Title: Lebenstag eines Menschenfreundes
Author: Wilhelm Schäfer
Release date: January 21, 2025 [eBook #75169]
Language: German
Original publication: München: Georg Müller Verlag, 1920
Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.
Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt; der Schmutztitel entfernt
Wilhelm Schäfer
Georg Müller Verlag München 1920
12. Tausend
Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München
[S. 1]
[S. 3]
Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch, und die Augen forschen an der Zimmerdecke.
[S. 4]
Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm — allein und lange, während die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt; als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint. Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle.
Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die Sonntagskleider an und müssen — als fremde Männer in schwarzen Röcken und Hüten kommen, den Vater zu holen — mit hinunter über die dunkle Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube messen will.
Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli[S. 5] eines Abends schnell bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal, aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh, bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele allmählich Straßen in die fremde[S. 6] Unermeßlichkeit, darin die Türme des Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige Sicherheit seiner Welt.
Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß. Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher, wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank, die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch den Garten zurück ins Haus.
[S. 7]
Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte.
Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus, sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand, wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.
Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke des Pfarrhauses so eingebaut, daß[S. 8] durch die breiten Fenster von Süden und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen, wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben.
Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf. Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist. Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen, sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder mischten,[S. 9] und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum Gesang der Gemeinde.
Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert, niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt, bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter; und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf — wo der Pfarrer freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder, der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes nicht mehr gern.
So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise[S. 10] Trennung amtlicher Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.
Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei; dieser Weber[S. 11] aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem Unglück dieser städtischen Neuerung — es ist das einzige, was Heinrich Pestalozzi von seinem Unwillen versteht.
Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen, von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht. Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da gesteht sie ihm, daß die Verwandten[S. 12] in Richterswil ihr das schon damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht, sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen.
Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt, ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in die Hausschule.
Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht ihm noch einmal mit dem Finger[S. 13] und überläßt ihn den Kindern, von denen er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der — als er den Namenszettel gelesen hat — die Magd für die Frau Pestalozzi selber hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm, der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen, auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen zusammen raffen.
Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand — da er sich vor den andern schämt — als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen[S. 14] nichts mehr machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen.
Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel. Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind wird.
Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und dem die richtigen Antworten meist erst[S. 15] auf dem Nachhauseweg einfallen, ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie nicht in ihren Hänseleien.
Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben, und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken, wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und — als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter dem steinernen Brunnenmann aufrichtet — nur noch sehen kann, wie ein Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt.
Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein handfester Weibel die Stubenwelt der[S. 16] Witwe Pestalozzi regiert, duldet dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg.
Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt der Mutter legt, die[S. 17] — als Susanna Hotze in Richterswil bei den wohlhabenden Brüdern aufgewachsen — ihre bescheidene Lage niemals als Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält; so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja, so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für die schaffende Martha aufzustehen.
Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat, sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder, den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit ihrem Hausrat her — das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken, und die Mutter führt die Brüder an der Hand — am steinernen Rathaus hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt. Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis[S. 18] drüben, von wo der Zürcher Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um die Ecke ziehen.
Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug gedrängt.
Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt Pestalozzi noch[S. 19] auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts behaupten.
Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten, sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht hat, sagt er[S. 20] strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen; es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch etwas Rechtes aus ihm werden könne.
Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei, das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst, nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten. Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde eingehürdet.
Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen beschlagen sind, bringt er[S. 21] sie mit allen Kräften doch in die Riegel. Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande abzuhelfen!
Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt. Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht, sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel auf: auch einmal[S. 22] so in einem Dorf Seelsorger zu werden — womöglich in Höngg selber — den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein.
Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst, wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar — der er doch ist —, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein; so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in ein feindseliges Verhältnis[S. 23] zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse bloßstellend.
Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri Wunderli von Torliken.
Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit:
Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt. Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem Buben eine bessere[S. 24] Bildung mitgeben und bringt ihn — der einen klaren Kopf hat und gern lernt — in die Lateinschule, wo er, älter als die andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken, daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will.
Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit[S. 25] Linealen herum; einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt. Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein, die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die Mutter wehrt ihr und streichelt ihn.
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Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben, als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der Knaben hinweg.
Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht, wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden und teilweise bluten — einer liegt leichenblaß seitwärts allein,[S. 27] weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat — muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus, wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen, aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung, die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist, nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten.
Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er so spät[S. 28] käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte.
Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist.
Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen, windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im Gestänge. Es ist so laut in[S. 29] der Stube, daß der ihn nicht gleich bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl.
Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise, dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube. Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre. Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr los aus seiner Unabwendbarkeit.
Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm[S. 30] war: nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt, um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand gefunden hat — es darf nur das Liebste sein, was er besitzt — hindert Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen:
Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht, das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?
Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer gefallen ist — auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen — zu dem Knaben in die[S. 31] Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht.
Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören, als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem Abendrot das Blut ausgetrunken.[S. 32] Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt.
Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken: die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd — er geht nun schon an die siebzig — die Treppe hinuntersteigt, die Kranken der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit[S. 33] bücken; wie auf der Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme — daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt — über den langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner Knabenpläne einsieht.
Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers[S. 34] sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt?
Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände[S. 35] haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die Erbschaft der Jahrhunderte — wie die öffentlichen Einrichtungen der Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch — von Menschenhänden in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert. Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen.
So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist, die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei das[S. 36] römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er, von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht. Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der Bürgermeister[S. 37] in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften versinken.
Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno, die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater, daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er — mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge — der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten, und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium hinaus reiten in den Tod.
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Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun, was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang weinend vor Glück an der Limmat hin.
Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die stattlichen Zunfthäuser und der[S. 39] breitbedachte Rüden am Stücklimärt, wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat.
Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt.
In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen, und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen Kletterei an der[S. 40] Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er, als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest, als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht gerade eine Reiterfigur macht.
Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind, kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das Schiff unter ihm[S. 41] fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt, ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt, das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen, den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden für Heinrich[S. 42] Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich der Knabe naß vom Leib gerissen hat.
Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die, denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in die Singstunde kommt oder der Provisor Weber — der selbe, der sich einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte — dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen und Sinnen gefällig zu sein.
Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten; so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher[S. 43] unnützen Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen, die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die — wie er danach noch tiefer erfahren soll — durch nichts so sehr als durch das Grauen des Todes angeregt wird.
Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu denen weither die Berühmtheiten[S. 44] angereist kommen. Namentlich Bodmer mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis, trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder.
Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis zum Steuer bewimpelt.
Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des[S. 45] »Emil« — wie das Buch heißt — ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft, besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen, ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich, der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen, die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet.
Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem[S. 46] Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich selber wie eine Fahne aufrollt.
Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der Bodmer genau auf das Herz getippt hat.
Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die Limmat hinaus[S. 47] gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten, indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären. Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers, der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen, daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört, glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken.
Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi, daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der vaterländischen Geschichte.[S. 48] Einer der Männer, die ihn zu Anfang angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die stark strömende Flut der Erregung bleibt.
Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen, und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen,[S. 49] nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer, schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren, sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen. Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein.
Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat, und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl, von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein — vom Nachtwächter verscheucht — zum Roten Gatter hinaufgeht, geben die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an[S. 50] dem Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe.
In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule.
Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl, daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde; aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist ihm die Strenge recht.
Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem Bluntschli zu hastig mit[S. 51] den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht, als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden, die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt, auch der Leser.
Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht, daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land, und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen können, bläst er ihnen[S. 52] schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht. Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit seinem blassen Zorn in Gefahr bringt.
Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd, wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen müsse,[S. 53] gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick, da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt er das Buch enttäuscht aus der Hand.
Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die Hand und springt ihm nach.
Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art, mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der[S. 54] heidnischen Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht allgemeinen sind unnötig!
Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und, wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher!
Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen zwischen den Beeten gebettet wird. Da[S. 55] liegt sie auch diesmal, als er um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt. Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich, als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen!
Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli, wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit des Alters eine Vorliebe für gelehrte[S. 56] Studien gefaßt und sitzt über seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden dürfe.
Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem Abend — vom Großvater heimlich hingelegt — die Verordnungen für das gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren[S. 57] übergeben sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen:
Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb- und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt[S. 58] und dem Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat.
Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen, nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden, als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger aus der Gerwe[S. 59] erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte.
Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen, aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager, was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein: Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten. Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl der beschuldigte Landvogt[S. 60] Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre verbissenen Gänge weiter wühlt.
Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf, das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich, als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe — hier läuft das Babeli weinend aus der Stube — wäre ihm unerträglich; er wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als das Bärbel ein Licht[S. 61] bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet.
Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig, nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist Rousseaus »Emil«.
Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten!
Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen, daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort, dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen[S. 62] beschützt hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm, als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen, daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat, so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und sieht, daß sie recht hat.
Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi[S. 63] noch immer mit dem Buch dasitzt und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt. Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend, die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt.
[S. 64]
Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da, auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer.
Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk, und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht[S. 65] von der Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis, den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand der städtischen Welt.
Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern dem menschlichen[S. 66] Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt, der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der Sache fremd.
Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß, wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte — zumal von seinem Bruder Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen — und immer tapferer wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen:
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Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann, sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art, die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur zu Äußerungen[S. 68] des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen.
So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage- und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung des Lebens — und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem Geheimnis der Welt ginge — während alles Denken nur indirekt, eine Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei!
Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum[S. 69] Leben seien, auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt, der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse, in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert.
Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück, den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch Heinrich[S. 70] Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz bestätigt.
In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet, noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen!
Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur[S. 71] daß er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich Pestalozzi — der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist, um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein — in einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf, wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht, für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen — am Ende aber ist es wichtiger, was wir gewesen sind!
Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf seine vorgebeugte Art davon. Heinrich[S. 72] Pestalozzi kommt nach Haus, als ob er aus dem Jenseits wiederkehre.
Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli — einem Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn begonnen hat — geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will. Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung durchhält.
Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen Gelegenheit, die spartanische Tugend[S. 73] zu erproben: Schon in der deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der — ein Jahr älter als er — jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist. Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird. Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien!
Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer, als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein[S. 74] ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich so weit vergißt, hat — wie der Bluntschli sagt — aus dem Schwert der Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und verweigert wie die andern den verlangten Eid — nichts von der Sache zu wissen — mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich für verpflichtet halte.
Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen »übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer Verwarnung davon.
In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in[S. 75] dem besonderen Sinn zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins; weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in die Welt gekommen wäre.
So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis« nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das Babeli dabei — den Großvater[S. 76] hat er gefragt, aber der hat sich nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren — wie er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold, die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte mit dahinein packen zu können.
Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch[S. 77] nicht zu nehmen, und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd, zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat.
Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten, die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend, ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand ansprechen würde.
Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen. Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig[S. 78] haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen, den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand; aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit Gewalt antut.
Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt[S. 79] hätten: aber weil das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit, auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in jeder menschlichen Natur läge — hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen — nicht standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu noch recht sei!
Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab, daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht gebessert: so setzen sie ihm scharf zu.
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Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren, von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen, wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es[S. 81] macht ihn wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner kranken Brust zu steil gewesen ist.
Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche, die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse, dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit geht.
Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli und sitzt fast den ganzen[S. 82] Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer. Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein, und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt.
Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat, legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber, weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt, muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch mit Lustigkeit ins Bett kommt.
Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und mit einem fröhlichen Einfall[S. 83] springt er aus dem Bett. Unten ist noch die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt.
Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert, die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen. Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft[S. 84] und dazu einen Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen, als sie in der kühlen Frühe auszogen.
Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät; doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein Schnitzmesser geraten ist.
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Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon fast wie ein Bauernknecht aussieht — nur daß er jetzt schon drei Finger verwickelt hat — findet er abends ein Buch in seiner Kammer, das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg. Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam. Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben: dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt.
Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er sein Studium aufgeben möchte, weil er[S. 86] doch nicht zum Pfarrer tauge und es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne, nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter — und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig getötet — für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne.
Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen, und Bluntschli sieht kopfschüttelnd[S. 87] seine Einfuhr an. Nachdem er dem Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er, wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden, was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei!
Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es für Torheiten[S. 88] habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander.
Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn herzlich weinend umfängt.
So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist der Theologenschule nun gar nicht mehr[S. 89] zu finden weiß. Er kann es nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht. Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis, mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet, ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun ab peinliche Enthaltung übt.
Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das scheint ihm ein Beruf,[S. 90] den er nun sich und andern mit glühender Liebe ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten.
Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm erkundigt, aber zu ihm gegangen[S. 91] ist er nicht mehr, und nur einigemal Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam. Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich? sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen Bergen auch noch eine Welt ist.
Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte?
Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau[S. 92] ist auf der Flucht nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung; aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken!
Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen Bart — wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar — hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und ungetraut mit einem Weibsbild lebt!
Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das erregte Abendgespräch an allen Plätzen.
[S. 93]
Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt; nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine eigene Bürgerschaft — die das Verdammungsurteil über Rousseau und seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm streitet — die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht, diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht, folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen.
Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht[S. 94] im reinen, wie einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern.
Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi, daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie ihm damals, als er in den Keller[S. 95] fiel. Er ist verzagt genug, seinen Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit einer Tracht Prügel genug tun.
Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt, vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so[S. 96] erlebt er den Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es sonst gewesen wäre.
Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe; gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen: Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel, liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht, daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter, immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt, überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser suchen.
Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch spät abends den Müller auf, und rät[S. 97] ihm, sich selber zu dem Scherz zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen. Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert, aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift »Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme, würden die schärfsten Strafen angewandt.
[S. 98]
Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu.
Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein wird, ist ihm sicher.
Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden, mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den richtigen Abstand von seiner Mitwelt[S. 99] habe, die ihm sonst zu nahe und daher bedrückend gewesen sei.
Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher ein Sterbender wird, von ihr, die — um fünf Jahre älter als er — doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist, dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist.
Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin; einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht. Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht[S. 100] lange vor sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist. Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist.
An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz — Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit drei Jahren auf dem Kirchhof — hat ihn noch einmal aus dem Bett ans Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. — Es ist mein Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten[S. 101] von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir sehen uns noch!
Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht, bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit behutsamen Händen die Augenlider zu.
Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen,[S. 102] daß etwas Fremdes an seiner Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her, wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm eine Zeichnung von dem toten Freund.
Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte.
Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten, lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt er[S. 103] fort — ein Überflüssiger auch hier — und findet sich aus seiner Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren. Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder verläßt.
Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten, sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen, die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick, daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen, der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt.
Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann nicht anders glauben, als daß ihn der[S. 104] besondere Schmerz um den Menalk zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen. Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen, hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne. Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages.
Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig[S. 105] bekränzen. Er hat ihr eine offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit Heiterkeit gesegnet in den Tod einging.
Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen, daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht, als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben Abend verspricht.
Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch[S. 106] Menalk viel Rühmliches von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander stehen — es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln könnten — sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter, den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre Seele sprechen kann.
Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt, aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt.
Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz, und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk beschuldigt, daß er das Gedächtnis[S. 107] an ihn für seine eigenen Gelüste mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt, am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein. Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun!
Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen: Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein[S. 108] Menschenkind in Zürich. Wenn — wie es heißt — Lebensgefährten einander ergänzen sollen, vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er hofft ihr — so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt — aus seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen.
Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein — die Mutter ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen — und sagt dem Babeli, daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem, noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er, aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein bittend, ihn auch endlich absendet.
Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten; und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch, mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den[S. 109] Freund zu verlieren. Aber Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder, alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine Unterredung — die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt, während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens[S. 110] zu überzeugen: als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich — auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen noch hofft — mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi.
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Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf. Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der durch Sachen- und Menschenkenntnis — wie Bluntschli sagte — seinen Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen haben!
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Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört, steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein.
Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt; er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter seinem Fenster eine Nachbarin anspricht — was sie[S. 115] sonst niemals tut — nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr.
Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen und — wie sie sagt — kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater, weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu kommen, läßt ihn keinen Tag zögern.
Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen[S. 116] am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege, es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im Roten Gatter ankommt.
Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt umdreht.
[S. 117]
Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber spazieren geht.
Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen[S. 118] mit allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst.
Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger, der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht. Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt, wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen so begeistert und mit Verständnis anhängt.
Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht, wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo vorher Unordentlichkeit[S. 119] und Armut waren, erkennt er freilich auch, daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei den Berechnungen hilft — wieviel Jucharten für diese und jene Kultur einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen gerecht zu werden — und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt, an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun selber tut.
Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm, ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf, darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist.
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Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes.
Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag[S. 121] nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr dasitzen wird.
Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren, je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre.
Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu[S. 122] antworten, so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten — die im übrigen freundliche Leute sind — nur französisch sprechen; es macht ihm aber Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie seine Zunge über die fremden Silben stolpert.
Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte, vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden. Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht.
Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar nach Môtier hinunter.[S. 123] Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen, den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten — auch Anna, so meint er, ist darunter — aber ehe sich der Komödiant dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus, wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie hinter sich verschließt.
Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln und mit Fäusten gegen[S. 124] die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf die Flucht ging nach der Petersinsel.
Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt er der Anna eine[S. 125] für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr — nach einer neuen Art der Überwinterung — mit doppeltem Abtrag zu verkaufen, dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben: das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er genügenden Unterhalt zu finden glaube!
Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter bliebe.
So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger Betrieb über[S. 126] seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug.
Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei, Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg ins Weiße Rößli am See, wo er sich — um einer geistlichen Tagung willen in Zürich anwesend — mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten: daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein; um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude in[S. 127] Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre.
Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten. Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen Wehmut hin. Dies wird[S. 128] einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als gläubig zu ihren Kindern sein!
Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen. Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend zu machen, sodaß[S. 129] er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß.
In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte, und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären.
Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem Gespräch genug[S. 130] zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend.
Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht — stärker als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer rundum verbreiten soll — hört er hinter sich seinen Namen rufen, und als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war, scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen, so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen Tags hier herumlaufe![S. 131] Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache!
Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker, wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein Haus, einen Brunnen[S. 132] dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen, daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als seinen Nutzen zu haben — was unter Kaufleuten die einzige Moral ist — während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren.
Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht, darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter, der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da, es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu sprechen,[S. 133] sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser. Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen, Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des Landmanns wirklich zu spüren bekommt.
Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles so heimelig bei ihm zu finden — das Bärbel war gerade da — und namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit. Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu[S. 134] kommen. Es dauert zwar noch ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit eröffnet.
Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt, spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen.
Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu[S. 135] allem, was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf, sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf die kraftlosen Hände zu legen.
Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen, bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück, und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie[S. 136] zu beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer geschlossen halten.
Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater — der nun schon Diakonus ist — sich um die Liebenden bemühen, als der wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als der Mutter nicht hart zu begegnen.
Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte[S. 137] hinaus auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur, als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand — die nun ihre Heimat sei — und in ihren Augen, die nicht dunkel und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend, fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne zärtlich scheinen läßt.
Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast.[S. 138] Der sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden. Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen!
Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß dieser Futterklee auch[S. 139] auf steinichtem Boden gerät und das Land für anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als Hausfrau seiner Besitzung walten soll.
Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an ihren Heiratsplänen gewesen — um so mehr, als er mit den Söhnen nicht aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat — und auch die Mutter sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint, den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt der gewollten drei Tage[S. 140] bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren, sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist.
So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen, daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen Herbsttag[S. 141] lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies, daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so vieler Tage nicht zu finden vermögen.
Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest, der ihnen bitter schmeckt — bis sich noch vor der Haustür Hand und Mund zum innigen Gelöbnis finden.
Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt; um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft, liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann, von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner — so nennen sie die Tagelöhner im Birrfeld — dem es mit sieben Kindern übel geht und dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis[S. 142] ohne Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft. Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will — nun kaufe er den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises — schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt und er solle auch keinem andern gehören!
Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen: er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum[S. 143] — da der Märki die Vollmacht des Tanners vorweist — und ist erschrocken über soviel Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht, und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten!
Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna Ärger[S. 144] mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß hinunterläuft.
Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt. Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen — was als ein Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher Rest seiner Beglückungspläne — dann legt er sich hin und bleibt fast eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch gehen, das fühlt er genau. Gleich[S. 145] Trompeten schreit eine Stimme in ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich, und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein; nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll davonliefe.
Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen, wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter die selbstgewählte Pflicht erfüllt.
Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung[S. 146] fühlen läßt. Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache bequemt.
Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses, wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus, aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen — die bis jetzt nur auf dem Papier grün sind — Kinder spielen und auf den Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein Beispiel planvoller Arbeit!
[S. 147]
Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat; als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit. Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh, gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen.
Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder, am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon zum Angeln — seiner Lieblingsbeschäftigung — geeignet glaubt. Sie mögen Bericht nach Zürich gegeben haben;[S. 148] denn an dem Mittag, da sie abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz, sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer, und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen.
Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit[S. 149] die Geliebte für ein paar Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich will deiner Mutter meine Hoffnung sagen!
Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen als die letzten angereiht sind — bald werden sie eins weiter gerückt und in die Kette eingereiht sein — ihm aber ist sie mit der Sorge in die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist, darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um keinen Kreuzer voraus zu sein.
Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi; denn noch am Nachmittag erfährt[S. 150] er, daß über seine Unternehmung die absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält. Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn, und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich, und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach Zürich zurück.
Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend; auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen, aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt, weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte des Bedienten werden damit nicht ausgewischt,[S. 151] und als Heinrich Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe.
Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind ihnen die Beine schon abgeschnitten.
Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist, weiß Heinrich Pestalozzi,[S. 152] daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht, daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen, das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele.
Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht, es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt, erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und blühende Kleefelder, Darlehen und[S. 153] Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an sie kam.
Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt, das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind, Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft, hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals die[S. 154] schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie, und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser Haus bald fertig sein!
Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und zum Frühjahr eingerichtet werden.
Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch.[S. 155] Für die Krappzucht hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen. Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut, und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten Kühe darin.
Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen, und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm, den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr, die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht[S. 156] haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht, was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm!
Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine. Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten, weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf unsere Wanderung scheint!
Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof mit ungefähr hundert Jucharten; doch[S. 157] liegen die einzeln gekauften Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren, wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt, um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber mit dem Gelächter hausieren geht.
Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit Trinkschulden — wie den Tanner, der den Nußbaum fällte — hat Heinrich Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten, da die Felder meist unbebaut[S. 158] gelegen haben, ist der schnurgerade Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen Molesten spüren läßt.
Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner, die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind, das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält,[S. 159] da namentlich Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es damals sah.
Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm mit schadenfrohen Augen entgegen tritt — da haben Sie Ihr Volk, Herr Pestalozzi — und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und verhöhnen soll.
Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild:[S. 160] Dann gehöre ich auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen, die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus, vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft hatten, denen ist es recht, die andern aber — die ihr erobertes Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen — rufen mit mörderlichem Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist, als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann. Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter, von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken Fensterscheiben eingeworfen werden.
[S. 161]
Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben, als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache.
Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite zu biegen,[S. 162] damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich finde, so wüchse es.
Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich, vorsichtig[S. 163] seinem Geist nachzugehen — da richtet sich der Klaus von seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen würdet!
O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen!
Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch wortwörtlich aufzuzeichnen.
Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel, dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen. Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu[S. 164] sein, so werden die spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten.
Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen.[S. 165] Auch hat die kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not, daß ihm seine Besitzung versteigert wird.
Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich mit ihren Brüdern — und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott — daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises, der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll, nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren[S. 166] die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie, um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen.
Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner, die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat, schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein. Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln. Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt.
Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen umlagern und[S. 167] auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen. Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während — das wird ihm sicherer mit jedem Tag — in jedem dieser Bettelkinder der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen beizukommen.
Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis[S. 168] seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben: verkaufe, was du hast, und gibs den Armen!
Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort, daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert — der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an der Hand herbei holt — nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir Frauen wohnen möchten.
Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach des Neuhofs streift, wo die Sorgen — wie jeder weiß — dem vorwitzigen Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines[S. 169] Daseins gegangen sind, sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser, Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft, die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen Menschheit, nicht mehr die meine ist!
Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit seinen Baumwollgeschäften[S. 170] schon unzufrieden waren, lamentieren über den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge. Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses antritt, schlägt er den Widerstand nicht an.
Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die Adern aufzuschneiden, wenn[S. 171] sein Blut für etwas Edles fließen müßte; und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt sie — zum wenigsten im Anfang — auch dieses Los gern auf sich, das ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung seiner Natur hat.
Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung[S. 172] gewonnen, dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden, und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer.
Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten Anschauung zu bringen, indem[S. 173] er sie anleitet, über das Gefühl des Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat, wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht, schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten noch den Keim zu wecken.
Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin. Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen, Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin[S. 174] sein Traum in zwei Jahrzehnten gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt, bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da, weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht.
Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit[S. 175] einem phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben, sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof — wie er nun schon im ganzen Aargau heißt — selber seinen Stand auf ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher zu verkaufen.
Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen — ohne daß er es merkt — ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für gute verkauft!
Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt, um die strenge[S. 176] Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig, weil die Bauern — denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder fortgenommen hat — ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von Anfängern liefern kann.
Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist; unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden — sodaß eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt — ist er ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den Rücken gewandt hat.
Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem[S. 177] zum andern läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr auf ihren Posten zurück.
Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis von[S. 178] fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung für die dringendsten Schulden zu gewinnen.
Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus, seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt. So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat.
Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den Schlund notdürftig zuzustopfen[S. 179] — wie sie den Neuhof nennen — nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen.
So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe.
Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür am Neuhof zu, die dritte einsame[S. 180] Wanderung dieser Tage anzutreten. Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet; er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler, zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon, sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer — der durch den Burschen Gutes von ihm weiß — ein sauberes Lager angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht.
Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt[S. 181] Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann, löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit denen er die Schuhe zur Not bindet.
Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das Vermögen seiner Frau dabei verloren habe;[S. 182] aber er sei jung und besäße in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle?
Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge, die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber — der gerade Strohwitwer ist — mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt, vermag er schon wehmütig[S. 183] wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder, weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St. Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken, nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt, denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein, doch nicht von den Sternen wäre.
Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt, jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter — der er Nachricht von Basel gegeben hat — ist auch da; sie sitzt, noch schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs Fenster entweicht, tritt auch[S. 184] die Frau von Hallwyl zu ihnen, die unterdessen beiseit gegangen war.
So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt, und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch benutzen, und Hunderte sind ganz frei.
In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die Tabellenfächer die äußere Form[S. 185] bestimmten: es werden lauter einzelne Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft.
Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich und die Seinigen zu ernähren — das sieht er bald — ist es kein Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen. Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet, mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse.
Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli[S. 186] erzählt, der von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre, bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen, daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt: Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme, andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde sich schon etwas für ihn finden!
Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi, den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her, sodaß es für einen[S. 187] Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte, ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen.
Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären. In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn, daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall, bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die Nacht hinein lachen muß.
[S. 188]
Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt: am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden, nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe.
Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen und, soviel er weiß, von dessen Sohn — seinem Vetter — übernommen worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna, die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm[S. 189] und könnten keine Dienste bezahlen! — Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen.
Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit bald zu Ende bringen[S. 190] und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter, sondern auf die Menschenbildung an.
Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse!
So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen: ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat. Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen des Franzosen Marmontel noch[S. 191] aufgeschlagen auf dem Tisch seiner Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon, dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute Gedanken ins Volk zu bringen.
Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen. Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger, die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen.
[S. 192]
Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen; sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist, und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte festhalten könnte.
Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft, wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen mit Haut und Haaren frißt;[S. 193] was nachher dann aus dem Wirtshaus nach Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt.
Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer, und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki — denn niemand anders ist es — nach den Hummeläckern[S. 194] fragt und gleich das Gelächter über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe!
Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will, findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen Gelächter entgeht.
Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem Metzger den[S. 195] Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei.
Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das nicht — wie es scheint — vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden.
Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu gehen vermöchte, von dem Ungetüm los[S. 196] zu kommen: da hat er endlich den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll.
Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten: wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige Vorfälle sehen.
Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs[S. 197] mit seinem Schatz, der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt, der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen: Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal gelingt, ohne Euch richtig zu sterben!
Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung erst sähe, und geht für ein paar[S. 198] Tage nach Richterswyl hinaus, wo sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift, die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber!
Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht[S. 199] hat, auf einen solchen Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung, und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht; und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände, wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen, brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne. Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen.
Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied, als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem[S. 200] Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt habe.
Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer fand.
Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft, und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft.
[S. 201]
Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub, heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt, dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat, obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht, sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat.
Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter Anerkennung in den Neuhof zu schicken.
[S. 202]
Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt, der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen. Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält, ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als noch am[S. 203] selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht.
Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll, bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs[S. 204] wäre, dem Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird, Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der Gesetzgebung Europas darzustellen.
Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt, näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt; er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist: »Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!«
Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen, und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin, der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der Lebendigen[S. 205] zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt, wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe, spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen.
Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! — Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser oder einem Schweinebraten auch!
Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß[S. 206] er mit seinem Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen, daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn, das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes zu hören als von den Gebildeten.
Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen, zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern, Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das ein anderer tut!
Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis seines väterlichen Freundes mitbringt[S. 207] und die nun in den Gärten seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will. Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann. Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden, daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein verschwinden.
[S. 208]
Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen; im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist. So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter ihre Hinterhalte hat.
Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn zu brechen — bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder. Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor einem Spinnennetz; die[S. 209] Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, wagt er die Lisabeth zu rufen.
Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch erlebt — sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in den rotblühenden Klee legen — meint er in dem entsetzten Blick der Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der unvernünftigen Abhärtung — den Knaben von kleinauf, auch im Winter, im eiskalten Brunnenwasser zu waschen —[S. 210] die Erkrankung zuschreiben. Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben, die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren Abschied forthelfen.
Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört, in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung aufzuschreiben;[S. 211] aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse!
So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln, die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und legt ihm von hinten — als ob er ihn umarmen wolle — die Hand auf die Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es näher!
Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen, als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden[S. 212] Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben!
Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur[S. 213] würde er seinem Sohn das Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen, sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten.
Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit einem Gulden herfällt!
Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die Trümmerfelder seiner Mannesjahre[S. 214] wehmütig in die ferne Jugend denkt. Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt, und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen.
Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie alle ähnlichen Mißerfolge nur von der[S. 215] Vereinsamung der einzelnen Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und hochstehenden Persönlichkeiten.
Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können. Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs nächtliche Birrfeld reitet.
Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern flickt[S. 216] und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand. Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen, und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt.
Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten gesollt: nun wachsen[S. 217] sich die beiden letzten Bände von Lienhard und Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen.
Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt hat.
Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung in Basel übernommen worden, um einmal[S. 218] besser als sein Vater für die geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte.
Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da, und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den landfremden Altenteil getrieben haben — wodurch ihm die eigene Mutter scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist — er hört aus den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis, daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich Pestalozzi dessen versieht,[S. 219] ist er in endlose und manchmal hitzige Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst.
Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit, mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn — so sehr es auch verklausuliert wird — gleich einem Verschwender entmündigten.
So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam, als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen, nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will, erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier[S. 220] gelernt hat, und da der Vater Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet!
Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft, weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher, als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule[S. 221] das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht.
Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein Bettler!
Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut,[S. 222] ißt andern Morgens in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern: aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die Atemzüge wert waren, die ich dran wandte!
Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde, so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug, sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten und Suppen für die Landarmen sorgt!
Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen; nun[S. 223] will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern, überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte — er hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt — könnte es garnicht fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der allgemeinen Menschenbildung zu versuchen!
Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände, wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet — wie er als dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu reden — je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt, das Schaukelbrett wegzuziehen,[S. 224] darauf die Pläne seines Gastes gebaut sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen Nachfolger zu setzen wären — Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm — er würde den Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier. Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen!
Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als er gekommen ist — trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn — seine Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen« noch stärken für[S. 225] den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt, mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und seine Pläne auf dem Neuhof ist.
Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue Kaiser seinem Bruder rasch hinterher.
Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der Anna Magdalena Fröhlich von Brugg;[S. 226] im einundzwanzigsten Jahr macht er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt. Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge, denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch Bodmer — den auch nun längst gestorbenen — begründete literarische Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil.
So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich — wie er Heinrich Pestalozzi sagt — seit Beginn der Reise darauf gefreut hat, ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt[S. 227] er ihm bald sein Herz. Der Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn, und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz. Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung, ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte, ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend.
Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er am ehesten abkömmlich ist — wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl nicht[S. 228] ohne Spott beibringt — reist er als Erbbevollmächtigter seiner mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß. Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet!
Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg, Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so komisch er ihre Sprache findet,[S. 229] sie können das Lachen nicht verhalten vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit Gelächter hinter ihm drein laufen.
Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen, daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt; hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern, durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt, mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er[S. 230] zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als man ihn danach fragt.
Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris, von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte.
Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen — den sie unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte am Collegium Carolinum berufen haben — als die Nachricht eintrifft: Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen, Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen:[S. 231] Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden, auch in Zürich.
Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will! Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen!
Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten; während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten, scheut er sich nicht, die Übereinstimmung[S. 232] der christlichen Lehre mit den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach legt.
Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist. Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen Spaziergang gemacht.
Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt — es ist dieselbe Stelle, wo ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte — muß er an den Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei[S. 233] den Kaiserlichen zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung, der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung der Zukunft kommen kann.
Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen: Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und allein aus der[S. 234] Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre, daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren. Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres Geistes mächtig fühlen.
Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus, wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind; kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind!
Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter[S. 235] in Richterswyl findet er sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den Tisch sammeln — es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit.
Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt[S. 236] abgegriffen und weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich verstecken wolle.
Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen müssen!
[S. 237]
[S. 239]
Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit abgeschnitten wurde.
Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch[S. 240] der Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger, als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert.
[S. 241]
Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt, ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde, und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen, denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen Republik.
So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt und[S. 242] seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß, dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm — so scheint es ihnen — durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in ihren Garten gepflanzt hätten!
[S. 243]
In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe Heinrich Pestalozzi — der mehr den Zorn als die Worte versteht — aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den schlechtesten Brocken!«
Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt, nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet.
Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten[S. 244] Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher Herren verfallen sei.
Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk — von den Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht — die Aufhebung des ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis[S. 245] der Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist, läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater überein, der — wie er in den Seegemeinden — in Zürich die Regierung von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen: da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die Waffen noch einmal ruhen.
Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat, daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt, was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von einer Plünderung der reichen Zürichstadt[S. 246] träumt, alte Kriegläufer, die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon denkt, sie zu rühren — so still ist es um ihn — tut einer einen Ruf, und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei — bis ein Schuß fällt. Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen[S. 247] wäre: Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn draußen hat — und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den Ernst Luginbühl erkennt — jetzt schau, daß du weiterkommst!
Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich[S. 248] durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend.
Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig, er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant!
Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht bei Fraubrunnen an einem Märzmittag[S. 249] in Bern eingezogen ist und der unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende gemacht bat.
Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen Platz für mich selber ist!
Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden, weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer[S. 250] wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit, als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt, brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu tun.
Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist, noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt, weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird.
Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger[S. 251] von Aarau schon fast täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel zufrieden.
Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können, was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst Schulmeister werden!
Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung, wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im Stiel zu[S. 252] wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt, aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt, Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker — die Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal Wahrheit geworden.
Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt[S. 253] versucht, den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das alles sein Herzblut wäre.
Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt. Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik, wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken[S. 254] der heimatlichen Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen, den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung; in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander, die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu verteidigen.
Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen alten[S. 255] Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei, und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über die Berge davon.
Hunderte von Luzernern sind — weil es Sonntag ist — auf die unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer geschart hat und, von einigen[S. 256] Soldaten bewacht, kaum anders aussieht als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See, wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager.
So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt, jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will: Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines Gesichtes, das Elend einzuwickeln?
Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern, um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen.
[S. 257]
Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser, anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe.
Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen. Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht denken, so verelendet sind sie.
Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in den Gängen werkeln die Bauleute noch mit[S. 258] Staub und Lärm. Tiere könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will; nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager, wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen.
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In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen, ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der Bezirksvorsteher Truttmann — beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu ihm stehen — drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen, der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner Zöglinge treten könnte.
Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er, daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung. Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen[S. 260] muß und zwanzig Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt; er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er seine Lehre an ihnen versuchen darf.
Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte; auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden, sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie, seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen. Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht, einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer[S. 261] ein in Sätze, die sie willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind.
Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden, jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht, unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen, und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging.
Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen, darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst, daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein[S. 262] Wesen, das hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände.
Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille, seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen, daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das[S. 263] Zwangmittel ungerechter Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein!
Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden. Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme untergeschlupft ist.
Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht, warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister,[S. 264] daß man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß, bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen Ausflug nach Luzern zu machen.
Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl, als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer, der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen[S. 265] Republik, und jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht.
Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen, die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über Ahnungen lachen, aber[S. 266] nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird. Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist, und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich.
Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen, denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund ist.
Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben. Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater nach Höngg fuhr und auch[S. 267] so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden. Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß!
Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans, bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen, zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie[S. 268] um sich versammelt im Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu retten.
Als danach alles still bleibt — die Alarmnachrichten waren falsch, und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen — sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins — das fühlt er sicher — ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg[S. 269] führen muß: da reißt ein Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber.
Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären; die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben. Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter Zschocke.
Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde; er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird, damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht[S. 270] wie die Nidwaldener kämpfen und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken — mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern. Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher, nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem, was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler Tausend fiebernd benützter Stunden ist.
Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem[S. 271] Wagen her, daß die Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter; als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach Bern ausgeflogen ist.
Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht, und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen, damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der auch schon in Stans war.
Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle, und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei[S. 272] dem Philanthropen Salzmann in Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an.
Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett, auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag; als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit beiden Füßen aus dem Bett und[S. 273] reißt ein Fenster auf, seine Faulheit zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen, unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen, und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser Stunde hinauf.
Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran schreiben — als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so nah und so fern — fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da weiß er, es ist kein Ufer, an dem er[S. 274] gesichert steht, es ist nur eine Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat.
Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus, was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das Leblose und Kranke rollt auf Rädern.
Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie ein Knabe, der aus den Ferien[S. 275] wiederkommt. Er will Kinder haben, es ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu, so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld abzuschreiten.
Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich, daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er vorwitzig hinein sah, und ist fast[S. 276] ausgelassen vor Erwartung. Gegen den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln, und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht, fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht; er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten, und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe kommt:
Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran: daß er alles, was[S. 277] nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des Menschen zu nehmen.
Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir ausreiten.
Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen[S. 278] trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen; auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben — nie hat er solch ein Schreibzeug gekannt — darauf sie mit dem Griffel allerlei Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen. Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht, richtet er sich auf den Krieg ein.
Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm[S. 279] der Kränkung will ihm unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer. Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid, und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen Kindern machen!
So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und[S. 280] nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren: b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo, das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist.
Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht, weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will, aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die trotzigen Tränen[S. 281] übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln schmeckt.
Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus, wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag: Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich, ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich ängstlich an die äußeren Vorschriften — täglich von acht bis sieben Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse — aber indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird. Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen Anfang[S. 282] finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat; und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand.
Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow, und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein — wobei Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird — und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte.
Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern[S. 283] hörbar gewesen, aber viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt, was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet dastehen muß.
Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht, der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer um sich[S. 284] selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem an seinen Neuhof denkt.
Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge versprach.
Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest, die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes mitgebracht, und die fünfjährige Marianne[S. 285] vermag schon Christlieder zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die Heimkehr.
Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle, die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben, nimmt er sie wie in den jungen[S. 286] Zeiten bei der Hand und führt sie aus dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es, werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht, nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere wird sein, Gott zu tun.
Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat, im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt[S. 287] er ihr seinen Plan eines neuen Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen!
Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen, statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände strecken sich hilfreich[S. 288] aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen, und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht.
Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß, der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet; für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli — wie er dem Krüsi sagt — allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd da wie in Stans, es gibt eine wahre[S. 289] Verblüffung über die Fertigkeiten so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!«
Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt, zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er, als[S. 290] sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an Sohnes Statt?
Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte: die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat; und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen — nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten Räumlichkeiten leer stehen — sind die Herren in Burgdorf und Bern gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr, denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat, das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen.
[S. 291]
Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit, weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen, was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste auf den Schiefertafeln an — die meist als die größte Neuheit bestaunt und befühlt werden — und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder, ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben ist, weil er die Vielheit der[S. 292] Schüler mit einem Mund sprechen läßt, so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden, wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an, wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er, aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein Beispiel von dem Haus des Unrechts.
Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe, zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem[S. 293] Haus, sodaß die Herren in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an der Luke!
So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die Treppe der Menschenbildung baute.
Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit dem im sonnigen Gestein sitzt — trotzdem ihm die Gehilfen tapfer beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen — denkt er mit einer so traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten[S. 294] Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich ihr Narr geworden!
Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch, in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben, die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort!
[S. 295]
Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren, wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt, so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat, die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und nicht die Treppe seiner Lehre gelte.
Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt,[S. 296] aber noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab, und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter.
Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest. Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein, weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen,[S. 297] nimmt einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es — als die Knaben seinem Beispiel folgen — ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe.
Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an ihn geschrieben hat:
»Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen,
Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte,
Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!«
Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl, er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor[S. 298] Gott gesessen mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner Dinge, und er schickt mir dieses Wort!
Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen, so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück. Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel von Gottes Korn damit gemahlen wird.
Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte[S. 299] ihn so zu schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte.
Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen Schneeballen werfen sieht — weil der Winter neuen Schnee auf den glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat — ist keiner, der von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe, wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch seines fünfundfünfzigjährigen[S. 300] Lebens: alle Einsichten, die er sich in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen, seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt inmitten der durch ihn bewegten Dinge.
Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit[S. 301] in seine Methode einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier, wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt, die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt sehen wollte.
Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm, sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings in den menschlichen Bannkreis[S. 302] zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen, darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis er am andern Mittag vor den Blättern — leergeflossen an ihrem Inhalt — auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt.
Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor, noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat; und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust bereiten, weil die nicht aus den Dingen — und also aus den Sinnen — sondern aus ihren[S. 303] Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin, oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede Lust in ewige Seligkeit ausfließen will!
Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn, ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi, es ist nur in die Ewigkeit gelegt!
Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung, und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung[S. 304] für ihn, die irgendwie in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet.
Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne, die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb, sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich — wie Niederer sagt — als Erzvater dabei.
[S. 305]
Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt. Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen, steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen, muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen, als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt: die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen, Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie — wie ein Witzbold sagt — ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten[S. 306] Bonaparte jetzt keine Schweizerreise zumuten dürften!
Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist.
Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale willen — auch geht es in den Winter — die Reise doch im Wagen machen muß, fährt er fröhlich und mit besonderen[S. 307] Hoffnungen für seine Sache ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris, der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft; in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul treten!
Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit, in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe der Augen da, die alle auf den[S. 308] kleinen Mann blicken, der, im Alter der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten: Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht — daß sie das Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein einer Gesetzgebung sei — hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der Zukunft überströmt,[S. 309] ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule geraten wäre.
Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor. Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden, denkt er — und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören — wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt: er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir seine Peitsche um die Ohren.
Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist.
Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er braucht[S. 310] Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten. Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art, ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen bald unerträglich zu machen.
So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter, das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in[S. 311] Burgdorf aus der Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach, den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope? In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun magst du wieder deinen Bogen spannen!
Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte; von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht, nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben; und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin. Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig verstreichen, und er[S. 312] hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit.
So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung[S. 313] und gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt, sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben ist.
So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht, der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte — obwohl sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand — das Leben hat ihn nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft[S. 314] suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die Mutter meines Hauses bleibt!
Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in Sennwald aufgegeben hat, um — wie er sagt — mit bei der Wiege der Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist; Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm!
Als im selben Juli auch noch Tobler — mit einer eigenen Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert — zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit Krüsi, Buß und[S. 315] dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon was die Zöglinge — längst über hundert — an Besuch von Eltern und Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen.
Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte. Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem die meisten Zöglinge zahlen — wenn auch nicht alle den vollen Preis — sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare in[S. 316] den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen Regentag gesiegt hat.
So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine Musikkapelle — von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt — sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben.
Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen, und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als ob er den Meister[S. 317] in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse, erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten, Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten.
Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin, sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die Mittel längst selber Zweck. Ich sitze[S. 318] als Glücksvogel hier auf dem Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem Bürgerort hab ich neues Fett gemästet!
Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber, wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr, zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht, die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung[S. 319] mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte!
Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen: sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt. Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen; obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich hier eingenistet hat[S. 320] und der Regierung mit seiner Berühmtheit und dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder abgefahren.
Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben: nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt — wie die Anklage lautet — an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer, und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den Meister.
Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während oben im[S. 321] Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr, wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.«
Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt ausposaunt — wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt — die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude, das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern; aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm schon[S. 322] wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele. Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf ihn wartet.
So zieht dieses Frühjahr hin — es ist das fünfte seiner Burgdorfer Zeit — wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen Händen hinausgetragen werden — sie sind sich selber ihre Särge, sagt Heinrich Pestalozzi — und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht, gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen. Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin,[S. 323] dem Gottlieb einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt: Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir doch ein Andenken vom Schloßberg haben!
Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten, ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer und[S. 324] Krüsi — den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der Auszug schon begonnen hat — und den Bürgern von Peterlingen feiert. Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt!
Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen — nun schon nicht mehr im leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt — und andern Morgens mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten.
Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei, wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus, sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung[S. 325] an der sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen. Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen und aus dem Vollen wirtschaften konnte — wo er sich notdürftig durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam — aber er weiß auch, daß der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der Gnade zu, wie es die andern machen!«
Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge, die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn[S. 326] von Hofwyl geraten, sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum!
Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen, gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren[S. 327] Dinge unabhängig zu machen. Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt.
Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei, unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt, als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi[S. 328] hat nie recht zuhören können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen, tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß.
Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und — wo seine Fläche durchblinkt — den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen sind, er hört ihr Wort und sieht ihr[S. 329] Lächeln: Ich dachte, klagt er laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit!
Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag, und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht, darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal, dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will. Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt.
Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug,[S. 330] der an einem Sprung leer läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt, daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken, es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme.
Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen, daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der schöne[S. 331] Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen, läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden. Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht, noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt; namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen!
Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch einmal an dem Wäldchen treffen — diesmal ist Niederer dabei — sieht sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet, die er nur mit großen[S. 332] Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr. Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm vorläufig nicht.
Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe, dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht, und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland auszuwandern, seine Stimmung hängt[S. 333] sich mit Leidenschaft daran. Er hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine Schwermut reißt:
Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide, und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen, die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat, so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen, aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er — durch Gefahr und Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen — gegen den Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann.
Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele; nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen, die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr,[S. 334] als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm, die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die — wie er längst weiß — seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats- und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer dagestanden als in diesen Tagen.
Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer, ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen,[S. 335] daß ihm das Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die Väter sagten.
Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als solcher — wie Niederer sagt — die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden, und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und — weil es Fellenberg auch nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister schwärmerisch verehren — endlich der böse Streit.
Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon. Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern[S. 336] Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll.
Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht abzuwarten,[S. 337] daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche Hoffnung überredet den Widerstand:
In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis, der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm — um die Lockung nach Peterlingen zu schlagen — die weiten Räume des Zähringer Schlosses und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats- und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren sich rasch; als auch die geborene Fröhlich — die aus Münchenbuchsee bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster zu heiraten — den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände nimmt, ist unvermutet der ganze[S. 338] Bienenstaat wieder um ihn versammelt, eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen; nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen.
Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm — wie er einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt — das Geld zum Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen, die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis gegen Abend das Boot anschwimmt.
Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer[S. 339] — die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr ein Lied — hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die Samen nur nicht überjährig geworden sind!
Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt, Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr[S. 340] alles sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen Hauswesen gibt.
So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran, hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann: fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten[S. 341] ihn nötigen, den Wagen vorläufig wieder abzuspannen.
Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt, den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen. Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht, wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein, die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit keiner Liebe mehr zudecken läßt.
Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten Lebensgeschichte, vermag[S. 342] Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt, das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder — wie er sagt — nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken.
Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen[S. 343] lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm, die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist.
Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt, stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig lächelnde Greis neben[S. 344] dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da!
Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die Mauern dringen.
Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er, was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß es der Sarg des Schreiners[S. 345] sein möchte! Und noch, als die ersten Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis des neuen Jahres stehen soll.
Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der Begnadung[S. 346] verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun ins Ferne verfliegt.
Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht ist mir!
So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende — wie am Anfang — nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist!
Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte, geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast um sein Werk, die noch immer weit vom[S. 347] Knoten schwingt: Es ist nur mein Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet.
Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden, wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert — unter den überhohen Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können, weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund zubringen — indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager, dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen.
Denn Heinrich Pestalozzi — der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon nannten — ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht, weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge der Methode[S. 348] nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem Menschengeist in Preußen, die Hände frei.
Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein, nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren, in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft,[S. 349] setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden; die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist.
So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich, seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren jüngferlich festen Händen hält, während Niederer — der auch nicht mehr im Schloß wohnt — nur noch seine Pflichtstunden gibt und die schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu[S. 350] ihr, die fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin, die daraus fließen!
Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt, indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen, wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht[S. 351] hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz.
Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch das Klügere sei. Sie haben erwartet — weil sie als Deutsche blindlings ans Gute glauben — daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht, als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche bedürfe.
In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats- und kirchengefährlich hassen,[S. 352] besonders seitdem er in dem abtrünnigen Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt, Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden, stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen, seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft.
[S. 353]
Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin, namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt verraten, wo jeder — so scheint es ihm — vom kleinsten Zögling bis zum ältesten Lehrer das tut, was[S. 354] seiner Neigung bequem ist, und wo Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse!
Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es, als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern das Gemach verläßt.
Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill[S. 355] davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt; aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg, die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt. Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt, bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren.
[S. 356]
Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum, aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor den Angreifern zu retten.
Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit — darin seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat — tritt er in den Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen. Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus, der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen[S. 357] Zürcher Freitagszeitung stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt, diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der Dialektik entscheidet.
Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule. Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte.
Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt, aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis die Schmerzen nach einigen[S. 358] Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden, weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat, daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten, damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich die[S. 359] Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem Weltgebäude seiner Anschauung fühlen.
Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß sich Anna erschrocken — das Fieber möchte wiederkommen — zu ihm hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand, wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte ich: er müsse Niederer fragen!
Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich, an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann: Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor Haller in[S. 360] den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der seinen abmachen.
Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er möchte — wie er wehmütig scherzt — den Umweg über Ifferten garnicht mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren, damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann. Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich, sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe.
In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen entgegen zieht. Das Gepränge[S. 361] seines Ausmarsches, den auch Tausende von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen, und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt. Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen; kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen.
Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben, von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht, der sie nun selber auch auf[S. 362] den Altenteil setzt, sodaß sie beide nichts mehr besitzen, als daß sie — wie die Lehrer auch — ihre Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du!
Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt, ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität, aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland, den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind, reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner neunundsechzig Jahre den beiden an.
Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo[S. 363] es von Federbüschen und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur Audienz beim russischen Kaiser folgen.
Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi sich nicht sogleich — wie es schicklich wäre — mit ehrfürchtigem Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt, weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht, zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die Arme schließt,[S. 364] bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines Gefolges wendet.
Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen!
Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung[S. 365] dieses unscheinbaren Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte.
So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet, die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig wieder abgefahren.
Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie ein Geschwür ausschneiden, und[S. 366] dies begreift er sofort, daß seine Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können, aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen er vor dem Ort begegnet — es sind die goldäugigen Zwillinge eines Pfarrers aus dem Traverser Tal — holt er zu sich in den Wagen und hält sie fest, als ob schon die Landreiter kämen.
Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt, der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt, ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen Abend doch noch fröhlich miteinander sind.
Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die Arche baute: und[S. 367] meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald, daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand, so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da — dies setzt er scharf ins Licht — wo das Gewissen des einzelnen sich zur sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden, ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir Bürger, damit wir Staaten werden können!
Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das einzige,[S. 368] was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit, da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen, ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet; ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der Länderbeute gilt.
Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt, trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben.
[S. 369]
In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht, den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet.
Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet, und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm — sogar den Wladimirorden hat ihm[S. 370] der russische Kaiser gesandt — mit dem fremden Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient, und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als ein Jahr, aber das müsse er aushalten!
Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen aber treuen Hagen von Tronje nennt.
Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in[S. 371] Ifferten nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein; er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren wie ein Kater in der Ofenwärme.
So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen. Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken, mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran zu schnüren, indessen sie — nicht anders glaubt er — die Hände sinken läßt, noch einmal in[S. 372] ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen.
Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist, endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt[S. 373] er, und niemand kann mir wieder ans Land zurück helfen!
So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt, was faul und sorglos ist.
Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden Rechenmeister:[S. 374] so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter meiner Unfähigkeit gespannt zu sein!
Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft, um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser Erscheinung geworden[S. 375] ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt hinwirft.
Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte!
Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer[S. 376] wieder an den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre, was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem Abschied eine grimmige Tröstung bei.
Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen; in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle, und melden den Streit beim Friedensrichter an.
Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten, die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage eine Selbsttäuschung[S. 377] gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen. Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins, fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr!
Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen. Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt, schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt. Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag die Raserei nicht aus den Händen zu bringen,[S. 378] bis der Steinklotz sich hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin.
Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt, fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung. Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann, kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht, noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil mich die Welt nicht brauchen kann!
Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus[S. 379] seinem Anteil mit einer Einnahme von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen.
Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene Unbrauchbarkeit, die er — in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet — aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines, undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen?
Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen[S. 380] Bergweide hinunter sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten — sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier zu — es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe, als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich geworden! Und jedesmal — wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält — steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu werden!
Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen — hat ihm Schmid in[S. 381] die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele, sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf.
Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war — damit er einmal fester als sein Großvater im Leben stände — und der ihm zu Neujahr fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt, liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital für seine Anstalt in Clindy stiftet.
Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus[S. 382] dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution! In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich, weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe!
Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat: alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den Sturmhimmel der sinkenden Nacht.
[S. 383]
Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen, aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen; sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten: sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen; seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben!
Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt[S. 384] auf diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer zurückgebracht wird.
Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen geblieben[S. 385] sind — es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als schwankes Stämmchen kannte — da drängen sich die Grabsteine seiner Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen, wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat, sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl — ehemals seine Schülerin zu Ifferten — ihm noch immer wie eine Tochter anhängt. Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen Gewohnheiten hätte.
Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten. Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am[S. 386] selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt, die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes, der seine Blätter rauschen hört.
Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach der Gewohnheit seines müden Rückens[S. 387] in den Kleidern auf dem Bett liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang, und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist, warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt?
Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er[S. 388] auch da seine Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt hat.
Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um ihn ist — es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen; und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine Unendlichkeit — kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den los bin, ist mir frei und leicht.
So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen[S. 389] nun die eine Stunde nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht ertrüge.
Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid — der seit Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten — bis Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht, daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal:
[S. 390]
»Der du von dem Himmel bist,
alles Leid und Schmerzen stillest,
den der doppelt elend ist,
doppelt mit Erquickung füllest,
ach! ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust!
Süßer Friede,
komm, ach komm in meine Brust!«
Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt, so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle, ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter gesegneten Leben.
Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird; aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung[S. 391] zu tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden.
Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte. Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt.
Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein paar ärmliche Wochen zu schenken,[S. 392] da er vorher doch so sinnlos lange gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi, tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht mehr, was sie tut.
Die Schmerzen werden bald so stark — es sind Harnbeschwerden — daß der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen. Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu.
Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse.
Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung zu hoffen wagen[S. 393] und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn der Menschheit gelegt sind.
[S. 395]
[S. 397]
Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle, liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele los zu sein!
Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof; der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben: aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem[S. 398] Küster helfen müssen, einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck wünschte.
Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein muß.
Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit ihrer Tage; nur der Menschengeist,[S. 399] dem sie die schwingende Unruhe war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert. Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot, dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln.
Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt als die Schwärmerei für Ruinen — selbst der neue Napoleon begnügt sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen — ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben, und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen scharfen Schlag, der die Schwänze blutig[S. 400] auseinander reißt: Preußen marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den Erfolg in Frankreich verdanke.
Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in Europa da aus seiner Lehre.
Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte, diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich[S. 401] will sehen, was die Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat!
Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern — durch Bildung frei gemacht — Macht gegen Macht einsetze, sie zu ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus Christus gehalten habe!
Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der Lohnarbeit einem jüdischen[S. 402] Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete. Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche:
Lieber Bruder und Genosse — wie ihr euch nennt — meiner Seele ist es gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen, darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum, Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen Weine trinken und Kapaune essen?
[S. 403]
Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel im Elend eines nichtigen Lebens ließe!
Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein, sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es mich verdeutschen:
Es gibt vielerlei Freiheit auf der Welt: aber die Freiheit der Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum[S. 404] achte, daß du draußen wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus, der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab.
Es gibt vielerlei Gleichheit, aber willst du dem Schlechten und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld, seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in die Allmacht berufen sein.
Es gibt vielerlei Brüderlichkeit; aber daß der Reiche im Wagen dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch: dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine; denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit, die ist vor Gott — und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft — ihr sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel der[S. 405] Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen, aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken für unsere Frucht!
Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde: Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben. Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes, dessen Tapferkeit sonst[S. 406] nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte.
[S. 407]
Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner) durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist.
S.
Mannsleut, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas, Elberfeld 1894 (vergriffen).
Die Zehn Gebote, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag Schuster & Loeffler, Berlin 1897.
Gottlieb Mangold, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster & Loeffler, Berlin 1900.
Die Béarnaise, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande Düsseldorf, 1901 (vergriffen).
Rheinsagen, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer & Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen).
— Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913.
— Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913.
Anekdoten (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande, Düsseldorf 1908.
— seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte Auflage 1913.
Der verlorene Sarg und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller, München 1911.
Dreiunddreißig Anekdoten. Verlag Georg Müller, München 1914. Vierte Auflage.
Die Mißgeschickten. (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar 1909.) Verlag Georg Müller, München 1909.
Die Halsbandgeschichte. Verlag Georg Müller, München 1909, Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.)
Karl Stauffers Lebensgang, eine Chronik der Leidenschaft. Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage.
Die unterbrochene Rheinfahrt. Verlag Georg Müller, München 1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.)
Lebenstag eines Menschenfreundes. Verlag Georg Müller, München 1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914 bis April 1915.)
Die begrabene Hand, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918.
Die Erzählenden Schriften. Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag Georg Müller, München 1918.
Lebensabriß. Verlag Georg Müller, München 1918.
Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt