Title: Die Siedler von Hohenmoor: Ein Buch des Zornes und der Zuversicht
Author: Max Dreyer
Release date: September 9, 2018 [eBook #57872]
Language: German
Credits: Produced by The Online Distributed Proofreading Team at
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Max Dreyer
Die Siedler von Hohenmoor
Ein Buch
des Zornes und der Zuversicht
von
Max Dreyer
L. Staackmann Verlag, Leipzig
1922
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1922 by L. Staackmann Verlag, Leipzig
Gedruckt bei Dr. Kurt Säuberlich, Leipzig
Er schritt durch die Winternacht über die Heide. Von Kristall war die Mondwelt, die Luft klirrte und klang.
Nach der Hügelkette, die ihm zur Seite blieb, sah er hinauf, „die Goldberge“ hießen die Höhen — Geheimnisse schliefen in ihrem Schoß.
Nun ließ er seinen Weg und stieg auf die Gipfel. Hier stand er und blickte ins Land, auf das Reich seines Schaffens.
Sein Reich — eben hatte er den letzten Kampf bestanden, es sich und den Seinen zu gewinnen. Er kam aus der Kreisstadt. Nach endlosen Verhandlungen war es ihm heute gelungen, deren Väter, die trägen, die übelwollenden, die argwöhnischen Gemüter sich zu beugen. Die verfallene Ziegelei, die niemand kaufen, niemand pachten wollte, war samt dem Gelände jetzt ihm und seiner Siedler-Mannschaft gesichert. Damit erst war das ganze Siedlungswerk auf festen Grund gestellt.
Die Ziegelei mit ihren Tonfeldern, auf der anderen Seite das Moor und sein Torfstich, ein Stück Kiefernwald, bereit, die Balken und Bretter zu liefern, reichlich Kulturboden und weites Heideland zum Urbarmachen — was brauchte man mehr zum Bauen und Hausen!
Die Brust schwoll ihm, tief tranken seine Lungen die mondhelle Luft.
Im Osten strahlte die See, vom Himmel beleuchtet bis an den Saum des Horizonts. Kein Schiff war zu sehen, kein Dampfer, kein Segler — das tote deutsche Meer.
Da zuckte es schmerzhaft durch ihn hin, und er wandte sich wieder landeinwärts. Schritt herab von der Höhe, schritt wieder seinen Weg über die Heide. Er warf den Druck von sich, seine Sehnen federten wie im Marsch. Das Lied der deutschen Jugend, das durch die Seelen zog, kam ihm in den gestrafften Sinn, und er sang sich die Worte:
Wir sind die Jungen, in Not gestählt,
in Schmerzen geworden, in Schmerzen erwählt.
Deutsche Erde, die uns erschuf,
deutsche Erde, uns gilt dein Ruf.
Wir sind geweiht, wir schließen die Reih’n!
Frei sollst du sein!
Wir sind die Jungen! In unserm Sinnen
du bist der Ausgang, du das Beginnen.
Nicht einen Bissen von deutschem Korn,
nicht einen Tropfen aus deutschem Born,
Deutschland, daß wir nicht dächten dein!
Frei sollst du sein!
Wir sind die Jungen! Wir sind die Kraft,
jede Faser gestrafft und gerafft,
wir sind die Jungen, wir sind die Frohen,
siehst du die nächtigen Wolken lohen?
Wir sind des Frührots lachender Schein!
Frei sollst du sein!
Er war am Ziel. Die Baracke, die an den kiefernbestandenen Hang sich lehnte, war sein Quartier.
Der Bretterbau lag dunkel, die Kameraden hatten nicht mehr auf ihn gewartet. Er klopfte im Dreischlag, der Mann, der die Wache hatte, war gleich zur Hand, steckte eine Kerze an und öffnete ihm.
„Guten Abend, Runge, oder Guten Morgen!“ grüßte der Eintretende.
„Guten Abend, Herr Hauptmann.“
„Wir haben jetzt auch die Ziegelei.“
„Das ist famost!“ In dem verschlafenen viereckigen Gesicht des Wachmannes tanzten freudig die kleinen Augen wie feurige Punkte.
Dann berichtete er „nichts zu melden, Herr Hauptmann“, und jeder ging in sein Losament. Der Wachthabende in das kleine Gemach rechts vom Eingang, Hauptmann Horst Oldefeld in sein Zimmer, das gegenüber lag.
Ein kahler, niedriger, einfenstriger Raum, in dem nichts als ein Tisch, zwei Stühle und ein eiserner Ofen stand. Das Bett war ein Bretterverschlag an der Wand, mit Strohsack und wollener Decke. Lag es sich hart und kalt darin, hatte er die Bannworte bereit: Schützengraben und Champagne! Durch Dreck geschleift — in Dreck verkrustet! Und er kuschelte sich ein voll unbändigen Behagens.
Morgens war er der erste auf. Holte sich die große blecherne Waschschüssel voll Schnee, und rieb sich mit der himmlischen Frische ab von Kopf zu Füßen. Dann im Mantel an den Tisch zum Schreibwerk, und er dampfte von Wärme in dem ausgekühlten Raum.
Nicht lange, da trat der Hauptmann Dankwart Hamerslag bei ihm ein. Hart, ernst, wortkarg. Das Lid über dem rechten Auge infolge eines Kopfschusses halb gesenkt, der linke Arm steif, ein Granatsplitter stak noch in der Schulter.
„Morgen, Junge“, grüßte ihn Horst. „Also die Städter hätten wir jetzt auch erschlagen.“
„Hörte schon.“
„Endlich die freie Bahn! Nun geht’s aber auch mit heidi! Heut werden also Bäume gefällt.“
„Ja.“
„Ich will selbst den ganzen Tag dabei sein. Du übernimmst dann das Bureau.“
„Gern. Nur —“
„Was?“
„Ich bin mit meiner technischen Berechnung noch nicht durch —“
„Für die Kraftanlage?“
„Ja.“
„Das geht natürlich vor. Dann muß Gisbert den Schreibkram hier machen. Ich wollte die beiden Jungen sonst mit rausnehmen.“
Die beiden Jungen waren die Oberleutnants Gisbert Hegendorf und Kunz Rutenberg. Sie schliefen und hausten in einem Gelaß.
Gisbert in seinem Verschlag war der erste, der sich rührte. Langsam fanden seine schweren Traumaugen den Weg in den Morgen. Die langen Finger tasteten, der Wirklichkeit ungewiß, wie fragend nach dem Kopf, dann zuversichtlich geworden, fuhren sie glättend über das weiche blonde Haar. Und nun reckten sich die schlanken Glieder ins Wache, ins Leben.
Kunz schlief noch fest. Wie ein kleiner Junge lag er, den harten, kurzgeschorenen Kopf in den runden Arm geborgen. Zu Füßen seines Lagers hatte Muz sich hingerollt, ein junger Schäferhund, nicht ganz rein von Rasse, aber um so reiner von Gesinnung, wie sein Herr kritischer Schärfe der Betrachtung zu wehren liebte.
Gisbert streckte die langen Beine in den kalten Weltenraum und rief: „Kunz!“ Kunz machte den Arm noch runder und schlief weiter.
Gisbert prustete von der Waschschüssel auf: „Kunz!“ Kunz knurrte und schmatzte und schnalzte nach einem Schimpfwort, gurgelte es zurück und schnarchte wieder ein.
Jetzt aber trat Muz in Tätigkeit. Erhob sich, zog sich lang und länger die Hinterfüße aus dem Leib und schleifte sich so zu dem Lager des Unerbittlichen. Wie tröstend legte er die Schnauze auf die Schlafdecke und ließ den Schwanz pendeln gleich einem Perpendikel. Es ist Zeit, es ist Zeit, es ist Zeit — und allmählich immer lebhafter: es ist hohe, hohe Zeit! es ist hohe, hohe Zeit!
Diese leise Weckuhr brachte den Schläfer zuverlässig zur Besinnung. Seine Finger fühlten sich zu dem weichen Ohr der Uhr, streichelten das samtene Fell, sie bekamen ihre Regsamkeit und lösten den ganzen Leib aus seiner Starre. Und jetzt landete Kunz Rutenberg mit schnellem Sprung aus dem Bett auf dem harten Dasein und schimpfte sich hier vollends bodenständig.
„Bande,“ rief er, „Bande!“ Und gähnte und schalt. „Was wollt ihr eigentlich von mir, was hab ich eigentlich bei euch zu suchen — ihr Eisenfresser der Pflicht — ihr Barackenheilige — ihr Kartoffelsuppenspartaner — ihr Strohsackasketen — ihr Flagellanten der Arbeit — was soll ich bei euch — in eurer Arche düsterster Enthaltsamkeit!“
Die gekeuchten Worte gaben den Takt, nach dem er sich wusch und sich frottierte.
„Das Licht ist, was ich liebe — das Licht ist, was ich suche — Geigen sollen schwirren — prickelnde, knisternde Weisen will ich — Farbenfunken sollen sprühen — über duftendes Frauenhaar — das perlende Leben will ich, aus dem Glas, von den Lippen — nicht die dunkle, hundekalte, muffige Öde eures elend ungehobelten Bretterstalls!“
Er schnob gewaltig.
Gisbert lächelte schweigend hinein in seine langen, feinen, edel gebogenen Züge. Dieses Geschmetter in den Morgen brachte ihm an sich keine Überraschung. Damit pflegte Kunz, der hurtige, Tag für Tag sich den Mund auszuspülen. Was dem stilleren Stubengenossen eine leise Freude gab, war die scheinbare Unerschöpflichkeit des Sprachschatzes, der täglich neue Gaben ausschüttete.
Kunz war zuerst mit dem Anzug fertig und drängte nun zum Tageswerk. Er nannte das — um sich vor sich selber treu zu bleiben — den Tag schupsen, daß er eher zu Ende gehe.
Gisberts sorgliche Genauigkeit bekam jetzt von ihm die Peitsche, und bald standen auch die beiden bei Horst im Zimmer. Hier hörten sie gleich von dem Erwerb der Ziegelei, der die Erlösung brachte. Niemand strahlte froher als Kunz. Und wie leuchteten die Augen bei diesem Sybariten des Wortes, als er hörte, daß er mit zu der harten Arbeit des Baumfällens ausersehen sei.
Mit dem Glockenschlag versammelten sich alle in der Halle zum Frühstück, alle Siedler, Führer und Mannschaft gemeinsam — es waren im ganzen ihrer dreiundzwanzig.
Sie saßen ohne irgendwelche Rangordnung durcheinander. Der kameradschaftliche Grundsatz herrschte durchaus vor. Freiwillig hatten die Männer sich zusammengefunden zu schwerem, ernstem, gemeinsamem Werk, von dem sie meinten, es könnte vorbildlich sein. Von dem sie hofften, es könnte Hilfe bringen dem armen, ach so bedürftigen Vaterland — geringe nur durch die Leistung selbst, doch größere durch das Beispiel. Ein Werk, in dem eine Freudigkeit des Glaubens atmete, ein gehobener Wille.
Bauen, bauen wollen wir — aufbauen — was gibt es, das freier wäre, das mehr in die Höhe ginge, das dem Göttlichen näher käme!
Und in lebendiger Gemeinsamkeit schaffen wir — einer so nützlich, so nötig, so unentbehrlich wie der andere — alle uns gleich durch die gleiche Pflicht, den gleichen Stolz, die gleiche Liebe zu dem, was wir schaffen — wie Glieder eines lebenden Wesens, das denkt und sorgt und wirkt!
Heimstätten bauen wir, aus deutscher Erde, auf deutschem Land. So unglückselig arm ist das Vaterland geworden, nur eins ist sein Reichtum, das sind seine Kinder. Die drängen zu ihm hin, die schmiegen sich an seine Brust, sie wollen, sie müssen bei ihm bleiben. Wie sie alle kommen, wie sie sich mehren, es fehlen die Herde sie zu wärmen und zu hüten. Deutsche Herde wollen wir bauen! Helfen wollen wir, daß kein Deutscher heimatlos sei im deutschen Land.
Als wir in Wohlfahrt lebten, in übermütigem, gedankenlosem Glück, haben wir so manche Strecken deutschen Bodens nicht geachtet oder gar verachtet, haben wir über Ödland die Achseln gezuckt.
Nun bietet diese arme Erde sich dar, auch sie möchte nützen und helfen. Und ist sie noch arm, da solche Kraft in ihr lebt? Uns liegt es ob, die Kraft zu lösen und zu mehren, durch unserer Hirne, unserer Hände, unserer Herzen Walten und Wirken. Ist das nicht wie Schöpfung? Ist das nicht Gottesnähe? Ein andächtiges, ein tiefes, ein heiliges Werk.
Etwas von dieser Weihe lag auf jedem der Männer, die solchem tiefinnerlichen Dienst an der deutschen Erde sich ergeben hatten.
Sie waren zum Teil Regimentskameraden vom Kriege her, alle aber hatten sie dann einem Freikorps angehört, das gegen die spartakistischen Umtriebe sich einsetzte.
Gerade dieser Küstenstrich hatte schwere Erschütterungen gesehen. Mehr noch als anderswo hatten sich hier Verbrecherhorden mit den Schwarmgeistern gemischt. Auf den Gütern vornehmlich gab es Raub, Brand und Mord.
Da wurde ein Kommando hierhergelegt, Horst Oldefeld der Führer, Dankwart Hamerslag als Offizier ihm zur Seite, Gisbert und Kunz standen als Gemeine mit im Glied. Es waren dreißig Mann. Ihr Hauptquartier hatten sie in Moorhof, dessen Herr, Baron von Borkhus war es, der ihnen dann das Hauptgelände für die Siedelung zuwies.
Das war ein alter Recke und Haudegen, der geborene Häuptling — hätten die Raubgesellen ihn nicht angeschossen bei ihrem Überfall, er würde ganz allein mit seinen Leuten die Landschaft von dem Gesindel reingefegt haben.
So war das geschehen, das mit dem Überfall, dem schwere Tat entsprang.
Zwei Autos rattern auf den Hof, bespickt mit Matrosen und Abenteurern in Marineuniform. Vorne flattert die rote Fahne. Sie springen aus dem Wagen, an die fünfzehn Mann, schwingen ihre Handgranaten, besetzen die Türen von Haus und Stallungen.
Der Führer ein junger, schlanker Mensch mit geistigem Gesicht, schwarzen, kaltfanatischen Augen und schmalem höhnischen Mund. Er und zwei Begleiter, die Pistole in der Hand, die Granaten im Gürtel, begeben sich ins Herrenhaus.
Die Mädchen halten sich versteckt, der alte Diener erscheint zaghaft im Treppenhaus.
„Wollen den Besitzer sprechen.“
„Wen darf ich melden?“
Die drei lachen. „Der sogenannte Besitzer hat sich bei uns zu melden. Aber plötzlich. Warten tun wir nicht lange.“ Der Führer klopft mit dem Pistolengriff auf den Tisch.
Schon kommt Baron von Borkhus die Treppe herunter, mit schwerem wuchtigen Schritt, der gewaltige Mann. Er geht mühsam, sein rechtes Bein ist von Ischias gekrümmt, die er in den Karpathen sich geholt hat. Er knöpft sich den Uniformrock zu. Mit Bedacht hat er sich den angelegt, als er von seinem Zimmer aus diesen Besuch erblickt.
Seine mächtigen Augen über den Tränensäcken sehen mit einer unheimlich großen Gelassenheit auf die Gäste.
Der Führer geht ihm entgegen, die beiden anderen sind im Anschlag.
„Sie wünschen?“ fragt der Herr.
Der Sprecher redet etwas von einem fantastischen Furagekommando, dann tritt er nahe an den Baron hinan, der unbewaffnet und ungefährlich vor ihm steht.
„Sie erlauben wohl! Wir sind hier doch nicht aufm Maskenball!“ Und die frechen Finger greifen nach den Achselstücken.
„Hund!“ brüllt es ihm entgegen wie ein Orkan, in den glotzenden Augen ist Wut und Blut, die mächtigen Pranken schlagen sich um die Kehle des Angreifers und würgen ihn — würgen ihn —
Die anderen — erst wie betäubt — wollen zuspringen — wollen wieder die Waffen nicht aus den Händen geben — trauen sich nicht zu schießen, weil der Gefährte da in den Händen des Berserkers hin und her baumelt — inzwischen sind durch die Hintertür bewaffnete Gutsleute vom Inspektor hereingeführt — Hände hoch! schreien sie von beiden Seiten — dann wird geschossen — die zwei Matrosen stürzen hinaus — der Baron ist zusammengezuckt — aber seine Hände wie verkrampft in dem einen Willen und gezwungen, sie lassen nicht los und würgen — würgen —
Draußen haben die beiden Wirtschaftseleven mit ein paar mutigen Leuten die eingedrungenen unter Feuer genommen.
Zwei, drei werden getroffen — nun gibt es kein Halten mehr — sie stürzen in die Wagen — kurbeln an — lassen Führer Führer sein — und rasen davon.
Wie der Inspektor zurückkommt ins Gutshaus, kauert der Herr in einem Stuhl des Vestibüls. Um ihn wogt das Grauen.
Auf dem Teppich liegt die Leiche des erwürgten Führers — wie sie hingesunken ist.
„Sie sind fort“, berichtet der Inspektor kurz. Er ist ein langer, sehniger Mann mit harten Zügen und kalten Augen. Die blicken nicht leidig zurück.
Jetzt sieht er Blut über den rechten Stiefel des Herrn sickern. Er steigt über die Leiche, die ihm ein Hindernis ist und weiter nichts.
„Herr Baron, Sie sind verwundet.“
„Bin ich?“ und als sei dieses unwesentlich, rührt er sich nicht, starrt und versinkt in die Worte: „erwürgt hab’ ich ihn.“
Nun ja — ein Toter — es ist Aufruhr, es ist Krieg. Empfindeleien kennt der Inspektor nicht. Er bleibt bei der Sache. Beordert ein Fuhrwerk in die Stadt, den Arzt zu holen — führt den Herrn in das nächste Zimmer — entkleidet ihn — verbindet die Wunde.
„Grad in das infame Bein“, stöhnt jetzt der Baron. „Nun es geht in einem hin.“ Aber er bleibt nicht lange bei sich selber und starrt dann wieder.
Drei Tage später kam Horst mit seinem Trupp.
Der Arzt hatte den Baron ins Bett gesteckt. Die Wunde, an sich nicht schlimm, verlangte Schonung. Horst saß an seinem Lager.
Sie sprachen vom Krieg. Aus der unsäglichen Schmach dieser Zeit flüchteten sie in die blanken Tage der Ehren.
Der Baron hatte als Major an der Somme gefochten, durch alle Grauen war er gewatet, durch die Schlammbäche in ihrer Hochflut von Blut, die mit Tornistern und Kochgeschirr Leichenfetzen und zerrissene Glieder mischte.
Welch ein Gefühl der Weihe hatte sie doch getragen, daß all dies Entsetzen sie nicht mit Wahnsinn schlug!
Und zwischendurch hielt er inne und sprach schwer: „Haben Sie schon mal einen Menschen erwürgt — erwürgt mit eigenen Händen?“
„Nein, Herr Major —“
„Einen Deutschen! Ein Deutscher einen Deutschen! Eine Zeit apokalyptischer Greuel!“
Dann steuerten sie hart und schnell einen anderen Kurs. Zwangen sich zur Nüchternheit. Sprachen von wirtschaftlichen Dingen.
Was wird aus all den entlassenen Offizieren und Unteroffizieren, aus all den Kämpfern, die der Krieg erwerbslos gemacht hat?
Land wird gebraucht. Ein eigenes Stück Erde — ist das nicht der Inbegriff des sozialen Heils, weil hier ein seelisches Gut eingeschlossen ist?
Siedlungsland müssen die großen Güter hergeben. „Ich will der erste sein und ein Beispiel“, sagte Herr von Borkhus.
Er hatte gesehen, welch leuchtende Augen der Gedanke an das eigene Land in Horst Oldefeld entzündete, dem armen, verwehten Offizier, ohne Heimstätte, ohne Familie.
Er hatte ihn liebgewonnen in den wenigen Stunden. „Wenn Sie wollen, sollen Sie sich hier anbauen.“
Und im Laufe der Tage wurde schnell das Nötigste abgemacht. Baron Borkhus gab freudig. Einen kräftigen Zipfel schnitt er ab von seinem Besitztum — Kulturland und Heide zum Urbarmachen, ein Kieferngehölz und ein großes Stück Moor.
„Die Ziegelei von der Stadt müssen wir dazu haben, dann können Sie selber bauen. Herrgott — und wenn der Tangentiener noch die kleine Ecke hergeben wollte, dann hätten Sie ein rundes Reich für sich!“
Horst war in Geschmack gekommen. „Meinen Sie, daß ich einmal mit Herrn von Tangentien rede?“
„Mit Klaus Tangentien?“ Der Baron lächelte. „Soll ich Ihnen sagen, wie der ist? Ich stehe mit ihm auf meinem Acker, nicht weit von unserer Feldscheide. Da muß er Wasser lassen. Was tut er? Läuft er nicht nach seinem Feld hinüber und besorgt es da? Daß seinem Boden nicht das Ammoniak verloren gehe? So ist Klaus Tangentien. Und nun reden Sie mit ihm.“
Horst dankte. Aber Herr von Borkhus ließ es sich angelegen sein, für die wirtschaftliche Sicherstellung das Nötige zu besorgen.
Die Siedler selbst brachten ein Grundkapital zusammen. Am meisten hatte Gisbert in die Suppe zu brocken, den sie den reichen Jüngling nannten, und er gab mit vollen Händen. Auch Dankwart steuerte tüchtig bei. Weniger hatte Kunz zu geben, am wenigsten Horst, der so gut wie mittellos war. Von den anderen Kameraden beteiligte sich dieser oder jener mit kleinen Beträgen.
Aber diese ganze Summe hätte nur für den Anfang gereicht. Borkhus brachte einen größeren Fonds zusammen. Er selbst lieh her, soviel er vermochte. Sobald er wieder auf den Wagen konnte, machte er sich auf die Walze. Bei Parteifreunden und Nachbarn warb er mit einigem Erfolg — Landschaft und Regierung versagten. Immerhin, in ein paar Wochen stand das Unternehmen auf leidlich festen Füßen.
Und er hatte sich selbst einigermaßen wiedergefunden in solchem Liebeswerk. Die Freude, die er machte, leuchtete ihm heraus aus dem Dunst, mit dem diese Tage ihn ersticken wollten.
Was bevorstand, trat ein: das Freikorps wurde aufgelöst. Horst und die drei Offiziere blieben. Dazu neunzehn von den Leuten, die ernsthaftesten und besten, alte Unteroffiziere in der Mehrzahl.
Horst war der geborene Führer. Er trug etwas von dem Glanz des Unzerstörbaren, Unverlierbaren in sich. Er hatte die klare, reine Linie und hielt sie um so fester, als er um sie kämpfen mußte.
Denn er war von Haus aus eigentlich ein Träumer gewesen und hatte viel bunte Märchen gelebt — daher kam sein Lachen und seine Güte. Aber im Grunde seiner Art saß wieder eine starke Sehnsucht nach Verantwortung, eine Inbrunst für das Ziel, eine leidenschaftliche Liebe zur harten Tat. Und daher stammte sein Ernst.
Dann die Offenheit seines Auges, die Unbefangenheit seines Wesens, das von verstecken nichts wußte und auch bei den anderen mit unbekümmertem Griff aus den Höhlen und der Heimlichkeit herausholte, was das grelle Tageslicht mied. Wenigen wie ihm taten sich so die Herzen auf. Darum kannte er auch die Herzen, ihre Kraft, ihre Hoheit wie ihre Tücken und Nücken. Und eben seines Wesens aufspürende Innigkeit feite ihn gegen Groll und Gift. Er hatte nun einmal von den großen Eigenschaften, gegen die es keine Rettung für kleinere Geister gibt — als die Liebe.
Machte das Hartsinnige, die starre Unbedingtheit den Führer aus, wäre Dankwart Hamerslag dafür der geeignetste gewesen. Ihm hatte das Feste, Spröde, Brüchige seiner Art ein grausames Geschick noch härter geschmiedet. Als frischer Ehemann war er ins Feld gezogen. Wie er auf Urlaub nach Hause kam, hatte seine Frau, die er vergötterte, die kindlich junge, schwärmende, haltlose aus der Ehe sich beurlaubt. Davon trug sein Leben die Wunde, die nicht verharschen konnte, und die sein Blut mit Bitternis durchschwärte.
Er war der Techniker des Kreises, nicht genial und von großen Ideen, dazu fehlte es ihm an Herz und an Feueratem, aber von beispiellosem Scharfsinn und reicher Erfindungsgabe.
Und auch in dieser Seele brannte ein Altar. Das war die Liebe zu seinem heimatlichen Westfalen. Stunden des Heimwehs hatte er, daß die Augen ihm übergingen. Dann wetterte er gegen sich selbst. Er, sentimental, er, den sie die Maschine nannten! Doch dies Gefühl ertrank erst wieder in dem großen Schmerz um die große deutsche Heimat.
Das Westfalenland, das Sachsentum, es schlang ein zärtliches Band um die ungleichsten der Brüder, um ihn und Kunz Rutenberg.
Er, der Mathematiker von Geblüt, und Kunz der geschworenste aller Zahlenfeinde, der einmal erklärte: „Es muß ein Leben nach dem Tode geben! Ich muß mir — muß mir den Mann bei Licht besehen können, der die Logarithmentafeln gebaut hat!“
Kunz mit den frischen Backen, mit den „munteren roten Blutkörperchen“, trotz dem Elend, das auch an ihm fraß, nicht weniger als an den Kameraden. Er war ganz gewiß nicht der leichte Obenauf. Genug des schweren niedersächsischen Sinnes war seinem jungen Frohmut beigemischt. Und wenn die anderen sich mehr an ihm freuen und über ihn lachen wollten, als er hergeben konnte, durfte er ernstlich sagen: „Kinder — wenn ich auch der Clown bin in eurem Zirkus, Komiker sind keine lustigen Menschen!“
Das ist ja wahr, der Versunkenheit und dem Kultus mystischer Weltflucht, dem sein Stubengenosse Gisbert oft genug erlag, setzte er leicht eine unbarmherzige Fröhlichkeit entgegen. Nicht mit böser Absicht — dann hätte in Gisbert irgendeine wenn auch noch so unbewußte Komödie am Werke sein müssen. Und dessen Sauberkeit ahnte nun ganz und gar nichts von Pose. Es geschah aus einer unwillkürlichen aber um so lebhafteren Reaktion, die Kunz selber schmerzte. Namentlich dann, wenn sein Übermut eine Ironie hineinpfefferte.
Gisbert, gewiß der zarteste von ihnen allen, hatte im Kriege das Schwerste durchgemacht. Vier Tage und drei Nächte lang war er verschüttet gewesen, alles um ihn war nach und nach verröchelt. Als der einzig Lebende kam er ans Tageslicht. Die Retter betteten einen Verklärten, in Visionen Schauernden. Als sie ihn wegtrugen, hob er den fast schon Seele gewordenen Leib, streckte die fliegenden unkörperlichen Hände inbrünstig zurück — und hauchte: „Nicht fort — ich muß — ich muß — wieder hinein — dort hab ich Gott geschaut — —“
Es stimmte schon, was Horst Oldefeld einmal sagte: „Wir alle haben Wunden, Gisbert aber hat Wundenmale.“
Unter den neunzehn Männern, die mit den vier von ihnen selbst gewählten Führern an dem langen Brettertisch beim Morgenkaffee saßen, fiel einer besonders auf. Nicht weil er der größte und längste war, sondern weil er was großes in den Augen hatte. Es war in ihnen die helle Zuversicht der kindlich reinen Gottesgläubigkeit entzündet.
Er hatte die ganze niederdeutsche treuherzige Unbeholfenheit in den schlaksigen Gliedern, über dem kantigen, noch ganz jungen Gesicht, leuchtete grauweiß sein Haar, das eine Sappenexplosion im Schützengraben entfärbt hatte. Der tüchtigste Arbeiter wie er der bravste Soldat gewesen war. In den Mußestunden hielt er sich viel allein, las, nein, forschte in der Bibel, schrieb nach Hause an seine Mutter, seine Braut. Gustav Elbenfried war Zimmermann seines Zeichens, sie nannten ihn mit neckendem Respekt den heiligen Josef.
Das Wort führte von der einen Ecke aus der ranke, schmeidige Fritz Eggert. Er war gelernter Barbier und hieß darum „Balbutz“. Aber das sagte im Grunde nichts von seinem Wesen und Leben. Kaum einen Beruf gab es, den er nicht geübt hätte. Durch alle Länder Europas war er gewalzt. Hatte auch sattsam geabenteuert, hatte „in den südlichen gelben Halunkenländern“ seinem Anfangsberuf getreu manch einen über den Löffel barbiert und lieber selbst Hälse abgeschnitten, als sich begaunern lassen. Kurz vor Ausbruch des Krieges war ihm Europa zu klein geworden, er wollte „Afrika auch einmal was Gutes gönnen“. So war er nach Algier gekommen. Von da trieb es ihn, als der Kriegsruf ihn traf, zu den Fahnen — unter beispiellosen Listen, Finten, Entbehrungen und Gefahren erreichte er deutschen Boden. Dies schuf ihm unter den Brüdern seinen Wert und sein Gepräge.
„Also Kinder,“ so gab Horst die Tageslosung aus, „heut werden Bäume gefällt. Wenn wir übers Jahr trockene Bretter haben wollen, wird es Zeit. Arbeitsleiter ist Elbenfried.“
So war es ausgemacht und Gesetz, daß bei jedem Werk der fachmännisch Zuständige das Kommando hatte. Für das Gemeinsamkeitsgefühl gab es keinen besseren Boden.
Und nun scharwerkten all die jungen fleißigen Arme in dem Kieferngehölz am Bergeshang. Die Gedanken und Herzen schlugen für die Heimstätte und für die große Heimat.
Schwere Nebel zogen von der See her über die Flur. In Nebel und Not war das Vaterland. Aber hell und stark klangen durch den Dunst und Daak Säge und Axt. Und fast froh flammten die Rufe durch die Schatten und Wolken. Es waren die Stimmen der Arbeit.
Nebel wogten durchs deutsche Land, Nebel und Rauch von Feuersbrünsten und Scheiterhaufen. Ein giftig schwelender Brodem zerfraß die Augen, die Hirne, die Herzen.
Baron Borkhus und Horst fuhren im Jagdwagen nach der Kreisstadt zu einer politischen Versammlung. Der Herr kutschierte, neben ihm saß Horst, hinter ihnen Strempel, der alte Kutscher.
„Was sind wir für ein Volk!“ so wälzte Borkhus an seiner Last. „Daß Unsersgleichen nicht auf Erden ist, wer will es uns jetzt noch bestreiten! Die größten Helden sind wir — ja — aber auch die größten Hunde! Hat je ein Volk erst sich selbst heimtückisch gemeuchelt — dann sich selber begeifert und bespien — mit einer Art Wollust schmutzigster Exhibition sich selbst vor aller Welt an den Schandpranger gestellt! Daß selbst die schwarzen Bestien sich scheckig lachen vor unbändigem Vergnügen!“
„Wir sind krank — wir sind im Fieber —“
„Fieber — seit wann macht Fieber ehrliche Kerle zu Lumpenhunden!“
Er war schon in der gehörigen rhetorischen Stimmung und im Öffentlichkeitsfeuer. Er brauchte auch Publikum und dessen Widerhall. Da Horst nachdenklich schwieg, wandte er sich hinterwärts an sein Faktotum.
„Hab ich recht, Strempel, oder nicht?“
„Komplett, Herr Baron,“ kaute der zurück, mit seinem breiten, malmenden Mund.
Borkhus hatte eine Zärtlichkeit für diesen verschmitzten, verkniffenen alten Knaben, die Horst nicht begriff. Ihm waren in die Falten des knochigen, eckäugigen, vergilbten und gegerbten Bereitergesichts alle Tücken der Welt gesät.
Es ist gut, dachte im übrigen Horst Oldefeld, dem Baron zugewandt, daß du vor der Versammlung von dem gröbsten dich entlädtst! Dein Zorn hat recht, so weit Zorn recht haben kann. Denn Zorn allein kann nicht helfen, und Hilfe ist, was wir wollen.
Horst, der selber oft genug seinen Ingrimm mit beiden Händen bändigen mußte, blieb heute in der Ruhe und strebte in die Tiefe.
Er sprach davon, wie Deutschland von je das Schlachtfeld gewesen sei, das blutige, das zerwühlte, nicht nur für alle Heere der Erde, auch für alle großen Ideen der Welt, die alle, alle sein schmerzensreicher Schoß getragen und geboren hatte. Aufs Tiefste und Schmerzlichste zerpflügt das Land vom Schwert und vom Geist. Alles, alles Menschliche umspannen seine Lebenskräfte, das Niederste bleibt ihnen nicht fremd, bis zu den reinsten Höhen beschwingen sie sich. Das Niederste, ja, warum es leugnen? Warum mußten wir uns immer wieder die Ohren und die Sinne betäuben mit dem lauten Sang von deutscher Treue! Auch deutsche Untreue gibt es mehr als genug! Aber vom Allererbärmlichsten greift die Spanne deutschen Wesens bis zum Erlauchtesten empor. Das ist sein Reichtum, ist seine Größe — das ist sein Schicksal, sein Fluch. Das ist seine Passion und — seine Verklärung!
So sprach Horst zu Borkhus.
„Ganz gewiß haben Sie darin recht,“ antwortete der, „daß wir uns immer viel zu viel vorgesungen haben! Was wir für Kerle seien! Wie geräuschvoll haben wir uns immer unsere Tugenden beteuert! Und mit welch triefender Empfindsamkeit! Kam einem das alles nicht manchmal vor wie eine künstlich auf Flaschen gezogene, künstlich kalt gestellte Sentimentalität, die wir festlich entkorkten, mit der wir feierlich anstießen und feierlich uns besoffen? Als Idealisten taumelten wir uns in die Arme! Wieviel fader Muff war doch in diesem Idealismus!“
Horst sah ihn an, ein scharfes Lächeln im Auge. „Und jetzt — verfallen wir jetzt nicht in den entgegengesetzten Fehler —?“
„Sie meinen?“
„Haben wir uns früher verhimmelt, bereiten wir uns jetzt ein System daraus, uns selbst zu beschimpfen!“
„Soll das auf mich gehen? Aber ich schimpfe ja nur darauf, daß wir uns jetzt so herabziehen, und mit Schmutz beschmieren — ebenso wie ich darauf schimpfe, daß wir selber uns einst so in den siebenten Himmel gehoben haben! Natürlich beides aus derselben dreimal verdammten Empfindelei! So lange wir die mit uns herumschleppen — ehe wir diesen schmierigen Fetzen nicht von uns abreißen, kommen wir nicht wieder fußfrei auf die Beine. Wie haben unsere Feinde es geschafft! Dadurch, daß sie brutal sind — brutal im Denken, im Handeln — brutal ihre Energie, brutal ihre Grausamkeit, ihre Tücke, ihre Feigheit, ihre Verlogenheit! Noch immer hat Gewalt mit Verbrecherhänden die Weltpolitik gemacht — wir aber faseln, auch heute noch, von Weltgewissen. Als ob das Gewissen der Welt nicht der schamlose Nutzen wäre! Und faseln wir nicht, keifen wir, wie Weiber auf der Treppe.“
Tust du letzteres nicht selbst ein wenig, mußte Horst wieder denken. Er blickte auf den gewaltigen Mann, der in drohender Haltung neben ihm saß, den Kopf gehoben, die mächtigen Augen geweitet, keuchend wie zum Kampf. Ehrlich in jeder Faser — und sah doch in seinem ehrlichen Zorn an etwas vorbei, das er selber in sich trug.
Auch einer von denen, die so gern, so gern brutal sein wollten und konnten es nicht. Dies unser Grimmen und Fluchen — ist es nicht ein Sich-Wehren gegen die weiche Stelle in uns, die wir alle haben, die nur nicht das Mächtige werden darf über uns, ohne die wir aber in unserem Wesen verstümmelt wären!
Und Horst will es ihm sagen: wir werden sie nicht los unsere Empfindsamkeit. Sie gehört zu uns. Sie ist ein Teil unserer Kraft. So dürfen wir sie auch nicht bekämpfen, und sie und uns damit schwächen — nur in die rechte Bahn, in den starken Strom unseres Lebens sollen wir ihre Quellen leiten, und sie hilft uns zu unserem großen Werk. Ohne sie können wir nicht siegen, sie wird dabei sein, sie muß dabei sein — und der Triumph der Empfindsamkeit ist auch der Triumph und die Freiheit des deutschen Geistes, des deutschen Volkes! So werden wir siegen!
Er formte noch an den Worten, daß sie eindringlich sprechen sollten, da tauchten schon die Lichter der Stadt vor ihnen auf. Borkhus dachte an die Versammlung und ließ sich den Anfang seiner Rede durch den Kopf gehen.
Dann wandte er sich zu Horst, mit treuherzigem Lachen und das Herrische war im Versinken: „wissen Sie, daß ich einen heillosen Bammel habe?“
„Wovor?“
„Nun vorm öffentlichen Auftreten! Lieber ins Trommelfeuer, in einen Gasangriff als auf die Rednerbühne! Ein Zustand, in dem man sich nach einem Schlaganfall sehnt —“
„Dann —“
„Würden Sie es lassen, wollen Sie sagen!“
„Ich meinte eigentlich, damit bringen Sie doch der Partei ein großes Opfer.“
„Nicht so ganz. Es ist doch hier wie überall ein gehöriger Schuß Eitelkeit dabei. Und der Ärger, daß man diese Angst, diesen kleinen Schweinhund, nicht unterkriegt.“ Die jungen Pferde gingen unruhig in seiner Hand. „Sehen Sie, meinen Tatterzustand merken selbst die Rösser.“
In dem Gasthof, dessen Saal für die Versammlung bestimmt war, spannten sie aus. Der Wirt, gar nicht unterwürfig, ein trockener, grader, ernster Mann mit soldatischem Blick nahm den Baron gleich beiseite.
„Ich habe die Rednerbühne eben noch umstellen lassen.“
„Warum?“
„Sie stand doch an der Wand unter dem Altan.“
„Nun ja — und?“
„Die Galerie hat unser Janhagel besetzt.“
„Ja so. Und nun meinen Sie, aller Segen kommt von oben!“
„Ich trau ihren Taschen nicht und nicht ihren Manieren, solange die Berliner Hetzer hier herumwirken.“
„Die Hetzer. Da haben wir sie wieder.“ Aber in des Barons unwillig müde Züge war jetzt etwas freudig Gespanntes getreten, eine Kampfeslust. Sein Kulissenfieber war gebannt.
Der Saal füllte sich, Bürger, Arbeiter, Frauen. Ein paar Mütter kamen mit Kindern angeschleift. Versteckten sie dann aber, doch bedenklich geworden, zwischen ihren Knien.
Behutsam fanden sich jetzt auch einzelne Honoratioren und Akademiker ein, Herren vom Gericht und vom Gymnasium. Ihre Damen waren wohlweislich zu Hause geblieben.
Gar nicht behutsam aber trat Dr. Georg Stump auf den Plan. Er gab Deutsch, Religion und Turnen am Gymnasium, war mit seinem ungebärdigen Draufgängertum ein Schrecken des Direktors, aber ein Abgott der jüngeren Jungen.
Er musterte die Arena, hob den kurzgeschorenen Bulldoggenkopf mit den großen runden Augen zu der Galerie empor, auf der sich die knallrote Jungmannschaft, von zwei Berliner Spartakisten betreut, mit weltüberlegener Grandezza hinlümmelte. Aha, sagte er sich, da seid ihr also! Eure Anwesenheit, eure Haltung und Führung verspricht Erlebnisse.
Jetzt erschien ein Trupp, der auf der Galerie Bewegung weckte. Siedler waren es, die von Hohenmoor zu Fuß gekommen, zehn Mann, Elbenfried und Eggert unter ihnen. Dankwart, der sich von seinen Tabellen nicht trennen konnte, und Gisbert, der im Dienst war, hatten Kunz bewegen wollen, mitzugehen. Der aber erklärte: „Politische Versammlung — nee Kinder! Lieber ’n Geburtshilfekursus in Ostgalizien!“ Pfiff seinem Muz, nahm die Büchsflinte und suchte zwischen Schnee und Mondschein jagdbares Wild.
Auf der Bühne versammelte sich jetzt das Komitee, Mitglieder der bürgerlichen Parteien, die wohlmeinend und ganz allgemein zu einer „Aussprache der Vaterlandsfreunde“ eingeladen hatten. Auch die Sozialisten hatten zwei Redner gemeldet.
Vorsitzender war Herr Holzhändler Dobbertien, ein ergrauter Demokrat guten alten Schlages, mit gesundem vaterländischen Empfinden. Treuherzig, gemütlich, gütig, gerecht, von erklecklicher Ruhe, der rechte Mann am rechten Platze — durften nur die Wogen nicht allzu hoch gehen.
Er eröffnete die Versammlung.
„Männer und Frauen“, begann er. Da unterbrach ihn quarrendes Kindergeschrei. „Und Kinder müßte ich eigentlich fortfahren. Aber das können Sie wirklich nicht verlangen. Wir sind hier kein Säuglingsheim. Ich muß Sie bitten, die Kleinen zu Bett zu bringen.“
Da klang es von der Galerie: „Die haben keen Kinderfräulein zu Hause“, und der erste Kampfruf, der erste Auftakt für die Feindseligkeiten hatte sich eingestellt.
Die Mütter brachten die Kinder hinaus. Der Vorsitzende sprach unbeirrt weiter. Sprach davon, daß es jetzt heiße, alle Mann an Bord — alle zu gemeinsamem Tun! Denn das Schiff sei leck gesprungen, die Stangen niedergebrochen — es treibe vorm Winde. Es müsse, müsse wieder segelfertig werden, müsse dem Steuer wieder gehorchen, sonst gerieten wir rettungslos auf Grund und müßten untergehen, allesamt. Und nur eine Hilfe gäbe es aus der großen Not, daß wir allesamt Hand anlegten zu gemeinsamem Werk. Allesamt, das wäre die Losung. So hätten sich hier heute aus allen Parteilagern deutsche Männer und Frauen zusammengefunden, die alle Zwistigkeiten vergessen wollten und Fühlung miteinander nehmen für die eine große vaterländische Aufgabe.
Der Ton dieser einfachen Ansprache war echt und warm. In diesem und jenem Frauenauge glänzte es feucht.
Die Worte hatten noch nicht ausgeschwungen, da sprang Dr. Stump in die Höhe.
„Darf ich ums Wort bitten — zur Geschäftsordnung!“
„Bitte!“
„Oder vielmehr zur Hausordnung. Es ist nicht angemessen und nicht gebräuchlich, daß in solchen Versammlungen geraucht wird.“
„Quatsch!“ schmetterte einer von oben.
„Ich ersuche den Herrn Vorsitzenden, im Interesse der Redner das Rauchen zu verbieten.“ Georg Stump war selbst ein leidenschaftlicher Raucher. Er ärgerte sich, daß er sich anständig benahm, während die anderen pafften.
Der Vorsitzende zauderte. Seine Unentschlossenheit entfesselte die Galerie.
„Rauchfreiheit!“ brüllte einer. An alles wird Freiheit als Schwanz gehängt. Und ein anderer schrie gebietend: „Wenns mir roochert, rooche ich!“
„Abstimmen! Abstimmen!“ riefen nachdrücklich ein paar Volldemokraten von der heiligen Majorität.
Die Glocke des Vorsitzenden drang durch. „Ich will kein Verbot aussprechen,“ erklärte er mit richtiger Taktik, „ich bitte die Anwesenden im Interesse der Redner und der Damen —“
Weiter ging es nun wirklich nicht. Warum mußte Vater Dobbertien auch so altfränkisch sein!
„Die Damen schmökern ja selbst!“ mußte er sich von unten belehren lassen, wo mehr als eine ihre Rauchkringel durch die Luft drehte.
Horst schüttelte bedenklich den Kopf. Der Kasten wackelt, ganz lächerlich wackelt er. Wenn es so weiter geht, fällt er zusammen.
Immerhin erreichte die Ermahnung des Präsidenten, daß die meisten ihre Zigarre beiseite legten. Nur die souveräne Lebensart der Bergpartei lachte ob so zager Rücksichtnahme.
„Ich werde als ersten Redner jetzt Herrn Baron von Borkhus das Wort erteilen“, bestimmte der Versammlungsleiter. Das „werde“ war falsch. Es ließ Möglichkeiten offen.
Ein Murren rollte dumpf — dann durchschnitt wieder der unsterbliche Ruf „zur Geschäftsordnung!“ die sich spannende Atmosphäre.
Ein Sozialist erhob sich. Wir sollten doch nicht in den alten Fehler verfallen. Es gäbe keine Privilegierten mehr, und daß jemand, der der alten Oberschicht angehörte, den Vortritt vor den anderen Rednern hätte, entspräche nicht dem Geist der Zeit.
Mehrfache Bravos stimmten ihm zu. Aber gerade aus dem sozialistischen Heerbann erstand ihm ein Widerpart. Die Herren „vom überwundenen Standpunkt“ sollten sich nur zuerst aussprechen! Es wäre schon die richtige Anordnung: erst die alte, veraltete Zeit — dann die neue! Der das letzte Wort gebühre.
Und noch ein Dritter wollte hierzu reden. Horst schlug sich aufs Knie, daß es knallte.
Ein junges Mädchen, das neben ihm saß, machte eine unwillige Bewegung. Er hatte sie bisher gar nicht bemerkt. Jetzt wandte er sich wie zur Entschuldigung an sie: „Sind wir nicht wieder einmal unsäglich deutsch! Vor lauter Geschäftsordnung kommen wir nicht zum Geschäft.“
Ein Paar große Schwärmeraugen glühten ihm ins Gesicht. Ein heißer, höhnischer Mund sprach: „Deutsch ist mir ein zu unwesentlicher Begriff.“ Dann drehte die Sprecherin sich ablehnend zur Seite.
Eine Deutsche war sie — nicht die Spur eines fremden Lautes war in ihrer Mundart. Und nun diese leidenschaftliche Absage! In den Worten schlug Stahl auf Stein — wie sprühten die Funken!
Horst lehnte sich lächelnd zurück — womit hatte er solchen Zorn erregt? Und spürte den flammenden Odem einer fremden Welt.
Er besah sich die feindliche Nachbarin. Was mit den Augen, diesen brausenden Feuern, sich gegen ihn gewandt hatte, war ein ziemlich breites Gesicht gewesen, mit vollen Nüstern und fleischigen Lippen.
Wie zart dagegen, wie fein und edel die Linien des Profils. Ein Genuß, sie mit den Augen nachzuzeichnen. Der schlanken Biegung des Nackens zu folgen, bis zu dem schweren, dunklen Haarknoten.
Der ganz erlesene Geschmack ihrer schlichten schwarzen Kleidung zog die Gedanken noch lebhafter an.
Wer war sie?
Aus seiner Frage warf ihn ein Tumult.
Sie saßen immer noch in der Geschäftsordnungsdebatte. Da war in der anderen Ecke des Saales jemand aufgesprungen. War dann auf den Tisch gestiegen, eine junge, knabenhafte Gestalt, und eine helle, schmetternde Stimme verkündete: „Was treiben wir hier für Albernheiten! Was dreschen wir hier für Stroh!“
„Sie haben nicht das Wort“, rief eindringlich der Vorsitzende.
„Draußen stürmt der Geist der Zeit!“ gellte die Stimme ungestört weiter. „Die neue Revolution! Die volle Arbeit macht! Ohne die falsche verlogene Sentimentalität! Die uns die erste verpfuscht hat! Das Chaos brauchen wir! Für die neue Saat —“
Die Neugierde und Spannung hatte dem eigenwilligen Redner Frist gewährt. Jetzt drang der Unmut der Ordnungsliebenden durch. Die Glocke vom Vorstandstisch übertönte die schreiende Willkür des einen.
Und nun geschah etwas Bezwingendes mit fröhlichem Einklang. Der Riese der Stadt, ein mächtiger Bierfahrer, nahm schmunzelnd den immer noch Redenden wie ein Kind auf den Arm und setzte ihn vom Tisch.
Ein Lachen ging durch den ganzen Saal, das die Galerie auf eine Minute wehrlos machte. Dann setzten die wilden Rufe ein: „Ausreden lassen!“ — „Redefreiheit!“ — „Haut den langen Laban!“ Aber sie verpufften in dem Raum, den der Humor ausgepolstert hatte.
Herr von Borkhus aber durfte der Erwägung sich überlassen, ob es noch ernstlich lohne, hier ernstlich zu reden! Eine Versammlung? Nein, ein zwangloses, durch Ulk gewürztes Beisammensein! Der kleine Schweinhund in ihm gab ihm sehr lebendig recht. Aber schließlich, die Menge wollte ihre Sensation. Die zu Gast geladenen wollten ihr Bratenstück. Schon griffen aller Augen nach ihm, dem unleugbar Kraft- und Saftvollsten unter den Politikern hier, dem Gefeierten und Gescholtenen, dem Verehrten und Gehaßten. Sie alle wollten ihn hören, die Freunde und erst recht die Feinde.
So trat die große schwere Stille ein, als der Vorsitzende verkündete: „Das Wort hat jetzt als erster Redner Herr von Borkhus!“
Der Redner erhob sich langsam und trat ruhig vor mit seinen wuchtenden Schritten. Die Nerven schlugen in dem mächtigen Körper — in gleichem Maß schwangen die Fieber all der Menschen, die da unten sich ihm entgegenspannten. Die Fühlung war hergestellt, der Gleichtakt der Pulse in Liebe und Haß.
Mit Orgelklang umfing die Hörer das schwellende Organ, und etwas wie Feier war in dem, was er sprach.
„Volksgenossen! Dies ist das deutsche Schicksal, dies der Herzschlag der deutschen Geschichte: daß nichts auf der Welt die Kinder der deutschen Erde über alle die Unterschiede, die die einzelnen voneinander trennen oder gar miteinander verfeinden, zu einer festen Gemeinschaft zusammenschließen kann — nichts auf der Welt, als das grimmigste Leid! Immer nur aus der tiefsten Not wird unsere Einheit geboren. Wann aber ist unsere Not je so tief gewesen wie heute? Wann hat sie sich je so tief in unsere Seelen eingefressen — wann war ihr jemals soviel Schmach beigemischt! Und darum müssen gerade unsere Tage, trotz aller Wirren und Zerwürfnisse, uns in eine Zusammengehörigkeit schmieden, wie unsere Geschichte sie noch nicht gesehen hat! Unsere Zusammengehörigkeit — das ist die große lebendige Macht, das ist der mächtige lebendige Wall, den wir der Hörigkeit entgegenzusetzen haben, mit der die Feinde uns bedrohen!“
Mit lautem Bravo grüßten diese Rhetorik Gesinnungsgenossen und Freunde der Wortprägung. Aber solche allzu frühe laute Anerkennung war bedenklich. Schon kam Bewegung in die Reihen der Gegner. Horst sah, wie es im Nacken seiner Nachbarin zuckte, wie feindlich die Nasenflügel witterten. Die Lippen zogen sich kurz zusammen und entblößten die spitzen, grausamen Zähne. Ein böses schönes Raubtier spannte sie sich.
Der Redner spürte die Wellenbewegung wohl — er wollte sie zwingen!
Er sprach mit Hingebung von der Nation — daß das Volkstum erst das Leben des Staates sei. Es sei aber auch das Leben der Menschheit. Eine andere Menschheit als die der Völker gäbe es nicht. „Nur als Deutsche sind wir Menschen und können wir Menschen sein.“
Hier fingen die Internationalen an, sich gemaßregelt zu fühlen, und ein schon lebhaftes Murren rollte dumpf durch den Saal.
Der Redner wußte, daß er ein heikles Gebiet betreten hatte, aber die Gefahr steigerte und stärkte ihn. Mit hoch erhobener Stimme führte er den Hammerschlag: „Und wir — wir Deutsche haben unsere Menschenwürde nur in unserem deutschen Empfinden!“
Das schmetterte nieder auf die empfindlich gewordenen. Ein dumpfes Aufstöhnen von Zorn und Wut — dann brandete lauter Unwille gegen die Rednerbühne. Die Geister erhitzten sich mehr und mehr und hetzten sich leidenschaftlich auf. „Menschenwürde“ — dies Wort wurde zum Verhängnis.
„Du willst von Menschenwürde reden!“ rief es von oben, und dann brüllte einer durch den Saal: „Du Würger!“
Jetzt hatten sie den Kampfruf, den vernichtenden! Und wieder schrie es: „Würger“ — und dann tobten sie da auf der Galerie im Chor und im Takt: „Würger!“ „Würger!“ „Würger!“
Borkhus zuckte zusammen, schmerzlich wild weiteten sich seine mächtigen Augen. Wie Messer stachen die Rufe weiter auf ihn ein, da die Tobenden sahen, daß er litt! Die Grausamkeit berauschte sich. Die Bestie hatte die Pranken gezuckt. Blutdunst legte sich auf die Sinne.
Alle hatte es aufgezogen von ihren Sitzen. Die einen zum Sturm, die anderen zur Wehr.
Eher als Horst war seine Nachbarin aufgesprungen. Ihre Glieder flogen, Stichflammen brachen aus ihren Augen, durch die Lippen ging ein zitterndes Schlürfen. Die ganze Gestalt war verzückte Gier. Ihm erschien sie fast als Dämon dieser Stunde.
Ihre Finger krallten sich um die Stuhllehne — im gleichen Augenblick brach und splitterte Holz auf dem Balkon — Borkhus, der unter der Wucht des furchtbaren Wortes sich gebeugt hatte, war jetzt aufgereckt — die Arme gestreckt, die Brust geweitet, wie zum Kampf trat er an den äußersten Rand der Bühne.
Da in tosendem Wettersturm brach es über ihn her, Trümmer von Stühlen prasselten von der Galerie auf ihn nieder, zerschlugen ihm Kopf und Gesicht — über Augen und Schläfen rann ihm das Blut.
Frauenstimmen kreischten und gellten auf.
Horst war gleich an des Wunden Seite. Auch ihm flogen noch Geschosse auf Schulter und Nacken.
Schon aber war Dr. Stump fast über die Köpfe hinweg zur Tür geflogen — fünf von den Siedlern, der Balbutz und der heilige Josef voran, brachen ihm nach — sie wollten die Burschen da oben einsperren und dingfest machen.
Im Saale brauste das Meer. Die Glocke des Präsidenten, immerfort geschwungen, hauchte sich aus in kläglichem Wimmern. Ein Fels in der Brandung, stand der Riese, der Bierfahrer, die machtvollen Flossen gehoben, drohend und beschwichtigend zugleich. Sie sagten, was Worte in dem Tosen nicht vermochten; hier unten Hände in Ruh!
Die einzelnen Gegner standen wie die jungen Hähne, Auge in Auge, Nase an Nase — sie zischten, schrien, keuchten sich ihre Wut ins Gesicht — aber die Fäuste blieben gebändigt.
Und das rinnende Blut dort oben beschwor. Allmählich ebbte die Zornflut ab —
Da tönten Schüsse auf dem Gang — wieder die gellenden Frauenschreie im Saal — mit Schreck und Grauen zog vollends die Besinnung ein.
Draußen aber zerstob ein erbittertes Handgemenge — die eingeschlossenen hatten den Treppenausgang forciert, brachen mit Übermacht durch, einer schoß auf den feindlichen Stoßtrupp, Dr. Stump kriegte einen Streifschuß am Ohr — was seine Fäuste den Fliehenden mitgaben, wurden die in Monaten nicht wieder los.
Herr von Borkhus wurde von einem Arzt, der zur Stelle war, im Wohnzimmer des Wirtes verbunden. Horst, der Handreichung leistete, blieb an seiner Seite. Im Saal verliefen sich die Wasser. Ein Plätschern war es nur noch — schon konnten sie über das Geschehene sprechen, das hinter ihnen und unter ihnen lag.
Der Wirt besah sich den Schaden, auf der Galerie, auf der Bühne, und drehte das Licht aus. Nur eine müde Flamme über dem Podium blieb brennen.
Und aus dem Dunkel, wie ein Spuk, schlürfte ein altes gebücktes Weib mit Scheuertuch und Eimer. Stieg keuchend auf die Bühne und wusch kopfschüttelnd und brummig das Blut von den Dielen.
Es war nicht weit von Mitternacht, als Herr von Borkhus mit Horst den Wagen wieder bestieg. Strempel mußte fahren.
Der Mond leuchtete die menschenleere Straße ab. In dem Torweg, dem Gasthof gegenüber stand eine Frauengestalt.
Ein junges schlankes Weib — mehr konnte Horst nicht erkennen, zumal der Verwundete ihn in Anspruch nahm. Dann aber, da sie abfuhren, blitzte es ihm durch den Sinn: das ist deine Nachbarin, wer sonst! Was will sie hier! Und wieder: wer ist sie? Wollte sie sehen, wie es mit dem Verletzten stand? Um den sich sonst, im ganzen Orte niemand mehr kümmerte? Sie als die einzige — was trieb sie dazu?
Borkhus hatte sich längst wiedergefunden. Die Schmerzen drückten ihn nicht nieder, sie hoben ihn. Daß er selber litt, daran wuchs seine Kraft, sein Trotz, das bannte den Schatten.
„Ich würde es immer wieder tun,“ sagte er, „der Würger“, frei und stark. „Wer mir an die Offiziers- und Mannesehre geht — wie ich ihn fasse, so muß er dran glauben! Immer tät ich es wieder!“
Jetzt dachte er an die vielen beschimpften, entehrten Kameraden. „Und das tat ich für euch alle!“
Horst sann nach und nickte düster und sprach: „Daß wir zum Symbol werden — jeder nach seines Wesens Bestimmung — das ist unseres Lebens Sinn!“
Borkhus nahm seine Hand. „Das ist das Wort! Zum Symbol werden! Wie ein Ruf erging es an mich! Welt gegen Welt! Und — ich konnte gar nicht anders.“
Es war dann, als käme Müdigkeit über ihn. Wieder aber regte er sich lebhaft, und es klang fröhlich: „War ich nicht heute abend auch ein Sinnbild: zerschlagen von den Stuhlbeinen der Galerie! Gibt es was Erhabeneres? Hüten Sie mich Horst, daß ich nicht größenwahnsinnig werde!“
Doch jetzt brauchte er seine Ruhe und sprach nicht mehr.
Horst aber tauchte zurück in den Abend, mit Trauer, Schmerz, mit Zorn und mit Scham.
Deutschland — machst du es deinen treuen Söhnen nicht allzu schwer? Sind deine Feinde, deine Folterknechte dir nicht blutig, nicht roh, nicht feige, nicht heimtückisch genug — mußt du dir selbst der tückischste, der feigste Feind von allen sein!
Ein deutscher Mann spricht die selbstverständlichen deutschen Worte! Er sagt, daß du, Deutschland, deutsch bist und deutsch sein mußt. Was geschieht? Er wird aus dem Hinterhalt gemeuchelt!
In welchem Lande der Welt wäre so etwas denkbar — dann vor allem denkbar, wenn die Feinde, schlimmer als es im Kriege geschieht, dieses Land zerfleischen und zertreten! In Guatemala nicht, bei keinem Stamme der Maoris!
Soll man sich immer wieder damit trösten, daß du das Land ohne Beispiel bist, ohnegleichen im Großen wie im Armseligen, im Guten wie im Verruchten? Und wie lange soll dieser Trost vorhalten?
Ist es zu verwundern, wenn man schließlich da landet, wo diese rätselhafte Fremde sich angebaut hat? Wie sagte sie doch, höhnend und hart: „Deutsch ist mir ein zu unwesentlicher Begriff!“
International also — pazifistisch — eine Kommunistin offenbar. Freilich, er hatte sich die „Petrolösen“ anders gedacht.
Ob sie in der Stadt ansässig war? In der, wie er wußte, seit geraumer Zeit ein Agitationsherd brannte, mit lichterlohen roten Flammen.
Ihr Gesicht wurde ihm lebendig. In diesem reizvollen Gegensatz zwischen seinem Vorn und der Seite. Diese fast derbe, sinnlich grausame Leidenschaftlichkeit der vollen Züge — so viel feine spröde Geistigkeit im Profil. Und in dem Ausdruck des Ganzen ein Schmerzliches — zu der flammenden Anklage eine stille Klage.
Jetzt war er dicht daran, sich auszulachen. Faselt dir nicht deine Fantasie was vor? Deine Weibentwöhntheit treibt mit dir ihren Schabernack, den sie als „weiberfest“ dich rühmen.
Zum Teufel mit dem ganzen Weiberkram! Daß der sich immer wieder ungerufen melden muß! Und ist doch kein Platz für ihn, jetzt in dem Siedlungswerk.
Er denkt an die Genossen, die heute auch dabei waren — die sich wieder mal einsetzten mit Leib und Leben, wenige gegen viele. Daß man an diesen deutschen Jungen seine Freude hat, ist das nicht der Inbegriff!
Wäre es nur nicht deutsch gegen deutsch gegangen! Gegen undeutsch, ja! Aber gegen dieses Undeutsch, das nun einmal so verteufelt deutsch ist! War so und wird so sein! Ist unser Fluch! Und stammt aus unseres Wesens Tiefe!
Und wieder schlug ihn der große Schmerz. Und der Schmerz schlug ihn hart.
So heißt es aus dem Fluch Segen bereiten! Vielleicht, daß wir sonst einschlafen würden und in Faulheit ersticken! Nun heißt es für uns, nimmer müde sein! Wachen und schaffen! Und schaffen und wachen! So heißt es! Und so soll es sein!
Horst fand die Freunde und die ganze Mannschaft noch auf den Beinen. Fast gleichzeitig mit ihm waren die Fußgänger eingetroffen. Jetzt ging es an ein Erzählen. Horst ließ mit Bedacht den Genossen das Wort.
Der Balbutz übernimmt freudig den Bericht. Schildert mit einer Anschaulichkeit, die keine falschen Farben nötig hat, der Handlung Verlauf. Bemüht sich sachlich zu bleiben, bis der Schluß mit seiner Klopffechterei ihm Gemüt und Stil bewegt und die Schleusen seines Wortschatzes zieht.
Die „feigen Halunken“ und „elenden Hundeseelen“ — diese Ausrufe seines Zornes wecken Widerspruch. Mulitz, der Maurer, schüttelt den breiten Kopf, in den eckigen Augen zuckt etwas auf. „Das mußt nicht sagen, Balbutz! Ein paar hatten einen Mordsschneid! Und — Gesinnung ist schließlich Gesinnung.“
„Gesinnung — Stuhlbeine — viele gegen einen — der ahnungslos und wehrlos ist — das ist Gesinnung? Schweinkram ist es!“
Fünf stimmen ihm lebhaft zu. Andere nicken gelassener. Einer ruft: „der heilige Josef soll reden!“ Bei dem geht es ins Höhere und Tiefere, aber sowas wollen sie jetzt.
Gustav Elbenfried errötet wie ein Mädchen. „Ich soll —“
„Ja, du sollst“, rufen jetzt viele.
Der also Bestellte rudert mächtig mit den Armen durch die Luft, wie ein großer Vogel, dem der Aufflug nicht gelingt. Dann erst kommt er in Schwung, und seine Kinderaugen leuchten innig auf.
„Ihr hört von mir immer das alte Lied. Was ist Schuld an dieser Tücke, an diesem bösartigen Haß? Das, was die ganze Welt krank macht und verdirbt. Das Geld ist es, der Reichtum. Vom Geld kommt deshalb alles Üble, weil es das Lieblose ist. Darum macht es die Menschen böse. Christus wußte schon, was er vom Reichtum sprach. Was hat die Kirche, die selber Schätze sammelt — was hat sie von je gerade hieran herumgedeutet! Aber dies Wort müssen sie doch lassen stahn!“
Gisbert ist zu dem heiligen Josef getreten. Er sieht in der einen Ecke, wo der Schreiber Metzling sitzt, so etwas wie mißtrauische Blicke. Unterschicht — Oberschicht. Als ob die Offiziere schwiegen, um die Leute auszuhorchen. Nun nimmt er selbst das Wort. Er spricht schlecht, aber in dem, was er sagt, ist seine Seele.
Daß Elbenfried recht habe! In Reichtum und Macht kann niemals der Mensch sich ausleben, sich ausstrahlen, sich verwirklichen! In seinem Besitz, in seinen Genüssen, ist er auf sich selbst beschränkt, sein eigener Gefangener. Und so verdorrt er. Darum — er muß, muß heraus aus seinem Selbst. Nur so wird er frei, nur so wird er gut — denn frei und gut ist dasselbe. Und so befreit, in selbstloser Hingabe und Güte, gehören wir nicht uns, gehören wir allen. So erst sind die Kerkermauern unserer Endlichkeit durchbrochen. So erst haben wir teil an dem All, so erst sind wir vereinigt mit dem Wirken des Ewigen.
Dankwart rückt auf dem Stuhl, als brenne Feuer darunter, in seinem schweren Augenlid wettert es mit Macht.
Kunz aber springt in die Höhe. Seine Glieder fliegen. Etwas Ungebändigtes zittert in seinen heißen Augen. „Alle und das All — wollen wir herumhampeln im luftleeren Raum! Wollen wir im Äther vereisen! Deutschland ist das All! Wißt ihr, daß wir die Feinde im Lande haben — den Franzmann im Lande haben! Daß er uns das Mark aus den Knochen zieht! Und daß wir wehrlos sind! Entwaffnet! Entwaffnete deutsche Männer! Könnt ihr das aus- und zu Ende fühlen! Wollt ihr darüber eure südasiatische Weisheit kleistern! Das eine will ich jetzt wissen, ist ein einziger unter uns, der heut und morgen, so lange er lebt und leibt, nicht mit Jubel und Hurra und Hosianna dem Landesfeind an den Kragen geht, sobald der Tag der Erlösung naht! Und sich darauf freut! Das sollt ihr mir jetzt sagen — Du, Gisbert — und Gust Elbenfried, Du — und Du, Maurer Mulitz. Seid ihr bereit und freut ihr euch darauf?“
Die Antworten waren ehrlich und schnell. „Das ist ja ganz was anderes!“ — „Selbstverständlich ist das!“ — „Und natürlich freut sich jeder darauf!“
„Gut,“ sagte Kunz und wischte sich die zornig feuchten Augen, und es löste sich aus ihm wie ein Schluchzen. „Nach eurer Religionsphilosophie brauchte ich das. Ich mußte das hören! Ich wäre sonst nicht einen Tag länger in der Gemeinschaft geblieben.“
Mit dem Morgengrauen waren sie wieder alle Mann beim Bäumefällen. Auch Gisbert tat heute hier Arbeit, und er tat fast des Guten zu viel. Was seine feinen Glieder hergeben wollten, holte er heraus. So leidenschaftlich war er am Werk, mehr als einmal mußte Elbenfried, der Arbeitsführer, ihm Ruhepause auferlegen. Sie wußten alle — und alle waren ihm herzlich zugetan — wie sehr er noch immer seine Kräfte zu schonen hatte.
Kunz war schlecht gelaunt. Er war heute beim Mundausspülen zu kurz gekommen. Denn mühsamer als je war das Weckeramt von Gisbert und Muz verlaufen. Unruhige Träume hatten ihn allzu schwer heimgesucht.
„Dir verdanke ich das,“ so klagte er Gisbert an, „Dir und Deinem Hindutum. Die ganze Nacht habe ich es mit der Seelenwanderung gehabt. Und Muz, der auf nächtiger Insektenjagd mit den Schenkeln die Diele klopfte, gab den Takt dazu. Wisse es: meine Seele fuhr in einen Floh.“
„Oh!“ echote Gisbert munter.
„Auf Muzens Fell trieb ich mich um, und in was für einer Gesellschaft — was für schwarze Seelen waren da beisammen! Weibliche zumeist. Da war die Frau Potiphar und Herodias und Messalina und die Maintenon und Ninon de Lenclos, Lola Montez und die Pepita. Die faßten sich an und tanzten um mich herum im Ringelreihn. Und die dicke Messalina zog mich beiseite. ‚Was bist Du für ein nüdlicher kleiner Flohhengst‘, sagte sie, ‚aber so schüchtern! So schüchtern!‘ Und weiß Gott, ich wurde verlegen. Floh sein ist schon nicht so leicht. Aber ich sag euch, ein Floh in Verlegenheit —! —“
Die zuhörten, mußten lachen. Auch Muz freute sich. Und tat, was er dann immer tat. Er drehte sich um sich selbst im Wirbel und spielte Greif mit seinem Schwanz.
Gisbert aber hatte genug. Er spähte, wo er sonst Hand anlegen konnte, und brachte sich auf Hörweite in Sicherheit.
„Du — Gisbert — das Wahre kommt ja erst!“ rief Kunz ihm nach. Aber Gisbert schlug schon mit der Axt, und die Späne sprangen.
Kunz sägte mit dem Balbutz. Da waren die richtigen Kumpane beisammen, doch die Arbeit flog.
„So sind sie nun, die Bramaputraleute.“ Kunz schnob vor sich hin. „Jedes Lebewesen ist heilig! hat er mir eingeprägt. Und wiederum hat er mir eingeprägt: in jedem unserer Träume ist eine Wahrheit. Nun also! Und jetzt nimmt er Reißaus vor seiner eigenen Glaubenslehre.“
Gisbert ließ im Arbeitseifer nicht nach. Eben weil sie ihn für einen Träumer hielten — wie gern nannte Kunz ihn die Lotosblume — eben deshalb wollte er hier seinen Mann stehen.
Horst nahm sich den heiligen Josef vor. „Wir müssen uns nach dem Befinden unseres Patrons erkundigen. Wollen wir nicht unseren Gisbert dazu bestimmen! Er ist ja wie im Fieber und schuftet sich hier glatt zuschanden.“
Gisbert zuckte mit den Brauen bei dem Auftrag — er fühlte eine Bevorzugung und Entlastung. Aber die Disziplin saß ihm im Blut. Das Wort des Werkführers galt. Nun war er auf dem Weg nach dem Gutshaus. Bald, nach einer kleinen Stunde schon, kam er zurück. Wie schreitet er bloß, dachte Kunz. Als ob er auf Wolken wandele. Und weiter forschte Kunz, der ihn so gut kannte: Was hat er in den Augen? Ist das nicht wie ein großer seliger Schreck?
Und dann bestellte Gisbert, dem Herrn von Borkhus ginge es gut, seine Tochter, Frau von Mönkhov wäre gekommen. Beide bäten Horst, Dankwart, Kunz und ihn selber, abends eine Tasse Tee im Gutshaus zu trinken.
Die Tochter des Herrn von Borkhus — nun wußte Kunz, wovon sein Gisbert so selig, bis in die Seele erschrocken war. —
Sie machten sich fein zu dem Abend, Horst, Gisbert und Kunz. Dankwart konnte von seinen Modellen und Tabellen nicht fort.
Borkhus war auf den Beinen und empfing sie. Seine schweren Augen leuchteten gesund unter dem weißen Turban des Verbandes.
„Der Aderlaß hat mir gut getan“, sagte er. „Meine Ischias hat sich verblutet. Ich kann laufen wie ein besserer Faßbinder.“
Und dann hatte er seine Tilde bei sich, seine Tochter.
Sie hatte etwas still Verhaltenes, fast mädchenhaft Scheues, diese schlanke, zarte, großäugige Frau, als sie den Herren gegenübertrat. Mit kindlich verlegener Bewegung strich sie die Strähne zurück, die aus ihrem reichen hellbraunen Haar sich löste.
„Was sagt die Welt,“ so erklärte der alte Herr die Sachlage, „die wildesten Gerüchte über mich verheeren das Land! Setzt sich dieses Mädchen nicht — und sie soll Haus und Hof hüten, denn ihr Mann ist nicht daheim — setzt sie sich nicht vor Morgengrauen in den Schlitten und läßt die Traber glattweg die fünfzig Kilometer fressen!“
„Es ist eine glänzende Bahn“, entschuldigte sich Frau Tilde. „Und auch, wenn wir die nicht hätten —“ sie faßte still ihres Vaters Hand.
Die drei jungen Männer musterten sich. Wie verändert sie waren! Welch ein Glanz auf ihnen lag, welche Farben sie trugen — von dem Wesen der Frau. Sie, die das harte, graue, lichtlose, lustlose Barackenleben einschloß. Nun rieselte es über sie von der hellen Wonne.
Und listig lauerte auch wohl jeder, wie die anderen ihre eigenen Farben spielen ließen, zum Werben. Nur daß Gisbert sich schnell und ganz begrub in die Märchenferne dieser Frauenaugen.
Worüber sprachen sie bei Tisch? Über Deutschlands Wunden, in der Andacht ihres Schmerzes. Von ihrer Unfreiheit, ihrer Knechtschaft, ihrer Schmach. Frau von Mönkhov sagte: „Nun haben wir es nicht mehr, das stolze Wort: mein Haus ist meine Burg. Jetzt müssen wir uns schon an Meister Ekkart halten, der uns lehrt, daß unsere Seele unser Bürglein sei.“
Wie schwang und klang es in Gisbert auf. Welch ein Lichtband schlang sich um ihn und diese innige Frau.
Horst aber gab seine harte Zweckmäßigkeit darein: „Nur sollen in diesem Bürglein nicht zu viel der frommen Träume umgehen.“
„Ihnen ist es ums Schaffen. Mir auch. Aber das bleibt nun die Wahrheit: produktiv sind wir nur solange als wir religiös sind.“
Kunz aber kaute schon wieder an seinem Zorn. Daß wir uns vor lauter Geistigkeit nicht zu lassen wissen, das ist unser Verderb!
Und der alte Herr, in einer Art mitleidiger Angst, meinte: „Gut, daß Achim, Dein Mann, Dich nicht hört!“ — Für den war Religion das rote Tuch. „Religion, so nennen die Menschen ihre Alterserscheinung —!“
Mit Achim von Mönkhov kamen sie zu den Tagesereignissen. Er hatte seinen Koch auf den Schub gebracht, und der spielte jetzt in der Kreisstadt unter den Radikalsten eine Hauptrolle.
Der Vater wollte Einzelheiten hören. Hier griff die Politik in die Familie. Zögernd und ungern erzählte Frau Tilde. Der Mann sei von Tag zu Tag aufsässiger geworden, bedrohlich zuletzt. Da habe ihn Achim kurzerhand hinten am Rockkragen genommen, ihn vor sich her immer mit steifem Arm, zum Hause hinaus über den Hof bis zum Tor geschoben. Und ihm unterwegs in seiner eiskalten Ruhe gesagt: „Zum Lohn für Ihre unvergessenen Wildpasteten besorge ich dieses eigenhändig.“
Die Zuhörer wollten dies als ein sehr sauberes Stücklein gelten lassen. Tilde aber schüttelte ablehnend den Kopf. „Nichts auf der Welt macht so böses Blut wie diese üblen Handgreiflichkeiten. Und wollen wir uns untereinander denn immer mehr erbittern!“
Ihre Augen möchten der Märtyrerkrone ihres Vaters liebes erweisen. Aber dann erschrak sie vor dem Schatten in seinem Blick. Und der Gedanke an seine eigene schwere Tat trübte ihr den Sinn. War es nicht die wildeste aller Handgreiflichkeiten, was auf ihm selber lastete?
Aber schon war Kunz zur Stelle. „Gnädige Frau, es gibt einen alten niedersächsischen Spruch:
„Wur all dat anner beden nich düest,
dor beden am besten de beiden Füest.“
Diese betenden beiden Fäuste — sie gehören nun einmal zum Inventar der deutschen Welt. Und für mich gibt es keine Religion ohne die. Mir soll nun einmal keiner den Christus nehmen, der das Schwert gebracht hat und dem seine Mannen Heeresfolge leisteten! So wenig wie den Gott, der Eisen wachsen ließ.“
Sie sah den Sprechenden an mit ihren weiten Augen, nicht verweisend, nicht zustimmend, gütig und doch fern. „Vielleicht bin ich zu müde geworden für das alles.“ Sie mußte wohl diesem lohenden Kreise die Blässe erklären, die sie selber fühlte. „Vielleicht habe ich mich erst zu erholen von den vier langen Jahren der Angst. Um die vier, die ich im Felde hatte. Von denen zwei nicht wiedergekommen sind.“
Die zwei waren ihre Brüder. Der Vater legte die Hand auf ihren Arm. Sie strich sich das Haar aus der Stirn. Ihre Augen blieben tapfer.
Dann suchten und fanden sie alle festen und gesunden Boden in dem Nächstliegenden, dem Siedlungswerk.
Frau von Mönkhov begann sich fast freudig zu beleben. Jeder Winkel des Geländes war ihr vertraut. Sie machte Horst noch besonders auf eine Mergelgrube aufmerksam, die längst nicht richtig ausgenutzt sei. Wobei ihr Vater das komisch lange Gesicht eines Getadelten aufsetzte.
Diese großen Augen der stillen Frau, sie waren jetzt heimgekehrt aus ihren Fernen, sie hatten einen nahen vertrauten Glanz gewonnen.
Gisbert saß wie ein Betender.
Und jetzt fragte sie fraulich, mütterlich nach dem Wohngelaß der Siedler.
„Wir haben es sehr gut“, sagte Horst.
„Wunderbar haben wir’s!“ erklärte Gisbert. Ihm hatte schon ihre bloße Frage aus dem Holzstall ein Feenschloß bereitet.
Nur Kunz machte ein beschauliches Gesicht. „Ich weiß nicht,“ bemerkte er, „ob es fantastisch ist, bei einer Bettstatt an gehobelte Bretter zu denken. Ein so rühriger Schläfer, wie ich es nun einmal bin, darf getrost sein Fell nächstens einem Holzhändler zur Ausbeute überlassen.“
Frau Tilde, lächelnd, erkundigte sich jetzt nach der Beköstigung, nach der Küche.
„Unser Essen ist gut“, bestimmte Horst.
„Herrlich!“ sang Gisbert aus seiner Höhe.
Kunz aber starrte wie entseelt vor sich hin.
Borkhus, dem er Spaß machte, weckte ihn und forderte genußsüchtig: „Sie müssen auch Ihr Sprüchlein sagen.“
„Soll ich? O Du mein! Unser Koch ist Installateur von Beruf. Die Wasserleitung ist sein Leben. Teekesselfett ist sein Element. An seiner unsterblichen Kartoffelsuppe hat er unverzagt solange gearbeitet, daß er jetzt imstande ist, sie sogar ohne Kartoffeln herzustellen.“
„Danach sehen Sie eigentlich nicht aus“, meinte Frau Tilde.
„Oh, wenn ich mir nicht dann und wann ein paar Gabelbissen zusammenwilderte —“
„Lassen Sie sich nicht dabei kriegen!“ drohte Borkhus. „Und wer bereitet Ihnen wo diese Leckereien zu?“
„Das sag ich nicht.“ Ein Schlingel verkroch sich in seinen Augenwinkeln.
„Aber erschrecklich unsozial ist das doch!“ gab Frau Tilde darein, mit scherzendem Ernst.
Kunz schmunzelte: „Eine Krickente — dreiundzwanzig Kostgänger — und die soziale Frage! Da ess’ ich den Vogel todesmutig allein. Aber ich werd mir jetzt alle Mühe geben, genossenschaftlicher zu schießen, und mir einen Hirsch langen.“
„Das wird Ihnen leid,“ knurrte Borkhus, dem es jetzt doch über die Leber lief.
Seine Tochter aber wollte noch mehr von dem Barackenleben wissen, zumal von seinem geistigen Bau. Und Horst berichtete kurz von ihrem kleinen Staat. Ein Wahlkönig steht an der Spitze. Von den Mannen erkoren — und absetzbar, sobald er versagt. Bei den einzelnen Arbeiten sachverständige Leiter. Im übrigen keine Rangunterschiede. Jeder hat den Wert seiner Kraft.
„Womit die Rangunterschiede gegeben sind!“ knurrte der politische alte Herr.
Dazu Horst: „Wer kann die Unterschiede aus der Welt schaffen? Die Unterschiede sind die Welt. Dafür wandeln sich ihre Grenzen und Übergänge. Gerade in ihrer Beweglichkeit sind sie das Lebendige und das Ewige. Und darum auch der Inbegriff aller Freiheit. Deren Tod ganz einfach die Gleichheit wäre.“
In Gisbert drängten seine Empfindungen zum Worte. Er wußte, wie schwer er die Rede meisterte. Die natürliche Scheu des Mannes, vor einer Frau — und nun gar vor dieser Frau! — seine Mängel zu zeigen, lag schwer genug auf ihm. Aber, was er fühlte, wollte ans Licht.
„Unterschiede — warum sprechen wir so gerne von den Unterschieden? Warum nicht lieber von dem Gemeinsamen! Von der großen Sehnsucht, die in allen lebt. Und in der sich alle zusammenfinden. Wie alle Wasser zum Strome, wie alle Ströme zum Meere fließen. Derselbe Zug in uns allen. Suchende, Wandernde wir alle, die der Schmerz unserer Endlichkeit treibt. Warum uns stören, uns hindern und bekämpfen mit den armseligen Gegensätzen, statt die große Gemeinschaft uns tragen zu lassen! Zu unserer aller Ziel — dem Gemeinsamen! Hinein in das Bewußtsein und den Besitz der Unendlichkeit!“
Er rang an den Worten, mit den Worten, in denen mehr war als das karge ihrer Allgemeinheit. Der Reichtum war in ihrem Klang, und dieser Klang war Seele von seiner Seele und war wie der Glanz seiner inbrünstigen Augen. Heilig war ihm, was er bekannte — aber dann erschrak er, daß er bekannte. Und die kleinen Fragen kamen: wollten sie das hören — und gehörte das hierher?
Und verlegen fühlte er sich zu Kunz zurück, dem Freunde, dem so anders beflügelten, aber dem Freunde doch. Der ihn liebevoll aufnahm mit offenen Augen, wenn auch der lächelnde Unmut nicht schwieg. Die Lotosblume! Kann das Leuchten nicht lassen!
Frau Tilde horchte in sich hinein. Da in der Tiefe läuteten dieselben Glocken. Sie hatte es bisher vermieden, in der Scheu vor dem Gleichgearteten, dessen sie auf den ersten Blick sich bewußt war, Gisbert die Arme aufzutun. Jetzt aber, wo der Gleichgestimmte Zeugnis ablegte, umfaßte sie ihn mit einer Art wehen Zärtlichkeit und blieb an seiner Seite.
„Ich fühle wie Sie“, sagte sie einfach und fest. „Und was die Zeit auch von uns fordert, es ist etwas da, was über der Zeit ist. Dahin schauen wir, dahin ziehen wir —“
Horst sprach: „Wir wollen uns die Sterne nicht nehmen lassen. Auch sie gehören zu der Erde. Aber der Festtag sind sie. Und heute, wenn wir unser Leben leben wollen — auch den Festtag müssen wir zum Alltag machen! Es gibt keine Feste!“ Hart, eng, unerbittlich und rauh wurde Ton und Gedanke. Er stockte und schwieg.
Kunz aber packte unter dem Tisch seine Hand. „Es gibt keine Sterne! Solange es kein Deutschland gibt, gibt es keine Sterne!“
Und das Zeugnis dieser Schwurgenossen, lauter, näher, trotziger als jene Seelenrufe und voll Bitternis, es blieb Herr über die Geister. Sie alle bannte es, denn in ihnen allen war das zitternde Schwingen der einen Not.
Herr von Borkhus brauchte Ruhe. Die Gäste brachen auf.
„Müßte ich nicht morgen wieder nach Hause,“ so wandte sich Frau Tilde an Horst, „würde ich mir Ihren Bau einmal ansehen. Und Ihre Kartoffelsuppe probieren. Und Ihnen“ — jetzt kam Kunz an die Reihe — „würde ich aus unserem Handwerkskasten einen Hobel mitbringen.“
„Für mein Fell oder für meine Seele?“ gab der zurück und verbeugte sich lächelnd.
Gisbert bekam keine Munterkeit zu hören, ihm gab sie nur still die Hand.
Und nun schritten die drei Männer durch die Winternacht heimwärts.
Heimwärts? Das Wesen der Frau geleitete sie wie ein Glanz. Ihre Zartheit, das Gepflegte des Körpers wie des Geistes, die Kultur Leibes und der Seele — von ihrer Stimme der Klang, dies Aufleuchten ihrer großen Augen aus wehmütiger Tiefe zu strahlender Sicherheit, der Pulsschlag ihres lebendigen Wortes, der gütige gebende Druck ihrer feinen sorgenden Hand — alles das war mit ihnen. Das Frauliche war um sie. Von der Mutter her, von der Geliebten her, das Gehegtsein, das Umfangenwerden, das geborgene Hausen — diese Klänge begleiteten den Takt ihrer Schritte.
Was winkte ihnen? Der kalte, düstre, niedere Stall. Wo jeder eingepfercht war in der lieblosen Verlassenheit seiner Schlafbucht.
Die Weichheit war bei ihnen allen, das Heimweh.
Horst machte sich traumfest. Er zog, wie immer dann, den Buckel krumm gleich einem Tier zum Sprunge und warf sich nun schonungslos in die Wirklichkeit der Pflichten.
Kunz aber beschwor mit Bedacht einen weniger holden Geist gegen die Lichtgestalt, die mit ihnen schwebte: „Wer mag dieser Achim sein, dieser Ehegatte? Was weiß man sonst von ihm, als daß Religion ihm Gehirnverkalkung ist? Und er einen Koch im steifen Arm verhungern läßt?“
Gisbert machte keinen Buckel und beschwor keine Geister — er zog seine Lichtbahn.
Wie die Baracke vor ihnen aufdrohte und die beiden — hinein ins Verderben! — ihre Schritte beschleunigten, blieb er zurück und im Takt seiner Musik. Als Kunz sich nach ihm umdrehte, erklärte er: „Ich gehe noch einmal an die See.“
Sie ließen ihn und sprachen von der Arbeit, von morgen.
„Wir müssen Pferde kaufen, Kunz. Die Preise steigen ins Schwindelhafte.“
Kunz, der von der Kavallerie her kam, war ein gewiegter Roßtäuscher und jedem Pferdeschmeißer und Viehhändler gewachsen.
Gisbert ging an die See. Der abnehmende Mond, schwer in dunklem Gold, stieg aus der Flut. Langsam, wie lastend, rollte der rote Schein über die gebändigten Wellen. Wie in Trunkenheit wiegte sich die leise Brandung, erschrak, wenn sie rauschte, und gewann das Schweigen.
Die helle Nacht trank alles in sich auf, was noch sprach und flüsterte. Alle Stimmen, alle Schwingungen der Welt mündeten in die große Sternenstille.
Und Gisbert, was er mit sich trug, was ihn erfüllte und quälte und bewegte, was in ihm klagte und jubelte — es löste sich ihm alles in die lichte Unendlichkeit dieser hohen Ruhe.
Was die letzten Stunden ihm geschenkt hatten, das Wissen von dieser Frau, ihre Nähe, die Gemeinschaft mit ihr — „ich fühle wie Sie,“ so hatte sie gesprochen — das alles blieb nicht in der Verzückung und in der Begehrlichkeit des Rausches. Es stieg auf aus der Tiefe, befreite sich von der Blutwärme, von dem Zittern der Sinne, verklärte sich in diesem reinen kalten Licht über dem Leben und ging ein in das All.
Und unter Schauern wird es ihm gewiß, ich habe den Weg, die Bahn steht mir offen — ich kenn’ es und kann es, das „Stirb und Werde“!
So stand er, verzaubert.
Dann aber, als wäre es ihm um diese Sicherheit gewesen, zerbrach er die Starrheit, reckte die Arme, und da er zurückschritt über die Heide, sang seine Jugend ihr Lied.
Sang das Lied dieser Frau.
Hier meine Hand — ihre Finger haben sie umschlossen. Meine Hand — sieh, Mond, du lieber, dummer, du gescheidter, meine Hand ist dies! Meine glückselige Hand ist dies! Siehst du, wie sie leuchtet! Und so leuchte ich selbst! Ganz und gar leuchte ich so.
Auf Flügelschuhen schritt er, den Kopf gehoben, die Brust geschwellt. Jauchzend die Seele.
„Ich fühle wie Sie! Ich fühle wie Sie!“
Und dann stürmte er jungenhaft über die Halde — sprang über einen erratischen Block — fiel in den Schnee — wälzte sich wie ein Füllen, alle Viere gestreckt, und lachte wie ein Narr, wie ein Kind.
Lebhaft trat er in sein Gelaß. Kunz war im Einschlafen. Ward ungehalten und lallte ihn an: „Was fällt Dir ein — Du trampelnder Mondstrahl — Du brüllende Ätherwelle — Du — Du tobsüchtig gewordener Blütenhauch — —“
Von dem Blütenhauch durfte er sich betäuben lassen zu ruhigem Schlaf. Der konnte etwas ergiebiger sein, denn morgen war Sonntag.
Der Vormittag gehörte jedem für seine Briefe und eigenen Geschäfte. Nach Tisch gingen Horst und Kunz auf den Pferdekauf.
Es war ein erfolgloser Weg. Zuerst war ein Bauernhof an der Reihe. Von den Pferden kam hier eins in Frage. Das andere, ein Blender, hatte schlechte Beine. Der Bauer wollte nur beide zusammen verkaufen. So konnte aus dem Geschäft nichts werden.
Auf dem Rittergute Buchhof, wohin sie dann gepilgert waren, gedachte ihnen der Administrator — der Herr war nicht zu Hause — ein Paar tiefsinnige uralte Kracken zu versetzen. Horst dankte kühl. Kunz aber konnte sich den Zusatz nicht versagen: „Wir wollen nämlich Pferde kaufen und keine Philosophen. Wir wollen mit den Tieren pflügen und Mist fahren und uns nicht Memoiren von ihnen erzählen lassen.“
Blieb noch Claus von Tangentien, der aber nur der Form wegen auf der Liste stand. Denn zum Pferdehandel mit diesem alten Ammoniakiter — wie Kunz ihn getauft hatte — zogen sie keine zehn Pferde.
Die Dämmerung fiel schon ein, als die beiden weidlich verdrossen, den Fuß auf Moorhofer Gebiet setzten. Die Abendsonne hatte sich in den Nebeln überm Moor verblutet. Von den schneeigen Feldern zogen hungrige Krähen müden Fluges nach dem Kiefernwald, bäumten dort auf und richteten sich klagend und frierend ein für die Nacht. Da hinten die See hauchte eisigen Daak über Dünen und Heide.
Horst war ungehalten über den verlorenen Nachmittag. Er mußte noch etwas ausrichten, so konnte er nicht nach Hause. Das Moor da unten beschäftigte ihn.
„Ich will jetzt doch endlich mal den alten Torfmeister aufsuchen. Kommst Du mit, Kunz?“
„Alte Torfmeister sind mir zu wenig Sonntagsvergnügen. Ich werd mich aufs Stroh werfen und lesen.“
Sie trennten sich. Kunz ging geradeaus weiter nach der Baracke zu, Horst bog links ab die Straße, die am Dorf vorüberführte.
Aus dem Boden stiegen die Nebel, vom Himmel fielen sie, das Wasser, das Moor sandte sie her — so schlugen sie über dem Schreitenden zusammen. Voll Klage und Schauer war die Welt. Unbändiger als je zwang die Schwermut ihn nieder. Er fiel in seine dunkle Stunde. Das wozu? und wofür? saß ihm an der Kehle. War nicht doch alles umsonst und alles verloren?
Was hockt er hier — in diesem kümmerlichen Tun! Was wird damit geschafft? Was helfen all diese armen Kleinigkeiten, wo selbst das Große uns nicht retten könnte! Das Große! Wenn wir es hätten! Wenn es aufstünde unter uns, das Gewaltige, Allbezwingende, das im Sturm uns fortreißt, in dem einen machtvollen Fühlen und Glühen! Uns alle, alle — das Befreiende, die heilige Flamme, das heilige Licht —!
Was würde geschehen mit diesem Großen? Würden wir selber es dulden? Würden wir selber es uns nicht in Stücke zerschlagen!
Wir Deutsche — wir Deutsche! Wir die ewigen Vandalen an uns selbst! Wir, die geborenen Zertrümmerer unserer eigenen Größe.
Deutschland, das ewige Trümmerfeld — nach unserem eigenen fluchbeladenen Willen.
Wozu bauen, was wir selbst doch wieder einreißen!
Und was ich hier bauen will — ist es nicht Kinderkram, wie aus der Spielzeugschachtel! Was soll der Tand! Was soll der nützen! Ein Beispiel sollte es sein, ein Gleichnis, ein Symbol — ja —
Aber ein Symbol der Arbeit? Wer will das! Wer leistet dem Gefolge! Nehmt das goldene Kalb und setzt die Dirne drauf oder den Magier, den Geisterbeschwörer von Geschäft, und ihr habt die Leidenschaften der Zeit mit ihrem Heerbann.
Was kaure ich hier unter dem Schutt! Ein Fremder in meinem Vaterland. Warum dann nicht lieber hinaus in die Fremde! Nach dem Süden, dem purpurnen! In die Klarheit des Nordens! Nur, daß man sein Brandmal trägt, den Galeerenstempel! Die Peitschenstriemen auf dem Rücken! Ein Deutscher — wehrlos, ehrlos. Wer will ihn! Welches Land öffnet ihm seine Grenze!
Vom Leuchtturm auf der Halbinsel ruft das Nebelhorn — Töne fernher, wie aus anderer Zeit, aus anderen Welten. Stöhnende Stimmen von Urzeitriesen, Flüche, Verwünschungen, Todesschreie. Vor mir, um mich das Niflheim! O ging es hinein in das eisige Vorweltchaos!
Wie ein Ertrinkender erlebt er noch einmal sein Leben.
Die jubelnde Jugend unter den strahlenden Augen, der fröhlichen Klugheit der Mutter, die gesammelte Kraft des Soldatentums, trotz all dem Kleinlichen und Lachhaften die ganze Größe des „ich dien“. Die Jahre auf der Kriegsakademie in Berlin, wo Kunst und Liebe ihn so reich beschenkten, und reich auch die stille Lampe bei seiner Wissenschaft. Oft haben ihn die Kameraden „Schuster“ gescholten, wenn er des Wüsten und der Ausgelassenheit satt in seiner Werkstätte sich einschloß. Und gerne saß er bei seinem Leisten, der Kriegsgeschichte. Eine Monographie von ihm über die Schlacht von Saalfeld wurde gedruckt und trug ihm brieflichen Verkehr mit Universitätsprofessoren ein. Dann hatte die Strategie des Großen Kurfürsten es ihm angetan — da kam der Krieg.
Der Krieg! Der Krieg! Und nun riß das Grandiose, das Glorreiche, das Ruhm- und Weihevolle — ja, ja, das ist es bei allem, das bleibt es bei allem, und dafür leben und sterben wir! — wie riß es ihn plötzlich aus seiner Verlorenheit in Nebel und Not!
Und jetzt kroch er nicht mehr, er ächzte nicht mehr — er hatte den Kopf wieder hoch und schalt sich aus. Schäm dich, Horst Oldefeld — Neurastheniker mit Nebelhornbegleitung! Nun faßt du wieder Schritt und tust, was du sollst und mußt — und glaubst an dein Müssen — und läßt die Ausflüge ins Niflheim und in das eisige Urweltchaos. Du bleibst hübsch säuberlich auf deutschem Grund in deinem Arbeitsschritt, du bleibst in deiner Pflicht. Und wenn du das Kleine schaffst, denkst du, daß aus Kleinem Großes wird, daß darum das Kleine mehr ist als das Große! Siehst du! Und das denkst du, lachend und zufrieden! Und bist einer und dünkst dir was! So, mein Junge, und jetzt ist es Abend, du darfst ausruhen und müde sein. Die Tagesfahrt hat dich enttäuscht — sind nicht Enttäuschungen die Schwungfedern des Erfolges?
Und ist dir für heute nicht noch etwas Sonderliches beschieden? Ein Sonderling steht dir bevor, der Erdgeist dieses Landes, der Schatzgräber, der die alten Geheimnisse des Moores ans Licht bringt, zugleich der Totengräber des Kirchspieles, der neue Geheimnisse in die Erde senkt. Lud Uhlenbrook, Torfmeister und Friedhofswärter seines Zeichens. Ein besonderer Mann.
Wohl muß man sich traumhaft feierlich stimmen, ihm zu begegnen. Und die Brille zur Hand haben für Geister und Gespenster.
Sind wir nicht hier an der Kirchhofsmauer? Jetzt steigt die Straße, jetzt kann man hinüberblicken.
Schwer hängen Dämmer und Nebel in den Sträuchern, den kahlen Ulmen, den bereiften Edeltannen und ersticken das matte Schneelicht, das noch von den Gräbern und Wegen aufsteigen will.
Was huscht da und flattert zwischen den Grabhügeln? Ein Körperliches? Ein Schatten? Verschwindet hinter den Bäumen — schwebt wieder aus dem Nebel — eine irrende Seele —? —
Eine schwarze Gestalt — jetzt hält sie der Blick — eine Frau —
Horst kommt an der eisernen Pforte vorbei — da tritt die Gestalt von innen an die Kirchhofstür und rüttelt an den eisernen Stangen. Eine Gefangene der Totenstätte — —
Er geht hinzu. „Ich hab mich verspätet — man hat mich hier eingeschlossen!“ sagt die Stimme von drüben, mehr ungehalten als ängstlich und bittend.
Ein bekannter Klang — und jetzt sieht er die Züge: die Dame von der Versammlung ist es.
„Ich werde den Schlüssel besorgen“, sagt Horst mit schneller Bereitschaft.
Bei ihr ein Zögern. Sie betrachtet sich die Pforte, den Mauerpfeiler. „Wenn Sie mir helfen wollen, komme ich so hinüber“, erklärt sie kurz entschlossen.
Er reicht ihr die Hand, sie setzt den Fuß zwischen die Stäbe, dann auch den anderen — Horst stützt und streckt den Arm — sie klettert auf die Mauer — beugt sich — legt die Hände auf seine Schultern und springt zu Boden. Das alles in einer kühlen Ruhe, ohne betonte Zurückhaltung, ohne regere Verbindlichkeit.
Einfach spricht sie ihren Dank, verneigt sich und wendet sich nach der Chaussee, die zur Stadt führt.
„Es wird unheimlich dunkel — und eine Dame jetzt allein den weiten Weg —“ er ist an ihrer Seite.
„Mir tut niemand etwas.“
„Wenn ich Sie begleiten darf —“
„Das ist sehr freundlich. Aber ich kann wirklich allein gehen.“
Hierin ist nun, bei aller Gelassenheit des Tones, die deutliche Ablehnung. Horst verbeugt sich und wandert seine Straße. Ein wenig beschämt — ein wenig ärgerlich, über sich, über sie. Aber dann schilt ihn nur noch die Ungehaltenheit über sich selbst.
Aufdringlich — ja, ja — er ist es gewesen und ist ihr so erschienen. Immer dieselben Funken, wo die beiden Geschlechter in Spannungsnähe geraten. Die Eitelkeit entzündet sich, die Eroberungslust, die Habsucht.
Hatte er es nicht ausnutzen wollen, daß er ihr den Dienst erwiesen?
Gewiß, sie hat etwas, was ihn reizt. Ihre Persönlichkeit, die schleierhafte Persönlichkeit —? Natürlich das Weib! „Persönlichkeit“ — auch so einer von diesen Zauberapparaten, mit denen wir uns selbst Kunststücke vorführen!
Sie war auf dem Kirchhof. Es gibt Menschen, die für Kirchhöfe eine Leidenschaft haben — heißt, so lange sie selbst munter herumspazieren. Ist sie von denen?
Daß sie ein Grab hier hätte, sie, die landfremde —?
Und da fährt es ihm durch den Sinn: der junge Mann liegt hier begraben, den Borkhus erdrosselt hat! Groß geht es in ihm auf, bis zur Gewißheit: ja, ja — sie war an seinem Grabe — hier ist der Zusammenhang!
Er hatte es nicht begriffen, was damals aus ihren Augen brach, als Borkhus in der Versammlung vor ihr auftrat. Das war mehr gewesen als politischer Haß. Jetzt verstand er dieses Mehr. Der Rachegeist war es eines vernichteten Lebens, das Blutgericht einer zerstörten Liebe, die Tod wollte gegen Tod.
Und wieder ging Horst einen schweren Schritt.
Ein Schicksal — und so erst mußte ihm dies zu Bewußtsein kommen. Wie gedankenlos hatte er bisher diesen Todesfall abgetan. Wie leichtherzig hatte er ihn als was Gleichgültiges, höchstens als ein Unbehagliches von sich gewiesen.
Erst in den Augen dieser Frau mußte sich das Geschehene spiegeln.
Und es wuchs, über das Grauen der einen Tat, hinein in die große Tragödie des Volkes.
Herr von Borkhus selbst hatte es gefühlt, vergraben in die Schauer, hatte es ausgesprochen, nur vor tauben Ohren: „Ein Deutscher erwürgt einen Deutschen mit eigenen Händen! In unseren Tagen gemeinsamer Not! Die Zeit der apokalyptischen Greuel kehrt zurück.“
Nicht der einzelne — und doch wieder der einzelne! Denn aus den einzelnen wird das Volk, und in dem einzelnen ist das Erleben.
Eines Mannes Ende — eines Weibes Verlassenheit und Todestrauer. Eine Nacht nur solcher Verzweiflung — nur die wenigen, die langen Stunden einer einzigen, einer langen, langen Nacht!
Nun ist man im Fühlen, und das Herz schlägt mit.
Eine Frau!
Der endlose Zug der Frauen in schwarzen Gewändern wallt vorüber, der Mütter, der Gattinnen, der Bräute, der Schwestern — viele, viele wie die Schatten, denn ihr eigenes Leben gaben sie dahin.
Doch geheiligt sind sie, die Weihe ist über ihnen, die Weihe des Opfers, das die Liebe brachte, die Liebe zum deutschen Land.
Was aber jetzt im Trauerkleide diesem Todeszug sich anschließt, über denen leuchtet nicht der Segen der Hingabe, sie tragen den Fluch und den Haß. Um sie zuckt und schwelt das wahnsinnigste aller Verbrechen, der Bürgerkrieg — Land- und Eidgenossen morden sich selbst!
O dieser namenlose Frevel an der deutschen Kraft — an der Kraft der deutschen Seele, an der Kraft unserer Wehr.
Jetzt — jetzt, wo wir so bitter nötig Eisen und wieder Eisen ins Blut haben müßten, gerade jetzt spritzen wir uns Gift in die Adern!
Eisen! Wo ist er, der Führer! Der Held von Eisen! Der große Rufer im Streit! Der Lindwurmtöter! Der erst die Drachen im eigenen Lande erschlägt. Und dann die Höllenhunde da draußen.
Der Feind ist im Land! Das ist der Ruf! Der gellt in die Ohren, er greift an die deutschen Herzen, und wären sie noch so zag, noch so träge und weich geworden, noch so dumpf und so niedrig!
Der Feind ist im Land! Wo ist der Heerkönig! Seine Fahne soll wehen! Wir kommen alle, wir folgen dir alle! Ein Meer brandet auf, ein Flammenmeer — eine Sturmflut von Feuer, so brausen wir über die Feinde!
Kreuzfahrer sind wir, geweihte, in Frommheit entbrannte, heilig, heilig ist unser Kampf für das heilige deutsche Land!
Sie haben Maschinen — was sind Maschinen — wir haben den Geist! Und Gott ist der Geist! In Feuersäulen wandelt er vor uns.
So brennen wir rein — die deutsche Erde — von ihren Schändern — in prasselnden Flammen — so brennen wir rein — in jubelndem Feuer — den deutschen Namen — von seiner Schande.
Der Welt stockt der Atem — und die uns geschmäht — sie jauchzen uns zu!
In hohen Sprüngen war Horst vorwärts gestürmt. Nun stand er keuchend. Wo ist er, der große Mann! Warum fehlt uns der Führer in der schwersten Stunde! Warum bin ich selbst ein so armseliger Zwerg!
Wieder krochen die Nebel um ihn zusammen, wieder wollte er schmerzlich und schwer in den alten Trott sinken. Da tauchte am Rande des Moores der strohgedeckte Katen des Torfmeisters vor ihm auf, und das Ziel hob seinen Blick ins Feste, Grade und Helle.
Ein spärliches Licht aus einem der Fenster grüßte mühsam durch den Abendnebel. Horst öffnete die Pforte des Heckenzaunes, der einen kleinen Vorgarten einhegte, und trat dann durch die Haustür auf die dunkle Diele. Links war das Licht, er klopfte, eine Stimme, die wie Donner rollte, rief einladend: „Jawoll!“
In dem niedrigen verräucherten Zimmer hockte ein grauhaarbuschiger Riese, der Leib war in einen mächtigen schwarzen Wachstuchlehnstuhl versunken, die Beine durchquerten den ganzen Raum, auf daß die Füße, in ungeheueren Filzstiefeln, mit dem offenen Ofenfeuer treuliche Nachbarschaft hielten.
„Guten Abend!“ grüßte Horst.
„’n Abend“, polterte der Alte mit unglaublich gemütlichem Grollen zurück. Und dann stöhnte er: „Wollen Sie sich setzen. Eh ich aufgestanden bin, haben Sie längst vergessen, was Sie von mir wollen.“
Horst holte sich einen von den schweren eichenen Holzstühlen. Er sagte, daß er von der Siedlung käme.
„Hab ich mir gedacht. Und wissen Sie, daß wir Feinde sind!“
„Feinde?“
„Über ’n Zehntel von meinem Moor haben Sie mir genommen! Aus meinem Leben ist das rausgeschnitten. Denn mein Moor ist mein Leben.“
Jetzt stöhnte er wirklich und aus der Tiefe. Die Hausbalken ächzten. „Seit der Zeit hat es mich gepackt. Und nun ist nichts mehr mit mir los. Haben Sie ’ne Ahnung, was Moorpodagra ist?“
„Nein.“
„Danken Sie Ihrem Schöpfer. Aber —“ jetzt rieb er sich die unermeßlichen Vorderflossen — „vielleicht erleb ich’s noch, daß Ihr Siedler das auch abkriegt! Wär das — wär das ein Schützenfest! Hahahaha!“ Das Haus lachte mit, die Wände, die Dielen, die Möbel.
Mit dieser Verwünschung hatte seine Galle sich entgiftet. Die Augen, große Spitzbuben von Natur und jung trotz der roten wimperlosen Lider, waren schon wieder geneigt, das ganze Leben als eine erkleckliche Schalksnarrheit halb ausgelassen, halb wehmütig zu betrachten. Er rührte sein Fußwerk, sehr behutsam, es ging besser als er dachte. „Torfwasser! Fünfzig Jahre Torfwasser! Torfwasser ist ’ne eigne Mixtur, kann ich Ihnen sagen. Leichen erhält’s. Lebendiges frißt es an.“
Er hatte die Kniee krumm. „Na wollt ihr raus?“ sprach er zu seinen Stiefeln hinunter. Und da sah Horst aus jedem Schaft ein Köpfchen lugen — die grellen Augen stachen nach ihm.
„Was haben Sie da?“ fragte er überrascht.
„Die fressen den Gichtwurm“, gab ihm der Alte zu wissen. „Werden selbst aber nicht satt davon. Meine Wiesel sind das. Na lauft!“ Die fadenschlanken Tierchen schlüpften aus dem Fußgehäuse, liefen an dem Riesen in die Höhe, umkreisten spielend seinen Nacken und schlängelten sich dann hintereinander in ein Loch der Diele.
Nun stand der Alte, reckte sich, nüsterte und schnob, fegte mit seinem Haarschopf die Decke, hinkte zu einem Wandschapp und holte eine Schnapsflasche mit zwei Gläsern.
Sie saßen an dem klobigen Eichentisch. „Selbst gebrannt. Wacholder“, erklärte der Alte.
„Hüt’ dich vor sünd’gem Wandel,
vermeide den Machandel!
Na Prost!“
Er stöhnte wie ein Ur.
Horst sagte ihm, daß die Siedler seinen Rat und seine Hilfe brauchten.
Wirklich! Erst nähmen sie ihm das Beste weg, und zum Lohn dafür sollte er helfen! Christenlehre! Reißt dir einer die Tabakspfeife aus der Hand — gib du ihm Feuer, daß er sie sich auch anrauchen kann! Hahahaha!
Die Stube schüttelte sich, der Eichentisch tanzte Ballett.
Dann schimpfte er auf die ganze Moorwirtschaft hier. Nie hätte er gekonnt, wie er wollte. Der Besitzer, Herr von Borkhus, hätte nun mal keinen Sinn fürs Moor. Was ein Gemütsfehler wäre. Seine Tochter, Frau von Mönkhov, hätte diesen Sinn — und wäre die nicht, gäb es hier den Torfmeister Lud Uhlenbrook längst nicht mehr.
Das Zwanzigfache hätte sich allein aus dem Torfstich herausholen lassen. Aber keine Unternehmungslust, kein Blick, kein Verstand. Selbst für die kümmerlichsten Abfuhrstraßen hätte er bis aufs Blut kämpfen müssen.
Und das Moor ist so brav, so fleißig im Nachwachsen, im Nachschaffen, es gibt und schenkt so gern. So treu ist es gegen die, die es kennen und liebhaben — böse nur gegen die, die nichts von ihm wissen und nichts von ihm wissen wollen. Ob er etwas von ihm wisse?
Nein.
Dann solle er sich nur nicht einfallen lassen, in einer Sturmnacht übers Moor zu wandern. Wenn ihn die Schlünde und Gründe nicht verschluckten, all das, was dann aufgeschreckt wäre aus den Tiefen — heillos würde es ihm die Sinne verstören.
Arm und zu bedauern sei er, daß er nichts vom Moore wisse. Nichts vom schlafenden Moor — nichts von seinen Träumen — nichts von seinem Erwachen. Von den Moornebeln nichts, nichts von dem Moorleuchten. Von seiner Frühlingspracht nichts, wenn die unzähligen goldenen Blumen es bestirnten — nichts von all dem Summen und Zirpen und Tirilieren, von seiner Musik, so vielstimmig und so abgetönt wie keine auf der Welt.
Und die Abenddämmer, die an das Geschwundene rührten — die hellen Nächte, da der Mond die Elfen ruft — die schwarzgrollenden Unwetternächte, in denen die geizigen Zwerge und Gnome mit ihren Irrlichtern nachsuchen, wohin die Blitze ihr Gold gestreut.
Was ruht alles im Schoß des Moores! Kämpfer und Helden, die das Gewoge der Schlacht hier hineinstieß. Könige, die der Ruhm hier im Grabe bettete. Selige selbstvergessene Frauen, die im Traumschritt hinüberwandelten, und die der Tod hinabzog, selbst wie ein Traum — Unselige, die der Gram hier versenkte.
Das Meer, das grausame, zerstört. Alles, was es hinabschlingt, gibt es der Verwesung preis, den Zähnen seiner Bewohner, und wirft und speit die eklen Reste wieder von sich — das Moor sorgsam und sanft, balsamiert alles ein, bewahrt dem Toten die Schönheit des Lebens, hat Freude an der Form und Lust am Erhalten.
So ist das Moor, denn das Moor hat ein Herz!
Dies war der Klang, in dem der Alte sich vernehmen ließ, auf seine Art. Und diese Art stieg über ihn selbst hinaus, da er dem, was ihm ans Leben gewachsen war, seine Hymnen sang.
Horst hatte seine Freude an dem Alten. Er wußte, daß sie beide auch jenseits vom Moor sich nahe kommen würden. „Ich will mich bemühen,“ sagte er, „Ihren Freund zu verstehen. Und womöglich auch Freundschaft mit ihm zu schließen.“
Sie sprachen dann über die Torflieferung für den Ziegeleibetrieb. Dem Siedlungswerk an sich war der Torfmeister zugetan, und er versprach ihm seine Förderung.
Und dann strömte auch ihr Fühlen und ihr Gespräch in die große deutsche Not. Der Torfmeister hatte seine festen Gedanken. Dies war kein grader Krieg — schief kam er und aus der Ecke! Was ging uns um Haut und Haar das an, was da unten bei den Mausefallenhändlern passierte! Ich war 66 und 70 dabei — da wußten wir, was wir wollten! Aber hier wußten wir nicht mal, was die anderen wollten. Und darum, es war krumm und dumm von vornherein. Und doch krümmer und dümmer, was wir all die Jahre vorher angestellt haben, uns all die vielen Feinde aufzuhalsen.
Hierüber brauchten die beiden sich nun nicht weiter zu verständigen. Sie landeten jetzt bei dem Heute, bei dem, was diesem Landstrich beschieden war.
Hier hat es schon vor dem Kriege gezuckt und getuckt, sagte der Alte. Gewiß, vieles, was so von Leuteschinderei geredet werde, sei Hetze und Geschwätze. Aber mancher Gutsherr habe doch sein Teil auf dem Kerbholz. Das Volk wäre ducknackig und trüge viel, aber es fräße alles in sich hinein, und vergäße nie. Da hätte sich also schon was angesammelt. Und jetzt, wo die Funken durchs Land flögen —!
Wie es in Moorhof aussehe?
Herr von Borkhus gehöre nun gewiß nicht zu den Gewaltherrn. Er habe ein Herz für die Arbeiter. Aber er behandele sie nicht gleichmäßig. Leicht risse sein heißes Herrenblut ihn fort — hinterher täte es ihm leid, und überschwenglich verwöhnte er dann die Leute. So aber bekäme man sie nicht in die Hand.
„Sie meinen also auch, uns steht hier noch verschiedenes bevor?“
„Ganz gewiß. Wo jetzt die heftigen Brüder von auswärts kommen und das, was hier glimmt, mit vollen Backen anblasen.“
„In der Stadt hat sich ja jetzt was zusammengetan.“
„Ja. Seit da nun noch der rote Magistrat die Fuchtel schwingt.“
Und nun ist Horst wieder bei seiner Revolutionärin. „Sagen Sie mal, Sie sind doch auch der Friedhofswärter?“
„Ja — und?“
„Wissen Sie, daß da eben eine Dame eingesperrt war?“
„Nein. Wer?“
Horst beschreibt sie. Und jetzt kommt eine fliegende Erregung über den grauen Riesen. Das sei Lona Grahl gewesen! Seine kleine Freundin! Die habe das Grab ihres Geliebten besucht! Und nun müßte er, der Alte, mit seinem kranken Beinwerk gerade den Schlüssel nicht haben! Die Küsterdirn, die dumme, die sich vor Gespenstern fürchte, habe natürlich in dem Nebel vor Abend schon blindlings zugeschlossen und danach spornstreichs Reißaus genommen. „Aber sonst pflegte Lona doch immer nach ihrem Kirchhofsbesuch bei mir einzusehen! Sollten Sie sie mir vergrämt haben!“
Fast zornig flammte es aus den alten jungen Augen gegen Horst.
Der erhebt sich. „Es tut mir leid. Sie weiß, daß ich politisch ihr Todfeind bin. Sie weiß auch um meine freundschaftliche Gesinnung für Herrn von Borkhus.“
Die schwere Pranke des Alten legt sich auf den Arm seines Gastes. Die Aufwallung reut ihn.
„Bleiben Sie noch sitzen. Die Kleine steht mir nahe. Ich hab sie als Kind auf dem Arm gehabt. Sie stammt aus unserer Gegend. Ihr Vater war Pastor in Unkvitz. — Sie sehen die Kirche südwärts vom Moor. Das war ein Mann — was haben wir den geliebt! Zu dem gingen wir alle und nicht zu unserem Pastor hier. Jung war er und fröhlich — und wenn man ihn bloß ansah, wurde man schon ein besserer Mensch. Und was konnte er die Orgel spielen! Jeden zweiten Sonntag gab er ein Kirchenkonzert. Was Beine hatte und Ohren drängte sich dazu. Und seine Frau sang, wie ein Engel aus dem Himmel sang sie. Die war eine berühmte Sängerin gewesen, aber ihren Mann hatte sie lieber als all ihren Ruhm. Und ganz plötzlich — ich weiß nicht, was der Herrgott sich dabei gedacht hat — plötzlich stirbt dieser Mann. Hatte an einem Krankenbett sich angesteckt. Die Frau wurde wahnsinnig. Verwandte holten das Kind. Es war damals zwei Jahr. Ich ging auch gerade zur Bahn. Da habe ich das Wurm den ganzen Tag getragen. Und das war der Anfang unserer Freundschaft. Dann habe ich die ganze Zeit nichts von ihr gesehen und gehört. Jetzt ist sie wieder aufgetaucht. Und schlimm genug ist das, was sie wieder in die Heimat geführt hat.“
Der Alte stöhnte und schwieg eine Weile.
„Als wir ihren Freund hier begruben — sie war sein einziges Gefolge. Der Geistliche, der hier damals amtierte — unser Pastor Wärmann lag noch verwundet im Lazarett — na ja, er gab wohl her, was er konnte, aber schließlich — der Tote ein Revolutionär. Und sie die Geliebte eines Revolutionärs. Die wahre Liebe und der wahre Trost war es nicht. Ich hab dann die Kleine mit nach Hause genommen. Und an meiner Brust hat sie sich ausgeweint.“
Horst hörte hingegeben zu. Und nun sah er sie hilfsbedürftig in den Armen dieses alten Mannes. Hilfsbedürftig — das reimte sich ihm so wenig zu ihrer Art. Und ihre Augen in Tränen — diese Augen mit ihren wilden Bränden und ihrer schaurigen Erloschenheit.
Er wollte mehr wissen, aber er brauchte nicht zu fragen. Der Torfmeister war mit dem Recht seiner Jahre redselig geworden.
„Jetzt will sie hier bleiben. Sie hat sich in der Stadt niedergelassen. Als Musiklehrerin. Aber die Musik — na, vor allem macht sie jetzt hier die Musik der Revolutionsmänner mit. Ihr Freund war Maler, und sie kommt von der Musik her, und sie hat mir gesagt, was so die Jungen von der Kunst wären, die wären alle revolutionär — oder sie wären taube Nüsse.“
„Wir haben auch noch eine andere Jugend!“ sagte Horst lächelnd, mit Bedacht.
„Davon verstehe ich nichts. Aber — bei alledem ist mir nicht behaglich. Sie bleibt nicht bloß hier, um das Grab zu pflegen. Sie hat noch etwas anderes im Sinn. Was manchmal in ihren Augen umgeht! Und wenn man daran denkt, daß ihre Mutter im Wahnsinn geendet hat —! —“
Horst packte zu. „Sie meinen, sie will sich rächen.“
Der Alte sah ihm ins Gesicht. Dann sprach er unumwunden: „Ja. Und wo hier jetzt die politischen Brandstifter herumwirken —“
Die beiden Männer schwiegen. Und das Grauen rührte an sie, das durch die deutschen Lande schlich.
Der Februar brachte eine Bärenkälte. Was schimpfte Kunz in dem bereiften, vereisten Schuppen! Gisbert hatte seinen Ohrenschmaus.
„In Berlin haben sie vorgestern die hundertsiebenundsechzigste Tanzdiele aufgemacht! Und mir frieren hier die Zehen ab. Hat deshalb die Schöpfung in mir alle menschlichen Reize zusammengehäuft, daß ich zu Puppenlappen verfrieren muß!“
Gisbert blieb unanfechtbar, schwebend, über den Dingen.
„Und Du, sag mal, hast Du immer noch Lust, ins All aufzugehen? Der Natur — von minus zwanzig Grad — Dich einzuverleiben? Getreu Deinen Brüdern am Indus, Ganges und Brahmaputra? Die sich da in die Sonne hinlümmeln und sich die Bananen oder sonstwas in den Rachen wachsen lassen. Wir, die wir hier in Schneehütten und Erdhöhlen hausen, Herrgott — wir müssen uns schon ganz in uns selbst hineinkonzentrieren! Daß wir wenigstens etwas Warmes in den Leib kriegen! Der Unterschied zweier Welten! Aber Du — Du mit Deinem Astralgebein!“
Dann kam Tauwetter, eine Regenperiode mit niederträchtigen westlichen Winden. Und ein böser Gast fand in der Baracke sich ein, die Grippe. Fast alle lagen sie auf der Nase. Horst, der noch soeben an einer Lungenentzündung vorbeischrammte, blieb auf den Füßen, pflegte, half und gab das Steuer nicht aus der Hand.
Und wie eine Seuche liefen jetzt, wo sie ihre frische Arbeit nicht hatten, die Unlust, der Überdruß, die fahnenflüchtigen Gedanken durch die Reihen. Von Schimpfen, Stöhnen und Fluchen über das Barackendasein klang der Bau.
Wohl hatte Kunz das Instrument auf diesen Ton gestimmt. Und auch ihm kamen bitterliche Stunden, in denen er Horst sein Herz ausschüttete. „Ich mach nicht mehr mit, — in diesem elenden Kasten — wie ein Sarg ist er — ein Bretterkahn ist er, der in den Orkus hineinfuhrwerkt — ich steig aus! Nach der Großstadt will ich. Müll kutschieren will ich oder den Gummibesen über den Straßenasphalt schieben!“
„Du bist größenwahnsinnig“, erklärte Horst dazu.
Dann gab er sich. Er mochte auch nicht zu dem Chorus gehören. Und da Trübsal und Bitternis nicht abreißen wollten, warf er sich in seinen alten Übermut, hielt sein Lachen parat, zornig und rüttelnd, und wusch die Köpfe.
„Hat das bißchen Schnupfen uns zu Jammerlappen aufgeweicht?“ Für die Braven und Zukunftsstarken schleppte er Rum herbei, ihnen braute er heilsamen Grog — wen gab es da, der nicht zukunftsstark wäre?
Mit seiner Zupfgeige zigeunerte er an den Krankenbetten. Muz saß andächtig dabei und hatte gespitzte Ohren. Dichtete an seinen Liedern „vom heimlich-unheimlichen Suff“ und sang sie ihnen.
Jetzt sing ich euch das Lied vom Muselmanne,
er betete getreulich seine Suren,
zuweilen aber kriegt er seine Touren,
und flüchtete zu seiner Fuselkanne.
Oder er warf ihnen so aus dem Handgelenk ganze Bündel Singsangreimereien vor.
Herrgott in unserm Schuppen,
da ist der Deubel los,
wir haben all den Schnuppen,
wie leuchten unsre Kuppen,
im Hals da sitzt ’n Kloß.
Ich niese, du niesest, wir niesen,
uns kriegen am Kragen die Krisen,
und keiner und keiner sagt „prost“!
Der Arzt verordnet Suppen,
er sagt, die ist famos.
Der Kunz besorgt uns Druppen,
die Schuppen-Schnuppen-Druppen,
wir saufen sie aus Tubben,
Das ist ’ne andre Schos.
Der Alte mit der Hippe,
das gierige Gerippe,
und seine Zippe, die Grippe,
die kamen angetost.
Doch unsere Schnuppen-Druppen,
die Schuppen-Schnuppen-Druppen,
sie, die gesund uns schrubben,
die schlagen dem Tod ’n Knubben!
Wir schwingen unsre Tubben,
er muß von dannen huppen,
und alle brüll’n wir „prost!“
Den Rundreim faßte Muz jedesmal so auf, daß er sich um sich selbst zu drehen und nach seinem Schwanz zu jagen habe. Und er tats mit Lust.
Die Krankheit war erloschen. Aber eine Mattigkeit blieb, Unmut und Düsternis wichen nicht so bald. Heute kam einer von der Mannschaft zu Horst ins Schreibzimmer. „Ich möchte aus dem Verbande austreten,“ erklärte er, still, gedrückt. Leicht wurde es ihm nicht, das zu sagen.
In Horst schrak etwas auf. Aber er blickte fest und gelassen. Er wollte den Mann halten — wieviel kam darauf an, daß die Reihe, jetzt in den Anfängen, geschlossen blieb! Er mußte ihn halten! Dann aber, gerade darum, in seiner Sprödheit, in der Schamhaftigkeit seines Gemüts, verschmähte er jedes werbende Wort.
„Wenn es Ihr klarer Wille ist —“
„Ich kann eine gute Stelle in einem Bankgeschäft bekommen. Man darf doch seinem Glück nicht im Wege stehen.“
„Das darf man nicht.“
Es war einer von den Lauen, von den Strohfeuermännern, von den weichen Tieren. Aber einer der Geschicktesten und Arbeitsamsten, auch im Schreibwerk zu Hause.
Kunz trat darüber zu, der heute Bureaudienst hatte. Der das hören und ohne jede Schamhaftigkeit den Mann sich vornehmen! „Das dürfen Sie nicht, Radatz, und das tun Sie auch nicht. Gewiß, wir haben hier kein Mönchsgelübde abgelegt — aber wir wollen was zustande bringen. Man hat die Augen auf uns gerichtet. Man glaubt an uns. Und — was die Hauptsache ist — wir glauben an uns selbst. Darum gibt es bei uns kein Abbröckeln. Gibt es nicht. Unsere ganze Siedlung ist ein Beispiel — und so ist jeder einzelne von uns ein Beispiel. Sie, Radatz, wie wir alle. Und was wollen Sie jetzt wohl für ein Beispiel geben?“
Kunz, der sonst so wortfreudige, sprach nüchtern und trocken. Der also Bedachte schielte nach einer befreienden Ausgelassenheit und fand sich gefangen in dem harten zwingenden Ernst. Es gab weiß Gott für Kunz auch etwas, worin nicht mit ihm zu spaßen war.
„Glauben Sie, daß sich uns andern nicht auch Aussichten auftun? Vor allem unserm Baas, Herrn Oldefeld, der vier lebende Sprachen spricht und darum, wie schon Napoleon sagte, allein so viel ist wie vier Menschen —“
Horst winkte heftig ab.
„Nun ja, das alles erzählen Sie sich am besten selbst. Und jetzt werden Sie tun, was Sie wollen. Sie werden also bleiben!“
Der Mann bedachte sich nicht lang. „Ich will nicht der erste sein, der hier abbaut. So bleibe ich denn.“
„Hab ichs nicht gesagt. Und jetzt ziehen Sie sich mal Ihren Sonntagsnachmittagschen wieder aus und vertreten Sie mich heute im Büro. Ich will uns auf der See ’n paar Wasservögel schießen — Jürgens und Wendland nehme ich heute mit. Es soll genug werden für den ganzen Tisch. Rekonvaleszenten haben Anspruch auf Geflügel.“
Radatz empfahl sich.
„So wie Du, hätte ich nun eigentlich sprechen müssen,“ meinte Horst. „Im Grunde bist Du mehr Führer als ich.“
„Jetzt fängt der auch an!“
„Freilich muß ich wieder fragen: wird es vorhalten? Und hat es überhaupt Zweck?“
„Zweck — ja willst Du bloß Unsterblichkeiten? Vorläufig haben wir den Mann wieder.“
Horst strich sich über die Stirn. „Daß mir das so in die Glieder gefahren ist! Herrgott, man bleibt doch der alte dumme Junge mit seinen Illusionen. Natürlich werden wir mit diesem und jenem unserer Bundesbrüder noch manches erleben. Wenn nur nicht in einem selbst etwas abbröckelt —“ es klang müde und verzagt.
„Horst!“
„Hast recht. Man hat wohl noch von dem Krankheitsgift im Leibe. Vielleicht ist man doch dichter dran gewesen, als man dachte. Der Hades hat abgefärbt. Der macht immer sensibel.“ —
Die drei Jäger kamen am Abend mit erklecklicher Jagdbeute heim. Elf Enten brachten sie und vier Hasen.
Horst musterte die Vierfüßler mit strengem Blick. „Wasserwild —? —“ fragte er mißbilligend.
„Hast Du nie von Seehasen gehört?“ Aber mit seinen Witzen kam Kunz hier nicht durch.
„Du weißt, wie ich über Wildern denke.“
„Drück mal ’n Auge zu. Die Viecher sind aus dem Dünengelände. Über die Jagdberechtigung streiten sich seit Anno Priemtobak Stadt und Staat. Wem habe ich sie also weggeknallt? Keinem. Die Jagd ist strittig — die Hasen sind es nicht. Habemus.“
Die Roten legten sich kräftig ins Zeug. Zur Gründung eines Landarbeiterbundes wurde in dem zweiten großen Saale der Stadt eine Versammlung abgehalten. Horst ließ es sich nicht nehmen, sie zu besuchen. Der heilige Josef und der Balbutz begleiteten ihn.
Sie kamen spät und fanden in einer Ecke noch notdürftig Platz. Hier walteten keinerlei Gedanken an ein Rauchverbot. Höllenkräuter waren entbrannt. Verzweifelt kämpften Nase und Augen und erlagen ehrenvoll.
Es saßen fast nur Männer im Saal. Die wenigen Frauen duckten und verkrochen sich, als wären sie auf gefährlichen Abwegen. Auch von den Männern hockten einige Alte da wie ein Haufen Unglück. Ganz unheimlich war ihnen diese Staatsaktion. Mehr als einer bangte wohl um Kopf und Kragen.
An einem Tisch hatten sie sich erst Mut trinken müssen, zu so schauerlicher Verschwörung. Und befreiten sich mit sachten Witzen aus ihrer Beklemmung. „Korl Du moest betahlen. Ick häw mien Portmonee to Huus vergeten — wiel nicks in is!“
Auf einen alten unanfechtbaren Sinnierer redeten Jüngere glaubenseifrig ein: „Nu sast sehn, Vadder Jahn — nu wad allens ümrührt, un denn wad ’t anners in de Welt.“
Er schüttelte den Kopf. „Anners? Rührt ji so veel ji willt. Fett schwemmt ümmer baben!“
Munter lärmend aber gaben sich die Jungen. Sie hatten ihre politische Weisheit aus dem Schützengraben mit nach Hause gebracht und fühlten jeder Lage sich gewachsen.
Jetzt erscheinen durch eine Nebentür die Einberufer der Versammlung und nehmen auf der Empore Platz. Lona ist unter ihnen.
Es sind ihrer fünf. Der Vorsitzende, ein schlanker, aufrechter Mann mit scharfen wie gemeißelten Zügen, mit eigentümlich grellen und packenden Raubvogelaugen. Der Führer steht ihm im Gesicht geschrieben. Er ist aus der Hauptstadt gekommen. Rechts von ihm sitzt Lona, links der Koch. Er hat nichts Gemästetes, ist trocken und kantig, der Schädel ist oben kahl, nur in der Mitte, über der Stirn, brennt eine einsame rothaarige Flocke. Die Augen stechen und sind heiß. Sein Nachbar ist der zierliche knabenhafte Mann, der auf der Borkhus-Versammlung die kurze Brandrede hielt, und den der Bierfahrer vom Tisch heruntersetzte. Er hat ein hektisches und verbittertes Frauengesicht. Alle Glieder sind bei ihm in fiebernder Bewegung, in den Augen tobt die Unruhe. Lona hat zu ihrer anderen Seite einen sehr behäbigen, angegrauten, breitstirnigen Herrn, der offenbar nicht ausgeschlafen hat, und sich ein paarmal die Hand vor den gähnenden Mund hält. Zwischendurch tiefsinnig vor sich hinblickt und mit den Elementen der Fingernägelpflege sich befaßt. Aber in den kleinen lauernden Augen ist etwas, das nur darauf wartet, geweckt zu werden. So oft er sich regt, stößt er die Nase vor wie ein witterndes Wild.
Lona blickt unter halbgesenkten Lidern über die Versammelten. Dann starrt sie — Horst hat sich eben seitwärts zum Balbutz gewandt — jetzt wird er in die Bahn ihrer Augen gezwungen, die in seine Ecke, die auf ihn geheftet sind.
Sie beugt sich ans Ohr des Vorsitzenden, das Falkenauge stößt jetzt auch auf ihn — dann erhebt sich der Mann sofort. Klingelt kurz. Stille.
Durch Horst zuckt es hin: wollt Ihr mir zuleibe? Gut, ihr Leute! Kommt an!
„Arbeiter und Arbeiterinnen,“ so spricht der Vorsitzende, „das ist meine Anrede — Ehre, wem Ehre gebührt! Die Einladung zu dieser Versammlung ist lediglich an Euch ergangen. Eure Angelegenheiten sollen hier besprochen und geordnet werden. Die Anwesenheit von Leuten, die nicht darauf Anspruch erheben können, Landarbeiter zu sein, ist nicht erwünscht.“
Ich bin auch Landarbeiter auf meine Art, denkt Horst mit innerem Schmunzeln. Er soll mir schon deutlicher kommen.
„Ich muß deshalb alle diejenigen, die nicht diesem Stande angehören, ersuchen, den Versammlungsraum zu verlassen.“
Seine Blicke geben aller Augen die Richtung. Viele sind aufgesprungen, alle stieren sie in die bezeichnete Ecke. Horst rührt sich nicht. Erst recht nicht, da jetzt in Lonas Züge ein häßlich Feindseliges sich einwühlt.
Falkenauge aber läßt nicht locker. „Wie ich höre, ist der Leiter der Hohenmoorer Siedlung hier anwesend.“
Jetzt erhebt sich Horst.
„Spitzel!“ ruft ein Zwanzigjähriger. Mit diesem Wort dünkt der Junge sich auf der Höhe und blickt stolz um sich her.
„Wollen Sie mir ein paar Worte gestatten“, beginnt Horst.
„Bitte.“
„Wir Mitglieder der Siedlung arbeiten genossenschaftlich gemeinsam an unserem Werk. Ich selbst bin unter allen Umständen Siedler oder, wie man sonst sagt, Kolonist. Ich mach ein Stück Land urbar, ich helfe Neuland schaffen. Wenn einer sich Landarbeiter nennen darf, sind es meine Genossen und ich.“ Kurz und bündig.
In die Gesellschaft ist Bewegung gekommen, es wird dafür und dagegen gemurmelt. Horst sieht den grauen Schopf des Torfmeisters wackeln und hört seine gedämpfte Stimme wie schweres unterirdisches Rollen.
Falkenauge holt zum zweiten Schlage aus. „Diese Einwendungen sind doch sehr anfechtbar. Die Siedlung ist ein Unternehmen. Ihr Leiter ein Arbeitgeber. Und wenn diese Persönlichkeit nun noch aus dem — jetzt glücklicherweise abgeschafften — Offizierstande herkommt und vor allem mit dem Besitzer von Moorhof, der uns hier in mehr als einer Hinsicht beschäftigt, in freundschaftlicher Beziehung steht —! —“
Dies soll das Henkerbeil sein. Horst aber hält mit dem Nacken ganz und gar nicht still. „Darf ich noch einmal?“
„Bitte.“ Doch diese Gewähr sieht schon einer schroffen Ablehnung gleich.
Horst schmunzelt innerlich. Meine Klinge will ich wenigstens schlagen! „Was einer früher war, kann heute und hier doch unmöglich in Frage kommen — ebensowenig wie der Umgang und Verkehr jedes einzelnen der hier Erschienenen zur Untersuchung steht. Es handelt sich doch ganz ausschließlich um den jetzigen Beruf. Und wenn ich für meine Person gefragt werde, welchen Beruf ich heute ausübe, habe ich gar keine Möglichkeit etwas anderes zu sagen als: ich bin Landarbeiter, Landarbeiter in einem genossenschaftlichen Arbeiterverbande, der, wenn Arbeitgeber, doch sein eigener Arbeitgeber und in demselben Maße sein eigener Arbeitnehmer ist. Der Herr Vorsitzende hat die Erklärung abgegeben, daß die Anwesenheit von Leuten, die nicht Landarbeiter sind, nicht erwünscht wäre. Wenn hiernach wirklich verfahren wird, müßten, so weit ich über den Stand und Beruf der Herrschaften unterrichtet bin, die da oben am Tisch der Versammlungsleitung sitzen, diese zunächst einmal samt und sonders ihre Sachen zusammenpacken und den Saal verlassen.“
Ohorufe, erst einzeln, dann anschwellend, werden laut zu diesem umgedrehten Spieß. Aber viele denken: ein verfluchter Kerl, und manch einer grient im Stillen. Horst aber hat sein unbändiges Behagen an dem Flammentanz auf den Gesichtern da oben — auch die viereckige Stirn des Phlegmatikers droht — an dem furioso in den Augen der Musiklehrerin.
Doch die wetterfeste politische Kultur der geschulten Volksmänner ist gleich an der Arbeit. Zuerst und vor allem nieder mit jeder Mißtrauensregung! Der Koch bittet ums Wort und spricht: „Ich bin anderer Meinung als unser verehrter Herr Vorsitzender. Er wünscht einen engen geschlossenen Kreis. Wir haben hier keine Geheimnisse. Im Gegenteil! Ich wünschte, es hätten sich hier recht viele von den Unternehmern, den Arbeitgebern, den Herren Gutsbesitzern eingefunden. Was sie hier zu hören kriegten — ja, die Ohren würden ihnen schon davon gellen! Aber vielleicht würden sie uns dann der Arbeit überheben, einmal mit der Faust an ihre Tür klopfen zu müssen!“
Bravo! Jetzt ist der Wagen auf dem richtigen Gleis. Der Fall Horst liegt sacht in der Versenkung. Die Tagesordnung steigt.
Der Vorsitzende spricht über die Notwendigkeit der Arbeiterorganisation. Die Landarbeiter, die einzigen, die bisher nicht organisiert wären. Rückständig wären sie. Arbeiter und rückständig, das gäbe es aber nicht! Das Rückständige wäre bei denen da oben zu Hause, und mit denen räumte die neue Zeit jetzt gründlich auf. Herren und Knechte — das wäre deren Weisheit und Wille, aber das hätte aufgehört! „Menschenwürde!“
Horst fuhr zusammen. Wieder das Wort!
„Und in Eure eigenen Hände ist die Menschenwürde gelegt. Ihr habt jetzt dafür zu sorgen, daß hier auf dem Lande auch menschenwürdige Verhältnisse eintreten. Das erste ist höhere Löhne! Und wenn Ihr alle einig seid — die, die auf den Kornsäcken und den Geldsäcken sitzen, können, werden und müssen sie zahlen!“
Dies ist der Faden. Und er hat sie an der Strippe.
Horst hörte helläugig zu. Der Mann ist ein Künstler in seiner Art, er hat die rechten Finger für das Masseninstrument.
Jetzt wird noch ein Stück in Moll gebraucht. Sie verstehen sich schon auf Konzertprogramme. Lona nimmt das Wort.
Zagend steht sie auf, aber dann entfaltet sich das, was sie spricht, wie eine Knospe zum Blühen und Glühen.
Sie sei ein Kind dieses Landes. Als Kind habe sie es verlassen. Nun, da sie wiedergekommen sei, habe es ihr den Sinn bewegt, wie wenig Menschen hier den Kopf hoch tragen. Kaum hebt einer den Blick vom Boden. Das ist es: sie tragen eine eigene Not und sie zieht eine eigene Sehnsucht. Von der Erde stammt ihre Not, und ihr Sehnen geht zu der Erde. Darum ist auf sie, ob sie’s selber nicht wissen, ihr schwerer Blick gesenkt. Ein eigenes Stück Land, so brennt es in ihrem Herzen. Mit dem Boden sind sie verwachsen, durch ihr Schaffen sind sie ihm angetraut. Denn nur die Arbeit flicht den lebendigen Bund. Und sie arbeiten nicht für sich selbst. Sie dürfen es ja nicht. Ihnen gehört die Erde — und sie gehört ihnen nicht. Das liegt auf ihnen wie ein Fluch. Diesen Fluch gilt es zu lösen. „Ihr sollt nicht mehr dulden um die Erde, Ihr sollt leben mit ihr, in ihr — ja Ihr sollt leben!“
Das greift ihnen mit fester und doch linder Hand an die innersten Seiten, an ihre heiligen Wünsche. Das ist wie Musik, das ist Seele und Sieg. Sie sind alle bezwungen.
Auch über Horst geht ein Zauber. Von der Innigkeit eines wahren Fühlens, die wie ein Stern leuchtet durch den dicken Brodem der Versammlung.
Kaum hat er das in ihr gesucht. Nicht, daß dieser Schein aufsteigen könnte, dieser stille Schein aus den lohenden Flammen ihres Wesens.
Ein Unrecht bittet er ihr ab, daß er sie bei den wilden Schlagwörtern gesucht hat, bei den knalligen Feuerwerkern von Beruf mit ihren hohlen Kanonenschlägen, ihren verpuffenden Raketen und windigen Leuchtkugeln.
Und sie können es nun doch nicht lassen, sie sorgen schon wieder dafür, daß die Stille und Andacht nicht bleibt. Der Knabenhafte hat das Wort bekommen. Lange schon hat es in ihm gefressen. An dem Gedämpften, dem Ruhigen, Sanften erstickt er. Mit den Armen fährt er durch die Luft. Zwei brandrote Flecken leuchten auf den hageren Backen.
„Ja, Ihr sollt leben! Aber leben heißt kämpfen! Des sollt Ihr eingedenk sein, Tag und Nacht und zu jeder Stunde! Und Eurer Kampfgenossen sollt Ihr gedenken, in Treue bis zum Tod — und in Zuversicht! Nie hat die Menschheit ein größeres Heer gesehen! Das Heer der Menschheit ist es! Verbrüdert als Eidgenossen alle Proletarier der Welt! Gibt es was Gewaltigeres? Wer kann uns widerstehen! So müssen wir fühlen — und die Welt ist unser! Wir kennen kein Vaterland, das Deutschland heißt! Unser Vaterland ist die Erde!“
Seine Stimme schrillt wie eine zersprungene Saite. Junge Kehlen brüllen ihr Bravo. Durch Horst zuckt der Schmerz. Er kennt den Text und die Weise — er will lächeln und es wird eine Grimasse.
In die Versammelten blickt er. Täuscht er sich? Rollt dort nicht ein Kopfschütteln durch die Reihe — prägen sich hier nicht Unmutsfalten in alten ernsten Gesichtern?
Und jetzt — eine mächtige Stimme rauscht auf in der Mitte des Saales — langsam hat sich der Torfmeister erhoben — formelle Einwände des Vorsitzenden orgelt er nieder — er spricht, also hat er das Wort.
„Das hätte der kleine Mann da oben nicht sagen müssen, daß wir kein deutsches Vaterland kennen. Was kennen wir denn, wenn wir Deutschland nicht kennen? Bloß Deutschland kennen wir, und ein Stück deutsche Erde ist ja, was wir wollen! Kann man das Land auf den Nacken nehmen und rausschleppen in die weite Welt? Hier ist das Land, und hier sind wir! Bloß das geht uns was an, und das ist, wofür wir leben und streben! Gewiß, die Unterdrückung soll aufhören, die Knechtung und Unbill. Freie Männer wollen wir sein! Aber, wo können wir das anders sein, als auf einem eigenen Stück freier deutscher Erde!“
Horst fährt in die Höhe — er wär am liebsten über all die Köpfe gesprungen, hätte den alten Moorriesen ans Herz gedrückt und sich alle Rippen an ihm verbogen.
Beifallsgemurmel in den Reihen. Die Schreier sind verdutzt. Dann aber neue Kampfrufe aus jungen Kehlen. „Vaterland — quatsch!“ — „Proletarier aller Länder!“ — „Hoch die Internationale!“
Heißer wird das träge Blut, Feindschaften entbrennen, tiefer ziehen sich die Risse — die Leiter sind auf der Wacht. Jetzt ist der Behäbige und Verschlafene, der Mann mit dem viereckigen Schädel, hell bei der Sache. Er stößt die Nase vor und spricht.
„Genossen! Wir begehen den alten Fehler, daß wir an Worten uns erhitzen. Und daß unsere Gedanken uns so weit fortfliegen. Darin hat mein geschätzter Vorredner recht: Hier, wo wir sind, hat unsere Arbeit einzusetzen. Das Nächste ist Trumpf. Ich spreche nicht von Deutschland, ich gehe noch viel weiter. Oder richtiger, ich gehe ins Nähere und Engere. Von unserer Provinz rede ich. Von unserm Kreis. Über die Verhältnisse, gegen die wir hier anzukämpfen haben, will ich Euch ein Licht aufstecken. Mit Hilfe von Zahlen, die beweisen!“
Wozu hat man seine Statistik? Er nimmt ein Blatt aus seiner Mappe, und läßt seine Ziffern sprechen. Die Leute hören gläubig zu, Unmut und Zorn finden ihre Weide. Sie rufen „aha“ und „pfui Deubel“ und „nieder mit den Ausbeutern!“
„So also, Genossen, sieht die Welt hier aus. Und mit dieser Welt werden wir aufräumen. Das Frühjahr steht vor der Tür, der Frühling soll alles neu machen. Mit der Frühjahrsbestellung werden wir unsere eigene Saat säen, die Saat unserer gerechten Sache. Das soll heißen: werden die neuen Lohnsätze, über die wir uns noch verständigen müssen, nicht bewilligt, dann wird gestreikt!“
„Bravo! — Bravo!“
„Dann sollen die Herren allein ihr Land bestellen! Wollen sehen, wie sie damit fertig werden! Paßt auf, sie kommen auf den Knieen zu uns angerutscht. Denn was ist ihr Land ohne uns! Ihr Land? Unser Land!“
„Bravo! — Bravo! — Bravo!“
„Dazu ist aber nötig, daß wir einig sind. Dafür ist die Organisation der Landarbeiter die Lebensbedingung. Sie wird heute geschaffen. Die Listen liegen hier aus. Ich weiß, daß Ihr Euch alle hier einzeichnet! Alle ohne Ausnahme! Geschlossen wird unsere Reihe sein. Und unsere Parole für den bevorstehenden Kampf: Der Frühling macht alles neu!“
Sie können’s, das muß Horst sich wieder und wieder bestätigen. Er sieht den Zug, der zu den Listen sich drängt. Einige stehen gesondert, zaudern, blicken sich ins Gesicht aus schweren, aus scheuen, aus widerspenstigen Augen. Dann zieht die Masse sie an, und sie fügen sich ein. Wenige nur schleichen sich abseits, ein paar gehen frei, hart und stolz aus dem Saal, ihren eigenen Weg.
Als Horst auf die Straße kam, stand da der Torfmeister mit Lona im Gespräch. Er schritt grüßend vorüber, da rief der Alte ihn an.
„Ja.“
„Wollen Sie mich mitnehmen?“
„Gern.“ Horst blieb stehen.
„Sie Beide kennen sich ja wohl“, sagte der Torfmeister. Da sprach Horst zu Lona ein Wort, aus Artigkeit, doch auch von Herzen.
„Von dem, was Sie heute gesagt haben, könnte ich jedes Wort unterschreiben.“
In ihrem Auge stand ein brüskes: habe ich Sie gefragt! Aber ihr Ton war farblos, als sie zurückgab: „Und doch werden Sie, wenn es hier zum Klappen kommt, nicht auf der Seite der Bedrängten stehen.“
„Für mich gibt es nur eine Bedrängnis.“
„Deutschlands.“ Der Hohn war müde, und dennoch, vielleicht gerade deshalb fraß er sich ihm bis ins Mark.
„Gewiß. Mein erster Gedanke ist, das Land vor Schaden zu bewahren.“
„Gut, daß es verschiedene — Gedankenwelten gibt.“ Sie verneigte sich, reichte dem Alten die Hand und wandte sich heimwärts.
Die drei Siedler waren unterwegs mit dem Moormeister. Er hatte sich schnell mit dem Balbutz angefreundet. Sie sprachen lebhaft. Horst und der heilige Josef wanderten still und versunken.
Horst ist bei Lona. Warum läßt diese Frau ihn nicht los? Was ist übler an ihr, ihre Geistesverfassung, ihre Gesinnung oder diese verstiegene Selbstüberhebung? Wie hat sie ihre „Gedankenwelt“ betont, die hohe und weite, gegen sein enges, kümmerliches, „monomanes“ — so schilt man es ja wohl — gegen sein deutsches Gedenken. Soll er nicht lachen und lachend sie abtun, ein für allemal? Was muß er immer wieder mit dem Erschütternden ihres Schicksals sie sich aufdrapieren!
Er will nicht in eigenen Erlebnissen wühlen. Wie viel Entsetzlicheres hat er selber gesehen. Warum nur läßt er von diesen Greueln sich nicht bannen, warum muß ihr Los das Bezwingende sein!
Was ist’s, das ihn so lockt an dieser Frau! Daß er ihr Leben ergründen will, wissen und fühlen von ihrem Wesen, dem verborgenen. Ja, dem verborgenen. Hier sind Tiefen, in die er blicken muß — er fühlt es, er weiß es, er wird es.
Daß sie so zur Sphinx ihm wird — oh, mit dem vollen Grusel, dem rieselnden vor der tötlichen Rätselhaftigkeit — sind es nicht bloß die Sinne, die dieses Bild ihm schaffen und schmücken? Die Sinne, die großen Lügner dieses Lebens. Ist es in seiner weibverlassenen Einöde dieser junge schöne Leib, was ihn betört?
Kunz hat ihn den Eisheiligen getauft, weil er kein Schürzenjäger ist. Was weiß der von seinem Eis, von seiner Heiligkeit.
Ja, ja — warum sich selbst was erzählen! In seine Sinne sind die Funken geflogen. Ihr Wesen — was ist an dem weiter zu enträtseln? Es offenbart sich ja. Es wirkt, es strömt. Es geht ihm ins Blut.
Was wollen ihre Augen? Was will ihr Mund, mit dem heißen Rot von ihm? Was will er — er von ihren schwellenden Lippen?
Er ist ins Laufen geraten. Der heilige Josef, sein Begleiter, trottet brav neben ihm her. Schweigend wie er.
Der Alte kann nicht mit. Weit bleibt das andere Paar hinter ihnen zurück. Da rollt ein Wagen des Wegs, er hält, der beinmüde Torfmeister steigt auf und fährt nun grüßend an ihnen vorüber.
Horst hat jetzt die beiden Kameraden an seiner Seite. Nun ist er in einer anderen Welt. Der heilige Josef trägt an etwas, seine Hände schnappen in die Luft, er findet noch nicht die Sprache.
„Nun, Elbenfried?“ fragte Horst, ihn zu beflügeln.
„Ich hatte so vieles auf der Seele und hab es nicht gesagt — immer diese Trägheit des Geistes — diese Feigheit des Herzens. Eine Schuld ist das! Denn wir sollen Zeugnis ablegen — immer wieder! Bekennen sollen wir und immer wieder bekennen!“
„Aber wir sollen auch nicht unsere Perlen vor die Säue werfen!“ Fritz Eggert zeigt seine Bibelfestigkeit und möchte sich damit von weiteren pastoralen Ergüssen loskaufen.
Gustav schüttelt den schweren Apostelkopf. „Mit keinem Wort der Schrift betrügen wir uns mehr. Über nichts täuschen wir uns so sehr wie über das, was Perlen, und das, was Säue sind.“
„Ganz gewiß“, ermuntert ihn Horst.
„Ich hätte sprechen müssen. Immer und immer wieder muß man das Licht entzünden. Schließlich leuchtet es doch durch all den Rauch. Und der eine und andere brennt sich sein eigenes Licht daran an. Von Brüdern sprechen sie. Nur in diesem Kreise sprechen sie von Brüdern. Aber hinwiederum, Brüder sind nur und nur die Proletarier. Und es wird eine Brüderschaft des Hasses. Warum können sie sich den Blick nicht weiter machen und nicht das Herz! Warum können sie die Hände nicht herausreichen über die Hecke, hinter die sie sich einsperren! Und wenn diese Hände hundertmal leer zurückkommen — schließlich werden sie doch einmal ergriffen, und der Bund der Geister nimmt seinen Anfang.“
„Nun ja — auf den Anfang kommt es an. Aber wer soll anfangen? Immer sagt der andere, daß es der eine sein muß!“
„Daß der Haß so leicht ist und die Liebe so schwer! Wie soll man sprechen, was soll man tun, daß die Herzen sich öffnen! Wie soll man die Augen erheben, die immer nur die Not des Leibes sehen! Nicht die Seelennot aller gequälten Geschöpfe! Wie sie führen, daß sie in der großen Liebe die Heilung suchen auch für die kleinen Leiden.“
„Sie verlangen viel, Gustav Elbenfried.“
„Wir sollen viel verlangen“, spricht er in Verzückung. „Wir müssen das Höchste wollen, nur so werden wir des Niederen Herr!“
Sie schweigen. In diesem Bekenntnis lebt das Beste von ihnen allen.
Es ging auf den März zu. Nach Erde roch es und zerfließendem Schnee. Vom Frühling schwirrte und klirrte schon dies zitternde Ahnen durch die Luft, dieses Surren, in dem die Nerven schwingen und das Blut singt.
Jetzt wurde der Siedlerbaracke ein sonderlicher Festtag beschieden, Frau Tilde machte ihr den versprochenen Besuch. Es war gegen Mittag, da kam sie mit dem Vater die Höhe herabgeschritten.
Die Siedler marschierten von den Räumungsarbeiten auf der Ziegelei die Chaussee daher — Gisbert in dem Arbeitstrott wandelte plötzlich mit gestreckten Armen wie auf eine Erscheinung zu, er hatte sie zuerst gesehen. Kunz spürte, wie er ihnen entrückt wurde, und ging seinen Blicken nach. Und jetzt lief es durch die Reihen: „Damenbesuch“. Alles war befeuert, hob sich und spannte sich.
Viel Staat war ja nicht mit ihnen zu machen. Wie die Müllkutscher sahen sie alle aus, und den eitlen unter ihnen war das peinlich. Gisbert dachte nicht an sein Kleid, Kunz schon eher, er zog und ordnete und bürstete unwillkürlich mit den Händen. Als aber die Augen dieser Frau vor ihnen aufleuchteten, da flog jedwedes Äußerliche über alle Berge, und sie atmeten wie in einer Lichtflut.
Es geschah von selbst, daß Gisbert gleich an ihrer Seite war. Und sie nahm ihn auf, ganz so, als gehöre er zu ihr. Er mußte ihr all die Herrlichkeiten zeigen — denn Herrlichkeiten waren es, da ihre Augen darauf fielen. Er und sie — Mitläufer die anderen.
Die Stallungen kamen zuerst an die Reihe. Sie waren ein Teil der Baracke, alles lag unter einem Dach, wie bei einem niederdeutschen Bauernhaus. Die Ställe hatten längst noch nicht die ihnen zugedachten Bewohner. Sie besaßen bisher ein Pferd, ein alter Fliegenschimmel war es, wehmütig aber treu. Dann zwei Kühe und sieben ganz kleine Ferkel. Diese sieben die junge Fröhlichkeit des Baues, mit denen Muz seine ausgelassenen Spiele trieb, von dem Quieken und den frohlockenden Ringelschwänzchen zu immer neuen Tollheiten begeistert.
Nebenan aber thronte etwas erschütternd Einsames. Hier in dem Hühnerstall saß nichts als ein großer schwarzer Hahn in der tragischen Erhabenheit seines verlorenen Schicksals.
Gibt es was Jammervolleres als einen Hahn ohne Hühner?
Muz konnte keinen Blick in diesen Stall tun, ohne mit gesenkten Ohren trostlos winselnd zu verzagen.
Kunz, der als „Conferencier“ sich in erreichbarer Nähe hielt, mußte nun doch sein Sprüchlein hersagen. „Dies ist nun unser heiliges Tier.“ Den Zusatz aber, der ihm auf die Zunge wollte: das Wappentier unserer Barackenaskese — den tat er angesichts der Besucherin doch lieber in seine Sparbüchse.
Frau Tilde aber war auch ohne irgendwelche Erörterungen reichlich bewegt. „Der arme Kerl — in Einzelhaft — was hat denn der nur verbrochen! Er soll Gesellschaft haben.“ Und sie versprach als Stiftung sieben Hennen von der Mönkhover Zucht, die im Lande berühmt war.
„Zum Lohn dafür aber müssen Sie mich heute zu Mittag einladen“, sagte sie munter.
„Das paßt großartig!“ rief Kunz. „Es gibt Kartoffelsuppe.“
Die verleugnete nun ihre „Blutsverwandtschaft mit der Wasserleitung“ auch heute nicht. Aber wer achtete darauf? Die Wirte nicht und nicht die Gäste.
Es war die strahlende Kraft dieser Frauenseele, was sie alle emportrug über die Dinge. Sie hatte ihren Platz zwischen dem heiligen Josef und dem Balbutz, und Weltkind wie Prophet sahen zu ihr auf als wie zu unserer lieben Frau. Sie hatte so viel Freude an all diesen braven Jungen. Sie meinte, daß in dieser harten, ernsten und stillen Arbeitsgemeinschaft so etwas wie das Herz Deutschlands schlage. Und leid tat es ihr, daß sie wie die Sträflinge hausten, in dieser lieblosen Kahlheit, dieser Farblosigkeit und dürftigen Enge.
Hier wollten ihre Hände schmücken und beseelen. Wohnlicher sollt Ihr es haben, Ihr armen Verwaisten und Heimatlosen! Diese traurigleeren Fenster, die wie tote Augen starrten — sie hatte Stoff zu Vorhängen, mit denen wollte sie anfangen, das tote Bretterhaus zu beleben.
„Und Blumen sollen Sie jetzt im Frühling haben. Einen kleinen Vorgarten legen wir uns an. Mit Tausendschönchen, Priemeln, Stiefmütterchen. Daß etwas Leuchtendes Sie in Empfang nimmt, wenn Sie von Ihrer schweren Arbeit nach Hause kommen.“
Und all die Blicke der Männer und ihre Herzen erbauten sich an einer Lichtgestalt. Um den feinen zarten Kopf mit diesen tiefen, versunkenen Augen, die aus ihrer Versunkenheit ihre Schätze hoben, stand es wie ein Schein, dieses wunderbar Festliche und Frauliche zugleich — ein Schein, vor dem man andächtig ward.
Herr von Borkhus indessen ließ sich von Horst über die Arbeiterversammlung berichten. „Natürlich, sie wetzen die Messer. Wir sollen das Schleifen hören, und wir hören es. Vielleicht, daß es mehr ist als Drohung. Haben auch die meisten von uns ein gutes Gewissen — manch einer hier im Kreise rutscht doch mit der Hose ganz gehörig auf Grundeis. Hier wird die Rechnung präsentiert werden und — wie die Sache nun einmal liegt — nicht hier allein. Da nun schon — wer hat es gesagt — Frauen, Dummköpfe und politische Bewegungen zu verallgemeinern lieben.“
„Den Organisierten wird ja auch nichts anderes übrig bleiben“, bemerkte Horst.
Die müden Züge des Herrn von Borkhus — sie erschienen Horst noch nie so schmerzlich abgespannt — erhellte jetzt die junge gläubige Phantastik seiner Augen. „Ich weiß, auch von meinen Leuten hat der größere Teil sich eingeschrieben. Überzeugungen glauben nun einmal erst dann an sich selber, wenn sie abgestempelt sind. Jeder muß nun mal seinen Schein haben — wie könnte er sonst auf ihm bestehen! Aber, wenn es ernst wird, dann sind solche Scheine Papier. Der Herzschlag ist dann der Ton, der die Musik macht. Und — ich kenne meine Leute, so gut wie sie mich kennen!“
Er warf den Kopf zurück, nun ganz ein froher, sieghafter Führer. Sein Gesicht belebte sich frisch, dunkler und heißer leuchteten die Augen. Hier frohlockte eine Zuversicht, die aus der Tiefe seines Wesens quoll, aus der glückhaft frohen Treue seines eigenen Fühlens.
Zagend, mit leiser Sorge blickte Horst in diesen Überschwang feuriger Gewißheit. Er hatte seinen Argwohn, und er fühlte, daß Enttäuschungen hier ins Leben greifen müßten. In dieses Leben, getragen von dem Selbstvertrauen des Häuptlings, das durch Geschlechter angezüchtet war.
Selbstgewißheit! Und kommt es nicht darauf an? Ist das nicht der Kern alles Wesens, alles Werdens, alles Schaffens! Ist das nicht die lebendige Urkraft, die schließlich ins Ewige uns finden läßt und zu Gott — die Gewißheit, das Gewissen! Beides dasselbe! Des Glaubens Inbegriff! Des Menschen Seele!
War ihm, Horst, genug von dieser Urkraft gegeben, genug zur Führerschaft? Immer wieder die Zweifel. Und die Gefahr des Zerbröckelns. Ja, wir sind mürbe geworden. Verwittert haben uns die Zeitenstürme. Hab ich selbst noch so viel innern Halt, den anderen ein Halt zu sein?
Wie hat es mich geworfen, als die erste Regung zur Fahnenflucht in unsere Reihen brach. War es ein Gefühl eigener Schuld? Hatte ich die Fahne nicht tapfer, nicht stark und treu genug getragen? Waren nicht meine eigenen Gedanken auf der Flucht gewesen? Wie oft hatte ich mich gesehnt — ja gesehnt nach meinen Büchern, nach Forschung, nach Wissenschaft, nach geistigen Fernsichten. Nach Einsamkeit auch, nach den Freuden stiller Entdeckungen, nach den Verzückungen und Verzauberungen in ungestörten Träumen.
Ja — wie an Ketten trug ich oft an meiner Pflicht. Und nur, weil ich selber schwankte und treulos werden konnte, kam dieses Wanken in die Reihe.
Ist es nicht eine erlesene Schar, die auf mich blickt? Ein Vorbild für mich, die ich ihr Vorbild sein soll. Und so ist es recht. Nur so ist die starke Gemeinschaft da. Wir haben sie. Hat Herr von Borkhus sie mit seinen Leuten? Ich fürchte, er träumt zu leicht. Hat er nicht ein reichliches Maß dieser lieben Leichtgläubigkeit, die so kindlich ist und ach, so deutsch!
Wie hat er sich selbst die Mannestreue des alten Strempel herausgeputzt, bei dem aus jeder Pore seines gelben Felles der kalte listige Gelegenheitsmacher schielt. Und richtig, jetzt ist der auch schon als Kronzeuge da.
„Lieber Horst, Sie kennen eigentlich von meinen Leuten nur den alten Strempel. Können Sie sich denken, daß der übermorgen zu mir sagt: ‚Sie müssen sich allein anspannen, ich fahre Sie nicht!‘ Können Sie sich das vorstellen?“ In seinen Blicken war eine unauslöschliche Heiterkeit.
Horst mußte wenigstens soviel sagen: „Meine Vorstellungswelt ist nun mal ein wenig aus dem Gelenk wie die ganze Welt überhaupt —“
„Hier dürfen Sie sie getrost wieder einrenken.“ Er winkte fast mitleidig mit der Hand. „Und nun habe ich eine Bitte an Sie. Mich persönlich berührt ja der angeblich drohende Streik am wenigsten. Aus politischen Gründen aber habe ich die Herren aus dem Umkreis für heute nachmittag zu einer Besprechung gebeten. Sie waren auf der konstitutionellen Versammlung des Arbeiterverbandes — Ihre Eindrücke sind uns von Wert.“
Als Horst nach vollbrachtem Tagwerk in das Beratungszimmer trat, waren die Herren in voller Tätigkeit.
Junkerliches Ungestüm hatte zuerst die Erörterungen verwirrt. Nun war ein parlamentarisches System errichtet. Herr von Trent führte den Vorsitz.
Sein gelbes kränkliches Marquisgesicht blickte mit kummervoll wartenden Augen in die Weite. Aber er hielt die Zügel in kundigen Händen.
Zuerst hatten die Besorgnisse das Wort geführt. Allerdings in halben Tönen. Angstmeierei war gerade in diesem Kreise nicht eben daheim. Bald hatten Eigenwille und eine betonte Sprödigkeit gegen neue soziale Operationen gewonnenes Feld. Vergeblich bemühten sich die Nüchternen und Sachlichen um eine Gegenorganisation der Besitzer. Umsonst brach der Kabelsdorfer als Befürworter eines Landbundes seine letzte Lanze. Formlos, ungepflegt, ein bärtiger Mann mit klugen und warmen braunen Augen. Ein Bürgerlicher und manchem der Junker nicht nach der Mütze. Aber sicher einer von denen mit dem reinsten Gewissen.
„Nehmen Sie es mir nicht übel, meine Herren — von all den Dummheiten, die die Deutschen stammesmäßig begehen — und wir Landleute fühlen uns ja als besonders gute Deutsche — ist die größte die, daß wir von unseren Gegnern nichts lernen. Tun wir nicht und wollen wir nicht. Was erleben wir jetzt hier? Von denen, die sich in unseren Betrieben zum Kampfe gegen uns rüsten? Sie machen das, was das einzig Verständige ist. Müssen wir — wir darum das einzig Unverständige machen? Nur geschlossen können wir der Geschlossenheit begegnen. Aber nein! Wir laufen ihnen zuliebe einzeln im Gelände herum, damit sie uns einzeln zur Strecke bringen und ihr fröhliches Halali haben!“
Der dicke Poggenhagener mit den schiefen Kalmückenaugen, der sticken mußte, wenn er seine Witze nicht loswurde, beugte sich zu seinem Nachbarn, dem Tangentiner. „Es heißt nicht lali, es heißt le lit, das fröhliche“, und er meckerte wie eine Bekassine.
Bei dem überlebenslangen, himmelan vertrockneten Ammoniakiter fand er indessen keine Gegenliebe. Der lachte nicht, denn Lachen war eine Ausgabe. Aber in solchen Unterhaltungen zeigte sich immerhin, wie wenig noch von einer gemeinsamen Aktion die Gemüter band.
Was hier noch an Ängstlichkeit herumkroch, nahm die Maske vor, versteckte sich hinter großen Worten und größeren Gesten. Und gerade die Schlotterhosen, die ganz wenigen, plusterten sich auf zu prunkender Forschheit.
Dies war die Stimmung, in die nun Horst hineingeriet. Lebhaft begrüßte man ihn. Ein Teil von den Herren hatte für das Siedlungswerk auf Betreiben des Herrn von Borkhus opferwillig Beiträge gezeichnet. Alle aber schenkten sie der Siedlung ihr Wohlwollen. In diesem Artikel kannte hier wie anderswo die Freigebigkeit keine Grenzen — nur der Tangentiner hielt auch seine kostenlosen Regungen zu Rate.
Herr von Güldenbek, der Mann der Saatkartoffeln, strich durch seinen grauen, in konservativer Unbeschnittenheit wallenden Vollbart, legte die väterliche Hand auf Horstens Schulter und sprach gewinnend: „Solche Männer wie Sie braucht das Vaterland.“ Und der Nebengedanke war bei ihm wie bei manchem andern: auch wir brauchen Dich, Deine Mannschaft und Eure Maschinengewehre, wenn es hier zum Ausstand und zu Unruhen kommen sollte.
Gleich wurde denn auch wie auf Stichwort der eben ergangene Regierungserlaß über die Waffenablieferung besprochen.
Horst erklärte: „Ich muß die Hände kennen, in die ich meine Waffen liefern soll. Ich kenne diese Hände nicht.“ Da nickten ihm alle lebhaft zu, freudig und beruhigt.
Und dann wurde der sogenannten Regierung aufgespielt. Dies war die Weise, auf die man sich hier verstand. Wie oft hatte man auch dem alten geheiligten Regiment frondiert. Und nun dieses régime de canaille! „Den schiefen Absätzen dieser Usurpatoren den Nacken hinhalten —!“ So sagte Herr von Seddewitz, und es funkelte sein scharfes, abgewetztes Gesicht.
Hoch gingen die Wellen. Teilnahmlos wie all die Stunden schon blieb Herr von Borkhus. Immer wieder waren durch seine tiefen Augen die Schatten gezogen. Dann sprach er leise: „Wie gleichgültig im Grunde, wer da oben sitzt — wer die Satrapen sind über unserem Sklavenvolk.“
Damit ist die große Fuge der deutschen Passion angeschlagen. Und sie zittert durch die Seelen. All diese Männer — ihrem Eigenwillen fehlt es gewiß nicht an Eigennutz. Von größter Unbefangenheit sie alle in der Bejahung ihres Besitzes, ihres Herrentums. Sie können gar nicht aus ihrer Haut. In der sie so grad gewachsen sitzen. Nicht alle haben sie die Hände reingehalten. Aber jeder von ihnen hat dem Vaterlande mit Leib und Leben gedient. Jeder von ihnen ist im Felde gewesen. Kaum einer, der nicht für Deutschland geblutet hat. Der deutsche Klang bebt in jedem Herzen. Selbst in dem, was von dem Tangentiner noch nicht ganz verdorrt ist, brennt es wund und tödlich schmerzhaft von Schande und Ingrimm.
Unerschöpflich Neues trugen sie zusammen von den unaufhörlichen, täglich sich mehrenden Erpressungen, Blutsaugereien, Schändungen und Folterungen an dem wehrlosen deutschen Volk. Wie durch einen Wald rauschte der mächtige Zorn durch die versammelten Männer.
Einer saß stumm, wohl der Jüngste von ihnen. Horst hatte den Namen nicht verstanden. Aufgefallen waren ihm gleich die geradezu klassisch geprägten kraftvollen und edlen Züge des bartlosen Gesichts. Ebenso das wunderbare Ebenmaß des mittelgroßen Wuchses. Wie von Bronze die ganze Gestalt. Aber in den Augen, so fest und hart sie greifen konnten, war doch ein Verlorenes, Zerstörtes. Auch ein Gezeichneter der Zeit. Jetzt, wo ein Nachbar sich laut an ihn wandte, erfuhr Horst, wer er war — Achim von Mönkhov, Frau Tildes Mann. Prüfend gingen die Gedanken von ihm zu ihr.
Nun sprach er. Etwas seltsam Graues, Trockenes, unwillig Starres hatte die Stimme. Wie Asche lag es auf all seinen Worten.
„Größer ist Deutschland niemals gewesen — im Reden. Wie sieht dagegen unser Leben aus. In lauter armselige kleine egozentrische Kreise ist es zerfallen. Von großen Ideen ist nur eine geblieben: das große Einmaleins.“
Die Widersprüche stürzten nur so über ihn. Er blieb unbewegt. „Wollen uns doch nichts vormachen. Es gibt bei uns drei Sorten Menschen. Solche, die sich selbst betrügen, solche, die die anderen betrügen, und solche, die beides tun. Zu welch letzteren neunundneunzigdreiviertel Prozent gehören. Nun wollen wir uns jeder seinen Platz suchen und uns begraben lassen.“
Das alles in dem unerbittlich grauen Ton. War es der Nihilismus einer düsteren Stunde? War es das Weltbild eines erloschenen Lebens?
Herr von Trent, der wie ein müder Marquis aussah, hatte sich erhoben. Behutsam machte er ein paar Schritte — er hatte Beine wie ein Rokokomöbel. Wandernd suchte er nach Worten, die Entrüstung zu beschwören, und er fand sie. „Wir wissen, daß unsere Moral reparaturbedürftig ist. Was die Moral übrigens zu allen Zeiten war — was vielleicht recht eigentlich zum Wesen aller Moral gehört. Gewiß, unser Niveau ist gesunken. Aber die Anständigeren unter uns oder“ — mit einem Zucken des Lids zu Achim hinüber — „die weniger Unanständigen unter uns werden dies Niveau wieder heben. Trotz Ihrer Verneinung, die absolut ist, wenn sie sich auch in der Abstufung hellschwarz, schwarz, dunkelschwarz gefällt. Um des Himmels willen nur hier die Loslösung von dem Losgelösten, dem Absoluten! In der Ethik hat schon immer die Relativitätstheorie gegolten. Und die Besseren unter uns — so sage ich nach wie vor — werden heute mehr als je an einer großen sittlichen Idee ihren Halt und ihren Mittelpunkt haben. An der Idee des Vaterlandes.“
„Und worauf läuft Ihre große sittliche Idee des Vaterlandes hinaus?“ fragte Achim, und die Asche seiner Stimme beizte. „Auf die größte Unsittlichkeit, die Rache.“
Oho, dachte Horst. So ruft sich nun der Nihilismus den höchsten Positivismus zur Hilfe.
Jetzt ließ Herr von Borkhus sich vernehmen. „Die Rache ist mein, spricht der Herr. Gut, ihm wollen wir sie anvertrauen. Er unser Führer! Das Werkzeug seiner Rache sein, mehr wollen wir nicht. Aber Rache — der Herr spricht ja selbst davon. Und wenn wir sie brauchen für unser Leben! Wenn sie unsere Rettung ist! Wenn wir elend verrecken — im Dreck und in Schande — ohne diese befreiende Hilfe! Ein Teil unseres Gottesglaubens ist diese Rache!“
Er hob sich wie ein Priester. Seine Brust keuchte, seine Augen kreisten in Flammen. Dann sank er zurück und blickte wieder dumpf vor sich hin, leidend und matt.
Horst wollte nicht länger schweigen. Doch hielt er sich mit Bedacht in niederer Flugbahn. „Wir haben ein Wort: ‚die Scharte auswetzen‘. Gibt es ein Mannesleben ohne den treibenden Pulsschlag, Erfolg auf einen Mißerfolg zu setzen? Schimpf mit Ehre auszulöschen, Verachtung mit Ruhm? Und wie der Mann, so das Volk. Was ist die Schwungkraft, die die Geschichte der Völker bewegt? Vergeltung! Und immer wieder Vergeltung! Sofern wir überhaupt ein Volk sind, sofern wir nicht außerhalb der Geschichte stehen, wir uns selbst nicht außerhalb der Geschichte stellen — so lange noch der leiseste Hauch eines lebendigen Atemzuges durch dieses Volk geht und noch ein Mannesherz aufzucken läßt, Vergeltung ist der Odem des Lebens! Vergeltung sein Wert und seine Höhe!“
Jetzt brausten die Geister und brausten ihm zu. Nur Achim blickte teilnahmlos und gefroren. Selbst der Tangentiner, der ein wenig abseits mit dem Saatkartoffelbaron der deutschen Seele auf dem Felde der Kartoffelpreisbildung nachzuspüren gedachte, ging steil empor. Wäre Alarm geblasen gegen den Landesfeind, der erste wäre er auf dem Gaul gewesen. Man mochte sagen gegen ihn, was man wollte — aber jeder Zoll seines langen Leibes war Kurage.
Mit diesem Akkord klang die Besprechung aus. Mitteilungen von Horst über die Landarbeiterversammlung wurden nicht mehr verlangt. Zu politischen Entschlüssen war man nicht gekommen und würde man vorerst nicht kommen. Der Entwicklung der Dinge sah man mit geziemendem Männermut entgegen. Abwarten, Teetrinken! — mit diesem deutschen Worte des Heils ging man auseinander.
Horst blieb noch mit Herrn von Borkhus und Achim zusammen.
„Nun ja,“ sagte der alte Herr, „unser Hornburger Schießen müssen wir nun einmal haben. Aber es ist mir lieb, daß ich Sie mit den Herren bekannt machen konnte. Vielleicht wird doch der eine oder andere Hilfe nötig haben. Wenn es ernst wird.“
„Es wird ernst, Vater.“
„Achim —!“ Er hob lächelnd die Hand. Das hieß: ein Schwarzseher wie Du.
„Zum Frühjahr haben wir hier den Ausstand. Wir werden von der Tücke der Bevölkerung was erleben.“
„Sie ist nicht tückisch, mein Junge. Wir haben sie nur nicht immer richtig behandelt.“ Er sprach jetzt sehr schonend und mild mit ihm, wie mit einem Kranken.
Achim war schon nicht mehr bei der Sache. Er ging, sich nach seiner Frau umzusehen. Borkhus sprach mit Horst über ihn.
„Das Herz blutet einem. Was haben Krieg und Frieden aus dem Jungen gemacht. Man spricht manchmal bei mir von Vertrauensseligkeit —“
Horst nickte innerlich dazu.
„Seligkeit — du lieber Gott —! Bei dem Jungen war es Seligkeit! So was von einem frohlockenden Zutrauen zu allem und jedem, das Himmel und Hölle bezwang! Das über jede Enttäuschung hellauf lachte, wie über Scherz und neue Lebenslust. Seine Augen hätten Sie sehen müssen! Und jetzt entfärbt, entseelt zu dieser griesen Kälte. Bleifarben. Und wie sieht es in ihm aus! Zum Heulen!“
Er hielt klagend inne. Horst rüttelte tröstend an ihm. „Ihr Sohn ist jung, er hat seine Tätigkeit, er hat Sie und hat die wundervolle Frau.“
„Das ist ja das Furchtbare. Man kommt nicht mehr zu ihm. Nichts von dem, was ihm lieb war, rührt noch an ihn. In uns allen ist ja etwas in Trümmer gegangen. Aber, daß in ihm nur noch Schutt liegt! Argwohn — Ablehnung — Gleichgültigkeit — eine völlige Gefühlsumnachtung.“
„Ist Herr von Mönkhov schwer verwundet gewesen, schwer verletzt?“
„Seinem Körper ist nichts geschehen. Nicht die Haut ist ihm geritzt. Und er war vorne von Anfang bis zu Ende. Sein Körper — er ist gewachsen wie ein Gott — als ob die Kugeln den wie ein Heiligtum gescheut hätten. Dafür ist ihm nun die Seele in Fetzen gegangen. Die letzten Kämpfe haben ihm den Rest gegeben, da zwischen Aisne und Marne. Wie das Unglück hier herausbrach aus den Wäldern von Villers-Cotterets, das Verhängnis, das Verderben. Er wußte, jetzt ging es um Deutschlands Leben, um Deutschlands Tod. Überladen zum Zerspringen von der ganzen gewaltigen Inbrunst seines letzten Hoffens und Glaubens und Wollens — und da zerriß es in ihm. Das Grauenhafteste hat er erlebt — den Überlauf ganzer Scharen — den Verrat der vielen! Wie ein Irrsinniger hat er vor sich hingelacht — stundenlang. Er hat es gesehen mit eigenen ersterbenden Augen, wie Deutschland erschlagen, wie Deutschland gemeuchelt ward. Dies ist Achims Schicksal.“
Die Männer schwiegen, versunken, vergraben. Ein gut Teil ihres eigenen Lebens war so zerbrochen und verdorben.
„Und nun, Horst, müssen Sie auch noch mehr hören. In der Schlacht war es zum Handgemenge gekommen, mit Amerikanern. Mannschaften zerschossener Tanks. Gewehr und Pistole waren leer. Mit den Fäusten gehen Achim und ein amerikanischer Offizier auf einander los. Einen regelrechten Boxkampf liefern sie sich, in fair play. Inmitten der rasenden Hölle, des Feuerorkans, der tosenden Geiser und Wirbel giftiger Wolken auf der zerwühlten, zerrissenen, brüllenden, verzweifelt ihre Fetzen um sich werfenden Erde. Kämpfen wie auf dem Podium. Angestiert von der verblüfft glotzenden Umgebung. Die Amerikaner haben vielleicht gewettet. Und Achim schlägt den Gegner nieder. Der Amerikaner ist geworfen — aber — es gibt keine Symbole mehr — Amerika wirft uns. Und jetzt passen Sie auf, von diesem sieghaften Zweikampf her hat er einen Lichtschein mitgenommen in seine Dämmerung. Der einzige, den er hat. Und er hütet ihn mit einer Leidenschaft. Er hat von jeher mit Hingabe Sport getrieben, am liebsten den, bei dem es ganz und allein auf die eigenen Glieder ankommt. Im Boxen war er immer ein Meister. Jetzt gibt es kaum für ihn etwas anderes auf der Welt. Sein Tagewerk beginnt mit stundenlangem Training. Immer hat er Besuch von „Professionals“ und von „Amateuren“, mit denen er stundenlang übt. Auch sein Diener — der ihn ein Vermögen kostet — ist ein alter erfahrener Faustkämpfer von Beruf. Seines Geistes Nahrung: die Sportberichte und Sportzeitungen. Für die Wirtschaft bleibt so gut wie nichts übrig. Und — das Leben meiner Tochter können Sie sich vorstellen.“
Frau Tilde mit ihrer zarten Geistigkeit, ihrer stillen Empfindungskraft und Tiefe! Wie vieles von der Klage ihrer Augen, von dem wehen Lächeln um ihren Mund ward Horst verständlich.
„Eine Leidenschaft — wie die Spielerleidenschaft, die auch auf Trümmern wuchert. Und auch unausrottbar ist.“ So schloß Herr von Borkhus, stark bewegt.
Das Ehepaar kam ins Zimmer. Sie wollten gleich nach Mönkhov zurückfahren. Frau Tilde begrüßte Horst in aller Freundschaft. „Es ist mir ein wahrer Trost, daß Vater Sie alle in der Nähe hat. Ihr seid hier am dichtesten bei der Stadt und hier wird es zuerst losgehen.“
Und wieder Herr von Borkhus mit seiner überlegenen Zuversicht: „Kinder, ich rat Euch sehr, an Euch selbst zu denken! Die Ihr mit Eurem Koch eine Brandfackel in diese Welt geworfen habt. Mir unter meinen Leuten kann und wird nichts geschehen.“ Und in seinen Augen strahlte auf, was noch an Licht in ihnen war.
In die deutsche Not jubelte ein früher Frühling hinein. Ein zärtlicher Hauch läutete die Schalmeien der Primeln, der Leberblümchen und Anemonen. Über der Heide in Frohlocken taten die Lerchen ihren Sonnendienst. Knisternde Seide war die Luft. Wer an sie rührte, dem gingen prickelnde Schauer durchs Blut.
Ein Sonntag. Die jungen Siedler zogen nachmittags in die Stadt, auf die Dörfer zum Tanz und suchten sich was zum liebhaben.
Kunz in holdem Ungestüm dunkler Sehnsucht streifte durch die Welt. Ihm war’s, es müßte ihm heut ein Wunder geschehen. Er schritt allein, ohne Muz — auch der war heute auf Frühlingsabenteuer aus. Und nun sang er sich den Knickbusch entlang, der hier zwischen Wiese und Heide lief, träumte sich in Kinderspiele hinein und in Märchen.
So in gedankenlosem Stammeln und Dammeln geriet er auf die Dorfstraße. Und kam an dem Pfarrhausgarten vorüber. Wie er über die Rotdornhecke blickte, sah er etwas, was ihn stillstehen hieß.
Ein kleiner Turnplatz war hier eingerichtet. Eine Mädchengestalt, zum Entzücken geschmeidig, im Turnanzug, hing am Reck. Jetzt machte sie die Schwungstemme, leidlich. Sie war selbst nicht zufrieden und wiederholte die Übung.
Kunz hatte es nicht mehr draußen gelitten. Er war kurzen Fußes durch die Pforte eingetreten, stand schon im Sand der Arena und riet sachverständig, als die ihm abgekehrte zur zweiten Wiederholung sich anschickte: „Das Kreuz mehr durchdrücken. Und den Kopf weiter zurück.“
Sie sah hängend über die Schulter zu ihm hin, gar nicht erschreckt, fast ungestört. Machte den Aufschwung, um nach oben, auf ihre Stange und in die richtige Position gegen Eindringlinge und Unberufene zu gelangen. Setzte sich oben hin, den Arm um den Pfosten, und blickte vernichtend herab auf den Störenfried.
Er hatte geglaubt, ein Kind vor sich zu haben — nun brach er zusammen vor so viel damenhafter Ablehnung und Unnahbarkeit.
Kunz war nur zweimal in seinem immerhin bewegten Leben verlegen gewesen. Dies war der dritte Fall. Und er fragte etwas, wie ein Schuljunge, wußte selbst nicht wonach: ob er hier zum Herrn Pastor käme?
Da oben der geschürzte Mund bewegte sich nicht, die Augen blieben drohend — nur durch das rechte Bein ging ein kurzer Ruck, und die Fußspitze wies den Weg nach rechts.
Kunz wurde ratlos. Ratlosigkeit war ihm das Weltenfernste. So wurde er sinnverwirrt, und seine Haltung zerfiel. Er wollte lachen, aber es wurde nur so ein geohrfeigtes Lächeln, und eine Heftigkeit stieg ihm in die Kehle. So kam es denn stoßend heraus: „Sagen Sie mal, sind Sie stumm? Oder verbergen Sie einen Zungenfehler?“
Nun wurde aus dem eisigen Drohen da oben eine spitze Niederträchtigkeit. „O nein — aber ich kann die dicken Menschen nicht leiden.“
Kunz, der Arme! Dieses war nun tödlich. Hier gab es keine Rettung. Jetzt lag er platt auf der Nase. Ein Kübel Eiswasser war ihm über den Schädel gegossen. Schauernd lief es ihm die Rückenrille hinunter. Bis in Mark und Seele fror es ihn aus. Nützten ihm die verzweifelten Hilferufe seiner Selbstgespräche? Dick — dick! Ich bin nicht dick! Daß ich diesen unglückseligen Kartoffelkopp habe —! Aber meine Glieder — könnt ich die zeigen! Ja — geschlemmt hab ich ja wohl ein wenig — in Wildbraten — gewildertes schlägt besonders gut an — aber dick — um des Himmels willen — dick —! —
Der Mantel ist schuld! Dieser elende Sack, den sein Vetter, der bauchige Generalstrebler, ihm vererbt hat!
Runter mit den Lumpen! Reißt den Mantel ab — wirft die Mütze hin — stürzt sich auf das Reck — nur die eine Wiedergeburt seiner Ehre gibt es — die schnippische Sylphide da oben flattert entsetzt auf und hängt dann bebend an dem einen eng umarmten Pfosten — Kunz hat die Stange ergriffen — schon fliegen die Beine hoch — fliegen zurück — und nun in tadellosem Riesenschwung schlägt der gestreckte Leib Rad durch die Luft — einmal — zweimal — dreimal — viermal —
Da aber, in dem wütenden Eifer, versagen die Hände — sie gleiten von der glatten Stange — in hohem Bogen wird der Körper weit fortgeschleudert und fällt schwer wie ein Klumpen in dem Gesträuch dumpf auf die Erde.
Mit geisterhaften Eulenaugen hockt die Turnerin da oben — wie in eine Vision geschreckt und gebannt — dann gleitet sie zu Boden in die Wirklichkeit — jetzt weiß sie, was geschehen ist — ein Unfall — dem Gestürzten helfen —! —
Sie läuft in das Gebüsch — da sitzt er, mitten in einem dornigen Stachelbeerstrauch — die eine Backe ist blutig geritzt — er fühlt mit den Fingern hin — dann beschmiert er sich lustig indianermäßig das Gesicht mit Kringeln und Schleifen — legt die Arme übereinander wie ein Götzenbild — verbeugt sich im Sitzen vor der scheu sich Nahenden und verkündet hohl: „Mein Name ist Rutenberg.“
Dann lacht er laut und herzhaft mit seinem wunderhübschen Mund.
Da denkt sie, was ist das für ein lieber fröhlich verrückter Junge, und sie lacht zurück. „Haben Sie sich auch nichts getan?“, fragt sie sorgend und hilfsbereit.
Er schüttelt höchst munter den Kopf. „Aber den Seismographen in den Erdbebenwarten habe ich gehörig eins ausgewischt.“
Sein Platz scheint ihm immer noch zu gefallen. Er macht keine Miene, sich zu erheben, und spricht belehrend weiter: „In unserer Reiterhorde war ich wegen meines losen Sitzes berühmt. Jetzt weiß ich doch, daß ich auch im festen Sitz Vorbildliches leiste.“ Und damit versucht er aufzustehen. Es geht langsam, aber dafür tut es weh.
Sie greift zu, ihn zu stützen, da gibt er sich einen gewaltigen Ruck, der ihm durch alle Knochen fährt. Doch damit hat er sich beisammen und ist wieder fest auf den Füßen.
Nun der Sorge um ihn ledig, sieht die Kleine die Stelle sich an, wo er so unsanft den Planeten erschüttert hat. Der Stachelbeerbusch ist heillos verwüstet. Da zieht sich ihr feines Gesicht in die Länge. „Oh, das ist einer von Vaters neuesten und besten — im Jahre 17 gepflanzt, als er auf Urlaub hier war — ein blood hound. Nun müssen wir hin zu ihm und ihm gleich alles sagen. Sonst geht es uns schlecht.“
Wir — und uns — so war die Freundschaft geschlossen zwischen Vita Waermann, dem Pfarrertöchterlein, und Kunz Rutenberg, dem Siedler und Soldaten, dem Wilderer und Turner, der eher die Erde zertrümmerte, als daß er dick sein wollte.
Und nun standen sie vor dem Pastor, einem geraden, schlank gewachsenen, helläugigen Mann, der viel eher soldatisch, als geistlich sich hielt. Er war zuerst als Feldprediger draußen gewesen, dann hatte er als Offizier in der Front gestanden. Jetzt ging er nach schwerer Verwundung am Stock. Erst vor acht Tagen hatte Vita ihn aus dem Genesungsheim abgeholt und seit heute, Sonntag, versah er wieder sein Amt.
Unter den Gottesgelehrten zählte er nicht zu den Gekrönten. Aber in der Obstzucht war er Baas und ein Vorkämpfer für die Fruchtweinkultur als eine fruchtbare Erwerbsquelle auf deutschem Boden. Berühmt war sein eigener Stachelbeerwein, so daß ein zungenfertiger Amtsbruder ihn also gefeiert hatte: „Ein Pastor und ein Wehrmann und auch ein Stachelbeermann.“
Diesen geradezu leidenschaftlich zärtlichen Vater seiner Sträucher mußte man schonend vorbereiten. Er vernahm alle Einzelheiten, wie das junge Freundespaar die Bekanntschaft geschlossen hatte — das Außergewöhnliche sollte seine Vorstellung auflockern für Ungeahntes, Unsägliches. Aber die Katastrophe, die seinen Busch zerschlagen hatte, fuhr ihm doch ins Gekröse.
Spornstreichs stakte er los in den Garten. Die beiden blieben zurück, zwei gescholtene, zitternde Kinder — blieben beieinander, miteinander, als trügen sie beide an der Schuld. Und durch Kunz strömte die Glückseligkeit der Gemeinschaft, die sie auf sich genommen hatte — für ihn.
Der Vater Stachelbeermann kam kopfschüttelnd zurück. „Gerade auf den blood hound.“ Vorwurfsvoll: „Und es ist doch so viel Platz im Garten! Aber, wenn Sie schon eine Sitzgelegenheit in meinen Ribitzeln suchten, warum haben Sie sich nicht lieber dem Schoße der Queen Mary oder der smiling beauty anvertraut?“
Hiermit ging es nun schon schalkhafter zu. Und jetzt flog das letzte des längst schon lächelnden Unmuts davon, und die Gastfreundschaft öffnete völlig und warm dem Besucher, der mit einem Riesenschwung in das Leben des Pfarrhauses sich befördert hatte, die Arme.
Kriegserinnerungen das erste und die leuchtenden Flammen — und dann das würgende Grau der Friedensnot. Und jetzt Glaube und Wille und Gelöbnis. Wir werden sie zerbrechen, unsere Handschellen! Und dann — ein gutes Werk werden unsere freien Hände verrichten — gute deutsche Arbeit werden sie tun! Ja, ihr lieben Feinde Deutschlands — die Zeit kommt — sie kommt, sie kommt, und es fluscht mal wieder!
„Jetzt müssen wir wieder nach einem anderen Katechismus beten“, sagte Pastor Waermann. „Jetzt hol ich mir wieder meinen alten Ernst Moritz Arndt hervor.
„Wer Zwingherrn bekämpft, ist ein heiliger Mann! Wer Übermut steuert, tut Gottes Dienst! Das ist der Krieg, welcher dem Herrn gefällt! Das ist das Blut, dessen Tropfen Gott im Himmel zählt!“ — So der Alte und so jetzt wir Neuen. Dies, dies ist unsere Glaubenslehre. Und keine andere verkündige ich, bis der neue Tag anbricht.“
Kunz hätte ihm um den Hals fallen mögen. Mit großen, glücklichen Augen sitzt er da. Wir haben ihn, den Seelsorger, den wir brauchen! So Gutes ist uns Siedlern beschieden! Und ich habe ihn gefunden — an der Hand des wonnesamsten Mägdeleins. Ich wußte ja, daß mir ein Frühlingswunder geschehen würde! O du gebenedeite, verunglückte Riesenwelle am Reck, die in diesen Lichtkreis mich fliegen ließ. Mich, den Entdecker, mich, den Boten des Heils für die Kameraden.
Vita, jetzt ganz als das Hausmütterchen angetan, das sie in ihrem Hauptberufe war, brachte den Kaffee. Was hat sie für wundervolle Augen, denkt Kunz. Nichts als Augen, Augen das ganze holdselige Gesicht. Graugrün sind sie, wach, hell, groß und weit, und sehen alles, sehen bis auf den Grund. Katzenaugen sind es, die schönsten der Welt.
Wie kräuselt sich dieses rotbraun flammende Haar in Löckchen, in goldigem Flaum um die schmale trotzige Stirn! Wieviel eigenwillige Kraft spannt sich um diese leicht geschwungenen, ein wenig höhnisch geschürzten Lippen.
Sehr ernst und verantwortungsvoll ist jetzt ihr Gesicht, ein wenig altklug wirkt so viel Würde, denn ihre Erscheinung hat immer noch etwas Kindliches trotz ihrer achtzehn Jahre.
Der Vater fährt ihr über die Stirn, die kraushaarige. „Meine Katz im Schürzenlatz! Ist das nun so schlimm?“
„Ach ja, Vater.“
„Dieses „ach ja“ hat es in sich. Sie verwünscht ihr Geschlecht. Als es in den Krieg ging, wollte sie absolut mit. Vierzehn Jahre und ein Mädel. Festbinden mußte man sie.“
„Ich wär da draußen schon was nutz gewesen. Und hätte ich Euch bloß Kugeln in die ersten Reihen getragen. Wie die Johanna Stegen.“
„Ich trau Dir nicht. Du hättest mitgeschossen.“
„Vielleicht.“ Und dann sagte sie: „Nun, das nächste Mal.“
Das nächste Mal. Dieses unheimlich große Wort — in der kindlichen Leichtherzigkeit, die es sprach, war doch der Klang aus tiefster Qual. Die die Mädchenseele schlug, wie die Männerherzen.
Das nächste Mal! Wie ein Denkmal stand vor ihnen dieses Wort. Furchtbar und erhaben. Gebaut aus schwerster Not und düsterster Notwendigkeit und gekrönt mit Flammen.
Lud Uhlenbrook hatte ein Grab geschaufelt. Frühling der Mörder — mit allem, was nur noch wenig Leben hat, macht er ohn Erbarmen kurzen Prozeß.
Auf dem Kirchhof war der Alte mit Lona zusammengetroffen. Sie begleitete ihn nach Hause. Es gab sonst in ihren Gesprächen keine Politik. Aber hier, wo die Luft und alles, was sie atmete, mit Hochspannung geladen war, sprach die Politik von selbst.
„Kommt nun der Streik?“ fragte der Alte.
„Er kommt.“
„Hier auch?“
„Hier zuerst.“
„Und hier haben die Leute es noch am besten.“
„Eben deshalb zuerst hier.“
Da blickte der alte Lud nun doch in dunkle, ihm unbehagliche Gründe, und er schüttelte den Kopf. Aber er rührte nie an anderer Leute Glauben und Tun, und ließ sich selbst nicht daran rühren.
„So viel kann ich Euch sagen, ich mache nicht mit.“
„Lud“ — dies ungleiche Paar nannte sich beim Vornamen und duzte sich — „hier gibt es nur ein entweder oder!“
„Dann also oder.“
„Und damit stehst Du auf der Seite der andern.“
„Ich steh für mich allein.“
„Das gibt es nicht. Ein Allein gibt es nicht. Denn hier ist Krieg, und hier ist Feind und Freund. Du aber bist unser Freund — der Freund der Unterdrückten — Du selbst ein Mißhandelter.“
Sie war nun anders, sie rührte schon an den Glauben anderer mit ihrem Fanatismus, der ganz von selbst Proselyten machen mußte. Und der Hochschwall der Propaganda brach über den Alten herein.
Er schüttelte Schopf und Fell und sprühte den Wasserfall wieder von sich. „Ich hab jetzt ’ne Arbeit, die mir Spaß macht. Und darum bleibe ich bei der Arbeit. Ich zeig den Siedlern, was Torf ist. Und die Jungs mag ich leiden.“
Sie rannte nicht mehr an gegen diesen eigenwilligen Zyklopen. Er hatte seine Höhle, die Einsamkeit. Wenn man ihn störte, kroch er in den Schlund. Aber ihre Wut durfte sie befeuern gegen die Siedler, sie, die gefährlichsten der Gegner, die festesten, die gewappneten und bewehrten.
In der letzten Zusammenkunft, als der Haß gegen diesen Trupp der Reaktion die Gemüter aufwühlte, hatte Genosse Knubart, der lauernd Schläfrige mit der viereckigen Stirn und der sichernden Nase, in seiner lässigen Art bemerkt: „Ihre Burg ist eine Holzbaracke. Und Holz brennt so leicht!“
Seit der Zeit fieberte der Gedanke in ihr: den roten Hahn ihnen aufs Pappdach! Ein paar Handgranaten, geworfen in der Nacht bei Frühlingssturm —! —
Wie standen diese Männer ihr im Wege bei dem Werk ihrer langsamen, kalten Rache an dem Zerstörer ihres Lebens — nicht weniger als bei der großen Tat der Volkserneuerung.
Lud, der gute, fühlte es, wie die giftige Glut wieder in ihr auflohen wollte. Er nahm mit seiner vollen zärtlichen Pranke ihren Arm. „So, Lütt, jetzt kommst Du mit rein, wir kochen uns einen Sonntagsnachmittagskaffee. Und Du läßt Dir vom Moor etwas vormusizieren.“
Als sie beisammensaßen, klopfte es, und Horst trat in die Stube. Der Alte, der ihm zugetan war, hieß ihn herzlich willkommen. So setzte er sich zu ihnen. Zuerst heizten sie mit Torf die Unterhaltung. Horst brachte eine gute Nachricht. Die alte Schlickeysensche Torfmaschine, die lange unbrauchbar gelegen hatte, weil niemand hatte entdecken können, was ihr eigentlich fehlte, war von einem seiner Leute wieder instand gesetzt worden. Jetzt konnten sie also kräftig ins Zeug gehen!
Horst war fröhlich und frisch. Mit einer kleinen bewußten Grausamkeit ließ er diesen Erfolg der Siedlung ausklingen. Er wußte, daß alles, was mit ihr zusammenhing, Lona zuwider war, die abgekehrt und verschlossen dasaß. Mit diesem hochmütigen Gesicht und den in sich gekehrten, den umgekehrten Augen, die er kannte. Sein Frohmut sollte der Abhängigkeit wehren.
Das Weib in ihr hatte längst gespürt, daß sie auf ihn wirkte. Ebensogut empfand sie, wie er jetzt dieser Wirkung widerstrebte. Daß er sich schützen wollte, bestärkte sie im Bewußtsein ihrer Machtmittel. Aber sie war nicht verschlagen, nicht verschmitzt und tückisch genug, um erotische Listen in den politischen Kampf zu tragen. Judithregungen kleineren oder größeren Formats lagen ihrer Natur fern. Ehrlich wie ihr Schmerz um den getöteten Freund, ehrlich wie ihre kommunistische Überzeugung war ihre Feindschaft, ihr Haß, ihre Rachsucht. Vielleicht, daß aus dieser Wahrhaftigkeit die Kraft stammte, der Horst sich nicht entziehen konnte.
Schon war sein Mitleid wieder obenauf, stärker als der Hang, an ihrem Hochmut, dem unleidlichen, sich auszulassen. Und wieder lockten ihn die Geheimnisse ihres Wesens, ihres Lebens, ihres Wirkens.
Heut brech ich den Bann! Ist sie nicht auch ein Mensch, ein Weib, ein junges Weib — mehr als Dogma, als Klage, als Anklage und Rache? Atmet sie nicht den Frühling wie wir? In dieser Breite, die ihre Heimat ist!
Wer kann von der Heimat sich lösen? Niemand, auch sie nicht. Hat etwas die Macht, diesen einen Klang in uns auszulöschen? Nichts auf der Welt, kein Unglaube, kein Glaube, kein Fanatismus in Gedanken und Gefühlen, keine Ekstase, keine Verdumpfung — selbst in unsern Wahnsinn tönt der Klang hinein. Und mag sie noch so gefangen sitzen in ihrem starren System — was sind Mauern für diesen Klang?
Sie ist in der Heimat, die vom Frühling erschauert. Was bleibt bestehen von der Welt, die sie sich aufgebaut hat in der künstlichen Mühsal keuchender Gedanken! Hier ist nun einer, der den Frühling Deiner Heimat mit Dir atmet — er pocht an Deine Verschlossenheit. Wird ihm nicht aufgetan?
Sprichst Du nicht mit deutscher Zunge wie er? Ist nicht in Dir wie in ihm deutsches Leben — ob es an ungleich gestimmte Saiten rührt? Sind nicht beide in Not, er wie Du! Sind beide nicht Suchende, Klimmende, Steigende — wenn auch auf verschiedenen Wegen, wenn für den einen der andere auch in die Irre geht!
Und vor Horst leben die Worte Gisberts auf — was reden wir immer und immer von den Unterschieden! Das Gemeinsame sollen wir suchen, des Gemeinsamen sollen wir uns bewußt sein, immer und immer!
Du sprichst deutsch und ich spreche deutsch — wir sollten nicht miteinander sprechen können? Und Horst richtet das Wort an Lona.
„Kennen Sie unsere Goldberge hier?“
„Ja.“
„Haben Sie sich einmal von da oben die Welt angesehen, jetzt im Frühlingsglanz?“
„Nein.“
„Das sollten Sie tun. Die See — das Dünengelände — die gotischen Türme der Stadt — all die Dörfer, eingebettet in Gärten — ein Schimmer von Grün haucht schon aus dem Grau. Und wie hierher nach Westen das hüglige Feld in die Moorniederung verrinnt — man sieht nicht viel so Schönes in unserm Norden.“
Sie ging artig darauf ein, wenn auch kühl und freudlos. „Damit machen Sie einem beinahe Lust. Leider aber bin ich so einigermaßen landschaftsblind.“
„Das glaube ich nicht.“
„Nicht?“
„Nein. Weil Sie doch in der Musik leben.“
Sie stutzte. Was weißt Du und was willst Du von mir? Dann ging sie den Zusammenhängen in seinen letzten Worten nach.
Horst aber, da er jetzt bei „musikalisch“ war: „Uhlenbrook — Meister — die Goldberge klingen ja — deutlich hab ich das gehört!“ Jungenaugen glänzten dazu, wie voll von leuchtendem Märchenschreck.
„Wenn Sie das gehört haben,“ sagte der Alte, „dann sind Sie auch einer von den Erlesenen.“
„Erlesen? Wozu?“
„Jetzt will ich Euch erzählen, was das mit den Goldbergen ist.“ Wie die Sage saß er in seiner Tabakswolke. „Da liegt ein König begraben, ein Heerkönig, ein Seekönig. Der Mächtigste, den es gegeben hat. Der Reichste an Taten, an Ehren und an Schätzen. Alle Meere hat er befahren, von allen Küsten brachte er Gold und Gut nach Hause. Das deutsche Meer aber war sein Reich, hier durfte niemand fahren ohne seinen Willen. Mehr Jahre hat er gesehen, als die anderen Menschen und war darum auch weiser als sie. Und wie es zum Sterben mit ihm ging, da befahl er, daß alle seine Schätze mit ihm ins Grab gesenkt würden. Schätze darf man erwerben, aber nicht vererben. Er sah seinen Nachfolger — und sah den Verfall seines Reichs. Mit einem Fluch über jede gierige Hand, die an das begrabene Gold rühren würde, streckte er sich auf sein Sterbelager. Denen aber, die nichts für sich selber wollen und begehren, die alles, was sie selber haben und selber sind, dem Volke darbringen, denen klingen die Stimmen aus dem Grunde. Denen singt das versenkte Gold. Ihre reinen Hände sollen es heben, ihnen soll es die Macht mehren, daß sie dem Volke helfen zu alter Herrlichkeit.“
Horst überlief es wie leise zitternde Runen. Lona aber blickte wieder voll Hohn.
„Und das Reich des alten Königs zerfiel. Und das deutsche Meer war nicht mehr deutsch. Sein Nachfolger wollte mit habsüchtigen Händen die Schätze sich heraufholen, da erschlug ihn ein Nebenbuhler. Den aber meuchelte ein anderer. Die Herrlichkeit kam nicht wieder herauf. Weil die Sinne gierig waren und die Hände nicht rein. Und wie um den Kyffhäuser die Raben, fliegen die Raubmöven um diesen Berg. Wenn aber eines Menschen Fuß seine Höhe betritt, zu altheiligen Zeiten, zu Frühlingsanfang, zur Tag- und Nachtgleiche, in der Thomasnacht, der längsten des Jahres, der ersten der wilden Nächte — und es tönt dann das Klingen zu ihm auf, so ergeht an ihn der Ruf. Zum Helfer bist Du erkoren! Bleib getreu und halte Dich bereit!“
Bleib getreu und halte Dich bereit, so klang es nach in Horst. Und ihn störten ganz und gar nicht Lonas hochgezogene Lippen.
Sie schwiegen eine Weile. Jeder blieb bei seinen Gedanken. Das deutsche Meer soll wieder deutsch werden! so flammte und lebte es in Horst.
Jetzt nimmt Lona das Wort. „Es spricht ja wohl so mancherlei für den alten Herrn Deiner Sage. Obwohl sein großartiger Standpunkt: das Gold ist verflucht, stiehl Du also möglich viel für Dich zusammen, damit es den andern nicht schadet — obwohl dieser Standpunkt ein Maß von Edelmut bekundet, wie ihn nur der Kapitalismus aufbringen kann. Im übrigen — warum die Deutung seines Vermächtnisses nun gerade in Patriotismus und in Hurra auslaufen muß? Reine Hände und das Wohl der Gemeinschaft — was heißt das anderes, als daß sich niemand mit eigenem Besitz besudeln soll!“
Über Horst leuchtete eitel Friedfertigkeit. „Ist das nicht das Wundervolle an unseren Sagen, daß sie mehr sind als ihre Deutungen? Daß sie alle beschenken, alle beglücken!“
Lona gab nichts darauf. Sie lehnte sich zurück und sagte dann in ihrer laschen Überlegenheit: „Der eine Gedanke, muß ich ja sagen, macht mir gerade hierbei ganz besonderen Spaß. Wie Ihr Teutonen immer über die Juden herzieht mit ihrem goldenen Kalb. Und über ihre Psalter mit dem Golde aus Reich Arabien. Seht Euch doch einmal Eure eigenen Überlieferungen an. Um was geht es denn bei Euch? Nur und immer! Da ist das Rheingold — da ist der Nibelungenhort. Im Waltarilied — diese begeisternden Kämpfe Eurer Urzeithelden, in denen sie sich frohlockend Arme und Beine glatt mit dem Schwerte abschlagen, um was werden diese Heldenkämpfe geführt? Um den Hunnenschatz, den der edle Walter dem alten Etzel ausgespannt hat. Und dann im ganzen Mittelalter, diese König- und Kaiserkämpfe! Wer den Kronschatz hat, hat auch die Mannentreue. Die Geschichte dieses Buschkleppertums — läuft sie nicht weiter durch die folgenden Jahrhunderte? Und geht es nicht in derselben Tonart fort bis in unsere Tage? Was sagt Ihr dazu, Ihr Weisen aus dem Abendlande? Wie heißt doch Euer Sprichwort? Treu wie Gold!“
Verdrossen winkte sie selber sich ab, und Horst hatte keine Neigung nun groß sein Streitroß aufzuschirren. Wogegen? Gegen eine blendende äußere Dialektik, die an dem tieferen Wesen der Dinge vorbeijongliert?
Er sagte nur ein bedächtiges Wort, das nicht angriff: „Solange das Gold konzentriertes Brot ist —! Und solange der Mensch Brot zum Leben nötig hat —! Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“
Sie wollten beide nicht die Klingen kreuzen. Auch in ihr kam eine Sehnsucht nach Stille auf, eine Lust, sich zu dehnen und die leisen Schwingungen des Frühlings aufzunehmen wie ein streichelndes Heilmittel für die wehen Nerven und das müde Blut.
Lud Uhlenbrook hatte die Blicke auf seinem Moor. Dabei stöhnte er unsäglich. So brüllt nur das Glück. Rehwild zog äsend an dem Waldrande hin. Durch die leichten Zirruswolken streute die Nachmittagssonne wehende Lichter wie Blütenflocken auf den grünlichen Dämmer der erwachenden Gräser. Fröhlich kreisend schwangen sich Kibitze über den Wiesen.
Der Alte paffte seinen Knasterdampf vor sich. Dadurch sah ihm seine Welt noch zauberhafter aus. Mit einer fröhlich herben Absage an die beiden: „Wenn ich dies hier habe — was geht mich das da draußen an! Ich pfeif auf Euren Kram! Schlagt Euch die Köpfe ein, daß ich was zu begraben kriege! Der Moordeubel bin ich, und der Torfdeubel bleib ich und dem lieben Gott sein Lieblingsdeubel dazu! So — und wenn einer gegen mein Moor was sagt —! —“
Lona regte sich. „Ich sag was, Lud Uhlenbrook. Du stehst vor Deinem Moor wie der Ausrufer vor seiner Schaubude. Aber lauter Freud und Wonne ist es wirklich nicht mit ihm. Ich bin da vor kurzem ganz gefährlich in den Sumpf geraten — ein paar Schritte weiter, und Du hättest mich in Deinem Raritätenkabinett gehabt.“
„Ja“ — und nun wurde der Alte großäugig angstvoll und warnte schwer, „wie darfst Du auch weglos auf ihm herumabenteuern!“ Die Pfeife wollte ihm ausgehen.
„Und ganz übel,“ fuhr Lona fort, „ist dieser Fluß, der sich da hindurchwindet, schwarz, träge und drohend. Ein Fluß, der nicht fließt, der tückisch schleicht — er plätschert nicht, er rieselt nicht, er schult nur immer düster nach einem hin. Und seine angefaulten Weiden, denen alle struppigen Haare sich sträuben — menschenfreundlicher machen sie ihn nicht.“
Horst, der ihr mit weiten Wimpern zuhörte: „Und Sie wollen keinen Sinn für Landschaft haben?“
„Höchstens da, wo die Landschaft — für mich so lebhaften Sinn hat. Aus einer Art Notwehr. Ich kann mir nicht helfen, unheimlich ist mir das Moor geworden.“
Der Torfmeister sah ihr durch und durch. „Du hast die Moorangst, Kind! Daß Du es nie ohne mich betrittst! Wer vorm Moore bangt, wird von ihm gelangt!“ Er hatte jetzt etwas Gewaltiges in den Augen. Und seine Worte zwangen.
Halb unwillig sagte Lona: „Wie ein alter Zauberer bist Du.“ Aber ein Nachdenkliches blieb über ihr.
Lona machte sich zum Heimweg fertig. Auch Horst wollte gehen. Heute widerstrebte sie seiner Begleitung nicht.
Erst sprachen sie von dem Alten. Sie hatten Scheu, den neutralen Boden zu verlassen, den einzigen wohl, den es für sie gab. Dann aber wurde Horst mutiger. Er wollte von ihrem Leben wissen. Er fragte.
Sie hatte erst die großen Augen, erstaunt, unwillig. Dann aber — er war ihr nun doch schon in größere Nähe gerückt — dann hörte er von ihr. Daß sie als Schwester im Felde gewesen war, all die Jahre. Hinausgegangen mit dem flammenden deutschen Herzen — heimgekehrt in der Seele den Haß und den Fluch auf den Krieg, auf das nationale Wüten, den nationalen Frevel, daran die Menschheit sich zerreißt und zerfleischt und verblutet.
In wieviel brechende Augen hab ich gesehen, wieviel letzte Worte hab ich gehört! Unwahr ist, was in Euern Büchern steht! Von der Verklärung in Opferwilligkeit! Von dem letzten Licht, dem letzten Gedanken: fürs Vaterland! Nichts hab ich gefunden als Klage, Groll, als Verzweiflung und Verwünschung!
Sie rief es in Ekstase.
Wie hast Du Dich selbst betrogen, dachte Horst. Nur, was Du sehen wolltest, hast Du gesehen! Ich weiß auch von brechenden Augen! Ich weiß auch, wie deutsche Männer gestorben sind! Daß der Tod vorm Feinde ihnen des Lebens Erfüllung war!
Das große Sterben — es war zuviel für Deine Frauenseele. So bist Du verstört, so ist sie irre geworden. Und in Horst schwang das alte Mitleid.
Sie selbst wollte auch jetzt keinen Kampf der Meinungen. Von ihrer eigenen inneren Wandlung sprach sie nun, offen und mitteilsam. Daß alles, was sie an Gottesglauben mit herausgetragen habe, ihr im Felde zertrümmert worden.
Ich konnte einmal beten — ich hatte meine Zweifel und kehrte zur Andacht zurück — dann aber hatte ich nur noch ein Lachen für mein Gebet.
Es war an der Aisne, in der Osterzeit. Unser Feldlazarett war überfüllt — wir betteten eine große Anzahl weniger schwer Verwundeter in der Dorfkirche. Ein paar Operationen waren gemacht. Alle schienen gerettet, alle, die hier lagen, hofften und träumten sich ins volle Leben hinein. Der Ostersonntag. Draußen ein geradezu jubelnder Frühling. Da baten sie mich, ich möchte ihnen doch die Orgel spielen. Ich tat es freudig, ich selbst war dankbar und fromm. Das Auferstehen war in meinen Klängen. Und voll Dankbarkeit und Frömmigkeit war das Gotteshaus. Nie ist reinere Andacht gen Himmel gestiegen. Und plötzlich — in die innigste Feier der Seelen hinein — das Grausigste, das Grausamste an wilder Vernichtung. Ein Volltreffer aus schwerstem Geschütz. Die Decke stürzt ein. Die Hilflosen, Schmerzensreichen, ans Kreuz Geschlagenen werden zerschmettert, verschüttet, zermalmt. Hosianna in der Höhe! Ich mit der Orgel hänge in dem Gebälk. Ich kann mich nicht rühren, kann nicht hinunter. Kann nicht helfen. Und niemand kommt. Die Zeit erstarrt in Grauen. Abenddunkel. Die letzten Schreie sterben, das letzte Röcheln der Gemarterten erlischt. Ich — allein. Und — eine andere geworden —
Sie schwiegen. Worte hatten hier nichts zu sagen.
Verstehen! Das war es, um was Horst im Innersten rang. Und die Frau, die zerwühlte, zerquälte, wurde ihm vertrauter. Ihrer Welt, der fremden, feindlichen, verschloß er sich nicht mehr in eigenem Glauben, eigenem Willen, eigenem Werk.
Sie aber fühlte, daß hier Schranken fielen. Daß es für sie beide, über ihre Gegnerschaft und ihre Gegensätze hinaus, ein Schwingen gab, dem sie nicht mehr widerstrebte. Einen Klang, auf den etwas in ihr lauschen mußte. Also doch etwas Gemeinsames?
Und wohl blinkte es in ihr auf: sind hier nicht die Keime einer Macht? Einer Macht über den Feind? Ihn immer mehr lösen aus dem Selbstgefühl, der Sicherheit seiner feindlichen Überzeugung! Ihn herüber ziehen — ihn gewinnen — ihn bezwingen —
Ein fernes Licht, am fernen Horizont. Aber doch ein Ausblick, ein Ziel — ein Träumen noch — und doch ein ahnungsvolles Hintasten nach der Wirklichkeit, der Erfüllung —
Und wieder ein trotziges Sichzurückziehen. Nichts gibt es zwischen uns! Nichts als den Kampf auf Leben und Tod. Der Du auf der Seite meines Todfeindes stehst. Sein Schützling — und sein Beschützer. Und darum gehaßt von mir, Du wie er!
Und doch wieder das Hinneigen. Und das hingegebene Horchen auf das, was schwang.
Wieder schwieg alles, was streitbar gegen ihn sich regen wollte. Sie vergrub sich wieder in sich selbst, in die eigene Wandlung. Sprach mit einer wehen Offenheit von ihren Kindertagen. Daß sie mit der Orgel groß geworden sei. Wie sie mit der Orgel Gott gefunden habe — den sie mit der Orgel verloren.
Sie wollte heraus, aber sie sank zurück. Und das Entsetzen wühlte sich wieder durch sie hin. „Orgelklänge — des Ewigen Ehre zu loben hat man sie beflügelt — ich hab ihm so meinen Fluch ins Gesicht geschrien! Den Fluch und die Vernichtung! Die Gottesflucherin! Die Gottesmörderin! Nur, wenn ich Dich glaube, lebst Du! Ich glaube Dich nicht, ich glaube Dich nicht! Und damit töte ich Dich! Langsam — quälend — und mit Bedacht —“
Über ihrem Auge lag es wie eine blinde Haut, es flogen ihre Glieder, so fror ihr das Grauen im Gebein. So schüttelte sie der Wahnsinn. So sank sie in die tiefe kalte Nacht.
Horst nahm ihre eisigen Hände. Da wachte sie auf. Und ihn traf ein fast dankbarer Blick. Als wollte ihr einer Hilfe bringen in ihrer furchtbaren Erstorbenheit — als gäbe es für sie Hilfe.
Dann strich sie das Haar so straff aus der Stirn, daß sie schmerzhaft zuckte. Klopfte die beiden Schläfen mit beiden Zeigefingern und blickte jetzt klarer und sprach jetzt still. Mit dämpfender Ironie. „Warum soviel stilistische Erregung! Wenn man innerlich mit sich im reinen ist!“
„Wer ist das! Wann sind wir das! Dies im reinen halte ich meinerseits nun — Verzeihung — für reine Stilistik.“
Sie sieht ihn fest an. „Und doch, der große Gotteskünder, auf den Ihre Welt eingeschworen ist, fordert nicht gerade er das Unbedingte? Immer hat mich dieses „Ja, ja — nein, nein“ erschreckt. Das Grausamste, was es gibt. Haben wir nicht im Grunde ein Recht auf Zweifel, auf Abwege, auf Umwege, auf Irrtümer und Kämpfe?“
„Wir habens! Und darum gibt es, solange Sie leben, auch für Sie keine religiöse Totenstarre.“
Zu dem Wort hob sie die Lippen wie zu einem Heiltrank. Aber dann verschloß sie sich wieder, lehnte Horst ab, ging zu ihrer Musik und fand eine müde Ruhe. „Wer hat die Musik die Kunst der Erinnerung genannt? Und soll die Erinnerung selbst nicht Kunst sein? Erhaben ob dem Geschehenen? Jenseits der Erschütterungen? So hab ich doch auch längst wieder die Orgel spielen können. Es war zuletzt ganz Spiel um des Spieles willen. Und die Töne waren über dem Leben.“
Horst mußte denken, ob Du nicht so wieder heimfindest?
Er sprach dann von sich selbst, was ihm das Orgelspiel immer gewesen war. Im Schatten der mächtigsten Kirche einer alten Hansestadt steht das Wohnhaus seiner Kindheit. Gedämpfte Orgelklänge begleiteten seine ersten Träume. Was seine Jugend ersehnte, was durch seine junge Seele stürmte und brauste, jeder Brand, jede Inbrunst seines Herzens — alles zitterte und lebte von dem Orgelklang, alles war von ihm durchwebt, von ihm gehalten und geweiht von ihm.
„Für mich ist das Orgelspiel Heimat. Und Heimweh.“ Da sah sie ihn groß an, und ihre Augen verstanden ihn.
Und es bebte in Horst, als er sie bat: „Darf ich Sie nicht einmal Orgel spielen hören?“
Sie zuckte zusammen, von der persönlichen Berührung in diesem Wunsche. Er und sie — zu meiden hatten sie sich, sich zu bekämpfen, sich zu vernichten.
Ein Waffenstillstand? Mit Orgelmusik?
War nicht die Fremdheit, die Feindschaft von ihnen abgefallen? Wo sie so miteinander sprachen, hatte sich nicht fast ein Vertrautes eingestellt?
Und sie gab die Antwort auf seine Bitte. „Ja, wenn sie mich hier noch in die Kirche ließen!“ Dann erzählte sie: mit dem alten weißhaarigen Organisten von Sankt Nikolai wäre sie gut Freund. Er hätte ihr mehrmals die Schlüssel zur Kirche gegeben. Die Orgel wäre ein vorzügliches Werk von dem alten Zacharias Hildebrand.
„Und jetzt?“
„Jetzt hat die Geistlichkeit Einspruch erhoben. Sie verteidigt, der Zeit zum Trotz, mit achtbarem Mut ihre Gotteshäuser. Ich darf mit meinen umstürzlerischen Händen das heilige Instrument nicht mehr berühren.“
„Sie sollen diese Ihre hohen Stunden wiederhaben. Ich werde mich dafür einsetzen, daß Sie wieder Orgel spielen können. Und zur Belohnung darf ich Ihnen zuhören, nicht wahr?“
Er hielt ihr die Hand hin, sie schlug ein. Und so trennten sie sich.
Was war geschehen? Zwei Menschen, die das Leben zum Kampfe aufgeboten hatte, die ein Vernichtungskrieg gegeneinander entflammte, die beiden hatten eine Stunde des Friedens, der Gemeinschaft gefunden. Sie hatten ausgeruht ineinander. Sie hatten sich beide beschenken können. Und jetzt?
Jeder ging wieder zurück in seine Schlachtreihe. Jeder nahm wieder den Platz ein in seiner Front. Nur, daß sie beide das stille Übereinkommen geleitete, dieses Beisammensein würde sich wiederholen. Wieder würden sie denselben stillen Weg gehen und aufsteigen zu derselben sanft belichteten Anhöhe, die über den Wolken des Tages lag.
Den Feind verstehen, heißt die Welt begreifen.
Wie lange aber, wie lange war ihnen die Nähe beschieden? Würde der Krieg ihnen nicht bald genug diesen friedlichen Hang verwüsten?
Oder — gab es hier etwas zu retten für sie beide? Etwas, was mehr war als die Zwietracht ihrer Gedanken, was über ihrer Feindschaft war und ihrem Kampf?
Sie trugen beide an dem Druck ihrer Hände, mit dem sie voneinander geschieden waren. —
Zwei Einsame saßen in der Baracke und hüteten das Haus. Dankwart Hamerslag arbeitete an seinen Modellen, Gust Elbenfried forschte in der Schrift. Auch hier war im Schaffen, im Suchen, im Sehnen ein Auferstehen.
Einsam auch, ein Schwebender, zog Gisbert durch die Frühlingsheiligkeit. Gen Osten pilgerte er — da lag Mönkhov. Die Rhythmen der schönen, tönenden See begleiteten seine Schritte. In den Dünen machte er Rast, auf dem höchsten Gipfel schlug er seinen Thron auf, den Thron seiner Sehnsucht.
Unverwandt schauten seine Blicke nach Osten. Ganz unkörperlich seine Sehnsucht, nicht einmal das Bild der Ersehnten nahm Gestalt an. Jenseits von der Form blieb alles. Ein Lichtnebel die Welt, ein webender Glanz. Und in ihm atmete das Glück.
Daß Du lebst! Und daß ich weiß von Deinem Leben! Was will ich mehr? Was brauche ich mehr? Ich fühle Deine Nähe, durchleuchtet bin ich von der seligen Sicherheit meiner Habe. Wer kann mir von ihr etwas rauben? Wie reich bin ich und wie stark!
Du bist die Geliebte meiner Seele. Nicht treibt es mich, mit den Blicken Dich zu fassen, das Auge in Dein Auge zu legen, mit Deiner Stimme mein Ohr zu füllen, Deine Finger mit der Hand zu umspannen. Nur wissen will ich Dich, nur wissen, daß Du bist, nur das Glück fühlen, daß Du lebst!
Rühren Worte an die Herrlichkeit dieses Besitzes? Nicht einmal Gedanken. Über allem Sagen und Fragen, wortlos, gedankenlos ein sinnenfreies Schwimmen im Himmelsraum, ein Ertrinken in Licht —
So saß Gisbert in starrer Entrücktheit ein göttlich Entschlafener auf der Dünenhöhe, dieweil über die Meerflut hin der junge Frühling schauerte.
Erst die flüsternde Dämmerung weckte ihn aus seinem seligen Schlaf. Und nun schlich es doch von Frühlingsangst in seine Jugend, seine junge Jugend. Was fing so an zu singen in seinem Blut — leise, leise und sang doch immerfort.
Und ein Taumeln, da er sich erhoben hatte, ward sein Schreiten, das nach Osten ging — wo er doch westwärts wollte, nach seiner Arbeitsstatt, der Baracke. Wie er sich umwandte, keuchte er, beladen auch er von der Süße und Schwere des Frühlings.
Die Arbeit! Die Arbeit auch seine Zuflucht. Ihr mußte alles zum besten dienen, alles Fühlen, alle Andacht, aller Kult, auch von Frühling und Frau — alles mußte einmünden und aufgehen in den Gottesdienst der deutschen Arbeit.
Die Ziegelei war im Betrieb. Der erste Ziegelstein war gebrannt. Wie eine Erstgeburt wurde er betrachtet und gefeiert, wie ein Täufling ging er von Hand zu Hand. Eine helle Freude gab das und ein strammes Hurra — Muz kreiste singend um sich selbst und biß sich in den Schwanz, daß die Haare stoben.
Bauen, bauen — war jetzt Losung und Feldgeschrei. In diesem Sommer noch sollte das erste Haus unter Dach kommen. Für das Fundament galt es, Findlingsblöcke zu sprengen, die reichlich im Gelände lagen. So erfrischte und befeuerte eine Tätigkeit die andere. Im Siedlerhaus war frohmütiges Wesen.
Dankwart hatte das Modell einer Mühle konstruiert, die die Kraft des Windes in Akkumulatoren aufspeichern sollte. Er hoffte auf ein Patent, das die Finanzen der Siedlung stärken würde. Mit denen stand es nicht zum besten. Aber auch die Sorgenfalten Mündners, ihres Rechnungsrats, bügelte die Frühlingssonne aus.
Die Sprengschüsse in der Felshalde lockten ein paar scheue Gestalten auf die Höhen — Müßiggänger, Beobachter? Das Knallen war ihnen nicht behaglich, Ursache und Zweck schienen sie nicht völlig zu beruhigen.
„Was sind das da oben für lauernde Vögel?“ fragte Kunz. „Was bedeutet ihr Erscheinen! Ich schließe auf Sturm.“
Und es ballten sich die Wolken. Die Provinzhauptstadt entsandte ihre „Agitatoren“ und „Organisatoren“. Jetzt, wo es mit allen Händen an die Frühjahrsbestellung gehen sollte, ward gebohrt und gewühlt. Der Landarbeiterstreik kam ins Rollen.
Immer noch hatte Herr von Borkhus sein überlegen gläubiges Lächeln. Seine Leute waren wie immer. Still, gehorsam — gehalten, zugeriegelt und ducknackig. Wär das nicht ihre Art gewesen, hätte es Verdacht wecken können. Aber so —! —
Da tritt eines Morgens sein langer, straffsehniger Inspektor bei ihm ein. Ein Herr sei unten. Einer von den Roten offenbar. Er wolle mit Herrn von Borkhus über die Lohnverhältnisse in Moorhof sprechen.
„Was? Der Hetzer mit mir — über die Lohnverhältnisse meiner Leute? Sagen Sie dem Herrn, daß ich mit meinen Leuten über meine und ihre Angelegenheiten selber zu sprechen pflegte. Daß ich mir seine Vermittlung verbäte. Daß ich ihn ersuchte, meinen Hof — nein, meinen Gutsbezirk sofort zu verlassen! Aber sofort!“
Schnaubend geht der Baron im Zimmer auf und ab. Der Inspektor setzt noch seinen eigenen Trumpf auf die Bestellung. Herr Knubart — dies ist der abgewiesene Besucher — zieht sich wohl ingrimmig vom Hofe zurück, auf dem die Leute gerade zur Mittagspause sich befinden. Aber von ihnen begleitet, macht er auf der Dorfstraße vor dem Hoftor halt, lehnt sich an die Mauer und spricht zu den Umstehenden mit einer Ruhe, in der es höhnisch und boshaft brodelt: „Euer Herr und Gebieter hat mich des Landes verwiesen. Wie es bei Herrn und Gebietern so Mode ist, wird er jetzt, wo ich hierbleibe, wohl die Hunde auf mich hetzen.“
Er kennt das Volk. Er kennt die springenden Funken. In den Jungen flammt es wild: „dat sall he maken!“ Die Alten blicken düster und dumpf, auch in ihnen schwelt es.
„Vielleicht zeigt der Herr Baron mir aber,“ so fährt der Sprecher fort, „wie ich Euch besuchen kann, ohne den Grund und Boden, den er sein Eigen nennt, zu betreten. Oder darf keiner zu Euch kommen, ohne seinen Willen? Seid Ihr Eingesperrte! Seid Ihr Sträflinge!“
„Dat wier noch beder!“ Hier schreit etwas auf.
„Sein Grund und Boden. Auf dem stehen wir ja allerdings. Und daran ist nichts zu ändern. Wenn Ihr nichts daran ändert.“
Da ist er wieder, der große, berauschende Fernblick. Die Sinne taumeln. Und das Feld ist wohl bereitet, als der Baron jetzt mit dem Inspektor hier draußen erscheint.
„Ich dulde es nicht,“ so tritt er dem Führer entgegen, der ihn blaß, aber in eiskalter Gelassenheit erwartet, „ich dulde es nicht, daß Sie hier auf meinem Gutsboden mir meine Leute aufputschen! Sie werden sich auf der Stelle entfernen.“
„Ich werde es, sobald die Leute sich nicht mehr mit mir zu unterhalten wünschen. Wir befinden uns hier auf einer öffentlichen Straße —“
„Über die ich aber die Polizeigewalt habe! Und die ich zu politischen Hetzereien und zu politischen Ansammlungen nicht mißbrauchen lasse!“
„Von politischer Versammlung ist mir nichts bekannt.“ Und jetzt gab er der Sache die gehörige Wendung. „Wollt Ihr Leute, daß ich, der ich Euer Gast bin und Euch meinen Rat erteilen möchte, noch mit Euch zusammenbleibe —?“ —
„Ja! Ja! Hierbleiben! Wi sünd noch nich farig!“
Herr von Borkhus hatte das Spiel verloren. Alles krampfte sich in ihm zusammen — er konnte nicht auf die Leute einreden, konnte die alten Bande nicht schürzen, konnte nicht um ihre Seelen werben — auch wenn sein Stolz es nicht verschmäht hätte, die Sprache hätte ihm versagt.
Aber, daß es um ihre Seelen zu werben galt — gegen den Fremden, den Volksverführer — daß seine Mannen von ihm abfallen wollten — wie hatte er auf ihre Treue gepocht vor sich und den andern — wie hatte er eine Welt aufgebaut auf dieser Treue — nun lag diese Welt in Trümmern.
Der Inspektor aber — ihm dankte der Herr einen großen Teil der Abtrünnigkeit seiner Leute — wollte die Karre nicht im Dreck stehen lassen. Hier konnte nur ein Lachen helfen. Und er rief grinsend: „Volksbelustigung! Wanderprediger! Kurpfuscher! Anreißer und Hausierer gehören auf die Landstraße! Unsere Leute wissen schon, was sie von dem Schwindel zu halten haben.“
Er führte mit heldenhafter Miene den Baron, der mühsam sich aufstützte, nach dem Herrenhaus zurück. Die anderen fühlten den Sieg. Das erhitzte ihnen das Blut. Knubart aber wußte, daß er das Eisen zu schmieden hatte. Und er schwang den Hammer.
Nach einer Viertelstunde hatte er sie soweit. Sie faßten den Beschluß — die paar Alten, die Scheuen oder Hartnäckigen wurden verängstigt oder überrannt — zwei sollten als Abordnung zu dem Gutsherrn gehen und verlangen, daß er Knubart als ihren Vertrauensmann empfinge und mit ihm die Verhandlung führte. Weigerte er sich: Ausstand mit dem Glockenschlag!
Und so geschah es. Die Abordnung, zwei von den jüngsten Schreiern, flog hinaus, am Nachmittag ging niemand mehr zur Arbeit.
Herr von Borkhus saß allein und grübelte dumpf vor sich hin. Die wirtschaftlichen Gedanken, mit denen der Inspektor ihn überschüttete, hatte er von sich getan. Seinem Leben hing er nach.
Was war ihm noch geblieben? Das Vaterland in Schutt gelegt, und jetzt sein eigenes Haus, das Reich seines eigenen Schaffens unterhöhlt und im Verfall. Ein Krüppel war er! Die Arme, die ach so müden und doch immer noch hoffnungsvollen — waren sie ihm nicht glatt vom Leibe gehauen! Ein Stumpf war er, nutzlos — nur daß das Herz noch in ihm schlug, und in dem Herz schlug der tödliche Gram.
Und wenn er nicht so ein Tor gewesen wäre! Ein Narr! Ein Kinderspott! „Meine Leute! Wie verwachsen sind sie mit mir!“ Und nun dieser hergelaufene Fremde, dieser kaltäugige, kaltschnäuzige Gesell, lehnt sich an die Hofmauer, und von oben hin zieht er all die Männer an der Nase zu sich her. Läßt sie tanzen, wie er pfeift. Alle, all die Getreuen ihres Herrn!
Nach Horst, dem jungen Freunde, ruft seine Seele. Vor dem hat er am meisten sich gerühmt. Aber der ist ihm gut gesonnen, vor dem braucht er sich nicht zu schämen.
Horst findet Strempel, den schrägäugigen, bei dem Baron. Mit seinem „komplett“ hat er aufs neue der Meinung und dem Willen des Herrn sich zugeschworen. Eine kleine Genugtuung ist das. Und die Dumpfheit ist wenigstens im weichen. Horst aber findet, daß in den schiefen Lidern und all den Falten des verkniffenen Gesichtes etwas lauert. Darf er es sagen?
Die Herren sitzen beisammen. „Ja, Horst, ich gehöre nicht mehr in die Zeit. Abgetan — spurlos. Mitleidlos. Nun selbst zum Schutt, zu den Scherben geworfen.“
Horst kam von der Zyklopenarbeit des Felsenrückens. Seine Muskeln zitterten. Sie wußten von Männerkraft und Männerglauben.
„Ein glatter Überfall ist dies. Krieg um des Krieges willen. Die Verständigung planmäßig hintertrieben. Sie wollen den Bruderkampf. Wir müssen ihnen das Handwerk legen.“
Auch hier gelte es, ein Beispiel zu liefern! Und den Arbeiterführern, die die Welt unter sich zu verteilen anfingen, sollte denn doch um ihre Gottähnlichkeit bange werden.
Horst stellte dem Baron seine Siedler als Nothelfer zur Verfügung. Alle würden sie Hand anlegen, die meisten von ihnen wären mit der Landwirtschaft vertraut. Die Frühjahrsarbeit sollte weitergehen — und lange Gesichter würden ihr zuschauen!
Und in die großen schweren Augen des Barons kehrte ein Leuchten zurück, abendlich und weh, aber sie hatten doch wieder lebendigen Schein. Die alte Kampfnatur reckte sich in die Höhe. Er gab als Herr seine Anordnungen für den folgenden Tag.
Horst brachte in seiner Körperschaft die Angelegenheit zur Sprache. Helle Hilfsbereitschaft leuchtete auf. Nur in Mulitz, dem Maurer, und in Metzling regten sich genossenschaftliche Widerstände. Aber die Einmütigkeit verschlang sie. Schon in der Nacht fanden die ersten Siedler auf dem Hof sich ein, das Vieh zu besorgen. Mit dem Morgengrauen war die Mannschaft auf den Kartoffeläckern. Die Pflanzmaschinen waren in Betrieb gesetzt, fröhlich ging die Arbeit von statten. Am Wegrand zeigten sich verdrossene und drohende Gesichter. Streikende Landarbeiter, denen ihre Macht aus den Händen geschlagen war.
Kunz sang ihnen lustige Kartoffellieder vor. Wie Knollen flogen die knolligen Reime ihnen um die Ohren. Wütend schlichen sie beiseite.
Dann rotteten sie sich zu Hauf. Den Siedlern, diesen „gottverdammten Hunden“ sollte es ans Leder gehen. Die Hitzigsten wollten auf der Stelle gegen sie losbrechen. Den Bedächtigen gelang es, den Sturm zu beschwören. Aber am Abend, in der Dunkelheit, sollte es den Heimkehrenden eingetränkt werden! Daß sie das Wiederkommen vergäßen!
Horst hatte die Augen und Ohren überall. Er ahnte nichts Gutes. Wilde Drohworte flogen ihnen zu. Er mußte auch um die Baracke sorgen. Ein „giftiges Geschwür“ hatte sie einer genannt, tobend mit geiferndem Mund — ein Geschwür, das „ausgebrannt“ werden müßte!
Die wachsende Wut verhieß auch dem Hof übles für die Nacht. Da bestimmte Horst, daß die Maschinengewehre hervorgeholt würden. Zwei kamen nach dem Gut, zwei wurden vor der Baracke aufgestellt. Die Arbeiter schäumten.
Die Siedler waren bewaffnet, als sie abends heimzogen. In der Dämmerung, aus dem Knickbusch wurden sie beschossen. Kunz, der den Zug führte, ließ sofort das Feuer erwidern, dann den Busch stürmen. Die Meuchler hatten sich in dem Dunkel zerstreut. Von ein paar Streifschüssen war Blut geflossen. Das Blut gab jetzt dem Groll die Überhand und der Kampfbegier.
Gisbert war mit einem Schutztrupp auf dem Hofe zurückgeblieben. Verdächtige Gestalten schlichen um die Mauer. Dankwart fand sich ein und richtete vor dem Maschinengebäude aus altem Material einen Scheinwerfer her. Es war Krieg.
Ruhig verliefen die Nachtstunden. Die Mannschaft wurde schläfrig, da es auf den Morgen zuging. Der Himmel sternenlos, dunstig die Luft und schwül, unheimlich warm für die Jahreszeit. Kein Hauch regte sich.
Da zuckt etwas durch die Nacht. Ein leichter Windstoß. Tastend, wie fragend. Und wieder ein leiser Ruck. Und dann ein kurzes Schnauben. Und wieder Stille. Und dann holt der Wind tief Atem, und nun pustet er vor sich hin. Erst noch gemächlich, wie zum Spaß und wie für sich selber. Dann aber bläst er mit voller Lunge, daß auch die andern was haben.
Noch ist es dunkel, noch wird er des Dunstes und der Wolken nicht Herr. Aber der Widerstand reizt ihn und jetzt faucht er zornig sie an. Ein junger Frühlingssturm braust in die Welt.
Da — ein Bersten — ein Krachen — als wenn Granaten splittern — was ist es, das sein Ungestüm zerbricht? Ist es an den Gebäuden, ist es an den Bäumen des Parkes?
Herrgott! Flammen schlagen auf! Da auf dem Strohdach der Scheune! Es sind wirklich Granaten gewesen.
„Feuer!“ brüllt der Ruf. Alles ist gleich auf den Beinen. Nach dem Spritzenhaus!
In fressenden Streifen peitscht der Wind die Glut über das Dach.
Der Inspektor, halb angezogen, ist zur Stelle. Herr von Borkhus erscheint am Fenster — hinkt eiligst zum Hof hinunter — der Diener, im Hemd, folgt mit den Kleidern — notdürftig zieht der Herr sich an.
Der Diener hat das Feuerhorn von der Wand im Flur gerissen. Nun bläst er von der Schwelle in die Nacht — immer im weißen wehenden Hemd — wie einer der Cherubim anzusehen.
In der Baracke hören sie den Ruf, der Torfmeister hört ihn, durch die Dorfstraße wälzt sich der Schall.
Helfer kommen. Die Spritze ist am Werk. Der Inspektor befiehlt.
In wilder Arbeit — all die rotbegluteten Gestalten — die feurigen Gesichter verzerrt in fiebernder Mühsal — das Scheunendach eine prasselnde Flamme — ganze Bündel Feuer reißt der Wind ihm aus — und streut sie auf die Ställe — die gilt es zu retten, auf ihre Dächer den Wasserstrahl! Pumpen! Pumpen!
Und das Vieh in Sicherheit bringen!
Wenn nur der Sturm nicht so mit Flugfeuer wütete.
Ungebärdig die Tiere. Die Pferde keilen und steigen. Angeschirrt sind sie, daß man sie halten kann. Wie die Wahnsinnigen toben sie in der Sturmflut des Lichtes und der Lohe, reißen an den Zügeln, wollen zurück in den Stall. Wie soll man sie bändigen?
Und der Sturm peitscht weiter die Feuer in fliegenden Fetzen —
Pumpen! Sie pumpen sich die Seele aus dem Leib.
Der Pferdestall ist der Scheune am nächsten. Schon siedeln sich Feuerkreise an auf seinem Dach. Wie lange noch wird der Strahl sie austilgen können? Das Wasser verdunstet im Gluthauch.
Und gewaltiger wird der Höllenschlund der brennenden Scheuer. Feuerwolken wallen aus ihr empor. Durch die glühenden leckenden Sparren. Das Getreide ist in Brand geraten und ballt und wirbelt seine Lohe nach oben. Wie soll man den Pferdestall schützen gegen diesen Orkan von fegenden Gluten?
Männer sind aufs Dach gestiegen — der heilige Josef sitzt zu oberst. Ein Junge ist der Handlanger. Gewandt wie ein Kletteraffe. Eimer werden gereicht. Sie gießen und gießen. Gießen sich selbst Wasser über den Kopf, über den Leib. Unerträglich ist die Hitze.
Sie müssen hinunter. Der Junge will nicht. Herunterzerren müssen sie ihn. Nun taumeln sie auf den Boden, ausgemergelt, welk, kraftlos, verdorrt. Auch der Stall ist verloren.
Die hellen Flammen sitzen auf dem Dach und die Männer pumpen, pumpen.
Ist hier nicht alles Tun umsonst? Gegen Sturm und Feuer im Bunde? Der Pferdestall — er wird das Feuer in den Schafstall weitergeben — von dem brausen die Flammen zum Kuhstall hinüber — und diesem einen großen Meer von fressenden Gluten — wird das Herrenhaus ihm widerstehen? Die Vernichtung bricht herein über Moorhof.
Herr von Borkhus steht selbst an der Pumpe — auch der Torfmeister ist da — auch der lahme Pastor Waermann. Man fragt nicht nacheinander, man sieht sich kaum. Man arbeitet nur — man pumpt und pumpt —
Keiner auch spricht ein Wort, mit den keuchenden, ausgedörrten Lippen. Nur kurze, trockene Kommandos des Inspektors schallen, der als Brandmeister waltet.
Jetzt — ein krachendes Getöse — das Dach der Scheune bricht zusammen — einen Höllentanz vollführen die aufgestöberten, befreiten Gluten in der tosenden Luft —
Zerstörung — unaufhaltsame — zu schwach sind sie, zu wenig — kommt keine Hilfe — von den andern Gütern — von der Stadt?
Mehr Spritzen werden gebraucht. Weithin sichtbar das Feuer! Viele Meilen in der Runde! Aber auf den Gütern — auch da wird gestreikt — sind da die Mannschaften zur Stelle? Wagen es die Herren, ihre Feuerspritzen fortzuschicken? Droht nicht auch ihnen der rote Hahn? Der Farbenbruder, der Parteigänger und Verbündete der roten Gesellen?
Hufschläge auf dem Pflaster des Hofes — ist das die fremde Hilfe? Nein — Pferde, die sich losgerissen haben — sie stürmen, voran ein mächtiger Fuchs, hinein in den brennenden Stall.
O Grauen! Die unglückseligen Geschöpfe! Es wogt durch die Männerreihen! Vielleicht ist es noch nicht zu spät —
Zwei Männer stürzen den Tieren nach. Nasse, wollene Halstücher um den Kopf geschlungen. Man kennt sie nicht gleich. Alle starren sie, von Grauen festgebannt.
Jetzt heißt es: Gisbert und der heilige Josef —
Auch zwei Menschen in dem brennenden Gebäude! Sie pumpen fieberhaft — die Augen quellen ihnen aus den Höhlen — die Gesichter sind rauchgeschwärzt — wie büßende Dämonen sehen sie aus, wie verdammte Seelen —
Und starren alle auf die Tür des brennenden Stalles. Da — ein Paar Tiere werden hinausgejagt — ein Paar hinausgeführt von den beiden Männern, die sich nicht auf den Füßen halten — sie brechen zusammen — die Tiere haben sich losgerissen — sie stürmen im Kreise und dann mit gesträubten Mähnen und selbst feuerschnaubend hinweg über die beiden hingesunkenen Männer wieder hinein in die Tür, die schon anfängt, Feuer zu speien — wiehernd hinein in den Flammentod.
Jetzt sind Helfer bei den liegenden, überrannten, zertretenen Gefährten. Gust Elbenfried steht mühsam auf — aber Gisbert — was ist mit Gisbert? Aus tiefer Kopfwunde blutet er und ist besinnungslos.
Horst hält seinen Kopf. „Gisbert — Du Freund aller Kreatur — Du lieber, armer Junge — und immer unser Sorgenkind —“ —
Sie tragen ihn ins Haus. Ein Sanitäter verbindet ihn. Die Wunde ist böse.
Ein Arzt muß her zu meinem Jungen! Mag hier der Plunder verbrennen! Die Häuser — das Vieh! Um Gisbert geht es!
Horst holt sich ein Pferd und jagt in die Stadt. An den Goldbergen galoppiert er vorüber. Zuschauer stehen auf den Höhen. Feindlich gesinnt, da sie nicht helfen. Voll böser Gedanken, mit Verwünschungen.
Dort auf dem einsamen Hünengrab, dem Hügel abseits, eine einzige Frauengestalt — dunkel — fahl beleuchtet von der fernen Feuersbrunst. Kauernd, vornübergebeugt, mit all ihren Sinnen, all ihrem Willen schürend in dem Feuerwerk der Vernichtung. Wie der böse Geist des nächtigen Unheils.
Vorüber! Was ist ihm das Weib! Nicht sich mit Gedanken beladen! Leicht und schnell in die Stadt — und mit Hilfe zurück zum Jungen. Nur der — nur der!
Der Gaul ist verstört von der Feuersbrunst — so unruhig — nur ein mächtiges Nervenbündel — und er selbst — auch ihm zucken alle Fasern — sich zusammenhalten — sich und das Tier — —
*
Und jetzt auf dem Hof — da Gisberts Blut strömte und die Pferde sich hinopferten — als wäre das Schicksal versöhnt — ein Wunder geschieht — die Flammen brausen nicht mehr vorwärts — sie steigen himmelan — sie wenden sich — der Wind hat sich gedreht — ein großes, tiefes, freies Atmen geht durch all die stickenden Männerlungen — beschworen das Unglück — gerettet — gerettet —
Nun donnern Wagen den Hof herauf. Die Feuerwehr aus der Stadt —
Sie ist willkommen. Ablösung ist not. Und der Brand ist noch längst nicht erloschen.
Auf der Diele des Herrenhauses ist ein Büfett hergerichtet. Hier werden jetzt Stärkungen ausgeschenkt. Strempel ist der Marketender und besser hier am Platz als da draußen.
Jetzt, wo die Gefahr bewältigt ist, kann der Baron als Wirt die Ehren machen. Noch fiebernd von dem Kampf, geschwärzt wie all die Kampfgenossen, gehoben durch die Gemeinschaft über alle Gedankennot. Er kippt mit dem Torfmeister einen kräftigen Korn. Und fast fröhlich bebt ihm der Sinn, als der Alte von selbst erzählt: junge Arbeiter aus der städtischen Eisengießerei wären hier mit Handgranaten im Gelände herumgeschlichen — das wären die Brandstifter, nun und nimmermehr Moorhofer Leute!
Da drückte er die Flosse des Alten: „Ich wußt es. Und daß Du, Alter, bei mir bliebst! Und Strempel auch! Mit der Treue ist es wie mit dem Verstand — sie ist immer nur bei wenigen gewesen.“ Beruhigt blickte er.
Männer kamen und gingen, alle schwarz wie die Teufel. „Ein Negerdorf sind wir“, sagte Borkhus, und hatte Lust zu lachen.
Eben brachte Kunz einen Negerjungen herein — der da oben auf dem Dachfirst des Pferdestalles für drei herumhantiert hatte — und war doch ein Mädchen, Vita, das Pfarrertöchterlein im Turnanzug. Ihr Vater stelzte hinterher. Da gab es ein Erkennen und Lobsprüche, ungemessen, auf die Heldenjungfrau.
Ihr aber ging das nicht ein. „Ist das Heldentum, was einem Spaß macht? Heldentum ist, wenn ich Kaffee kochen muß.“
Kunz sprang zu Gisbert hinauf. Er brachte den traurigen Bescheid, daß die Besinnung immer noch nicht wiedergekehrt sei. Er werde sich mit Horst, der jetzt bei ihm sitze, in der Wache bei dem Freunde teilen. Und die Schatten der Todesnähe legten sich mit dunkler Ruhe über die aufgestörten noch immer nicht gesammelten Gemüter.
Horst saß an Gisberts Lager und umfaßte seine Hand. Mit aller Inbrunst, die das Leben des zu Tode Getroffenen halten wollte. Der Schädel war angeschlagen und zersplittert, eine schwere Gehirnerschütterung hatte ihn in Nacht geworfen. Der Arzt gab leise Hoffnung.
Wächsern von dem Blutverlust war das feine Gesicht. Starr gestreckt, leblos lagen die edlen schlanken Hände. Frauenhände. Und hatten all die Zeit so schwer und treu gearbeitet an männlichem Werk.
Du darfst mir nicht sterben, Junge, Du lieber — so grub und dachte Horst ohn Unterlaß. Sein Wille wühlte und flehte und zwang.
Draußen leuchtende Frühlingsmorgenlust. Durch den geöffneten Fensterspalt drangen die Lieder aus schmetternden Finkenkehlen.
Vom Hof her gedämpfte Menschenstimmen. Den Rauch und Ruch von der Brandstätte verwehte der Wind nach anderer Richtung. Das da draußen, der Ausstand, der Aufruhr — wie fern lag das alles dem pflegenden Freund.
Bin ich ein Führer? Die Sache will mich — die Mannschaft wartet meiner. Versunken die Sache, die Pflicht, der Beruf. Hier muß ich führen — die gelöste Seele wieder ins Leben führen, das ist mein Amt.
In meiner Hand, die Dich hält, ist mein Wille — und mein Wille hat seine Kraft — Leben ist mein Wille — in Deine entseelten Finger ström ich es ein —
Die Finken schmettern ohn Unterlaß in den aufleuchtenden Morgen — stark ist das Leben und froh —
Zuversicht — des Glaubens Frohheit ist des Willens Odem und Herzschlag — ich will, daß Du lebst — ich glaube, daß Du uns lebst — Gisbert, Du geliebter Junge!
Und sieh — ist da jetzt nicht ein leises Schwingen — ganz leise unter der kalten Haut Deiner Finger — nur meiner hütenden, Dir ganz ergebenen Hand vernehmbar — aber es ist — es ist!
Und da — Hufschläge vor dem Haus — ein leichter Wagen fährt auf die Rampe — wenn es das ist, wenn eine Nähe mir hilft, Dich zu beleben — eine Nähe, die Du ahnst, die Du fühlst — die Dich zurückruft, zurückschmeichelt in das Diesseits —
Ja, eine neue Kraft ist erschienen — ist ins Haus gekommen — eine neue Hilfe, eine bessere, stärkere —
Steigt nicht ein leichtes Rot in Dein Gesicht? Beben nicht Deine Lippen? Zuckt es nicht in den gesenkten Lidern?
Jetzt — die Tür tut sich auf — Frau Tilde tritt ein — jetzt weiß ich es, Du wirst gehalten, Du wirst gewahrt, Du wirst gerettet! In ihre Hand leg ich Deine Finger. Ihrer Sorge, ihrem Willen, ihrem Glauben überantworte ich Dich. Jetzt habe ich die Gewißheit, daß Du lebst!
Tilde ist allein mit Gisbert. Schon hat der Schlaf ihn in die Arme genommen, an das Leben ihn wieder auszuliefern. Der Atem fängt an, ruhig zu gehen. Der Puls setzt nicht mehr so bedrohlich aus.
Augen wachen über ihm, in die seines eigenen Daseins Licht sich eingesenkt hat. Seines Schicksals Sternenglanz bestrahlt ihn. Jetzt hebt und trägt es ihn diesem Schein entgegen.
Seine Lider zittern. Ein dünner Spalt — scheu, angstvoll, ungläubig noch lugt der Blick hindurch in die entrückte, unfaßbare Wirklichkeit.
Aber jetzt träufelt und tropft es hinein von dem seligen Glanz — ein glückhaftes Erschrecken — groß im Offenbarungsschauer tut das Auge sich auf — und jauchzt in den Schein — und schließt sich dann wieder, müde von des Glückes Unendlichkeit.
So gaben Frau Tildes Augen dem todwunden Gisbert das Leben wieder.
Jetzt nach diesem Rettungswerk braucht auch der Vater ihre Hilfe. Von all den Erregungen und der krampfhaften Anspannung der Kräfte ist er doch zusammengeklappt. Tapfer gibt er sich. Aber die Tochter sieht tiefer.
Sie will ein paar Tage hierbleiben. In Mönkhov sei es nicht so schlimm. Nur ein Teil der Leute habe die Arbeit niedergelegt.
„Und bei mir alle im Ausstand. Und im Aufstand.“ Wie viel Schmerz birgt sich unter dem Lächeln.
„Ihr seid hier bei der Stadt. Und Du bist der große Politiker. Du bist ein Programm. Du, unser Eckpfeiler, wirst am heftigsten berannt.“
Das gefällt dem alten Kämpen nun wieder. Und er schmunzelt auf: „Gut denn! Ehre, wem Ehre gebührt.“
Er hielt sich aufrecht, solange Tilde im Hause war. Die wie ein guter Geist hier wirkte. Nur, daß auch sie mit den Leuten keine Fühlung gewann. Als ob die sich schämten vor ihr, zogen sie sich trotzig und verbissen noch mehr zurück.
Weiter halfen die Siedler. Und sie huldigten begeistert ihrer lieben Frau.
Dann wurde ein Teil von ihnen auf einem Nachbargut begehrt. Auch hier drohten Gewalttätigkeiten. So ging ein Maschinengewehr dorthin ab.
Für die Feldarbeit aber fand junge Hilfe aus der Stadt sich ein. Doktor Georg Stump erschien mit seinen Gymnasiasten, seinen Turnern auf dem Plan. Mit dem Lied der Jugend an die deutsche Erde kamen sie angerückt.
Wir sind die Jungen! In unserm Sinnen
Du bist der Ausgang, Du das Beginnen!
Nicht einen Bissen von deutschem Korn,
nicht einen Tropfen aus deutschem Born,
Deutschland, daß wir nicht dächten Dein!
Frei sollst Du sein!
Horst ging das Herz auf. Er liebte die Jugend. Und diese nun, unsere Jugend! Was gräbt sich an Nachdenklichkeit, an Bitternis, an heiligem Zorn um den Frohmut der hellen Augen.
Wir sind die Jungen, in Not gestählt,
In Schmerzen geworden, in Schmerzen erwählt!
Doktor Stump tritt wie zur Meldung vor Horst. Nur zwei seiner Zöglinge haben sich ausgeschlossen — der eine aus ehrlicher, verzehrender Überzeugung, der andere aus ebenso ehrlicher, verfressener Überzeugungslosigkeit. Der Herr Direktor, Freund der Gesten und Feind dem Festen, einer von den hochbeinigen Leisetretern habe gewarnt und abgewinkt. Aber es seien Ferien, und eigene Entschlüsse gelten.
Horst teilt die Jungmannschaft in Trupps und weist diese den einzelnen Gütern zu, die am nötigsten Arbeitskräfte brauchen. An die Spitze der kleinen Schar, die für Moorhof bleibt, setzt er sich selbst.
Er nimmt sie gehörig heran. Sie müssen Dung fahren und streuen. Er selbst ihr Vorarbeiter — die Knochen werden nicht geschont.
Sie bleiben die Nacht auf dem Hof. Ein Heuboden ihre Ruhestatt. Sie sehen das Bild der Zerstörung. Die jungen Seelen fühlen, wer im Grunde die Schuld trägt. Woher die Verzweiflung stammt, die hier gewütet, die den Bruderkrieg entfesselt hat. Fluch den Zerstörern deutschen Lebens! Dem altbösen Feind!
Zum Feierabend führt Horst sie auf die Goldberge. Erzählt ihnen, was der Alte ihm verraten. All die jungen Augen und Ohren lauschen. Und lauschen jetzt, ob es in dem Berge klingt. Ja, ja ihnen allen tönt es aus dem Grunde!
Sie alle, alle sind berufen! Jubelnd umschlingen sie sich. Blutbrüder sind sie. Und singen Schwertlieder.
„Stahl, von Männerfaust gezwungen,
rettet einzig dies Geschlecht!“
Ein Überschwang von Kraft, von Stolz, von Freude steigt himmelan. Mit keuchender Brust, die Augen voll Tränen, verwünscht einer die „Dämonenbrut“.
„So lang sie in Germanien trotzt,
ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!“
Und ein anderer, verzückt in die Weihe seines Schwures — wir wollen nicht, können nicht als Knechte leben! Und können wir nicht siegen, wir wollen ihnen zeigen, wie man stirbt!
„Nicht der Sieg ist’s, den der Deutsche fodert,
hilflos, wie er schon am Abgrund steht.
Wenn der Krieg nur fackelgleich entlodert,
Wert der Leiche, die zu Grabe geht!“
Heiliger junger Überschwang! Auch Horst werden die Augen feucht. Heil Dir, Du deutsche Jugend — so jauchzt und schluchzt es in ihm — heil dir, du deutsche Zukunft!
Eine Freundschaft ist geschlossen zwischen den Jungen und Horst, dem Mann. Gehärtet im Feuer der flammenden Herzen.
Horst bespricht sich mit Dr. Stump. Die Jungen sollten wiederkommen. Auch wenn der Ausstand vorüber wäre. Wöchentlich einmal zu einer Art Felddienstübung. Und Kriegsgeschichte wollte er sie lehren im Freien. Sie selbst sollten die Schlachten der Vergangenheit sich darstellen. Und sollten sich damit entwickeln für die mächtigen Aufgaben der Zukunft. Horst, der Doktor, die Jungen — sie alle waren Feuer und Flamme.
Hier habe ich nun ein neues Feld! Horst atmete tief. Und wenn die alte Pflicht mir zu schaffen macht, diese neue wird mir helfen, beide zu tragen. Münden sie nicht beide in mein großes Lebenswerk? Die allgemeine Arbeitsdienstpflicht mit vorzubereiten! Und aus ihr eine Stamm- und Lehrtruppe herauszuschulen, als Mittelpunkt der Miliz, die Deutschland haben muß, wenn es leben soll!
Gegen eigene Ermüdung, gegen Verzagtheit, gegen Fahnenflucht — diese junge Mannschaft als eine Art Schutztruppe ziehe ich mir heran.
Eine Schutztruppe auch gegen die schweifenden Gedanken. Die als Forschungstrieb, als Mitgefühl, als Seelenanalyse hinaussegeln — und doch das Weib um seiner Selbst willen suchen.
Hier oben, hier auf den Goldbergen hat er sie zuletzt gesehen. Gestern in der Brandnacht. Im Schein der Gluten, die ihr Wille, ihr Rachetrieb geschürt. Die Feindin! Die im Vernichtungskampf steht gegen seine Freunde, gegen ihn! Eine Priesterin jener Glaubenslehre, die Deutschland verdirbt, wie sie jede Volksgemeinschaft zerrütten muß.
Zu Euch, Ihr jungen Freunde! Euch und mir und uns gehören diese Goldberge. Wie ein Spuk, ein Nachtgespenst schwebte sie über diesen Boden, als ich hier vorbeijagte. In dieser grauenhaften Nacht. Vorüber, vorüber —! —
Frau Tilde war bei Gisbert. Er hatte schon das Bett verlassen und saß im Stuhl, so schnell ging es mit ihm nach oben. Dankbar war Gisbert. Dankbar trank er das Leben in sich auf. Und leuchtend sprach er: „Wie sagt der große chinesische Weise? Was ist der Inbegriff aller Erkenntnis und ihrer Freude? Ich atme bewußt. Und wem danke ich es?“ Zu ihr hob sich seine Hand.
Nichts Heimliches, nichts gesucht Vertrauliches — die ganze große mutige Selbstverständlichkeit sprach. Sie waren beieinander, als hätten sie sich von je gekannt.
Tilde sah ihn an, mit der weiten wehen Klarheit ihrer Augen. „Von Vater hörte ich eben das Gegenteil. Das „but intoxication“. Wie ist er anders geworden! Man ist hellsehend bei denen, die man liebt. Und ich sehe — das Schlimmste.“
„Ich fand ihn erfrischt — durch den Kampf.“
„Das ist der Rausch, von dem er selber spricht. Wie lange kann ein Rausch dauern? Ich fürchte mich vor dem Erwachen.“
Schwerer wurden ihre Augen. „Ich bin immer — schon als Kind — diesem leidenschaftlichen Hang zur Einsamkeit nachgegangen. Das Leben straft uns an unseren Leidenschaften. Nun werde ich bald niemanden mehr haben.“
Gisbert bewegte sich zur ihr hin, Ergebenheit bis in den Tod reichten seine Blicke ihr dar.
„Und ich hab noch keinem Glück gebracht —“ fast warnend sprach sie es aus — „keinem, der mir etwas war — der mich befreite von meiner Sucht, mich in mich selbst zu begraben. Als ob alle es hätten büßen müssen.“
„Gnädige Frau —“
„Ich weiß, das ist wie eine lächerliche Eigenwichtigkeit. Aber, warum mußte alle, aber auch alle, die mir nahe standen, diese Zeit verschlingen oder zerbrechen?“
„Sind wir nicht alle zerbrochen?“
„Doch nicht so, bis ins Lebensmark. Die mir geblieben sind — mein Vater, mein Mann — bloße Schatten. Und alles andere ist mir gestorben. Meine Freundin, die einzige, die ich hatte — der Gram um ihren gefallenen Mann hat sie ihm nachgezogen. Meine besten Freunde waren meine Brüder — sie sind nicht wiedergekommen. So sieht es um mich aus.“
Du sollst nicht klagen, Du sollst nicht traurig sein — machtvoll sehnsüchtig klang es in Gisbert auf. Und ein Glück trug ihn empor. Daß Du so zu mir sprichst! Dich so mir offenbarst! Ich bin Dir etwas — Du fühlst, wie alles, was ich bin, Deinem Wesen zuströmt! Dir dienen will ich, mit allem, was ich bin! Dir geben, alles, was ich habe! Dir, Dir, Du Schmerzensreiche, Du Gebenedeite!
Sie spürte die schwärmende Glut. Sie selbst mußte ihr wehren. Ihre Sehnen strafften sich. „Gut, daß die Arbeit auf einem liegt. Unser alter Inspektor ist der Sache nicht mehr gewachsen. Und Achim —“ ein weher Zug grub sich ein — „bereitet sich auf ein großes Match vor. Dennoch hätte ich Vater gern was von seiner Bedrängnis abgenommen. Wir sind glimpflich davon gekommen. Obwohl wir uns das Schlimmste vermuteten. Oder deshalb? Wie ist Vater, der gutgläubige, für seine Einbildungen gestraft.“
Herr von Borkhus kam jetzt, sich selbst nach Gisbert umzusehen. Er war aufrecht, in fester Haltung, berichtete von dem Ausstand, daß die Nothilfe der Gymnasiasten die Wut frisch aufgepeitscht habe, und als Neuestes — ein ehernes Lachen klang in seinen Worten — daß Strempel sich weigere anzuspannen und den Herrn zu fahren.
„Strempel!“ Wie geisterhaft tönte es zurück aus Frau Tildes Mund. Ihre Augen forschten erschreckt in des Vaters Zügen. Die blieben hart.
„Ja, Kind. Oh, wir brauchen noch viel Belehrung.“ Geradezu ausgelassen: „Sag Mädel, bin ich nicht einfach gereist auf den Mann? Schaubudenhaft? Habe ich mich nicht mit ihm dem Publikum gezeigt? Hier seht Ihr es, meine Herrschaften! Es gibt ein Glück des Gehorchendürfens! Sofern der, der befiehlt, auch selber am rechten Ort zu gehorchen weiß. Es kann ein freies und stolzes Wort sein: ‚ich dien‘! Ja, Kind, nun ist die Schaubude umgeweht. Komplett.“ Und er lachte ehrlich.
„Vater —“
„Und jetzt — Herrgott, ganz jung wird man wieder! Was war für mich als kleinen Bengel die größte Lust? Selber anspannen! So tue ich’s also jetzt wieder und fühl mich als Junge. Ich muß heute noch nach Trent. Besprechung der Besitzer. Der Korpsgeist hat nun den Stoß, den er braucht.“
„Ich fahre Dich, Vater.“
„Kannst mitkommen. Du gehörst ja auch dahin. Oder ist Achim da?“
„Nein. Achim — übt.“
„Nun, dann komm. Auf Wiedersehen, Herr Hegendorf! Und weiter steife Ohren.“ —
Der Ausstand war zusammengebrochen. Die Führer wüteten. Die Industriearbeiter in der Stadt höhnten. Es fehlte diesen „Landlümmeln“ doch an Schwungkraft und Kampfdisziplin.
Doch aller Haß und Zorn brandete gegen die Siedler. Diese Klopffechter des Rückschritts, die der dunklen Sache den Sieg verschafft hatten. Aber wir werden es Euch eintränken! Wenn wir die Führer nur fassen! Und wir fassen sie. Und dann an die Chausseebäume mit ihnen!
Die Moorhofer Leute fanden sich wieder zur Arbeit ein. Mit einem Lächeln sah Herr von Borkhus dem allen zu. Aber seine mächtigen Augen froren darüber hin, wie über ein Schauspiel, das ihm innerlich nichts zu geben hatte. Und das Lächeln, wie vereist, schwand kaum mehr aus seinem Gesicht.
Nicht als Strempel sich wieder zum Dienst meldete, hündisch, verbogen und verkniffen. Sie wären alle „komplett verrückt“ gewesen.
Steinern machte Herr von Borkhus noch einmal die Runde über seinen verwüsteten Hof. Wie er dann abends bei Tisch saß, der Horst, Kunz und die neuen Helfer von der Siedlermannschaft als Gäste sah, war er der liebenswürdigste Wirt, dankte „seinen Freunden“, sprach aber sonst kein Wort von dem, was seinem Moorhof geschehen war. So daß auch die andern davon schwiegen.
Statt des, mit einer eigenen eisenkalten, eisenharten Ruhe, wie der Wut zum Trotz, die all die Zeit in ihm gebrannt und gefressen hatte, führt er selbst die Rede zu dem, was die deutschen Herzen zermalmt. Blickt er selbst mit großen, freien, klaren Augen, in denen der unzähmbar wilde Grimm sonst wühlte, dem Erbfeind ins Gesicht. Eine schmerzlich stille Überlegenheit ist in seinen Worten. Ein fast verklärter Trieb, der Wahrhaftigkeit ein letztes Opfer zu bringen.
„Man wird gestraft an dem, wofür man seine Schwäche hat. Was sind wir dem Franzmann immer nachgelaufen! Wer von uns, der nicht — oft unter eigenem Widerstreben — eine Art Zärtlichkeit für Frankreich gehabt hat!“
„Ich!“ rief Kunz frei und hell. „Stets habe ich wie unser Blücher gefühlt: ‚dies Volk ist mir zuwider‘.“
Borkhus hielt, Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit, fest an seinem Gedanken. „Und doch frage ich: auf wen haben die geistigen Reize Frankreichs nicht gewirkt? Nicht nur die Stilkraft seiner Mode — die ganze heitere Beweglichkeit seines impulsiven Wesens, das in allen Widersprüchen schillert!“
Horst stand ihm bei. „Weiß Gott, langweilig war das Volk nie. Dem alles ins Schrankenlose, ins Absolute sich überspannt. Absolut in seiner Mathematik, seinem Rationalismus, absolut in seiner Mystik. Das Land des absoluten Cäsarentums und der absoluten Freiheit. Im Absolutismus knieend, wie mit Bewußtsein, um sich im Individualismus zu befreien. Immer taumelnd von Aktion zur Reaktion, aber immer aktiv und immer radikal. Immer das Umschlagen von der Hingabe zur Auflehnung, von der Pietät zum Umsturz. Stets im Gegensatz zu sich selber.“
„Und dabei immer auf Wirkung bedacht, und immer der Wirkung sicher“, ergänzte ihn Borkhus wieder. „Der glänzendste Regisseur seiner selbst. Denn Theater — Theater ist ihm nun einmal die Welt, die Geschichte. Gewiß, das ist kokett, gefallsüchtig —“
„Weibisch“! schmetterte Kunz darein.
„Ohne Frage“, vermittelte Horst. „So wahr die Frau stets im Mittelpunkt der französischen Kultur, auch der französischen Politik und Geschichte gestanden hat. Aber auch hier eine Spannweite, wie sie monumentaler nicht gedacht werden kann — von einer Jeanne d’Arc über die Heloise zur Maintenon! Auch hier die klassischen Extreme. Auch hier die Größe der Antithese. Und in der Bewegung, die sie überwindet, der leichte, unbekümmerte, heitere, spielende Flug.“
Für Kunz war das Maß zum Überlaufen voll. „So sind wir also einmal wieder objektiv. Und die deutsche Gerechtigkeit darf sich in die Brust werfen. Gut. Über das Frankreich von einst mag man so denken. Wer aber heute bei uns von der ‚Schwäche für dieses Volk‘ nicht geheilt ist“ — er sprach mit ungehemmter Leidenschaft — „der ist vermorscht und verfault durch die Knochen hindurch bis ins Mark.“
Sie ließen gern sein ehrliches Ungestüm gewähren. Der Baron fragte dann: „Sie haben in der französischen Gefangenschaft ihre besonderen Erfahrungen machen können?“
„Das habe ich. Und ich freue mich, daß ich der grande nation so habe an den Puls fühlen können. Ehre und wiederum Ehre der deutschen Sprache, daß sie kein Wort hat für das, was Franzosen an deutschen Gefangenen verübt haben! An wehrlosen, kranken, blutenden, hungernden Gefangenen. Die Franzosen haben ein Wort dafür. Sie nennen sich ‚ritterlich‘, sie nennen sich ‚großmütig‘. Gegrüßt seist du, französische Ritterlichkeit! Die Gefangenen, verdurstet, verwundet, lahm, zerlumpt — mühselig wanken sie vorwärts durch die Gassen. Das Volk strömt herbei — Männer, Weiber, Pfaffen, Kinder — mit Steinen, mit Schmutz, mit Spaten, mit Knütteln werden die Hilflosen bearbeitet. Wer am Boden liegt, wird ausgeraubt. Ein Triumphgeheul der Sieger in so gloriosem Kampf! Sei gegrüßt, französische Großmut! In Kellern, die unter Wasser stehen, auf Mistlagern ist das Nachtquartier. In schmierigen Konservenbüchsen wird stinkige Brühe gereicht, die der Ekel fortschüttet. Und die Wachmannschaft — die Soldaten — Kämpfer, die Kämpfer geleiten — nicht wahr, unter der Waffe ist Ehre — sie wehren dem Graus? O nein, sie grinsen dazu — sie grinsen. Sei gegrüßt, französische Ritterlichkeit! Ihr müßt sie ja kennen, ihr Franzosen, die ihr sie benennt! Aber hoch preise ich mich, daß auch ich das Brandmal trage, von französischer Großmut mir eingepreßt. Immer brennt es, immer flammt es in Feuerschrift! Bei mir, wie bei Tausenden! Niemals, so lange wir atmen, werden wir aufhören, Zeugnis abzulegen von französischem Geist! Denen, die nicht sehen wollen, werden wir in den Augen liegen mit unserem Flammenmal! All denen, die nicht mit dem zufrieden sind, was sie hier zu Lande jetzt am eigenen Leibe erleben! Und heil uns, heil Deutschland, daß wir diesen, diesen Nachbarn haben! Was die deutsche Seele nicht aus sich selbst vermag, er, er wird es vollbringen! An französischer Ritterlichkeit wird die deutsche Seele genesen und sich erheben!“
Borkhus — wo war die Verklärung geblieben, die objektive Erhabenheit? — er reichte Kunz mit brennenden Augen stumm über den Tisch seinen machtvollen Händedruck.
Und weiterhin ließ Kunz seine Munterkeit aufmarschieren.
„Natürlich fehlte es uns nicht an Komödien. In diesem Lande der Komödianten. Wir kamen als Gefangene nach Südfrankreich, in ein altes Kastell. Sein Kommandant ein uriger Knochen, giraffenlang, mit ewig wiederkauenden Kinnladen — seine Untergebenen nannten ihn denn auch ‚camé léopard‘ — die blaue Nasenspitze wühlte in dem verbasten grauen Schnauzbart, nie machten die tranigen Augen die Läden auf — und immer in Sprit! Ein doller Don Quichotte. Und kam sich als der Kriegsgott vor. Hatte denn auch als wahrhaft solcher seine Geistesgegenwart in allen Schlachten durch Abwesenheit des Körpers dokumentiert. Nun waren außer mir noch ein paar schwere Jungen da — Hatz von der Brah, der bekannte Rennreiter, der Munterste. Und in einer Nacht heckten wir wieder einmal was aus. Eine klobige Metallsache — als Zauber im Morgennebel gedacht, dem Alten zu Ehren. Alle eisernen Öfen wurden mobil gemacht, samt allen Ofenrohren. Kanonen wurden aufgebaut in dem Hof. Unter den Schlafdecken machten Kameraden die Gäule, die wir bestiegen, unsere blechernen Waschschüsseln als Stahlhelme auf den Häuptern, die eisernen Ofenhaken als Schwerter zu Händen. Die wachthabenden poilus hielten sich den Bauch ob dem hahnebüchenen Ulk, sie gönnten ihrem Leopardenkamel unseren Streich. Und jetzt, wie wir uns aufgestellt haben, da brüllen wir los „Deutschland, Deutschland über alles!“ Da oben, der Alte ans Fenster, visionär klappen die blöden Glotzaugen auf — Entsetzen — er schreit: aux armes! aux armes! — fährt in die Kleider, verliert das Herz in die Hosen und die Hosen mit dem Herzen. Erst als seine Soldateska sich ausgekugelt hat und wir wieder unschädlich gemacht sind, traut er sich in unser Verließ. Wie es sich gehört, kommen die Übeltäter ins Prison, wir Rädelsführer in schweres. Und das ist unser Glück — Hatz und ich brechen aus. Wie wir uns dann zur Front zurückgefunden haben — durch Mittelfrankreich hindurch, das ist ein Kapitel für sich. Und das Verdienst von Hatz. So was wie den hat die Welt nicht mehr gesehen. Der häßlichste Kerl, und hatte doch alle Weiber am Bändel. Fröhlich wie ein Buchfink, sittenlos wie ein Sperling — und ein Sprachgenie. Sobald er ein Mädel geküßt hatte, redete er ihre Mundart. Sein Patois war unser Schutzengel. Nun, von dem allen erzähle ich ein nächstes Mal.“
Es gab noch Dienstliches anzuordnen. Die Siedler verabschiedeten sich und brachten ihre Maschinengewehre nach Haus. Horst war der Letzte bei Herrn von Borkhus.
Er hatte das Gefühl, als wollte der Baron ihn noch bei sich behalten und mit ihm sich aussprechen. Die Hand und auch die Augen ließen ihn nicht gleich los. In denen war wieder diese stille Gehobenheit, diese geklärte Ferne. Und dann drängte es in ihnen wie ein Bekennenwollen.
Jetzt aber versank Borkhus ganz in sich hinein und sprach leise zu dem jungen Freund: „Sie sind müde — es waren harte Tage. Ich bin es auch — sehr müde.“ Damit sagten sie sich Lebewohl.
Gleich nach Mitternacht war es, da wurde Gisbert durch einen Schuß geweckt. Im Hause war er gefallen. Träumte etwas nach in seinem Ohr?
Ein stilles Lauschen in allen Räumen — dann lebt es auf, da und dort — Türen gehen — über die Dielen huscht es — jetzt ein erstickter Aufschrei — aus dem Arbeitszimmer des Herrn —
Gisbert soll noch nicht aufstehen. Aber es duldet ihn nicht auf dem Lager. Er kleidet sich notdürftig an. Geht auf den Korridor. Da kommt ihm der Diener entgegen mit irrem Blick — „Herr Baron — erschossen —“ stammelt er — fassungslos irrt er um sich selbst —
Gisbert geht in das Zimmer. Hier liegt Herr von Borkhus den Kopf auf dem Schreibtisch. Aus der Schläfe strömt das Blut. Der Körper ist starr und tot.
Gisbert kann sich kaum auf den Beinen halten. Aber das Geschehene spannt ihn ein. Er gibt die Anordnungen. Zu Frau von Mönkhov, zu Horst soll geschickt werden. Auch zum Arzt, obwohl hier nichts mehr zu helfen ist.
Und nun kauert er nieder, er selbst zum Hinsterben schwach, der Kopf hohl, das Herz tonlos und flackernd. Selbst ohne Besinnung starrt er auf den Entseelten und hält, ein Lebloser, die Totenwacht.
So findet ihn Horst. Der nichts eher zu tun hat, als ihn ins Bett zu schaffen und ins Leben zurückzurufen. Dann, da der Puls wieder Dienst tut, wenn auch noch unwillig, kehrt Horst in das Totenzimmer zurück.
Das Personal hilft ihm, die Leiche aufs Ruhebett legen. Er drückt die schweren Lider zu über die machtvollen Augen, die grauenhaft klagenden und drohenden Augen. Und hält stille Andacht.
Dann geht er an den Schreibtisch, den blutüberströmten. Ein Album liegt da, schwarzgebunden. Auf die Blätter sind Drucksachen geklebt. Zeitungsausschnitte zumeist. All die Dokumente der Erniedrigung, der Beschimpfung, der Entehrung, der Plünderung, Verstümmelung und Folterung, die dem wehrlosen Deutschland angetan — tagtäglich — von den trunken zuckenden und gierenden Feindeshänden — sorgsam gebucht seit Anbeginn.
Ein Blutbach hat sich über das weiße Papier ergossen, das vom Schwarz des Einbanddeckels gerahmt ist. Von selbst zog es Horst durch den Sinn: schwarz-weiß-rot — die schwarz-weiß-rote Not! Sie hat Dich zum Sterben gebracht.
Neben dem Album liegt eine Zeitung. Eine Stelle ist angestrichen, bestimmt für die Sammlung, aber nicht mehr hineingelangt. Das letzte — heut abend hat er es gefunden.
„In Boppard a. Rh. wurde eine Schülerin vor den Augen ihrer in Grauen erstarrten Mutter von einem der schwarzen Franzosen genotzüchtigt.“
An den Rand hatte in wildem, ehrlichen, gedankenlosem Ungestüm seine Hand die Worte geworfen: „Hin nach Boppard!“ Wie mußte es gezuckt haben in der Hand, in dem Herzen!
Herrgott ja, und wem gehen dabei nicht die Sinne durch. Und nur eines, eines nur von endlos vielem! Dies war es, was Hartwig von Borkhus überwältigte, was ihn in Verzweiflung warf und aus dem Leben.
Das Blutbuch — der Zeuge Deines Unterganges. Um Deutschland bist Du gestorben — und auch für Deutschland! Wir werden Dein gedenken!
Wie einen Fürsten haben sie Hartwig von Borkhus beigesetzt. Die ganze Landschaft hatte zur Trauerfeier sich eingefunden. Pastor Waermann sprach die Abschiedsworte. So klangen sie aus: „Dein Tod ist ein Schrei, ist ein Ruf, der niemals verhallen wird. Deutsches Ohr wird ihn weitergeben an deutsche Lippen. In deutschen Herzen werden sich die Feuer sammeln. Bis der Tag kommt, wo die Flammen zum Himmel auflodern. Die Geister der Entschlafenen werden mit uns sein! Ihr Heerbann wird uns voranleuchten! Für uns aber, die Lebenden, die wir nichts vergessen, die wir treu bleiben jedem, der unser war, heißt die Losung, die harte und gerade: Über Gräber vorwärts!“
Gisbert, nach der Todesnacht, war immer noch nicht außer Gefahr. Auf dem Friedhof, während der Grabrede, war es plötzlich wie ein wahnsinniger Schreck blitzartig durch Frau Tildes verdüstertes Gemüt gefahren: der Tote zieht den kranken Hausgenossen nach sich. Und durch all ihre Trauer, ihren Gram immer wieder dieser zuckende Gedanke. Es lag ihr auf der Seele, dies Furchtbare: alle sterben sie mir hin! Und es hetzte sie aus dem Schmerz in die Angst.
Wie sie nach Hause kommt, geht sie gleich zu ihm hinauf. Sie findet ihren Kranken in tiefstem Schlaf. Der Arzt, der im Trauergefolge ist, und noch einmal vorspricht, erklärt ihr, wenn etwas, gäbe dies die Aussicht auf Wiederherstellung. Jetzt kann sie gleichsam wieder ausruhen in ihrem Schmerz um den Vater.
Sie blieb in Moorhof. Achim fuhr noch am selben Abend nach Mönkhov zurück. Nun saß sie am Arbeitstisch des Vaters, an dem Platz, wo er „lieber seine Form zerbrochen“ hatte. Sie fing an, gedankenlos, mit leeren Augen und müden Händen die Schriftstücke zu ordnen. Da ließ Horst sich melden. Er bat um die Erlaubnis, sich noch einmal nach Gisbert umsehen zu dürfen, kam zurück mit dem Bescheid, daß der immer noch fest schlafe, und saß nun auf Frau Tildes Geheiß bei ihr nieder.
Immer wieder sprachen sie von dem Toten. Von seinem großen sozialpolitischen Gedanken: der Ernährung des deutschen Volkes aus deutscher Scholle. Ein Zweig dieses Baumes war seine Zärtlichkeit für den Siedlungsgedanken gewesen.
Horst war schwer betäubt. Ihm fehlte der Freund, seinem Werk der Vater und Berater. Wieder fiel die Schwermut ihn an. Und die alten inneren Zerwürfnisse kamen. Erst kämpfend erhob er sich zu der Kraft: nun gerade aushalten! Jetzt doppelten Einsatz des Wollens und Schaffens! Gilt es nicht auch, ein Vermächtnis hier zu erfüllen?
Und von einem Vermächtnis sprach auch Frau Tilde. Wenn etwas, sei von der Hinterlassenschaft des Vaters das Siedlungswerk ihr ans Herz gewachsen. Und so viel an ihr liege, wolle sie an ihm mitarbeiten, nach ihrem schwachen Vermögen. Dankbar küßte ihr Horst die Hände. —
Er hatte heute noch einen Krankenbesuch zu machen, der alte Torfmeister hatte sich gelegt.
Ein Grab hatte er diesmal nicht zu schaufeln gehabt, die Borkhus besaßen ihr gemauertes Erbbegräbnis. Aber gewiß hätte er bei der Bestattung seines Lehnsherrn nicht gefehlt, wäre ihm nicht das mörderischste Frühjahrsrheuma in die alten Gelenke gefahren.
Horst fand ihn hilflos hingestreckt. „Das kommt, weil meine Wieselchen, meine Hermännchen, mir aus den Stiefeln gewutscht sind — hinaus in den weiten Frühling. Nun ist der Giftwurm bis in die Scharniere gekrochen. O Du Grundgütiger — es ist zum Posaunenblasen schön!“
Der Alte durfte nicht so allein bleiben. Vielleicht, daß Lona der Pflege sich annehmen konnte. Horst, den geschäftliche Besprechungen in die Stadt riefen, übernahm es, sie zu benachrichtigen.
Durch den strahlenden Frühlingsnachmittag schreitet er. Wie leuchtet der Himmel, wie segnet er die Fluren! Wie schön ist das deutsche Land! Sollen Sklaven es bewohnen?
Immer das eine! Und immer daran denken! Und immer, immer davon reden! „Eine Nation, die es nicht wagt, kühn zu sprechen, wird es noch viel weniger wagen, kühn zu handeln.“
Wir haben die Worte, unsere Großen haben sie uns vorgedacht, uns vorgesprochen — wir haben die Taten, unsere Helden haben sie uns vorgelebt. Wir brauchen ihnen nur zu folgen, sie nehmen uns ja an die Hand.
Welches Volk hat eine Sprache, die so viel sagen kann, so viel singen wie unsere. Und seine Geschichte — ist sie nicht seiner Sprache wert! Wie seine Denker und Sänger sind seine Helden!
Was sind wir reich! Wir brauchen nur die Hände aufzumachen, und sie quellen über von Schätzen! An die uns die Räuber nicht rühren können! Was sind wir stark! Unsere Lungen atmen die Kraft unserer Geschichte — in unserem Blut brausen die Flammen, die in den Augen unserer Helden brannten!
Dasselbe Feuer, dieselbe Tat! Wie können wir — wir in der Knechtschaft bleiben. „Eure Ketten zerbrechen wie Glas!“
An den Goldbergen kommt Horst vorbei. Um den höchsten Gipfel fliegen die Raubmöven. Noch fliegen sie. Aber die Stunde der Auferstehung naht. Das deutsche Meer wird wieder deutsch sein. In deutscher Flut werden die weißen Fittiche sich spiegeln. Deutsch das Meer und deutsch das Land — Deutschland, mein Deutschland!
In der Stadt traf Horst viele von seinen jungen Freunden. Leuchtende Augen grüßten sich. Die Siedlungsgeschäfte, die er zu besorgen hatte, zeigten heute ein weniger unfreundliches Gesicht. Er trat guten Muts, unbefangen, ohne zu grübeln und zu wühlen den Weg zu Lonas Wohnung an.
Sie hatte zwei Zimmer in einem der alten malerischen Häuser, die von Kletterrosen besponnen an das alte Tor sich lehnen und mit träumenden Augen über die verfallene Stadtmauer lugen.
Ihre Wirtin, eine flüsternd beredte Küsterwitwe mit blendend weißem Scheitel, hatte ungefragt nur Lobsprüche für Lona, obschon deren politisches Treiben sie mit unsäglichem Entsetzen erfüllte. Daß ihr ganzes Herz den Armen gehöre. Ohne Entgelt gebe sie begabten Volksschülern Klavierunterricht. Jetzt sei sie Tag und Nacht als Pflegerin tätig, da in der Stadt eine Kinderkrankheit herrsche. Sie habe eben Bescheid geschickt, daß sie auf ein paar Stunden nach Hause kommen werde.
Als Horst an die Wirtin die Bitte des Alten ausgerichtet hatte und sich verabschieden wollte, trat Lona auf den Flur. Sie führte den Besuch zu sich hinein, während die Hausfrau in die Küche ging, das Essen zu bereiten.
Müde vom Nachtwachen lagen ihre Augen. „Wie geht es Ihren Kranken?“ fragte Horst.
„Zwei Kinder sind mir gestorben.“ Dann blickte sie fest gradaus und sie sagte hart, bewußt, wie gerüstet: „Und auch Sie haben einen Todesfall“. Sie hielt nun einmal nicht hinter dem Berge.
Nie hat Horst so wechselnde Empfindungen in eines Menschen Antlitz gesehen. Hier war der blutige Rausch einer Genugtuung — ein wildes Hochgefühl, darob, daß die Inbrunst eigenen Wünschens, eigener Verwünschung das Schicksal gelenkt hatte — und wieder eine Angst ob dieser dunklen Macht — die Müdigkeit einer Sättigung — ein Zug scheuer sich versenkender Reue — und über allem blieb etwas von der Charitas, ein Priesterliches, das der Umgang mit dem Tode verleiht.
Horst war auf den ersten Blick zurückgefahren und hatte sich verschanzt in sich selbst. Tot der Freund — und hier dessen Todfeind, über den Tod hinaus. Was kann es für ihn geben als zornige Abkehr und ein Schweigen in Haß!
Aber das, was in ihren Zügen, in ihrem Wesen selbst die Erlösung suchte aus einer Qual, das blieb nun doch das Mächtige über ihn.
Haß — Haß gegen Dich — Du bist eine Deutsche! Ich habe keinen Haß für Volksgenossen. Ich will sie verstehen, nicht sie verfolgen. Mitleid kann ich mit ihnen haben, ja ich kann mich ihrer schämen und darum gegen sie mich auflehnen. Aber hassen — unsern Haß halten wir fein säuberlich zu Rate, er gehört den andern!
Und ihr gemeinsamer Freund Lud Uhlenbrook führte sie beide nun gar auf denselben Weg.
Diese Nacht, so beantwortete sie die Bestellung, müsse sie noch hierbleiben. Bei einem Kinde, einem Zögling von ihr, gehe es auf Leben und Tod. Morgen komme sie dann zu dem Alten. Und sie wolle sich so einrichten, daß sie mehrere Tage bei ihm hausen und ihn gesund pflegen könne.
Sie sprachen beide zärtlich über den alten Lud. Ihre Gemeinschaft gab Horst ein Recht, sich in dem Zimmer umzusehen.
Die Wände waren mit Bildern bedeckt — vom jüngsten Geiste waren sie — er wußte, von wem sie stammten. Von ihrem Freunde, dem hier getöteten, dem hier begrabenen.
Sie fing die Blicke des Beschauers auf, sie fand in ihnen das Befremdete, das unsichere Flackern, das Ratlose — das Verständnislose, wie sie es sich nannte. Erst wollte sie mitleidig schweigen. Aber Horst war ihr nun einmal immer näher gekommen — galt er ihr nicht eines Bekehrungsversuches wert? War hier nicht vielleicht das Tor, das am ehesten sich auftun ließ, ihn hineinzuziehen in ihre Welt? Die Proselytenmacherin regte sich nun doch.
„Sie wissen mit dieser Kunst nichts anzufangen?“ fragte sie, eine gewisse Hilfsbereitschaft im Ton.
„Da ich meinerseits hier durchaus in den Anfängen bin, muß ich schon um Nachsicht bitten. Zunächst dringt es wie ein Geschrei von Farben auf mich ein. Von Farben, die die Form verschlingen. Und — sie wieder von sich speien.“ Er nahm ganz und gar kein Blatt vor den Mund. Sie aber konnte das gut vertragen.
„Für den Anfang ist das gar nicht so schlecht“, sagte sie. „Wenn Sie näher hinsehen, werden Sie erkennen, wie die Farben es sind, die die Form sich schaffen — Sie werden die Visionen, die Gesichte der Farben erleben, und dann fassen Sie den richtigen Grund.“
Horst vertiefte sich mit bereitwilliger Unbefangenheit. „Ich gebe zu, ich sehe hier eine Energie, die über den Raum hinauswill —“
„Das ist es“, sagte sie lebhaft, beinahe freudig. Und werbend fügte sie hinzu: „Darauf kommt es ja an, auf die Überwindung der Körperlichkeit, des empirischen Daseins. Mit Naturerlebnissen, mit Sinnenerlebnissen hat die wahre, die geistige Kunst nichts zu schaffen. Für sie gilt nur der Genius innerer Gesichte. Sie hat mehr als das Schöne, Glatte, Abgeklärte der Natur, als die artikulierten Laute der Sinnenwelt. Sie lebt in der gewaltigen, noch unentwirrten, rätselvollen, gespensterhaften Unwirklichkeit. Chaotik ist ihr Wesen. Nur in dieser kosmischen Vitalität kann spirituelle Kunst atmen!“
Sie war ganz hingenommen von ihrer Lehre und deren beredtem Rüstzeug, sie stand in der Glut ihrer Worte, der Glut und dem Rauch, halb Priesterin, halb Dozentin. Und ein Junges, Mädchenhaftes war dabei — freudig nahm Horst es hin — etwas vom Fanatismus der höheren Töchterschule.
Er vergaß erst die großen Worte ob diesem Reiz fast verschämter Glaubensleidenschaft. Dann aber stiegen ihre Worte wieder empor, in der unerbittlichen Großartigkeit.
„Chaotik“ — klang es ihm im Ohr. Chaotik — reimt sich auf Gotik — und ist als Schlagwort gewollt und gemünzt. O was für gewaltige Blöcke werden hier gewälzt, titanenhaft. Nur müssen sie als Trümmer liegen bleiben — es wird nicht gebaut. Bauen ist räumlich, ist Form. Die reine Kunst aber und was mit ihr zusammenhängt, muß formlos sein oder sie ist nicht!
Schwer schüttelt Horst den Kopf — auf den er sich stellen müßte, um hier mitgehen zu können. Formung, Bindung, das ist und bleibt ihm aller Kunst Wesenheit. Das Stammeln von Urlauten ist ihm keine Sprache.
Aber, da er sich aufs neue in die Bilder versenkt, räumte er ein, gutwillig und gerecht: „Ganz gewiß spüre ich hier eine machtvolle Sehnsucht — einen, sagen wir, stürmenden Überschwang des Fühlens —“
„Nun also!“
„Aber es ist nun mal — wie sag ich — die Verzückung einer Qual — eine krampfartige, fallsüchtige Verzückung — wie ein Sichselbstzerreißen und wie ein Tauchen der Hände ins eigene Blut!“
„Recht so! Nur so, nur so kann man schaffen!“
„Etwas, was uns jagt und verfolgt! Wovor man sich schützt! Was tue ich mit einer Kunst, wenn ich mich von ihr mit Händen und Füßen befreien muß! Die Kunst soll mich befreien!“
Sie hob abwehrend die Hand. „Wie alt ist das! Ein Golgatha ist die Kunst und soll auch unser Golgatha sein. Nur kein irdisches, ein kosmisches Golgatha. Aber ich geb Sie längst nicht verloren. Hier ist nun der Scheideweg für alle denkenden Wesen. Nicht bloß in der Kunst, auch im Leben.“ Und mit einem Schlagwort mußte sie schließen. „Jeder hat sich zu entscheiden, ob er die Kosmik will oder die Kosmetik. Ob das Nivellieren, das Glatt- und Schönmachen in den hübschen Kompromissen von Gesellschaft, Staat und Kirche — ob das Ausschwingen des Geistes in Weltenweite!“
Kosmik — Kosmetik — das nenne ich einen Abgang, dachte Horst. Sie verließen das Gespräch, da die Wirtin kam.
Es sollte nicht das letzte Wort gesagt sein. Beim Torfmeister wollten sie sich weiter aussprechen. Mit einem „Auf Wiedersehen“ schieden sie.
Horst wanderte heimwärts. Das Gespräch mit dieser Frau, der über alle Feindschaft hinweg er die Hand gereicht hatte, begleitete ihn. Er fing an, immer mehr von ihr zu begreifen. Ihr geistiges Gesicht gewann für ihn Leben. Ihre Gefühls- und Anschauungswelt tat ihm Fernblicke auf, vor denen er nicht mehr unmutig und zornvoll die Augen schloß.
War es nur, weil sie, eine Frau, die als Weib auf ihn wirkte, das neue Land ihm zeigte?
Und wie ein Messerschnitt durchzuckte es ihn wieder: heute morgen hab ich den Freund begraben. Am Nachmittag sitz ich bei ihr, die seinem Dasein geflucht, deren Rache wie ein Vampir an seinem Mark gezehrt hat. Ist dies nun ein Verrat? Ist es einer, so weiß ich doch nichts von ihm. Oder will ich nur nichts von ihm wissen?
Gerecht sein! Um das er von je gerungen hat! Gerechtigkeit!
Daß die Blutrache unter Deutschen umgeht — Ihr seid es schuld, die Ihr Deutschland in die sinnlose, selbstmörderische Verzweiflung gestürzt habt! Aus hysterischer Lustgier, wie aus unsäglicher hosenschlotternder Angst. Und diese Angst täuscht Euch nicht — die Abrechnung kommt, darauf dürft Ihr Euch verlassen!
Was Ihr aber in Deutschland gegeneinander gehetzt habt in dem wahnsinnigsten aller Bruderkämpfe, es wird sich wieder versöhnen. Wird sich vereinen und verschmelzen in dem einen großen, dem einzig lebendigen Gedanken: ein freies Volk auf freiem Grunde!
Nur, daß jeder helfe an dem Sichverstehen! Dies ist das Erste! Verstehen müssen wir uns — einander durchdringen! Immer und immer will ich daran denken, immer und immer daran schaffen! An der deutschen Brüderlichkeit!
Du, Lona, hast mir heute etwas offenbart, was auf den ersten Blick mich zurückstieß. Aber jetzt frag ich mich, ist nicht auch all dies Neue so deutsch, so ganz und ursprünglich deutsch? Dieser unaufhaltsame, machtvolle, aus dem Innersten hervorbrechende Selbstbekenntnistrieb — die Schöpferkraft unserer jüngsten Kunst, ist sie nicht schlechthin germanisch? Nur deutschem Geist, nur deutschem Fühlen springen diese Quellen. Deutsch — deutsch auch dies — und auch dies zum Liebhaben! Und — was hier auch krank sein mag, in der kranken Zeit, dies Wirre und Aufgepeitschte, das wild Zusammengeballte, dies Überhitzte und Fiebernde — sollte man nicht um so eher eine sachte und sorgende Hand daran legen und zärtlich hegende Gedanken?
Daß Du, Lona, mir der Dolmetsch warst für diese Sprache, die bisher nicht an mein Ohr geklungen ist, hab ich es Dir nicht zu danken? Und ist in dem Dank nicht ein Band, das uns, so lose es sein mag, miteinander verknüpft?
Nun will ich Dich spielen hören! Nun sollst Du auf der Orgel zu mir sprechen! Von Deines Wesens Tiefe, seinen Nöten, seinen Lichtern! Ich werde mehr von Dir lernen, mehr von Dir erfassen, mehr von Dir wissen, von Dir und den Deinen. Und immer mehr von der Feindschaft wird abfallen. Deutsch und deutsch soll sich gesellen und einig sein!
Nichts will ich beschönigen. Du hast es mir leicht gemacht, dadurch, daß Du ein reizvolles junges Weib bist. Gewiß hätte ich zu einem anderen Lehrer und Erklärer nicht den Weg gefunden — oder mich ihm gar aus Leibeskräften widersetzt.
Die Sinne — nun ja — warum sie als Helfer verschmähen. Sie sind da, und so sollen, so müssen sie getrost teilhaben an unserm Werk! So wahr sie ein Teil von uns selber sind! Sinnlos, sie zu bekämpfen! Wird nicht von ihnen beflügelt, was wir wollen?
Ihr seid ein Teil der Kraft, darum seid gelobt! Wärt Ihr mir lähmend über den Kopf gewachsen, hättet Ihr mich verstört und gestört und verstrickt — unter die Füße hätte ich Euch genommen. Jetzt aber, als meine Freunde — als meine Freunde seid gelobt!
Morgen gehe ich zu Pastor Waermann. Er soll Dir erlauben, daß Du die Moordorfer Orgel spielst. Der Pastor ist heftig und streng, vielleicht auch eng. Aber mein Mittleramt, das ins Größere greift, wird er gelten lassen.
Getragen schritt Horst durch den Frühlingsabend. Es war so viel Hoffnung, so viel Gläubiges in der Natur. Im Westen der letzte Feuerstrich, eine freudige Verkündigung neuer Sonnentage. Darüber der breite, topasfarbige Streif, irisierend, wie zitternd von dem Zauber der Frühlingsnächte, der auf die Erde tropfen will. Und wann wölbt der Himmel, der sich bestirnende, so wie jetzt in diesen Tagen des jungen Lichtes sich auf zu der Höhe trostreicher Unendlichkeit?
Mit reiner Freude gedachte Horst seiner Arbeit und der Kameraden. Neue organisatorische Gedanken gingen ihm auf. Neue geschäftliche Pläne. Schichten eines erlesenen Töpfertones waren in dem Ziegeleigelände gefunden. Unter den Kameraden war ein gelernter Scheibentöpfer, ein geschickter und geschmackvoller Keramiker. Kacheln und Geschirr wollten sie herstellen. Eine aussichtsreiche Industrie, die ihre Finanzen, die immer bedürftigen, stärken würde.
Vor ihm liegt die Baracke, die gelobte, die geschmähte, im Dunkel. Nur spärlicher Lichtschein aus einzelnen Fenstern.
Da — wie ein Schatten schleicht eine Gestalt den Weg entlang. In Mantel und städtischem Hut, einen Reisekoffer in der Hand. Scheu wie ein Flüchtling —
Es fährt Horst durch den Kopf: ist das nicht Radatz, der unsichere? Natürlich ist er’s! Und heimlich reißt er jetzt aus — da der Führer nicht im Bau ist. Soll er laufen, so weit die Beine ihn tragen! Mit solchen Brüdern hab ich nichts zu schaffen! Schade um jedes Wort, das man an euch verliert!
Aber, daß meine Mannschaft sich nun so zersetzt! Und verstecke ich mich nicht selbst, wenn ich den Mann so an mir vorüberschleichen lasse? Keine vornehme Bequemlichkeit! Ihn stellen! Bin ich der Führer oder nicht? Er soll wenigstens Hals geben! Ich verkriech mich nicht mit ihm zusammen in Heimlichtuerei!
„Radatz, sind Sie das?“
„Jawohl, Herr Hauptmann.“ Die Stimme knickte ein.
„Wollen Sie verreisen?“
„Ja.“
„Haben Sie Urlaub?“
„Ich — ich habe eine traurige Nachricht von zu Hause. Mein Onkel ist gestorben —“ Der Mann log.
„Beruhigen Sie sich. Er ist nur scheintot“, sagte Horst mit überwältigender Kühle.
Der Ausreißer stand, eingekeilt zwischen Beschämung und Unmut. Horst ließ ihn stehen. Eine kurze Wendung. „Reisen Sie glücklich!“ Er hatte ihm den Rücken gedreht.
Gleich berief Horst eine Versammlung der Siedlerschaft.
„Kameraden. Der frühere Siedler Radatz hat sich heimlich entfernt. Daß er sich entfernt hat, ist seine Sache. Daß er es heimlich tat, seine und unsere. Nichts schlägt so wie dies dem Geiste unserer Gemeinschaft ins Gesicht. In der vollen Freiheit, vollen Ehrlichkeit ist sie aufgebaut. Und so frei und ehrlich soll sie bleiben. Wir glauben an unser Werk. Zum Glauben gehören Opfer — wir bringen sie freudig. Dies unsere Gesinnung — oder ist sie es nicht mehr? Leicht ist unsere Arbeit, unser Leben nicht. Lockende Rufe von draußen kommen zu manchem von uns. Und nun will ich Euch fragen, ist noch einer oder der andere hier, der nicht mit ganzem Herzen weiterschafft an unserer Arbeit — offen soll er es sagen. Wir wollen ihn gewiß nicht hindern, daß er geht — fördern wollen wir ihn auf seinem neuen Weg. Aber Offenheit wollen wir! Lassen wir den Betrug sich bei uns einnisten, dann stürzt unser Bau zusammen!“
Die Worte wirkten, der Ton zwang. Alle gelobten sich aufs neue dem Siedlungswerke zu.
„Wir sind seit langem wieder einmal in größerem Kreise beisammen. Hat einer sonst noch was auf dem Herzen?“
Maurer Mulitz meldete sich. „Ich kann mir nicht helfen — daß wir damals nach Mehrheitsbeschluß allesamt gegen den Streik uns einsetzen mußten — das halte ich nicht für richtig.“
Gegenrufe: „Wieso?“ — „Allesamt! Bei uns gibt es nur ein Allesamt!“ — „Kameraden sind wir!“
„Ich hab da etwas gegen mein Gewissen tun müssen — als Streikbrecher bin ich mir vorgekommen —“
„Lächerlich!“ — „Was war das für ein Streik!“ — „Ein wilder allerhöchstens.“ — „Mit Brandstiftung!“ — „Mit Überfall aus dem Hinterhalt.“
Mulitz ließ sich nicht beirren. „Ich bin der Meinung, daß wir andere Aufgaben haben. Auch zum Polizeidienst sind wir nicht da. Sollte sich so etwas wiederholen, muß ich mir ausbitten, daß ich hier in der Siedlung bei meiner Arbeit bleiben darf.“
Kunz wurde erregt. „Lieber Mulitz, wir haben uns stets als geschlossenen Verband betrachtet! Einer für alle, alle für einen! Wollen wir den Mordbrennern zuliebe uns in unsere Bestandteile auflösen? Und einpacken mit unserem gemeinsamen Siedlungswerk? Und was haben Sie, gerade Sie gegen Mehrheitsbeschlüsse? Damit müßte sich doch Ihr gewerkschaftliches Gewissen am ersten beruhigen.“
„Wir sind hier keine Gewerkschaft. Eine Arbeitsgemeinschaft sind wir, in der jeder persönlichen Überzeugung Freistatt gewährt ist.“
„Die sich aber doch jederzeit einheitlich zur Nothilfe organisieren kann.“
„Um Nothilfe ging es hier doch gar nicht. Handelte es sich hier vielleicht um lebenswichtige Betriebe —?“
„Wenn wir schon den neuen Staatskatechismus gelten lassen — erst recht handelt es sich hier darum! Was ist jetzt lebenswichtiger, als daß die deutsche Erde bestellt wird? Und dann die Brandstiftung — ist das nicht unmittelbare Lebensbedrohung!“
Es gab parlamentarische Erregung. Die meisten waren für Kunz, wenige für Mulitz. Immerhin bildeten sich Parteien. Die Augen hingen an Horst. Er nahm das Wort.
„Ich kann den Standpunkt vom Kameraden Mulitz nicht ablehnen.“ Kunz hebt die Schultern, das Lid von Dankwardt zuckt. „Gewissensnöte müssen wir unter allen Umständen ehren. Natürlich liegt mir an nichts so viel, wie an unserer Einheit. Und tatsächlich — wie es auch diesmal geschehen ist — wird ein großer Zug die Bedenken der einzelnen mit sich reißen. Auch die Kameradschaftlichkeit von Mulitz hat sich noch immer bewährt. Aber wir müssen grundsätzlich anerkennen, daß in solchen und ähnlichen Fällen jemand seiner Überzeugung treubleiben darf, ohne sich damit außer dem Rahmen unseres Verbandes zu bewegen. Über die sogenannten inneren Feinde sind verschiedene Auffassungen möglich. Nur über den äußeren nicht!“
Kleister! schalt Kunz in seinem Gemüt. Er war böse auf Horst. Aber seine Disziplin hieß ihn hier schweigen. Unter vier Augen würde das Weitere sich finden.
„Noch eins darf ich zur Sprache bringen“, bemerkte Mulitz, der jetzt Oberwasser hatte. „Es scheint sich hier so etwas wie Schnüffelei ausbilden zu wollen. Man hat mir meinen Verkehr aufgemuzt — daß ich manchmal in der Stadt mit einem alten Freund zusammenkomme. Der ist allerdings eingefleischter Kommunist. Aber wenn man darin nicht mehr freie Hand haben soll —!“
„Natürlich hat man die“, erklärte Horst. „Wir sind hier doch nicht in einer Kleinkinderbewahranstalt.“ Und dann fügte er mit Bedacht hinzu, und es grub sich die gerade Falte zwischen seinen Brauen: „Übrigens bin ich in ähnlicher Lage wie Sie. Auch ich — suche sogar den Gedankenaustausch mit kommunistischen Kreisen. Ich meine, wir sollen und müssen ergründen, was in deutschen Geistern vorgeht. Nur so können wir deutsche Arbeit leisten.“ —
Die drei Offiziere saßen in Dankwarts Zimmer. Kunz würgte an seiner Erregung. „Nun sind wir so weit. Der Zersetzungsprozeß beginnt! Wenn erst dieses Phrasengespenst, die Gewissensfreiheit bei uns herumspukt! Mit dem jeder seinen Privatunfug treibt! Dienstpflicht, verdammte, haben wir und Kameradschaft. Und Kameradschaft und Dienstpflicht. Vorbildlich! Und weiter nichts auf der Welt — es ist wahrlich genug. Und vor allem keine Gespenster!“
„Du gehst durch die Wand, Kunz!“
„Dann ist die Wand danach! Ich bleib dabei, so lange wir immer und immer wieder den sozialen Knüppel unserer vaterländischen Empfindung zwischen die Beine werfen lassen, so lange, kann ich nur sagen, verdienen wir wahrlich den Knüppel!“
Dankwart nickte mit der starren Asketenmiene. „Alles in allem — da es nun mal ohne Politik nicht geht — können sich eben nur Glaubensgenossen in einer Gemeinschaft wie unserer zusammenfinden. Die meisten stehen ja glücklicherweise auf unserem Boden. Die paar andern — hinaus! Und geeigneten Ersatz! Es gibt brave Kerle genug ohne Dach — die gerne kommen!“
Horst warf heftig den Kopf. „Nein — nein. Das ist ja das Allerverkehrteste! Damit werden wir ja bloß ein Klüngel mehr! Ein Häufchen Partei und weiter nichts! Wir haben doch wahrlich was Größeres im Sinn gehabt! Alles, was deutsch ist im Denken und Wollen — ist nicht Gust Elbenfried mit seinem kommunistischen Christentum, mit diesem rührend innerlichen Kommunismus der Herzen, einfach eine Notwendigkeit in unserm Kreis? Etwas wie ein klein Deutschland wollen wir sein! Und nun verschont mich gefälligst mit Ketzergerichten!“
Kunz lachte höhnend. „Ein Deutschland — ohne Ketzergerichte? Wie unvollständig bleibt Dein Abbild!“
Dankwart aber, und die Bronze seines Gesichtes dunkelt unmutig: „Du wirst immer mehr zum Schwärmer, Horst. Und das macht mir Sorge. Mir und uns.“
„So sägt mich ab.“
Dankwart weiter — und das schwere Lid hob sich auf zu besonderem Vorstoß. „Du hast selbst davon gesprochen, von Deinem Verkehr mit der Kommunistendame. Darf ich Dir meine Ansicht sagen?“
„Bitte.“
„Als Führer tätest Du besser, diesen Verkehr einzustellen.“
„Lieber Dankwart —“
„Man wird Dich nicht verstehen. Und ein Führer — soll verständlich sein.“
„Wohl. Aber vor allem soll er doch selbst verstehen, mein ich. Und möglichst viel. Meine Methoden müßt Ihr mir schon lassen.“ Er hielt die Ruhe, aber ein wehrhafter Ton meldete sich.
Dankwart, den bitteren Mund verzogen, mit seinem gelinden Zynismus: „Lieber Horst — hättest Du gesagt: meine weibliche Privatsache, Hände davon — gut! Oder: wenn ich einen Gegner so oder so unschädlich mache, seid mir doch dankbar — besser! Aber ein ‚geistiger Austausch‘ — geht dabei etwas verloren, trifft das auch uns. Und darum —“
Horst wurde es der Erörterung zuviel. Sprödigkeit, Stolz, ritterlicher Sinn wehrten sich gegen die ganze Art dieser Betrachtung. „Wir geraten da nach meinem Geschmack zu sehr ins Persönliche. Meinen Standpunkt in der Sache hab ich Euch bezeichnet.“
In den festen Worten war ein metallenes Klingen. Das bedeutete Schluß der Vorstellung, die Freunde wußten es.
Kunz, der am ersten sich umstimmte, suchte erfreuliche Mitteilungen in das Schweigen zu bringen.
„Ein Paar Pferde habe ich gestohlen.“
„Was? Gestohlen — wo?“
„Dem Roggendorfer habe ich sie abgeknöpft. Zwei zähe ostpreußische Schecken. Kosten so gut wie nichts.“
„Kunz —“
„Horst — sei Du der Organisator des Sieges. Ich sei der Organisator des Geschäfts. Zwei Schälpflüge hab ich uns auch gelangt. In Süldemitz. Auf Abzahlung. Ohne Termin. Na — und da wir keine hastigen Orientalen sind —“
„Natürlich dürfen wir nicht —“
„In allem Ernst, Horst — die lieben Leute haben von uns so unendlichen Nutzen gehabt — da erlauben wir ihnen eben gütigst, sich ein klein bißchen erkenntlich zu zeigen. Manus manum. Und weil ich auf diese Manikür mich verstehe —“
„Was uns aber nicht an ordnungsmäßiger Abrechnung hindern wird.“ Horst erhob sich. „Und morgen also zuerst ins Ödland. Gut Nacht!“ Er reichte den Freunden die Hand und ging.
Die beiden blieben noch eine Weile zusammen.
„Die Höhe hat er,“ sagte Kunz, und was ihn ihm zürnte, wurde von der Anerkennung verschlungen. „Weshalb wir jetzt auch gegen ihn Stimmung machen. Und an ihm stürzen werden.“
„Das tut er ja leider allein.“ Dankwarts Auge war wie Nacht. „Knochenerweichung geht weiter.“
Kunz schrak auf. „Und was soll werden? Wer soll uns führen? Kannst Du es?“
„Nein.“
„Kann ich es? Strammheit allein — lächerlich. Dazu gehört dies gewisse Etwas. Was er hat — und keiner von uns.“
Dann rückte er sich kräftig zurecht. „Unsinn! Wir übertreiben. Und machen Verschwörung. Verschwörer übertreiben immer. Es renkt sich alles wieder bei ihm ein. Gesunder Kern — also!“
„Wenn nicht ein Weib dahinter steckte.“ Heiser die Worte, vor Bitterkeit, höchstem Mißtrauen und tiefster Verachtung.
„Das bißchen Weib.“ Kunz lächelte, er war noch leidlich unbeschwert. Dann schlug er lebhaft mit den Flügeln. „Wenn man ihm das Weib auf irgendeine Art vom Halse schaffte!“
Sehr abenteuerliche Gedanken brausten ihm durchs Hirn.
Die Siedler arbeiteten im Felde. Über ihnen die klingende Frühlingsweite. Kunz pflügte mit seinen Schecken. Er war zufrieden und sang. Die Morgenluft hatte alles aus seinem Schädel geweht, was da noch dumpf von Krisenstimmung und Palastrevolution herumrumorte.
Und Horst war von der Verantwortung getragen. Jetzt, wo alle Betriebe lebten, die Landarbeit, die Ziegelei, der Torfstich, wo alle Fäden in seiner Hand zusammenliefen, war er mehr als je der Führer. Er selbst betonte sich die Führerschaft, geflissentlich und hart.
Es war da etwas gegen ihn aufgestanden — in sein Empfindungsleben hatten sie greifen wollen — was im Grunde um so plumper ist, je rücksichtsvoller es sich gebärdet! Und wenn nun gar die Freundschaft ihr Lied hineinsingt —! Solches lehne ich ab! Ich bin, wer ich bin! Wollt Ihr mich nicht so — ich will mich so! Und es gilt den Kampf.
Er fühlte sich allein. So ist die Höhe. Und stark ist die Einsamkeit.
Nach dem Torfstich wandte er sich, zum Moor. Er würde Lona sehen. Durfte er? Mußte er dafür nicht einen Genossenschaftsbeschluß in der Tasche haben? Ein Lächeln. Und er dachte an sie mit einer Art trotziger Innerlichkeit.
Beim kranken Torfmeister fand er sie. Ihre Pflege hatte Wunder getan, der Alte war fast ohne Schmerzen. Die zwei saßen nebeneinander beim Fenster. Sie schauten und horchten aufs Moor. Er hatte seine Pranke auf ihren Unterarm gelegt, der eine Schönheit war. So zogen seine alten Glieder sich die Heilkraft aus ihrem jungen Leib.
„Mein Lütt ist mein Segen“, sagte er. „Und wenn sie sich nun noch aufs Moor verstünde — und das Moor sich auf sie —! —“ Dies war sein Kummer. „Denken Sie,“ sagte er zu Horst, „sie kann hier nicht schlafen. Wie kann man hier nicht schlafen, wenn das Moor neben einem atmet.“
„Aber es stöhnt im Schlaf“, rief sie. „Wie ein Riese, der sich den Magen verdorben hat.“
Der alte Lud schüttelte den vermoosten Schädel. „So kommt Ihr Euch nicht bei.“
Lona trotz ihrer Schlaflosigkeit blickte aus klareren Augen in die Welt. Von der Güte der Pflegschaft lag es weich um ihren herben Mund. Etwas wie friedliche Versonnenheit war über sie gebreitet.
In Horst ging es auf: ist sie nicht wie befreit, von einer inneren Not, einem Druck, einem Zwang? Da die furchtbare Pflicht von ihr genommen ist — die Pflicht ihrer Rache!
Er mußte an sich halten. Gräber wälzten sich gegen ihn, deutsche Gräber. Aber das Goethewort hallte in ihm nach: „Über Gräber vorwärts!“
Pastor Waermann hatte es gesprochen. Und hier war eine — auch ein darbendes Kind der deutschen Erde — die auch vorwärts schritt, auch hinaus strebte aus dem Fluch, aus den Fesseln des Vergangenen und enger Gelöbnisse. Der sie jetzt die Orgel nicht gönnen wollten, die ihre Erhebung war, die auf den Weg zum Ewigen ihr leuchtete.
Morgen am Sonntag rede ich darüber mit Pastor Waermann.
Und er sagte es ihr. Sie hatte dafür einen dankbaren Blick. „Ob ich aber gerade bei Pastor Waermann Gegenliebe finde?“
„Bei ihm am ersten.“
„Pax vobiscum beten die Christen — bellum aeternum den Pazifisten!“
„Darin ist er nun wie ich: um —isten und sowas kümmert er sich nicht, auf Endungen gibt er nicht viel. Und der Kern der Sache —“
„Ist, daß Lütt Orgel spielt!“ rollte Lud Uhlenbrook dazwischen. „Bedanken sollen sie sich, der Pastor und der Herrgott und die Kirche und jedeiner, der mit seinen langen Ohren einen Ton davon aufzuschnappen kriegt!“
„Lud, was weißt Du von meinem Spiel!“ Ganz mädchenhaft war ihre Abwehr.
„Ich hab Deinen Vater spielen hören. Und in meiner besten Stube“ — er schlug sich an die Brust — „ist seit der Zeit Festesfreude. Wenn sie Dich nicht spielen lassen — wir stürmen die Kirche — was, Herr Oldefeld?“
Seine Pranke hob sich zu mächtigem Schlag und ruhte dann wieder aus auf der köstlichen Armrundung seines Lieblings.
Dann lud er Horst ein, morgen den Sonntagnachmittag bei ihnen zu verbringen. Freudig sagte der zu, ganz glückhaft vergessen. Plötzlich fiel es ihm ein: ich kann ja nicht. Und er ließ sie es wissen. Seine Jungen kämen morgen aus der Stadt heraus zu ihm.
„Was wollen die?“ fragte der Alte.
„Soldat spielen.“ Horst hielt nicht hinterm Berge. Er sah, daß es um Lonas Mund zuckte. Jugendverführer! mochte das heißen. Er konnte es nicht ändern — o nein und wollte es auch ganz gewiß nicht.
„Natürlich“, knurrte der Alte in zustimmendem Behagen. „Was wollen Jungen sonst! Wir haben es so gemacht, und solange die Welt steht, wird sie’s so machen. Jungs sind Soldaten und wollen Soldaten sein. Und warum ist es so?“ Hier faßt er dem großen Weltgeheimnis an den Puls. „Weil die kleinen Mädchen es so wollen!“
„Lud, das ist nun mäßig.“ Lona lehnte sich auf, aber sie ließ ihm ihren Arm. „Frauen kennen Besseres als rasselnde Säbel.“
Das war ganz gewiß auch auf Horst gemünzt. Der aber schwieg.
„Lütt, Ihr Aufgeregten guckt so oft an der Welt vorbei — und glaubt dann, sie ist anders. Aber sie bleibt wie sie ist, und Soldat ist und bleibt Trumpf für die Frau. Und ich kann Dir auch verraten, wovon das ist. Guck, alles könnt Ihr Frauen meinetwegen werden — Doktor und Apotheker und Advokat und Priester und Küster. Bloß nicht Soldat. Und weil das das richtig Männliche ist, darum ist das auch das Richtige für die Weiber.“
Horst brauchte keine Reiterlieder anzustimmen. Von dem blanken Mannesmut, dem die Frauenhuld gehört. Die totsichere — die lebenssichere Gewähr dafür, daß dieser Geist sich auch fortpflanzt und nun und nimmermehr ausstirbt. Er freute sich daran, wie der Alte die Klinge schlug. Und war es zufrieden, daß er selbst im Hintergrund bleiben konnte — jetzt, wo Lona, die Gebändigte, selber in der Beschaulichkeit sich hielt.
So sagten sie sich still und friedfertigen Sinnes Lebewohl. Horst verhieß, er würde Sonntag abend nach dem Manöver noch herüberkommen und den Kirchenschlüssel bringen. —
Die Jungen strömten heraus mit singenden Lungen und hochschlagenden Herzen.
Sie lagern am Fuße der Goldberge. Horst, in der Mitte des Kreises, hält ihnen Vortrag. Mag das ganze eine Kinderei sein, ein Stammeln im Geiste. Aber gleichviel — auf den Geist kommt es an.
Wir haben hier — so spricht Horst — ein ausgezeichnetes Katzbach-Gelände. Da, die beiden Rinnsale, die von dem Südhang sich abzweigen und ins Moor fließen: Katzbach und Neiße. Drüber die Hochebene. Also heute: die Schlacht an der Katzbach!
Begeisterte Zustimmung leuchtet aus all den jungen Augen.
Wie Horst nun begann die Kriegslage zu erläutern, fand auch Kunz sich ein. Aber er blickte nicht auf das Schlachtgelände, drehte der Strategie den Rücken und hielt mit den Augen die Moordorfer Straße.
Horst erklärte: Napoleon hat versucht, mit großer Übermacht Blücher in Schlesien zu stellen. So dumm ist der Alte nicht — er weicht aus, geht vom Bober hinter die Katzbach zurück und wartet, bis der Kaiser mit einem Teil seiner Armee nach Sachsen zurück muß, da das böhmische Heer anmarschiert. Macdonald erhält den Befehl über die achzigtausend Mann, die den — natürlich! — ‚in Auflösung begriffenen Feind‘ weiter verfolgen und vernichten sollen. Bei Blücher haben Russen den rechten und linken Flügel, unter Sacken und Langeron. Das Zentrum befehligt York. Er hält sich hinter Anhöhen versteckt — ahnungslos steigen die Franzosen zu dem Plateau empor. Blücher befiehlt: laßt so viel Feinde herauf, wie Ihr wieder hinunterschmeißen könnt! So geschieht’s. Dann beginnt die preußische Brigade Hühnerbein den Tanz, mit Bajonett und Kolben fegt und schmettert sie die Franzosen den Abhängen zu. Aber Macdonald treibt immer neue Massen auf die Höhe. Ein preußischer Kavallerieangriff unter Jürgaß verpufft. Da stürmt der Alte selbst und sein Liebling Katzeler mit preußischen und russischen Reiterscharen gegen den Feind. Kräftig hilft die Infanterie Yorks und Sackens nach — während Ehren-Langeron es vorzieht, Gewehr bei Fuß zu bleiben. Der Franzose wird ins Neißetal geworfen, in den brausenden Strom. Der Sieg ist errungen.
So die kurze Erläuterung. Nun wandern sie durch das Schlachtgebiet. Fröhlich schmunzelt die Fantasie zu den „reißenden Gebirgswassern“. Die einzelnen Stellungen werden bezeichnet. Dann geht es an das Einteilen der Heerkörper, an die Ernennung der Führer.
Natürlich will niemand Franzose sein. Erst wie Horst die Rolle Macdonalds übernimmt, bekommt er sein Heer zusammen. Auch die Russen sind nicht begehrt. Kunz muß sich erst zu dem Jammerkerl, dem Langeron, entäußern. Allerdings hat er dafür den Vorzug, auch sein eigener Heerkörper zu sein — zum Nichtstun bedarf es keiner weiteren Kräfte — und in träumerischer Einsamkeit die Spitze des Moordorfer Kirchturms und die Straße vom Dorf, die so freundlich verheißende, zu betrachten.
Auch hat der Posten, der ihm zugewiesen ist, alle Anwartschaft darauf, nicht mit rührender Treue gehalten zu werden. Vielleicht, daß dieser Frühlingssonntag doch noch etwas anderes mit ihm im Sinne hat, als daß er hier den traurigsten aller Wutkigenerale an den Pranger der Unsterblichkeit stellen muß.
Die Moordorfer Straße — eine Straße wie die andern auch. Vom grauen Staub bedeckt, von grauen Bäumen mürrisch bewacht, die der Frühling noch nicht hat entzünden wollen. Und heute ein grauer Himmel über allen Dingen.
Wie aber wird dieser graue tote Weg, auf dem heute niemand geht und niemand fährt, wie wird er zu leuchten anfangen, ein goldener Streif, eine Sonnenbahn, wenn zwei Mädchenfüße ihn betreten!
Wartest Du, Straße, nicht auf diese Füße? Ja, ja — Du bist nichts als ein Warten, als ein Dichdarbieten, als ein Sietragenwollen! Was gibt es auch Herrlicheres für einen Weg, als von dieser unsagbaren Anmut zu federn und zu schwingen!
Nicht wahr, Du, Straße, sehnsüchtig wie ich, Du führst sie mir her, sie weiß ja, daß hier heute Kriegsspiel ist. Was gibt es Lockenderes für sie? Und sie ist mein Kamerad. Wenn ich dabei bin, muß sie doch auch dabei sein! Straße, gedenke Deines Berufes! Trag ihre Schritte! Bring sie mir her!
Der Ehrgeiz der Jungen warb um die Führerstellen. Blücher war natürlich Dr. Georg Stump — an den greisen Marschall hätte auch ihre Bewunderung kaum zu rühren gewagt. Eher schon trauten sie an York sich hinan — der primus omnium, ein ernster, kantiger und steifnackiger Junge ward auserlesen.
Am meisten umworben war Blüchers Verzug, Katzeler, der kühnste und verschlagenste aller Reiterobersten. Als solcher durfte Fritz Röder vor seinen Schwadronen bergan traben, ein Junge, rosig, leichtsinnig, sorglos und liebenswürdig verschmitzt — seine Besonderheit war, listig sich mit der Kamera lustig verfängliche Situationen zu greifen.
Und nun ist Krieg. Die feindlichen Heere haben sich aufgestellt. Horst-Macdonald klimmt mit seinen Scharen die Höhe hinan, die Aufklärung versagt plangemäß, in breiter Linie fluten sie auf den Gipfel.
Wie ein unbändiges Meer wogt die versteckte Brigade Hühnerbein. Schwer ist sie zu halten. Jetzt! Das Kommando! Sie brechen vor auf die Feinde —
Ein erbittertes Handgemenge. In Paaren kugeln sie auf den Boden. Die Franzosen müssen zurück. Aber Macdonald — zu spaßen ist nicht mit dem schlachtenerprobten Marschall, dem Helden von Wagram — er führt neue Truppen ins Feuer — der Kampf steht —
Jetzt ist die Stunde der Reiterei gekommen. Wie das Donnerwetter preschen Blücher und Katzeler mit den Regimentern gegen die Anstürmenden. Und Yorks Infanterie gibt ihren Senf dazu.
Aber — aber die gerufenen Geister — so leicht sind sie nicht los zu werden. Ist es die Schwärmerei für Horst, ihren Führer, ist es der Zorn, daß sie die Franzosen sein müssen — Macdonalds Soldaten stehen und verbeißen sich. In Einzelkämpfen. Sie sind die gewandteren Ringer und bleiben oben. Der große Kavallerie-Angriff und mit ihm das ganze Programm droht in die Brüche zu gehen. Kommandos und Signale werden in der Kampfeswut nicht mehr gehört, die Franzosen dringen erbittert weiter vor, das Bild der Katzbacher Schlacht beginnt, sich heillos zu verschieben und zu verzerren —
Da — was begibt sich? Man weiß, wie oft in die Entscheidungsschlachten der Völker überirdische Mächte, himmlische Erscheinungen eingegriffen haben — Erzengel mit dem Flammenschwert, die Geister sagenhafter Helden oder heilige Frauen im Glorienschein.
Und hier — eine Elfengestalt — ein Wesen aus einer anderen Welt — an die Spitze der wankenden Preußen tritt sie — eine Begeisterung, übermächtig, braust durch die Herzen. Die Reihen schließen sich, sie stürmen vor, unaufhaltsam, sie siegen, sie siegen. Und der Feind liegt am Boden.
Kunz, wo hast Du Deine Augen gehabt? Hast Du so lange auf die Straßenlinie gestarrt, wie das Huhn auf den Kreidestrich, daß Du davon eingeschlafen bist?
Vita, Deine Vita ist ja längst zur Stelle. Mit ihrem Vater ist sie gekommen, der heute hier auch nicht fehlen darf. Jetzt steht Horst bei ihr und drückt ihr die Hand, daß sie die geschichtliche Wahrheit gerettet hat. In scheuer Verehrung umkreisen sie die Jungen.
Kunz findet sich schnell hinzu — es zwickt ihn wie die bittere Wehmut einer leichten Eifersucht, es liegt ihm ganz und gar nicht, überflüssig zu sein. Sie begrüßt ihn mit ihren hellen eifrigen Augen. Wie durchrieselt ihn die Freude an ihrer Kindlichkeit. Die ihm, ihm einmal erwachen soll!
Eine Pause gibt es. Wieder lagern sie alle. Die Kritik ist mühelos erledigt. Jeder bekommt seinen Wischer. Nur die Vision wird gefeiert, der Geist und des „Geistes Tochter“, die Begeisterung.
Die drei Männer, Horst, Pastor Waermann, Dr. Georg Stump unterhalten sich über das Leben in Blüchers schlesischem Hauptquartier — der eine weiß dies, der andere das. Die Jungen hören zu mit dürstender Hingabe. Hier ist Trank aus deutschen Quellen.
Wie um den Alten, den sie den „rohen Husaren“, den „Landsknecht“ schalten, das regste geistige Leben blühte. Nichts mehr von dem alten bildungsfeindlichen, plumpen Hohn des Kasernentons. Die Helden dieses Kreises, Gneisenau voran, Rühle von Lilienstern, mit Heinrich von Kleist innig befreundet, Schack, Brandenburg, Oppen, — Offiziere von weitestem Horizont. Und auch die Haudegen Horn, der preußische Bayard, Jürgaß, Sohr, Katzeler, der tolle Platen, dem nie die Pfeife ausging — sie alle beileibe keine bloßen Plempenschwinger. Weiß man, daß die Offiziere in Blüchers Hauptquartier Shakespeares Dramen mit verteilten Rollen lasen? Und wieviel Leuchtkraft strahlte von den „Schriftgelehrten“ Karl von Raumer, Friedrich Steffens, Friedrich Eichhorn aus! Keine Dumpfheit gab es hier, keine Enge, keine Verketzerung! Freimut die Losung! Alles Ehrliche galt, alles Faule wurde ausgebrannt, bei Fürsten wie bei Untertänigen!
O Du, unser Vater Blücher, auch heute noch — heute mehr noch als je unser Vater! Wie sang Pastor Waermann sein Lied!
„Bewußt und groß!“ Erfüllt war sein Bewußtsein von der Sklavennot seines Volkes, seiner eigenen unerträglichen Not! Bewußt war er sich seiner Führerschaft, seiner Kraft, die Fesseln zu brechen — bewußt der Liebe seines Volkes, der Liebe seines Heeres, der Bereitschaft seiner Getreuen, mit ihm in den Tod zu gehen. Keiner ist so klaräugig wie er, mit so unverwüstlichem Vertrauen wie er, der Frische, der Kraft, der Freiheit deutscher Art sich innegewesen — groß war er im Glauben! Und so — bewußt und groß hat er die Volksseele gelöst, gehoben, beflügelt zum Freiheitsflug. Jeder Blutstropfen in ihm war Freiheit, jeder Hauch seines Atems rief nach Freiheit. Der große bewußte Freiheitsheld seines Volkes ist er gewesen. Und ist er uns geblieben, unser Schirmherr, unser Bannerherr, uns, seinen Urenkeln, auf die wiederum die Knechtschaft fiel — und die wiederum die Knechtschaft zerbrechen werden! In unserer Seele brennen und leuchten seine Worte: „Trage Fesseln wer will, — ich nicht. Ich bin frei geboren und muß auch so sterben!“
Es bebten die jungen Herzen, es zuckten die Augen.
Turnspiele folgten. Militärische Übungen. Horst sprach noch einiges über Technik in der neuesten Kriegsführung. Dann trennte man sich. Die Jungen waren vollgesogen bis ins Mark von stählenden Erlebnissen. Sie hatten Eisen ins Blut bekommen. Am nächsten Sonntag wollten sie mit tausend Freuden sich wieder einfinden.
Singend zogen sie der Stadt zu, singend das Trostlied ihrem Deutschland:
Wir sind die Jungen, wir sind die Kraft,
jede Faser gestrafft und gerafft.
Wir sind die Jungen, wir sind die Frohen,
siehst Du die nächtigen Wolken lohen?
Wir sind des Frührots lachender Schein!
Frei sollst Du sein!
Horst, der Pastor, der Doktor, Vita und Kunz gingen eine Strecke im Takte mit. Der Doktor sprach mit Horst. Er war stolz darauf, daß von seinen Jungen wieder nur die beiden räudigen Schafe fehlten.
Übrigens der eine von diesen, der Kommunist, ein unheimlich begabter Mensch. Ein musikalisches Genie. Lebte als reiche Waise im Hause einer halb verrückten Tante, die ihn frei gewähren ließe. Jetzt hätte er Klavierstunde genommen bei der Nihilistin, die die Stadt unsicher machte.
Lona also. Diese letzte Wendung gefiel Horst nicht. Aber Doktor Stump sagte noch mehr von ihr. Natürlich sei der Junge rasend verliebt in sie. Eine Gefahr nicht bloß für ihn. Eine Gefahr, die weitere Kreise ziehen könne. Höchstwahrscheinlich lasse sie alle Minen springen, um Bresche zu legen in die Reihe der Primaner. Für die sie natürlich etwas lockend Geheimnisvolles und Verbotenes sei.
Horst trug an einem Unbehagen. Aber die Vertraulichkeit einer Entgegnung, einer Auseinandersetzung widerstrebte ihm. Und der Doktor, so ehrlich wie befangen, ging weiter im Text. Von all den Aufwieglern in der Stadt sei sie ohne Frage die Bedrohlichste, schon als die geistig Bedeutendste. Und ihr Zauber, um den die männliche Jugend zu kreisen geneigt ist —! —
„Wer weiß,“ rief der Lehrer erbost, „ob ich Ihnen das nächste Mal noch all diese Jungen wieder hinausbringe!“
„Sie meinen —! —“
„Nicht unmöglich, daß sie ein pazifistisch-musikalisches Jugendkränzchen mobil macht, gegen unsere vaterländische Jungmannschaft! Die Erregung gegen sie ist im Wachsen. Vielleicht steht ihr so mancherlei bevor!“
Nun richtete Horst sich steil auf. „Sie ist eine Frau, eine Dame —!“
„Sie macht Politik. Und Politik ist geschlechtslos —“
Die anderen traten hinzu, sie wollten umkehren. So verabschiedete man sich.
Horst ging versunken den Weg zurück. Die drei Andern sprachen lebhaft, er blieb mit sich allein.
Lona — sie laufen Sturm gegen Dich. Wären wir im Mittelalter, machten sie Dir als Hexe den Prozeß. Denn Du trägst Dein Mal. Dein unglückseliges zerrissenes Leben, Dein zerwühltes Gemüt, Deine flammende Sehnsucht, die der Zeit voran fliegen will, hat Dir das Hexenzeichen aufgeprägt.
Ich versteh es, ich seh es, wie die Primanernacken nach Dir sich wenden. Wieviel Reiz ist in der blühenden Schlankheit Deines Wuchses, in dem Doppelleben Deiner Züge, in der Auferstehung Deiner Augen aus vergrabener Tiefe. Wer begreift es nicht, daß gerade junge Fantasie an Dir sich entzücken muß!
Dazu Deine Kunst und — abenteuernden Sinnen ein Zauber — Deine wilde fanatische Kampfstellung, auf geistiger Höhe.
Und nun — einen Wettstreit soll es zwischen uns geben, um die Seelen der Jungen? Ist es das, was mir am nächsten geht? Oder ist es der Wettstreit, den ich um Dich auszufechten habe — mit allen, deren Blicke und Gedanken um Dich streichen und werben, ob es die Jungen sind, ob die andern alle! Ob der Alte seine haarige Flosse auf Deinen leuchtenden Unterarm legt — was hat sie da zu liegen! Ob Deine Parteigenossen Deiner begehren und Dich umgirren!
Er kämpfte schon wie um ein eigenes Besitztum, zornig und heiß.
Was hatte der Schulmeister vorhin gesagt? Daß sie sich nicht scheuen werde, ihre Reize spielen zu lassen, um so die Jungen zu sich herüber zu ziehen!
War das nicht wie eine Beschimpfung? Wie hatte er das hinnehmen können! Und heftig fast wandte er sich jetzt an Pastor Waermann. Er habe eine Bitte. Eine ihm bekannte Dame, Künstlerin, Meisterin auf der Orgel, möchte dann und wann in der Moordorfer Kirche spielen dürfen. Kunz spitzte die Ohren.
„Das soll sie!“ Der Pastor gab gern seine Einwilligung.
„In der Stadt macht man ihr Schwierigkeiten,“ erklärte Horst ehrlich. „Weil sie Kommunistin ist.“
Pastor Waermann wußte von ihr. „Ich muß offen gestehen — unbehaglich ist sie mir ja — aber darum —!“
Horst, der empfindlich gewordene, wollte gegen das „unbehaglich“ sich ins Zeug werfen. Dann aber griff er es willig auf. „Sie ist sich selbst nicht behaglich — zerquält, vom Leben zerschlagen. Nur in ihrer Kunst kann sie sich wiederfinden. Und gerade die Orgel trägt sie auf andere Bahn. Es dämmern Bekehrungsmöglichkeiten —“
Dann brach er jäh und unwirsch ab. So was wie gemeinsames Rettungswerk widerstrebte ihm aufs tiefste. Und da er von Wandlungsmöglichkeiten sprach, verriet er hier nicht heimliche Hoffnungen?
Kunz mit Vita ließ seinem Unmut die Zügel frei. Längst hatte er vor ihr keine Geheimnisse mehr. Eine selbstverständliche Vertraulichkeit band die jungen Herzen. „Horst orgelt sich da selbst in etwas hinein. Solche innere Mission färbt immer ab. Er soll die Finger davon lassen. Er braucht — wir brauchen seine reinen Hände!“
Schwer ging seine Brust. Vita sah, wie er litt, an quälender Sorge. Sie nahm seinen Arm. Da durchrann ihn das Glück. Und er hob sich fröhlicher. „Das Siedlungswerk soll nicht untergehen! Deutsche Augen — deutscher Glaube sind auf uns gewandt. Wenn Horst uns versagt — er darf es nicht, denn alles hängt an ihm — aber wenn, wenn — Dankwart ist zu sonnenlos und Gisbert, der jetzt kaum noch was Irdisches hat, schwimmt in seinen Unendlichkeiten. Dann muß ich — ich wachsen an meinen Pflichten!“
Sie blickte zu ihm empor. Alles Kindliche, Spielerische fiel von den beiden ab. Eine Weihe der Kraft schloß die jungen Menschen zusammen.
Horst brachte Lona den Kirchenschlüssel. Sie hatte die Erlaubnis, morgen Montag zu einer ihr genehmen Stunde auf der Moordorfer Orgel zu spielen.
Sein Lohn wurde ihm zugesichert, er sollte, wenn sein Tagewerk beendet wäre, am späten Nachmittag — diese Stunde wählte sie — ihr zuhören.
Horst war hinterm Pfluge gegangen. Er hatte Furchen gezogen durch deutsche Erde, der Duft der umbrochenen Schollen hing ihm im Haar, lebte noch in seinen Lungen und stählte ihm das Herz. Er fühlte sich sicher und reich. Wie ein Gebender erschien er sich, nicht als einer, der suchte und beschenkt werden sollte, da er den Weg zur Moordorfer Kirche antrat.
Die Luft prickelte und schäumte wie Wein von den Kräften und Säften des Frühlings. Dann und wann — wie ein Mädchenlachen, keck und spröde zugleich, zitterte es stoßend und kurz, höhnend und befeuernd durch den schweren seidenen Glanz des sinkenden Nachmittags.
Er dachte an Lonas Lippen, die vollen, farbigen, denen die schmerzverbissenen Kiefer so schwer zu schaffen machten, die so bitter in weher Ironie sich spannten. Hatte er jemals ein Lächeln, ein weiches, vergessenes Lächeln um diesen Mund gesehen? Und war doch der rote, blühende, lebensheiße Mund eines jungen Weibes.
Er warf die Arme. Ist es nicht aller Weisheit Anfang und Ende, nicht die Erlösung aus allen Nöten: die Sprache Mund auf Mund — gibt es eine andere zwischen Mann und Weib? Durch seine Sinne rieselte es. Was gehen ihre Gedanken mich an, ihre Dogmatik, ihr Geistesleben, ihr politisches Toben!
Vom Verstehen habe ich immer gesprochen, in so schönen Worten theoretischer Gesinnung. Was schwatz ich mich so herum um die einzige Verständnismöglichkeit, die gegebene, die gebotene, die notwendige? Die einzig wahrhaftige, von der all die verlogenen Mätzchen wie weggeblasen werden! Gibt es Waffenstillstand für uns, warum sollen diese Stunden sich nicht füllen mit allen Gaben der guten Lebensgeister? Die gut sind, weil sie nur fühlen, nicht denken. Macht nicht das Denken erst böse?
Und er summte und träumte im Frühlingsrausch.
Wie er sie beim Torfmeister fand, war sie anders als das Bild seiner Wünsche. Auf ihrem Gesicht eine krankhafte Blässe, sie sprach wieder von schlafloser Nacht, und daß sie das Moor nicht vertrage.
Dem Torfmeister ging es besser, morgen wollte sie in die Stadt zurück.
Nun wanderten die zwei zum Dorf. Eine Befangenheit war um sie. Beide empfanden sie stärker als je das Ungewöhnliche ihres Beisammenseins. Eine Heimlichkeit vor den Freunden — und auch eine Heimlichkeit vor ihnen selbst, vor ihrem eigenen Wollen, ihren Kämpfen, ihren Lebenszielen. Wie ein Verbotenes, wie eine Schuld. Und wieder mit allen Reizen des Heimlichen und Schuldhaften.
So suchten und mieden sich verstohlene Blicke und Wünsche in wachsender Scheu. Kaum, daß sie ein Wort miteinander sprachen.
An der Kirchentür erwartete sie ein halbtauber Junge, der die Bälge treten sollte. Nun gingen sie in das Gotteshaus, darin schon die Abendschatten geisterten. Die rostige Stimme der Uhr mahnte sie mürrisch: es ist schon sechs! Der geduckte, karge Raum mit seinen gedrungenen Säulen und der düsteren Täflung gab den Eindruck einer trotzigen verbissenen Frömmigkeit.
Horst setzte sich in einen der schweren Stühle, Lona ging die Treppe zur Orgel hinauf — es war ein Instrument mit freistehendem Spieltisch — und machte sich bereit. Die Windladen füllten sich. Liebevoll legten sich die dankbaren Finger auf die Tasten.
Leise, im Hauch spielte Lona ein paar Passagen — die Töne waren ungleich, viele grau, alt und quäkend. In trockener, starrer, linearer Kühle fügte sich Ton an Ton — dürr klang es, mechanisch, wie wenn Letter an Letter gesetzt wird zu einem mühsam dürftigen Wortgebilde. Jetzt aber fand sie es, die Orgel hatte doch Seele, sie konnte lebendig werden, konnte sprechen und Zeugnis geben.
Um Horst aber schauerte die Andacht seiner Sehnsucht.
Und es begann. Ein dumpfes Rauschen begann es, aus weiter Ferne, gebändigt von Nacht und Finsternis. Wolken schoben sich, ballten sich, formten sich gespenstisch. Ein Chaos wie von sich selber träumend, kaum seiner selbst sich bewußt. Und es wird ein Schein — ein Wollen, eine Kraft, ein Licht. Und das Licht schafft sich Schatten, die ihm dienen müssen — die vor ihm fliehen wollen — die sich auflehnen im Kampf — die Feuerodem dem Lichte entreißen — und mit ihm sich beseelen. Körper, Wesen, Lebende, Leidende, aus Licht und Finsternis geworden. Menschen. Da sie leben wollten, sind sie dem Tode verfallen. In den Wolken, auf schwarzen Fittichen rüttelnd, steht der Würgengel. Unter ihm die Kreatur, sie verkriecht sich in Klüften, sie winselt, sie schreit. Und auf wen der Würgengel stößt, in dem erlischt das Licht, er wird wieder zum Schatten. Nun aber, da er gelebt, ist er schuldbeladen — und des Schattens wartet das letzte Gericht, furchtbarer noch als der düstere Todesengel. Von Grauen gepeitscht sind die Seelen — Gewitterstürme donnern hernieder über das Weltmeer — Blitze zerreißen die Finsternisse der Himmel — an die Ränder der Wolken klammern sich die gehetzten Schatten — es gibt einen Tod noch über dem Tod — und was ist das Leben — was ist sein Sinn — was ist es mit dem guten Sinn des Lebens? Ein Hohngelächter in tausendfachem Echo gellt von den irdischen Abgründen zu den zerklüfteten Wolken — entsetzte Seelenschatten flattern durch den erbarmungslosen Raum —
Horst erfror vor dem erhabenen Grauen dieser trostlos verzweifelten Visionen. Sie alle getaucht in die schreienden Tinten ihrer neuen Kunst. Kosmisches Urweltgestammel über allem. Und doch ein gewaltiges Ringen in und zur Wahrhaftigkeit, ein Sichselbstzerwühlen nach den letzten Offenbarungen des Ich.
Findet sie keinen Trost, keinen Ausblick, keine Helle? Wo ist das Licht, das doch sein muß, damit die Schatten sein können!
Jetzt — fügte sich, baute sich, wölbte sich nicht etwas in ihren Tönen? Über den weichenden Wolken? Die große Kuppel, das Firmament, der Himmelsdom. Und Sterne gebiert die Nacht — sie leuchten, sie künden, sie loben.
Wie ein Ausruhen ging es jetzt durch ihr Spiel, wie ein Aufatmen, ein Erinnern. Regten sie sich, die Klänge des Heimwehs? Wollte die Kindheit lebendig werden — und der Kindheit gläubige Traumwelt?
Ein Gebetlallen in stammelnder Torheit, gedankenlos verloren, glückhaft versunken — und dann die wachsende Klarheit, wie ein Sonnenaufgang der Zuversicht —
Tiefe Klänge aus Bachschen Messen und Kantaten, die eine leuchtende Lichtspur ziehen — und schon jauchzt es auf in dem atemlos gebannten Horst: sie findet sich — sie findet zurück — sie findet heim —
Plötzlich aber — was züngelt in die Himmelsklarheit der Töne? Ein Überdruß — ein Spott — ein Hohn —?
Und Horst stöhnt auf. Fängt sie nicht an, Bach zu travestieren? Ihm das Käppchen der Selbstgefälligkeit aufzusetzen? Verzerrt sie nicht die Frömmigkeit zur Frömmelei, die Herzenseinfalt in ein kokett bigottes Schmachten? Läßt sie die pausbäckigen Engelsjungen sich nicht sich selber verlachen und Koboldsfratzen schneiden —
Und dann ein Schluchzen — ein wildes Weinen — die Verzweiflung des Zweifels — ich kann nicht — ich komm nicht auf — ich muß wieder versinken — ich bleib in der Tiefe. Und ein Trotz — eine wilde Bitterkeit — und wieder das Schluchzen.
Und plötzlich das tonlose Verhauchen — das Ersterben in Nichts — das Verstummen. Das Schweigen.
Horst kauert im Gestühl, niedergezwungen von seiner Erschütterung. Langsam löst er sich — er wartet auf Lona — sie kommt nicht — da geht er, wie tastend erst, die Treppe zur Orgel hinauf — sie ist über die Klaviatur hingesunken und liegt in Ohnmacht.
„Lona“ — flüstert er an ihrem Ohr, er nimmt ihre Schulter, er richtet sie auf — da kommt sie langsam zu sich. Ein Blick seltsam trauriger Hingebung bricht aus ihrem Auge — dann aber aus seiner Verlorenheit findet er die alte feste Richtung seines Ausdrucks. Und nun preßt sie ihre Schläfen, sie schüttelt den Kopf und stellt sich auf die Füße.
„Es spielt sich so schwer — das Pedal bringt einen um — ich bin einfach müde zusammengeklappt.“ Unwahres sprach sie. Horst aber rührte nicht an ihre Zerrissenheit.
Es war ein Anfang — und alles in allem, ein Schein ist aufgegangen. In qualvollem Ringen. Ein Frühschein soll es sein — es soll, es soll! Nur diesem mühsam glimmenden Licht nicht zu nahe kommen. Daß die zarteste Hoffnung nicht erlischt. Und heute nur daran denken, mit welcher Macht die Kunst in ihr braust! Dankbar daran denken!
Wie hat es ihn geworfen zwischen Himmel und Hölle! Welch eine Windsbraut hat ihn als Weltenwanderer getragen, entführt, gewirbelt, ihm die Fittiche gesträubt, das Hirn ihm betäubt. Daß Schwindel und Ohnmacht ihn selber packten!
Und er griff ihre Hand. „Was können Sie spielen! Ich selbst bin umhergeworfen — von einem Weltenrausch —“
Er suchte nach Worten. Sie versagten sich ihm. Schweigend packte er noch einmal ihre Hand, in zügellos heftigem Druck.
Er hatte sie zum Torfmeister heimgebracht. Nun taumelte er durch den Abend.
Dies, Kunz und Dankwart, konnte die Baracke nun nicht mir geben! Wißt Ihr, daß dies zu mir gehört, daß dies mir gehören muß, für mein Leben, mein Schaffen, mein Ziel! Ihr habt die Augen starr auf den einen Punkt gerichtet. Bewußt, stier und stur. Ich tadele euch nicht darum! Ihr seid gut für unser Land, ihr seid notwendig. Ich aber muß um mich blicken können, frei und weit. Und mit gestärkten, geschärften, vertieften Blicken suche ich dann wieder das Ziel, das meines wie euer, das unser ist! Ich muß mich umtun können im deutschen Land, im deutschen Geist, in allen Registern der deutschen Not und Qual. Und wenn ihr meint, ich erweiche mich so — ich sage euch, eben so werde ich fest zu meinem Beruf.
Und wenn die, deren tiefsten Erschütterungen ich gelauscht habe, die um die Wahrheit ringt und an ihrer Wahrhaftigkeit leidet, mir das Herz bewegt — um so kräftiger schlägt dieses Herz für unseres Lebens Sinn. Für des deutschen Lebens Inbegriff und Inbrunst. Alles, alles muß dem einen zum besten dienen.
So zog Horst ohne Scheu die Gehetzte, Gepeinigte, Zerwühlte, auch Verfehmte und Geschmähte an sich. Immer blieb ihr Auge bei ihm, wie es aus der Ohnmacht zu ihm erwachte, die erschrockene Zärtlichkeit, die schmerzliche Innigkeit — wie lebte es davon in seinem Blut!
Er sah die Lichter des Moorhofer Gutshauses. Da lag sein Gisbert noch immer in Pflege. In diesen Tagen, morgen, übermorgen sollte er in die Baracke heimkehren. Es zog Horst zu dem Jungen. In dessen weiter Seele fand er den Widerhall, den die planmäßig verwahrte Enge von Dankwart und Kunz ihm versagte. Und das, was in ihm wuchs und ward, es mußte sich ausschwingen — ohne Worte, nur in dem Beisammensein.
Gisbert saß mit Frau Tilde. Sie hatte als Gutsherrin schwer gearbeitet, nun lehnte sie müde im Sessel. Horst wurde herzlich begrüßt.
Sie sprach von dem Wiederaufbau der niedergebrannten Stallungen. Einen größeren Posten Balken und Bauholz habe sie bei Gelegenheit gekauft. Davon werde etwas übrig bleiben, das sollte die Siedlung bekommen für ihr erstes Haus.
Welch eine seltene Frau! Diese überirdischen Augen, die Zeugen ihres fernen, hohen Fluges — und dabei doch die feste zugreifende Hand, und in ihrer überströmenden Güte die kluge Sorge für den Tag.
„Je eher sie an ein eigenes Haus die Hand legen, um so mehr frohe Sicherheit ist bei ihnen.“
Der Diener brachte eine Depesche. Sie öffnete sie, nach leiser Überwindung, mit zagender Hand. Um ihre Augen zog ein schwerer Schatten. Dann legte sie das Blatt beiseite.
Sie sprach weiter über den Bau, und wie die Seßhaftigkeit der Herren ihr ein Trost sei, deren Nachbarschaft ihr eine Hilfe und Freude. Dann zuckte es in ihrer Hand.
„Und da wir in einer Gemeinschaft stehen — da wir mehr oder weniger aufeinander angewiesen sind, soll auch volle Offenheit zwischen uns sein. Dies hier“ — ihre Finger griffen wieder nach dem Telegramm — „gehört so zu meinem Leben und zu meiner Tätigkeit, ich muß mit Ihnen darüber reden.“
Sie gab die Drahtnachricht an Horst. Er las: „Bin Amateur-Boxmeister von Deutschland. Gegner mit großer Technik, gutem Auge und ausgezeichnetem Linken landete mehrfach hart, wurde aber schließlich durch rechten Kinnhaken zu Boden gestreckt. Kampfdauer drei Minuten vierundvierzig Sekunden. Achim.“
Horst gab auf ihre Bitte an Gisbert die Nachricht weiter. Dann sagte sie: „Es ist eine Eitelkeit in uns, die mit unserem Unglück Versteck spielt. Ich will mich ganz frei von ihr machen. Sie wissen ja ohnehin, daß ich meinen Mann schwer erkrankt aus dem Felde zurückbekommen habe. Man hofft immer wieder auf eine Wendung. Und immer geringer wird die Hoffnung.“
„Gnädige Frau,“ sagte Gisbert, und seine Worte leuchteten wie seine Augen, „lassen Sie erst wieder mehr Sonne in Deutschland sein — sie kommt auch zu ihm und erlöst auch ihn.“
„Mehr Sonne, Gisbert?“ entgegnete sie, schmerzlich spannte sich ein Lächeln um ihren Mund. „Wir werden noch sehr viel mehr Finsternis in Deutschland haben. Und — auch die Sonne kann Zerstörtes nicht wieder lebendigmachen.“
Gisbert und auch Horst suchten nach Zuspruch. Mit weher Klarheit fuhr sie fort. „Es ist nun mal alles Empfindungsleben in ihm zunichte geworden. Und — was das Schlimmste ist — man darf selbst auch nicht mit irgendeiner Empfindung ihm nahe kommen — als ob sie Ansprüche auf einen Widerhall erhöbe, den es nun einmal nicht geben kann. Die erschreckten, gequälten, kranken Augen dann — das Herz steht einem still. Und so ist er nun rettungslos versunken — in diese rohe Spielbetäubung des Gladiatorentums.“
Ihre Hände nahmen wieder das Telegramm. „Dies ist nun eine Siegesnachricht. Ich soll an ihr teilhaben — und darf doch auch wieder keinerlei Freude zeigen. Er weiß ja, daß sie nicht echt sein kann, und würde noch mißtrauischer werden. Und wenn ich ganz mich zurückhalte — man sucht doch schließlich immer noch nach einem Rettungsfaden! Und wir gehören doch zusammen.“ Unhörbar fast klang es aus.
Eine Freundschaft schloß das Leid dieser Frau um die drei. Daß sie aus ihrer leisesten Innigkeit sich so ihnen offenbarte, wie eine unsägliche Kostbarkeit empfanden die beiden Männer so viel Zuneigung und Vertrauen. In Gisberts blassem Gesicht fluteten die Blutwellen. Das Fieber seiner Augen hob und löste sich in der Verklärung eines unerhörten Glücks.
Mit ihrer stillen Tapferkeit war Frau Tilde schon wieder bei der Gutswirtschaft, sprach davon, daß sie den Siedlern noch eine Milchkuh überlassen könnte, und bat Gisbert, der in den letzten Tagen ihr als eine Art Privatsekretär bescheidene Dienste geleistet hatte, in den Büchern festzustellen, wie viel Thomasschlacke für das Siedlungsland übrig sei. Sie redete dann fachmännisch mit Horst über die Bestellung und versprach ihm, sie wolle sich selbst bald einmal nach der Ödlandkultur umsehen.
Dankbar nahm Horst von ihr Abschied. Welch ein Schicksal! dachte er. Wie klagt das deutsche Leid in immer neuen Weisen, an immer mehr versteckte deutsche Gräber stößt unser Fuß.
Und seine Gedanken gehen zu Lona. Kann hier der Schmerz dem Schmerz nicht helfen, würden diese beiden Frauen, die ungleichsten der Welt, sich nichts zu geben haben, beide so reich an seelischem Gut und beide so bedürftig! Würden sie den Weg nicht zueinander finden — über den Abgrund, den das Leben zwischen ihnen aufgerissen hat?
Wenn ich Lona zu ihr führe! Dieser Gedanke, so kühn und doch so natürlich, so notwendig, läßt ihn nicht los. Ihr beide — eben weil ihr aus verschiedenen Welten seid, um so mehr habt ihr euch zu offenbaren, und je tiefer ihr grabt, euch zu verstehen, um so mehr Schätze werdet ihr ans Licht heben. Ihr werdet euch verstehen und werdet mithelfen an der großen deutschen Versöhnung! Ihr aus den feindlichen Heerlagern — und doch zwei deutsche Frauen!
Und Dich Lona — aus Deiner Einsamkeit gilt es, Dich zu befreien, aus Deiner Abgeschiedenheit von dem, darin Dein Leben seine Wurzeln hatte. Möchtest Du nicht selbst zurück? Schluchzte nicht leise die Sehnsucht auf in Deinem sturmgewaltigen Orgelspiel, das Heimweh? Mächtiger wird es über Dich werden! Und zwischen uns beiden, wird nicht bald mehr zwischen uns sein als dieser mühsame Waffenstillstand? Lona, Du rätselhaft liebe Du!
Er bebte in der Zärtlichkeit seines Blutes. Und es zogen durch ihn die Schatten, die das Schicksal wirft.
Zu Frau Tilde, zu Gisbert wollten seine Gedanken zurückkehren. Die Augen des Freundes lebten vor ihm auf, in ihrer unbegrenzten verlorenen Glückseligkeit. Auch hier zogen die Schatten —
Es war ein neuer Befehl der Regierung ergangen, daß alle Heereswaffen abgeliefert werden sollten. Militärische Kommandos gingen um und überwachten die Erfüllung.
Die Siedler hielten Rat. Und ähnlich wie früher sprach Horst: „Wer sind jetzt unsere Landpfleger?“
„Landpläger“, nannte sie Kunz.
„Wer sind sie heute, wer sind sie morgen? Sie selber wissen es nicht. Und ich kenne sie nicht. Und ehe ich nicht weiß, in wessen Hände ich meine Waffen liefere — behalte ich sie lieber selbst.“
Sie stimmten ihm zu. Und — die Waffensuche ging an ihnen vorüber.
In der Stadt war man sehr strenge gefahren. Aus mehreren Kellern, unter Fabrikarbeiterwohnungen, wurden Maschinengewehre ans Tageslicht gezogen.
Die Arbeiter wüteten. Man wußte, daß die Siedler ihre Maschinengewehre behalten hatten. Man zeigte sie an, bei dem Offizier, der das Kommando befehligte. Der hatte für die Denunzianten nur ein frostiges Schweigen.
Natürlich! Die Bande hält zusammen wie Pech und Schwefel! Das alte System! Wenn wir’s leiden, verdienen wir’s nicht besser!
Das Falkenauge ist wieder einmal in der Kreisstadt. Es gärt aufs neue, jetzt mit dem Frühling, in dem elend wunden und siechen deutschen Volkskörper. Die „betrogenen Proletarier“ wollen endlich ihr Recht. Wollen Abrechnung mit den sozialreaktionären Verrätern. Im Ruhrgebiet, in Mitteldeutschland bereitet sich etwas vor. Überall im Lande müssen die Flammen auflodern! Je mehr Herde, um so besser. Um so sicherer der große Schlag und der Sieg.
Auch hier müssen wir zupacken! Unter dieser Parole tagten die Führer in Knubarts Wohnung hinter verschlossenen Türen. Das Falkenauge, Kittel der Buchbinder, Struk der Koch, ein Werkführer aus der Eisengießerei — er war Feldwebelleutnant draußen und ist der Feldherr des Kreises — und Lona. Auch sie ganz im Panzer ihrer Parteigesinnung.
Das Falkenauge hat die Gesamtlage umrissen. Einzelaktionen werden verlangt, überall. Hier mit der Stadt als Operationsbasis läßt sich ein Vorstoß machen. Hier kann das Heil für die ganze Provinz entzündet werden.
„Wenn uns die Siedler nicht als Pfahl im Fleisch säßen!“ heißt es dagegen.
Stahlboom, der Werkführer, spricht. Er ist schlank und gut gewachsen, trägt sich kavaliermäßig, wenn auch mit der Nuance des Fadenscheins, hat im Blick etwas fraglos Mutiges und Befehlendes, unterstreicht aber unnötig sein Selbstbewußtsein und zeigt zu oft kriegerisch seine zementplombierten Zähne.
„Uns hat man die Maschinengewehre genommen. Die Siedler haben sie behalten. Das erste muß sein, daß wir diese Maschinengewehre uns holen. Ehe wir die nicht haben, liegen wir im Wurstkessel und bleiben da liegen! Darum — die Baracke wird gestürmt! Die nötigen Leute haben wir. Gewehre und Handgranaten sind noch da. Noch sage ich. Die nächste Waffensuche kann uns auch die nehmen, und was dann!“
„Sturm auf die Baracke!“ fordert Kittel mit dem gellend pfeifenden Brand seiner Rede. Er war nur noch Feueratem und flammende Augen, sein Leib zerfallen, sein ganzes Wesen jetzt vollends von lauter Dynamitgängen ausgehöhlt.
„Machen wir uns das eine klar!“ betont das Falkenauge — er hat den Weitblick, die Zusammenhänge, das konsequente Denken, „mit diesem Sturm auf die Baracke ist es nicht getan. Wenn er gelingt, verpflichtet er zu der größeren Aktion. Mißlingt er aber, ist damit für unbestimmte Zeit unsere Unternehmungskraft hier zerschlagen.“
Sie berieten. Es wurde beschlossen, daß sie es wagen sollten. Stahlboom brachte den Plan in der Tasche mit. Am Abend sollte der Handstreich ausgeführt werden. In der Nacht würden sie dann das städtische Rathaus besetzen. Die Stadt wäre reif. Gäbe es einen Menschen in ihr, der zufrieden wäre? Und wäre es einer, wär er feige. Auf den Mut käme es an, auf die Tat! Nur die Tat zwingt die Herzen.
Vorbereitungen sind natürlich zu treffen. Aber diese Tage, die auch anderswo die Entscheidung bringen, müssen uns am Werke finden!
Vorbereitungen — dazu redet Knubart, und er wittert bedachtsam. „Wir haben es mit einem gefährlichen Feind zu tun. Kerle sind sie alle, die Siedler. Und ihr Führer, der Hauptmann Oldefeld — Lona, Sie kennen ihn ja persönlich.“ In seinem Blick ist die lauernde Kälte.
Lona hebt frei die Augen. „Ja, er ist mir bekannt.“
„Sie kommen öfter mit ihm zusammen —“
Nun widerstrebt sie doch, wie einem Verhör. All die Augen, die sich auf sie wenden, gebärden die sich nicht wie Richter über sie?
Und ist in ihrem eigenen Gewissen nicht eine Stelle, darin etwas sich regt — wie ein Argwohn gegen sich selber? Darf sie sich wundern, wenn in den andern, den Freunden, den Schwurgenossen ein Mißtrauen aufzieht?
Mißtrauen! Ich bin unserer Sache treu! Was mit mir verwachsen ist, durch mein Denken, mein Fühlen, mein Leben — nichts von meinem heiligen Glauben habe ich verloren, nichts von ihm habe ich preisgegeben! Wie kann ich das, ohne mich selbst zu verlieren! Ich bin bei der Fahne, ich bin bei dem Schwert — bei dem Schwert unserer Fehme, wie nur je ich es war! Ich kämpfe mit Euch, mein Leib und Leben für unseren Kampf!
Nur Schleichwege dürft Ihr mich nicht schicken wollen!
Aber in Knubarts trägem, laschem Auge ist die Tücke.
Man wartet auf ihre Antwort. Sie zwingt ihren Unmut nieder. Ohne Frage haben die Genossen Anspruch auf ihre Ehrlichkeit. Und wieder schließt sich etwas in ihr, wie um ein stilles Besitztum, das von allem Lauten entwertet wird. Das an jeder Berührung sterben muß — das sie jetzt selbst berühren und zerstören soll!
Ein Heiligtum also! Zum Lachen! Es gibt für mich kein Heiligtum, außer meiner heiligen Sache! Deren Feind Du bist, Horst Oldefeld! Todfeinde wir! Todfeind — man hat das Wort so oft gesprochen, wie eine abgegriffene Münze ist es, deren Schrift man kaum mehr kennt. Hier ist aber das Wort ehern ins Leben gegossen.
Eure Baracke wird von uns gestürmt! Hier hat nun jeder zu zeigen, wer er ist. Hier gibt es keine Empfindungsflausen, keine Gefühlskunststücke, keine Gedankenspreizungen im Rahmen unserer gutgespielten Friedenskomödie — hier gelten jetzt die echten Sakramente: Leib und Blut!
So hart macht sie sich selbst, so bitter hart — und sie spricht hastig, sich überstürzend die Antwort auf Knubarts trächtige Frage: „Herr Oldefeld hat bewirkt, daß ich in Moordorf die Orgel spielen darf — er hat auch schon einmal zugehört. Wir haben einen gemeinsamen Freund, den alten Torfmeister. Bei dem auch er Sonntags nachmittags sich einzufinden pflegt —“
„Sonntag nachmittag“, wiederholt Knubart schwer. Und alle begreifen gleich.
Der Werkführer erklärt: „Dieser Sonntag — um Neumond herum sind wir, dunkel ist es — der Abend ist für den Sturm die gegebene Zeit. Der liebe Sonntag ist ja den lieben deutschen Seelen als Ruhetag in Fleisch und Blut übergegangen — den Tag zum Biertrinken und Spazierengehen, den suchen wir uns aus. Und wenn der Führer dann auch bis zum späten Abend aus dem Hause ist —“
Weiter kein Wort. Ein Blick auf Lona, und sein Instinkt warnt ihn, mehr zu sagen. Sie alle fühlen es: kein Wort mehr. Sie kennen Lona — ihre klare Härte — die so spröde ist, wie das zarteste Kristall. Nichts von ihr, als was ihr Wesen selber ihr befiehlt, im Augenblick der klaren, harten Entscheidung. Blank und ehrlich ist nur die Tat.
Militärische Besprechungen schlossen die Tagung. Nachrichten aus den andern Lagern sollten abgewartet werden. In zwei Tagen mußte es sich endgültig entscheiden, ob der angesetzte Schlag Sonntag geführt werden sollte.
Dann kam es: die endgültige Entscheidung fiel auf den Sonntagabend. —
Gisbert war wieder in der Baracke. Er war noch nicht ganz genesen, aber wie aus Selbsterhaltungstrieb sehnte sich grade das Zerfließende seiner Art nach dem Bandeisen harter Arbeit.
Die Aufsicht über die Stallungen war ihm jetzt zuerteilt. Der Erste war er in der Frühe auf den Beinen, auch heute am Sonntag fand das Morgenrot ihn wach. Er ließ die Hühner aus dem Stall, sie stammten meistens aus Mönkhov, ein Geschenk von Frau Tilde. Es war seine Freude, für seine Gedanken, die längst bei ihr waren, in allem, was um ihn lebte, Trabanten, Pagen und Schleppenträger zu finden.
Jetzt ging er in die Heide. Auf einen ihrer Hügel stellte er sich. Seine Blicke beteten zur aufgehenden Sonne. Unwillkürlich breitete er die Hände aus, die Gnadenspende des Lichtes zu empfangen. Dann setzte er sich und lehnte sich hin. Und seine Sinne hoben sich in den wachsenden Schein. Sie gingen den Weg ins Tor der Unendlichkeit.
Ich suche das Ewige. In mir ist es und um mich ist es. Daß sich beides vereine und durchdringe ist des Lebens, ist meines Lebens Sinn.
Das Bewußtsein des Unendlichen in mir! Das gehört zu mir, wie das Licht zu der Flamme, die in mir brennt.
Der Unendlichkeit! Der ewigen Freude, ja der Freude, aus der alle Wesen geboren sind. Durch die sie erhalten werden. In die sie wieder eingehen.
So befreie ich mich aus dem Schmerz, dem Gefühl der Endlichkeit in die Güte des Alls. So löse ich mich in mein größeres Selbst.
Dahin trug Gisbert die Morgenandacht seiner Seele. Wir sind Nichts, was wir suchen ist Alles!
Und wie er zurückkehrte in die Welt körperlicher Gedanken, empfing ihn das Glück: ich suche ja nicht allein diese Straße des Lichts, Deine Sehnsucht, Du meine Freundin, geht denselben Weg.
In seinem Herzen, auf seinen Lippen formten sich die Worte seines Hohenliedes.
Die Gesänge meiner Gedanken, solange sie atmen, suchen sie Dich! Ich grüße den Morgen, mit der Frohheit des Wachens — mit den selig sachten Schatten der Müdigkeit grüß ich den Abend, den Vater der Nacht, mit seinen Enkeln, den Träumen. Meine Träume flüstern Deinen Namen und lauschen seinem Klange nach, und flüstern ihn wieder und lauschen — und flüstern und lauschen. So ist meine Nacht beseelt von Deinem Wesen, wie mein Tag erfüllt ist von der Gewißheit Deiner Nähe, von der Seligkeit, daß Du bist —
Aber nun, all seine Sinne schwingen ein in den Rhythmus, und ihre Stimmen singen leise mit. Das Bild der geheiligten geliebten Frau zaubern sie herbei. Ihrer Augen tiefe Gewalt leuchtet auf, das weiche Haar fällt über die mädchenhaft versonnene Stirn, die feine Hand mit den seltsam festen Linien streicht es zurück. Ihre Hand — wie oft, wie lange kann er still liegen und nur an ihre Hand denken — in der ihre Seele ist und auch die Kraft ihres Schaffens. Diese Hand, so voll von Musik und doch für sichere Zügelführung begabt.
Und wie in seinen Träumen flüstern jetzt die wachen bewußten Lippen den Namen „Tilde“ — „Tilde“ —
Ein Schritt pocht auf die Erde. Gisbert fährt zusammen — wendet sich um. Kunz steuert auf ihn zu, in müdem Schlendern. Hockt sich dann neben ihn und gähnt sich erst einmal aus.
„So früh heute und das am Sonntag!“ fragt Gisbert.
„Weiß der Frühling, was das mit mir ist! Mich flieht der Schlaf — mich! Was liegt da in der Luft? Du mußt es wissen, der Du selbst in der Luft liegst, Du Ätherbewohner.“ Er blickt um sich: „Ist das ein böses, rotes Licht da auf der Heide! Zeichendeuter wird man — Geisterseher — was hat man bloß!“ Dann schlang er den Arm um den Freund und sah ihm herzlich ins Auge. „Du, lieber Junge, wirst nun allerdings immer magischer. Darf man Dich denn schon wieder frei herumlaufen lassen?“
„Warum nicht?“
„Man wird nun mal die Sorge um Dich nicht los. Sehr viel Blut hast Du nicht mehr herzugeben.“ Er nahm seine blasse Hand. „Und dann —“
„Was noch?“
„Die Angst — ich kann mir nicht helfen — Du könntest Dich nun ganz — drei Kreuze vor dem Wort und vor der Sache! — im Pazifismus Dich verblutet haben.“
„Pazifismus — ich fürchte mich nicht vor Worten, Kunz.“
Bei dem kam das Unwirsche seiner Morgenfrühe jetzt obenauf. „Ah! Wir wollen Siedler sein? Arbeiter eines Geistes an einem deutschen Werk? Eine politische Menagerie sind wir nächstens.“ Wegwerfend schmiß er die Hand nach der Baracke zu. „Alle Gattungen findest Du jetzt in dieser Arche Noäh beisammen. Wenn ich nicht Schimpfworte vermiede, würde ich sagen, wir sind ein Parlament!“
Gisbert schwieg. Kunz bürstete weiter seinen Grimm. „Weltanschauungen! Haha! Was haben wir bloß für Weltanschauungen im deutschen Land! Alle, die es gibt und nicht gibt. Bloß die deutsche nicht. Seit Horst zum Universalgenie geworden ist, flattern wir nun alle lieblich im gütigen All. Leb wohl, deutsche Erde!“
Gisbert schwieg noch immer. Das machte Kunz nicht freundlicher. „Warum legen wir Siedlungsmönche denn nicht ehrlich und vorbildlich das Gelübde des Geprügeltwerdens ab! Warum kleben wir nicht das Wappen der friedfertigen Seligkeit an unser Haus, die geschwollene rechte und auch linke Backe! Ohrfeigengesichter wir, als Vorkämpfer des deutschen Pazifismus! Denn wenn es nichts mehr gibt, einen deutschen Pazifismus gibt es! Und weißt Du, wie der geht? Wir versöhnen uns, versöhnen uns mit den andern — und die andern dreschen auf uns los! Das ist deutscher Pazifismus, nach unserem eigenen und der ganzen Welt Beschluß!“
Der zuckende Zorn lief durch seine Glieder. Gisbert wußte, wie er litt, er sprach jetzt mit seinen stillen, ein wenig hilflosen Worten: „Wir wollen ja dasselbe, Kunz. Nur auf anderem Wege wollen wir zu demselben Ziel. Es ist gut für Deutschland, daß es Euch gibt. Aber auch uns gibt es nun einmal. Und wir müssen uns ergänzen —“
„Müssen wir, was wir nicht können! Ergänzen heißt ganz machen! Ganz — mit Euch, durch Euch, die Ihr uns zermürbt! Nihilisten seid Ihr, die passiven, die schlimmere Sorte! Was habt Ihr Euch in Asien herumzutreiben! Die wir heute mehr als je — die wir heute nur und nur und immer und weiter nichts als zu uns selbst kommen müssen! Was nehmt Ihr uns die Heimat des Herzens! Was verdünnt Ihr uns bis zur Erschlaffung mit Euren dreimal vermaledeiten Wassern des Ganges unser ehrliches eisenhaltiges deutsches Herzblut!“ Seine Hände packten ins Heidekraut, rissen die Büschel aus und warfen sie in die Luft.
Da Gisbert ihn unbeirrt ansah — „Du verzeihst mir, mit Deinen Gazellenaugen. Gütig seid Ihr und liebevoll, aber nur aus Schwäche seid Ihr es. So geschieht’s, daß Ihr für alles Verzeihung habt, nur nicht für Tugenden, für männliche! Nur nicht für Kraft! Und darum — gefährlich mögt Ihr sein, aber an den Kern unseres Wesens, nein, an den rührt Ihr uns nicht!“
Nun hatte Kunz sich vollends wieder. „Ihr haltet unsereinen für dumm. An unserer Dummheit liegt es dann wohl, daß Eure Klugheit uns nicht aufgehen will. Herrgott, ist das eine baumwollene Weisheit, die Ihr aus dem Lande der Baumwolle bezieht! Phrasen! Nichts als Redensarten von platzend hohler Allgemeinheit! An ihrer Spitze die große Heilslehre: „Gutsein heißt das Leben aller Leben!“ Oder die erlösende Antwort auf die ewige Frage: welches ist der Weg zur Wahrheit? „Die wechselseitige Durchdringung unseres Wesens mit allen Dingen!“ O verfluchter Tiefsinn heiliger Abstraktion! Was soll ich damit? Wo ist hier Leben, Wärme, Licht, wo ist hier Liebe? Und Ihr wollt uns das „verbrauchte“ Christentum ersetzen! Gebt mir, so gebt mir doch aus Eurer Fülle! Habt Ihr etwas, in dem großen heimatlosen Weltraum Eurer leer leuchtenden Unendlichkeit, was gegen den kümmerlichsten Lichtstumpf des ärmsten Tannenbaums in deutscher Hütte nicht hilflos verblaßt und erlischt und erstirbt!“
„Alles Licht leuchtet dem Einen —“
„Alles — ja — wo nichts ist, da sagt man alles! Und fühlt sich gerettet. Luft — Luft gebt Ihr statt Brot. Und wär diese Luft nicht noch mit Getöse erfüllt! Ihr Stillen des ewigen Friedens, gut, Ihr habt wenigstens Stil. Aber diese Brüller des Pazifismus! Die mit furchtbar krampfhaften Verrenkungen des Leibes, der Seele und des Worts, Schaum vorm Munde und in ihren Versen, ihre Flüche und ihr Wehe schreien! Schnaubende Racheengel, tosende Kriegsfurien der Friedfertigkeit! O Du Grundgütiger! Wer einen Bauch hat, hält ihn sich!“
Gisbert blickte still in den Freund hinein. „Du nennst mich überschwenglich, Kunz — bist Du es nicht auch? Und wenn nun unser Überschwang aus einer Quelle fließt —“
„Verallgemeinere mich nicht!“ stöhnte Kunz zornig.
„Verallgemeinern —? Ist es so schlimm für Dich, wenn ich uns beide zusammenspanne?“
Gisbert hatte den reinen Herzenston. Kunz war bezwungen. „Kerl — wenn Du nicht so ein unwahrscheinlich anständiger Mensch wärst! Hauen möchte man Dich manchmal — und haut dann lieber sich selbst. Herrgott — laß Dich meinetwegen schaukeln von der Rhythmik der Ewigkeit, aber brauch auch die Fäuste, die Dir Gott verliehen hat! Du darfst nicht so viel mit Dir selbst zusammenhocken! Mit Dir und mit Deiner Gesinnungsgenossin! Dieser herrlichen Frau von Mönkhov! Sie ist herrlich — aber Eure Seelennähe schadet Dir.“
„Kunz —“ man hörte in Gisbert die feinsten Saiten schwirren.
„Verzeihung — ich weiß — mulier taceat in ecclesia — über die Frau schweigt man wie in der Kirche. Aber sieh, Freundschaft muß nun einmal reden. Und nun will ich Dir was sagen. Komm heute nachmittag mit mir ins Moordorfer Pfarrhaus.“
„Das will ich gern.“
„Du sollst Vita kennen lernen. Ihr werdet erschrecken voreinander. Du vor der fanatischen Enge ihres geistigen Ziellebens, vor der jungenhaft trainierten Muskulatur ihres vaterländischen Sinnes. Sie vor Deinem überweltlichen Sonnenkultus. Aber wenn Ihr beiden feindlichen Mächte — wenn Ihr Euch gegenseitig einander in die Arme schrecktet —! —“
Er hielt inne, sein Atem setzte aus, seine Augen waren qualvoll. Gisbert ahnte, daß hier eine Leidenschaft sich grausam gegen sich selbst entflammte, er nahm wortlos Kunz bei der Hand. Und der Händedruck sagte: Dein liebes Mädchen ist sie, und ich bin Dein Freund — und dann — längst hat mein Geschick sich erfüllt.
Dankwart tauchte auf. Wandelte durch die Morgenluft, erfrischte seine Erfinderstirn. Er bog auf sie zu. „Wie sieht die Heide aus? Sie dampft in dem roten Schein. Blutdampf sagt man dazu bei uns zu Hause. Jede Heide hat Blut gesehen. Raucht sie so rot, gibt es neue Bluttaten.“
Die Heide, die seine Heimat war, machte ihn redselig und phantastisch. Er hatte seine Ahnungen, wie Kunz. Gisbert aber war mit seinem Geist über den irdischen Visionen, die aus dem Boden rauchen. Dankwart erzählte, der Balbutz war gestern in der Stadt. Er hat die feine Nase. Und hat sowas von Verschwörung gerochen — Verschwörung gegen uns.
Es war dann an der Morgentafel davon die Rede. Die Anzeichen wurden geprüft. Horst nahm sie nicht schwer. Was sollte ihnen geschehen? Die Maschinengewehre bereitgestellt — stets die nötige Mannschaft in oder bei der Baracke — die andern immer in erreichbarer Nähe — dann müßten die Angreifer schon zu Hunderten über sie einbrechen. Das aber sei der große Bürgerkrieg, und der komme nicht über Nacht.
Immerhin — die Vorsicht wollten sie natürlich nicht außer acht lassen. Und je mehr heute am Sonntag häuslich blieben, um so besser.
Horst ging am Nachmittag zum Torfmeister. Lona würde da sein. Käme sie nicht, würde das freilich zu denken geben. Wäre etwas gegen die Siedlung geplant, sie wüßte davon. Und niemals würde sie durch ihr Erscheinen ihn in Sicherheit wiegen.
Dann also hieß es auf der Hut sein. Aber erst dann.
Die Sonne hatte sich versteckt. Die Luft war still, grau und lustlos. Die Singvögel schwiegen und hielten sich verborgen. Von der Niederung her riefen grämlich unsichtbare Brachvögel. Ein Turmfalk rüttelte über der Heide.
Nach den Dünen wandte sich Horst. Er wollte einen Blick über die See werfen. Tückisch lag sie da, wie tot. Ein blinder Glanz war über sie gegossen, bleiern und giftig — gebändigt, gefesselt, gestorben der freie Rhythmus des großen Wassers.
Das war keine Erhebung. Er kehrte schwer und traurig in die Heide zurück. Sonne hätte ich heute gebraucht und schäumende Wellen unter blauem Himmelslicht! Wie mit Asche bestreut ist die Welt. Wir büßen — wir büßen —
Und er schritt dumpf und gebückt —
Dann hob er sich empor. So darfst Du nicht weiterschreiten. Du willst helfen und keuchst selbst trostlos unter Hilfsbedürftigkeit. Freimachen willst du und schleppst dich lahm an deinem Verzagen. Wenn irgendwo, brauchst du hier deine gläubige Kraft.
Lona — ja — um Dich geht es jetzt. Ich weiß, daß Deine Starrheit von Dir abfallen will. Du selbst suchst, was Dein Dogma Dir nicht geben kann. Wärme brauchst Du — Zärtlichkeit brauchst Du — denn Du bist ein Weib, ein junges Weib. Und meine Zärtlichkeit wirbt um Dich.
Ich betrüge mich selbst nicht länger mit dem, was Dir längst kein Geheimnis mehr ist. Und was Du selbst nicht mehr von Dir weisest, ob Du zuerst ihm widerstrebtest. Wir wollen zueinander. Es ist etwas, was uns zueinander zwingt.
Und — ist etwas, was Dich herausschauen läßt aus der Gedankenwelt, in der Du Dich verbarrikadiert hast mit dem Haßgefühl, das jetzt gestillt worden — etwas, was Dich erhebt über die Mauern, das Schanzwerk — etwas, was die Burggräben Dich überfliegen läßt. Du bist dabei, Deine Welt zu überwinden. Diese Welt, aus Papier gebaut, aus Gedanken gefügt. Ein System! Das Heimweh, das deutsche Heimweh ist in Dir.
Und an meiner Hand wirst Du hinausgeführt werden in das deutsche Leben! Ich will Dir helfen. Meine Sinne sollen sich bescheiden. Es gibt mehr in mir als Begehrlichkeit, die in den laschen Seelen das Starke ist — Besseres, Machtvolleres. Erst die geistige Erfüllung soll auch den Sinnen das Glück bescheren.
Aber sie dürfen hoffen, sie dürfen wünschen. Sie leben und haben ihr Recht am Leben. So trug es jetzt seine Tritte. —
Kunz wollte mit Gisbert am Nachmittag im Moordorfer Pastorenhaus den Besuch machen. Da sah er etwas, was ihm nicht gefiel.
Einzelne Ausflügler aus der Stadt wurden auf den Goldbergen sichtbar. Beschauten sich die Gegend, zeigten sich dies und das. Betonten ihre Naturliebe, legten die schöne Aussicht sich wechselseitig ans Gemüt. Möglich, daß sie harmlos waren. Möglich auch, daß sie Kundschaft trieben. Halten wir die Augen offen! Warten wir, ob es einen Gang der Handlung geben wird.
Nun zwei Familien mit Kindern — sogar ein Kinderwagen ist dabei — steuern treuherzig auf die Baracke zu. Lagern sich unweit von ihr im Freien — wozu es eigentlich noch zu kühl ist, da die Sonne fehlt. Holen ihre Atzung hervor, ziehen Thermophorflaschen aus den Kinderwagenkissen.
Die Kleinen laufen herum, sehen die Hühner und den vornehm wie ein ehernes Bildwerk ruhenden Muz. Zutraulich kommen sie näher, mit dem Hund möchten sie spielen. Der aber ist nicht kinderlieb und blickt sie nur wachsam unnahbar an. Mit den stumpfsinnigen Hühnern läßt sich keine Kameradschaft schließen — die Kinder möchten wissen, was für Getier da hinter den Stallwänden sitzt. Sie drängen sich vertrauensvoll an die Bretter und hoffen auf eine Ritze.
Jetzt treten die Erzeuger in Tätigkeit. Sie kommen die Anhöhe herunter. „Dürft ihr denn das?“ Und dann wenden sie sich höflich zu Kunz, der zum Ausgehen fertig vor der Baracke sitzt und auf Gisbert wartet. Er faßt sie ins Auge — Arbeiter aus der Stadt offenbar — anständig gekleidet, gewandt.
„Entschuldigen Sie,“ sagt der Kleinere und Lebhaftere, „wenn die Bengels Ihnen lästig fallen. Aber wenn sie Pferde riechen, sind sie nicht zu halten.“
„Das ist recht!“ erklärt Kunz, und fröhlich leuchtet er ihnen ins Gesicht. „Die sollen einmal zur Kavallerie!“
Die Nasen in den gesinnungstüchtigen Gesichtern werden lang. Da riecht an! denkt Kunz, wie Eure Jungens an dem Pferdemist. Aber sie behalten sich in Zucht und haben offenbar noch etwas auf dem Herzen. Ist es unbefangene Wißbegier? Oder wollen sie tatsächlich spionieren?
Beginnen ein Gespräch. Wie nützlich das Siedlungswerk sei. Und die Baracke so praktisch angelegt. Hier Stallungen und die Wohnräume da. Aber schwere Arbeit! Und die Sonntagserholung, der Sonntagsausgang doppelt nötig.
Zwei Teufel streiten sich, die Kunz reiten möchten. Der eine, mehr von der guten Sorte, will da mit ihm hin: „Seht euch ihn mal an, unsern Bau! Kommt mal mit herein! Die meisten Siedler tun, was sie immer Sonntag nachmittags tun, nach ihrem schweren Alltagswerk. Sie liegen in ihren Kojen und schlafen. Sie sind und bleiben zu Haus. Und am Abend sind sie auf den Beinen. Hier auf den Gängen aber, da stehen unsere Maschinengewehre. Kampfbereit. Vier Stück. Für jede Himmelsrichtung eins. Und sind im Handumdrehen vor der Tür. Und wenn einer Lust hat, zu erleben, was Feuerbereich ist —!“
Und dann sitzt der andere, der sehr bösartige Teufel ihm im Genick und flüstert ihm ins Ohr: „Laßt die Bande doch herauskommen heute abend! Warn sie nicht, stör sie nicht! Sag ihnen, alle sind ausgegangen, sich zu amüsieren — und kommen vor Morgengrauen nicht nach Hause. Du und Gisbert — da kommt er gerade — ihr seid nun die letzten, die gehen! Schließ vor ihren Augen die Haustür zu! Und wenn ihr unterwegs seid — von den Goldbergen könnt ihr es sehen — die marschieren schnurstracks mit Kind und Kegel in die Stadt und bringen den Genossen Nachricht! Und was dann am Abend wird —! —“
Solche Einflüsterung gibt Kunz dann freilich nicht an die Ausfrager weiter. Aber was sie nun damit anfangen, daß sie ihn, nachdem er sich nicht unfreundlich verabschiedet hat, mit Gisbert sich entfernen sehen, das bleibt ihre Sache.
Zum Pfarrhaus aber, so zaubermächtig es ihn zog, begaben sie sich doch nicht. Auf den Goldbergen, ihren heiligen Höhen, den weisenden, wissenden machten sie halt. Und als sie sich nach der Baracke umdrehten, gewahrten sie in der Tat, daß die Ausflügler, wie es schien, in beschleunigter Gangart heimwärts zogen.
Jetzt wurde Kunz hell und hart, ganz Verantwortung, ganz Dienst. „Wir bleiben zu Hause, Gisbert. Wenigstens ich. Vielleicht bekommen wir heute abend nun doch Besuch. Und Besuch — will empfangen werden.“ —
Horst fand den Torfmeister allein. Lud Uhlenbrook war wieder tapfer auf den Beinen. „Jedes Jahr acht Tage Lona, und ich sterbe überhaupt nicht!“
Der Alte wunderte sich, daß sie noch nicht da war. Sie wollten mit dem Kaffee auf sie warten — Kaffee aus Moorwasser ist der beste, den es gibt — kommen täte sie bestimmt. Auch vorgestern hätte sie sich verspätet. Sie hätten da in der Stadt offenbar wieder mit Sitzungen so viel zu tun. Dazu seufzte der Alte, daß der Dachfirst es spürte. Und er machte einen seiner grimmigen Witze: all die vielen Sitzungen in Deutschland seien Schuld, daß es nicht wieder aufstehe!
„Bravo, alter Lud!“ sagte Horst und schlug ihm auf die Schulter, daß seine Hand an den Mammutknochen zerschellte.
Der Abend lugte schon in die graue, glasige Welt. Nebel zogen über das Moor, es deckte sich zu mit dem Flaum, es wollte schlafen. Die Männer waren schweigsam geworden. Sie lauschten auf den Schritt, der nicht hallen wollte.
Nun riß es plötzlich an Horst. Eine Mahnung, ein Alarm, ein Kampfruf! „Sie kommt nicht mehr“, sprach er schrill. Dies war bedeutsam. Dies verkündete Unheil. Das hieß, ich muß jetzt gehen. Auf meinen Posten muß ich!
„Sie kommt“, sagte der Alte. Und Horst ließ sich noch einmal nieder. Aber es wogte und wirrte in ihm. Sie sprachen dies und das. Vom Torfstich, von der Bestellung des Ödlandes. Doch, es litt ihn nicht mehr. Diese Moornebel da draußen waren sein Tod.
Er sprang vom Stuhl. „Ich will jetzt doch nach Hause.“ Da lauschten sie auf. Sie blickten in den Vorgarten. Lona war es.
„Ich komme spät“, sagte sie. In ihrer Stimme war ein gehaltener Klang.
„Was war denn?“ fragte Lud.
„In der Kirche war ich —“
„Sie haben Orgel gespielt? —!“ rief Horst schmerzlich.
„Es wurde mir schon dunkel in der Kirche. Wär ich erst hierhergegangen, hätte ich zuviel Zeit verloren. Und ich brauchte das Spiel heute so.“
„Und ich hab nicht dabei sein dürfen!“ Darin war leidenschaftliche Klage.
„Hätten Sie es auch so nötig gehabt —“ —
„Sie meinen, ich hätte es fühlen müssen, daß Sie da waren!“ fiel er gleichgestimmt ein, mit hellen, brennenden Augen.
„Ich habe mich vor der Kirche nach Ihnen umgesehen.“ Sie sprach dann still mit Lud.
In Horst flog es. Was sie sagte — und der Klang ihrer Worte — zitterte nicht ein Vorwurf darin, ein Entbehren, eine Enttäuschung? Das Gefühl einer Zusammengehörigkeit — es lebte in ihr, wie in ihm es lebte! Mehr noch in ihr, da seine Ahnung versagt hatte —? —
Ich habe mich vor der Kirche nach Ihnen umgesehen! Sie hatte erwartet, daß er da sein würde. Ja, er gehörte dazu! Für ihn wollte sie spielen. Ganz gewiß nicht für sich allein.
Ich brauchte es so! Hieß das nicht auch, ich wollte Dich bei mir haben? Du solltest mich hören, ich wollte zu Dir sprechen! Wollte mich Dir offenbaren aus meines Wesens Tiefe! Dir — der einzige bist Du, dem ich mich so bekenne. Denn wir sind uns nah.
Ich hab nach Dir gerufen — und Du bist nicht gekommen. Wie schmerzlich-zärtlich wallte es in ihm auf unter dieser Klage. Das Gewissen peitschte sein Gefühl in heißen Wellen.
Du sollst nicht an mir zweifeln — nicht an dem Zug meines Lebens, der mich zu Dir zwingt. Um so schmerzhaft inniger, da es jetzt wie eine Schuld auf mir liegt. Eine Schuld gegen Dein Empfinden.
Aber sieh, es sind so starke Störungen, die die Leitung hemmen und erschweren. Der Kampf, der Bruderzwist mit seinen Trübungen, seinem Wirrsal, seinem Argwohn und Verdacht. Von diesem Gewühl — wann wird unser Gefühl sich davon losmachen?
Jetzt sind wir soweit, daß unsere Hände sich nehmen — sie erschrecken nicht mehr voreinander. Und unsere Hände sollen sich halten und immer mehr sich beschenken. An einer Gabe soll die andere sich beseelen.
Wie still versonnen, wie mädchenhaft scheu hockte sie bei dem alten Lud. Dessen Augen in sie „wie in einen goldenen Becher“ sahen, dessen schwere ehrliche Hand sich mit einer so heilig behutsamen Zärtlichkeit auf ihren Arm legte, voll dankbaren Glücks.
In die niedrige Stube bettete die Dunkelheit sich ein. Über dem Moor braute der Abend. Hohl rief ein Kauz aus dem Erlengestrüpp.
Da richtete Lona sich auf. „Jetzt ist es Zeit für mich.“ Horst sah in ihrem Auge eine große Angst, die er nicht begriff, dann ein schmerzliches Irren, und wieder waren sie wie nach Innen gewandt. Und als sie dann wieder ins Leben blickten, hatten sie den kalten Schein, der ihm so schmerzlich war.
Sie nahmen Abschied von dem Alten. Zärtlicher als sonst umfaßte sie ihn, daß er wie ein Betrunkener taumelte und grunzte und herumfuhrwerkte. Dann ging sie mit Horst.
„Bis zur Mühle nehmen Sie mich mit, nicht wahr?“ fragte er. „Wir wollen hier auf dem Waldweg bleiben.“
So ließen sie die Baracke weit ab liegen. Lona machte eine Bewegung, dann aber folgte sie seiner Führung.
Lind und still ist um sie der Abenddämmer. Die Luft schweigt. Nur von fernher aus dem Innern des Waldes tönt das Gurren wilder Tauben, die ihre Schlafbäume aufsuchen, in den sanften Rhythmen wie märchenverloren.
Und es verliert sich der Raum in diesem grauen Rinnen und Rieseln, es verliert sich die Zeit. In Vergessenheit schreiten sie, in Wolken, in Schweigen. Wie Traumgestalten.
Ein Ausruhen ist es ihnen in Körperlosigkeit, wohltuend nach dem Ungestüm, den Zuckungen, den Brandungen, in die sie die Zeit geworfen.
Sie haben eine Scheu, dies Land zu verlassen, ängstigen sich vor dem leibhaftigen Wort, wandern weiter in Schweigen.
Die Welt von uns abtun — alles da draußen versinken lassen — vergessen die Zeit, die Bedrängnis des Geschehens — nichts wollen, nichts denken — nichts wissen — —
Dann aber, da sie immer tiefer und gedankenloser hinabgleitet, geht durch ihn, durch sein wallendes Blut der leise Schlag des Erwachens.
Sie ist bei dir, allein sind wir miteinander. Um uns ist der gütige Abend. Kostbar ist die Zeit, kostbar und inhaltschwer. Jede Minute atmet schicksalsvoll, in jeder Sekunde pocht das Glück.
Ich bin ausgezogen, Dich zu gewinnen! Herüberholen will ich Dich zu mir! Gerade weil Du etwas Eigenes bist, mit eigenem starken Willen und Leben! Ob ich sonst um Dich werben würde?
So aber werbe ich um Dich!
Und sein Wort leuchtet sieghaft auf: „Ich kehre nicht um bei der Mühle, noch weiter gehe ich mit Ihnen, Lona!“ Nun ist sie erschrocken wach.
„Ich will den Abend bei Ihnen sein!“ drängt er weiter.
Bei mir — nicht bei den Kameraden — nicht auf Deinem Posten —! — So habe ich Dich in der Hand. Und muß ich nicht — muß ich Dich nicht in der Hand haben! Daß Du fern bleibst von Deinen Kameraden!
Unsere Feinde seid Ihr. Unschädlich sollt Ihr gemacht werden! Entwaffnet! Das soll und muß sein. Wenn etwas, liegt das in meinem Willen.
Nun sind sie eine Truppe ohne Führer. Das ist gut. Damit haben wir, wir das Spiel gewonnen.
Und daß ich die Macht über Dich habe! Sie auskosten, den Triumph durch alle Sinne sich flammen, sich jagen lassen, durch alle Nerven, alle Fasern!
Noch immer ist die Rache in mir, ungestillt! Und wenn etwas von Deinem Wesen ins Blut mir gehen will — was bildest Du Dir ein! Träumst Du von zärtlicher Regung! Grausamkeit ist, was sich regt. Wie sie in den Krieg gehört! Grausamkeit, die Lust am Quälen! —! —
Denn Krieg ist und bleibt zwischen uns! Darum — Dein Leben zerstören ist das nicht mir aufgegeben — und mein Wille!
Und wie wird Dein Leben zerstört sein! Da der Schlag gegen Dein Haus geführt wird, Du hütest es nicht! Du hast Dich von ihm entfernt — um eines Weibes willen. So wirst Du es Dir nennen, und wirst daran vergehen.
Und das Weib bin ich!
Uns hat etwas zueinander getrieben, machtvoll, hindurch durch die Fluten, die zwischen uns brausten. Was war es — was ist es? Gleichviel, was es ist! Wir stehen im Kampf!
Du bist ehrlich gegen mich gewesen, offenherzig, weitherzig und warm, ganz anders wie Deine Gesinnungsgenossen sind. Und es gab einen Klang zwischen uns. Gleichviel — wir stehen im Kampf. Soll ich meine Freunde verraten um Deinetwillen! Meinen Glauben! Der erste wärst Du, der mich verachtete!
Der mich verachtete — und wenn ich nun weiter mit Dir wandere durch den Abend in die Nacht — bedachtsam — da ich weiß, was Euch bevorsteht — und Dich fortschaffe von dem Geschehnis, in das Du gehörst mit Blut und Leben — wird das, was übrig bleibt, nicht der Fluch sein auf mich und — meine Tücke.
Tücke! Darf ich unser Geheimnis Dir preisgeben! Die Freunde soll ich in Eure Hände liefern! Soll den Tod über sie bringen — um Deinetwillen! Wahnsinn!
Es braust in ihren Ohren. Sie hört nicht die Worte, mit denen Horst sie jetzt umfängt. Aber sie fühlt seine Hand, wie sie ihre Finger nimmt mit festem Druck.
Was ist es, daß sie sie ihm läßt! Muß sie ihre Rolle weiterspielen? Oder hält sie ehrlich ein ehrliches Geschenk, das sie freut, ein Gefühl, dem sie sich neigt im Gleichklang der Sinne und der Seele?
Immer war Waffenstillstand zwischen uns, immer der Friede. Wir waren über unserem Kampf. Können wirs nicht bleiben? Vergessen die andern — die Welt — alles da draußen vergessen. Allein sein miteinander — allein auf der Welt —
Da — wie seine Hand ihren Arm greift, bäumt sie sich zurück — ist es der Widerstand des Weibes, die Furcht vor dem Erliegen — kurz, hastig, wie bellend stößt sie hervor: „Sie sollten heute abend lieber in der Baracke sein — und nicht hier bei mir!“
Horst steht und starrt, betäubt. Dann — ein Blitz zerreißt die Wolken. Er sieht das Geschehen — er fliegt in die Höhe, als wolle er durch die Luft. Und dann in wilden Sprüngen stürmt er — über den Sturzacker — in die Heide —
Und Lona, wie im Ertrinken, greift nach dem Gedanken: so ist nun ehrlich die Fehde zwischen uns angesagt — ich will zu den Freunden!
Gradenwegs rennt Horst nach seinem Ziel. Vom Abendhimmel fällt jetzt ein leichter Schein. Wind hat sich aufgemacht, hat die Wolken ausgesponnen, durch den Dunst schimmert es von der feinen Mondsichel und dem helljubelnden Liebesstern.
Einzelne Gestalten — wie Indianer auf dem Kriegspfad — heben sich vom westlichen Horizont — war das da hinten nicht ein kleiner geschlossener Trupp —? Und in dem schwarzen Kieferngehölz — ein paar mächtige Glühwürmchen zucken hin und her — Taschenlampen — das Waldstück ist besetzt. Die Baracke wird planmäßig eingekreist.
Horst fliegt über die Heide. Bricht ein paarmal in die Knie. Da — Männer vor der Baracke — Kameraden — sie sind auf der Wacht.
Keuchend wankt er vor sie hin. „Raus mit den Maschinen!“
„Gott sei Dank!“ begrüßen sie ihn. Dankwart, Kunz, Gisbert sind da. In Kunz ist das harte Feuer: „Wir werden ihnen die Reißzähne zeigen!“
Jeder bewaffnet sich für alle Fälle mit Pistole und Gewehr. Horst befiehlt: „Warnungsschüsse natürlich. Nur Warnungsschüsse. Bis zum letzten.“ Und noch einmal schärft er ihnen ein: „Bis zum letzten.“
„Heißt, bis die andern uns mit ’ner Kugel holen!“ knurrt Dankwart.
„Schad nix. Sterben wir in Schönheit!“ knurrt Kunz zurück. „An unserer Sisasentimentalität.“
Die Feinde zögern. „Blockhaus — Rothäute. Ganz nickkartermäßig wird einem zu Mut.“
Zu lange zögern die Feinde. Die diesige Luft klärt sich auf. Der Himmel gibt Sternenschein. Jetzt sind nur noch zwei Seiten gefährlich. Das weite Schußfeld der Heide vor ihnen bietet keine Überrumpelungs-, keine Angriffsmöglichkeiten mehr. Wenn die Feinde stürmen, kommen sie den Hang herunter und brechen aus den Knickbüschen zur Rechten.
Und nun — sie brechen aus den Knickbüschen. Horst durchzuckt es: nur von der einen Seite — nicht auch zugleich von den Hügeln — soll das eine Kriegslist sein?
Es war eine List. Diese kleine Schar sollte ablenken. Der Hauptstoß sollte von oben erfolgen —
Tak — tak — tak — tak — tak — das Maschinengewehr gegen die Stürmenden. Dieses tödlich unheimliche Tacken — der scharfe Pendelschlag des Verderbens — die Herzen stocken — die Reihen wanken — Rufe — Schreie — gereckte Arme — wirbelnde Glieder — fliehend stieben sie auseinander.
Jetzt das Gros von der Höhe — mit wildem Hurra — das Brüllen soll das Tak-Tak übertönen. Aber scharf reißen diese Todestaktschläge hindurch — zwei Maschinen auf dieser Seite — sie arbeiten gegeneinander auf — überbieten sich — wetteifern im Verderben —
Wer kann dagegen an! Auch hier stocken die Reihen — wogen durcheinander — fluten zurück — zerflattern in rasender Flucht — über ihnen pfeifen die Kugeln —
Nur ein kleiner Stoßtrupp, fünf, sechs Mann sind mutig vorgestürmt — zwei Handgranaten fliegen — Knall, Rauch, sprühender Sand, Fetzen von Erde — Handgemenge — mit einem Kolbenschlag wirft Horst den nieder, der gegen ihn anspringt.
Die andern werden überwältigt und entwaffnet. Vier Siedler sind getroffen, nicht schwer. Der Gegner von Horst liegt besinnungslos. Die Entwaffneten stehen dumpf, geduckt, verbissen. „Geht nach Haus und grüßt Eure Großmutter!“ sagt ihnen Kunz.
„Wir wollen — unsern Genossen mitnehmen!“ fordert der eine.
Horst hat Umschau gehalten. Von den Feinden ist nichts mehr zu sehen. Sie fluten nach der Stadt zurück. Von denen ist nichts mehr zu besorgen.
Jetzt trat er ruhig zu dem Besinnungslosen. „Ich glaube nicht, daß er transportfähig ist“, sagte er bestimmt. „Sie müssen ihn schon hierlassen.“
„Er soll mit. Wir tragen ihn —“ erklärten die Genossen.
„Was jetzt soll, sage ich hier. Nicht Sie. Er bleibt. Ich hoffe, er ist zu retten. Aber nur so. Einer von Ihnen kann ja seine Pflege mit übernehmen.“
Die Männer berieten. „Wir müssen uns fügen.“
„Ja, das müssen Sie.“ So blieb einer zurück, ein Krauskopf mit Mulattengesicht. Die andern gingen wortlos von dannen. Kunz aber, der Abschiedsworte liebte: „Wir bedanken uns auch bei Euch! Daß Ihr uns nicht in Pflege zu nehmen braucht!“
Horst war mit Sellmann, ihrem tüchtigen Sanitäter um den Liegenden beschäftigt. „Schwere Gehirnerschütterung“, sagte der Medizinmann. „Der Schädel ist offenbar ganz geblieben.“ Sie trugen ihn hinein.
„Wir werden das Feld jetzt noch absuchen, zur Sicherung“, beorderte Horst. „Und dann — hoch genug haben wir ja gehalten — aber vielleicht ist doch noch diesem oder jenem etwas geschehen.“
Kunz führte die Streife. Horst ging in seinen Raum. Er warf sich lang auf sein Bett. Ein paar Minuten Ruhe! Seine Nerven flogen.
Der rasende Lauf durch das Gelände — dann der Kampf — und nicht weniger als dies der jähe Sturz aus der Traumwelt, in der er gewandelt — Lona — von Deiner Seite in den blutigen Kampf mit Deinen Brüdern, Mann gegen Mann!
Und Du warst es, die mich warnte. Mich, der ich wie blind neben Dir herlief. Der ich mit Dir weiterwandern wollte, hinein in die Stadt. Um bei Dir zu sein, die Du mir lieb geworden bist!
Und wie lieb muß ich Dir sein, daß Du mich wecktest aus meiner Gedankenlosigkeit und auf den Weg meiner Pflicht mich führtest. Meine Pflicht — die gegen Deine Sache streiten, die ihr die Wunde schlagen mußte! Meine Pflicht, gegen die Deine eigene Pflicht sich erhob.
So hast Du mir Dich aufgeopfert! Und hast Du so Deine Welt nicht hinter Dir gelassen? Keine Heimat gibt sie Dir mehr. Die Fäden sind zerrissen. Du gehörst uns. In mein Leben gehörst Du. Eigenes Heimweh hat in meine Welt, hat zu mir Dich gezogen — nun halt ich Dich fest! Nun bist Du mein!
Hohl klingt ein Murmeln an die Wand des Schuppens. Wälzt sich dumpf, düster und schwer. Legt sich ihm auf die Brust wie ein Mar. Was friert ihm so ins Blut? Was schauert ihm so durch die Seele?
Er springt auf und tritt hinaus in den Gang, tritt vor die Tür. Die Streife kehrt zurück. Sie tragen jemanden. Kunz geht voran. Horst ist bei ihm. „Eine Frau“, sagt Kunz, weiter nichts. Seine Augen sagen mehr. Horst aber weiß es längst, was er jetzt sieht. Lona. Und sie ist ohne Leben.
Er weiß es, er sieht es — und glaubt es wieder nicht. Seine Hände irren über ihr eisiges Gesicht — sie wollen sich irren — sie rühren, sie fassen den Tod.
„Lo-na.“ Seine Zähne klappern. „Lo-na.“ Zerrissen ihr Name. Ihr Wesen zerfallen. Zerbrochen ihre Form. Ihre Seele entflogen.
Ein Schuß mitten durchs Herz.
Und jetzt die Fragen der andern: War sie selbst unter den Stürmenden gewesen? Dann am alleräußersten Flügel. Oder hatte sie als Zuschauerin abseits gestanden? Kugeln irren sich so gern.
Horst hatte seine Antwort. Hergeworfen — hergewirbelt hat es Dich — nicht ein Gefühl allein — Du mußtest dabei sein — nicht bloß sehen, es mit erleben — ein Schuldbewußtsein flocht Dich in die Reihen der Genossen — und doch Deine Gedanken flogen ihnen voraus. Sie waren bei mir — sie suchten mich — in schmerzlichem Verlangen —
So war es. Steht es nicht so in Deinem Gesicht geschrieben? Ist all das Zerwühlte nicht zur Ruhe gebracht? Schwebt darüber nicht etwas wie die weiche, bebende, sorgende Zärtlichkeit des Weibes?
In der Halle war die Leiche niedergelegt. Horst hielt bei ihr die Totenwacht.
Unwirklich war ihm noch alles. Wie trunken machte ihn der Schmerz. Seine Fieber taumelten wie in den Visionen einer Dichtung.
So umgeisterte ihn alles, was er mit Lona erlebt hatte — seit der ersten Stunde, da sie sich fanden. Wie er sie das schöne, böse Raubtier sich nannte, in der Versammlung — als sie zum Sprunge gegen Herrn Borkhus sich duckte, den Zerbrecher ihres jungen Glücks. Wie sie ihre überhitzte Schulmeinung ihm ins Gesicht sprühte: deutsch ist mir ein zu unwesentlicher Begriff! Blieb sie in der Öde solcher Verstiegenheit? Fing sie nicht an, auf ihre heimatlichen Wurzeln sich zu besinnen? Langsam — Geduld mußte man mit ihr haben —
Als er aus der Kirchhofshaft sie befreite, da starrte sie noch in Waffen gegen ihn. Aber wie der alte Lud dann ihr Wesen ihm gedeutet hatte — je mehr er sie begriff, um so näher rückte sie ihm, um so näher rückte er ihr. Was sie auf der Landarbeiterversammlung sprach, Klänge aus der Tiefe, die in ihm widerhallten. Und wie sie beide bei Lud sich fanden, sich etwas zu sagen und zu geben hatten — bis sie in der großen Offenbarung ihres Orgelspiels mit allem, was in ihrer Seele flutete und brauste und kämpfte, verzweifelte und zum Licht sich aufbäumte, mit den schmerzvoll heiligen Feuern ihrer Seele ihn überwältigte.
Du suchtest den Weg, der Dir verschüttet war — Du fandest ihn über Trümmer, einen schmalen Pfad — ich durfte die Hand Dir entgegenstrecken, Du wolltest sie ergreifen —
Und jetzt abgestürzt — zerschmettert — zerbrochen —
Und nicht mehr rollten die Bilder an ihm vorüber, wie Szenen eines Schauspiels, das ihm als Zuschauer den Atem versetzte — die Wirklichkeit riß ihn aus dem Rausch der Todesnähe, das Leben, sein Leben packte ihn an — ein Teil von seinem Leben war ihr Tod. Ein Teil von ihm war mit ihr gestorben.
„Lona“ — er umspannte ihre kalten, welken Finger. Vor ein paar Stunden hatte er sie noch gehalten — wie pulsten sie in seiner Hand, wie pochte ihr Blut an das seine! Jetzt ist der große Abgrund zwischen uns, über den nur die Todesfittiche tragen. Und Du bist auf der geistigen Seite.
Du blasse Lona — nicht mehr das schöne, böse Raubtier — o nein — ein schöner, guter, verklärter Geist — nicht mehr ans Irdische gefesselt, nicht mehr dem Körper verhaftet, jetzt hast Du Dir das Jenseits erobert, das Dich so quälte. Jetzt sind die Schleier gefallen, die Geheimnisse enthüllt — jetzt siehst Du den Sinn der Welt. Des Lebens! Des Lebens vor dem Leben. Des Lebens nach dem Sterben.
Und hat das alles seinen Sinn — was ist sinnvoll anders als gut? Der gute Sinn, der große gute Sinn des Lebens, der große gute Sinn der Welt.
Kann der Tod ihn uns verdunkeln? Führt er nicht gerade, was in uns, den Überlebenden, stark und echt und treu ist an Liebe und Kraft, an Fühlen, Denken und Wollen, empor zu der Höhe eines Gelöbnisses!
Sich treu bleiben! Seinem Fühlen und Willen treu bleiben! In seinem Fühlen und Willen sich klären! In seinem Fühlen und Willen sich vollenden!
Wieviele Kameraden hat Horst begraben! Vor jedem Toten hat er so gestanden, gehoben, gesteigert, beflügelt in seinem Wesen, gefestigt in einem Schwur. So strömt uns neue Kraft zu von unseren Toten. So sind die für uns gestorben, die uns lieb waren.
So bist auch Du für mich gestorben, Lona. Die Du mir feind warst, die ich Dich lieb gewonnen. Tränen schauerten durch ihn hin. Da machte er sich hart.
Sich treu bleiben, seinem Fühlen, seinem Willen treu bleiben. Und so in die Höhe wachsen, aus sich, in sich, zu sich selbst empor! Er stand aufrecht und frei, von seiner Andacht geweiht.
Kunz kam herein. Er berichtete, der Verletzte wäre zu sich gekommen, finge an zu toben, wollte nicht länger bleiben.
Horst ging zu ihm. Er lag, den Oberkörper aufgerichtet, die Hände krampfhaft aufgestemmt — das wirre Haar hing ihm in irre Augen — „ich laß mich nicht einsperren — schlagt mich tot — ich laß mich nicht quälen —!“
Jeder sah, daß an ein Fortschaffen nicht zu denken war. Auch der Mulatte schüttelte den kugelrunden Kopf.
Horst sprach ruhig auf ihn ein. „Sie sind krank und hilfsbedürftig — wer wird Ihnen was zuleide tun! Sie werden hier gesund gepflegt. Wenn Sie sich ruhig verhalten, können Sie vielleicht morgen schon nach Hause.“
Ruhiger wurde er, von den Worten, von dem Stimmklang. Aber in den Augen ging es noch weiter um. Dann sah und erkannte er den Genossen. „Was tust Du hier? Bist Du auch gefangen — schämst Dich nicht — kannst rumlaufen — ich — den schweren Kopf — den — schweren — Kopf —“
Jetzt sank er zurück, zuckte noch, und dann kam der Schlaf über ihn.
In der Baracke ging man zur Ruhe. Ein guter Teil der Nacht war vorüber. Horst mit zwei Kameraden hatte die Wache bis zur Frühe übernommen. Die beiden machten es sich im Eingang bequem. Er, im Mantel, setzte sich auf die Bank vor der Tür und wartete den Morgen entgegen.
Müde gingen seine Gedanken ein in die große Sternenstille. Müde und demütig. Ihr Sterne, ich kann Euch nicht einmal zählen. Wie soll ich Euch begreifen? Funken der Ewigkeit ihr —! —
Mein Erdenschicksal — ein Staubkorn nur dieser kleinen Erde und mir so wichtig und schwer —
Und doch — ich bin nicht verloren — ich bin in der Unendlichkeit — und darum die Unendlichkeit ist in mir — in mir das Ewige — den Stolz des Lebens, ich darf ihn fühlen. So darf ich in die unermessene Höhe sehen, ohne zu verzagen. Darf an ihr wachsen, in sie wachsen, denn sie ist mein.
Im Osten zog sich ein fahler Streif, an dem die Sterne verblaßten. Der Morgen rieb sich die Augen. Vom Westen her, wo das nächtige Dunkel noch fest lag, schob sich langsam eine mächtige Gestalt. Ein dumpfes Murmeln, gebändigt und doch ein Donnerrollen, verkündete ihr Nahen. Nur einer konnte so brummen — und jetzt kam er in Sicht — Horst stand auf, ihn zu empfangen. Lud Uhlenbrook war es.
Konnte er wissen, was geschehen war? Zog ihn nur dunkle Ahnung her? Es war Ungewißheit, was ihn quälte. Froh packte er Horstens Hand. „Was hab ich bloß zurecht geträumt — von Schlacht und Schießerei. Hin und her hat es mich gewälzt. Gut, daß ich Sie finde!“
Nun stutzte er über des Freundes Haltung. Der sagte dann still: „Sie haben nicht geträumt.“
„Und ist was passiert?“
„Ja.“ Dies eine Wort, so schwer von dem Geschehenen, öffnete ihm den Blick.
„Was mit Lona?“
„Wir haben sie hier.“
Der alte Mann sank vornüber — seine gewaltigen Hände jappten hilflos wie zwei Riesenfischköpfe auf Land. Dann trottete er ächzend ins Haus. Horst ihm nach führte ihn in die Halle. Der Morgendämmer zeigte ihm die Tote.
Lud Uhlenbrook stöhnte auf, einmal — dann summte es in ihm, so wie der Wind in hohen Drahtleitungen summt — dann ward er selbst totenstill.
Und jetzt, mit einer urlangsamen Selbstverständlichkeit nahm er die Tote wie eine Puppe auf den Arm. Nichts Wildes war dabei, nichts Wirres. Nur die große Sicherheit seines Tuns.
Wortlos trug er sie hinaus. Trug sie über die Heide. Fahl und wie klagend zog der Morgenschein hinter ihm her — den übermenschlichen, gespenstigen Leichenträger.
In Horst lehnte es sich auf. Mein Eigen — ich laß es mir nicht nehmen!
Ihm nachstürzen will er — und erschrickt vor seiner Jachheit. Soll ich ihn niederwerfen — ihn mit der Toten! Soll ich um sie mich balgen mit dem alten Mann!
Wallt er nicht dahin, so wie die Notwendigkeit schreitet! An die sich nicht rühren läßt —! Und ist hier nicht Liebe am Werk? So wollen wir in der Gemeinschaft bleiben, wir drei.
Recht ist ja, was Du fühlst und tust! Nicht in die Baracke gehört sie, die ihr verhaßt und die ihr feindlich gesinnt war — in Dein stilles Haus, das ihr eine Heimat gewesen. Da soll sie aufgebahrt werden. Da wollen wir ihr die Totenfeier rüsten. —
An diesem Tage erholte sich der Betäubte so weit, daß er das Siedlerhaus verlassen konnte. Es war der Leiter des Überfalles selbst, der Werkführer Stahlboom.
Die Siedler hatten den ganzen Tag hart gearbeitet, auf dem Felde, in der Ziegelei, auf dem Moor. Gedenkreden auf den gestrigen Tag hatte das Schaffen befeuert. Man erzählte sich, daß die Angreifer mehrere Verwundete heimgeschleppt hätten. Das eine Maschinengewehr gegen den Abhang hatte nun doch nicht hoch genug gehalten. Wer hat auch in solchen Augenblicken Nerv und Hand so in der Gewalt? Der Tod hatte nur das eine Opfer sich geholt — die Frau — Lona.
Mehr als ein Auge suchte Horst wieder auf. Der war am Werk wie nur je, selbst der Fleißigste und Härteste. Daß sein Gesicht blaß war, daß die gerade Falte zwischen den Brauen sich tiefer prägte — wer von ihnen trug nicht an dieser Nacht! Und enger waren sie aneinander gerückt, dichter war die Reihe geschlossen, Kameradschaft war Trumpf.
Wie sie Feierabend gemacht hatten, trafen sie den Pflegling bei Gehversuchen vor der Tür. Als der Anführer wußte er, was er sich schuldig war. Er wartete auf Horst, trat ihm in guter Haltung festen Auges entgegen und sagte klar: „Ich danke für Pflege und Quartier. Mein Wunsch ist, einmal — Gleiches mit Gleichem zu vergelten.“
Es war nichts Verstecktes darin, kein lauernder Hohn, es hatte seine offene Bedeutung. Und Horst gefiel diese Art. Saubere, ehrliche Feindschaft! Damit ließ sich etwas anfangen. Darauf ließ sich sogar aufbauen. Nur das Heimtückische zerrüttet.
Und jetzt kam für die Siedler ein großer, freudenvoller Tag. Der Grundstein zum ersten Siedlungshaus wurde gelegt. Findlingsblöcke sein Fundament.
Es gab eine stille Feier, zu der Frau Tilde, Pastor Waermann und Vita sich einfanden. Horst sprach: „Auf Steinen wirst Du errichtet, Du unser erstes Haus, die der Norden uns zugeführt hat. Der Norden, die große Heimat der deutschen Stämme. Der harte, helle Norden, der noch heut die deutsche Art am treuesten hegt. Wo die Männer von je frei, stolz und ungebeugt den Nacken hielten. Keine Knechtschaft duldet der Nordlandschein. Reden sollt ihr, ihr Steine! Zeugen sollt ihr uns sein, Eidhelfer! Ein deutsches Haus sollt ihr tragen! Deutsche freie Männer sollen in ihm wohnen!“
Pastor Waermann sagte seinen Spruch: „Auf diesem Fels wollen wir eine Kirche bauen! Eine deutsche Kirche! Jede Andacht, jedes Gebet in ihr, jeder Gedanke, jeder Wille in ihr: die deutsche Freiheit!“
Und Frau Tilde weihte das Haus: „Über dem Altar der Spruch der Gemeinsamen: Ich lebe in Dir — Du lebst in mir!“
Vita aber flammte empor: „Der Altar dieser Kirche soll ein Amboß sein! Schwerter zu schmieden!“ Ihre Katzenaugen sprühten von funkelndem Phosphor, die Worte sprangen und splitterten in ihrer mutierenden Knabenstimme. Alle freuten sich ihres Überschwanges, der so kindlich war und doch aus schmerzlicher Tiefe loderte.
Die Maiensonne meinte es gut. Sie saßen zu einem kleinen Imbiß vor der Baracke im Freien nieder. Von dem Kampf sprachen sie, von Lonas Tod. Ein Schweigen ehrte die Heimgerufene. Keine Frage rührte an Horstens Versunkenheit. Jetzt gab Pastor Waermann zu bedenken: dieser Waffengang werde weithin alle Geister beschäftigen. Wollte die Siedlung ihre Maschinengewehre retten, müßte sie sie verstecken.
Kunz stimmte lebhaft zu. Er wußte die Plätze dafür — zwischen den Steinplatten der Hünengräber, die wieder zugeschüttet würden — in der Gruft bei Herrn von Borkhus, unter seinem Sarge.
Horst lehnte ab. „Wir verstecken die Waffen nicht.“ Die Linie zwischen den Brauen gab Zeugnis.
Dankwart und Kunz schüttelten den Kopf. War Lonas Tod ein Gewinn?
Dann ließ es Frau Tilde sich nicht nehmen, in die Stallungen einen Blick zu tun. Gisbert, der hier Zuständige, übernahm die Führung.
Ein braunweißes Kalb hatten sie, das war ihr Stolz. Ihre beiden Milchschafe, erlesener friesischer Rasse, hatten je zwei Lämmer geworfen. Zehn Küken purzeln und trippeln und schießen herbei nach den Lockrufen der Mutter Henne. Zwei andere Hennen noch brüten in den Körben, feierlich in der gewölbten Ruhe ihres heißen, breit gefalteten Gefieders, heizend und erhitzt, böse die Augen gegen die Welt, von Halbschlaf benommen, versunken in das eigene geheimnisvolle Werk, scharlachrot von der Inbrunst des Schaffens der Kopf, der klein geworden ist gegen den machtvollen, lebenspendenden Leib.
Frau Tilde sieht alles, prüft alles und ist zufrieden. Glücklich macht Gisbert die Anerkennung. „Bienenstände müssen Sie noch haben, die gehören zu Ihrem Heideland.“
Und dann begleitet Gisbert die Freundin nach Hause. Die Herrin — er fühlt sich ganz als ihr Wirtschaftseleve. Immer wird er Landmann bleiben, nie mehr wird die Stadt ihn sehen, in der die Menschen versteinern. Die Naturandacht sein Leben. Seines Daseins Licht diese Frau, die nicht müde wird, ihn zu beschenken. Nie mehr kann er von ihrer Seite gehen.
Sie blicken von der Höhe über das Land. Obstbäume blühen an dem Wege, der zum Moorhofer Herrenhause führt. Wie große weiße Blumensträuße stehen sie da, der Königin dieses Reiches ein Fest zu bereiten. Auf dem Hügel außerhalb der Parkmauer, der weite Ausschau gewährt, steht ein mächtiger Ahorn mit runder Bank. Da setzen sie sich nieder. Leuchtende Wolken, erhaben und schöpferisch bildhaft, ziehen ostwärts, von der sinkenden Sonne beleuchtet.
Sie schauen hinauf, plötzlich fragt Tilde: „Sind Sie sehr shakespearefest?“
„O nein, ganz und gar nicht.“
„Dann kann ich es wagen“, sagt sie und streicht sich ein mädchenhaftes Zagen aus der Stirn. „Ich denke an die Szene, wie Hamlet den Höflingen Rosenkranz und Güldenstern die Wolke zeigt — sie nach dem Bilde fragt — ihnen die Antwort in den Mund legt. Sieht sie nicht aus wie ein Kamel, wie ein Walfisch, wie ein Wiesel — für die bestialische Reihenfolge wird keine Gewähr übernommen. Ich muß sagen, daß ich mit dieser Szene nie das Rechte habe anfangen können.“
„Weil die Wolken so vieldeutig sind —“
„Ja. Ganz gewiß für Menschen, die nichts miteinander gemein haben. Da die Wolkenumrisse so schnell zerfließen — eine ganze wandernde Menagerie kann man einem Fremden suggerieren. Der darum noch gar nicht liebedienerisch ja zu sagen braucht. Menschen aber, die sich nahe sind und miteinander leben — es ist überraschend, wie sie in den Wolken ganz zu gleicher Zeit dieselben Gesichte haben.“
Gisbert blickt in die Wolken, die sollen ein Bild ihm zeigen.
„Wie oft,“ spricht Frau Tilde weiter, „haben wir als Kinder, mein Bruder Volker und ich, so den Himmel abgesucht. Dann fanden wir etwas — gemeinsam — faßten unsere Hände — sagten es uns. Und immer war es dasselbe. Eine Walküre mit Flügelhelm und wallendem Haar — ein alter Rabbi mit langem Bart — ein Indianer auf der Büffeljagd — ein buckeliger Pierrot — eine knieende Beterin. So eng hingen wir beide zusammen.“
Durch Gisbert zieht ein stilles Leuchten. Und wir beide? Wie nahe bist Du mir — und mir, ich weiß es, mir gibst auch Du Deine Nähe. „Ich fühle wie Sie“ — immer, immer fährt unter dieser Flagge mein Lebensschiff. Und was reichst Du täglich meinem Dasein an Geschenken!
Eine Zuversicht hebt ihn, bis in den Himmel. Was die Wolken mir jetzt zeigen, ich weiß es, Du siehst es mit mir. Und wie er jetzt suchend wieder den Kopf aufrichtet, tut sie es auch. Leicht hebt er die Hand — nun zittert er doch in allen Fasern, da die Gewißheit droht — und leise ist sein Wort: „Ein Schwan —“
„Er fliegt. In die Sonne fliegt er.“ Ihre Stimme hat den stillen Glanz des Selbstverständlichen. Sie sieht, was er sieht.
„Und auf dem Kopf —“
„Eine Krone.“
„Eine Krone von Gold.“
Sie sehen dasselbe, sie fühlen dasselbe, ein und dasselbe sind sie. In Gisbert braust es und jauchzt es. Mein gekröntes Glück! — — —
Vita und Kunz gingen über die Heide. Der Wind trug ihnen den herben Duft der Wacholderbüsche zu. Auf die Dünen zog es sie. Hartblau war die Flut. Sie spähten über die See.
„Wieder kein Schiff“, rief Vita klagend schrill.
„Und wär eins da, es wär kein deutsches.“
„Kommen Sie. Wenn man einmal nicht traurig oder zornig genug ist, geht man hierher. Aber meist ist man es ja.“
Zurück in die Heide. In Wolkenhöhe kreiste ein Raubvogel. „Kann man den schießen?“ fragte Vita.
„Mit einer gewöhnlichen Jagdbüchse kaum.“
„Aber mit dem Armeegewehr?“
„Ja.“
„Würden Sie ihn treffen?“
„Schwerlich, ich bin kein Scharfschütze.“
„Aber ich möchte es werden. Ich will schießen lernen. Sie sollen mich mit auf die Jagd nehmen.“
„Es gibt jetzt bloß nichts zu jagen. Höchstens Raubzeug.“
„Um so besser.“ Und die Augen sprühten ihre grünen Funken.
Kunz lächelte dazu. Was bist Du für ein Kind, dachte er. Wie lange muß ich noch auf Dich warten?
Dann aber gab es einen Riß, einen bedrohlichen fast. „Ihren Hund aber müssen Sie zu Hause lassen!“ erklärte sie.
„Meinen Muz?“
„Hunde kann ich nicht leiden.“
Er starrte in ihre graugrünen Lichter. Bist Du es nun doch, eine Katze auf der Seelenwanderung! Dann sprach er beruhigt, mit siegender Gelassenheit: „Sie haben noch nie in ein Hundeauge gesehen.“
„Ich mag die Köter nun einmal nicht. Nicht ihren Geruch. Nicht ihr Schweifgewedel, nicht ihre geprügelte Treue.“
Kunz lehnte sich zurück, heftig, über das Gleichgewicht und taumelte ratlos benommen. Eine Rede der Verteidigung? Was nützt hier — und anderswo — alles reden. Erleben soll sie Dich, Muz. Und sich zu Dir bekehren. Aber seinen Stoß hatte er weg. Und seine Zärtlichkeit trug eine Wunde.
Die mußte erst ausheilen. Heute würde es nun doch nicht mehr das Rechte mit ihm und seinem Mädchen. Er war nicht trostlos, als der Pastor und Horst ihnen in den Wurf kamen, die nach Moordorf zuschritten. Lieferte das Kind an den Vater ab und zog allein seine Straße. Er sehnte sich nach Muz, nach seinem Auge. —
Allein wanderte dann auch Horst weiter. Zum Torfmeister und zu Lona ging sein Weg. Sein Schritt war langsam und schwer.
Mit Feldblumen hatte der Alte die Tote bedacht und besteckt. „Blumen aus dem Moor“, sagte er. „Im Tode haben die beiden sich gefunden.“
Er wirkte und wallte umher wie ein Priester. Von der Leiche trennte er sich nicht, er gab sie nicht her für Horst zu einsamer Andacht. Manchmal schoß auf den, wie auf einen Fremden, einen Eindringling, einen Feind, ein fast böser drohender Blick aus den roten Lidern.
Horst stand vor der Toten. Nicht erlöst sind Deine Züge. Um Deinen Mund das Lächeln — es hat nichts Verklärtes — leidenschaftlich und leidend. Dein Los hat sich Dir nicht erfüllt. Sehr viel Sehnsucht trägst Du mit hinaus. Auf den dunklen Fittichen quälender Fragen bist Du emporgerauscht. Jetzt — jetzt wandelst Du im Lichte der Antwort.
Der Alte zog herum und ließ ihm nicht die Stille. „Der Pastor soll sie nicht zum Begräbnis haben!“ murmelte er drohend. „Eine Kriegstrompete ist er geworden. Was soll die hier? Hier bläst sie vorbei. Und er stört sie bloß. Und sie sollen Dich nicht stören! Alle haben sie Dich gequält. Deine Freunde, durch ihr Wüten, Deutsche gegen Deutsche! Und Deine Feinde — dieselbe sinnlose Wut! In diese Brandung bist Du geraten, so bist Du verdorben!“
„Schuld seid Ihr ja“ — gegen Westen hob er jetzt in jähem Ruck die mächtige haarige Faust — „Ihr Höllenhunde da drüben! Ihr mit all Euren Bundesgenossen, all Euresgleichen — nur in Rudeln jagt das feige Gesindel — Ihr habt heimtückisch Deutschland zur Strecke und in das Elend gebracht! Und in unserm Grauen kehrt unsere Wut sich gegen uns selbst. Auch mein Kind habt Ihr feige und tückisch gemordet. Es wird Euch heimgezahlt!“
Wie ein Seher und Rächer steht er da mit überweltlichen Augen! Horst zwingt es zu ihm hin. Er nimmt die furchtbar bebende Hand. Er grüßt den deutschen Herzschlag, der ihm selber die Adern sprengt.
Dann erlischt in den alten Augen die Flamme. Und ein Mißtrauen wehrt dem jungen Freund. „Du willst teilhaben an meinem Totenfest. Du hast sie lieb gehabt, meinst Du. Hast Du sie lieb gehabt, ohne etwas von ihr zu wollen? Ich aber liebte sie und wollte nichts von ihr, und darum ist meine Liebe größer als Deine. Darum bin ich mehr als Du und hab mehr Rechte als Du. Ich allein begrab sie mir.“
Und da Horst eine Bewegung macht — „bist Du nicht als Feind im Kampf mit ihr gewesen! Hat eine von Euren Kugeln sie nicht getroffen! Hast Du — Du sie nicht getötet! So gut wie mit eigener Hand! Da Du Feuer befohlen hast! Und Du willst sie mir streitig machen!“
Die Augen kreisen, Flammenräder einer eifersüchtigen Angst, eines eifersüchtigen Zornes. Die beschwichtigende Hand des Nebenbuhlers wird mit einem Kopfschütteln abgetan. Aber damit kehrt schon seine Ruhe wieder. Doch die Ruhe schärft und härtet sich.
Hoch richtet er sich auf. Die verkrampften Hände packen die Brust: „Ich, der Totengräber Lud Uhlenbrook — der einzige, der diese Tote lieb gehabt hat — und der einzige auch, den die Tote lieb gehabt hat — nur mir gehört sie — nur mir gehört ihr Begräbnis — nur mir gehört ihr Grab. Allein bestatte ich sie. Niemand soll dabei sein. Mein Moor soll sie bewahren. Und die Stätte zeige ich keinem. Mein Moor balsamiert Deinen Körper ein und rettet Deine Schönheit. Das Moor läßt keine Würmer an Dich hinan. So gut wie lebendig bleibst Du mir. Mir — die Du mir gehörst!“
Es wirft ihn nieder — er kniet zu ihr hin, er legt die alten, blutroten, tränenblinden Augen auf ihre kalte Hand.
Horst hat die Stube verlassen. — —
Zwischen den Findlingstrümmern, eine einsame Birke über sich — wie duftete das junge Laub! — saß Kunz mit Muz, seinem Tier, und sprach zu ihm. Steil gestellt waren die hohen spitzen Ohren, in den großen goldbraunen Augen war alle Klarheit, alle Weisheit, alle Güte, alle Wehmut der Welt versammelt.
Jemand hat Dich gelästert, mein Tier, und ich habe ihn nicht getötet. Ein Weib — nein, ein Junge, ein Kind. Nein, eine Katze.
Nun drehst Du den Kopf. Das Wort geht Dir ins Blut. Dies Wort verstehst Du, sagen die Einfältigen. Als ob Du nicht jedes Wort verstündest, das ich zu Dir spreche.
Nur, daß Du mir nicht antworten kannst in unserer Sprache. In der Sprache der Menschen, diesem größten von allen unseren Mysterien. Unsere Freiheit, in der wir geknechtet sind, unser Glück, daran wir gekreuzigt, der Segen, zu dem wir verdammt worden, die Wahrheit, die uns mit Lüge schlägt.
Was da in Deinem Auge, dem unermeßlich tiefen, dem unermeßlich scheuen vor der eigenen unergründlichen schwermütigen Klarheit, was da spricht und schweigt — heißt das: ich klage und traure, daß ich nicht Worte habe wie ihr, euch zu antworten, wie ihr mich fragt?
Oder heißt es ganz anders! Ist es Dein Schmerz, daß wir, wir mit der Sprache gesegnete Verfluchten nicht Deine Augen haben! In denen die Seele ist, die wir auf die Zunge heben und so veräußerlichen! Die wir in leeren Schall zerflattern lassen!
Heilig sind Deine Augen, fromm machen Deine Augen! Sie soll hineinblicken, das Weib, das Kind und Katze ist. Und soll niederknien!
Das ist ja wahr, Muz, außer Deinen Augen bist Du noch so mancherlei. Eine Bestie, ein Bandit, ein Herumtreiber, ein Hund mit einem Wort. Ein Lumpenhund von einem Hund!
Von Deinen Liebeshändeln will ich nichts sagen, obwohl sie heftig dazu herausfordern. Aber — hast Du mir nicht vorgestern erst aus meiner ahnungslosen Jacke, die bei der Arbeit sich mit der Maiensonne nicht vertrug, mein Frühstück gestohlen! Das Papier mit Zähnen und Pfote weggefetzt und die Stulle verputzt! Meine, Deines Herrn und Gebieters Frühstücksstulle. Der redlich und rechtschaffen hungrig war. Amerikanisches Schmalz war darauf — Du lieber Gott, in der Not frißt der Deubel Amerikaner. Du fraßest, und mich ließest Du den Daumen lutschen, Du ungetreuestes aller Mistviecher Du.
Aber Deine Augen — und wieder und immer wieder Deine Augen! Heilig, heilig sind sie und Andacht sollen sie lehren das Weib, das ein Kind, ein Junge und eine Katze ist!
Muz, Muz, Du kennst meine Vita. Du hast sie gesehen, freilich nur aus der Ferne. Denn Du drängst Dich denen nicht auf, die Dich nicht wollen. Ist sie nicht ein verschlossen und verzaubert Köstliches!
Vita, noch schläft alles Leben in Dir! Ich will es mir wecken, mir sollst Du einmal auferstehen. Eine Knospe bist Du, hart und spitz. Und die Knospe sticht. Die mir, mir ihre Blüte verheißt und bewahrt.
Einfältig bist Du, ja, so einfältig kannst Du sein, daß man manchmal Rad schlägt vor Schreck und vor Freude — wie wirst Du Dich mir entfalten! Ein dummer Junge oft — ich ruf es mir wach, das liebe kluge Mädchen! Ich küss’ es mir auf!
Und Kunz schlägt die Arme um sich und umarmt die Luft. Entsetzt fährt Muz in die Höhe — zum Tierarzt! ist sein erster Gedanke. Der Mann ist verrückt!
Aber schon ist der Mann wieder friedsam geworden, kauert sich zu dem Hund, läßt die samtenen Ohren sich durch die Hände gehen und erzählt ihm weiter.
Ja, mein Tier — Dir sag ich alles. Du verstehst jedes Wort und birgst es in der Seele. Du willst nicht alles besser wissen und schwätzest nicht dazwischen, wie diese entsetzlichen Klookschieter von Menschen!
Froh bin ich, Muz, und kann lachen. Und hab klug reden, wenn die andern auf unseren Stall schimpfen und gern ausreißen möchten. Wo mein Glück hier neben mir wohnt!
Was aber wird aus Horst? Jetzt, wo die Frau aus seinem Leben genommen ist, die auf andere Bahnen ihn zog — auf verschlungene Pfade, die abseits lagen von unserer geraden Straße. Wird er den Weg zurückfinden? Wird sie als Geist ihn weiter bannen? Haben sich nicht die Schatten zu tief in ihn eingefressen? Kann er uns wieder der Alte sein in alter Helle?
Anfällig Horst auch Du — seid Ihr nicht alle krank geworden am deutschen Leid? Bin ich nicht der einzige gesund geblieben, ich, der Dickfellige, in bekömmlicher Gedankenarmut!
Auch Gesundheit steckt an! Nicht müde werden will ich, Euch mit meinem Gesundheitsstoff zu infizieren! Dich, Horst, Dich, Gisbert, und Dankwart, auch Dich! Du Mann mit dem verlorenen Lachen. Lachen sollst Du wieder können oder doch lächeln. Denn, wenn wir nicht lachen, wir Wachen im deutschen Lande, so schaffen wir es nun und nimmermehr.
Bitterlich zu kämpfen gilt es ja um das Lachen.
Am andern Tage, die Maisonne jubelte grausam, kam aus der Provinzialhauptstadt ein hoher Beamter mit militärischer Begleitung. Er und der Offizier Männer mit den schmerzweiten Augen, wie sie durch Deutschland klagen — beide nur an Bord geblieben, damit das Schiff nicht ohne Mannschaft sei, abgeneigt der Führung des Fahrzeuges, ohne Vertrauen zu seiner Steuerung und doch gehalten von der Disziplin des Gehorsams, der dem Vaterlande gilt. Mit halbem Herzen führten sie den Auftrag aus. Nur das Nötigste wurde gesprochen. „Vier Maschinengewehre sind hier am Sonntag abend in Tätigkeit gewesen. Die Maschinengewehre gehören dem Staat. Sie haben sie abzuliefern. Wir sind hier, sie in Empfang zu nehmen.“
Horst sagte ein ruhiges: „Bitte.“
„Weiter möchte ich Sie ersuchen, mir über die Vorgänge am Sonntag abend Auskunft zu geben. Ich muß sie zu Protokoll nehmen.“ Horst berichtete, was er wußte.
„Wo befindet sich die Tote?“
„Im Hause des Torfmeisters zu Moordorf.“
Kein überflüssiges Wort. Was man fühlte, wurde in Schweigen eingesargt. Wenige waren dabei. Kunz als der Waffenmeister, drei von den Siedlern, die Hausdienst hatten. Die andern waren beim Bau und auf den Feldern.
An der Mittagstafel natürlich bewegte dies die Geister aufs tiefste. „Unsere Burg ist geschleift“, sagte Kunz. Das war der Grundton.
„Wir sind und bleiben Soldaten!“ rief einer. „Und ein Soldat ohne Waffen — was ist das? Die Hunde heben das Bein dagegen auf!“
Es ging ihnen nicht bloß an den Stolz, an die Ehre der Wehrhaftigkeit. An das Gefühl der Sicherheit griff es. „Jetzt können sie uns mit Knüppeln totschlagen.“
Metzling, der Grundsätzliche, versuchte eine Rede. Der Zorn der andern wäre ja gerade durch die Maschinengewehre erregt worden. Sie empfanden es als Ungerechtigkeit, daß wir welche hatten und sie nicht —
„Und als Gerechtigkeit hätten sie es dann empfunden, wenn sie sie gekriegt hätten und gingen uns damit zu Leibe!“ Ein Einwurf, den das Lachen der meisten billigte und trug. Für die Minderheit aber, die theoretischen Schwärmer, wurde die Gerechtigkeit nun doch zum Kampfruf. Gleiche Waffen — gleiche Waffenlosigkeit. Nur so kann der Bruderkrieg aufhören, nur so eine Möglichkeit der Verständigung und Eintracht.
O Ihr weichen Seelen — schalt Kunz dagegen — o Ihr erweichten Hirne!
Mit der Idee kam die Erhitzung in die Gemüter, es gab Streit und Zerklüftung. Zum erstenmal grub sich ein tieferer Riß durch die Siedlerschaft.
Und wieder an Horst hängten sich die Augen. Er hatte finster dagesessen, wie abgekehrt, bewegungslos und ehern. Jetzt belebte er sich. Und nahm das Steuer in die Hand.
„So geraten wir uns also selbst in die Haare. Wollt Ihr einander dies eine Euch klarmachen. Sie haben uns die Waffen genommen. Sie sagen, daß die nicht uns, daß die dem Staate gehören. Dem Staat — wir wollen sie nicht fragen, wer das ist. Aber bleiben sie dem Staat? Liefert der sie nicht an unsere Feinde aus? Daran denkt! Und denkt daran, wie nicht bloß unsere Waffen, wie auch unsere Arbeit dem Feinde ausgeliefert wird. Alles, was wir schaffen, alle Werte, die wir erzeugen. Unser Haus — auch das bauen wir für die Feinde. Es wird kein deutsches, es wird ein französisches Haus. Wenn wir nicht einig sind! Wenn wir nicht einig und groß uns erheben! Daran denkt, nur daran! Alles — alles hat dem zu dienen.“
Es ist der alte Klang in seinem Wort, der alte Führergeist in seiner Rede Tat. Und seine Augen haben den Mut seiner Worte. Dem beugen sich alle, dem folgen sie alle. Und in Kunz glüht es: er hat die Höhe, er hat auch die Hand. Daß er den Willen behalte und die Kraft!
Sie gehen an ihr Tagewerk. Wir fronen nicht! Wer unsere Gedanken hat, unseren Willen, unseren Mut, der arbeitet frei an freiem deutschen Werk, Deutschland zur Ehr, Deutschland zur Wehr!
Wir weben am Schicksal des Vaterlands. Schicksal — was ist Schicksal? Was wir schaffen ist Schicksal! So bändigen unsere Hände das Geschick, unsere Zuversicht, die Kraft unserer Sehnsucht, unseres begeisterten Willens schafft eine neue Wirklichkeit.
Dieser Glaube, von Horst bezeugt, dem Führer, dem Propheten, lebte in ihrer Arbeit. Ihr Werk gedieh und stärkte sie durch sein Wachstum.
Horst aber — und Kunz wurde seines Mißtrauens nicht Herr — blieb wie zugeriegelt und suchte die Einsamkeit.
Der alte Hüne im Moor hatte sein Kind allein begraben. Niemand hatte die Stunde gewußt, niemand erfuhr die Stelle. Die Genossen hatten eine große Leichenfeier gewollt. Die Blutzeugin für die große Sache! Wie konnte die Straße ihrer entbehren! Sie kamen zu dem Alten und forderten. Er wies sie ab. Sie drohten, da jagte er sie zum Teufel.
Und als sie zum drittenmal anrückten, mit Verfügungen der Behörde, da war es zu spät, da war die Tote nicht mehr über der Erde. Die Behörde hatte wichtigeres zu tun, als gegen den „alten Narren“ gesetzlich vorzugehen. So behielt Lud Uhlenbrook recht, und das Moor behielt Lona, sein Kind.
Fremd war der Alte für Horst geworden. Er und sein Moor. Da sie den letzten Abschied von Lona, von Lonas Bild ihm versagt hatten. Den Gräberkult hatte der Krieg ihm abgewöhnt, er brauchte auch hier keine Stätte des Gedenkens. Aber die Gesinnung des Alten, sein eifersüchtiger Haß — er konnte das böse Auge des wilden Druiden nicht vergessen — war nicht ein Feindseliges darin?
Bald würde er ja dafür sein Lächeln haben, aber noch schwärte etwas. Vielleicht, weil er den Riesen so gut begriff, wie ein Verwandtes. Weil er sich sagte, ich hätte es auch getan — hätte es auch tun mögen.
Er trug nun mal die leere Stelle in sich, da Lona von ihm gegangen war. Weit voneinander standen die Pfeiler unseres Glaubens. Aber da sie wuchsen aneinander, aufstrebten gegen einander, wölbten sie sich nicht einander entgegen? Hätten sie nicht zu einem Kuppelbau helfen können für das eine große deutsche Wollen?
Von mir zu Dir sollte die große Einheitslinie reichen. Gewiß, wärest Du nicht ein Weib gewesen, mir ein Wohlgefallen und eine Sehnsucht, meine Blicke hätten nicht immer und immer zu Dir den Weg genommen, unbeirrt, hinüber über all die Fluten, die zwischen uns und gegen uns brandeten.
Zu Herrn Knubart hätten sich von mir nicht diese Fäden gesponnen.
Nun, da Du hinsankst, ist die Brücke eingestürzt — ob sie leicht war, von schönen Träumen gehalten, sie war doch, und fester wäre sie geworden, und einmal hätte sie getragen. Die Brücke ist zerstört und die Fluten branden weiter.
Hat es Sinn, gegen sie anzukämpfen, sie einzudämmen, mit neuen Brücken sie zu überspannen? Der innere Feind! Steht er nicht als Verhängnis in den Sternen uns geschrieben? Unser unabwendbares Verderben?
Das Tagewerk lag hinter ihm. Schwer und ehrlich hatten sie wieder gescharwerkt. Er ging an den jungen dem Ödland abgerungenen Feldern vorüber. Das Moorkorn, der Hafer, sproß, auch die Kartoffeln zeigten schon ihre kräftigen, bewußten, schwarzgrünen Schößlinge. Es lag wie ein Segen auf den Breiten, und er war nicht froh. Eine Kraft war nun einmal von ihm gegangen, ein Teil seines Lebens war verdorrt, und wieder warf das Verzagen ihn nieder.
Was können wir noch, was wollen wir noch? Haben die Ängste, die Nöte, die Qualen, die Schauer des Krieges und die schlimmeren des Friedens nicht unser Wesen welk und blaß unser Blut gemacht? Wir haben nichts und können uns nichts geben, so viel und heftig wir bei uns anpochen! Sind wir nicht die bekannten Bettler, die an eigenen Türen betteln? Kann von uns der Erlöser kommen?
Er wanderte nach Westen. Über den Himmel zog, da die Sonne sich neigte, der Perlmutterglanz eines brechenden Auges. Da vor ihm lag das Moor. Schatten schreckten über ihn hin, er kehrte sich um und ging zurück, den Goldbergen entgegen. Belastet schritt er und geduckt und blickte nicht auf.
Was huscht da, zuckt und zupft an seinen gesenkten Wimpern? Ein Lichtschein von Osten, da es Abend wird?
Augenflimmern eines überreizten Gehirns — er hält es der Mühe nicht wert, die Lider zu heben. Aber das Licht pocht und klopft und fordert. Es ist, als wenn jemand das Sonnenlicht mit einer Spiegelscheibe auffängt und ihm schräg gegen den Sehnerv peitscht.
Nun muß er mit dem Blick in die Höhe und da — oben auf den Goldbergen — hier sprudelt des Glanzes Quell — eine Lichtgestalt — ein Strahlendiadem zu Häupten — ein weibliches Wesen — ist es erdgeboren?
Hoch und schlank und königlich — nie hat auf Erden eine solche Haarkrone geleuchtet! Mit den Lichtern ihres Hauptes spielen die Sonnenstrahlen wie mit Schwestern.
Verzaubert in dem Lichtkegel steht Horst. Jetzt bewegt sich die Gestalt schreitet herab, in den Schatten, die Sonne löst sich aus den Flechten, der Strahlenbann erlischt, Horst ist wieder im Menschenland.
Er geht der hellen Frau entgegen, immer noch tastend, geblendet und unfrei. Sie aber ist die leuchtend junge Unbefangenheit und nimmt ihren Weg gradaus zu ihm.
Da sie vor ihm steht, atmet er erleichtert auf — all dies Überirdische und Vollkommene hat sich zu einer annehmbaren Wirklichkeit gewandelt. Beruhigende Mängel zeigen sich, das Gesicht hat gar nichts Erhabenes und Verklärtes, die Züge sind nicht einmal schön, nur herzerfrischend offen, und die stahlblauen Augen nicht groß, nicht tief, aber daseinsinnig, die alles, was sie sehen, als eigenes mehr oder weniger selbstverständliches Geschenk an sich nehmen. Die Nase erscheint breiter als sie ist, weil ein kleiner Sattel von Sommersprossen sie deckt. Die prachtvollen, weitläufig gestellten Zähne in dem vollen Mund schlürfen die Lebensluft wie einen köstlichen Trank.
Ein daseinsfrohes, daseinsstarkes, freies, gerades Menschenkind wie andere auch — nur das Haar, das wundervolle, in dem das Licht alle Goldfarben aufklingen läßt, von der Waberlohe des Braungold bis zu dem stillen schweren Glanz des reifenden Weizens bleibt in märchenhafter Höhe.
Sie spricht, die Stimme ist hell, ein wenig hart für einen Mädchenmund. Das behutsame Schriftdeutsch, das zuerst etwas nach dem Fremdenführer schmeckt, hat nordischen Klang.
„Verzeihen Sie mir, mein Herr. Sind Sie bekannt in dieser Gegend?“
„O ja, wenn ich mich Ihnen zur Verfügung stellen darf.“
„Ich bin nun einmal so abscheulich pedantisch — ich muß von allen Sachen den Namen wissen — besonders in geographischen Dingen — meine Freundinnen sagen, daß ich recht eigentlich nach Deutschland gehöre.“
„Wo alles so schrecklich pedantisch ist.“
Sie errötet und bekommt ein liebes verlegenes kindliches Gesicht. „Ich wollte damit sagen, weil es das Land der Geographie ist. Der großen Geographen und der Atlanten. Ich will nichts Böses sagen gegen Ihr Deutschland. Jetzt am allerwenigsten. Ich habe Deutschland lieb. Mehr, als viele Deutsche es haben.“
Nun fliegt Horst mit ganzem Herzen zu ihr. Ich habe Deutschland lieb!
Sie gehen auf den höchsten der Hügel. Er hört von ihr, daß sie Schwedin sei, mit ihrem Vater unterwegs, der eine Studienreise mache. Kriegsgeschichtler sei er — also ein Fachgenosse, denkt Horst. Im Archiv der Kreisstadt seien wichtige Dokumente aus der Schwedenzeit. Auch im Pfarrarchiv von Moordorf. Sie hätten hier ein kleines Landhaus an der See gemietet und wollten wochenlang bleiben. Dann führen sie in ihrer Jacht wieder nach Hause.
Horst vergilt Offenheit mit Offenheit. Bald wissen sie voneinander wie alte Bekannte.
„Ich möchte, daß Sie Vater kennen lernten“, sagt Ingeborg Thorild. „Er ist zu dem Herrn Pfarrer nach Moordorf gegangen. Ich soll ihm entgegenkommen. Wollen Sie mich begleiten?“
Ob Horst das will! So geht er mit ihr den Weg zurück, den er gekommen ist in Düsternis. Jetzt ist Licht um ihn her, er kann aus seinem seelisch zerwühlten Gesicht in die Welt blicken wie ein glücklicher Knabe.
Sie mit ihrer jungen unbekümmerten Wichtigkeit führt das Gespräch. Erzählt von ihrer Heimat, die sie leidenschaftlich liebt. Auf einem alten halb verfallenen Edelsitz in Södermanland wohne sie. Ihr Vater mit seinem Bruder, beide alte Offiziere, haben ihn billig gekauft. Nun werde er so nach und nach wieder aufgebaut. Bis heute seien die bewohnbaren Räume fast ganz von der Bücherei ihres Vaters eingenommen. Die Gutswirtschaft führe ihr Onkel. Aber der sei kränklich, und der Arbeit sei es zu viel für ihn.
„Kennen Sie Schweden?“
„Nein.“
„Seltsam — dieser Landstrich hier könnte auch bei uns sein. Die Heide, das Moor, die Findlingsblöcke. Nur haben wir mehr, und sie sind mächtiger. Und düsterer sind unsere Wälder.“
Sie kommen an dem Moor vorüber, das all seine goldenen Blumen entzündet hat. Die Abendfeuer sprühen über sie hin.
Ingeborg bleibt stehen. „Jetzt fängt wohl auch mein Moor zu blühen an. Als wir abfuhren, schlief es noch.“ Es ist eine Zärtlichkeit in den Worten, und Horst, in dem ein Dunkles aufsteigt, fragt: „Sie haben zu Ihrem Moor ein besonderes Verhältnis?“
„Ja, das hab ich. Es ist wie ein alter Freund. Niemand erzählt mir so schöne Geschichten.“
Jetzt denkt Horst an die Frau, die hier im Moorgrund liegt. Die immer nur Schauer vor dem Moore erlebt hat. Wie sagte der Alte damals? Wer vorm Moore bangt, wird von ihm gelangt! An diese leuchtende, lachende Nordländerin rührt solches Grauen nicht. Wie gut habt Ihrs gehabt, weitab von Kriegsnot und Friedensleid, daran unsere deutschen Frauen vergehen.
Ihr habt gut Lachen und Leuchten, Ihr Fremden — ja, Ihr Fremden! Und eine Absage, ein Widerstand, fast eine Feindschaft erhebt sich in Horst gegen dieses vom Glück gepflegte Mädchen. Bei Lona sind seine Gedanken, der deutschen Frau, die das deutsche Schicksal zerschlug und zerbrach.
Was gehst Du mich an, Du Fremde, in Deinem Glanz? Kalt ist er mir, kalter und ferner Nordlandschein.
Und der alte Herr, der uns da entgegenkommt — ja lauf ihm nur in die Arme! Was kümmert Ihr mich, Ihr beide!
Dokumente „aus der Schwedenzeit“ will er hier aufstöbern. Und sie sagt das mit ihrem strahlenden Gleichmut. Die Schwedenzeit! Wißt Ihr nicht, daß sie ein Brandmal ist und ein Schandmal! Für uns das eine, das andere für Euch. Wie habt Ihr die deutschen Lande gebrandschatzt, ihre Bewohner gefoltert, die deutschen Seelen gepeinigt und verheert. Was habt Ihr als Raubgut über die Ostsee verfrachtet! Das ausgeplünderte Deutschland, Eure Schlösser, Eure Geschlechter hat es reich gemacht.
Und nun kommst Du, der Erforscher dieser verruchten und verfluchten Zeit — fast so verrucht und verflucht wie die unsere! Kommst Du nicht mit einem Kopf daher, der wie geschnitten ist aus einem Bild jener zehnfach vermaledeiten Tage! Den Du noch barhaupt trägst, mit dem Hut in der Hand, ihn besonders zu bekräftigen!
Das graue Haar hängt lang bis auf den breiten Klappkragen hinab — warum ist es kein Spitzenkragen? Der paßte schon zu dem betonten Knebelbart! Und der Reiterobrist in Baners oder Torstensons Heerschar wäre fertig. Weht an dem grauen Schlapphut nicht die Straußenfeder?
Will dieser Mann einen alten Schweden uns vormimen? Will er uns höhnen mit dem dreißigjährigen Krieg, will er — was noch schlimmer wäre — unsere heutige höllenböse Zeit mit ihm trösten?
Gewappnet tritt Horst dem Herrn entgegen. Aber, wie er ihm in die Augen sieht, machen die ihn wehrlos. Von so junger, fast jungenhafter Treuherzigkeit sind sie und von so inniger Kraft reifen Denkens und ehrlichen Glaubens. Hier ist nichts von Schaustellung, von Pose und Geste. Ganz natürlich ist das Gepräge des Gesichts hineingewachsen in die Zeit, in die seine Arbeit sich vertieft. Der vornehme Kopf eines ernsten Forschers neigt sich grüßend von der hohen, sehnigen Gestalt zu Horst herüber.
Das gemeinsame Fachgebiet führt sie gleich enger zusammen. Mitteilsam, wie seine Tochter, erzählt Oberst Thorild, daß er hier den Spuren Bauers nachgehe, dessen Leben und Kriegskunst seine letzten Untersuchungen behandeln.
Wie frei und froh sie sich aussprechen, diese glücklichen, unberührten, von Krieg und Not und Schmach nicht zu Tode geschundenen Menschen! Was hat das Elend, die Unehre, die Schande aus uns gemacht! Was sind wir karg und schweigsam geworden, mürrisch, mißtrauisch, verschlossen und verkrochen! Und mit Neid blickt er die beiden an, und wieder mit einem Zorn.
Dann aber, als auch der Vater sein Bekenntnis für Deutschland ablegt, hebt sich sein Sinn wieder höher und flammt und schlägt dem Bekenner entgegen.
Der alte Herr hält sich tapfer zurück. Nicht zu viel seines Mitgefühls gibt er mit einem Male her, um das Bejammernswerte nicht allzu schmerzlich hervorzukehren. Dafür muß erst noch ihre Freundschaft wachsen.
Ermutigendes spricht er. In dem Siedlungswerk sieht er ein Heil. Auch bei ihnen in Schweden sei es not, neue Wohnungs- und Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen und die Menschen bodenständig zu machen, zu erdfesten eigenen Herren. Er selbst sei in der Siedlungsbewegung tätig und habe eigenes Land hergegeben. Gern würde er sich einmal die Hohenmoorer Niederlassung ansehen. Dann bat er Horst, sie in ihrem nahen Landhause zu besuchen. Und Ingeborg fügte hinzu: „Nicht wahr, Sie kommen bald!“
So klang in dem Lebensakkord von Horst ein neuer Ton auf. Die Freunde hoben den Kopf, als er heute abend heimkam. Kunz, dem Gisbert immer mehr entglitt, schnaufte fröhlich vor sich hin. Man gewöhnte sich schon daran, unter Schemen und Gespenstern hinzugleiten — wollen wir jetzt wieder an unsere Blutwärme glauben, an unsere Muskeln?
Und nun weiter zum Krieg gegen die Friedensnot! Freudig hart werde unser Sinn, hart wie unsere Hände!
Gisbert war auf dem Wege nach Moorhof zu Frau Tilde. Er hatte heute wieder schwer gearbeitet, bei dem Neubau des Hauses. Seine Frauenhände waren voller Schwielen, aber sein Sinn wurde nicht hart, nicht so, wie Kunz es wollte.
Auf Tildes Schultern lag die ganze Last zweier Gutswirtschaften. Mit dem Morgengrauen war sie auf den Beinen und des Abends rechtschaffen müde. Manch stille Stunde saßen die beiden Menschen zusammen und ruhten ineinander aus. Sie waren sich so nahe und vertraut, daß in ihrem Schweigen die tiefsten Harmonien klangen.
Heute traf Gisbert eine Gutsnachbarin bei ihr, die umfangreichste Dame des Umkreises, seelisch angefüllt von Viehpreisen und Fragen der Milchwirtschaft. Zum Glück war sie im Begriff zu gehen.
Als sie hinausgewuchtet war, sann Frau Tilde der Masse nach, schüttelte den Kopf und sprach still vor sich hin: „Das Goethewort: Materie nie ohne Geist!“ Das war scherzhaft milde gemeint, und doch horchte Gisbert auf. Denn zum ersten Mal fand er so etwas wie Bitterkeit und Schärfe in Wort und Wesen der vergötterten Frau. Und seine Knabenaugen starrten ratlos auf die leise Unruhe, in der sie bebte.
Immer nur hatte sein eigenes Glück ihm geschienen, immer hatte er in dessen Widerschein die Herrin gesehen. Immer war das Gefühl der Gemeinsamkeit über ihm — was er selbst empfand, ließ er auch sie empfinden. Wollte der Dienende sein, und ließ nur sein Eigenleben leuchten. Hatte er je den feinen Schattierungen ihres Fühlens nachgespürt? Wieviel an Schicksal trug doch diese Frau.
Und nun — an einer leisen Regung bei ihr — ward es ihm bewußt, wie sehr ihr Leben Mangel litt, und er mußte sich fragen: was habe ich, ich ihr zu geben? Was kann die Blässe meines Gedankentums ihr sein?
Vor dieser Frage aber erschrak er tief. In seine junge Ahnungslosigkeit griff das Grauen: werde ich sie halten können, muß ich sie nicht verlieren? Sie halten? Wer war er! Hatte er ein Recht auf sie? Ihr Knecht war er, ihr treuer Fridolin, in Stücke ließ er sich für sie zerhauen. Und wenn der Geistesflug in gleiche Bahnen sie führte, blieb er nicht auch hier nur als Knappe ihr zur Seite?
Unbarmherzig sah er das Leben, strich die Schwärmerei aus Augen und Sinnen und packte die harte Wirklichkeit an.
Was ist das Los dieser reichsten, herrlichsten, innigsten der Frauen? Mit einem gemütskranken Mann muß sie das Leben teilen. Und lag nicht das Unglück auf all ihren Wegen? Sind nicht alle von ihr gegangen? Um die ihre Liebe sich schlang?
Wo ist die Hand, die in ein neues Dasein sie reißt! Die kraftvolle Männerhand, die sie erlöst! Ins Glück sie erlöst! Nur so, nur so kann ihr Leben sich erfüllen! Und schonungslos betrachtete er sich selbst, wie wenig er selber hatte von kraftvoller Hand, von einem Erfüller und Vollender.
Dann wieder regte es sich gläubig in seinem jungen Herzen. Bin ich nicht noch im Werden, im Wachsen! Und wie kann ich wachsen, gerade am Wesen dieser Frau! Und eben in diesem jungen Herzen sprühten jetzt die Funken: wie schön ist sie! Und die Flammen erschreckten ihn, er mußte sie zerdrücken und austilgen mit allen Kräften seiner Seele.
Es war eine Rettung, daß Frau Tilde von ihrer fleischigen Nachbarin zu reden anfing. Die hätte, über ihre Buttermaschinen hinaus, ihr die Einladung zu einer spiritistischen Sitzung gebracht. Nun lachte Gisbert hell auf. Frau Tilde, aus den Höhen und Weihen ihrer spirituellen Einsamkeit, der allein sich das Übersinnliche auftun konnte, hineinversetzt in die beklagenswerte Runde tischrückender Sekten!
Beklagenswert — das war der Grundton in Tildes Betrachtung. Diese armen Menschen! Und dieser armen Menschen arme Geister! Die auf Tischbeinen einherspazieren und die übelsten Trivialitäten den verzückten Gläubigen in die offenen Münder fliegen lassen.
Wer nicht den innersten Trieb hat mit seinen Geistern allein zu sein, wer ein Gesellschaftsspiel mit ihnen vollführt, wer sie sich erst durch die Hirne anderer, ob krankhaft ob nicht, hindurchfiltrieren lassen muß, wie unsagbar traurig sieht es in solchen Seelen aus!
Mir allein gehören meine Geister, zu mir allein sprechen sie, nie werden sie die anderen vernehmen lassen, was uns verbindet. Nicht nur meine Träume, die nur meine sind, führen sie zu mir, nicht nur die Andacht meiner Nächte, auch die dürstende, „an der Sphäre saugende“ Sehnsucht meiner wachen Stunden. Und sie kommen zu mir, im Waldesschatten, im Quellengemurmel, aus den Sonnenkreisen des Buchengrundes steigen sie auf, von den lichtumsäumten Wolkenbildern schweben sie zu mir nieder. Und sie sprechen zu mir, nur zu mir, denn nur ich verstehe ihre Sprache. Und ich weiß, daß sie sind — so wahr ich bin und so wahr ich sein werde wie sie.
Nun aber, nach diesem milden Bedauern, stieg ein ehrlicher Zorn auf. Mein Mitleid allen dumpfen Gehirnen, die nur im Dunst des Herdentums ihre Regungen haben! Duldung auch den gutgläubigen Priestern und Hohenpriestern dieses für mich armseligsten und schwachsinnigsten aller Kulte. Was aber soll man zu den Ausbeutern sagen, die sich hier eine Macht und eine Industrie aus geistig Bedürftigen bereiten! Gewiß, trübe Neurastheniker zum Teil, die sich suggerieren, sie glauben das, was sie die andern glauben machen wollen. Die vielen aber unsaubere Scharlatane von Beruf, die mit Bewußtsein die Seelen und Börsen in ihre schmierigen Erpresserhände nehmen und froh sind, sich ins Unkontrollierbare gerettet zu haben.
So Frau Tilde. Nie hatte Gisbert solch harte Worte von ihr gehört. Waren es eigene Erlebnisse, die so steil und spitz sie aufrichteten? Und wieder, an ihrem Zorn wie vorhin an ihrer Bitterkeit, empfand er etwas von der Lücke, die durch ihr Leben ging.
Er hatte, wenn er sie nicht bei der Arbeit sah, sie versenkt gefunden in ihre gläubige Güte, erhoben in ein abgeklärtes Schauen. Jetzt, wo die Erregung sie durchpulste und in ihren Augen Feuer zuckten, floß es heiß durch ihn selber hin und seine Sinne loderten. Wieder die singenden Flammen!
Und wie er heimwärts schritt, sang das Feuer in ihm weiter. Und über ihm immer die eine Frage. Meine Herrin darbt und ist in Not. Sie friert in ihrer Höhe. Läutet nicht irdisches Sehnen auch in ihrem jungen Herzen? Was kann ich ihr sein? Was kann ich ihr geben?
Dann wies er diese Frage, diese rohe Frage von sich. Die alles in das Elend der werbenden Sinne zog. Und er hob sich empor auf den Schwingen seiner alten selig reinen Liebesweise.
Ich lebe in dem Gedanken, daß Du bist. Ich atme die Gewißheit Deiner Nähe. Meine Träume flüstern Deinen Namen — beseelt ist mein Dasein von Deinem Wesen — —
Aber das Lied verklang im Entstehen, seine Melodien starben hin, seine Macht ging unter in dem Rauschen des Blutes.
Und bei ihm blieb das große Grauen, wie schön sie war. —
In Gisberts und Kunzens Verschlag flatterten diese Nacht flügelschwere Träume.
Kunz hatte von der Jagdstreife mit seiner Vita ein blutunterlaufenes Auge nach Hause getragen.
Dies eine war ihm gleich das erstemal aufgegangen: mit seinem Mädchen als Scharfschütz war es nichts und konnte es nichts werden. Schon auf dem Scheibenstand hatten Auge und Hand versagt. „Die Pappe ist nichts für mich!“ war ihre Ausrede, und die grünen Augen gleißten, „jagdbares Wild muß ich vor dem Lauf haben!“
Kunz nickte ihr zu, listig und anfeuernd. „Dann soll es aber auch gleich einen Massenmord geben! Wir wollen uns die Kaninchen beibiegen, die da oben in der Kiefernschonung wimmeln. Kommen Sie, Vita. Herrin über den Tod.“
In ihrem Auge war Zorn. Scherzreden vertrug sie nicht, weil sie unsicher war.
Durch Hochwald müssen sie, durch Eichen, Buchen, Edeltannen. Still schmiegt sich das Sonnenlicht um die unbewegten Wipfel. Da, ein Schaukeln in den Zweigen, ein Rauschen. Sie blicken auf. Vita sieht nur die geschnellten Äste. „Holen Sie sich den!“ ruft Kunz. Sie weiß noch nicht, was er meint. Endlich, da sie seinem Finger folgt, gewahrt auch sie das Eichhörnchen.
„Das soll ich schießen?“
Sie nimmt die Büchsflinte an die Backe — zielt — schlägt an — und fehlt. Schnalzend hüpft das Tier weiter. Hohn sind diese Zungenlaute. Die Jägerin stampft mit dem Fuß auf.
So neugierig still hat der Nager gesessen. Besser hätte es ihr gar nicht werden können. Sie weiß es selbst, schielt nach Kunz, der sich nichts merken läßt, und gerade so reizt er ihre Wut. Und sie spricht Unbedachtes. „Es war ein Seelisches dabei.“
„So.“
„Ich hab die Eichkätzchen so gern.“
„Versteh ich. Obschon sie die mordgierigsten aller Waldräuber sind.“
„Gleichviel. Ich lieb sie. Und wenn es keine bestimmte Absicht war, daß ich vorbeischoß — eine innere Stimme sprach mit.“
„Nun, bei den Kaninchen wird keine innere Stimme mitsprechen.“ Er sieht todernst aus, feierlich. Und Vita haßt ihn.
Sie nähern sich dem Kiefernbestand, den sandigen Anhöhen. Da hoppeln schon ein paar von den „gottvergessenen Grauen“ über die Schneise. Vom Wege her, der die Schonung umsäumt, leuchten die Goldtupfen der blühenden Ginstersträuche ihnen zu.
„Da setzen wir uns hin“, sagt Kunz. „Dann haben wir eine ganze Kolonie dieses fidelen Gesindels vor uns.“ Und sie kauern sich unter die Blütenpracht. Was ist Kunz das Jagen? Vita aber will töten. Und die Kreatur des Waldes läßt es an sich nicht fehlen.
Eine unterirdische Stadt der wühlenden Kobolde liegt ihnen gegenüber. Bei dem sonnigen Wetter sind viele vor den Toren, äsen, springen, spielen, punktieren mit den weißen Schwanzlichtern fröhlich den Waldesdämmer. Kunz lädt das Gewehr. „Jetzt wollen wir also Verhängnis sein.“
Diese dummen hohen Worte in der absichtlichen Tonlosigkeit — weiß er nicht, wie sehr die sie stören, wie unsicher die sie machen! Ist das noch Freundschaft!
Trotzig reißt sie die Flinte an sich, schießt — und macht wieder, mit all den Schrotkörnern, nur Löcher in die Luft. Die Tiere hat die gute Mutter Erde eingeschluckt.
Wie ein Lämmerschwanz schlägt ihr das kleine Herz. So heftig böse ist sie, zerbeißt sich die verschluckten Tränen im Munde und zischt sie von sich.
Kunz aber, der verkehrt Trostreiche, spricht: „Das war nun erstmal die Warnung! So sind wir, denn blindes Schicksal sind wir nicht. Nun soll aber den Ersten, den Frechsten, der sich wieder zeigt, das verdiente Los treffen.“
Wieder steckt er die Patrone in den Lauf. Sie lehnt in dem Ginstergold. Was da irisiert in ihren Augen — ist nicht ein Schmerz dabei, eine Klage, ein Zagen, ein Bedürftiges, eine Demut? Aber hastig greift sie nach der geladenen Waffe, wie nach ihrem Recht, ihrer Rechtfertigung, ihrem Ausweis. Diesmal muß es gelingen!
Sie liegen auf der Lauer. Noch sind die Viecher vergrämt. Hier und da lugen ein paar scheue runde Augen aus den Erdröhren.
Da — ein Neugierling hebt den Kopf zum Bau heraus — dreht ihn und lugt — hebt ihn weiter — die Vorderfüße kommen nach — nun steht der Bursche auf vier Beinen — blickt sich noch einmal um und putzt sich dann sorglos die Nase.
Ein Knall —
Er bleibt sitzen, ganz erstaunte Frage. Macht seine Männchen zu Ende — Vita hört die Bestie kichern — und flitzt dann erst wieder in sein Erdloch.
Nun ist es mit der Jägerin aus und vorbei. Sie hat sich ins Gras geworfen, drückt das Gesicht in die Halme, und nur die trommelnden Beine führen eine beredte Sprache ihrer Herzensnot.
Hier ist jetzt der redliche Trost am Platz. Kunz redet ihr zu. „Liebe kleine Vita — das Schießen fordert nun einmal eine gewisse plumpe Begabung — wie das Bauchreden und das Mitdenohrenwackeln. Wer dies nicht kann oder das nicht kann — braucht der sich der Verzweiflung zu ergeben?“
Und nun erzählt er und lügt er ihr vor aus dem Schatz seiner Unbildung. „Wissen Sie, daß Lykurgos, der große spartanische Kriegsheld, dem Titus Livius zufolge im Bogenschießen als Junge das Mitleid aller seiner Mitschüler in der Arena erregte? Karl der Große war auf der Jagd ein höchst mäßiger Speerwerfer, während Karl der Dicke nie ein Wild fehlte. Wenn Prinz Eugen eine Reiterpistole zur Hand nahm, duckte sich nicht bloß seine Umgebung, meilenweit in der Runde alle österreichischen Regimenter duckten sich. Und der alte Zieten kniff beim Zielen immer das verkehrte Auge zu.“ Aber viel hilft das alles nicht, Vita bleibt verstockt in ihrem Schmerz, fühlt sich immer mehr gekränkt, je mehr er sie tröstet, und schließlich durch ihn gekränkt, den Tröster, der auch ihr Lehrmeister gewesen. Ein schöner Lehrmeister! An ihm liegt die Schuld!
Und alles, was so in dem Köpfchen herumtanzt an Wirbel und Wolken, das schlägt sich dann nieder. Sie starrt in die Weite, sucht irgendeine Zuflucht, sehnsüchtig vertieft sich das Grün der Augen zu tiefstem Smaragd, und Perlen leuchten auf seinem Grunde, richtige Tränen.
Dies ist die Stunde, von Schönheit gesegnet, die letzte ihrer lieben lächerlichen Kinderschmerzen — jetzt wird in ihr das Magedin geboren! Von jetzt an wird sie mein Mädchen sein.
Und Kunz zieht sich näher zu ihr hinan. Seine Hand nimmt innig ihre spitze Knabenschulter. Steil setzt sie sich hin, zur Abwehr und Gewähr. Kunz aber fackelt jetzt nicht lange. Ihren Nacken umschlingt er, ihren Kopf, ihre Lippen beugt er sich zu.
Da aber — ein Schreck, glückhaft und furchtbar in seiner Seligkeit — und dann ist alles phosphoreszierende Wildheit und fauchendes Ungestüm. Sie greift das Gewehr mit beiden Händen, hält es breit ihm entgegen, Schlagbaum, trennende Grenze soll es sein — er achtet den Trennungsstrich nicht und dringt siegreich lachend auf sie ein — da stößt sie blindlings den schweren Stab zwischen den beiden Fäusten ihm entgegen, hart trifft das Schloß das Stirnbein über dem Auge — die Funken sprühen ihm — unwillkürlich zuckt er zurück — da springt sie auf und rennt von ihm — kehrt halbwegs wieder um, zu sehen, was sie ihm getan — und will ihm helfen und kann es nicht — und stürzt in hohen Sprüngen waldeinwärts.
Und Kunz — Kunz ist vor den Kopf geschlagen. Dann verfällt er in schweres Sinnen. Ich dachte, es wäre soweit. Und nun war es zu früh. Und was ich jetzt angerichtet habe! War ich ein Unhold gegen pastorale Sitten? Er faßt sich an den Kopf.
O du Penthesilea
Mein Aug tut immer weha.
Wie hab ich von holdseligem Liebesleben geträumt! Aber für ein Liebesleben mit Dir muß man erst einen Kursus bei Achim, dem Knochenkrachim, nehmen.
Was wird nun werden? „Mädchenseelen sind von Kristall!“ Er hört es in der Trompetenstimme seiner nunmehr antiker Form sich nähernden jungfräulichen Tante Olga, die es ganz gewiß wissen mußte. Hat er hier etwas zerschlagen und zersplittert?
Was wird nun werden? Und der nackenfeste Kunz schleicht doch jetzt etwas geduckt nach Hause.
O Kater Kunz, was hat Dein Kätzchen Dich gestriegelt! Und seine Träume sind voll Krallen.
Weidlich gezaust und gekraust wachte er am andern Morgen auf und war ganz in der Verfassung, mit Dankwart, dem Skeptiker, in den kommenden Tag sich hineinzugrimmen.
Dessen Gedanken waren wie ihrer aller bei dem Haus, das kräftig und frei und stolz in die Höhe ging, aber er hatte seine bösen Beklemmungen, die er los werden mußte. Stoßweise kam es hervor. „Das Haus — wird man seiner recht froh? Wenn auch alle ihre frömmsten und kugelrundesten Augen dazu machen.“
„Das laß sie.“ Kunz blies in dasselbe Horn. „Immer gefühlvoll — wie können wir auch anders! Es gibt eine Franzosenkrankheit, und es gibt eine deutsche Krankheit — und unsere ist die Sentimentalität. Das Haus — die holde Stätte des Friedens. Und das eine ist selbstverständlich: jetzt kommt das Vielliebe auch über uns, sie, die ganze soziale Wonne.“
„Mit der Frage, wer dieses Haus beziehen soll.“
„Die eigentlich keine Frage ist.“
„Du meinst, Horst gehört da hinein.“
„Natürlich. Und Du mit Deiner Werkstatt. Und das Bureau.“
„Das meinst Du. Aber die andern meinen auch. Und sie meinen anders. Wird unser heiliger Zimmermann nicht predigen?“
„Natürlich wird er das. ‚Die Ersten sollen die Letzten sein!‘ wird er predigen. Wobei man sich immer fragt: wie lange, nachdem nun die Letzten die Ersten geworden sind! Und unser praktischer Maurer wird daraus die ihm genehme Forderung ziehen. Und mein Liebling, der Metzling, grinst als Abgesang seine sozialwissenschaftlichen Theorien herunter — hol der Deixer den Feixer! Aber, Du lieber Gott — was wollen die! Horst hat ja doch schließlich alles in der Hand.“
„Ja. Wenn er die Hand noch hätte! Überall und auch hier kommt erst mal das Geistige — früher hätte er so gesprochen!“
„Das wird er ihnen auch heute sagen. Und das wollen sie ja hören. Sie sehnen sich danach, gerade die am meisten, die ihre armselige Materie herauskehren. Führerschaft ist, was sie wollen! Was sie brauchen!“
„Bloß Horst — will er denn noch seine eigene Führerschaft?“
„Wie kannst Du das sagen! Er hat sich doch längst wieder beisammen.“
„Nein, Kunz, das hat er eben nicht. Und das kriegt er auch nicht. Und darum kriegt er auch uns hier nicht mehr zusammen. Du wirst es ja sehen. Und nun laß mich. Ich hab die eine Schraube noch nicht.“
Er arbeitete an einem Flugzeugmodell mit ganz neuem Propeller-System und zog sinnend über die Heide. Und Kunz blieb allein. Nie waren seine Gedanken so schwer über Liebe und Leben. Aber stecken blieb er nicht in dem zähen Brei. Es gab etwas zu tun. Über Horst zu reden, das lag ihm weniger. Mit Horst wollte er sprechen, frei von der Leber.
Horst saß in dem engen Verschlag, der sich Bureau nannte, über den Rechnungsbüchern.
„Nun, wie stehen die Papiere?“ fragte Kunz.
„Kümmerlich.“
„Wie können sie hier anders als kümmern. Zum Rechnen gehört auch ein genius loci. Hier aber ist mehr locus als genius. Im neuen Haus wirst Du den angemessenen Raum haben.“
„Ich — im neuen Haus? Und einen Bureauraum! Die Stimmung ist anders.“ Er sagte es dumpf und unfroh.
„Stimmung — was Stimmung! Stimmung wird gemacht und Du wirst sie machen!“
Horst sah ihn an mit großen Augen. Sie waren nicht ganz bei der Sache. Ihr Ausdruck war müde. Dann sprach er still und fest: „Gerade hier will ich nicht eingreifen. Es geht Dir um Selbstverständliches — mir im Grunde auch. Aber eben deshalb lasse ich die Sache an mich herankommen. Ein Führer braucht etwas, was ihn trägt.“
Weiter war er nicht zu sprechen, der Rechnungsabschluß drängte. Kunz aber fragte sich: ist das ein Wort, ein Manneswort? Ist es einer Ausrede ähnlich? Wie schlimm, daß solches Mißtrauen an einem schmarutzt! Aber — hat Dankwart nicht recht und bleibt es nicht dabei, daß Horst nicht mehr der Alte ist? —
Sitzung der Siedler. In vierzehn Tagen etwa steht das Richtfest des Hauses bevor. Sie wollen sich heute schlüssig werden, wer es beziehen soll. Für zwei Familien ist es berechnet. Darum ist auch Familie das Merkwort für die Geister.
Horst nimmt vorher die Freunde beiseite. „Wir wollen die Leute ruhig sich ausdenken und ausreden lassen.“
Kunz erhebt Einwand. „Ausreden, Du lieber Gott! Soll hier jeder wieder seinen Ochsenmaulsalat bereiten! Gut — wir sind hier an Mehrheitsbeschlüsse gebunden. Wir sind in der Politik. In der Politik aber gilt die Agitation und nichts Dümmeres gibt es hier als die spröde Vornehmheit.“
Doch der Wunsch von Horst bleibt bestehen. Soviel Kunz auch schilt: nun horstet er wieder in seiner Erhabenheit. Und es kommt im wesentlichen, wie Dankwart es angekündigt hat.
Horst spricht die einleitenden Worte: es sei davon die Rede gewesen, zu losen. Aber dies blöde, blinde Ungefähr sei ihrer nicht würdig. Wählen wollten sie. Er bitte um Vorschläge.
Maurer Mulitz ist treulich zur Stelle. Sie hätten sich das durch den Kopf gehen lassen. Zwei Kameraden wären so gut wie Familienhäupter. Zuerst Lüders, der mit einer Witfrau, Mutter von zwei Kindern, verlobt wäre. Und dann Hofmann, dessen Braut ein Kind erwarte. Beides Kameraden, gegen die niemand etwas einzuwenden hätte. Sie, so wäre die Meinung, hätten die erste Anwartschaft auf das neue Siedlerhaus.
Ist die Begründung für alle zwingend? Aber Meinung ist jedenfalls Meinung. Und Klassensinn bleibt Klassensinn.
Gegenvorschläge tragen ihr Mal an der Stirn. Und Kunz, der sie macht, befindet sich schon deshalb im Nachteil, weil er zornig ist. „Ich habe ja gewiß nichts gegen Lüders und Hoffmann einzuwenden. Auch für Bräute und Witwen mit und ohne Kinder habe ich eine fühlende Brust. Aber bei jedem Werk ist nun mal die Leitung die Hauptsache, und der Kopf muß besser und höher liegen als die Beine. Darum und um dessentwillen: unser erstes Haus gehört zuerst einmal dem Gründer und Führer unserer Siedlerschaft für seine Arbeit an unserem Werk. Da er nicht alle Räume für sich braucht, mag er sich seinen oder seine Hausgenossen aussuchen!“
In den Worten, deren Ton mühselig die Grenze wahrt, schnaubt seine Erregung. Und die ist es, die Widerhall und Widerstand erweckt. Die Meinung steift sich gegen ihn, in dem sattsam gehegten und gepflegten Zeichen des Sozialen. Und der schlaue Metzling weiß wohl, was er spricht: „Wir möchten, daß Herr Oldefeld sich selbst hierzu äußert. Wenn es sein ausdrücklicher Wunsch ist —“ Die Pause ist inhaltschwer.
Darauf Horst sehr gehalten: „Ich soll hier einen Wunsch aussprechen, der von mir ausgesprochen kein Wunsch mehr ist.“
Kunz schlägt sich aufs Knie und blickt zuckend zu Dankwart hinüber. Nun hat er sich von dem Feixer auf den Leim locken lassen und spricht Feinheiten. Und noch schlimmer, empfindet sie. Die andern aber haben es nicht nötig, sie zu verstehen. Wenn sie überhaupt Sinn dafür haben. Um so bereitwilliger fliegt ihr Verständnis den letzten Worten von Horst entgegen: „Im übrigen bin ich dadurch, daß ich an der Spitze stehe, bevorzugt genug. Und dieser Vorzug nimmt gern die kleinen Unbequemlichkeiten in Kauf. Außerdem sollen bei uns ganz gewiß auch die Rangverhältnisse des Bedarfes und der Bedürftigkeit gelten. Die beiden Kameraden brauchen zuerst ein Nest — sie sollen es haben.“
In den Worten, die immer bestimmter wurden, fehlte etwas von dem alten Herzenston, der sonst die Gemüter zwang. Aber die Wirkung blieb nicht aus, die Augen leuchteten ihm zu.
Dankwarts harte Dürftigkeit grollte: Ist er jetzt wie einer, der bei der Masse sich schustern will! Immer schwerer, aus ihm klug zu werden!
Gisbert, treu bei der Sache, sobald er seine Gedanken in die Erdenbahn gezwungen, stand lebhaft auf und drückte Horst die Hand. Kunz aber stöhnte laut auf zu diesem lebenden Bild, zu solcher politischen Gruppe. Nun ist er bei der Lotosblume angelangt, jetzt wird er mit dem Hinduknaben sich weiter zerpflücken und zerfasern. Sein Grimm, der Scheltworte brauchte, benannte die beiden vor Dankwart „die Indiafaserkompagnie“, und der quittierte mit gezerrtem Lachen. Und Kunz klagte sich aus: so bleibt also wieder mal die Empfindsamkeit Trumpf, und wie ist sie uns so not, so bitter not, die gesunde Rohheit unserer Urnatur!
Die beiden, Horst und Gisbert, gingen in den Abend hinein. Mit ganzer Zärtlichkeit umfing Horst den jungen Freund. Er fand in dessen Augen, die sonst so gläubig sich verklärten, die Tiefen einer dunklen Angst. Er ahnte wohl, was ihn so quälte und umtrieb. Aber war dies nicht zarter und feiner, als daß hieran selbst Gedanken rühren durften!
Sie wanderten still. Horst war auf dem Wege zu dem Landhaus der Schweden, wo er den Abend verbringen sollte. Er dachte nicht anders, als daß Gisberts Ziel das Moorhofer Herrenhaus sei. Aber wie ihre Wege sich trennten, ging er die Höhen hinauf, nach den Dünen zu, an die See.
Sie alle badeten am Tage, meist in der Morgenfrühe. Er war der einzige, der den Abend dazu wählte. Wie alles bei ihm Naturandacht war, so auch sein Schwimmen.
Hineintauchen in die Dunkelheit, mit dem weißen Leib die schwarze Flut beseelen, der Lichtbahn eines Sterns sich hingeben, dem Staub der Erde entfliehen, aufgehen in das schweigende, sternenhohe, gütig verhüllte, gnädig sich entschleiernde selige All — das war seines Schwimmens heilige Lust.
Er hatte wie keiner die Kunst, sich auf die Flut zu legen, sich von ihr tragen zu lassen, ohne daß er ein Glied rührte, auszuruhen auf ihr in Schlaf und Traum. Wie eine Mutter hielt ihn das Meer in den Armen.
Noch war es ihm zu früh für sein Bad. Auf einem der Hügel ließ er sich nieder, hier sah Horst ihn sitzen, die Hände verschränkt um die Knie, und mit zurückgebeugtem Antlitz in den Abendstern, den der Osten emportrug, sich hineinheben.
Der Abendstern, der Morgenstern, der Liebesstern — aller Zeiten der Stern bist Du!
Und Du, Gisbert, flüchtest Du Dich nicht bewußt aus der Sinnenwelt in diesen Sternenglanz?
Lange noch sah Horst die Silhouette gegen den Abendhimmel — die feine überschlanke Gestalt, diese zarten in die Dämmerung gestrichelten, mit der Dämmerung sich lösenden Linien, die schon nichts Körperliches mehr hatten.
Und Horst stockte der Fuß auf seinem Weg. Da geh ich nun zu den Fremden — und Gisbert, mein lieber Junge, schwindet uns hier unter den Händen. Muß ich — ich vor den andern ihn nicht halten und hegen!
Wär nicht diese Scheu um ihn, diese sprödeste Wehr, und in ihm dies Rührmichnichtan, das vor jedem Wort versteinert, das schon vor einem Ahnen des andern zusammenschauert. Was hat es zu leiden, das deutsche Blut!
Wie kann er dem Freunde helfen, da er nur erschrecken und wehtun würde. Und ist in ihm selbst nicht diese Scheu? Dieses Heiligtum der Schweigsamkeit, das niemand betreten darf?
Jetzt führt ihn sein Weg zu den Fremden, denen aufs neue er widerstrebt. Was will er bei ihnen, was soll er bei ihnen? Blutsverwandte ja — aber wie weit blieben sie vom Schuß! Diese lieben germanischen Neutralen! Wie haben sie sich gepflegt, da die Not uns verzehrte, wie wohl lassen sie es jetzt sich sein, da Elend und Schande uns zerfressen. Was soll ich bei diesen Menschen mit den wohlig satten Muskeln und den gut genährten Gehirnen?
In Freundschaft aber löste dieser Abend allen Unmut und Unwillen.
Eine Flut von Licht empfing ihn, in dem einfachen hellen Landhaus mit seinen strahlenden Birkenmöbeln. Alle Lampen brannten, auch die in den unbenutzten Räumen. Das liebte Herr Thorild so. Wieder bei Horst so etwas wie Zorn: nun ja, sie haben es und können es, denn sie haben die Valuta.
Aber auch in diesen Menschen brannte alles Licht ihrer Herzlichkeit. Und sein Mißtrauen, das dagegen aufflackerte, als ob hier zuviel Güte und Mitleid wäre, war bald im Erlöschen.
Wie gut sprachen sie von Deutschland, wie gut verstanden sie deutsche Art, das deutsche Leid, die deutsche Schuld, das bresthafte deutsche Dasein.
Mehr als einmal schüttelte Oberst Thorild schwer den Kopf. „Daß Ihr aus der Parteizerrissenheit nicht herauskommt, nicht aus Eurer Selbstzerfleischung! Die Fremden peitschen Euch in Wut — und Ihr geht Euch selber an die Gurgel. Nicht leicht ist es, Euch zu begreifen. Kein Land hat soviel Herz und Hirn — kein Land, dank seiner Parteipolitik, so viel herzlose Rechner und hirnwütige Verbrecher.“
Horst nickte dazu mit düsteren Augen.
„Euer großer Physiker hat mit dem von ihm gefundenen Gesetz das deutsche Wesen auf die rechte Formel gebracht: innere Wärme entlädt sich in äußere Bewegung. Vielleicht ist es Euer Fluch, daß Ihr zu viel innere Wärme habt, daß die sich in zu viel äußere Bewegung umsetzt, die Euch so heillos in Fetzen zerreißt. Das Stillhalten freilich ist nie unsere, der Germanen Sache gewesen. Im Draufgehen waren wir groß und im Dulden klein — schon Tacitus hat es uns bezeugt.“
In diesem „uns“ war ein Bekenntnis.
Und dann schloß er diese Gedankenreihe: „Im Ertragen von Leiden sind Euch die Serben, die Franzosen und andere Völkerschaften nun schon überlegen. Die Franzosen zumal, das femininste aller Mischvölker, das in den Wehen sich schon eher zu Hause fühlt. So feminin sind Eure lieben Nachbarn, daß sie es nicht einmal fertiggebracht haben, für ‚Mann‘ ein Wort zu besitzen. Wo sie es nicht gut entbehren können, begnügen sie sich stolz wie immer mit dem nichtssagenden, bedeutungslosen ‚Mensch‘!“
So sprach Ivar Thorild, der Schwede. Und der Deutsche Horst Oldefeld fühlte sich nicht veranlaßt, ihm zu widersprechen. So wenig, wie das alte Lied von Hysterie und weibischer Grausamkeit nun noch besonders anzustimmen.
„Daß Ihr jetzt, in der furchtbarsten Not, nicht zur Einigkeit gelangen könnt!“ hob der schwedische Oberst wieder an. „Wir sind auch hier mitten in einer Schuldfrage. Denn es gibt auch eine Schuld nach dem Kriege. Und bürdet sie nicht dem Feindesbund auf, der Euch vergewaltigt! Hättet Ihr den Bund im eigenen Land, brauchtet Ihr Euch nicht knechten zu lassen. All die Schändungen und Verbrechen — „Sanktionen“ heißt der erhabene Name dafür — ich sage nur Rheinland, Saargebiet, Oberschlesien — die große heilige Zornwelle eines gewaltig sich erhebenden einigen Volkes hätte diesen Frevel hinweggespült! Aber, Ihr habt was Besseres zu tun, Ihr müßt Euch untereinander begeifern, abwürgen und zu Boden schlagen.“
Wahrheit, alte, immer neue, nicht oft genug zu predigende Wahrheit!
„Und jetzt die andere, die viel berufene Schuldfrage. Die bekannte große Schuldlüge. Hier beschränke ich mich nun nicht auf völkerpsychologische Glossen. Hier kann ich mit freundschaftlich praktischer Arbeit aufwarten. Ich bin nicht ganz unbeteiligt an der neutralen unparteiischen Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen. Sie hat demnächst an Herrn Poincaree einige Fragen zu richten, auf deren Beantwortung oder — Nichtbeantwortung wir gespannt sind. Daß die deutsche Regierung nicht blankzieht, daß sie immer nur den Fälschern im eigenen Lager das Wort läßt, das ist wieder etwas, was wir nun und nimmer begreifen! Vielleicht ist dies das Unbegreiflichste von allem! Herrgott“ — und nun spricht der ehrliche Zorn des Blutsverwandten, den gemeinsame Sache bewegt — „wollt Ihr denn das gemeinste und verlogenste Unrecht von der Welt stillschweigend dulden! Die Ihr überhaupt nicht zum Dulden erschaffen seid. Nicht dulden könnt! Und nicht dulden werdet! Unrecht am letzten! So bodenlos verlogenes Unrecht am letzten!“
In diesen Worten brauste ein Kampf- und Kriegsruf. Horst stimmte ein mit schmerzlich, freudig zuckendem Herzen. Von außen muß uns solches verkündet werden. Nicht bloß Feinde hat Deutschland auf Erden! Und noch mehr Freunde würden wir haben, wenn wir selbst noch mehr unsere Freunde wären, unsere starken, gläubigen, wagemutigen Freunde!
Und weiter Herr Thorild: „Was laufen auf unserem Planeten für Geister zweibeinig herum! Daß sie die hirnverbrannteste aller Faseleien sich aufbinden lassen! Deutschland hat den Krieg vorbereitet. Nicht die anderen Großmächte der Erde haben Deutschland eingekreist, nein, Deutschland hat die Welt eingekreist — Deutschland hat eingekreist! Ist es nicht zum Radschlagen! Aber grandios einfach die Genialität der politischen Scharlatane, die mit diesem beispiellosen schlechthin blödsinnigen Schwindel Geschichte — und ihre Geschäfte machen. Derselbe unsägliche Schwindel, mit dem die edlen Franzosen jetzt nach dem Kriege vor sich und der Welt als die Sieger, als die Sieger schlechthin paradieren. Dieselbe Nation, die Ihr in ehrlichem Kampfe Volk gegen Volk derartig zusammengedroschen hättet, daß nichts von ihr übriggeblieben wäre — nachdem sie in diesem schmachvollen Würgekrieg mit all den andern Mächten als Spießgesellen Euch durch das Massengewicht naturnotwendig erdrückt hat, o Glorie ohne Ende! — diese Nation entblödet sich nicht, als die Siegerin sich in die Brust zu werfen! Da die andern soviel Schamgefühl besitzen, dieses Sieges sich nicht eben zu rühmen, darf sie allein das Maul vollnehmen von victoire und gloire! Daß selbst ihre Verbündeten für solche — Bescheidenheit nur noch ein Lächeln haben.“
Auf all die schmerzlichen Erschütterungen, die durch Horst hinbebten, legte Ingeborg warm den vollen Glanz ihrer jungen lebensinnigen Augen. Welche Heilkraft strömte von diesem blonden, leuchtenden Mädchentum aus. Wie Genesung fühlte Horst es durch die wunden Nerven, durch die kranke Seele rinnen. Was sagt Kunz, der Lebenskundige? Gesundheit steckt an. Wann war Horst das Blut in so vollen, reichen, kräftigen, frisch brausenden Wogen durch die Adern geflutet!
Die Männer sprachen dann über ihre kriegsgeschichtlichen Forschungen. „Mein Material häuft sich bergehoch,“ klagte Herr Thorild, „und ich werde mit meiner Arbeit nicht fertig. Einen Kompagnon brauche ich. Ich komme nicht einmal dazu, meine Bücherei zu ordnen —“
Hier rutschte Ingeborg auf ihrem Stuhl und machte ein längliches, wundervoll schelmisch gescholtenes Gesicht.
„Denn mehr als je hat mich, sobald es Frühling wurde, mein Famulus im Stich gelassen.“
„Vater — nach dem langen Winter!“
„Dem Winter — mit seinen Eissegelfahrten und seinem Schlittschuhlaufen!“ lächelnd nahm der Vater ihr Kinn.
Horst sah sie in der farbenjauchzenden dalekarnischen Landestracht mit fliegenden Zöpfen über das Eis ihre Bogen schlagen! Welch ein Bild.
Er selbst war ein leidenschaftlicher und kunstvoller Eisläufer. Wieviel blanke blitzende Kindheits- und Jugenderinnerungen zuckten durch ihn hin. Wie fröhlich jung er wieder war! Was hatte er diesen beiden Menschen zu danken!
Und jetzt schlug der Oberst schlankweg auf den Tisch. „Wie wär es, Herr Oldefeld, wenn Sie hier einmal Atem holten. Wenn Sie sich einmal unser Land ansähen, Ihrer Urväter Heimat. Und mein kleines Landgut, mein Haus, meine Bücherei. Sie sollen auch kein müßiger Zuschauer sein. Ja, als Lehrmeister brauche ich Sie! Ich sagte Ihnen, daß wir auch siedeln wollen. Die Gedanken, die Sie mir entwickelt haben, und an denen Sie hier arbeiten — vorzüglich! Ich brauche Sie, Herr Oldefeld! Und wäre Ihnen herzlich dankbar für Ihre Hilfe. Und Sie würden vielleicht neue Kraft sammeln für Ihren schweren Dienst — an ihrem Lande.“
Jetzt fiel auch Ingeborg ein, und wie klang ihrer Worte Melodie! „Sie fahren mit uns, nicht wahr? Sie kommen in unsere schönste Zeit. Das Summen unter unseren Sommerlinden sollen Sie erleben. Lindheim heißt unser Gut. Nirgendwo auf der Welt gibt es solche Linden. Nur noch in der Heldensage findet man ihresgleichen.“
Horst konnte nur leise, mit hochatmender Brust den Kopf schütteln zu so herzbetörender Lockung. „Es soll ja noch heute nicht sein“, sagte er tonlos, gehalten zwischen Wehmut und Sehnsucht, sich selbst zu leisem Trost.
„In vierzehn Tagen bin ich hier fertig“, erklärte der Oberst.
„Nun inzwischen werden wir uns ja hoffentlich noch öfter sehen!“ Horst bat die beiden, doch einmal die Siedlung zu besuchen. Ob Sie nicht am Sonntag kommen möchten? Dann wären auch seine jungen Freunde aus der Stadt da. Kriegsspiele würde es geben. Die Schlacht bei Großgörschen wäre an der Reihe.
„Ei der Tausend! Da kommen wir natürlich mit doppelter Freude.“ —
Am Sonntag, da die Schüler nach Hohenmoor hinauszogen, trug nicht die alte Freude ihre Schritte. Ihre Mienen und ihre Lieder waren voll Trotz.
Dr. Georg Stumps ehrliche Bulldoggenaugen waren blutunterlaufen, so hatte er sich gebost. Auf den Stachelspitzen seiner Haare tanzten Elmsfeuer. Das Provinzialschulkollegium hatte eine Verfügung erlassen und dem gesinnungstüchtigen Direx des Gymnasiums die entschlossene Direktive gegeben. Alle militärischen oder „den militärischen ähnlichen“ Übungen der Schüler waren streng verboten. Aber immerhin, Singen und Turnen durften sie noch — wie lange freilich, das weiß kein Mensch! Und so mußte es draußen, am Fuße der Goldberge, vorläufig bei Turnspielen bleiben.
Auch Horst ballt zu dem Ukas die Fäuste. Welch eine Beschämung vor den schwedischen Gästen! In diesem Sklavenland — wie soll man das Leben weiter und auf die Dauer ertragen!
Mit einigen der Jungen, die technische Neigungen haben, ist Dankwart angefreundet. Sie besuchen ihn in seiner Werkstatt. Über neue Flugzeugprobleme belehrt er sie, zukunftsgläubig vor diesen jungen Augen. Für die nächste Zeit schon verheißt er ihnen den Probeflug seines neuen kleinen Modells.
Ingeborg kommt, zunächst ohne den Vater, der noch dem Moordorfer Pfarrarchiv einen Besuch zu machen hat. Wie erfrischend diese nordische Ungezwungenheit und Unbefangenheit, mit der sie unter all die Männer tritt.
Kunz, der Wächter von Horstens Seele, gibt sich überwunden und gefangen. Dankwart verschanzt sich, angstvoller noch und mißtrauischer als vor Frau Tilde hinter dem Eisenwerk seiner Konstruktionen — welch eine Huldigung für die Frau! Und auch in Gisberts weltflüchtigen Augen lehnt sich etwas an die warme, licht- und farbenprächtige Erdennähe.
Sie tritt Horst zur Seite, als gehöre sie zu ihm. Gleich fühlt sie, daß eine neue Wunde ihn brennt. „Was ist?“ fragt sie leise und vertraut.
Er schüttelt leicht den Kopf. „Die Erniedrigungen nehmen kein Ende.“
Und schon tritt ein Gendarm auf den Plan, Bitterkeit in dem hellen Auge, Schwermut in dem hängenden Schnauzbart. Sein Auftrag kommt ihm selbst hart genug an. Sein eigener Schmerz ist mehr als all die subalterne Wichtigkeit.
Er macht vor Horst militärische Ehrenbezeugung. Befehl der Regierung. Soll Herrn Hauptmann Oldefeld darauf hinweisen, daß die militärischen Übungen mit den Gymnasiasten der Kreisstadt unliebsames Aufsehen erregt haben und nicht zulässig seien. Soll darüber wachen, daß der heutige Sonntag nicht wieder zu solchen „unerlaubten Veranstaltungen“ benutzt werde.
Jetzt also unter Polizeiaufsicht. Auf wessen Geheiß? Horst hat eine Ahnung. „Wollen und können Sie mir sagen, wem wir hier „unliebsam“ geworden sind?“
Der Beamte besinnt sich eine Weile. Dann spricht er offen, ein Gleichgesinnter, und seine Brauen ziehen sich zusammen. „Die Ententekommission hat sich an die Regierung gewandt.“ Jetzt stockt er, und mühselig kommt es über die zusammengezogenen Lippen. „Bei den Feinden ist von unserer eigenen Bevölkerung hier Anzeige eingelaufen.“
Die Männer sehen sich an, schmerzlich bohren sich ihre Augen ineinander. Sie schweigen tief und lange. Dann sagt Horst gehalten: „Ihr Dienst ist wahrhaftig nicht leicht. Ich will ihn Ihnen ganz gewiß nicht erschweren. Es wird hier heute nichts Verbotenes geschehen. Darf ich Sie bitten, in der Baracke unser Gast zu sein.“
Nun, da er mit Ingeborg allein ist, rüttelt der ganze Schmerz an ihm. Dazu die tiefe Demütigung, daß sie, die Ausländerin, von diesem unsäglichen deutschen Schandwerk hören mußte! Daß Deutsche bei den Landesfeinden Deutsche denunzieren! Der Denunziant — an sich schon der größte Schuft im ganzen Land! Aber auf die eigenen Volksgenossen die Fronvögte hetzen! Die eigenen Brüder den Folterknechten ans Messer liefern!
Und gerade in dieser Stunde wird sie ihm erst recht wie ein Freund, und in der Vertraulichkeit kommen ihm die schmerzensreichsten aller Worte: „O Deutschland! Deutschland!“
Sie sieht, wie er leidet, sie greift mit der Hand nach seinem Arm. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie nah mir das alles geht.“
„Ja — manchmal ist es einem wirklich, als müßte man den Verstand verlieren!“
Die Verzweiflung gräbt sich in seine zerspannten Züge, die Augen starren leer und verlassen. Sie aber, von ihrem Mitgefühl durchflutet und hilfreich beseelt, gewinnt ihn lieber und lieber. Und zärtlicher neigt sie sich zu ihm hin.
Da gibt es ein Blühen in seinem Blut und ein Frohlocken in seinem Herzen. Warum reiß ich sie nicht an mich, dieses liebreizendste aller Geschöpfe — als meinen Halt, meine Rettung, meine Genesung, meine Kraft, meine Seligkeit!
Er fühlt es: wenn ich Dich nehme, gehörst Du mir! Und Du willst, daß ich Dich nehmen soll.
Aber dann klingt in ihm der Ruf aus der dunklen Tiefe — Deutschland, o Deutschland! Und wie gegen eine Verführerin wendet er sich gegen das junge, das herrliche Weib, die Fremde, mit der lockenden Ferne, die ihn heimatlos, die ihn untreu machen will.
Ein weher Schreck durchfährt ihre Hand, von der er sich löst, und es klagt auf in ihren Blicken. Da gibt er ihr ein liebes Wort. „Ich denke so viel an den Platz unter Ihren Linden.“
„Er wartet auf Sie. Und nicht wahr — Sie lassen ihn nicht warten!“
Der Vater tauchte in der Ferne auf. Die Jungen hatten sich inzwischen zum Abmarsch aufgestellt. Sie wollten sich an einer langen Strandwanderung, so gut es ging, schadlos halten.
Sie haben die Jungen mir und mich den Jungen verboten. Aber den Geist bütteln sie doch nicht tot! Er raffte sich hoch, aber mühsam trug er den Kopf auf gesteiftem Nacken.
Über die Goldberge zogen die Jungen. Sie sangen, dann auf der Höhe verstummte das Marschlied. Dem Klang aus dem Grunde lauschten sie. Wohl hatten sie ihn vernommen, denn machtvoller, sieghafter, zuversichtlicher und stolzer rauschte jetzt ihr Gesang, da sie den jenseitigen Hang zur See hinunterschritten.
Wir sind die Jungen — die Herzen fliegen!
Wir sind die Jungen, wir stürmen, wir siegen!
Unter die Füße den tückischen Haß,
seine Ketten zerspringen wie Glas.
Unser Gebet, unser Feldgeschrei:
Frei sollst du sein!
Wir machen dich frei!
Ihr werdet den Zauber lösen, der in den Bergen schläft. Ihr werdet Deutschlands Freiheit wiedersehen! Ob wir noch, die wir heute Männer sind? Es ist so schwer, so bitter schwer von dem Gedanken sich zu scheiden!
Ihr aber werdet sie nicht mehr sehen, ihr Grauen und Müden! Was ist das für eine kleine mühselige Schar von Alten, Gebückten und Beladenen, die da im Staub des Heidewegs zu den heiligen Höhen herangepilgert kommen? Öfter schon haben einzelne Wallfahrer hier gekniet und gebetet, das Wunder wach zu flehen, das hier unter den Hügeln ruht. Das Wunder der Erlösung des armseligen deutschen Volkes. Heute finden sich wohl ein Dutzend der Gläubigen ein. Männlein und Weiblein, alle so elend verwittert, alle so gramvoll sehnsüchtig. Hilf uns doch, Du Retter, Du Ritter, Du Schlafender! So bitter nötig haben wir Dein Erwachen!
Zum Liebhaben sie alle. Aber man darf sie nicht stören. Still müssen sie mit mummelndem Munde ihre Formeln sprechen. Horst wendet sich ab und zwingt an seinen Tränen. Deutschland — mein Deutschland —!
Und jetzt war auch Herr Thorild bei Ingeborg und Horst. Der mußte sich begnügen, den Gästen und Freunden die Siedlung zu zeigen. Er verschwieg nicht die schwere wirtschaftliche Not, gegen die sie rangen. Aber sie wollten und mußten durch! Und hier setzten seine willenshellen Augen wieder die alten Lichter auf.
Eine Fülle von Anregungen gewann der Oberst aus seinen Eindrücken. Und alles klang wieder aus in dem Wunsch und der Bitte: Sie müssen zu uns kommen!
Wie eine Rührung wogte es durch Horst. Was haben diese Menschen an Dir? Und wieder der Gedanke: So sind wir Deutschen doch nicht schlechthin im Ausland die Verachteten, die Verfehmten. Nur unsere Würde sollen wir wahren. Und Treue ist Würde! Treue auch zum Unglück! Ja, sein Unglück lieben — nur so wird man seiner Herr!
In solchem Selbstgefühl durfte er den Freunden frei die Hand reichen. Ich empfange nicht bloß, ich gebe so gut wie Ihr.
Aber die Schatten blieben. Und schwerer und dunkler zogen sie. Es kam für die Siedlung ein schwarzer Tag.
Gisbert, der ihrer aller Liebling war, löste sich immer mehr von ihnen. Wie ein Nachtwandler war er, den man zu rufen sich scheute.
Der einzige, der immer noch fest zupackte, war Kunz. Aber auch er griff jetzt immer mehr ins Leere. Und dann, er hatte genug mit eigener Herzenserschütterung zu tun. Vita war ihm entschwebt. Wie ein Traumbild war sie ihm zerronnen. Wohin hatte er sie geschreckt?
So trübte sich Kunz der Blick für des Gefährten Schicksal, den die Not seiner Liebe immer mehr von dem Irdischen trennte. Von der Erde, die, seit sie ihn verschüttet, begraben, erstickt hatte, seinen entrückten Sinnen nie mehr die rechte Heimat gewesen war.
In Gisbert selbst tastete noch etwas nach dem Gegenständlichen dieser Welt, nach Freundeshand, nach Zwiesprache, nach Austausch der Empfindungen. Und so klammerte sich etwas von ihm an Kunz, gerade heut.
Der Wind trug am Nachmittag den Glockenhall von Moordorf herüber. „Wollen wir zusammen in die Kirche?“ fragte er Kunz, mit knabenhaften Augen, fromm von kindlichen Gedanken.
Der hatte schon ein „Ja“ auf der Zunge. Da fuhr es ihm durch den Sinn: in Vitas Bereich! Wenn ich mich hineinbegebe, muß ich allein es tun! Denn für alles, was hier geschehen kann, brauch ich meine Einsamkeit. Und er schüttelte den Kopf zu dem Vorschlag. So ging Gisbert ohne ihn. Und es trug ihn wie ein Abschiednehmen — er wußte nicht wie.
Er wußte auch nicht, was eigentlich in die Kirche ihn zog. Halbe Wirklichkeit war in allem. Der Raum, die Andächtigen, der Gesang, der Prediger —
Wirklichkeit — was ist das? Es gibt etwas über der Wirklichkeit. Das ist seine Herrin. Das ist dieser Abend, der ihn zu ihr führt.
Schall ohne Sinn war ihm auch erst Pastor Waermanns hell aufstrebende Predigt. Der wieder der Mittler seines geliebten Ernst Moritz Arndt war, des deutschen Stimmführers aller Zeiten.
„Du mußt Gott bitten, daß er dir gebe einen stillen freundlichen und festen Geist, daß du alle deine deutschen Brüder zu dir versammeln magst.
Denn durch der Herzen Zwietracht ist das Unheil gekommen, und durch die Torheit der Feigen plagen fremde Henker dich.
Und ihr sollet euch wieder brüderlich gesellen zueinander, alle, die ihr Deutsche heißet und in deutscher Zunge redet, und den Trug bejammern, der euch solange entzweit hat.
Und sollet in Einmütigkeit und Friedseligkeit erkennen, daß ihr einen Gott habet, den alten treuen Gott, und daß ihr ein Vaterland habet, das alte treue Deutschland.
Und sollet gedenken, wie ihr ein freies Land von euren Vätern empfangen habet, und wie ihr euren Kindern und Kindeskindern die Freiheit hinterlassen müßt!“
Das klang denn doch in Gisbert nach, das weckte in ihm schlummernde Stimmen. Die Stimmen, die sein Dasein begleitet hatten, die seiner Arbeit Melodie gewesen waren. Sie schlangen das Band zwischen ihm und den Kameraden, den Freunden. Und er ruhte aus in diesen Harmonien.
Aber sie hielten ihn nicht, sie trugen ihn nicht, und er entschwebte wieder in seine Welten. Und alles, die Siedlung, das Vaterland, die Gefährten wie der Kirchgang, der Gottesdienst wurden ihm nur zu einer alten Weise wehmütiger Erinnerungen.
Ein paar schrille Weckrufe: zwei Mädchenaugen hängten sich an ihn, von so heller und scharfer fast heftiger Daseinskraft. So viel gesammeltes Leben — es brannte und stach. Den Traumfernen erreichte die fragende Leidenschaft. Bleiben sollst Du und Rede mir stehen! Allein bist Du! Wo hast Du den andern! Ich will ihn nicht! Aber, wo ist er? Das will ich wissen! Und warum er Dich allein hat kommen lassen! Ich will ihn nicht! Will nicht seine packende Hand, seinen dürstenden Mund! Aber, er soll mich suchen! Suchen soll er mich, daß ich ihn abweisen kann, ihn von mir stoßen! Was tut er’s nicht!
Und Gisbert wußte es, dieses Mädchen, das nichts ist als Augen, nichts als fordernde, starrende, bannende, naturkindliche Leidenschaft der Augen, es konnte nur Vita sein, das Mädchen seines Kunz.
Jetzt war der Freund doch ganz nahe bei ihm. Von dem er ahnte, daß er um das Mädchen litt. Helfen — ihm, dem lieben, getreuen — und auch ihr, in deren Augen der sehnsüchtige Trotz einer Qual Fieber und Bitterkeit wirkte.
Predigen — von der Liebe predigen! Hier, wo der Ort dafür war! Von der Liebe, die mehr ist als ein Gefühl. Von der Liebe, die die Wahrheit ist. Die Wahrheit und die Freude, aus der jede Kreatur, aus der das All, die Unendlichkeit ihr Leben hat.
Aber die Worte dafür — immer ist das Wort mit seiner Erdenschwere hinter ihm zurückgeblieben. Nun hat es ihn ganz verlassen. Das lichte Schweigen ist um ihn.
Und mit dem Wort, das er nicht findet, versinkt ihm all das, was ihn eben noch gerufen und bewegt hat. Ob er es halten möchte, es schwindet ihm hin. Und wieder wie ein Traumwandler zieht er seine Straße, die zu seiner Herrin ihn führt.
Das Auto, das ihm auf der Chaussee entgegenrast, der Staub, den es emporwirbelt, die Hupentöne, die es ausstößt — all das bleibt weit, weit unter ihm.
Er weiß nichts von der Erde, er sieht auch den Himmel nicht, nicht seine grüne Abendflut, die wie brennende, schmelzende Patina ist. Erst wie er in Tildes Zimmer steht, wird er erlöst aus seiner blutleeren Wesenlosigkeit.
Und wieder ist es ein Klagendes in ihren Augen, was ihn erdhaft macht. Keine Wehmut und Weichheit, die nach Mitleid ausblickt. Eine Bitterkeit, die sich immer mehr verhärtet, und die Härte als Hilfe braucht. Wie ein Trotz ist es aufgestiegen aus der Tiefe dieser Augen. Die schwere Arbeit der Tage, das Übermaß der Pflichten schmiedet ihres Wesens Metall.
Hilflos, wie verschüchtert sitzt wieder Gisbert vor ihr. Und wieder die Frage über ihm: was kann ich Dir sein? Ich, der ich mich verblutet habe — ich weiß es selbst — dem das Beste seiner Jugend, seiner jungen Kraft zerronnen ist — „Gedankenblässe“, das ist das Wort! Das ist der Stempel, den ich trage. Ein Schatten, ein Schemen, schwebe ich vor Dir. Und je tiefer sein feines Spüren in die Augen der Frau sich einsenkt — lebt in ihnen nicht eine fast zornige Forderung an das Leben auf?
Über wirtschaftliche Dinge spricht die Herrin mit ihm, trocken, geschäftlich. Dazwischen müde Pausen des Ausruhens und des Schweigens. Sie plant noch ein paar Neubauten und hat Budgetsorgen. Er kann sie nur anhören, kann nicht raten.
So einsam ist diese Frau. Der natürliche Gehilfe und Berater, wahnbefangen, der Arbeit verloren, hält sich fern.
Zugleich mit ihm kommt ihr — wie sind sie sich doch nahe — der Gedanke an den, der ihr fehlt. „Achim war eben im Auto hier — nur auf eine Minute. Er ist gleich zur Bahn gefahren. Er will nach Holland zu einem internationalen Match.“
Die Worte reihen sich gleichmäßig auf, fast unbewegt von dem Schicksal, das durch sie hindurchgeht. Und wieder ist das Schweigen um sie beide, gut, heilend und treu. Dann sagt sie: „Kommen Sie, Gisbert. Ich möchte noch ein wenig in den Park.“
Sie gehen hinein in den lichten Abend. Es ist die Johanniszeit, die hellsten, längsten Tage herrschen, die Kraft der Sonne durchwebt die Dämmerung, webt durch die Nacht hindurch dem Morgen entgegen und nimmt sich selbst wieder in Empfang.
„Heut ist des Sommers heilige Nacht“, sagt Frau Tilde. Ihre Blicke ruhen auf dem jungen Freund. Ist er nicht wie der Heilige dieser Helle? Er selbst so durchsichtig, so unirdisch, so verklärt. Und wehklagend zieht es durch sie hin: Armer, lieber Junge. So hast Du Dein Leben hingeströmt! Und ist nicht wie Du ein großer Teil der deutschen Jugend — viele, die unter uns hinschweben, kaum etwas anderes als die Schatten Erschlagener!
Die Johannisnacht beschäftigt ihn. Er spricht von den Sonnwendfeiern, erzählt von einem sanften Brauch, den Frau Tilde nicht kennt — sie weiß nur von den Feuern und Flammentänzen dieser Nacht — von dem Johannisbad erzählt er, dem Blumenopfer, das man den Flüssen darbringt. Und gar nicht bedeutungsschwer, mit einer leisen Fröhlichkeit fügt er hinzu: „In dieser Nacht werden die Lose der Menschen geworfen.“
Sie haben den Park durchschritten. Da vor dem Tor ragt auf der kleinen Anhöhe der mächtige Ahorn in den grünglasigen Abendhimmel. Hier auf der runden Bank haben sie damals gesessen, in die Wolken geblickt und von ihnen beide dasselbe vernommen. Und wieder lassen sie sich hier nieder.
Über die Felder gleiten die Blicke. In Tilde regt sich die Landfrau. „Wie gut der Roggen steht!“ Bis zu ihren Füßen zittert das grüne Meer in dem Hauch, den die See landeinwärts sendet. „Was hätte Vater für eine Freude daran gehabt!“ Nun ist sie bei ihren Toten und in großer Verlassenheit.
„Ach, lieber Junge!“ sagt sie dann und streicht ihm übers Haar. Was ist alles in ihren Augen, so viel Mütterliches, sorgend und schützend, und wieder ein Frauliches, das zärtlich nach Hilfe ruft. Und er starrt in diese wogende Tiefe.
Dann nimmt sie seinen Kopf in die Hände und küßt ihn auf die Stirn, und küßt ihn auf den Mund. Schon hat sie sich erhoben und reicht ihm die Hand. „Und jetzt Gut Nacht“, sagt sie einfach. Und weiter nichts. Schreitet zum Park, tritt in das Tor und verschwindet unter den Bäumen.
Gisbert bleibt, bewegungslos. Alle Stimmen seines Lebens klingen zusammen in dieses letzte Wort. All seine Schmerzen, seine Seligkeit, seine Hoffnungen und Enttäuschungen, seine Taten und Leiden, sein Träumen, seine Visionen, seines Wesens Beginn, seines Daseins Ausklang —
Aber auf den Lippen — da brennt es — ein Feuer — so wie eine Todeswunde brennt — schmerzlich und überschmerzlich, bestrahlt schon von den ewigen Wonnen.
Ein Feuer, das bleibt und brennt. Davon das Blut ihm kocht und braust. Das wenige Blut, das noch durch seine Adern flutet.
Ich sehne mich, sehne mich nach Dir! Mit allem, was an Kraft und Leben in mir ist, sehne ich mich nach Dir.
Und Du — jetzt wird alles, was in ihm Leben hat, Glut und Glanz eines stolzen Glückes — singt und schluchzt und jauchzt nicht in Dir dieselbe Weise? Sind wir nicht wiedergeboren einer in des andern Herzen? Muß ich nicht bei Dir sein und Du bei mir! Warum bist Du gegangen! Was läßt Du mich allein!
Fliehst Du mich, daß ich Dich suchen soll? So fiebert es grell in ihm auf. Und dann: oder lächelt sie über mich? Lächelt sie, daß ich so weltenfern, so im Übersinnlichen meine Kreise ziehe!
Nun entsetzt er sich, daß er so in die Niederung gerät! Mit den Gedanken an diese Frau. Und überwindet den Schreck und blickt mutig dem Leben ins Gesicht, mit seinen Knabenaugen.
Den Wirbel sieht er, der Lachen mit Grauen mischt, den Wirbel um das Mysterium Weib. Er flieht vor ihm — und seine Gedanken werden immer mehr hineingezogen in den Taumel.
Wenn dieser Tanz mich erlöst aus meiner Verlorenheit? Wenn ich gesund werde — ein gesundes, junges Blut? Und habe meine Geliebte, habe mein Weib —
Eines andern Weib — Untreue, Betrug — das Grauen fällt über ihn her! Was wird geschehen? Was wird sein!
Und es peitscht ihn das Entsetzen vor der öden, schalen Geschlechtlichkeit — die Verzweiflung, daß er das Bild seiner Herrin in diesen Wust herabzieht. Das strahlende, heilige, beseligende Bild der Gnade!
Wie hat er zu ihm gebetet, zu ihm aufgesungen: Du bist die Geliebte meiner Seele. Nicht treibt es mich, mit den Blicken Dich zu fassen, das Auge in Dein Auge zu legen, mit Deiner Stimme mein Ohr zu füllen, Deine Finger mit der Hand zu umspannen. Nur wissen will ich Dich, nur wissen, daß Du bist, nur das Glück fühlen, daß Du lebst! Rühren Worte an die Herrlichkeit dieses Besitzes? Nicht einmal Gedanken!
Nun haben die Gedanken doch an sie gerührt — das Begehren hat nach ihr gegriffen, das gemeine Begehren.
Er ist fortgestürmt, hinein in die dämmernden Weiten. Der Dünensand hemmt seinen Lauf. Nun steht er atemlos — vor ihm schauert das Meer im Hauch der Nacht.
Und dort im Osten aus dem Dunst über der Flut hebt sich der Mond, dunkel, glühend, groß und tief. Drohend und schwül. Feindlich, grausam und böse. Wie ein Schicksalsspruch, wie ein Gericht über Sünde und Schuld, wie der Henker im Scharlachmantel.
Gesenkten Hauptes steht Gisbert. Er trägt den Leib wie eine Last. Dann hebt er sich auf, die Sterne sucht er, noch sind sie bleich — erst allmählich entzünden sie ihre Kraft, ihre Hilfe, ihren Trost. Jetzt aber haben sie die Macht ihrer Sprache. Und Gisbert liest die Verse des Firmaments, die Dichtung des Himmels, die Hymne der Nacht, der Allmutter Nacht. Und er ist daheim.
Der Nacht antwortet das Meer. Und alles klingt zusammen in dem großen Sphärengesang: Güte und Freude ist alles — alles geht aus von der Freude — alles geht ein in die Freude — gut, gut ist das Leben, gut ist das Ewige, ewig das Leben, ewig die Freude —
Der Mond ist emporgetaucht aus dem dumpfen blutigen Dunst — alles Böse hat er abgetan, er hat sein gutes helles Licht gewonnen. Ich bin die Güte, ich bin ein Freund! Und eine Straße baut er über die andächtig stille und ergebene Meerflut.
Gisbert ist am Strande. Zu seinem nächtlichen Bade entkleidet er sich. Vor seine Füße wallt diese leuchtende Straße. Wohin führt sie? Wohin will sie mich leiten? In das All und seine Freude —
Ja, Du strahlender, Du guter Weg — Dir vertrau ich mich an. Du kennst mein Ziel, Du offenbarst mir meine Bestimmung, meine Erfüllung und Vollendung. Abtun will ich meine Schlacken — der reinen Freude will ich ins Antlitz sehen —
Er schwimmt — schwimmt in der lichtgesättigten Flut — in alle Poren dringt der Glanz — die Lungen leuchten — das Herz ist voll Schein — ein verzitterndes Lichtbeben sein Schlag —
Ein Lichtstrahl gleitet sein Leib durch die goldene Flut, hinein in die Wellen des schimmernden Äthers — hinein in das All — in die gute große freudige Heimat — — —
Die Männer standen vor der Baracke — Horst, Dankwart und Kunz. Wie Deutschland Deutschland verrät, das geht ihnen durchs Gemüt. Der Gendarm hat erzählt, Ententeoffiziere wären in der Provinz auf Waffensuche unterwegs. Sie hätten selbst erklärt, daß sie sich vor deutschen Denunziationen nicht retten könnten. Der englische Hauptmann hätte heftig dazu ausgespuckt.
Diese letzten Worte wollen Horst nicht aus dem Ohr. Immer hört er sie in dem trockenen, schmerzlich heiseren Tonfall des Gendarms. Wo er geht und steht, krächzen sie ihm nach.
Bei Kunz ist der Grimm schon weitergestürmt. „Wenn die Henker zu uns kommen — wenn sie bei uns schnüffeln — wenn sie frech werden — was geschieht dann! Was tun wir dann!“ Wild schlägt es in seinen Stirnadern. Seine Fantasie schwelgt.
Horst ist allein in die Dünen gegangen. Wie soll man das alles ertragen. Zu der Last, unter der man schon zusammenbricht — immer mehr wird zu ihr aufgepackt. Ich kann nicht — kann nicht mehr! Und will auch nicht mehr!
Gegen den Schmutz, die niederste Gemeinheit kämpfen, welch ein übler Irrsinn! Der Schmutz läßt sich nicht besiegen, und man selbst — nicht nur, daß man unterliegt, besudelt unterliegt man! Und der Ekel würgt einen ab.
Nach Norden blickt er. Dort auf der Landzunge steht das Haus, in dem seine Freunde wohnen. Und blickt man weiter, in derselben Richtung, hinter dem deutschen Meer liegt Nordland, liegt Schweden.
„Meine Gedanken wandern über die See,
Weiße Schwäne sind sie, leuchtend wie Schnee.“
Heraus aus dem Schmutz, dem Ekel, an dem ich vergehe! Ein anderes Land öffnet mir die Arme, eine neue Heimat winkt mir — keine neue, die alte, die unserer Ahnen. Der klare Norden mit seinem Stolz, seiner Ehre, seiner Sauberkeit, seiner gesunden Kraft. Aufrecht! Wieder einmal aufrecht stehen und gehen! Liebe Menschen nehmen ihn dazu an die Hand.
Liebe Menschen — und hier? Die Kameraden hier? Kunz, Dankwart — hat sich zwischen ihnen und ihm nicht eine Kluft befestigt? Längst ist er ihnen nicht stur genug, nicht der Unbedingte, der Stürmer nicht, den sie wollen. Mit halbem Herzen nur folgen sie ihm, der ihnen nicht als Ganzer gilt. Sollte er ihnen nicht die Siedlung überlassen! Daß sie sie neu bauten in ihrem Geiste! Ein Stoßtrupp hartdeutscher Gesinnung — warum nicht! Vielleicht das beste.
Denn der linke Flügel, die Mulitz und Metzling, fangen an, bedenklich zu werden, weil ihre Macht ganz unverhältnismäßig anwächst. Durch meine Schuld? Weil ich das Steuer nicht fest genug halte? Nicht mit der sichern, gläubigen Hand, nicht unter dem klaren, unbeirrten, weiten Blick?
Unleugbar, die Widersprüche, die Zerwürfnisse mehren sich. Droht dem Werke der Zerfall — weil ich ihn nicht hindere? Der ich meiner Arbeit mich entfremde — aus Überdruß an meinem Vaterland!
Entfremdet meiner Arbeit — entfremdet den Kameraden — und dem einen, dem Jungen, dem Gisbert untreu, der wenn einer mich braucht! Um den meine Sorge so viel gewacht, an den sie so oft dachte in diesen letzten Tagen — nur daß sie nicht zugriff, wie es sich gehörte.
Wie nötig hat der Junge den treuen, festen Freundesarm, Muskeln und Knochen — er, der sich ganz hinausgeistern will aus dieser körperlichen Welt — nun noch gesteigert, getragen, erhöht und zugleich gescheucht und flüchtig von der Schwärmerei für diese Frau, die selbst hier keine rechte Heimat hat. Bist Du nicht wie entleibt unter uns gewandelt? Wo gibt es ein solches Sichlösen, Sichentäußern, Sichbefreien und Sichbeseelen als in deutschen Herzen? Nennt es Kraft, weil es eine Inbrunst, nennt es Unkraft, weil es ein Zerfließen ist. Und ist nicht ein Stück Gisbert in uns allen?
Seine Augen schweifen über das Wasser. Jetzt nimmt die leuchtende Straße seine Blicke an sich. Die Flut, vom Licht gebändigt, sanft und geduldig, wie hingegeben trägt sie die goldene Brücke zum Mond.
Da hinten aber — weit, weit dem Himmel nahe — was ist es, was sich da bewegt, in Wellen des Glanzes, in blitzenden Strahlen — ein Dunkles, das jetzt in dem Schimmern verzittert? Schon hat das Licht die Wasser wieder geglättet — war es ein mondtrunkener Delphin? Glatt gefügt spannt sich wieder die leuchtende Brücke.
Und weiter nach dem nördlichen Vorsprung zieht es seine Blicke. Dort auf der äußersten Spitze — ist es ein Zauber dieser hellen Nacht — eine weiße Mädchengestalt —? — Trug! Welches Menschenauge kann so weit sehen —
Und doch! Was flammt denn zu Häupten dieser Gestalt! Und hebt sie selbst in den Glanz? Nur eins gibt es auf Erden, was so leuchtet, Ingeborgs Haar.
Ein Leuchtfeuer — das nach Norden weist und ruft — das Leuchtfeuer seiner Zukunft —
Und doch ein Trugbild? Horst will wissen, ob diese kürzeste der Nächte, die zauberkräftige, ihn narrt. Er schreitet die Dünen hinunter, am Strande entlang, der Landzunge entgegen. Da sieht er ein Dunkles auf dem weißen Sande — Kleider — eines Badenden — im Wasser ist niemand zu erblicken.
Es fährt ihm durchs Hirn — das Körperliche, das vorhin da in dem Mondstreif sich zeigte — und sein zweiter Gedanke: Gisbert, der Abendschwimmer —
Prüfend betrachtet er die Kleider — ja, Gisbert gehören sie. Er späht über die Flut, die der Nachtglanz ableuchtet — da hinten ein Segel, ein einziges Boot, ruhend in der Windstille, gespensterhaft — sonst nichts, nichts so weit das Auge greift. Das leidenschaftlich forschende, jetzt erstarrende Auge. Und eisig schneidet es ihm durchs Hirn: Gisbert ist von uns gegangen.
Helfen — Hilfe holen — wie sollen sie helfen, und wem! Wenn er es war, der da hinten, am Horizont in dem Mondstreifen trieb, in die Lichtbahn sich löste —! —
Leer ist die Mondstraße, leer ist die Flut ringsum —
Aber, da man nichts tun kann, nicht weiß, was man tun soll, da man hilflos ist — wie furchtbar dieses Alleinsein mit dem Geschehenen! Die Kameraden — Kunz muß es wissen, er muß es hören, muß was sagen, muß dabei sein!
Schon ist Horst nach der Baracke unterwegs. Er holt sich Kunz aus dem Verschlag. Nun stehen sie beide an den Kleidern und forschen über die See.
Dann stehen beide schweigend, und halten eine eigene Totenwacht.
Ruckweis befreit sich Horst von dem Schmerz, der ihn lähmen will. „Er hat es geschafft. Auch einer, der zu schade war — für das was uns beschieden ist.“
„Sollen wir so sprechen?“ Kunz macht der erste Schmerz nur noch härter, wehrhaft, wahrhaft, unerbittlich. „Zu schade?“ Er spielt wie grausam mit dem Wort. „Zu sehr beschädigt. Zu wund und zu weich.“ Und noch rauher gegen den eigenen, zuckenden Gram: „Was welk ist in Deutschland, geht ein.“
Dann ist es fast, als kehrt er sich, wie zur Ablenkung, gegen Horst, den selbst nicht mehr Wurzelfesten. So daß etwas in ihrem Schmerz die beiden Männer gegeneinander entflammt.
Schon aber führt in Horst der Leitende das Wort, der seine Anordnungen trifft, bis zum Äußersten. Er hat keine Hoffnung mehr, aber das letzte muß getan werden. „Ins Boot. Das Wasser absuchen. Nicht unmöglich, daß er müde geworden ist, und der Segler da hinten hat ihn an Bord.“
Sie gehen nach dem Vorsprung zu. Da liegen Boote am Strand. Sie schieben eins ins Wasser und rudern hinaus, schweigend, mit gleichmäßig mächtigem Schlag. Und suchen, suchen — hoffnungslos und doch treu.
Jetzt sind sie schon weit draußen. Auf das Segelboot halten sie zu. Immer mit der Umschau, immer in der Erwartung, der Entseelte müsse auftauchen.
Ein Fischerboot, das mit klatschenden Segeln daliegt. Hat es den Ermüdeten aufgenommen? Ein letzter Schimmer —
Die Insassen, verschlafen, drusen dem Morgenwind entgegen. Von einem Schwimmer haben sie nichts bemerkt. Einen treibenden Körper haben sie nicht gesichtet.
Die Suchenden wenden und fahren zurück an Land. Jetzt ist es gewiß, die See hat ihn genommen. Wird sie seinen Leib wieder hergeben?
Gisbert ist tot! So pulst es in ihrem Herzen. Das ist der Takt ihres Ruderschlages. Gisbert ist tot. Sie starren in eine Leere. Jetzt ist die große Klage um sie und fügt sie zusammen. Und nichts kehrt sie gegen einander. Geschlossen, versöhnt der Unterschied, der Zwiespalt ihres Fühlens. Nur der Schmerz um den Freund bewegt ihre Seele. Gisbert ist tot. Wie klein sind alle Worte, die seiner gedenken wollen — sie scheuen sich und schweigen.
Die Männer landeten wieder. Und da sie die harte Erde betraten, kamen Forderungen an sie. Gemeinsame, so dachte Kunz. Er mit seiner lebensfesten Hand nahm die Kleider auf, packte sie zu einem Bündel und wandte sich heim. Das „über Gräber vorwärts“ lag ihm im Blut.
Er meinte nicht anders, als daß Horst mit ihm gehen würde. Der aber blieb, versonnen, versponnen. Kunz wartete — dann ein fragender Blick, aber kein Wort — dann etwas wie ein leichtes Achselzucken, in dem der alte Schmerz bebte: man lasse die Träumer den Träumen — und er ging allein. Da war es wieder, was in ihm nagte: auch von Horst geht immer mehr verloren. Die Sorge um die Siedlung ließ ihn von jetzt ab nicht mehr los.
Wieder war der Mißklang zwischen den beiden, das Mißtrauen, das nun einmal gerufen war — tiefer griff es in die Gemüter, die der Schmerz zart und feinfühlig gestimmt hatte. In der Empfindsamkeit des Grames fand es neue Nahrung.
Horst spürte es, er wußte, was in Kunz sich von ihm abwandte. Das riß an den gespannten Saiten, und wieder gab es den Zorn, die Bitterkeit, die eigene trotzige Abkehr und Selbstverschanzung.
Ich bin Euer Führer, ich hab Euch etwas geschaffen, etwas gegeben — zum Lohn dafür haltet Ihr Gericht über mich, beobachtet mich, nehmt mich unter Aufsicht. So war es schon, und es mehrt sich zur Unleidlichkeit.
Ihr solltet wissen, daß ich das nicht ertrage. Ihr solltet mir meine Arbeit, die mir wahrlich nicht leicht fällt, nicht noch erschweren. Sie mir nicht verbittern! Kein besseres Mittel könnt Ihr dafür finden.
Wen hab ich nun noch in der Siedlung? Da Gisbert mir fehlt. Er, mit dem zarten, zerschlagenen, blutleeren Leib, der Wärmste, der Innigste von Euch allen. Und darum auch allen unentbehrlich, da er zwischen allen die seelischen Fäden wob. Allein steh ich jetzt. Er war es, der mich verband mit den Schwärmern, den blinden Heißspornen, den kühlen Rechnern, den Gleichmütigen, den Matten und Trägen. In ihm fanden sie sich alle, denn alle hatten ihn lieb. Ist mit ihm nicht das Licht der Siedlung erloschen? Ein blasses Licht, ja — aber vielleicht, daß gerade die unirdische Blässe die Herzensandacht schuf!
Gewiß, es war allzuwenig von dem landläufig Gesunden in Dir, gar nichts Lebensstarkes und Robustes. Ein Kind noch warst Du, als Du ins Feld zogst. Die Pubertätsjahre verschlang der Krieg, nun kam, krankhaft verspätet, verfeinert und gesteigert die ganze Empfindsamkeit der Jünglingschaft über Dich — und zerbrach an Weibesliebe. So fein und edel zart, wie es nur deutscher Jugend, die deutsches Leid versehrt, geschehen kann.
Und jetzt steh ich allein. Die Kameradschaft durchlöchert und im Verfall. Argwohn — Übelwollen. Jetzt, wo alles sich ergeben sein müßte auf Leben und Tod! Und die Jungen haben sie mir verwehrt! Neue Ketten schmieden sie. Die Luft im Bagno — wie soll ich sie länger atmen! Und wär nicht die ganze deutsche Luft verpestet — verpestet von Verrat! Rein muß ich atmen können! Ich ersticke hier, ich verderbe in dem Dunst — ich will nicht verderben!
Und wieder suchen seine Blicke die Landzunge. Da steht sie noch immer die weiße Gestalt und schaut auf die See. Jetzt haben die Augen das sichere Bild. Kein Trug — Ingeborg ist es. Zu ihr will ich! In ihrem Schein gesund mich atmen.
Er wandert mit eiligen, mit festlichen Schritten. Sein Leuchtfeuer zieht ihn, ruft ihn, grüßt ihn. Er steigt die Dünen hinan, klimmt dann den Abhang empor.
Da oben steht sie. Und sie sieht ihm entgegen, als habe sie ihn erwartet. Sie streckt ihm die Hand zu. Die Freude ihres Blickes trübt sich, da sie von seinen Zügen das Unheil abliest. Und er sagt ihr, was geschehen ist. Dann, da er seinen Trost findet in dem treuen Druck ihrer Finger, in dem feuchten Glanz ihrer Augen, schüttet er sein Herz ihr aus.
Immer mehr löst sich von mir, eins nach dem andern fällt von mir ab, vereinsamt bin ich in meinem Heimatland, kraftlos — was bin ich ihm nutz? Kann ich so dem Vaterlande dienen?
Und immer klarer spricht er so zu sich selbst. Ich brauche meine Kraft! Wo kann ich sie wiederfinden — wo als in der nordischen Gastfreundschaft! Da werd ich gesund und stark, von da werd ich zurückkehren mit ungetrübtem Wikingermut. Frei von allem, was mich hier lähmt — selbst frei und ein Befreier!
Sie sitzen beieinander, Ingeborg und Horst. Die helle Zaubernacht ist um sie. Er birgt sich in den Glanz ihrer Flechten, wie in einen Goldpanzer hüllt er sich, allem Trüben, allem Düstern, allem Üblen und Niedern eine Wehr. Er nimmt ihre Hand. „Wenn Sie wollen, höre ich nun doch noch in diesem Sommer das Summen unter Ihren Linden.“ Da sind ihre Augen voll Seligkeit.
Den Feinden der Siedlung war das neue Haus ein Dorn im Auge. Es schwoll ihr Zorn, je höher es wuchs.
„Steinerne Zwingburgen errichten sie“, so lärmten die Schlagwörter in dem Konvent. „Und Zwingburgen werden niedergelegt!“ forderte die Nutzanwendung.
Es war ihnen bekannt, das eine hochnotpeinliche Waffensuche unter Aufsicht von Ententeoffizieren den Kreis bedrohte.
„So wissen wir also, wo wir unsere Handgranaten zu verwenden haben — ehe sie uns genommen werden!“ rief Kittel, der Buchbinder, und gellend pfiff der Atem aus seiner schmalen keuchenden Brust.
Stahlboom wandte sich dagegen. Er wollte alle Waffen aufgespart haben für die große Aktion, die bevorstand. Die Suche gälte auch nicht ihnen, den Proletariern, sondern den monarchistischen, den reaktionären Banditen. Sie selbst dürften beruhigt sein. Da sprach einer ein Wort furchtbarer Wahrheit: „Wenn die Verräter nicht wären! Wer ist jetzt in Deutschland vor Verrat sicher?“ Und das Grausige, das hier aufschrie, verwilderte wiederum die Gemüter.
Die Wüsten waren nicht zu bändigen. Das Richtfest am nächsten Sonntag — sie wollten ihren Trumpf daraufsetzen, es sollte den Siedlern gesegnet werden! Und der schwarze, der blutige Sonntag vom Mai würde seine Sühne finden.
Die Siedler arbeiteten mit verdoppelter Kraft. Zu früh war der Termin für die Richtung des Hauses angesetzt worden — es war ihr Ehrgeiz, ihn inne zu halten. Alles, was die Seelen bewegte und erregte, der Tod Gisberts, Horst in seiner Verschlossenheit, die zur Abkehr und Abweisung sich schärfte und anfing böses Blut zu machen, die Reibungen, Quertreibereien, Scheidungen und Zerwürfnisse innerhalb der Baracke — alles ward dem einen Gedanken untertan, dem Gedanken an das Haus und seine Vollendung.
Ein großer Tag sollte es werden. Alle, denen das Siedlungswerk etwas bedeutete, sollten mit feiern. Was einer an Freundschaft hatte, wollte er bitten, jeder Biedermann sollte geladen sein. Ein Volksfest! Mit eifriger Hingabe sie alle bei der Vorbereitung. Kein Wort gab es, das nicht von der Richtfeier sprach. Wie Kinder vor dem Weihnachtsfest waren die Männer.
Horst berief Dankwart und Kunz zu einer Unterredung. Er sprach ohne Umschweif, mutig und frei. Die schweren Worte wurden von einer harten, hellen Entschlußkraft wie emporgeschnellt. „Ich gebe mit dem Richtfest das Siedlungswerk in Eure Hände. Ich hab mit der Gründung meine Kraft aufgebraucht. Ich kann hier nicht mehr wirken, nichts mehr leisten, ich bin nur noch im Wege. Erst muß ich mich selbst erneuern. Das kann ich nicht in dieser Luft. Darum will ich eine Zeitlang außer Landes gehen. Meine neuen schwedischen Freunde haben mich eingeladen. Ich fahre mit ihnen.“
So weit war er also! Die Kameraden hatten ja sein Wanken gespürt. Daß er jetzt ganz von ihnen wich, daß er sie und seine Sache verlassen wollte — wenn sie es auch in dunklen Stunden gefürchtet hatten, jetzt traf es sie wie ein jäher Schlag. Keinem von den beiden lag es, zu klagen, zu jammern, zu bitten, ob sie gleich wußten, was über die Siedlung hereinbrach. Waren sich auch wohl klar darüber, daß mit Flehen und Winseln hier nichts zu schaffen sei.
Dankwart, finster, sprach in sich versunken ein klanglos leeres Wort: „Das ist sehr zu beklagen.“ Kunz, beweglicher, weiter greifend, heftiger: „Dann können wir hier also einpacken!“
„Was heißt das!“ Horst lehnte sich dem entgegen. „Das Werk bleibt. Und wenn ich nicht bleibe — jeder ist zu ersetzen. Vielleicht ist es meine Sache, etwas anzuregen, etwas in die Wege zu leiten. Aber es fest an der Hand zu halten — das ist mir offenbar nicht gegeben. Ihr seid die Stetigen, die Beharrlichen, die Harten — führt Ihr das Werk weiter.“
Kunz war in die Höhe gesprungen. „Ob das wahr ist, ob das falsch ist — ich habe die eine Frage, die Du immer gestellt hast! Wo bleibt das Beispiel, frage ich! Bist Du es nicht, auf den alles blickt!“
„Man blickt auf mich, sagst Du — nun, so wie ich bin, darf ich mich nicht länger zeigen. Ich muß wieder anders werden — ehrlich will ich mich darum mühen. Ich will ja auch nicht für immer fort.“ Und nun schlugen seine Arme wie gehemmte, verschnittene Flügel. „Nur ein Ausflug soll es sein — aber ich brauche den Flug!“
Darauf Kunz, seine Stimme pfiff wie eine Klinge: „Horst — Du kommst nicht wieder.“ Hierin war soviel Klage, soviel Zorn, soviel Schmerz, die Männer zuckten zusammen, alle drei. Und ein Schweigen schloß sie ein.
Horst riß sich auf. Eine leichtere Haltung gab er sich, einen lächelnden Ton. „Wenn Du es sagst —! —“ Aber es zersprang etwas in ihm. Ein Schmerz schnitt ihm durchs Mark. Und brüchig ward, was er weiter sprach, aber er gab nicht nach. „Dies das Hauptsächliche. Meinen Entschluß kennt Ihr. Das einzelne besprechen wir noch.“
Er hatte Bestimmungen zu treffen, der Tagesdienst holte ihn. Dankwart und Kunz blieben allein.
Beide starrten sie, dumpf, hohl, düster. Dann stieß Kunz rauh und krächzend hervor: „Wie die Siedlung erschlagen ward. Kein Heldenlied ist dies.“
„Gut.“ Dankwart hat sich schmerzlich fest wieder beisammen. „Wir stehen auf verlorenem Posten. Aber Posten ist Posten. Und wir halten ihn. Bis in uns nichts mehr hält!“
Jetzt ist Kunz an seiner Seite. „Ja, Dankwart, ja. Die Sache will es. Wir wollen es. Und so geschieht’s! Mag denn die alte Siedlung zusammenbrechen — eine neue gilt es zu schaffen. Und dann also lustig! Mit dem Großreinemachen zu Hause fangen wir an.“
Auch Dankwart rief es zu der Arbeit. Sein letztes Wort, heiser und bitter, war das: „Und auch hier wieder ein Weib!“
Ingeborg — der Gedanke war bei Kunz gekommen und gegangen. Jetzt saß er fest bei ihm. Natürlich war sie es, die den Ausschlag gab.
Und seine eigene Liebesnot packte ihn immer grausamer an. Hatte er nicht sein Mädchen verloren! Verloren, da er nicht gleich den Weg zu ihr gefunden, da die Stunden, die ungenutzten, immer mehr Hindernisse aufgebaut, immer mehr an Trotz und Scheu. Konnten sie beide noch hinüber — und wollten sie es noch? Das war ja das Schlimmste: wollten sie es noch? War nicht das Köstliche gestorben?
Und gegen Horst wandte sich seine Wut. Du verstehst es, Dir es besser zu bereiten. Was habe ich früher gefabelt von Deiner Weiberfestigkeit, Deinem Weiberstolz — alles, alles bitt ich Dir ab! Wer so wie Du Gelegenheiten wahrnimmt! Wer wie Du in allen möglichen Sätteln gerecht ist!
Wie hast Du um Lona Dich angestellt! Und jetzt, wo das schöne blonde Schwedenmädchen Dir in den Wurf kommt — dieses weiße, blonde, und dieses reiche, dieses reiche, ja!
Er suchte sein Ventil, in seine Reimereien giftete er sich hinein:
Den einen nahm der Brahmaputra —
Den andern langt sich die Valuta.
Und entgiftete sich wieder, denn hier erschrak er nun doch vor sich selbst, vor des Hasses Häßlichkeit.
Nein, Horst — das ist es nicht. Soweit ist es nun doch nicht mit Dir. Aber ist es nicht weit genug? Und kommt nicht eins zum andern!
Ist es nicht genug, daß Du von uns gehen willst! Uns im Stich lassen — ja, ja, so nenn ich es! Uns untreu werden und Dir selber.
Wie habe ich immer zu Dir aufgeschaut! Und was bist Du mir gewesen! Wohl, nicht immer war, was Du tatst und ließest, mir nach dem Herzen. Aber die große Linie Deines Wesens — wie zwang sie mich immer wieder zu Dir hin. So gut wie sie alle bezwang, wie sie all unseren Kräften die Richtung gab, das gemeinsam starke, gemeinsam freudige Ziel.
Nun ist sie verbogen, geknickt, gebrochen. Da Du Dein eigenes Werk verläßt und verrätst. Ja, und tausendmal ja, verrätst! Ein Fahnenflüchtiger bist Du! Nichts wird hier beschönigt, verschleiert, bemäntelt. Ein Verräter bist Du! Und Dein Werk geht an Dir zugrunde.
Dankwart und ich, die wir bleiben — er hat es richtig bezeichnet, auf verlorenem Posten stehen wir. Und das Beste unseres Lebens wird hier zerschellen.
Nicht steht es in unserer beider Macht, was Du vermochtest, als Du noch bei Dir und auch bei uns warst, das Auseinanderstrebende, das sich Widerstrebende zu binden! Gewiß, daß dies das Höhere, das Größere war! Wir beide, wir werden zerklüften, zerreißen — der Kampf im eigenen Hause, das ist es, was wir bedeuten! Aber hast Du nicht selbst gesagt, ein Kleindeutschland soll dies hier sein! Nun, so sei es das auch ganz, mit der vollen Zerrüttung im Bruderzwist! Der Wahn eines wilden vernichtenden Hohnes brach aus seinen Augen.
Wir werden unterliegen, gewiß, denn die Masse siegt. Aber besser untergehen, als Masse sein! Die Mulitz und Metzling werden uns zu Boden treten — sollen sie! Aber Dir werden wir es gedenken, denn dies alles danken wir Dir! Und wieder ruft es in ihm: Verräter! Wilder und wilder brausen in seinem Schädel die Flammen, der nur noch mühsam in seinen Nähten festsitzt. Von der Hirnwut, die durch die deutschen Lande rast, befällt es auch ihn. Und es wühlt sich etwas in ihn ein.
Sichtbar sind wir, wir haben die Pflicht der Höhe! Er hat es immer am meisten gepredigt, mit Brustton verkündet, er, der uns jetzt im Stich läßt. Der jetzt sich in Sicherheit bringt, der ins Ausland flüchtet, vor der wachsenden deutschen Not. Ein Verräter!
Und wir — wer sind wir, die wir den Verrat in unseren Reihen dulden! Nein, nicht in unseren Reihen! Den Verrat unseres Führers! Sind wir damit nicht seiner wert! Sind wir damit nicht schuldig wie er!
Verräter wie er, wenn wir ihn ziehen lassen! Und es frißt sich ihm ins Blut: er darf nicht fort! Und wenn es auf Tod und Leben geht — er darf nicht fort!
Was wär bei den Römern geschehen, was bei den alten Germanen! Sollen wir der Väter nicht würdig sein — heut mehr als jemals! Sollen unseren Jungen nicht Vorbilder leuchten! Und sie blicken auf uns! Auf mich! Ich habe meine Sendung.
Das Unerbittliche brauchen wir. Das Unerbittliche. Jetzt, wo alles fließt in Deutschland, fließt und zerrinnt. Wenn nur einer hart ist und treu! Ein Kern nur — ein Kern wird gebraucht — und sei er noch so klein!
Richtfest ist am Sonntag. Das Wort brennt sich ihm in die Sinne. Richtfest — Gerichtstag wird gehalten! Wir werden richten! Ich — ich! Wie ein Wächter steht Kunz, ehern, in Gluten gehärtet. Das Herz leer, dem die Freundschaft starb, dem die Liebe verklang.
Die Siedlermannschaft erfuhr nichts von dem Entschluß des Führers. Nach der Einweihung sollten sie es hören. Daß etwas in der Luft lag, verspürten wohl die feineren Nasen. Aber man hing dem nicht nach. Die Festgedanken fieberten durch die Seelen.
Und jetzt zieht der festliche Sonntag auf. Noch die Nacht hindurch haben sie gearbeitet, das Morgenrot sieht den Rohbau mit dem Dachgerüst vollendet, der Tag gehört der Feier.
Laubgewinde wird gebunden, eine mächtige Krone wird geflochten und mit farbigen Bändern geziert.
Vier von den Männern schleichen geheimnisvoll abseits, verkriechen sich in das Dickicht und üben hier noch einmal das Quartett, mit dem sie die Gefährten überraschen wollen. Die tiefste Einsamkeit sucht Mulitz, der Maurerpolier, der die Kranzrede halten soll. Noch einmal memoriert er, was er mit Benutzung alter Sprüche für die Weihe des Hauses sich aufgesetzt hat.
Die Sonne segnet den Tag. Für die Bewirtung der geladenen Gäste werden noch Tische und Bänke im Freien gezimmert — große Sprünge können die Siedler nicht machen, mehr als Bier wird nicht verzapft, und auch das schon reißt ein übergroßes Loch in die Finanzen. Aber was hilft es, Vornehmheit verpflichtet. Und heute wollen sie einmal alle Sorgen dem Wind vor die Füße schmeißen!
Am frühen Nachmittag soll die Feier beginnen. Als die ersten finden die Jungen aus der Stadt sich ein. Fragen, ob sie noch irgendwie helfen können. Fritz Röder und zwei andere noch haben ihre Kameras mitgebracht. Sie wollen alle Einzelheiten des Festes verewigen und viele Gruppenaufnahmen machen. Damit sind sie besonders willkommen.
Dankwart holt seine jungen Freunde zu sich herein. Sein Modell ist flugfertig. Es soll über dem Bau kreisen, wenn die Weiherede steigt. Ganz hingegeben erklärt er ihnen noch einmal das Neue der Konstruktion. Ebenso hingegeben hörten die jungen Köpfe zu. Wie freuen sich alle auf diese so hohe Überraschung. Wie sind sie getragen von dem Geheimnis, das sie feierlich bewahren.
Siedler empfangen ihre Eingeladenen. Im weiteren Umkreise werden Zuschauer sichtbar. Neugierige machen sich näher heran, andere lagern sich abseits im Heidekraut.
Von Moorhof her kommt eine Frau, schwarz gekleidet, in Begleitung von Pastor Waermann. Die Patronin der Siedlung ist es, Frau Tilde. Wie ein Flor wallt es um sie her. Ernst wird es allen zu Sinn. Verehrungsvoll verneigen sich die Männer. Einer macht sich gleich auf den Weg, Meldung an Horst auszurichten, der in seinem Raum immer noch mit der Ordnung von Schriftstücken beschäftigt ist. Er tritt sofort heraus, den erlesenen Besuch zu empfangen.
In voller Uniform mit Ordensschmuck ist er, dem Tage die Ehre zu geben, wie Dankwart und Kunz auch, wie die meisten der Siedler. Horst trägt nur das kurze Seitengewehr. Dankwart und Kunz haben auch die Pistole im Gürtel.
Horst reicht Tilde still die Hand, bei Gisbert sind ihrer beider Gedanken. Seit er ihr die Nachricht vom Tode des Freundes überbracht, haben sie sich nicht mehr gesehen. Edelsteinhart sind ihre Augen geworden, nur von Pflicht und Arbeit wissen sie. Um ihren beseelten Mund hat ein starrer Zug sich gegraben. Sie versteinert von dem Fluch der Einsamkeit, dem ihr Leben erliegt.
Kunz findet sich zur Begrüßung ein. Horst und er sehen sich heute zum erstenmal. Sie mustern sich wie zwei Kämpfer, kalt, feindlich. Seit Tagen ist kein Wort zwischen ihnen geredet.
Horst spricht mit Tilde, der Pastor mit Kunz. „Warum habe ich Sie so lange nicht gesehen?“ fragt Waermann.
Kunz schweigt. Wo hast Du Vita? will es ihm auf die Lippen. Aber dann denkt er, wie gleichgültig ist dies. Gegen das, was hier geschieht. Und sein Blick greift zu Horst hinüber. Der Pastor sieht diesen Blick, und schrickt zusammen. Was ist mit Kunz? Hier ist mehr als Schmerz und Klage um den toten Freund. Etwas Wildes, grausam Gewaltsames züngelt hier. Etwas wahnhaft Verbohrtes wühlt hier. Und wieder gewahrt er das in dem Blick, mit dem Kunz die neuen Gäste, die Schweden aufnimmt. Was geht hier vor?
Oberst Thorild und seine Tochter sind dem Pastor bekannt, Frau Tilde werden sie vorgestellt. Kunz löst sich von der Gruppe, um die ein gemeinsames Gespräch sich schlingt. Er starrt vor sich hin, in seinem Gehirn ist eine leere tote Stelle.
Dann schweifen seine Augen mechanisch über die Versammelten ringsum. Er sieht ein paar Gesichter, die ihm nicht gefallen — Bekannte, von dem Barackensturm her? Wie ein Schleier liegt es über allem.
Und dann doch die Frage: Was wollen die hier? Wie wach und hell hätte ihn früher dieser Gedanke gemacht. Wie hätte der all seine Kräfte angespannt. Jetzt schleichen sie träge. Nur, daß durch ihn das eine hinblitzt: führten sie doch etwas im Schilde! Käme es doch wieder zu blutigem Kampf! Nur Blut könnte hier heilen! Und würde hier alles zerstört und dem Boden gleich gemacht — vielleicht das beste! Besser ein ganzes Nichts als dies halbe Dasein des kümmernden Werks! Und er selbst wird in dem Untergang begraben und ist frei und erlöst, ist ledig aller Pflichten — aller Taten —
Ein Schleier liegt ihm über der Welt, ein rötlicher Dunst ist über den Dingen.
Der alte Torfmeister wuchtet zu ihm her — spricht gewaltig auf ihn ein — seine Ohren dröhnen, die leere Stelle in seinem Hirn füllt sich mit tosenden Schmerzen — er nickt benommen zu allem, was er hört, und weiß von nichts und starrt in die verschleierte Welt. Den Schleier zu zerreißen — mir liegt es ob!
Jetzt tritt Mulitz, der Polier, zum Bericht vor Horst. Es sei alles für die Feier vorbereitet. Wenn es recht sei, könne sie beginnen.
„Dann wollen wir also!“ bestimmt Horst. Wie matte Bronze ist sein Gesicht, verbissen sein Mund, um seine Augen sind Schatten, aber er ist fest und bereit.
Und bereit ist auch Kunz.
Zwischen Ingeborg und Oberst Thorild geht Horst, da sie nun alle zum Neubau wandern. Die beiden wissen, wie Schweres er trägt. Es ist abgemacht, daß sie gleich nach der Feier abfahren. Die Segeljacht ist bereit. Ihre Koffer haben sie gepackt. Aber sie wollen nicht daran erinnern, nicht davon sprechen.
Doch Horst bringt selbst die Rede darauf. „Darf ich fragen, Herr Oberst, ob es bei dem Reisetermin bleibt?“
„Wenn Sie einen Aufschub wünschen —“
„Aber ich bitte. Meine Sachen sind geordnet. Ich bin freudig dabei.“
Ingeborgs Augen strahlen zu ihm empor.
Sein Führerblick übersieht den Kreis. Ganz dahinten — eine besondere Gruppe fällt ihm auf. In ihr ist lebhafte Bewegung. Einer redet jetzt eben — gestikuliert verzweifelt — ein anderer beschwichtigt — hält zurück — bändigt — beschwört. Die Köpfe sind nicht zu erkennen. Doch nach der Haltung, der Bewegung, der Gestalt — der Bändiger, der Lange, ist das nicht Stahlboom? Die Kommunisten — was wollen sie hier? Bereiten sie sowas wie einen Anschlag vor? Er behält sie im Auge.
Hat die schwarz-weiß-rote Fahne sie erregt, die eben über dem First des Neubaus an dem Flaggenmast in die Höhe steigt, von Sonne und Wind mit Jubel gegrüßt?
Von der Baracke her ist Dankwart mit den Jungen erschienen. Sie tragen sein Flugzeugmodell. Auf die Goldberge steigt er mit ihnen und bringt den Apparat in Stellung.
Vor dem Hause machen Mulitz und der heilige Josef die Ehren. Die Versammelten — eine große Schar ist es geworden — stellen im Halbkreis sich auf. Der Polier will ins Haus, will das Gerüst unter der Krone besteigen und die Kranzrede halten. Da, wie jetzt das Schweigen sich über sie breitet, knattert ein Automobil in der Nähe. Sie horchen auf. Kommt noch hoher Besuch?
Jetzt hört es sich an, als wolle es auf der Straße, die man von hier aus nicht sehen kann, vorüberfahren. Dann hält es. Dann nimmt es eine neue Richtung. Jetzt kommt es querfeldein über die Heide. Wen bringt es? Uniformen blitzen darin.
Das Gelände wird sandig und hüglig. Der Wagen stockt und steht. Die Insassen steigen aus. Ententeoffiziere. Ein französischer, ein englischer Hauptmann. Sie schreiten auf die Versammelten zu. Zwei französische Sergeanten hinter ihnen.
Ein Todesschweigen über all den Menschen. Eine Stille ringsum, als halte die Welt den Atem an. Als drehe die Erde sich nicht mehr. Nur die schwarz-weiß-rote Fahne rauscht im Winde.
Der französische Kapitän, geschniegelt, kokett, bewußt, der Rangälteste und Wortführer, greift sich mit den Blicken Horst heraus, den er gleich als die leitende Persönlichkeit erkennt. Mustert ihn, in seiner deutschen Offiziersuniform, mit unverschämten Blick, von Kopf zu Füßen. Erklärt dann in einer Art leutseligen Gesprächigkeit: sie hätten heute am Sonntag eigentlich nur einen Vergnügungsausflug vorgehabt — à votre océan — und die Frechheit ist wieder obenauf. „Mais maintenant votre noir-blanc-rouge nous a attiré. On revient toujours — vous savez — à ses premières amours!“ Horst steht kühl, aufrecht, in voller Höhe vor ihm und würdigt ihn keiner Antwort. Sein Blick ist dem Franzmann unangenehm. Er weicht ihm aus und spricht jetzt herrisch und giftig: da sie nun einmal hier wären, wollten sie „das Nützliche mit dem Angenehmen“ verbinden — er schlägt mit dem Handstock seine Ledergamasche — und hier an Ort und Stelle gleich die Waffensuche vornehmen. „S’il vous plaît“ — wendet er sich an den Engländer, der schläfrig dasteht und aus seiner kurzen Shagpfeife pafft. Kaum hält er es für nötig, mit dem Kopf zu nicken oder ein „yes“ zu kauen.
Der Franzose sieht sich im Kreise um, er mustert das Publikum bei diesem Schauspiel, dessen Hauptheld er ist, da trifft von den Goldbergen her ein Flimmern sein Auge. Das Flugzeugmodell blitzt in der Sonne.
Er setzt den Feldstecher an. „Ah — un modèle d’aéroplane! voilà des essais, qu’il faut surveiller avant tout!“ Er wendet sich an den englischen Hauptmann — „vous arrange — t-il?“ — und schreitet auf die Höhe zu. Der Englischmann grunzt und bleibt an seiner Seite. Die Sergeanten folgen.
Horst auf anderem Wege überholt sie. Dies alles geht ihn natürlich zuerst an. Kunz ist an seinen Fersen. Der eiserne Ring, der ihm um die Brust saß, ist gesprengt. Eine neue Tonart spielt das Leben. Er kann wieder Luft holen. Er trinkt sie tief in sich ein. Bis in den Hals schlägt ihm das Herz.
Mit Dankwart zusammen nehmen Horst und Kunz die Feinde in Empfang.
Die Menge ist an den Fuß der Goldberge geströmt. All die Köpfe sind gehoben, all die Gesichter, die Augen glänzen auf zu der Höhe. In allen Herzen klopft es: was wird geschehen? Daß hier etwas geschehen wird, sie fühlen, sie wissen, sie fordern es alle. Und so sind sie einig, geschlossen, eine große Gemeinschaft in diesem einen Gefühl. Von Pastor Waermann, dem Freiheitshelden, bis zu Stahlboom, dem Kommunisten — in Frau Tilde, in Oberst Thorild, Ingeborg, dem Torfmeister, in allen Siedlern, allen Geladenen und Ungeladenen — in allen, allen pulsen die Nerven denselben Takt.
Auch in den frommen Wallern, die heute wieder erschienen sind — zuerst haben sie sich gesondert gehalten und ferne — in scheuer Andacht — wie eifersüchtig auf ihre Sehnsucht — jetzt rücken sie näher — und bald werden sie sich ganz dem großen Chore einverleibt haben. Ist nicht in allen dieselbe Not, dasselbe Gebet? Werden nicht die vielen vereinten Hände, geeinten Herzen am ersten das Wunder beschwören? Am ersten ein Zeichen erwirken? Ein Zeichen des Trostes, und wenn nur ein kleines, das Hoffnung gibt auf die Erlösung!
Da oben, eingespannt in den hellen, vollen, harten, wahrhaftigen Glanz der Sonne, stehen sie — deutsche Offiziere — feindliche Offiziere. Im Schmuck ihres Kleides, im Glanz ihrer Waffen, ihrer Ehren. Stehen sich gegenüber — Welt gegen Welt. Was wird geschehen?
Was entspinnt sich da? Der Kapitän besichtigt das Modell. „Instrument de guerre“, erklärt er. „Vous le briserez sur le champ moi présent!“
Dankwart hat dafür kein Wort. Er wendet dem Heischenden den Rücken und legt beide Arme auf die Maschine.
Der Franzose zischt wie eine Natter — packt Dankwarts Schulter — der schüttelt ihn ab, daß er taumelt.
Da, in maßloser Wut hebt der Franzose den Stock und schlägt Dankwart über den Kopf! Dankwart, den Krüppel!
Ein dumpfer Aufschrei preßt sich aus all den Herzen, den Kehlen —
Horst — schon hat er den Burschen am Kragen — holt ihn sich hintenüber — reißt ihm den Stock aus der Hand — legt ihn sich übers Knie und läßt seine Hiebe auf ihn hageln.
Blitzschnell das alles. Der Engländer steht regungslos. Die Sergeanten wollen zuspringen. Die Hand mit der Shagpfeife weist sie zurück. „Fair play!“ Um den breiten Mund ist das Lächeln einer ehrlichen kleinen Teufelei.
Blitzschnell ist es vorüber. Atemlos, im Bann, in verzücktem Schweigen — so haben all die Herzen, die Hirne das Bild getrunken. Sie haben es, sie halten es, verwachsen ist es mit ihnen.
Jetzt, da Horst den Gezüchtigten beiseite geschmissen hat — da dieser mit schäumendem Mund und irrem Auge die Pistole aus dem Gürtel reißt — mit donnerndem Hurra sind all die Siedler den Berg hinaufgestürmt.
Der englische Hauptmann hat den Arm des Verstörten genommen. Sein „we shall see!“ kaut er und führt ihn gemessen den Berg hinunter, zu ihrem Auto.
Ein Jubel hat sich aufgemacht wie eine Windsbraut. Das große Meer des Zornes eines edlen, mächtigen, geknechteten, geschändeten Volkes — hier schlägt es seine Wellen empor, himmelan. Sie klatschen in die Hände, sie umarmen sich, sie brausen, sie taumeln unter Weinen und Lachen. Muz wie ein Feuerrad rast um sich selbst — man sieht nur ein tosendes Rund und sprühende Funken. Ein donnerndes Rollen steigt zum Firmament. Lud Uhlenbrook lacht und lacht aus vollem Herzen — so brüllt das Glück. Außer Rand und Band ist die ganze sonnenselige Welt. Das blanke hohe Himmelszelt spannt sich zum Zerspringen — zerreißt es nicht — bricht nicht ein Blitz aus dem Blau — ein Gottesantlitz?
Horst über ihnen allen, strahlend wie Michael, die Augen geweitet, die Nüstern gebläht, ein unergründlich glückliches Lächeln um den Mund. Noch meiden sie ihn, wie ein Höheres, ein Heiliges.
Dann aber stürzen die Jungen zu ihm. Fritz Röder — will es schreien — und erstickt an seiner Seligkeit — und stößt es dann mühsam aus verschluckten Tränen hervor — „ich hab es geknipst!“ Und zwei andere stammeln „ich auch!“ Und Fritz verkündet es heiser, lallend, zusammenbrechend — „ein Bild ist das — ein Titelbild — für die Geschichte — in alle Lande, in alle Städte, in alle Dörfer soll es fliegen — für die Weltgeschichte — für die deutsche Geschichte — ein Titelbild — ich hab es geknipst —“
Wie ein vom Strick Losgeschnittener steht Kunz. Zu heftig hat sich die hohle Stelle in seinem Brägen wieder gefüllt. Noch blickt er verblödet.
Da schleicht von hinten etwas zu ihm, springt ihn an, drückt ihm die Lider zu mit kindlichen Händen — wer ist es? — was fragt er, da er es fühlt?
Und sein Mädchen schenkt ihm der deutsche Jubel! In seinen Armen hängt Vita und küßt ihn mit fast mänadenhafter Glut. Daß er aufs neue verblödet. Aber plötzlich ist er so hell und gescheit wie noch nie in seinem Leben und packt zu und hält fest. Und ist der bedeutendste und mächtigste aller Menschen.
Und ist wieder der Junge, ganz der Junge — schreit auf wie ein Verrückter — schlägt Purzelbäume, sieben hintereinander und brüllt zwischendurch zu seiner Vita hinüber: „Bin ich dick?“
Dann bleibt er besinnlich im Grase sitzen. Ist das ein Tag — eine Tat. Ich muß sie besingen. Die Welt erwartet es von mir. Ein Heldenepos! Ich hab auch schon einen Titel: der Büchsenspanner Seiner Majestät des deutschen Volkes. Nein, ein Volkslied muß es werden. Ein Kutschkelied. Und soll noch von den Enkeln gesungen werden in allen Gauen.
„Da sprach der Horst, das ist mir Worst,
Und haut ihm, daß die Hose borst.“
Ingeborg ist bei Horst. Sie läßt das Glück ihrer Augen leuchten, wenn es auch schwer dahinter dämmert. Sie packt seine Hand mit beiden Händen. Das wiegt alle Worte auf. Dann spricht sie leise: „Aber nun wird Ihnen hier Schweres bevorstehen.“
„Wer das nicht fröhlich auf sich nimmt —!“ Gleichwohl schweifen ihre Blicke zur See hinunter und etwas in ihnen spricht: da liegt unsere Jacht segelfertig. Du tust gut, Gras wachsen zu lassen über das, was hier geschehen ist! Komm jetzt! Fahr mit uns! Mit mir!
Doch, wie sie das Auge wieder voll zu ihm wendet, erschrickt sie vor diesem eigenen versteckten Denken und Wünschen. Ich würde es selbst nicht wollen, daß Du Dich von hier entfernst! Daß Du mit uns fährst. Ich würde Dich selbst so nicht wollen! Und ein harter reiner Schmerz bändigt ihre Flammen.
Oberst Thorild tritt hinzu. „Ein Wahrzeichen — ein Wappen — eine Fahne sind Sie geworden!“ Seine Augen sind voll Feuer.
„So darf man denn das — Abgedroschene, das Triviale gelten lassen, weil es die stärkste Anschaulichkeit, die größte Bildkraft hat. Dafür werden die Abstrakten im Lande Zeter über mich schreien.“
„Die lassen Sie nur.“
„Und die nützlich Ängstlichen noch mehr. Ich hör es schon in ihren Blättern rauschen. Kostspielig wird die Sache — schädlich verbrecherisch ist Deine Tat! Nur ein Volksfeind konnte so handeln!“
„Die lassen Sie erst recht. Ich sag Ihnen, noch ein Dutzend solcher symbolischen Handlungen, und das Volksgewissen bekommt sein Mousseux, seinen Aufstieg. Ich glaube es lohnt, in diesem Volksgewissen zu leben! Dafür aber, mein Freund — so darf ich Sie nennen — sind wir, Ingeborg und ich, jetzt die Leidtragenden. Da Sie jetzt nicht mit uns fahren.“
„Ich denke, wir werden uns damit nicht verlieren.“
„Niemals. So wie wir uns gefunden haben! Aber jetzt müssen wir Sie mit Ihren Kameraden allein lassen. Leben Sie wohl!“
Mit starkem Händedruck nehmen sie Abschied voneinander. Lange liegt Ingeborgs Hand in der seinen. Dann bleiben ihre Augen nicht mehr fest, und sie wendet sich jäh von ihm.
Horst blickt den Schreitenden nach. Oft noch dreht Ingeborg sich um und winkt mit dem Tuch. Er muß bitter hart die Zähne aufeinander beißen. Wieder ist eine Kraft von ihm gegangen. Wieder eine Saite in ihm zersprungen. Aber, was er noch hat, treu muß er es bewahren, denn es gehört nicht ihm allein.
Und wie er jetzt die Kameraden sucht, da tritt jemand vor ihn hin, ein Unerwarteter. Stahlboom, der Kommunist. Der Feind, mit dem er gekämpft auf Leben und Tod. Der Feind — der Landsmann jetzt, der Deutsche. Reicht ihm die Hand, schnell, hastig — aber Hand ruht doch in Hand. Ob heimlich, wie beiläufig, ärgerlich fast — die Hände haben sich doch gefunden! Wahrhaftig und notwendig! Die Hände und die Herzen! In diesem Zeichen wachsen sie zusammen.
Da leuchtet es nun erst über Horst hin — der Lichtstrahl der glückhaften Erfüllung! Die deutsche Einheit — die Front ihrer Streiter — sie ist kein Traum — sie kann sein — sie wird sein — sie ist! Nur braucht sie ihr Signal! Die rechte Fahne muß wehen! Dafür leben und sterben!
Horst ist mit den Kameraden zusammen. „Ja,“ sagt Horst, „ob Ihr mich bei Euch behaltet? Ob Ihr nicht die Suppe, die ich auch Euch eingebrockt habe, mich lieber allein auslöffeln laßt —! —“ Da lachen all die Siedler laut hinweg, was er sonst noch hätte sagen können.
Kunz packt seine Hand und reißt ihn zur Seite. Und mit einem unbeschreiblichen Blick, in dem ein Bekenntnis liegt voll aller Düsternis und aller Helle dieser Welt, mit seinem lächelnden Knabenmund: „Ich dank Dir auch, Horst — dank Dir, daß ich Dich nicht hab um die Ecke zu bringen brauchen.“
Horst blickt in diese Tiefen und versteht den Freund, und ihre Freundschaft ist geheiligt.
„Und jetzt weihen wir unser Haus! Ihr Jungen, singt Deutschland Euer junges Lied! Wir stimmen mit ein.“
Und zur Sonne empor braust es:
Wir sind die Jungen! Wir sind die Kraft,
jede Faser gestrafft und gerafft,
wir sind die Jungen, wir sind die Frohen,
siehst du die nächtigen Wolken lohen?
Wir sind des Frührots lachender Schein!
Frei sollst du sein!
Wir sind die Jungen — die Herzen fliegen!
Wir sind die Jungen, wir stürmen, wir siegen!
Unter die Füße den tückischen Haß,
seine Ketten zerspringen wie Glas.
Unser Gebet, unser Feldgeschrei:
Frei sollst du sein!
Wir machen dich frei!
Vom gleichen Verfasser erschienen
in demselben Verlag
Die Ecke der Welt
Eine Erzählung. — 5. Tausend.
„Mit großer dichterischer Kraft hat Dreyer hier die Geschichte von einer Frau und drei Männern erzählt, und er erweist sich auch jetzt wieder als ein Meister der Epik, als unerschrockener Seelenkünder. Das ganze Geschehen ist von der herben Landschaftsstimmung des nordischen Küstenlandes umhüllt; im knappen Aufbau der Erzählung verrät sich die dramatische Schulung und die Schilderung erreicht eine seltene Farbigkeit und psychologische Klarheit, die Gabe eines unserer feinsten Dichter.“
(Hamburger Nachrichten)
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Die Insel
Geschichten aus dem Winkel. — 5. Tausend.
„Sieben feine, kleine Geschichten, anmutig in ihrer schlichten, zu Herzen gehenden Art, eine Insel, auf die wir uns flüchten wollen in den Wirren dieser Zeit. Die Naturschilderungen, die nicht breit und platznehmend, dennoch vielfach im Vordergrund stehen, sind von schöner Kraft. Die Skizzen sind liebevoll ausgeführt und haben zumeist einen Humor, der welterkennend lächelnd über den Dingen steht.“
(Eva Duncker im „Abendblatt“, Berlin)
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Nachwuchs
Roman. — 5. Tausend.
„In eigenartiger Weise behandelt Max Dreyers neues Buch das Problem, das nach einem an Blutopfern überreichen Kriege für jedes Volk das wichtigste ist: Die Frage nach dem Ersatz für alle die Jünglinge und Männer, die ihr Leben dem Vaterlande hingegeben haben. Kräftiger Realismus vermählt sich in dem packend geschriebenen Roman mit einer den feinsten Seelenregungen nachspürenden psychologischen Kunst.“
(Hannov. Courier, Hannover)
Vom gleichen Verfasser erschienen
früher in demselben Verlag
Der deutsche Morgen
Das Leben eines Mannes
15. Tausend.
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Ohm Peter
Roman
18. Tausend.
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Lautes und Leises
Ein Geschichtenbuch
11. Tausend.
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Strand
Ein Geschichtenbuch
3. Auflage.
Einen ausführlichen Prospekt über die Werke von Max Dreyer liefert jede Buchhandlung oder der Verlag kostenlos.
Anmerkungen zur Transkription
Die Schreibweise der Buchvorlage wurde weitgehend beibehalten. Offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):