiert.
»Ich kenne den Schluß nicht,« sagte Frau Ruß sichtlich erschöpft.
»Wahrscheinlich endete sie mit dem Tode des armen Mädchens,« meinte der Kommandeur.
»Hoffentlich mit dem Zuchthause des bestialischen Lumpen, der seine Verbrechen so unmenschlich überlegt verübte,« sagte Falkner heiser.
»Ganz sicher endete sie damit, daß man die Frau in ein Irrenhaus sperrte. Denn solch' eine Geschichte kann sich doch nur eine Wahnsinnige ausdenken,« vollendete Doktor Ruß kalt und lächelnd und schüttelte ungläubig den Kopf.
Dolores sagte nichts. Sie lehnte, unfähig sich zu rühren, an einem Baumstamm, aber sie fühlte Falkners Augen mit dem Ausdruck unsäglicher Angst auf sich gerichtet, einer Angst, die in der Frage wurzelte:
»Ist sie, die das erzählt, wirklich wahnsinnig, oder sprach sie die Wahrheit, die entsetzliche Wahrheit, deren Ende der Tod sein müßte?«
»Nehmt es mir nicht übel, aber warum wir heut' nichts wie solche grausige Geschichten erzählen, sehe ich nicht ein,« sagte Lolo. »Das gehört an den Kamin im Winter, da gruselt es sich schön dabei, aber hier im Sommer, im Grünen, will ich lustige Dinge hören. Allons, Alfred,« rief sie Falkner an, ihm einen abgebrochenen Zweig zuschleudernd. »Allons! Die Reihe ist an dir, uns eine lustige Geschichte zu erzählen!«
Aber Falkner hörte nicht. Er stand da und wollte auf dem Antlitz von Dolores entziffern, was ihm ein schreckliches Rätsel war, dessen Lösung er sich jetzt nicht ertrotzen konnte, so lange die Gesellschaft ihm die Pflicht auferlegte, zu scheinen, als ob er die Erzählung seiner Mutter nur für eine Geschichte hielt, die sein Haus nichts anging. Denn wenn etwas geschehen sollte, so mußte jedes Aufsehen vermieden werden.
»Nun?« fragte Lolo scharf, und als er auch darauf nicht antwortete, flammte es auf in ihrer leicht erregbaren Seele. »Du schweigst ja, wie Ekkehard, als er Frau Hadwig eine Geschichte erzählen sollte unter der Zeltlaube auf dem Hohentwiel,« rief sie hinüber. »Willst du uns am Ende auch eine Geschichte erzählen von einem Nachtfalter, der um ein Licht flog, das eine Rose im Stirnbande trug?«
Da that Falkner einen tiefen Atemzug, wie wenn er jetzt erst erwacht wäre aus einem schrecklichen Traume.
»Nun passen Sie auf, jetzt wird er uns zum besten geben, wie er seine Cousine Dolores aus dem Hexenloch zog,« sagte die junge Frau zu dem sie umringenden Herrenkreise. »Er hat sie nämlich faktisch einmal dort herausgeholt,« beteuerte sie, als man diese Sache nicht ernst zu nehmen schien. »Ich möchte wirklich wissen, Alfred, ob du es noch einmal thun würdest, wenn ich zum Beispiel hineinfiele,« setzte sie nachdenklich hinzu.
Doch Falkner war nicht dazu aufgelegt, solch' kindische Fragen zu beantworten.
»Sei froh, daß du noch nicht hineingefallen bist,« sagte er zerstreut.
»Ich könnte ja hineinspringen, um zu sehen, ob du mich retten würdest,« gab sie pikiert zurück.
»Na, das werden Sie hübsch bleiben lassen, gnädige Frau,« meinten die Offiziere lachend.
»Hoho, denken Sie, ich habe keine Courage?« fragte sie pikiert.
»O, die haben Sie selbstverständlich wie ein Löwe,« wurde ihr lachend geantwortet, »aber zwischen dem Hineinspringen in eine Regenpfütze oder in dieses, jedenfalls heillos tiefe Wasser ist doch ein gewaltiger Unterschied, besonders da hier noch der gurgelnde Strudel in Betracht kommt.«
»Nun, wenn's nicht ein bißchen gefährlich wäre, dann hätte ein Rettungsversuch ja auch keinen Wert,« erwiderte Lolo kokett.
»Ein bißchen gefährlich? Gnädige Frau, hier sind die Chancen zum Ertrinken größer als die des Rettens, das Hexenloch ist ganz zu empfehlen für spleenige Engländer,« war die allgemeine Meinung.
»Natürlich – Sie wollen sich bloß von dem Retten ›drücken,‹« sagte Lolo noch koketter.
»Ich glaube, gnädige Frau drücken sich eher vom Hineinspringen,« wurde ihr animiert erwidert.
»Ich?« rief sie, aufspringend. »Nun dann – ich wollte heut' so wie so ein kaltes Bad nehmen – eins, zwei, drei – houp là, cousin!«
Und ehe ein Mensch sie halten konnte, ehe jemand im entferntesten glauben konnte, daß sie Ernst machen könne, spritzte das Wasser des Hexenloches hoch auf und die kleine, weiße, zierliche Gestalt verschwand mit einem hellen Gelächter der Schadenfreude, das in einem gellenden Schrei endete, in der schwarzen unheimlichen Flut.
»Lolo! Herr des Himmels!« schrie Falkner auf – er hatte auf das Gespräch in seinen tiefen Gedanken nicht geachtet, es gar nicht gehört und, hätte er es gehört, für ein kindisches Renommieren gehalten.
Und nun kämpfte er wieder mit dem Strudel des Hexenloches, diesmal unterstützt von den Schwimmern unter den Offizieren, welche, ohne sich zu besinnen, den Attilla abgeworfen hatten, und gleich Falkner, nach dem Körper seiner jungen Frau tauchten und suchten – – vergebens.
Währenddem waren andere nach Rettungsapparaten fortgeeilt, aber es währte doch geraume Zeit, ehe ein flaches Boot herbeigeschafft wurde, von welchem aus man Fischernetze warf, trotzdem nach so langer Zeit wohl niemand mehr daran glauben konnte, die Verunglückte lebend ans Land zu schaffen.
Aber das Hexenloch wollte sein Opfer nicht mehr herausgeben, denn alle Bemühungen, Lolos Leiche ans Licht zu bringen, schienen eitel und nutzlos zu sein. Fischer von Beruf arbeiteten unter Falkners Aufsicht die ganze Nacht bei Fackellicht, doch erst als es wieder Tag geworden war, gelang es durch künstliches Aufrühren des Wassers den Körper so nach oben zu treiben, daß ihn der Strudel ergriff und sie ihn mit Hakenstangen ans Land ziehen und auf den grünen Rasen legen konnten.
Und nun kniete im Morgenrot Falkner neben den Überresten des zarten, elfenhaften Wesens, welches schon angefangen hatte, die große Enttäuschung seines Lebens zu werden, und das nun das Opfer eines unüberlegten, tollkühnen und kindischen Streiches geworden.
Vor der Majestät des Todes aber verstummt jede irdische Regung, Haß, Bitterkeit, Schmerz, erlittenes Unrecht und die Erinnerung an trübe und böse Stunden – nur die Liebe bleibt, denn diese besiegt selbst den Tod. Und wie Falkner im tiefsten Herzen erschüttert neben der Leiche seiner jungen Frau kniete, da erlosch auch in ihm alle Bitterkeit, die er empfunden, alle Reue – er sah nur in der entflohenen Seele alles, was liebenswert war, er dachte nur, wie sie ihn wirklich geliebt in ihrer flatterhaften, unreifen Art; er vergaß sogar, daß er sie niemals geliebt, und die Augen wurden ihm trüb und trüber, und er schämte sich der heißen Thränen nicht, welche langsam auf ihr blasses Totengesicht herabtropften. Und dann erhob er sich und brach von einem rosigen Spireenstrauch ein paar Dolden und legte sie ihr auf die junge Brust, in der das lebensfrohe Herz aufgehört hatte zu schlagen und die Sänger des Waldes sangen ihr zum Rauschen des Morgenwindes in den Buchen und Tannen ein süßes Abschiedslied, das ihre Seele im Himmel vielleicht vernahm und den Bann des schrecklichen Todes von ihr löste.
Alfred Falkner aber folgte der Bahre seiner jungen Frau als einziger Leidtragender nach Monrepos, und als er das Parkgitter hinter sich schloß, da durchzuckte ihn jäh wie ein Dolchstich der Gedanke:
»Was mag indes im Falkenhofe vorgefallen sein?«
***
Als man Dolores hinweggeführt hatte vom Hexenloch, das erst eine Stätte heiterster Laune und jetzt eine Stätte des Todes geworden war, als sie in ihren Parkwagen stieg, da die Glieder nach der mächtigen Erschütterung dieser Stunde ihr den Dienst versagten, und Gräfin Schinga schon zu ihr einsteigen wollte, um sie nach dem Falkenhof zu bringen, da erschien, dicht am Wagen, aus tiefem Gebüsch heraus, Frau Ruß, wilde Angst in den Augen.
»Nimm mich mit,« brachte sie mühsam hervor, drängte Gräfin Schinga zur Seite und saß neben Dolores, ehe diese die kleine Scene noch beobachtet hatte. Aber sie ließ, ohne zu fragen, die Pferde anziehen und im scharfen Trabe nach dem Falkenhof gehen.
»Er sucht mich am Hexenloch,« flüsterte Frau Ruß atemlos, »aber ehe er im Hause ist, bin ich schon da. Dolores, erbarme dich und rette mich, wie ich dich gerettet habe!«
»Tante, ist es denn wahr? Soll ich deine Erzählung wirklich auf mich beziehen?« fragte Dolores.
»Ja, ja! Aber du mußt mich retten, denn er wird mich heut' Nacht töten!«
»Sei unbesorgt, Tante. Das würde ihn ja sofort ins Zuchthaus bringen. Aber jedenfalls bleibst du bei mir.«
»Gottlob!« murmelte Frau Ruß.
Der Weg vom Hexenloch bis zum Falkenhofe war mit dem Wagen nur wenige Minuten lang, und so waren die beiden Damen auch sehr schnell da. Sie gingen sofort zu Dolores hinauf, und Ramo erhielt den strengen Befehl, Doktor Ruß keinesfalls vorzulassen. Frau Ruß aber schritt sogleich zu dem Schreibtische.
»Laß mich ein Telegramm an einen Arzt aufsetzen,« bat sie. »Ich weiß nicht genau, wie oft er dir Gift gegeben und wieviel – du bist vielleicht trotz der momentanen Besserung eine Sterbende!«
Dolores nickte, und Frau Ruß schrieb das Telegramm, das klar ausdrückte, um was es sich handelte. Als sie die Feder weglegte, deutete sie auf den Kamin.
»Dort hatte er auch einen Schlupfwinkel, durch den Nordflügel her. Aber du hast ihn zugebaut. Man kommt aus dem Souterrain auf einer kleinen Treppe hinauf, die jetzt niemand mehr kennt.«
Nun war auch das Rätsel der Fußstapfen gelöst, und Dolores schauerte es, als sie daran dachte, wie der Mörder durch diese geheime Verbindung in tiefster Nacht zu ihr gelangen und sie töten konnte, ohne daß auch nur ein Hahn danach gekräht –!
»O Tante, warum hast du mir das nicht früher gesagt!« rief sie, als Frau Ruß das Telegramm an Ramo gegeben hatte. »Nicht das Geheimnis des Kamins, aber die Mordgedanken deines Mannes! Warum mich sterben lassen, ungerührt, und ich bin doch noch so jung! denn ich weiß, daß ich sterben muß!«
»Nein, nein,« schluchzte Frau Ruß erschüttert und sank vor Dolores auf die Kniee nieder. »Ich sagte dir schon, daß ich dich haßte, weil ich an meines Mannes Liebe zu dir glaubte und eifersüchtig war. Sein Attentat auf dich am Hexenloch erfuhr ich erst durch sein gewohnheitsmäßiges Sprechen im Traume – den Schuß auf dich sah ich im voraus, weil er sich dein Pistol genommen, als du zu Alfreds Hochzeit fort warst, und sich damit übte, wenn er sich unbeobachtet glaubte – aber woher sollte ich wissen, wann er die Waffe auf dich abfeuern würde? Und sollte ich ihn denuncieren auf einen bloßen Verdacht hin? Er war doch immerhin mein Mann und ich habe neben ihm am Altar gestanden!«
»Halt,« unterbrach sie Dolores, »mir fällt etwas ein.«
Und sie erhob sich, um bald darauf mit dem kleinen Teschinpistol wieder zu kommen, das sie neben sich auf den Tisch legte.
»Ich fürchte, ich habe in vergangener Nacht nicht seinen letzten Besuch empfangen,« sagte sie mit seltsam entschlossener Miene. Als sie wieder saß, fuhr Frau Ruß fort:
»Er muß dir wohl schon mehrere Giftdosen beigebracht haben, ehe ich entdeckte, daß er mit diesen Mitteln gegen dich vorging. Ich sah es zum erstenmal beim Thee, daß er ein weißes Pulver in deine Tasse schüttete. Und damals war es noch eine mit Gewissensbissen vermengte Freude, die ich Unholdin dabei empfand. Erst als ich dich verfallen und welken sah wie eine Blume, da gingen mir die Augen auf und ein namenloses Mitleid ergriff mich für dich! Wie aber dich warnen, ohne ihn preiszugeben? Und so durchkreuzte ich jeden seiner Wege, immer wachsam, Tag und Nacht beobachtend und lauschend – es war ein Höllenleben. Weißt du noch den Abend, als Engels den geschossenen Adler brachte? Während mein Mann das Maß suchte auf dem Tische, that er sein Höllenpulver in deine Tasse; ich sah es und stieß dich an, um es dich gleichfalls sehen zu lassen. Aber du wußtest nicht, was ich meinte, und um dich am Trinken zu verhindern, sah ich dich so lange starr und stier an, bis mein Blick dich so jäh erschreckte. Und ich zerbrach auch mit Absicht die Arzneiflasche hier in deinem Zimmer, denn er hatte dir den nichtssagenden Trank mit seinem Gifte gewürzt. An diesem Tage wollte ich sprechen, wollte meinen Gatten anklagen, aber du wandtest dich ab von mir, und Gräfin Schingas Ankunft vereitelte meine Absicht. Wie ich die Blausäure unschädlich machte in seinem Geheimfach – das erlasse mir zu schildern. Aber hier –« und sie zog ein Blatt Papier aus der Tasche, »hier ist der Brief, den er neben deine Leiche legen wollte, nachdem du das Gift genommen –«
Schaudernd und mit einer Ohnmacht kämpfend sah Dolores auf das Blatt herab, auf welchem ihre Schriftzüge in meisterhafter Nachahmung es schwarz auf weiß der Welt erzählten, daß sie selbst Hand an sich gelegt. Jetzt erst konnte sie sich den nächtlichen Besuch des Doktors erklären: er war nur gekommen, um sich von ihrem Tode zu überzeugen und dessen Schuld auf die zu wälzen, deren Mund ihn nicht mehr Lügen strafen konnte. Und ein ungeheurer Ekel ergriff sie vor der Erbärmlichkeit der Menschen, die lieber ihren Nächsten aus dem Hinterhalte angreifen und vernichten, ehe sie offen vor ihn hintreten und sagen: Das will ich von dir, kannst du es geben, so gieb!
»Heut' den ganzen Tag habe ich's dir sagen wollen, wie ich's jetzt gesagt habe,« sagte Frau Ruß traurig, »du aber hast mich niemals sehen und sprechen wollen. Da blieb mir nichts übrig, als jene Erzählung draußen am Hexenloch, denn ich fürchtete alles für dich in der kommenden Nacht. Aber wenn du mich jetzt nicht schützen kannst –«
Und sie rang verzweiflungsvoll die Hände.
»Er wird dir nichts mehr anhaben dürfen,« sagte Dolores matt, denn ihre überreizten Nerven fingen an nachzugeben, und sie fühlte, daß sie vor einer physischen Katastrophe stand.
Doch die Stimme des Doktor Ruß draußen im Korridor stachelte sie noch einmal auf. Sie drängte die schreckensbleiche Frau hinein in ihr Schlafzimmer und wartete gespannt darauf, was er thun würde. Aber Ramo verteidigte seine Festung gut und alles ward wieder still. Nun kam das Ruhebedürfnis mächtig über sie, und gerade wollte sie demselben Folge geben, als Doktor Ruß draußen abermals vernehmbar ward. Nun fühlte sie, daß es am besten war, diese Sache ein für allemal abzuthun, darum schritt sie entschlossen zur Thür, öffnete sie und stand ihrem Feinde gegenüber.
»Ich hatte gewünscht, allein zu bleiben,« sagte sie kühl.
Doktor Ruß trat sogleich über die Schwelle und auf einen Wink von Dolores schloß Ramo die Thür.
»Teuerste Nichte, ich wünsche Ihre Ruhe nicht für einen Moment zu stören,« sagte er in seiner gewohnten leisen und verbindlichen Weise. »Ich suche meine Frau. Ist sie bei Ihnen?«
»Ja,« sagte Dolores kurz.
»Ach, ich hatte also recht gehört. Gestatten Sie mir also, sie hinabzuführen in unsere Zimmer.«
»Nein!« erwiderte Dolores.
»Nein?« wiederholte er. »Aber ich verstehe, wie Sie in Ihrem Edelmut dieser armen Unglücklichen Pflege angedeihen lassen wollen. Dennoch bitte ich Sie um Ihrer eigenen Sicherheit willen, meine Frau in meine Obhut zu geben.«
»Tante Adelheid wird bei mir bleiben,« entgegnete Dolores ruhig.
»Dolores seien Sie vernünftig! Meine Frau leidet an Wahnvorstellungen, an Irrsinn! Wer bürgt mir, daß dieser nicht in Tobsucht ausartet und Sie schwer schädigt?«
»Ich bürge dafür, Herr Doktor Ruß! Meine Tante war nie klarer, geistig niemals zuverlässiger als heut'!«
»Aber, teure Dolores,« entgegnete Ruß eindringlich. »Bedenken Sie doch –! Diese schweigsame, stille Frau tritt in einer großen Gesellschaft plötzlich aus sich heraus und erzählt eine lange Geschichte ohne Pointe, die sie sich aus den Gerichtsartikeln verschiedener Zeitungen zusammengestoppelt hat –«
»Halt, Doktor Ruß,« unterbrach ihn Dolores. »Ich bin mir über Ihre Pläne jetzt ganz klar. Sie wollen Ihre Frau in ein Irrenhaus bringen.«
Doktor Ruß lächelte mitleidig.
»Aber liebste Dolores, halten Sie mich für so unmenschlich, daß ich meiner eigenen Frau die einzige Pflege entziehen würde, die ihrem Zustande frommt? Ich bin leider nicht reich genug, um ihr diese Privatpflege in meinem Hause angedeihen zu lassen. Ich sehe aber, Sie sind der Ruhe bedürftig, lassen Sie uns daher kurz sein und mich meiner Frau selbst annehmen. Es ist das beste, glauben Sie mir –«
»Ich bedaure. Tante Adelheid hat sich unter meinen Schutz gestellt und weigert sich mit Entschiedenheit, Sie zu sehen,« entgegnete Dolores unbewegt.
Doch Doktor Ruß zuckte mit den Achseln.
»Da haben Sie wieder einen Beweis ihres Irrsinns, denn der Grund dieser Weigerung geht über mein Begriffsvermögen,« sagte er.
Nun aber wallte es heiß auf in Dolores und stieg zornesrot in ihre bleichen Wangen.
»Herr Doktor Ruß, Sie verlassen in diesem Augenblick das Zimmer,« sagte sie befehlend. »Ich wünsche mit Ihnen nicht dieselbe Luft zu atmen.«
»Ah – wie Sie befehlen,« erwiderte er nachlässig. »Die Herausgabe meiner Frau aus Ihrer Gewalt wird das Gesetz mir erzwingen. Wenn Sie also in Kollisionen mit diesem schon morgen treten, so ist es meine Schuld nicht. Ich habe den gütlichen Weg voll betreten, wie Sie mir bezeugen werden können. Wenn ich also morgen in aller Frühe die Gerichte anrufe, so darf es Sie nicht wunder nehmen.«
Empört trat Dolores einen Schritt zurück.
»Die Gerichte, Herr Doktor Ruß, werden Ihre Frau in meinem Schutze lassen, die Richter aber, welche den Falkenhof betreten auf Ihren Ruf, werden Sie auf meine Anklage hin wegen vierfachen Mordversuches verhaften. Und Ihre Frau wird dann als Zeugin gegen Sie auftreten.«
Doktor Ruß hob beide Hände zum Himmel auf.
»Jetzt scheine ich verrückt geworden zu sein,« sagte er ergeben.
»Kennen Sie diesen Brief?« rief Dolores, das Blatt hervorziehend, das Frau Ruß ihr gegeben.
Da wurde er so bleich, daß seine Farbe ins Grüne überspielte, aber er hielt sich tapfer.
»Ihre Handschrift, Dolores.«
»O ja – insoweit vortrefflich kopiert,« entgegnete sie bitter. »Ein Autograph von mir selbst – ein sinniges Gastgeschenk von Ihnen. Aber es liegt mir nichts daran, den Namen Falkner durch den Schmutz eines langen Kriminalprozesses zu schleifen, und darum stelle ich Sie vor die Alternative, entweder Ihre Intentionen auszuführen, welche dann zweifellos zu Ihrer Verhaftung führen würden, oder aber eine von mir ausgesetzte Rente im Auslande zu verzehren. Sie haben also die Wahl und können sich's bis morgen überlegen. Und nun gehen Sie!«
Aber er rührte sich nicht.
»Ich bewundere Sie schon lange,« sagte er ironisch, »aber heute bewundere ich einen noch nie geahnten Charakterzug in Ihnen: den, peremptorischer Kürze und eines wahrhaft souveränen Willens. Schade nur, daß derselbe mir nicht in der Weise imponiert, als er vielleicht sollte.«
»Doktor Ruß,« sagte Dolores mühsam beherrscht, »ich sagte Ihnen schon, daß meine Konversation mit Ihnen beendet ist. Verlassen Sie mich – ich wünsche allein zu sein.«
Jetzt aber warnte sie ein seltsames Glitzern in seinen Augen, auf ihrer Hut zu sein.
»Gehen Sie,« wiederholte sie, indem sie die Pistole aus ihrer Tasche zog und den Hahn spannte. »Gehen Sie – oder bei Gott, ich schieße Sie nieder wie einen tollen Hund, wenn Sie das Zimmer nicht verlassen haben, bis ich drei gezählt –«
»Hoho! Ich denke, Brasilianerinnen führen nur ein Stilett,« höhnte er, ohne sich zu rühren.
»Nicht doch – wenigstens schieße ich besser als Sie,« erwiderte sie vollkommen kalt und besonnen und begann zu zählen: »Eins – zwei –«
»Ich gehe,« sagte er, etwas bleicher werdend, »denn wenn man wehrlos ist, kann ein Rückzug nicht für Feigheit gelten. Und,« setzte er salbungsvoll hinzu, »und obwohl diese Bedrohung meiner Person –«
»Notwehr!« fiel sie kühl ein.
»... die Bedrohung meiner Person ein teurer Spaß für Sie werden könnte, so will ich dennoch keine Schritte thun, dieselbe zu ahnden,« vollendete er. »Denn,« setzte er hinzu, »denn ich hege keinen Groll gegen Sie und vergebe Ihnen, teure Dolores.«
Und damit ging er mit einer tiefen Verbeugung.
Aber als dieser künstliche Nervenreiz verflogen war, brach Dolores zusammen. Sie hatte nur noch Zeit, Frau Ruß zu fragen, ob sie alles gehört, und als diese bejahte, sagte sie:
»So sage es Alfred, genau Wort für Wort, wenn er herüber kommt.«
Dann fiel sie in eine ohnmachtsähnliche Lethargie – Fieber stellte sich ein und Frau Ruß durchwachte mit Tereza eine angstvolle Nacht an ihrem Bette.
***
Als Falkner am folgenden Mittag, nachdem er Stunden mit sich allein verlebt, erschöpft an Leib und Seele, alles Traurige mit Kepplers Hilfe besorgt und angeordnet hatte, als er noch einen Blick warf auf seine tote Frau, welche im weißen Sterbehemd auf ihrem Bette lag, im Haare einen Kranz von weißen Rosen, von jenem Boule de neige, den der Herzog so sorgsam veredelt, da ging er hinüber nach dem Falkenhof, denn sein Instinkt sagte ihm, daß man dort seiner bedurfte.
Zu gleicher Zeit mit ihm traf der Arzt aus Berlin ein, den Engels von der Station geholt, und Falkner wartete, nachdem er ihn hinaufgeführt hatte, im Ahnensaal, bis die Konsultation zu Ende sein würde.
Mit begreiflicher Spannung trat er dem berühmten Manne entgegen.
»Ich muß bis zum Abend hier bleiben, um den Erfolg eines Mittels abzuwarten,« sagte er auf Falkners Frage. »Es scheint hier eine komplizierte Vergiftung vorzuliegen, welche Ihre Frau Mutter mir auch bestätigt hat. Leider hat das Gift schon größere Fortschritte in dem Körper gemacht, welche bedauern lassen, daß nicht früher Hilfe dagegen angerufen worden ist.«
Hier trat Frau Ruß ein, da sie ihres Sohnes Stimme gehört und der Arzt benutzte ihre Anwesenheit, um sie zu fragen, auf welche Weise Dolores zu dem Gifte gekommen sei, ob durch Unvorsichtigkeit, aus eigener Initiative, oder durch fremde Personen.
»Der zweite Fall ist ausgeschlossen, und wir fürchten auch der erste,« erwiderte Frau Ruß fest, und als der Arzt überrascht aufsah, setzte sie hinzu: »Es ist der dringende Wunsch meiner Nichte, daß von dem Verdacht gegen eine Person nichts in die Welt dringt. Der Arzt ist ja in so vielen Fällen auch ein Beichtvater – lassen Sie, Herr Professor, also diese Mitteilung unter dem Beichtsiegel Ihres Wortes nicht aus dem Falkenhofe herausdringen, denn er betrifft ein Glied der Familie.«
»Ich verstehe,« sagte der berühmte Mann, »und ich werde schweigen. Nur könnten Sie mir meine Arbeit wesentlich erleichtern, wenn Sie mir einen Anhalt über die Natur des Giftes geben könnten, falls dies im Bereiche der Möglichkeit liegt.«
Aber Frau Ruß schüttelte mit dem Kopfe – sie wußte, daß der Inhalt der gewissen Pappschächtelchen aus dem Geheimfach des Rokokosekretärs verschwunden war – ob er das Gift enthalten, war dabei noch immer fraglich, und sie klagte sich jetzt an, daß sie nicht Proben davon entnommen.
»Ist meine Cousine in Gefahr?« fragte Falkner dann und sah den Arzt fest an.
»Ja,« sagte dieser ohne Bedenken. »Die Gefahr ist nicht unmittelbar, aber sie droht ohne Zweifel.«
»Und ist noch Hoffnung?« fragte Falkner leiser.
»So lange noch Leben ist, ist auch noch Hoffnung,« erwiderte der Arzt.
Das war aller Trost, und er war, bei Gott, schwach genug.
***
Noch am selben Abende reiste Doktor Ruß ab, nachdem er eine längere Unterredung mit seinem Stiefsohne gehabt.
Die Husaren aber ließen ihre Trompeter noch einmal blasen – als Lolo Falkner in die Gruftkapelle zur ewigen Ruhe gebettet wurde.
Die pathetischen Klänge des Chopinschen Trauermarsches und das Läuten des Totenglöckchens, das der Wind hinübertrug zum Falkenhofe, weckten Dolores aus dem Halbschlummer, in welchem sie seit den letzten drei Tagen fortwährend gelegen.
»Was ist das?« fragte sie.
»Sie tragen Alfreds Frau zur Gruft,« erwiderte Frau Ruß, welche daheim geblieben war, angstvoll, ob es die Kranke zu hören sehr erschüttern würde.
»Die arme Lolo,« sagte Dolores, indem heiße Thränen aus ihren Augen stürzten. »So reizend, so jung, und seine Frau! Da scheint das Sterben allzu hart.«
»Sie ist glücklich, denn sie ist bei Gott,« entgegnete Frau Ruß. »Hart ist das Sterben nur für die, welche zurückbleiben.«
Draußen verklang der Trauermarsch und nur das Glöckchen läutete fort und fort mit seinem feinen, hellen Ton, der durch die klare, marienfädendurchzogene Spätsommerluft vibrierte wie ein Gruß aus einer anderen Welt.
Da richtete sich Dolores auf.
»Zwei Plätze waren noch frei in der Falknergruft,« sagte sie, »und ich habe in Schmerzen gebüßt nach der Prophezeiung der Ahnfrau, doch ich habe sie nicht erlöst. Denn der zweite Platz, es ist mein Platz, und ihr sollt mir darüber schreiben lassen den Spruch des Propheten Tobias: Der Mensch blüht auf wie eine Blume und wird gebrochen.«
Drei Jahre sind seitdem vergangen.
Es war wieder Herbst geworden, und die Blätter fingen an sich zu färben in dem herrlichen Parke des Falkenhofes und zauberten im Verein mit dem Sonnenlichte Tinten hervor, auf denen das entzückte Auge trunken weilte.
Die Sonne aber drang mit ihren Strahlen durch das fallende Laub mitunter bis hinab zur Erde und machte das goldene Kreuz auf der Gruftkapelle in siegreichem Feuer aufleuchten.
Die Pforten der Kapelle waren geöffnet, und unten in der Gruft kniete ein großes, schönes junges Paar neben einem Sarge, auf welchen es eben einen Strauß wundervoller weißer Moosrosen niedergelegt hatte. Zu Häupten des Sarges aber war eine Tafel in der Mauer eingelassen, auf welcher die Worte des Propheten Tobias geschrieben standen: »Der Mensch blüht auf wie eine Blume und wird gebrochen.«
Nachdem sie lange in stillem Gebet gekniet, erhob sich die Dame.
»Laß uns zum Sarge der Ahnfrau gehen,« flüsterte sie, »ich habe hier drei Rosen für sie – die weiße ihrer schuldlosen Tage, die rote ihrer Leiden und die goldfarbige ihrer Verklärung –«
Der Herr nickte und sie traten ein in die Bleikammer der Gruft. Dort schob er den nur eben aufgesetzten, schweren Deckel des Prunksarges zurück, und sie beugten sich beide herab, das einst so schöne Antlitz zu sehen, das den unseligen Bruderzwist entfacht und nach mehr denn zwei Jahrhunderten noch völlig kenntlich und wunderbar erhalten war.
Und die Dame nahm die drei Rosen und legte sie leise und vorsichtig, um den Körper nicht zu berühren, der Ahnfrau auf die Brust, und als sie die Hand kaum zurückgezogen, da geschah etwas Seltsames:
Vor den Augen der beiden zerfiel der sterbliche Rest der Freifrau Maria Dolorosa von Falkner zu Staub und binnen wenigen Minuten, während denen sie staunend neben dem entschwindenden Körper standen und schauten, ward der Raum in dem Sarge leerer und leerer, und zuletzt lagen auf dem Boden desselben inmitten einer grau scheinenden Asche nur noch die Schmucksachen, welche man ihr mitgegeben, und – die drei frischen Rosen von liebender Hand.
Das Paar aber stand stumm und reichte sich die Hände über den Sarg hinweg, durchschauert in tiefster Seele von Ehrfurcht vor dem, in dessen Hand wir nur Staub und Asche sind. Und da war es beiden zu gleicher Zeit, als hauchte ein unsichtbarer Mund einen Kuß auf ihre Stirn und ein kühler Hauch berührte sie, wie wenn jemand vorüberschritte an ihnen.
Da sank die Dame erschüttert in die Kniee.
»Sie ist erlöst – jetzt wird sie der Engel Alleluja hören, nach dem sie sich so lange gesehnt!« flüsterte sie.
»Sie ist erlöst,« sagte auch er, aber laut und freudig und überzeugt, und zog die Knieende empor an seine Brust.
Denn das Paar, es ist Alfred und Dolores von Falkner, das letzte Edelfalkenpaar hat sich gefunden, und der Falkenhof hat wieder einen Herrn und eine Herrin.
Dolores hatte lange ringen müssen mit dem Tode und hatte über ihn gesiegt. Mit Frau Ruß war sie dann nach dem Süden gegangen, dessen warme Sonne ihr die entschwundene Lebenskraft zurückgab – nicht auf einmal, aber allmählich Schritt vor Schritt. Und nachdem Lolo Falkner schon mehr als ein und ein halbes Jahr ruhte in der Falkengruft unter dem Spruche des Propheten Tobias, da kam Alfred Falkner auch nach dem Süden, und dort, unter dem blauen Himmel von Capri legten sie die Hände zusammen zum Bunde fürs Leben – die Herzen hatten sich ja längst gefunden.
In Rom, der ewigen Stadt, wurden sie vermählt und blieben an der Stätte ihres ersten, stillen Glückes monatelang, bis die Osterglocken verklungen waren und das Pfingstgeläute sie zurücklockte in die deutsche Heimat, in die grandiose grüne Waldeinsamkeit des Falkenhofes, des vielgeliebten.
Hier aber ward zum Erntefest ein Erbe getauft, ein junger Falke, ein kräftiger Sproß am alten Stamm.
Und heut' war Dolores zum erstenmal hinausgegangen zur Gruft, einen Akt der Pietät zu erfüllen an der Ahnfrau, deren Hand so wunderbar eingegriffen in ihr Geschick, und an der unseligen, so vorzeitig geknickten Menschenblume, die ihres Gatten erste Frau gewesen.
Langsam und schweigend schritten sie durch die schattige Eichenallee zurück zu dem Falkenhofe, noch ganz erfüllt von dem Wunderbaren, das sie unten erlebt in der stillen, kühlen Gruft. Und sie kamen überein, daß sie niemand davon sagen wollten, damit nicht am Ende noch Spott oder eine nüchterne, wissenschaftliche Erklärung den Hauch der Weihe abstreifte, der unten über sie gekommen.
Als sie aber vor der Terrasse anlangten, da hatten sie ein liebliches Bild, das sie ganz ins volle Leben zurückführte und ihnen das Herz in stolzem Glücke klopfen ließ – denn da stand eine lachende Wärterin in der malerischen Tracht ihrer Heimat und hielt auf den Armen ein schneeweißes Bündel von Spitzen, das mit blauen Schleifen umbunden war, und aus dem Bündel guckte ein kleines Köpfchen hervor mit goldblondem Haar und ein paar rosigen Fäustchen – –
Daneben saß Frau Ruß, über einem Kinderjäckchen strickend, aber ihr sonst so kaltes, ausdrucksloses Gesicht strahlte vor innerer Freude wie verklärt und in ihren lichtblauen Augen leuchtete es mild und weich wie nie vorher. Und sie kann wohl ruhig aussehen und zufrieden, denn der Falkenhof ist ihre Heimat und die Liebe ihrer Kinder thaut alles auf, was noch als Eis um ihr Herz gelegen hat – und – Doktor Ruß lebt in Australien, als hochgeachteter Mann und Träger einer Würde, von seiner Revenue, die ihm alljährlich aus dem Falkenhofe zufließt.
Vor dem kleinen Werner Falkner aber steht auch der alte Engels und schmunzelt vergnüglich und hält den Atem an, als könnte der schon dem Edelfalken vor ihm schaden. Und als er die schönen, stolzen Eltern dieses kleinen Wunders erblickte, da schwenkte er den alten Filz und rief ihnen lachend und gerührt zugleich entgegen:
»Hurra, es lebe der Sproß des prophezeiten tausendjährigen Reiches der Falken. Und wenn's auch etwas kürzer wird, was thut's? Denn unsere Augen sehen sie noch blühen, die Falkner vom Falkenhof!«
Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. In dieser Transkription wird gesperrt gesetzte Schrift "kursiv" wiedergegeben, und Textanteile in Antiqua-Schrift sind in "Grotesk-Schrift".
Im Rahmen der Transkription
– wurde der Halbtitel entfernt;
– wurden Reihen von Gedankenstrichen, die im Original bis an das Zeilenende laufen, auf fünf Gedankenstriche begrenzt.
Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,
Seite 10:
"«" eingefügt
(daß dieser Agnat sich verheiratet –«)
Seite 23:
"«" eingefügt
(Nicht wahr, Baronin, ich darf in die Ahnengruft?!«)
Seite 62:
"»" vor "Frau" entfernt
(Frau Ruß ließ den Strickstrumpf sinken)
Seite 86:
"»" vor "Stiebel" entfernt
(Stiebel, du mußt sterben,)
Seite 107:
"informirt" geändert in "informiert"
(Jedenfalls bist du sehr gut informiert)
Seite 128:
"den" geändert in "dem"
(Pein machte ihr dann der Erbprinz [...] dem sie jetzt nicht)
Seite 130:
"»" eingefügt
(»Und seitdem nichts mehr?«)
Seite 179:
"«" hinter "stehenbleibend," entfernt
(fragte er, stehenbleibend, scharf)