The Project Gutenberg eBook of Das Land unserer Liebe

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Das Land unserer Liebe

Roman

Author: Walter Bloem

Release date: February 26, 2025 [eBook #75470]

Language: German

Original publication: Leipzig: H. Finkentscher Verlag, Grethlein & Co, 1924

Credits: Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LAND UNSERER LIEBE ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.


frontispiece

Das Land unserer Liebe

von

Walter Bloem


46.-65. Tausend
Alle Rechte, im besondern das der Übersetzung in fremde
Sprachen, von der Verlagsbuchhandlung vorbehalten
Copyright 1924 by Grethlein & Co. in Leipzig
Druck von G. Kreysing in Leipzig


Hafis-Ausgabe

signet

Robert Hohlbaum

dem Freunde, dem Dichter, dem Deutschen!


[S. 7]

1

Um die kahlen, von harzigen Knospen geschwellten Ulmenriesen des Harvestehuder Weges brandete der Märzsturm. Auf den breit anschwellenden Rasenflächen der Villa Freimann taute letzter Schnee. Der Generaldirektor kam schleppenden Schrittes die breite Freitreppe herunter. Fröstelnd zog er den Nerzpelz um seine Schultern zusammen.

Der legt mächtig ein! dachte der Chauffeur. Und im tiefsten Herzen des altbewährten Bediensteten regte sich doch fast unbewußt etwas wie eine geheime Genugtuung des Kleinen, des Knechtes, über den unverhehlbaren Verfall des Mächtigen, des Hochmögenden ... Dies Gefühl war den Tönen jenes Liedes verwandt, dessen verwehte Klänge durch den trüben Vorlenzmorgen von der Lombardsbrücke herüberflatterten:

»Was hoch und stolz, das fällt
im Sturm der neuen Zeit —
jetzt bringen wir der Welt
die rote Seligkeit!«

Auch der Generaldirektor horchte auf. Eine neue Falte querte sich senkrecht durch die tiefen Furchen seiner schmal gewordenen Stirn.

Der Chauffeur gewahrte dies Lauschen, dies Stutzen.

»Meinen Herr Präsident nicht, daß es besser wäre, heute nicht —«

»— nicht zu fahren, Hansen? Das souveräne Volk von[S. 8] Hamburg nicht zu reizen? Es ist alles eins ... Haben Sie übrigens eine Ahnung, was los ist?«

»Sie sind mal wieder sehr unruhig da drinnen ... Seit gestern kommen immerfort Züge mit heimkehrenden Kriegsgefangenen aus Rußland an«, berichtete der Chauffeur. »Die haben uns grad noch gefehlt. Alles die reinsten Bolschewisten, Herr Präsident!«

Der Generaldirektor zuckte die Achseln. Aber dann schauderte er in seinem schweren Pelz doch sekundlich zusammen. Ihn schüttelte der Ekel ... Diese Zeit — dieses Volk ...

Er straffte sich auf. »Los, Hansen!«

Das Auto sauste über die Lombardsbrücke. Einen Augenblick überflog der Generaldirektor mit einem kaum bewußten Gefühl von liebeschwerer Verbundenheit das vertraute Bild: zur Rechten das Quadrat der Binnenalster mit den hufeisenförmig darumgestellten drei Fronten der majestätischen Handelspaläste — zur Linken die im Nebel verschwimmenden Ufersäume des fernhin sich dehnenden Außenbeckens. Aber leer, wie ausgestorben die ehemals froh belebte Fläche ... Kein flugfrohes Segel, kein munter flitzendes Dampferchen ... Da fauchte der Wagen an einem Zuge von Heimkehrern vorüber. Eine rote Fahne wehte voran. Der sie flattern ließ, trug nicht Feldgrau — seine kalmückische Gestalt stak im schwarzen Anzug der russischen Kriegsgefangenen ... Und hinter dem Steppensohne trotteten in Gruppenkolonnen, wie sie's einst auf dem Kasernenhof gelernt, vier Jahre lang im Felde geübt, die Entronnenen der kaukasischen Bergwerke — in verschlissenen Soldatenmänteln, die hageren Gesichter bartumstarrt, rote Fetzen irgendwo auf die Monturen genäht, rote Kokarden auf den schiefgestülpten Feldmützen ...

»— jetzt bringen wir der Welt
die rote Seligkeit —«

[S. 9]

Stockung — Schreie — geballte Fäuste — — aber schon war's vorüber — ein Stück verschimmelten Brotes flog gegen Freimanns Nacken.

Der Generaldirektor hatte unwillkürlich den schmerzenden Kopf tief in den Pelzkragen gedrückt. Als er den Blick hob, traf eine neue Qual seine gemarterte Seele. Vor ihm zur Linken stieg der vielfenstrige Würfel des Atlantic-Hotels aus dem Nebel. Auf dem First der fremdenleeren Riesenkarawanserei, die einstens die Sendlinge des Erdballs beherbergt hatte, wehten die Banner der Entente und gaben Kunde, daß drinnen die Kommission des Feindbundes zur Beaufsichtigung der Auslieferung der deutschen Handelsflotte ihr Standquartier aufgeschlagen hatte. »— die rote Seligkeit — —«

Hatte es Sinn zu arbeiten, — — mit zusammengebissenen Zähnen zu kämpfen für ein rettungslos Verlorenes?!

Georg Freimann fühlte, wie die Verzweiflung über ihm zusammenschlug.

Im stolz hingelagerten Verwaltungsgebäude der Hansa-Transatlantik-Linie schleppte der Arbeitstag sich gähnend und zwecklos hin — angefüllt mit dumpfen Ängsten und Ahnungen. Man arbeitete nicht mehr — man wurde beschäftigt ... Die gigantische Maschine lief leer.

Aus dem satten Braun des eichengetäfelten Prunkbureaus trat dem Generaldirektor eine schlanke Mädchengestalt in schlichter Bluse aus grauer Kunstseide entgegen. Ein flüchtiges Lächeln überflog die gelben Züge des Chefs. Wie täglich empfand er halb unbewußt die Wohltat dieses klaren, in sich gefestigten Gesichts.

»Herr Präsident,« sagte Antje Tietgens, »die Entente-Kommission hat soeben aus dem Atlantic-Hotel angerufen: der amerikanische Sachverständige sei gestern angekommen und habe heute die Revision des ›Altreichskanzlers‹ vorgenommen — das Schiff solle heut nachmittag um drei Uhr in See[S. 10] gehen und könne nach Prüfung des Ganges auf der Höhe von Cuxhaven übernommen werden.« In der Stimme der Sekretärin schwang leise die tiefe Trauer, das grenzenlose Mitgefühl einer Wissenden.

Der »Altreichskanzler«! Georg Freimann mußte sich auf die Stuhllehne stützen. Längst fällige Botschaft — dennoch — unfaßbar — unerträglich!

Das letzte Schiff der H. T. L. — das schönste — und das letzte!

Der »Altreichskanzler« war zwei Jahre vor Kriegsausbruch vom Stapel gelaufen — die vollkommenste Schöpfung der Hammonia-Werft — am ersten August zum Glück im Heimathafen — dann, in ein Kriegsschiff verwandelt, vier Jahre lang als Hilfskreuzer in der Ostsee, Mitkämpfer der ruhmvollen Tage von Ösel und Dagö — nun gemäß den Waffenstillstandsbedingungen in den stolzesten Passagierdampfer der Welt zurückverwandelt — um als letzter Besitz der einstmals erdumspannenden deutschen Großreederei dem Feindbund ausgeliefert zu werden.

Fräulein Tietgens blieb noch einen Augenblick stehen. Sah es nicht aus, als würde der gewaltige Mann, dessen Werk die Linie war, auf der Trümmerstätte seiner Schöpfung zusammenbrechen? Ihr Herz ward weit vor Mitleid — und sie zürnte sich selber, daß in den Tiefen ihrer Seele sekundenlang die geheime Genugtuung der Tochter der Niederung über den Sturz des Hochmögenden hatte triumphieren wollen ...

Schäm' dich, Antje! —

Ihre weibliche Hilfsbereitschaft brauchte nicht in Wirksamkeit zu treten: der Chef hielt sich. Aber er schien keine weiteren Befehle zu haben. Geräuschlos verließ die Sekretärin den Raum.

Georg Freimann war allein. Eine Sekunde lang zuckte wie ein tiefer, erlösender Traum die Vorstellung durch sein todwundes[S. 11] Hirn, daß daheim im Schubfach seines Arbeitstisches nun seit dem Tage des Waffenstillstandes der geladene Browning des Augenblicks harrte, da die Wucht des Schicksals unerträglich geworden sein würde ... War es so weit? Konnte es noch tiefer in den Abgrund gehen?

Mein Lebenswerk! ächzte seine Seele. Mein Lebenswerk!

Ja — es ging zu Ende. Diesen Tag würde Georg Freimann nicht überleben können.

Horch! und draußen schon wieder das Lied von der roten Seligkeit! Wahnsinnige, diese einstigen Helden von Gorlice und Tarnopol — diese — — Deutschen ... Sahen sie denn nicht, daß sie und ihresgleichen die Heimat in den Ozean der Schande, sich selber und all ihre Welt ins Elend gestürzt hatten?!

Abermals straffte sich der Generaldirektor. Der Instinkt des Handelnmüssens, der Verantwortung, des Führertums überwand noch einmal die tödliche Erschlaffung. Und schon lag der Telephonhörer in seiner mageren Hand, schon flogen seine Befehle in entfernte Räume des vielzelligen Arbeitsklosters. Sie stellten aus Ingenieuren und kaufmännischen Oberbeamten die Kommission zusammen, welche als Vertreterin der Linie die Probefahrt des »Altreichskanzlers« mitzumachen und die Übergabeverhandlungen mit den Mitgliedern der feindlichen Abordnungen zu tätigen haben würde. Aber die sonst so klare Herrscherstimme des Chefs klang an das Ohr seiner Mitarbeiter wie geborsten ...

Er überhörte ein bescheidenes Klopfen an der Flurtür und fuhr erst herum, als eine linde Hand sich auf den Arm legte, der die Schalthebel des Fernsprechers regierte.

»Ah — Johanna?!« Des Gatten Auge staunte. »Du strahlst ja — — etwa gar Nachrichten von Heinz —?!« So lächelt eine Mutter nur, wenn sie Gutes von ihrem Kinde zu melden hat ...

[S. 12]

Wortlos leuchtend reichte Frau Johanna ein Telegramm. Georg las:

»Aus Bremerhaven — Endlich in Freiheit, eintreffe, sobald Zeitläufte gestatten. Heinz.«

Nun war der Jubel auch in des Vaters Stimme und Auge gekommen. Einen Augenblick schlugen die Herzen der beiden wesensfremden Menschen im gleichen Takt. Und über Georg Freimann, der sonst, eiskalter Rechner, einsam den Weg seines Aufstiegs gegangen war, kam in dieser Sekunde etwas wie Dankbarkeit gegen die Mutter seines Sohnes ... Ein Verbündeter, ein Kampfgenoß im Anmarsch ... Er zog die feine, kühle Hand an seine Lippen. Und vor beider Gatten Augen stand das Bild ihres Einzigen, wie sie ihn zum letzten Male gesehen — für wenige Tage von der flandrischen U-Bootbasis in Brügge her auf Urlaub eingetroffen — noch dampfend von ungeheuren Spannungen heroischer Gefechte, Gebieter einer Nußschale von Kampfschiff, eines stählernen Haifisches, dessen Kiefer Tod und Verderben durch die Seewüste zu den Riesen der feindlichen Handelsflotte hinübergespien ... Ein Held, um so heldenhafter, je weniger sein überzarter Körper, seine überzarte Seele zu solchem Reckentum der Meerestiefe geschaffen schienen. Und an seiner Seite die Braut, selig und bangend, in ihrer stolzen, altererbten Vornehmheit dem Wesen dieser Frau verwandt, die einstmals die althamburgische Gediegenheit ihrer Gesinnung dem zähen Auftrieb des Emporsteigenden verbunden — und dem heißen Wollerblute des Ringers jenen Schuß verträumter Weichheit beigesellt, die den Vater an seinem Sprößling oft gestört, befremdet, enttäuscht hatte ...

Die Gatten sahen sich in die Augen. Waren sie einander fremd im Nebeneinander des Alltags — wenn's um Heinz ging, so verstanden sie einer des andern Gedanken.

Wie wird er wiederkommen? Wie wird er, der die Fremde,[S. 13] die Gefangenschaft so schwer ertrug — wie wird er die Heimkehr — — die Heimat ertragen?!

»Gottlob, daß er seine Ilse hat ...« sprach Mutter Johanna die Antwort auf die stumme Frage der beiden Elternherzen.

»Weiß sie's schon?« fragte Georg.

»Einstweilen bist du noch der nächste dazu — als Vater ...«

Die beiden alternden Menschen sahen sich abermals an — der zähe Emporkömmling und die Frau aus altem Bürgerblut. Und sie erlebten im Flug einer Sekunde noch einmal den Augenblick, da ihrer beider Wesen zusammengeronnen war, um diesen Menschen zu bilden, der als Ganzes eben darum ihnen beiden so unähnlich war ... Und abermals neigte des Generaldirektors schmaler Usurpatorenkopf sich auf die zarte, mädchenhafte Hand der Frau, die seinem Aufstieg das Relief gegeben hatte.

»Nun, dann wird's aber höchste Zeit!« lächelte Freimann und bestellte eine Verbindung mit der Hammonia-Werft.

Inzwischen berichtete er seiner Frau, daß heute nachmittag der »Altreichskanzler« in See gehe.

Frau Johanna kannte die tragische Bedeutung dieser Nachricht. Ihrer Vorstellung von althamburgischer Kaufmannssolidität war die rasende Aufwärtsentwicklung der Linie immer unheimlich gewesen, unsympathisch die dämonische Betriebsamkeit ihres Ehegefährten, in der sich Kraft und Anpassung, steifer Nacken und — gelegentlich! — krummer Buckel so seltsam vermischt hatten ... Immerhin: es war doch eine stolze Höhe, auf die er sich selbst und sie mit hinaufgehoben — und um so zäher, vernichtender nun der Sturz. Sie fühlte, daß er litt bis zur Unerträglichkeit — fühlte sich seinen Leiden näher als ehedem seinem unersättlichen Auftrieb. Was sie in Jahren, vielleicht seit einem Jahrzehnt nicht mehr getan —[S. 14] sie legte ganz leise den Arm um des Gatten Haupt und wollte es an sich ziehen.

Aber schon entwand er sich — er verstand es nicht, sich bemitleiden zu lassen. Zum Glück schnarrte eben der Apparat.

»Hier Hammonia-Werft!« klang die vertraute Stimme der heimlichen Verlobten seines Sohnes.

»Guten Morgen, Ilseken!« Und in Georg Freimanns starrem Erobererherzen tat eine zweite Geheimkammer sich auf. »Mama ist bei mir — sie hat eine Nachricht für dich, die sie dir selber sagen muß!«

Frau Johannas Augen wurden feucht, als sie der künftigen Schwiegertochter die befreiende Kunde zurief. Ach, daß man sich nicht sah in diesem Augenblick der Erlösung von jahrelangem Bangen ...

Seltsame Härte des modernen Lebens ... Die Mutter und die Verlobte des Heimgekehrten hörten eine der anderen Stimme — den Jubel, der durch die verhaltene Kühle schwang — und sahen einander nicht ...

»Na, nun gib mal her, Johanna — ich muß den alten Carstensen noch sprechen!«

Zauberei! Der kleine schwarze Trichter in des Reeders Hand sprach nun plötzlich mit der müden, verhaltenen Greisenstimme des ehemaligen Senators Carstensen — des Eigentümers und Leiters der Werft. Sie zitterte, als Georg Freimann die grausame Kunde vom bevorstehenden Ende der Linie hindurchgegeben.

»Entsetzlich ... wie tragen Sie's?«

Georg Freimann biß die Zähne zusammen.

»Wir sind nachgerade abgehärtet — wir unglückseligen Deutschen ...«

»Das weiß der Himmel — aber grausam ist's doch ... Ein Glück, daß Ihr Junge kommt — da bekommen Sie Hilfe ... Sein Beruf ist überflüssig geworden in Deutschland. Wohl[S. 15] ihm und Ihnen, daß in seines Vaters Riesenbetrieb ein Kontorstuhl für ihn freisteht ... Nur — ob er mögen wird —?!«

Des Vaters Lippen wurden schmal und streng. »Er muß.« Ein Befehlsblick schoß zur Mutter hinüber, die unter diesem Ton, diesem Blick leise zusammenzuckte — wie unzählige Male zuvor in einem langen Gemeinschaftsleben.

»Nun, wir sehen uns ja wohl heut abend,« klang die Stimme des alten Carstensen. »Ich wenigstens will zur ›Alten Liebe‹ fahren — von ferne noch einmal das stolzeste Kind meiner Werft grüßen ... Ach, Freimann — unser Werk — unser zertretenes Land ...«

»Auch ich muß hin —« knirschte Georg Freimann, »auch ich ... Man muß das sehen, man muß ... Und wenn's einen vollends umschmeißt ... Also Schluß, lieber Freund — heut abend um fünf an der ›Alten Liebe‹ —«

»Einen Augenblick, Freimann,« klang Carstensens Stimme. »Timmermanns möchte Sie noch sprechen ...«

Und abermals eine Wandlung. Aus dem kleinen geheimnisvollen Abgrund in des Präsidenten Hand, der eben noch des alten Herrn vibrierende Stimme ausgeströmt, dröhnte nun der urweltliche Baß eines Titanen. Bob Timmermanns — gleich Freimann ein siegreicher Kämpfer — die rechte Hand seines alternden Chefs, das technische Genie der Werft und Oberleiter des gewaltigen Apparats der Konstruktionsbureaus, aus dem die Pläne all der umwälzenden Neuerungen hervorgegangen waren, die dann Gestalt gewonnen hatten.

»Hier Timmermanns ...«

»Hier Freimann ... Haben Sie gehört, Timmermanns — der ›Altreichskanzler‹ —?!«

Ein zorniges Knurren klang aus dem Apparat. »Hab's gehört ... mache mit ... Die Kerle, die mein bestes Schiff einstecken wie'n gestohlenes Portemonnaie — die muß ich mir doch mal aus der Nähe besehen ...«

[S. 16]

»Tun Sie's nicht, Timmermanns — Sie springen den Burschen ins Gesicht ... hat ja keinen Zweck ... wir liegen unten.«

»Weiß, weiß ...« keuchte es zurück. »Hab' als Kaiserlicher Marineingenieur auf der in Watte gewickelten Hochseeflotte vier Jahre den Maulkorb getragen ... So viel Selbstbeherrschung werd' ich schon noch aufbringen, daß ich den Anblick der Messieurs und Gentlemen und Signori aushalt', ohne einen davon in die Elbe zu schmeißen ... Aber einen Schwur werd' ich schwören bei ihrem Anblick — einen Schwur, den der Himmel erhören soll ... oder die Hölle — je nachdem —!«


2

Der Berlin-Hamburger D-Zug schnob durch die kahlen Marschen von Billwärder, auf deren Feldern die Frühsaat saftgrün in Halme schoß. Seinem regelmäßigen Bestand an Durchgangswagen waren vier Waggons dritter Klasse angehängt — für einen Trupp heimkehrender Kriegsgefangener, die aus Hamburg, Harburg, Altona stammten.

Sie hatten ein abenteuerliches Schicksal hinter sich. Aus den kaukasischen Bergwerken hatten sie sich nach Ausbruch der russischen Revolution im Fußmarsch bis Moskau durchgeschlagen. Hier waren sie einem »Arbeiter- und Soldatenrat« der deutschen Kriegsgefangenen in die Hände gefallen, der von der Sowjetregierung beauftragt war, die in der Hauptstadt eintreffenden Kameraden zu empfangen, zu versorgen — und nebenbei nach Kräften zu bolschewisieren. Die Mitglieder dieses edlen Rates, eine Gesellschaft übelster Sorte, hatten die ihnen überwiesenen Leidensgefährten, statt sie unverzüglich nach Deutschland weiterzubefördern, mit kaum verhüllter Gewalt zurückgehalten. Nur ab und an fertigten sie, um den Schein zu wahren, einen Transport nach Deutschland ab.[S. 17] Für den aber suchten sie nach Möglichkeit nur solche Heimkehrer heraus, welche sich ihre bolschewistische Theorie und Praxis gründlich zu eigen gemacht hatten. Von dieser Sorte waren die anderthalb hundert ehemaligen Werft- und Hafenarbeiter aus dem Hamburger Bezirk, die der Berliner Zug heute morgen ihrer Heimat entgegentrug. In ihren verworrenen Seelen tobte ein wilder Tanz der Gefühle: Heimkehrbangen, Wiedersehensfreude, Sehnsucht nach der lang entwöhnten Berufsarbeit — das alles wirkte und wühlte wohl im innersten Herzensbezirk. Aber nach außen trugen sie ein ganz anderes Wesen zur Schau. Waren sie nicht die Träger und berufenen Verkünder der großen Heilslehre aus dem Osten? Schon beim Halten in Spandau waren sie aus den ihnen angewiesenen Wagen herausgeströmt und hatten sich durch den ganzen Zug verbreitet. Sie lümmelten sich auf den mit roter Kriegsleinwand bespannten Polstern der ersten Klasse, setzten im Speisewagen die Unterstützungsgelder der Hilfskomitees in Schnaps und Sekt um und entsetzten die verschüchterten Fahrgäste durch greuliche Reden von Zukunftsstaat, Ausrottung der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariats.

In einem Abteil der ersten Klasse lagen, langhingestreckt auf den roten Bänken, von denen die berechtigten Fahrgäste mit Entsetzen in die Korridore entwichen waren, zwei ungleiche Kameraden in abgewetzten, verdreckten, verlausten Feldmänteln. Sie qualmten Zigarette um Zigarette. Und Tedje Tietgens, einst Nieter auf der Hammonia-Werft, dann schwerer Artillerist und seit der Brussilowoffensive Kriegsgefangener im fernen Osten des Zarenreiches, entwickelte dem Genossen seines Handwerks und seiner Gefangenschaft seine Zukunftspläne.

»Deerns, Clos, junge Deerns möt ick nu irst mol hebben ... Ick bün, as wör ick rein dull un uthungert op Deerns ... Öber nich son'n smuddlige Mietjes ut de Fabriken. Uns'[S. 18] russ'sche Kam'roden, wat dei sünd, weißt du, Clos, de hebben sick den'n Zoren sien Döchter halt ... Ick hal mi de Fienste von de Fienen ut'n Harvestehuder Weg ... un denn möt dei danzen, as ick fleit ... Junge, Junge, dat möt ick erleben ... Nu sünd wi de Herren, nu warden dei Wiewer requirert, as Volkseigentum erklärt und denn sozialisert ...«

Und der ungeschlachte Geselle dehnte und rekelte den stämmigen Leib, dem zwei Jahre harter Fronarbeit unter der Knute russischer Aufseher von seiner Urkraft so wenig hatten nehmen können wie einst die minder schwere, doch ungleich gefahrvollere Arbeit des Nietens, hoch droben am werdenden Eisenleibe gigantischer Schiffsrümpfe.

Sein Gefährte, untersetzt, kräftigen Leibes wie er, doch neben dem klobigen Gesellen fast schmächtig anzuschauen, lag ganz still und behaglich hingestreckt und schaute den Kringeln seiner Zigarette nach, die am Gepäcknetz verstiebten.

»Achtstündigen Arbeitsdag!« träumte er mit verschleierter Stimme vor sich hin. »Klock veer is Sluß op dei Werft! Un denn nah Huus, un in mien Quartier heff ick'n Pianino ... un denn späl ick'n ganzen Obend ... ganz wunnerscheune Soken späl ick denn, Schumann un Brahms ... nich ümmer blot taun Danz as vör Tieden ... Ja ... wenn man blot mien Finger nich ümmer so stief wören von dei swore Arbeit op dei Werft ... denn spälte Clos Mönkebüll bi de groten Konzerten.«

»Du büst'n groten Quasselkopp un Spintisierer, Clos!« knarrte Tedje. »Nu kannst du fiene Dam's kriegen, so väl as du wullt — un brukst jem nich erst wat optauspälen, dat du sei dull makst nah di ... Nu brukst du blot mol kommanderen: Runter mit die Lappen! — denn hest du s' all, as sei wussen sünd ...«

Eine Unruhe entstand im Zug. Aus allen Abteilen drängten die schweißdunstigen, bartumstarrten Gestalten der Heimkehrer in die Gänge.

[S. 19]

»Hamborg! Kiekt blot, Jungs, nu kümmt Hamborg!«

Straßenzeilen drängten sich an den Zug heran, hochragende Speichergebäude, alles grau und geschwärzt im fahlen Lichte des nebelverhangenen Vorlenztages ... Und nun:

»Kiekt, Jungs — de Hoben ... Ober wo leddig ... Dunnerslag noch mol — wo leddig; grod as weer hei utstorben ...«

Die Männer hatten seit ihrer Rückkehr aus Feindesland schon viel von ihres Vaterlandes Schicksal geschaut. In fremder Städte Bannkreise waren sie sich der grauenvollen Veränderung nicht voll bewußt geworden — hatte der begeisterte Empfang, den die Genossen ihnen bereitet, das trunkenmachende Bewußtsein des inneren Sieges ihrer Klasse ihnen die Erkenntnis der vernichtenden Folgen der äußeren Niederlage bis zu dieser Stunde noch verschleiert. Nun tat sich ihre Heimat, ihre Arbeitsstätte vor ihnen auf — nun fröstelte jählings in ihren Seelen die entsetzliche Ahnung, daß die Hand des Feindes nicht dem verhaßten Kapitalismus allein, nein, jedem einzelnen von ihnen die Wurzeln des Daseins abgrub.

Schon lief der Zug in die rußige Halle des Hauptbahnhofs, und bald strudelten die Heimkehrer die Treppen zur Durchgangshalle hinan, quollen als mißfarbiger Schwall auf den fast ausgestorbenen Glockengießerwall hinaus. Und wieder nun, wie bisher auf allen Stationen, wehte ihnen das geliebte, mit fanatischer Inbrunst verehrte Rot entgegen. Empfangskomitee, Kaffee, Wurststullen, Begrüßungsreden:

»Willkommen, Brüder, Genossen, Proletarier im befreiten, verjüngten Vaterlande!«

Die bis zum Überfluß vernommenen Phrasen zündeten nicht mehr so hitzig wie in Breslau und Berlin ... Auf den gefurchten Stirnen, unter den früh ergrauten Scheiteln der Familienväter hockte plötzlich die Sorge um Arbeit und Brot ... Man würde ja nicht hungern müssen, o nein, der neue Staat sorgte für die arbeitslosen Verteidiger des alten ... Aber man[S. 20] war nicht heimgekehrt, um stempeln zu gehen — man sehnte sich nach dem altvertrauten Schaffen ... nur kürzer müßte es sein, nicht den ganzen Tag mit Beschlag belegen, nicht Leib und Seele ausdörren ... Und der Hafen so leer ... Woher sollte da — —

Die Organisatoren des Empfanges kannten solche Stimmungen. Die sollten jedenfalls nicht gleich zu Anfang aufkommen. Noch schaltete ja über Hamburg der Arbeiter- und Soldatenrat ...

Musik zur Stelle — es ordnete sich ein Zug. Und es war wie eine Selbstverständlichkeit, daß der lauteste, selbstbewußteste, klassenbewußteste der Schar, der stämmige Tedje Tietgens, das bereitgehaltene rote Panier ergriff und hart hinter der Musik dem Zug der Kameraden vorantrug. Die Trompeten, die einstmals den Ersatz der Sechsundsiebziger zur Ausfahrt ins Feld begleitet hatten, schmetterten nun der Heimkehr der bolschewisierten Trümmer der wehrhaften Mannschaft Hamburgs voran. Taktfester Gesang aus zweihundert Kehlen brandete an den Mauern der Geschäftshäuser des Glockengießerwalls empor, zum Alsterbecken hinüber:

»Wir bluteten vier Jahr
in Schlamm und Glut und Graus
für Krone, Thron, Altar —
nun ist die Knechtschaft aus!
Was hoch und stolz, das fällt
im Sturm der neuen Zeit —
nun bringen wir der Welt
die rote Seligkeit!«

Wenige Minuten später als der Berliner Zug war von Harburg her der Bremer in die Halle gelaufen. Ihm entstieg unter dem tagesüblichen Gewimmel jener Geschäftsleute, die[S. 21] sich im revolutionären Deutschland einzurichten gewußt hatten, ein junger Marineoffizier in stark strapazierter Uniform, das Eiserne Kreuz Erster Klasse und eine breite Ordensschnalle auf der Brust. Er war ja nun wieder frei ... Aber auch in seinen Zügen stand noch das dumpfe Entsetzen des ersten Wiedersehens mit dem Hafen, dem Lebenszentrum seiner Vaterstadt. Auf Urlaub, während des großen Ringens, hatte man diesen Zustand als natürliche Kriegsfolge empfunden — sein Fortbestehen nach dem Waffenstillstande durchschauerte die Seele mit bitteren Beklemmungen ... Die überschatteten die ernsten, feinen Züge des Seemanns, den seine Ehrenzeichen als Bewährten erkennen ließen — und nur ein tiefes Aufatmen der schmalen Brust, ein verstohlenes Glimmen in den stillen, nach innen schauenden Augen verriet, daß in diesem Jüngling-Mann auch Hoffnungen und Sehnsüchte der Heimat entgegenjubelten — aller tiefsten Trauer um den Jammer des Vaterlandes, der Vaterstadt zum Trotz.

Von so widerspruchsvollen Gedanken durchstürmt trat der Kapitänleutnant Heinz Freimann aus der Pforte des Hauptbahnhofs auf den Glockengießerwall hinaus. Heimat ... Vaterstadt ... Wie anders als einst ... Wohin der brandende Schwall des Reiseverkehrs der Handelsmetropole? Und in den Lüften alles wie still ... Es fehlte etwas — jener Klang, der einstens dem Ankommenden den Gruß der Schiffahrt entboten hatte — das vieldutzendstimmige Heulen der Sirenen aus- und einfahrender Dampfer ... Also Hamburgs Hafen immer noch in todgleicher Erstarrung ... Und wo war die endlose Reihe der Autos, die sonst vor dem Bahnhofseingang der Reisenden geharrt hatte? Nirgends ein Gefährt zu erspähen ... Freilich: das war auch während der Kriegsjahre so gewesen. Aber — war denn jetzt nicht Friede? Nur wogende Menschenmassen — alles vom Proletariertyp, in jedem Knopfloch, an jedem Frauenmantel die blutrote Rosette ... Und in der Ferne,[S. 22] nach der Lombardsbrücke zu, wälzte sich ein Zug von hinnen — schmetterte marschfeste Musik, brandete das blutaufpeitschende Lied von der »roten Seligkeit« ...

Jetzt erst gewahrte Heinz Freimann, daß neben dem Bahnhofseingang vor einem blutrot lackierten Schilderhaus ein Posten stand — ein Matrose, die Flinte am Riemen umgehängt, die Mündung, jedem infanteristischen Gefühl zum Trotz, nach unten gekehrt. Der Mann stand nicht etwa stramm, als des Offiziers Auge ihn traf — den erstaunten Blick des Vorgesetzten beantwortete er mit einem tückisch-herausfordernden Grinsen ...

Ach so ...

Vor dem Heimgekehrten stand plötzlich ein sechzehnjähriger Lümmel mit frechem, verwüstetem Gesicht:

»Na, wat's dit? Sei hebbt woll de niege Tied verslopen?! Wüllt Sei mol fix den'n ganzen Plünn'nkrom von Achselstücken un Kron' un Ordens un Kokarr runnernehmen? Öber 'n bäten fix, segg ick ... wat?!«

Der Offizier sah eine Sekunde lang verständnislos auf den unverschämten Bengel herab — ihm zuckte die Hand, den Buben abzustrafen — aber schon wandten sich ringsum die Köpfe, stockten Schritte, schob sich's heran, glotzten herausfordernde Blicke, gellten Schreie, Flüche, Pfiffe.

»So'n utverschamten Reaxionär! Messers rut! Riet em de Plünn'n von'n Liew!«

Heinz Freimann starrte entsetzt in den Klumpen Gier und Haß, der sich sekundlich dichter um seine Heimkehr zusammenballte. Und schon war's geschehen. Derbe, arbeitsrissige Männertatzen, behandschuhte, parfümierte Dirnenhände, schmutzige Knabenfinger griffen nach ihm, rissen ihm die Waffe von der Seite — die Krone vom Ärmel, die Achselstücke von den Schultern — vom Rock die Ehrenzeichen, in vielen Dutzenden todumdräuter, abenteuertoller Seegefechte verdient — Püffe regneten[S. 23] ihm wider Brust und Bauch, seine Mütze, der Kokarde beraubt, wurde ihm roh von hinten wieder aufgestülpt, daß ihm der Schirm über die Augen fiel ...

Da stand er, taumelnd, gebrochen — ein Blutrinnsel tropfte ihm übers Gesicht, auf dem die dicken Beulen aufquollen ... um ihn johlte Triumphgeheul, Hunderte von haß- und hohngrinsenden Augenpaaren starrten ihn an ...

Wenn sie mich doch nur ganz zusammengetrampelt hätten — das war der erste halbbewußte Gedanke des Geschändeten. ... Der zweite: fort — fort — sich verkriechen ...

Wankenden Schrittes tappte Heinz von dannen, der Lombardsbrücke zu. Da hinten irgendwo gehörte er ja hin ... Dorthin, wo nun jenseits der Kunsthalle, des Schillerdenkmals der weitgeschwungene Bogen des Alsterufers auftauchte, Harvestehudes kühl-unnahbare Vornehmheit ... Der Pöbelhaufe begleitete ihn, johlend, pfeifend —

Und stob plötzlich auseinander — spritzte nach rechts und links, gab einem Auto den Weg frei, dem das gellende Hupensignal Bahn riß ... Auf dem Motorgehäuse flatterte ein winziges Sternenbanner. Nur der Kapitänleutnant hatte den Warnruf nicht vernommen — taumelte verblödet seinen Weg ... und ward plötzlich umgerissen ... Der Chauffeur des Kraftwagens hatte im letzten Augenblick scharf gebremst und das Steuerrad herumgerissen, sonst hätte er den Betäubten vollends überfahren.

Seltsam! Dieselben Menschen, die eben noch den Offizier entwaffnet, beschimpft, mißhandelt hatten, wandten sich nun mit verschärfter Wut und Empörung gegen den Fahrer und den Insassen des Wagens mit der feindlichen Flagge.

Der hagere, bartlose Herr, der bisher mit verächtlichem, unbeteiligtem Gesichtsausdruck im Lederpolster gelegen hatte, sah sich nun bemüßigt, sich des uniformierten Mannes anzunehmen, den sein Gefährt, achtlos durch die Massen des besiegten[S. 24] Volkes dahinrasend, zur Strecke gebracht hatte. Er machte eine lässig beschwichtigende Handbewegung gegen die Menge, die sein Gefährt mit geballten Fäusten und drohenden Mienen umdrängte, stieg federnden Schrittes aus, rief seinem Chauffeur einen Befehl zu und hob mit dessen Unterstützung den sich mühsam aufrichtenden Offizier in seinen Wagen. Und ehe die Herandrängenden recht zum Bewußtsein gekommen waren, flog das Gefährt mit dem flatternden Sternenbanner über die Lombardsbrücke.

»Beg your pardon, Sir —« sagte der Herr des Wagens zu seinem Opfer und Schützling und fuhr in leidlich verständlichem Deutsch fort: »Ich bin sehr unangenehm habend Sie beschädigt ... wohin muß ich bringen Sie?«

Heinz Freimanns Sinne fanden sich langsam wieder zueinander. Er richtete sich auf und sagte eisig ablehnend:

»Lassen Sie halten. Ich wünsche auszusteigen.«

Sehr höflich bat da der Amerikaner wiederholt um Verzeihung und um Erlaubnis, das Versehen seines Chauffeurs dadurch wieder gutmachen zu dürfen, daß er den captain nach Hause fahre.

»Ich meine zu sehen, Sie haben gehabt eine collision mit Ihre countrymen ...«

»Ich bitte wiederholt, mich sofort aussteigen zu lassen ...«

Je schärfer des Deutschen Stimme klang, desto liebenswürdiger wurde der Amerikaner. Er ging ins Englische über:

»Mein Name ist Elias Patterson ... ich bitte wiederholt um die Vergünstigung, Sie heimfahren zu dürfen ...«

Heinz Freimann, im Bann einer unbesieglichen Müdigkeit, gab sich gefangen. »Harvestehuder Weg 327, Villa Freimann, bitte rechtsum am Wasser entlang ...«

Der Fremde wurde ein wenig verlegen und verdoppelte seine Verbindlichkeit. »O — Villa Freimann ... Ich kenne Villa Freimann ...«

[S. 25]

»Ich bin der Sohn des Herrn Freimann«, sagte Heinz auf Deutsch.

»Oh — ich bin glücklich zu hören, daß Sie mich verstehen in Englisch« — und weiter in der heimatlichen Sprache: »Ich bin untröstlich, daß meine erste Wiederbegegnung mit dem Hause meines alten Freundes Freimann ein wenig gewaltsam war ... Ich kenne Ihren Vater sehr gut aus den schönen Tagen des Morgan-Trusts ... Wir haben sehr gut zusammen gearbeitet zum Wohle der amerikanischen und der deutschen Schiffahrt — damals — in glücklicheren Zeiten. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie ich nach Hamburg komme. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist gebeten worden, einen Sachverständigen zu senden, welcher der Entente-Kommission bei Übernahme des letzten Schiffes der Hansa-Transatlantik-Linie als Berater zur Seite stehen soll. Ich habe den Auftrag des Weißen Hauses um so lieber angenommen, als ich als Chefbesitzer des Patterson-Großreederei-Konzerns in sehr angenehmen Beziehungen zur H. T. L. und ihrem ausgezeichneten und hochverdienten Leiter, Ihrem Vater, gestanden habe ...«

In Heinz Freimanns dröhnendem Schädel hatten sich inzwischen die Gedanken ein wenig geordnet. Allerhand Assoziationen schossen an: Patterson-Konzern — natürlich, eine der führenden amerikanischen Dampfschiffahrtsvertrustungen ... Ja, Heinz meinte sich sogar zu entsinnen, daß er einmal auf Urlaub in seinem Vaterhause dem Leiter dieser riesigen Zusammenballung amerikanischer Seeinteressen begegnet sein müsse ... Aber dazwischen lagen die vier Jahre — die hatten von der Tafel des Gedächtnisses unzählige Erinnerungen und Bilder spurlos ausgelöscht ...

»Mein Vater wird erfreut sein, von Ihnen zu hören«, sagte er in Haltung.

»Ich weiß nicht genau« — wieder lächelte Patterson diplomatisch. »Ich werde ihn darauf vorzubereiten haben, daß[S. 26] meine Sendung nicht ganz uninteressiert ist ... Aber wie ich Ihren Vater kenne, wird er es ahnen, wenn er nur meinen Namen hört ... Sagen Sie ihm, er soll nicht böse sein — Elias Patterson wird ihn besuchen, wenn das amtliche Geschäft vorüber ist — vielleicht machen wir dann noch ein privates ...«

Das Auto hielt inmitten der Doppelreihe der Baumkolosse des Harvestehuder Weges. Über den schneegesprenkelten Rasenflächen, den braunen Bosketts stieg in ablehnendem Weiß Villa Freimann auf. Ihr Stil verriet, daß der Präsident der H. T. L. sich bei der Gestaltung seiner Lebenshaltung statt von dem eigenen Geschmack von dem unfehlbaren Takt seiner Gattin beraten ließ.

Heinz Freimann zwängte einen formelhaften Dank über die Lippen.

»Auf Wiedersehen, Herr Freimann ... grüßen Sie Herrn und Frau Freimann ... und lassen Sie sich die Heimat so gut schmecken, daß Sie den abscheulichen Empfang vergessen!«

Der Seemann hastete den knirschenden Kiesweg hinan. Nur nicht gesehen werden so — nur schnell verschwinden und vom Leibe reißen das besudelte Ehrenkleid ...

Ein Schillervers aus Primanertagen zuckte auf:

»O schöner Tag, wenn endlich der Soldat
ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit —«

Aufschreien hätte er mögen — aufschreien ...

Und da war er doch gesehen worden ... Ein Willkommen scholl vom Altan, eine helle, festlich gekleidete Mädchengestalt stieg die Treppe hinunter in jener vollendeten Haltung, welche die Hamburgerin aus erster Familie so peinlich wahrt, wenn sie sich in die Sphäre der Beobachtungsmöglichkeit begibt ... Aber als die Braut die fahlen, leidensgefurchten Züge des geliebten Mannes enträtselte, da war es doch um ihre Fassung[S. 27] geschehen. Zwei junge Menschenkinder flogen sich entgegen, umschlangen sich in Harm und Seligkeit, schluchzten einander all ihr Trennungsleid und ihren Jammer ums zertretene, geschändete Vaterland entgegen.

Ilse Carstensen hatte das Fehlen der Achselstücke, der Krone, der Ehrenzeichen bemerkt und — in diesem instinktiven Wissen um das Grausen der Zeit ganz richtig verstanden ... Sie würde seinen Eltern alles erklären, niemand sollte ihn fragen dürfen.

»Mein Junge du — mein Junge ... Still — bist bei mir — nun wird alles gut ...«

Und da — da stand Frau Johanna. Durch Tränenschleier strahlte ihr Mutterauge doppelt hell ... Auch sie hatte sofort gesehen ... und begriffen. Man wußte ja aus Zeitungen, wie der deutsche Pöbel seine Kämpfer empfangen hatte ... Sie winkte dem alten Charlie, der auf der Terrasse stand, bescheiden im Hintergrunde, doch im Blick den ganzen tiefen Anteil des vasallentreuen Greises.

»Charlie — sofort mit Herrn Kapitänleutnant auf sein Zimmer — Bad, frische Wäsche, Zivil ...«

Dann erst schloß sie ihren Einzigen in die Arme. Es war ja alles, alles gleichgültig — er war da, war frei — lebte — es hatte ihn nicht behalten, das brüllende Meer, der brüllende Krieg ... O doch, es wachte droben ein gnädiger Hüter ...

Und dann stand Heinz vor dem Vater, der ihn um eines Hauptes Länge überragte.

»Willkommen, mein Sohn, in dem, was übrig ist von unserm armen Vaterland ...«

»Still, still, Georg —« flüsterte Frau Johanna. »Ein Festtag ist's, ein hoher Festtag! Nein, nein, Heinz, jetzt nicht fragen, nicht erzählen ... Laß ihn, Georg, er kommt von langer Reise, ist müd' und angegriffen, wie kann's denn anders sein? Komm, mein Junge, deine Zimmer warten, und[S. 28] Charlie läßt das Bad einlaufen. Das brauchst du jetzt am nötigsten ... bist ja daheim, mein Junge, bist ja daheim!«

Gott, diese Wonne, sich ganz stumm und einsam in die warme Flut versenken — und dämmern — schweigen — leben — —

Wortlos räumte der brave Charlie das verstümmelte Soldatenkleid hinweg — grimmige Flüche im Herzen auf das Pack ohne Distanzgefühl — und doch ein beglücktes Lächeln auf den schmalen, umfalteten Lippen — breitete mit Behagen den hechtgrauen Zivilanzug aus, die seidene Wäsche — warf ganz bescheiden seinem jungen Herrn einen Blick zu, der sich verklärte, als er dankbar lächelnd erwidert wurde ...

Und drunten rüsteten die Frauen den Eßtisch, besetzten ihn mit seltenen, lang aufgesparten Köstlichkeiten ... und zwischendrein sahen sie einander in die Augen — die feuchteten sich, es zuckten die Lippen ... und plötzlich fielen die zwei einander in die Arme ...

»Mut, liebste Mama —« sagte Ilse und löste ihr blondes Haupt von der zuckenden Schulter der Mutter ihres Geliebten — »Mut! Wir werden arbeiten — Heinz an seines Vaters Seite — wir kommen wieder hoch — wir kommen hoch!«

Eine trotzige Falte grub sich in Ilse Carstensens Stirn — das Erbteil eines alten Geschlechtes von Schiffbauern ... es konnte seinen Ursprung bis in die Tage zurückverfolgen, da ein Timm Carstensen der Stadt Hamburg jene stolzen Koggen baute, die dann den Dänenkönig Waldemar Atterdag das Fürchten lehrten.

Georg aber war in sein Arbeitszimmer getreten. An diesem Schreibtisch hatte er nach Geschäftsschluß all jene ehrgeizigen Pläne ausgesonnen und aufgezeichnet, welche die H. T. L. zur ersten Dampfschiffahrtsgesellschaft der Welt gemacht hatten. Wie manchen Brief des Kaisers hatte er hier beantwortet in seinem schwungvollen Stil, der den Geschmack des weiland[S. 29] Schirmherrn deutscher Handels- und Schiffahrtsgröße so meisterhaft zu treffen gewußt hatte ...

Nun sann er nicht mehr. Dumpf und ausgebrannt war sein Hirn, sein unverwüstlicher Wille gelähmt. Er fühlte: der schluchzende, unter ungeahnter Schande zusammengebrochene Jüngling, der seines Blutes einziger Erbe war, der war nicht aus dem Holz, aus dem die großen Kommodoren geschnitzt werden. Er wußte: er war allein. Und heute abend dampfte der »Altreichskanzler« unter der Flagge der vereinigten Weltmächte in den Ozean hinaus.

Freimann öffnete ein Geheimfach und starrte auf den braunen Lauf des letzten Trösters ...


3

Wie alltäglich, seit die Revolution dem arbeitenden Volke den Achtstundentag beschert hatte, verstummte auch heute auf den Werften das gellende Ticktack der von Menschenfaust geschwungenen Niethämmer, das unablässige Schwirren um vier Uhr nachmittags. Vater Tietgens verschloß sorgfältig den Verschlag des riesigen Laufkrans, den er seit acht Jahren führte, droben auf der schwindelnden Höhe des weit gedehnten Krangerüstes, das sich über die ganze Breite der fünf vorderen Helgen der Hammonia-Werft hinzog. Freilich, von diesen fünf Schiffsbaustellen war jetzt nur eine belegt: ein Zehntausendtonnen-Passagier- und Frachtdampfer entstand dort. Den hatte eine neutrale Macht bestellt. Ja, ja, die Spanier — und die Holländer — die kennen uns ... die wissen: sie kommen ja doch wieder hoch ... die Deutschen ... werden wieder leistungsfähig wie vor dem großen Unglück ... Aber die anderen vier Helgen standen leer ... Wann würden sie sich wieder beleben?

[S. 30]

Der Vadder Tietgens da oben in seinem Laufkran — der hatte Augen im Kopf. Wenn's nicht bald wieder Bestellungen gab — wenn keine Schiffe mehr auf Helgen gelegt werden konnten — dann ging's allen an den Kragen — den Kapitalisten natürlich — den Eigentümern, den Aktionären der Werften ... aber den Handarbeitern erst recht ... den Hunderttausenden, die ihr Brot fanden da unten, wo am Südufer der Norderelbe Werft an Werft sich reckte. Und drüben die endlosen Arbeiterviertel in Hamburg, Altona, Ottensen! Da hausten sie in unzähligen Straßen und Häuserblocks, vom Erdgeschoß bis unters Dach der Mietkasernen — die Kollegen, die — Genossen! — mit Weib und Kind und Schlafburschen ... Und all das lebte — vom Hafen ... Hatte während des Krieges alle Hände voll Arbeit gehabt, die Taschen voll Geld. ... Aber nun —?! Was würde nun?! Die Kanonen waren verstummt ... der Hafen verödet ... die Werften so gut wie beschäftigungslos ... Himmel — wenn das so bliebe — was dann?!

Oh — Vadder Tietgens sah klar. Hier oben bekam man helle Augen — hellere als drunten im Brodem der Schiffsbauhallen und Eisengießereien — oder im Bauch der langsam sich aufwölbenden Schiffsrümpfe — wo man ja wohl vorm Getöse der Arbeit sein eigen Wort nicht hören konnte — geschweige denn nachdenken. Natürlich — man war seit Jahrzehnten ein anerkannter Führer der Hamburger Sozialdemokratie. Marx! Oho! — jedes Wort ein Evangelium — aber — man hatte auch auf der Werft eine Vertrauensstellung. Man wußte, wie so ein Ding entstand — so ein Riesenungeheuer, so ein modernes Seeschiff. Dazu gehörte vor allem ein Kopf — viele Köpfe — und nicht bloß ein paar hundert oder tausend stramme Fäuste. Kopf und Hand — nur zusammen konnten sie es schaffen. Brauchte denn nicht auch er selber, der Kranführer, fast mehr seinen ruhigen klaren Hirnkasten —[S. 31] und die sicheren Augen darin als die nicht minder verläßliche Hand?

Freilich — man war ein Vorkämpfer seiner Klasse, der Klassenkampf — der mußte sein. Der Geldsack und der Kopf — die hielten zusammen wie Pech und Schwefel — da mußten auch die Fäuste zusammenhalten, sonst rückten Kopf und Geldsack nichts heraus, — als was das »eherne Lohngesetz« ihnen abpreßte. Und schließlich — leben will doch auch der Mann der harten Faust, nicht wahr? Und ein bißchen besser als das Vieh ... man ist ja schließlich ein Mensch und kein Triebrad, kein Zapfen bloß im Riesengetriebe ... man will sein bißchen Behagen, sein Stück Fleisch und einen sauberen Rock für den Feiertag ... und abends ein paar Ruhestunden, in denen man aufatmen kann, sich selber gehören und seinen Lieben. Das ist doch nicht zuviel verlangt, he? Und nicht einmal das wollen sie sich abzwacken lassen, die zwei harten Verbündeten, Kopf und Geldsack ... also zielbewußter Klassenkampf, zielstrebige Organisation —! Aber: der Irrsinnsschrei aus dem Osten — Ausrottung der Bourgeoisie, Diktatur des Proletariats, »die rote Seligkeit«?! Nein, davon mochte er nichts hören, der alte Kranführer droben auf seiner blickweiten Höhe.

Er warf noch einen Blick voll unbewußter Zärtlichkeit auf das vertraute Bild zu seinen Füßen. Das weite Werftgelände lag tief unter ihm wie ein sauber aufgestelltes Riesenspielzeug — bis an den breit hinfließenden Elbstrom. Seine gelblich opalisierenden Gewässer stießen in unzähligen schmalen und breiten Streifen tief hinein in das Gewirr der Schuppen, Bauhallen, Wohnhausgruppen hüben, der turmüberzackten Häusermassen der gigantischen Doppelstadt da drüben. Das war seine Welt ... Und kaum geahntes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit schlich durch die Seele des alten Arbeiters ... etwas wie ein traumhafter Stolz. Das alles war sein ...[S. 32] sein Hamburg ... die Welthandelsstadt ... über deren Brausen und Brodeln er täglich schwebte und schaltete seit Jahrzehnten ... Er verwahrte den Schlüssel zu seinem luftigen Reiche sorgfältig in der Tasche und stapfte über den schmalen Eisensteg zum Fahrstuhl. Der trug ihn zur Erde hinab — und die zahlreichen Maler, die auf dem Labyrinth des Krangerüstes dauernd mit Instandhaltung des Farbanstrichs der Eisenkolosse beschäftigt waren. Die Gespräche der Genossen, die ihn umschwirrten, drehten sich wie immer um den einen Punkt: Lohnerhöhung ... Das war so gewesen, solange Timm Tietgens denken konnte. Aber der Krieg hatte den Beginn der großen Teuerung gebracht, der Umsturz ihr Anschwellen lawinenhaft beschleunigt. Die Lohnbewegung kam nicht einen Augenblick zur Ruhe, gärte alle paar Wochen zu neuen Krisen auf. Schon war es zu schrecklichen Ausbrüchen der Empörung gekommen: Sturm auf das Verwaltungsgebäude, schimpfliche Bedrohung und rohe Mißhandlung der Direktoren waren ihre wildesten Gipfelungen gewesen. Und seit die Heimkehrer aus den östlichen Teilen Rußlands die Gemüter mit entflammenden Schilderungen der russischen Proletarierherrschaft immer aufs neue aufpeitschten, schienen neue wilde Dinge sich vorzubereiten.

Timm Tietgens verfolgte wie die Mehrzahl der älteren Kollegen diese Entwicklung mit tiefer Besorgnis. Er für seine Person hatte sich abgefunden. Man war als eines von zehn Kindern in einer Proletariermietskaserne der menschenwimmelnden Vorstädte oder in einem der uralten Ziegelhäuser der Altstadt-Twieten zur Welt gekommen, hatte in der Volksschule das Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt und war mit vierzehn Jahren auf die Werft oder in die Fabrik gekommen — tjä, da hatte man wenig Aussicht, in einem Villenpalast am Harvestehuder Weg zu sterben ... Immerhin, auch das war schon vorgekommen ... Aber dann mußte man einen Kopf[S. 33] haben etwa wie jener Bob Timmermanns ... der hatte sich aus einem Werkmeisterhäuschen bis an die Spitze der vielverzweigten Konstruktionsabteilung der Werft emporgekämpft ... Und dessen Bruder Armin, der Stadtsekretär vom Rathaus, hatte es ja wohl gar im Kriege bis zum Leutnant gebracht ... damals, als man für den Offiziernachwuchs auf die Subalternbeamten als auf ein wertvolles Material von guter Schule und zuverlässiger Gesinnung zurückgegriffen hatte ... Timm Tietgens persönlicher Ehrgeiz kannte nur noch eine letzte Staffel des Aufstiegs: er hätte Werkmeister werden mögen, einer ganzen Unterabteilung des Riesenbetriebes als Arbeitsaufseher vorgesetzt — und eine Dienstwohnung in einem der schmucken Gebäude beziehen, welche die Werft für ihre sichersten Vertrauensleute unter den Angestellten im Bannkreis des Werkgeländes errichtet hatte ... Dann würde man sich fünf Minuten nach Arbeitsschluß zu Mutters Kaffeetisch heimfinden. Statt dessen mußte man Jahr für Jahr und Tag für Tag die Heimfahrt über den Elbstrom tun — in der vollgepramsten Dampffähre — und dann die halbe Stunde tippeln bis zum Neuen Steinweg. Dort versteckte sich in einem Seitenhofe das winklige, barackenmäßige Häuschen, in dessen oberem Stock der Kranführer Timm Tietgens mit seiner frühergrauten Lebensgefährtin eine Wohnung von immerhin drei Kämmerchen innehatte. Sie war einmal recht enge gewesen, diese Behausung — damals, als in ihr drei stramme Buben und ein hageres Mädelchen heranwuchsen. Zwei von jenen lagen in Frankreich verscharrt — einer arbeitete in den kaukasischen Bergwerken. Und das Töchterlein teilte auch nicht mehr die Wohnung der Eltern. Dennoch strahlte Timm Tietgens, wenn er seiner Antje gedachte. Sie hielt treulich zu den Eltern, obwohl sie eine Feine geworden war, eine »Bürgerliche« sozusagen ... Sie war auf die Handelsschule gegangen, hatte Stenographie gelernt und auf einem der zahllosen[S. 34] Bureaus der Werft ihre Lehrjahre verbracht. Dann war sie von der befreundeten Hansa-Transatlantik-Linie am Alsterdamm übernommen worden und hatte es dort so hoch gebracht, wie sie es in ihrem Beruf überhaupt bringen konnte. Sie war persönliche Sekretärin des allmächtigen Generaldirektors geworden, des großen Georg Freimann. Da schickte es sich denn nicht mehr, daß sie im Seitenhof des Neuen Steinwegs hauste. Sie wohnte in einer Pension im vierten Stock des Wolkenkratzers am Binnenhafen, wo sie bis zum Kriege Gelegenheit gehabt hatte, ihre Sprachkenntnisse im Englischen, Französischen, ja im Spanischen zu vervollkommnen. Aber jeden Sonntag, ja manchen Wochenabend verbrachte sie bei Vadder und Mudder — und hatte immer ein paar Mark übrig, um den Eltern eine unerwartete Freude zu machen.

Ja, Antje —! Ihr Lebensgang bewies, gleich dem der Werkmeisterjungen Bob und Armin Timmermanns: der Aufstieg in die beneidete und gehaßte Sphäre der Bürgerlichkeit war den Söhnen und Töchtern des arbeitenden Volkes nicht so unbedingt verschlossen, wie die Hetzer der Volksversammlungen es den Genossen vorschwindelten ... Und der stramme Tedje, der nun wohl endlich einmal den Heimweg aus dem Kaukasus gefunden haben müßte —? Ja, wenn der nur ein bißchen von dem zähen Ehrgeiz, dem sauberen Pflichteifer seiner Schwester Antje gehabt hätte ... Aber dem waren der Schnaps und die Mädels immer wichtiger gewesen als die Fortbildungsschule. Der würde ja wohl hoch droben in der Schwindelhöhe der Laufstege ewig seine Niete setzen, bis Alter und Gicht ihn zu einer noch anspruchsloseren Hantierung in der Schiffsbauhalle zwingen würden ... Der würde ewig ein unzufriedener, hetzerisch gestimmter Lohnsklave bleiben — und es nicht einmal zum Kranführer bringen — oder gar in die Werkmeisterswohnung aufsteigen, wie Vater Timm es für sich und seine Mine auf ihre alten Tage erstrebte ...

[S. 35]

So übersann Timm Tietgens sein Schicksal und das seiner zwei von sieben Geburten übriggebliebenen Sprößlinge. Das tat er täglich, wenn er, dem Gewimmel der Dampffähre entronnen, seinen Weg durch die Wallanlagen der »Neustadt« zulenkte, deren Name längst ein Hohn auf die winklige, altersgeschwärzte Verkommenheit des größten Teiles ihres Innern geworden war. Und immer mündete solches Grübeln in einem stillen, glückseligen Lächeln:

Ja, meine Antje —!

Als er die klapprige Holzstiege zu seiner Behausung emporklomm, vernahm er droben den polternden Klang einer Männerstimme, die ihm eine Sekunde lang fremd vorkam. Und dann stand ihm das Vaterherz einen Schlag lang still: Das war — Tedje —!

Er sprang die letzten Stufen hinan — riß die Tür auf und — hal mi de Düwel — dei Jung —!

Da saß er neben Mutter ... die streichelte, mit blinkenden Tränen auf den welken Wangen, des Heimgekehrten muskelgeschwellten Arm ...

Vater und Sohn schüttelten einander die kräftigen Tatzen, daß sie knackten.

»Junge, wo sühst du ut — as 'n Russ' — mit 'n groten Bort ...«

»Bün ick ok!« grinste Tedje. »Ja, Vadder — ick bring dei grote Heilslehre ut'n Osten mit — Moskau heißt die Parole! Nu späln wi ok Bolschewismus!« Und mit rauher, offenbar schnapsbefeuchteter Stimme sang er den Trutzgesang des Radikalismus:

»Jetzt bringen wir der Welt
die rote Seligkeit!«

Vater Timm mochte sich die Freudenstimmung über des Sohnes Heimkehr nicht durch einen politischen Disput verkümmern lassen. Er langte zur Kaffeekanne, um seinem Letzten,[S. 36] seinem Einzigen, einzuschenken. Da klang aus der guten Stube ein ungewohnter Ton: Klavierspiel ...

»Na nu? Wat's dit —?!«

Mutter Mining hatte dereinst um wenige Zwanzigmarkstücke ein altersschwaches Pianino eingehandelt, damit ihr Liebling auch Musik machen lernte ... Seit Antje die elterliche Wohnung verlassen hatte, war es verstummt. Nun klang es auf einmal wieder, und zwar anders als unter Antjes stümpernden Kinderhänden. Seltsame Weisen, den Schlichten kaum verständlich, doch geheimnisvoll erhebend und tröstend zugleich ... Eine Andacht schwebte heran, vor der selbst Tedjes trunkener Sinn sich neigen mußte ...

»Dat's mien Kam'rod, Vadder, mien Fründ ut'n Kaukasus — Clos Mönkebüll heit hei ... un Schippbuer is hei as ick ok op uns' Werft — öber freuher hebbt wi uns nich kennt ...«

Clas sei Nieter wie er, erklärte er flüsternd den Eltern. Er stamme aus Holstein und habe die ersten beiden Kriegsjahre als Reklamierter auf der Hammonia-Werft gearbeitet. Dann aber sei er »ausgekämmt« und in Rußland gefangen genommen worden. Sie beide hätten im Bergwerk gute Kameradschaft gehalten und beschlossen, sich auch in Zukunft nicht zu trennen. Sie würden ja beide ihre Arbeitsplätze auf der Werft wiederfinden und dort als Nieter zusammenarbeiten in jener zwillingshaften Gemeinschaft, die immer zwei Nieter beim Schaffen — und in der Regel auch im Leben zusammenhält.

Inzwischen entquollen dem verstimmten Pianino immer neue Weisen, fremd und seltsam, und dennoch bezwingend für die kunstfernen Hörer ... Sie weckten wunderlich wechselnd Wehmut und Seligkeit, Gram und Verzückung, Lebensangst und Vernichtungsschauer ... Immer stiller saßen die drei Tietgens, Eltern und Sohn, und allen ward die Brust zu eng im Lauschen ... das ungelenke Spiel des Genossen da drinnen rührte mit unbegriffener Magie an die unerweckten Seelen.

[S. 37]

Und keiner von ihnen hörte es, daß sich hinter ihnen leise die Tür geöffnet hatte. Ein Mädchen schob sich in die Stube, auch sie sofort zur Andacht entrückt. Ihr Wesen, ihre Kleidung wirkten in dieser Umgebung geradezu vornehm ... Antje sah den Bruder sitzen — ihr schlug das Herz in zärtlicher Liebe und doch in jähem Erschrecken zugleich. Er war immer ein rauher Gesell gewesen, und niemand, der die Geschwister beisammen gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, sie für Vögel aus dem gleichen Neste zu halten. Aber nun — war es möglich, dieser struppige, abgerissene Steppensohn, das war ihr Bruder?! Doch die Töne, die von drinnen quollen, von den Tasten, die sie selber einst mit kindlichen Fingern mißhandelt hatte — war's nicht noch ein viel größeres Wunder als des Bruders unheimliche Verwandlung? Aber ein beglückendes, ein tröstlich zaubervolles ...? Antje versäumte kein Konzert in der Musikhalle, sie kannte, erkannte sofort die schmerzlich-süße Weise: den ersten Satz der Mondscheinsonate. Es entging ihr nicht, wie verstimmt das Instrument war, wie holprig, übungsentwöhnt und hart das Spiel — es strömte dennoch von da drinnen eine Weihe aus, der auch sie, die an edelste Kunstübung gewöhnt, sich nicht entziehen konnte.

In dunkelster Schwermut verklang das Spiel. Noch eine Sekunde lang waren die Lauscher im Bann — dann schloß Antje dem Bruder von hinten mit ihren schlanken, sorgsam gepflegten Händen die Augen.

Der Bursch machte sich frei, fuhr auf, stutzte sekundenlang vor der damenmäßigen Erscheinung der Schwester — dann glühte in seinem Blick etwas mühsam Verhohlenes auf, etwas tierisch Wildes:

»Gottverdammi — Antje — Deern, wo hest du di rutmokt ...« Sie fühlte seine glühenden Finger an ihren Armen, es fröstelte sie — aufatmend machte sie sich frei, umfing den Heimgekehrten und küßte ihn rasch und scheu.

[S. 38]

»Willkamen, Tedje — endlich! Scheun, Mudder, scheun, dat wi em wedder hebben!«

Aber da staunte ja noch ein anderes Augenpaar sie an — doch ehrfürchtig wie eines Kindes Blick, das in die Weihnachtslichter starrt. Clas Mönkebüll, in zerlumptem Feldgrau, bartumzottelt wie sein Kamerad — aber in seinem Blick flatterten nicht wilde Dränge — eine kaum bewußte Sehnsucht leuchtete drinnen — und die Rechte, die er schüchtern in die dargebotene Hand der Schwester des Kameraden legte, diese derbe Werkmanns- und Soldatenfaust, die dennoch zu Beethovens Höhe zu langen trachtete, sie zitterte leise, als berühre sie ein Heiligtum.


4

Der Landungssteg der »Alten Liebe« bei Cuxhaven schwankte wie ein Schiff auf hohem Meer unterm Anprall der Wellen, welche von der offenen Nordsee her in die Mündung der Norderelbe hereinbrandeten. Der Märzsturm zerrte an den Mänteln der beiden Männer, die auf dem Deiche standen, wirbelte den Schleier des Mädchens in die Lüfte, das an des älteren Arm hing. Und aller Blicke starrten wie gebannt den breiten Strom hinauf. Dort tauchte soeben aus den Abenddünsten, noch entfernt, ein mächtiger Schiffskörper, überragt von den schlanken Strichen der Lademasten, den klotzigen, dampfspeienden Schächten der drei Schornsteine. Und wie der Riese nun näher sich heranschob, da erkannten die Augen der drei Wartenden am Flaggenmaste die schwarz-weiß-rote Fahne, das heilige Symbol ihres Landes ...

Aufschluchzend schmiegte sich Ilse Carstensen an ihres Vaters Schulter. Der alte Schiffsbauer stand wie ein Steinbild, unerschüttert, äußerlich unbewegt — nur seine fest zusammengekniffenen[S. 39] Lippen, von tausend Fältchen umspielt, bebten unmerklich fast.

Georg Freimann schwankte wie ein Trunkener, als risse der Sturmwind ihn hin und her. Die Auflösung seines Innern hatte dem schlanken, ehemals von Muskeln und Nerven völlig beherrschten Körper des Willensgewaltigen die letzten Stützen weggeschwemmt. Auch in seine Augen kam kein feuchter Schimmer. Wie ein gefangener Wiking, dem der Feind vor seinen Augen die Schiffe verbrennt, so stierte er zu dem majestätischen Schiffsleib hinüber, der eben jetzt, auf der Höhe der »Alten Liebe« angelangt, das Zeitmaß seines stolz gelassenen Hingleitens mäßigte.

Und nun geschah's:

Die schwarz-weiß-rote Fahne sank — und an ihrer Statt stiegen die Hoheitszeichen der Entente empor: Englands meerbeherrschendes blaues Banner mit dem roten Diagonalkreuz, Frankreichs Trikolore, gebläht von Siegestrunkenheit — Amerikas Sterne und Streifen, in behäbiger Selbstgefälligkeit sich spreizend — und im Schutze der drei Gewaltigen das Grün-Weiß-Rot des abtrünnigen Italien, das Schwarz-Gelb-Rot des nackensteifen Belgien — sie alle fünf die Vorkämpfer und Beauftragten von drei Vierteilen des Erdballs im vierjährigen Ringen gegen dies eine, dies unrettbar verlorene Volk, das ihnen getrotzt hatte bis über den Abfall der paar Bundesgenossen hinaus, bis zum unvermeidlichen inneren Zusammenbruch ... Ihre Banner flatterten im Nordseehauch — die Farben des Reiches waren erloschen.

Der »Altreichskanzler« war verloren — das letzte Schiff der deutschen Handelsflotte — das stolzeste Zeugnis deutschen Schaffensdranges und Wagemutes.

Das bedeutete das Ende der Hansa-Transatlantik-Linie — der weiland ersten Großreederei der Welt ... konnte es anders sein?

[S. 40]

Georg Freimann, ihr Schöpfer, wagte nicht mehr zu hoffen. Sein Lebenswerk war zerbrochen — und mit ihm sein Leben.

Ein einziges Mal schluchzte er auf — kurz und trocken. Da löste sich das Mädchen, das seines Sohnes heimliche Verlobte war, von ihrem Vater, dem nicht minder tief gebeugten, und legte ihre Arme um des Schwiegervaters zuckenden Nacken.

»Mut, Papa — Mut — wir bauen alles neu. Jetzt hast du Hilfe — Heinz ist da ...«

Wie tief und fest er geschlummert hatte, als die scheue Braut sich an Mutter Johannas Arm in des Verlobten Zimmer geschlichen hatte, um sich von ihm zu dem schweren Gange zu verabschieden ... Mochte er weiterschlummern — der Genesung, der Zukunft entgegen.

Eine Dampfbarkasse, im Kielwasser des Riesen schwimmend, hatte sich bei dessen Abstoppen an seine Flanke herangeschoben. Die Treppe sank nieder, und eine Schar von Herren tappte sich die steile Fallreep hinab: die Kommissionen der Werft und der Linie. Kein Zweifel: die Übernahme war vollzogen.

Und schon quirlte am Hintersteven des »Altreichskanzlers« der weiße Schaumstreifen auf. Das herrliche Schiff nahm Fahrt, glitt vor den umflorten Blicken seines Erbauers und des Vertreters seiner Eignerin dahin, rauschte der freien Nordsee entgegen, die es einst so oft durchfurcht, von der es vier Jahre lang ausgesperrt gewesen war — kehrte dem Heimathafen den Rücken, gewiß um ihm niemals wieder zuzustreben — und schwebte von dannen — immer ferner, ferner — ins Reich der Fabel, des Märchens, des nie Gewesenen ... wie der deutsche Traum von Größe und Weltgeltung.

Die beiden Männer, der Alternde und der Greis, standen stumm und bewegungslos. Zwischen ihnen, ihrer beider Arme umfassend, stand die Jugend. Des Mädchens Tränen waren versiegt. Eine Glut leuchtete auf ihrem weißen Gesicht, in[S. 41] ihren blauen Nordlandsaugen. Immer höher wuchs ihre feine Gestalt, immer verklärter flammte ihr Blick. Er haftete nicht mehr am fern verschwimmenden Schattenriß des entschwebenden Schiffes — er maß die breite Fläche des schaumübersprühten Meeres, in dessen Tiefe nun, aus fliehenden Wolken purpurgolden plötzlich auftauchend, die Abendsonne niederstieg.

Die Männer wandten mit einem Male die Blicke dem jählings glutüberronnenen Gesichte des Mädchens in ihrer Mitte zu. Und beiden schwoll das Herz. Sie schauten die Hoffnung — die Gewißheit der Wiedergeburt.

Und noch ein dritter Mann starrte wie gebannt zu dem abendgoldüberflammten Antlitz des jungen Weibes empor. Die Barkasse, welche die Kommission nach Hamburg zurückführen sollte, hatte an der »Alten Liebe« angelegt. Ihr war Robert Timmermanns entstiegen. Mit raschem, grimmdröhnendem Schritt war er auf die Gruppe am Deiche zugestampft. Nun hemmte er seinen Gang — am Fuße der Treppe stehend schaute er wie angewurzelt zu dem glaubensstolzen Mädchen empor — das ihm längst schon mehr bedeutete, viel mehr als nur die Tochter seines Chefs.

Ilse Carstensen war eine junge Dame der großen Welt ihrer Vaterstadt wie andere mehr gewesen. Ihre schnippische Dünkelhaftigkeit war nur selten im rauhen Betriebe der väterlichen Schaffensstätte aufgetaucht. Dann hatte sie die »Angestellten« wie eine Schar Kulis kaum eben mit einem flüchtigen Blick gestreift. Als aber der Krieg den Bureaus der Werft einen tüchtigen Mitarbeiter nach dem andern entzogen hatte, da hatte sie den Tennisschläger und das Paddelruder mit dem Kohinoor und der Schreibmaschine vertauscht. In vier Jahren strenger Arbeit war sie als erste Gehilfin ihres Vaters in den Betrieb der Werft hineingewachsen ... Und als Bob Timmermanns, vor wenigen Monaten nur um eines Haares Breite der Wut der meuternden Matrosen Kiels entronnen,[S. 42] seinen Dienst an Bord des »Friedrich der Große« wieder mit seinem Platz im Direktionsbureau der Werft vertauscht hatte, da hatte er den blonden Backfisch von einst als pflichtbewußte, kenntnisreiche und arbeitsfreudige Mitarbeiterin seines Chefs wiedergefunden, um ihr täglich nun zu begegnen, täglich mit ihr dienstliche Verhandlungen zu pflegen.

Der Sohn des Werkmeisters hätte es als Vermessenheit empfunden, seinen Blick mit ernsten Träumen zur Tochter des Werkeigners zu erheben. Zudem ahnte er seit Monaten, wußte seit heute morgen, daß das Leben der jungen Dame mit dem eines Mannes aus ihren Kreisen bereits verflochten war ...

Nun sah er sie im Abendgold, im Strahle schmerzentstiegener Hoffnung. Er stand wie geblendet in dumpfseligem Schauen.

Aber da war noch ein fünfter herangekommen, bedächtigen Schrittes, voll gemessener Zurückhaltung — und doch auch er gebannt von diesem herzergreifenden Bilde deutschen Leides. Nun schritt der Fremde an dem regungslos staunenden Recken vorüber, stieg die drei Stufen zum Deiche hinan — und seiner trockenen Stimme Ton zerriß den Zauber des Augenblicks.

»Good evening, Mister Freimann!« sagte Elias Patterson mit weltmännischem Lächeln, in das sich kaum ein ganz leiser Ton von Befangenheit mischte. »Entsinnen Sie sich noch Ihres alten Konkurrenten und Mitarbeiters vom Morgan-Trust?«

Die Bestrebungen des amerikanischen Bankiers Pierpont Morgan auf Schaffung eines alle transatlantischen Reedereien umfassenden internationalen Zusammenschlusses hatten, von Kaiser Wilhelm begünstigt, wenige Jahre vor dem Kriege zu einem vollen Einvernehmen der Hansa-Transatlantik-Linie und später auch der Bremer Konkurrenzgesellschaft mit den amerikanischen Interessentengruppen geführt. In jener Zeit hatten die Herren Freimann und Patterson auf mancher[S. 43] bedeutungsvollen Verhandlung in London, Neuyork, Hamburg einander kennen und schätzen gelernt. Der Krieg hatte diese verheißungsvollen Anfänge eines Interessenausgleichs der Weltwirtschaft zertrümmert.

Georg Freimann, der noch nicht wissen konnte, welch seltsames Zusammentreffen den einstigen Geschäftsfreund von drüben mit seinem heimkehrenden Sohne zusammengeführt, setzte der etwas stark aufgetragenen Jovialität des Mannes aus dem Siegervolke die eisige Ruhe seiner Verzweiflung entgegen.

»Herr Patterson — Sie kommen aus dem Lande des Präsidenten Wilson.«

»Herr Freimann,« entgegnete der Amerikaner mit verzeihender Ruhe, »ich war heut morgen in der angenehmen Lage, Ihren Sohn zu treffen. Ich betrachte diese Begegnung als ein gutes Omen. Darf ich Sie morgen in Ihrem Bureau aufsuchen? Meine amtliche Mission ist beendet — ich möchte noch über Privatgeschäfte mit Ihnen plaudern. Also wenn Sie erlauben — auf Wiedersehen morgen früh!«

Und Elias Patterson kehrte zur Barkasse zurück, mischte sich mit seiner ganzen dickfelligen Harmlosigkeit unter die Mitglieder der deutschen Kommission, von denen er sich bereits bei seiner Ankunft auf dem »Altreichskanzler« hatte versprechen lassen, daß sie ihn nach Hamburg mit zurücknehmen würden, dieweil die Entente-Kommission an Bord blieb, um die Fahrt des erbeuteten Schiffes in den Bestimmungshafen zu leiten.

»Verdammter Dickhäuter!« knirschte Bob Timmermanns hinter dem Amerikaner drein. »Wenn man könnte, wie man wollte — der söffe jetzt Elbwasser und Meerwasser halb und halb.« Und dann trat er auf seine Landsleute zu, schüttelte seinem Chef und dem Generaldirektor der H. T. L. in stummer Teilnahme die Hand. Auch Ilse streckte dem treuen Mitarbeiter[S. 44] vertraulich die Rechte entgegen — er drückte sie, daß das Mädchen lachend ächzte.

»Fahren die Herrschaften mit der Barkasse zurück?«

»Danke, Timmermanns —« sagte der alte Carstensen. »Unser Auto wartet.«

»Herr Präsident,« wandte der Ingenieur sich an Freimann, »ich möchte gerade in dieser Stunde im Namen der Werft um Erlaubnis bitten, Ihnen die Zeichnungen und Anschläge zum ersten der neuen Passagierdampfer vorzulegen, welche die H. T. L., wie die Werft hofft, demnächst in Auftrag geben wird.«

Der Reeder sah den Techniker an, als zweifle er an seinem Verstande. »Passagierdampfer?!« fragte er mit einem seltsamen Beben in der Stimme. »Die H. T. L. ist bankrott. Mag sie liquidieren wer will — ich passe.«

»Das Reich wird die Linie zu entschädigen haben. Sie hat in Erfüllung des Waffenstillstandsvertrages ihre gesamte Flotte a conto Kriegsentschädigung und so weiter an den Feindbund ausgeliefert — das Reich ist ihr Schuldner. Sie ist so wenig bankrott — wie das Reich.«

»Aber das ist ja bankrott?«

»Solange es noch eine Notenpresse gibt« — grinste Timmermanns — »solange ihre Marknoten noch einen Bruchteil ihres einstigen Wertes gelten — solange ist das Reich nicht bankrott.«

»Das Reich — wer ist das Reich?«

»Die provisorische Regierung.«

»Die hat Wichtigeres zu tun, als Deutschlands Wirtschaft wieder aufzurichten. Die muß ihren Parteigängern die Futterkrippe sichern.«

»So wird man sich die Entschädigung für die Handelsmarine aus der Futterkrippe herausholen müssen.«

»Na, das wäre ja etwas für Sie, Timmermanns«, warf der alte Carstensen dazwischen.

[S. 45]

»Wenn's sein muß, ich tu mit ...« knirschte der Riese. »Mich würde es laben, mit den roten Reichsverwüstern ein Wörtchen deutsch zu reden. Also noch einmal, Herr Präsident, wann haben Sie Zeit für mich und meinen Dampfer?«

Georg Freimann sah den Schiffsbauer voll Bewunderung an. »Sie sind ein Kerl, Timmermanns ... Also wenn Sie wollen — heute abend ... Aber nicht im Bureau — speisen Sie mit uns — Sie, Freund Carstensen, und du, meine Ilse, ihr seid ja ohnehin heute abend unsere Gäste, um unseren Heimkehrer zu bewillkommnen ... Also bleiben Sie gleich bei uns — im Wagen ist Platz.«

Aber Timmermanns entschuldigte sich. Er wolle mit der Barkasse heimfahren und seine Pläne holen. Zur befohlenen Stunde werde er sich in Villa Freimann melden.

Und schon stapfte er zum Landungssteg hinab. Aber etwas von ihm blieb zurück: die ungebrochene Kraft eines trotzigen Lebenswillens.

Und Georg Freimann dachte an seinen Sohn. Dieser Timmermanns — so ein Kerl hätte sein Erbe sein müssen ... dann hätte man hoffen dürfen ... Dem alten Manne da neben ihm, der keinen leiblichen Sohn gezeugt hatte, dem war der Erbe seines Geistes erwachsen. Aber die Hansa-Transatlantik-Linie?

Ein vakanter Nachlaß ... Und morgen würde der Liquidator antreten: der Konkurrent von drüben ...

Neben dem Union-Jack war auf dem Weltenmeer nur noch für das Sternenbanner Platz.

Schwarz-weiß-rot war niedergeholt.

Wie sagte das alte Kennwort der Hansa? »Das Fähnlein ist leicht an die Stange gebunden, aber es kostet viel, es mit Ehren wieder niederzuholen.«

Es war niedergeholt — aber ohne Ehre. Der Feind, der Sieger, hatte es eingerafft.


[S. 46]

5

Langsam, ganz langsam erhellte sich das schützende Dunkel, das Heinz Freimanns Bewußtsein umlagert hatte. Es war, wie wenn er vordem durch das Sehrohr des Tauchboots spähte, derweil das Schiff aus der Tiefe zum Meeresspiegel zurückstrebte: erst lag vor dem Blick nur ein tiefes Dunkelgrün — nun tönte sich's, lichtete sich smaragden auf — jetzt war's schon ein zartes schimmerndes Hellgrün — und sieh — da entschleierte sich plötzlich die wogende Meeresfläche — versank noch einmal wieder, und noch einmal in der Dämmerung des Flutenspiels — und lag nun klar gebreitet, vom Tagesglast übergleißt, vom Sprühschaum überstiebt — bis zum fernen Saum, »der Well' und Wolke trennt ...«

Solch dunkellichtes Wogen war auch in des Seemanns Seele, als die Hülle des Schlafs von seinen Sinnen sich hob. Der Meeresgrund: die Vergangenheit — das unruhvolle Schaukelspiel der Fläche: die Gegenwart — die geheimnisvolle Grenzlinie der Ferne: die Zukunft — über allem die Gnadensonne: Ilse ...

Aber wie die Flut um das auftauchende Periskop des Sehrohrs immer wieder zusammengeschlagen war, so trübte sich Heinz Freimanns Gemüt aufs neue unterm Heranschwellen der Erinnerungen, der Zweifel, der Beklemmungen. Was wartete seiner? Was seiner Liebe — seiner Heimat?! Die rote Flut, die ihm beim ersten Eintritt in die Welt seiner Abkunft, seiner Bestimmungen ihre schmutzigen Spritzer entgegengebrodelt hatte — würde sie nicht höher, immer höher steigen, unterwühlen, zusammenreißen, hinwegspülen, was noch stand von diesem unglückseligsten aller Länder?!

Heinz Freimann hatte ohne Wimperzucken Zehntausende von Tonnen feindlicher Handelsschiffe versenkt — hatte nicht gezagt, wenn das dumpfe Krachen feindlicher Wasserbomben[S. 47] seinen empfindlichen Tauchkahn in allen Fugen knacken ließ. Aber er schauderte bei der Erinnerung an die wutverzerrten Fratzen deutscher Männer, Frauen, Knaben, die ihm den Willkommen der Heimat mit Schändung und Mißhandlung dargebracht ... Und in seinem Grüblerhirn bohrte und nagte eine drängende Frage: Wie war das möglich?!

Verhetzung? Ein Wort nur, keine Erklärung. Neid der Armen gegen die Reichen, der Kleinen gegen die Großen? Das mochte zutreffen — aber es reichte nicht. Was — wollten diese Menschen? Was wünschten, was erträumten sie sich?!

Haß?! Er ist immer nur die Kehrseite einer Liebe. Was — liebten diese Menschen?!

Gewiß nicht, was er selbst liebte, der halb unbewußt behaglich, halb bewußt qualvoll hindämmernde Grübler im gepflegten, ruheatmenden Junggesellenstübchen. Ihre Arbeit liebten sie nicht. Nun gut, sie war unsauber, geistlos, eintönig — aber sie gab ihnen doch Nahrung, und sie verstanden keine höhere. Ihr Vaterland liebten sie nicht — oder wenigstens nicht mehr — sie hatten die Waffen fortgeworfen vor dem letzten Kampfe — der vielleicht hoffnungslos gewesen war, den aber Pflicht und Mannesehre gefordert hätten. Sie glaubten nicht an Gott, Heiland, jenseitiges Leben — liebten weder Engel noch Heilige, nicht die Schrift noch die Kirche ... Was also liebten sie?! Welch eine Sehnsucht glühte im Hintergrund ihrer fanatisch flackernden Augen, ihrer fiebrig entzündeten Seelen?!

Heinz Freimann wußte sich frei von Haß. Auch in der wüsten Horde, die ihn am Morgen bespien und entehrt — auch in ihr erkannte er die Genossen seiner Sprache, seines Blutes. Ein Wahn nur war's, was sie trennte von ihm und seinesgleichen. Er hatte mit der Mannschaft immer treue Kameradschaft gehalten im Frieden und im Krieg — war oft von seinen Vorgesetzten als allzu weich im Verkehr mit[S. 48] den »Kerls« getadelt worden — und hatte doch immer straffe Ordnung und Zucht aufrecht bewahrt und höchste Leistung erzielt in seinem Befehlsbereich. Von jedem seiner Rekruten und später seiner U-Bootbesatzung kannte er Vornamen, Beruf, Herkunft, häusliche Verhältnisse — und die linkischen Jungen von der Waterkant wie von der Donau und vom Lech hatten ihm Liebe mit Liebe vergolten. Und ihm — ihm mußte solches Willkommen geschehen ... Das war rätselhaft und grauenvoll — das wollte studiert, erkannt, begriffen sein ...

Eine Kluft war aufgerissen, tiefer als all die Abgründe der Vergangenheit, durch die deutsche Menschheit dieser unseligen Tage. Heinz Freimann, der unzählige Male in die schwarzgrünen Tiefen der Nordsee, der Atlantis hinuntergetaucht war — in diesen Abgrund würde er hinabtauchen, und wenn drunten Gefahren lauerten, schlimmer und grausamer als Wasserbomben, Minen, Stahlnetze ...

Aber ... auf solcher Tiefenwanderung durfte man nicht allein sein. Die seines Lebens Gesellin zu werden entschlossen war: würde sie ihm Gefolgschaft leisten? Er wußte längst, sie war nicht mehr das verwöhnte, kastenbewußte Dämchen, mit dem er im letzten Winter vor dem Kriege getanzt hatte, Schlittschuh gelaufen war ... Eine Arbeiterin war sie geworden, ein Rad im großen Getriebe der deutschen Kriegsmaschine. Aber — Dame war sie geblieben, Tochter aus altem Hause, dessen Ahnenstolz mit dem des Uradels wetteiferte. Die vieltausendköpfige Masse, die ihres Vaters Schiffe baute, war sie mehr als ein gigantisches Maschinengetriebe? Heinz wußte es nicht. Über den kurzen Urlaubstagen, die dem heimlich verlobten Paar ein flüchtiges, angstumschauertes Glück beschert hatten — über diesem schmerzlich-erschütternden Liebestraum hatte die blutige Gegenwart, die blutige Zukunft gelastet ... Ihr hatte gegolten, was die kargen Monate der Zweieinsamkeit noch anderes gebracht hatten als scheue Küsse[S. 49] und wehmutbeladenen Abschied. Wer war sie eigentlich — seine Ilse?! Er konnte nur ahnen — und hoffen.

Wie er sich aufrichtete, um sich ins Leben zurückzufinden, überschauerte seine Zweifel und Beklemmungen dennoch ein unfaßbar wohliges Gefühl der Geborgenheit. Das war Mutters Geist, der dieses Haus durchwehte, der triumphiert hatte über den harten, vorwärts und aufwärts drängenden Eroberersinn des Vaters ...

Und sieh: da ward ihm schon dieses Geistes ein erstes Zeichen. Neben dem Stuhl, auf dem der treue Charlie seines jungen Herrn Zivilkleider sorglich und einladend bereitgehängt, stand auf einem zweiten Stuhl — der Geigenkasten mit der Stradivari ... und auf dem Kasten — ein Strauß weißen Flieders aus dem Gewächshaus ... Das war der Mutter, der Braut Gruß an den Erwachenden ...

Aufrecht im Bette sitzend führte Heinz die duftigen Blüten an seine Lippen, legte sie auf sein Knie — und dann hob er voll Andacht das herrliche Instrument an sein Kinn — führte mit prüfendem Strich den Bogen über die Saiten — sogar gestimmt war sie! — und dann schwollen Töne durch die stummentrückte Kammer — die Geigenstimme des Adagio aus jenem Beethovenschen Streichtrio ...

Bei den ersten Klängen schon öffnete sich die Tür ... Frau Johanna trat auf Zehenspitzen ein, auf dem mädchenhaften Gesicht ein strahlendes Mutterlächeln. Sie winkte dem Sohne weiterzuspielen — setzte sich still in einen Lehnstuhl und lauschte, einen Himmel von Dank in Herz und Auge.

Ja — das war noch da — das lebte — das hatten sie uns nicht nehmen können, konnten es nicht ...

Das war geboren worden, noch ehe es ein Reich, eine Kaiserkrone, eine Flotte gegeben hatte — das würde bleiben, wenn all der herrische Prunk zerstoben, der stolze Traum verweht war ...

[S. 50]

Das war ewiges Deutschland ...

Die Weise verklang. Und nun erhob sich Frau Johanna — schwebte heran wie der gute Geist ihres Hauses, ihrer Welt — und zog des Sohnes zerquältes, zerschundenes Haupt an ihre Brust.

»Sie sind alle zur ›Alten Liebe‹ — der Vater, Papa Carstensen, deine Ilse ... Aber nun müssen sie bald wiederkommen — und dann werden wir glücklich sein ...«

»Glücklich?!« Und mit einem Male war alles wieder da: der Zusammenbruch, die Schande, die johlende Menge, das zerbrochene, zerrissene Vaterland, der klaffende Abgrund, aus dem die rote Flut emporschwoll. »Glücklich, Mutter?! Nein — das ist vorbei ...«

»Still — still, mein Junge ... wir sind beisammengeblieben — ist das nicht Glückes genug?!«

Nein! schrie Heinz Freimanns Soldatenherz — nein, du gütiges Mutterherz — für einen Mann ist das nicht genug ... der kann nicht leben ohne den Stolz auf ein großes, herrliches, machtvolles Volk — der kann nicht leben ohne Vaterland ...


Sie saßen beisammen im behaglich durchwärmten Speisesaal. Von den Wänden grüßten kostbare Bilder — Meisterwerke der Oswald Achenbach, Trübner, Kalckreuth — sogar ein Liebermann ... Der Wein funkelte in kristallenen Römern, die Zigarren dufteten. Aber Heinz Freimann schämte sich dieser Dinge heute ... Sie bewiesen, daß jene Stimmen aus der Tiefe recht hatten, die da sich anklagend erhoben und drohend murrten: ungleich verteilt seien des Krieges Lasten — der Reiche habe sich noch immer einen stattlichen Rest Behagens gerettet, dieweil der Arme das tägliche Brot nicht mehr zu finden wußte ...

»Sentimentalitäten!« schalt der Vater, als Heinz solchem Mißbehagen Worte lieh.

[S. 51]

Frau Johanna sah einen Meinungsstreit am bisher so heiteren Himmel des Heimkehrfestes heraufziehen. Sie gab Ilse einen Wink — die legte die Zigarette weg, trat zum Flügel und schlug die Einleitungstakte der Kreutzer-Sonate an. Da entwölkte sich schnell ihres Sohnes Grüblerstirn — schon griff er zu Geige und Bogen — und bald entschwebten die Seelen der zwei Verlobten dem Qualm und Zwang der Gegenwart in zeitlose, schmerzentrückte Gefilde. Und Frau Johanna gesellte sich zu ihren Kindern. Leise schob sie sich auf die Doppelbank am Instrument, um die Blätter zu wenden. Das festliche Zimmer, dessen jeder Winkel vom erlesenen Geschmack der Hausfrau Kunde gab, füllte sich mit Schönheit wie die geschliffenen Römer auf dem Tisch mit der goldbraunen Gabe der Rheingauberge.

Die drei Männer, die am Tische zurückgeblieben waren, warfen einander einen kurzen Blick zu, in dem etwas von unbewußter Verachtung zuckte. Die Frauen, nun gut, sie mochten Musik machen. Aber der Sohn des Hauses — durfte er in dieser Stunde tändeln?!

Wie auf Vereinbarung standen sie auf und gingen mit böotischer Rücksichtslosigkeit zur Tür, die in des Hausherrn heimisches Arbeitsgemach führte — zur Geburtsstätte all seiner gewaltigen Pläne, seiner ehrgeizigen Unternehmungen. Hier leuchteten inmitten gepreßter Ledertapeten sonnübergleißte Seestücke von Hans Bohrdt — darunter ein »Porträt« des »Altreichskanzlers«, der stolz in morgenglanzüberhauchte Wogen hinausstürmt ...

Die Herren versanken in knisternde Klubsessel.

Bob Timmermanns öffnete seine büffellederne Mappe und entnahm ihr einen mächtigen Stoß Zeichnungen, Statistiken, Tabellen. Dann sah er respektvoll seinen weißhaarigen Chef an. Dem Herrn der Werft gebührte jetzt das erste Wort.

Der alte Carstensen holte weit aus. Die Arbeiterschaft der[S. 52] Werft habe sich beruhigt, der alte Stamm sei trotz der herben Kriegsverluste wieder beisammen, und die Leitung habe es wagen können, den Wiederaufbau ihres Betriebes und damit des deutschen Handelsschiffsbaues — denn etwas anderes komme ja — vorläufig! — nicht in Frage (»Vorläufig!« knurrte Bob Timmermanns dazwischen) — durch eine Tat größten Maßstabes in Angriff zu nehmen. Die Raubgier der Entente habe die deutsche Hochsee-Dampfschiffahrt vernichtet. Aber der Schatz an Erfahrungen, Kenntnissen, Wagemut, der in den gottlob noch erheblichen Menschenkräften des Personals der Werft von den Leitern bis zum jüngsten gelernten Arbeiter aufgespeichert sei, verlange gebieterisch nach neuer Tätigkeit und gewährleiste ihren Erfolg ... Die Kapitalbeschaffungsfrage könne, wie sein erster Mitarbeiter schon am Nachmittag auf der »Alten Liebe« mit Recht betont habe, keine Rolle spielen. Die Werft habe den Plan eines neuen Schiffstyps fertiggestellt, welcher zwar einen Größen- und Geschwindigkeitsrekord nicht anstreben dürfe, aber innerhalb des durch die Verhältnisse gebotenen Rahmens die denkbar größte Wirtschaftlichkeit erreiche. Er verbinde die höchste Bequemlichkeit und Sicherheit für die Passagiere mit der äußersten, vom Ertragstandpunkt noch zweckmäßigen Geschwindigkeit der Frachtbeförderung. Zwar bilde dieser neue Schiffstyp keinen Wettbewerb für die Wunderwerke deutscher Technik, deren letztes heute in die Hände des Feindbundes übergegangen sei. Er stelle einen Kompromiß dar zwischen dem begreiflichen Wunsche der Werft, ihre Vorkriegsleistungen, welche den Neid des Erdballes erregt hätten, alsbald wieder zu erreichen, womöglich zu übertreffen — und der Notwendigkeit, mit den Mitteln hauszuhalten. Die Mittel, welche das verarmte Reich in Erfüllung der Entschädigungspflicht eines Tages zur Verfügung stellen würde, könnten nur gering angesetzt werden, und das zwinge von vornherein zur Beschränkung.

[S. 53]

Das Ergebnis aller dieser Erwägungen sei der Entwurf zu jenem neuen Schiffstyp, dessen Wesen der Oberleiter der Konstruktionsbureaus der Werft alsbald im einzelnen erläutern werde. Es sei selbstverständlich, daß die Hammonia-Werft diesen Entwurf der H. T. L. zur Verfügung stelle. Das entspreche der örtlichen Nachbarschaft wie der jahrzehntealten engen Freundschaftsverbindung der Werft und der Linie. Es entspreche aber vor allem der Lage der H. T. L. Sie sei es gewesen, die vor dem Kriege in Verbindung mit der Hammonia-Werft durch ihre beispiellosen, auch heute noch nicht überbotenen Leistungen auf dem Gebiete der Hochsee-Passagierfahrt den schärfsten Neid der internationalen Konkurrenz hervorgerufen habe und darum von der Rachgier der Sieger am gründlichsten ausgeplündert worden sei. Aber die Person ihres verehrten Leiters bürge dafür, daß es ihr Bestreben sein werde, ihren alten Platz auf dem Weltmeer nach Kräften zurückzuerobern.

Georg Freimann hatte den mit altväterlicher Feierlichkeit vorgetragenen Darlegungen seines greisen Freundes mit angespannter Aufmerksamkeit, doch mit undurchdringlich verschlossenem Gesichte gelauscht. Ab und zu war eine nervöse Unruhe über seine sonst regungslose Gestalt hingeglitten, wenn aus dem Nebenzimmer das feinabgetönte Spiel der zwei Abkömmlinge dieser seegewaltigen Mächte lauter, störend laut herübergeklungen war. Als aber Carstensen zum Schluß auf des Hausherrn eigene Person angespielt hatte, da war ein bitteres Zucken in Georg Freimanns Züge getreten.

»Ich danke Ihnen, lieber Freund Carstensen, für die lichtvolle Darlegung von Gedankengängen, die, Sie wissen es, den Inhalt auch meiner Tage und Nächte bilden seit jenen unseligen Novemberereignissen. Aber ich fürchte, soweit meine eigene Beteiligung in Frage kommt, Sie überschätzen den Rest der Kraft, den die Katastrophe meines Lebenswerkes mir noch gelassen hat.«

[S. 54]

»Sie haben Ihren Sohn«, sagte der Reeder.

»Meinen Sohn ...« Georg Freimanns Stirn verfinsterte sich. »Er hat sich im Felde glänzend bewährt. Das erweckt Hoffnungen, die mich seiner Befreiung mit einem Rest von Glauben an meine eigene Zukunft entgegensehen lassen. Aber — — wir halten Rat — er musiziert.«

»Ich würde vorschlagen, ihn zuzuziehen«, meinte Carstensen.

Georg Freimanns Züge blieben finster und eisig, als er sich erhob, um seinen Sohn zu holen. Aber schon war Bob Timmermanns aufgesprungen:

»Gestatten Herr Präsident, daß ich —«

Da war er auch schon an der Tür. Grimmiger noch als der Vater des Musikanten da drinnen hatte der Ingenieur den Kontrast zwischen dem Ernst der Stunde und dem Larifari von nebenan empfunden. Grimmiger — und doch mit einer wilden Genugtuung. So was freite um eine Ilse Carstensen! Das mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man den da nicht aus dem Felde schlagen sollte ...

Mit seiner ganzen derben Vierschrötigkeit pflanzte er sich in der Tür auf und platzte mitten ins Spiel hinein:

»Herr Kapitänleutnant — Ihr Vater wünscht Ihre Gegenwart.«

Jäh zerriß der Tönezauber. Aus Traumestiefen aufgescheucht starrten die Augen dreier Entrückten den ungeschlachten Mahner an. Mit disziplinierter Schnelle riß Heinz sich zusammen.

»Gut — entschuldige, Ilse.«

»Ich gehe mit,« sagte das Mädchen gefaßt — auch sie war durch vier Jahre Dienst an Manneswerken zur Beherrschung und Anpassung erzogen. Und nur Frau Johanna blieb zurück — einsam, verstört, von wirren Ahnungen und Ängsten bedrängt.

Ohne weitere Erklärung, mit stummer, herrischer Handbewegung[S. 55] wies Freimann den Sohn an, Platz zu nehmen. Ilse schob ihren Sessel an des Vaters Seite und schaute mit sachverständigem Anteil auf die Zeichnungen, deren Grundsinn sie sofort begriff.

Robert Timmermanns begann seinen Vortrag. Der geplante Dampfertyp weise beiderseits des Schiffskörpers beträchtliche seitliche »Anschwellungen« auf, deren Bestimmung es sei, im Schiffsinnern sogenannte »Schlingerdämpfungsräume« aufzunehmen — Tanks, deren Inneres mit dem Meerwasser in Verbindung stehe. Durch diese Vorrichtung werde das Schwanken des Schiffes in ganz verblüffendem Maße abgedämpft.

Das zweite grundlegende Kennzeichen des neuen Typs sei dies: Die Stickluft und der Schmutz des ehemaligen »Zwischendecks« würden in Zukunft der Fabel angehören: auch für die Passagiere der dritten und zweiten Klasse sei ein früher nie geahntes Höchstmaß von Sauberkeit, Komfort und vor allem Raum zur Bewegung und zum Atmen vorgesehen. Der neue Dampfer verwirkliche das amerikanische Ideal des »democratic ship« ...

Das waren die Leitgedanken des ausführlichen Vortrages, durch den der Konstrukteur an der Hand seiner Zeichnungen die gespannt lauschenden Hörer in die Eigenart des neuen Schiffswesens einführte. Er schloß mit dem Wunsche, daß die Verwirklichung dieses Plans das alte Bündnis zwischen Hansa-Transatlantik-Linie und Hammonia-Werft aufs neue verketten, es einer kommenden Blüte, einem Wiederaufleben der deutschen Seegeltung entgegenführen und damit zum Wiederaufbau des daniedergeworfenen deutschen Heldenvolkes beitragen möge.

Ein tiefes Schweigen entstand, als der Ingenieur geendet. Aller Augen hingen an Georg Freimann.

Auf des Reeders Gesicht lag eine tiefe, bittere Müdigkeit.

[S. 56]

»Meinen Glückwunsch, lieber Carstensen,« sagte er mit schleppender Stimme, »zu diesen Plänen, dieser Mitarbeiterschaft. Die Werft, ich fühle es, hat in sich die Kraft, so hohe Ziele zu verwirklichen. Denn alles ist im Leben die Persönlichkeit. Ihr habt sie — die Hammonia-Werft hat sie. Sie, Freund Carstensen, sind in Ihrem weißen Haar ein Jüngling — an Ihrer Seite steht die Erbin Ihres Blutes, und aus der Mitte Ihrer Gehilfen ist Ihnen ein Mann zugewachsen, wie die Zeit ihn braucht. Ich aber?! Heinz, mein Sohn, diese Frage zu beantworten, ist an dir.«

Aufglühenden Gesichtes richtete Heinz Freimann sich empor.

»Vater — ich sehe in diesem Zimmer drei ›Offiziere‹ — eigentlich sogar —« und der Verlobte neigte sich mit ritterlicher Achtung vor dem Antlitz der Braut, in das ein scharf prüfender Zug getreten war — »eigentlich sogar deren vier. Aber — wo ist Ihre Armee, meine Herrschaften?! Ihre Mannschaft?! Sehen Sie die Beulen auf meiner Stirn. Was ist von einem Volke zu erwarten, das seine Vorkämpfer so empfängt?!«

»Pöbel!« knurrte Timmermanns. »So ist das Volk — bei uns — und übrigens in aller Welt. In Dock nehmen — gründlich überholen — das Verrostete in den Schrott — neue Teile einsetzen! Frisch lackieren — und das Schiff wird wieder flott!«

»Nein, nein!« sagte der Offizier. »Dies Volk ist krank — ist morsch bis in den Kern. Was hilft's, wenn ihr ihm eine neue Flotte schafft? Es muß von innen aufgebaut werden — ganz neu. Es ist ein Haufen Menschen gleichen Blutes, gleicher Sprache — keine Nation. Was helfen uns Schiffe, Hochseedampfer? Neue Menschen brauchen wir, Millionen erneuter, wiedergeborener deutscher Menschen. Sie fassen den Gedanken des Wiederaufbaus viel, viel zu äußerlich an, Herr Timmermanns, wenn Sie glauben, mit Schlingertanks und Rauchsalons für die Zwischendecker Deutschland erneuern zu[S. 57] können. Vielleicht auch das gehört dazu — aber nicht einmal das werden Sie zustande bringen, solange Sie das Volk nicht verstehen — nicht kennen — und darum nicht führen können — die Sehnsucht seiner Herzen nicht stillen.«

»Herrgott noch mal!« knirschte der Ingenieur, »sind wir hier in einer Volksversammlung — oder wollen wir arbeiten, wie wir's gelernt haben?!«

Der alte Carstensen legte halb beruhigend, halb verweisend die Hand auf die geballte Faust seines ersten Mitarbeiters. »Heinz Freimann,« sagte er mit tiefem Ernst, »ich habe dir die Hand meiner einzigen Tochter anvertraut. Ich bin ein Schiffsbauer — ein Tatsachenmensch. Dein Vater braucht einen Mitarbeiter — und hat nur dich. Ist es möglich, daß eine Aufgabe von solcher Größe dir zuwächst — und du stellst dich nicht an deines Vaters Seite — und kämpfst, solange du einen Atemzug in der Brust hast?!«

»Ich habe meinen Beruf verloren,« sagte Heinz beklommen, »zu einem andern fehlen mir die Vorkenntnisse. Es ist selbstverständlich, daß ich bereit bin, einen Kontorsessel im Betriebe meines Vaters einzunehmen, wenn er glaubt, daß ich dort nützen kann. Aber ich müßte lügen, wenn ich mir den Anschein geben wollte, als glaubte ich, meinem Vater jemals werden zu können, was Sie, Herr Timmermanns, Ihrem Herrn Chef geworden sind. Ich werde zunächst nichts als ein Lehrling sein.«

»Von einem Anfänger«, sagte der Vater scharf, »erwartet man keine Meisterschaft. Aber das Werk des Vaters kann und muß von dem Sohne, der sich ihm einordnet, das eine mindestens verlangen: Glauben.«

»Glauben, Vater? Ich möchte, ich könnte sagen: Ich habe ihn ... Noch überseh' ich die Gründe des deutschen Versagens entfernt nicht ganz. Aber soviel glaube ich zu wissen: mit dem bloßen Wiederbeginn des alten Getriebes, an dessen Ende diese[S. 58] schreckliche Katastrophe gestanden hat — damit ist es nicht getan. Die Masse, ohne die Sie nichts schaffen können — die haßt Sie, haßt ihre Führer mit einem zähnefletschenden, zerstörungswütigen Haß. Er war schon vor dem Kriege da — er ist sich im Drang und Zwang des Krieges seiner bewußt geworden — eine verabscheuungswürdige Verhetzung hat ihn zu wahrer Höllenglut emporgeschürt — die kommende Not wird ihn zu noch weit gräßlicherem Ausbruch verschärfen als den, den wir bereits erlebt haben. Darum habe ich nicht die Zuversicht, daß Ihre Arbeit, so angefaßt, als sei gewissermaßen gar nichts Besonderes vorgefallen — eine ärgerliche Unterbrechung, nicht etwa ein Umsturz aller Grundlagen unseres nationalen, unseres menschlichen Daseins — daß eine einfache Wiederaufnahme der unterbrochenen Tätigkeit unserm Volke Gesundung und Erstarkung bringen kann. Das alles müßte ganz anders angefangen werden — nicht neue Schiffstypen — neue Menschentypen tun uns not.«

»Verzeihung, Herr Kapitänleutnant, da können wir schlichten Schiffsbauer und Handelsleute nicht mit«, sagte Timmermanns kategorisch und abschließend. »Herr Präsident, wir haben keine Zeit zu verlieren. Was beabsichtigt die Linie zu tun?«

Mit einem verzichtenden Achselzucken raffte der alte Freimann sich empor. »Ich werde morgen sofort den Aufsichtsrat und das Präsidium zusammenrufen. Ich zweifle nicht, daß die Leitung — und später auch die Generalversammlung mit Begeisterung und Dank Ihre Vorschläge, Freund Carstensen, und Ihren Vortrag, lieber Timmermanns, entgegennehmen wird. In diesem Sinne danke ich Ihnen, meine Herren — und darf damit vielleicht unsere Aussprache schließen. Ich fühle mich ein wenig angegriffen — Sie werden das verstehen — nach den tragischen und — na, und freudigen Erschütterungen dieses Tages ...«

Heinz hatte Ilses Auge gesucht und — nicht gefunden. Es[S. 59] blieb auch abgewandt, als der Verlobte sich beim Abschied über die schlanker, aber straffer gewordene Hand der Geliebten beugte.

»Ilse —!«

»Du bist müd', Heinz — das will ich als Erklärung nehmen«, sagte das Mädchen. Ein herber Zug lag auch um ihre Lippen — der gemeinsame Zug dieses ganzen Geschlechtes von Tat- und Pflichtmenschen — den Erben der Wikinger und Hansen. Sie löste mit raschem Zug ihre Hand aus Heinzens umklammernder Rechten, schritt ins Nebenzimmer, umarmte Mutter Johanna und flüsterte ihr zu:

»Gib acht auf Papa, Muttchen — ich hab' Angst um ihn ...«

Als Heinz sich mit einem zärtlich beklommenen Kuß von der Mutter verabschiedet hatte, schlich Frau Johanna sich zu des Gatten Arbeitszimmer. Vor der leise angelehnten Tür hemmte sie den Schritt — überwältigt und wie gewürgt von einer jäh aufsteigenden Angst. Da drinnen saß ein Einsamer — und der war ihr Lebensgefährte ... sie hätte seine Kameradin sein müssen ... War sie's gewesen? Hatte sie ihm seinen einzigen Sohn zu dem erzogen, was er brauchte — seinem Gehilfen, seinem Nachfolger, dem Erben seines Lebenswerks?!

Und plötzlich riß vor ihrer Seele ein Schleier, hinter dem sie geträumt, gelitten, sich in Entsagung und heimlichem Überlegenheitsgefühl verborgen Jahrzehnte hindurch, und eine Stimme aus innersten Tiefen sprach: Schuldig — du bist schuldig!

Daß ihr Sohn, ihr Liebling, der junge Held ihres Herzens so heimkehrte — so fremd seinem Vater, so fremd der Aufgabe, zu der er geboren und berufen war — — das war seiner Mutter, das war ihre Schuld ...

Daß der da drinnen einsam war — einsam in dieser Zeit, die den Zusammenbruch seines stolzen Traumes, seiner gewaltigen[S. 60] Lebenssiege über sein aufrechtes Haupt beschworen — das war ihre, das war der Gattin Schuld ...

Nein, Georg — einsam sollst du nicht länger sein ...

Verhaltenen Schrittes trat sie in das Arbeitszimmer. Georg saß und schrieb — oder hatte wenigstens geschrieben — eine einzige Zeile nur ... Er starrte in den stillen Glanz der Schreibtischlampe. Die Frau trat behutsam näher — der dicke Smyrnateppich dämpfte ihren leichten Gang zur Unhörbarkeit.

Und schon hatte Johanna die Arme um des Gatten Nacken geworfen.

»Verzeih mir, Georg ...« stammelte sie. »Du erstickst in Sorgen, und ich, ich hab' dich nicht getröstet. Und nun das mit Heinz ... Verzeih, verzeih ... Du willst fort, o Gott ... Tu's nicht, Georg, tu's nicht ... Komm — wollen alles zusammen tragen — alles zusammen ...«


6

Als Robert Timmermanns in seiner engen, mit Schiffsmodellen, Büchern, Seekarten vollgepfropften Junggesellenwohnung auf der Werft ankam, fand er Besuch. Armin saß auf dem Sofa, ließ sich des Bruders Zigaretten und Schnäpse schmecken und schmökerte in einem Bande saftiger moderner Dekameroniaden, wie Bobs barbarischer Lesehunger sie liebte als Paprika an das derbe Gericht Leben, das er sich zubereitet. Der ehemalige Stadtsekretär war im Krieg ein strammer, von seinen Untergebenen gehaßter, aber zugleich wegen seines tollen Draufgängertums geachteter Leutnant geworden und schließlich aus der Reserve zum aktiven Dienststand übergetreten. Nun hatte das Feindesdiktat ihm seinen neuen Beruf genommen. Er hatte noch in Polen gefochten, jetzt lag er auf der Straße. Er spielte den Mißvergnügten, den grimmigen[S. 61] Monarchisten, war einer der Mittelpunkte jener Zirkel, die mit dem Gedanken liebäugelten, durch eine Gegenrevolution, durch Diktatur und Wiederaufrichtung der umgestürzten Throne das Vaterland zu retten. Er war soeben von Berlin angekommen und berichtete nun dem Bruder: man werde nun bald die Chose schmeißen und das Ministerpack von heute an die Wand stellen.

»Na, ich weiß ja, daß ich bei dir keine Gegenliebe finde, teures Bruderherz«, schnarrte Armin. »Ich warte mit Genugtuung auf den Tag, wo deine Rotgardisten da unten auch dir den Schädel verkeilen, wie vor vier Monaten deinen Direktoren. Das sollst du wissen, daß du dann bloß auf den Knopp zu drücken brauchst, und auch hier in Hamburg stehen ein paar hundert Kameraden bereit, um dich herauszuhauen und das rote Gesindel mit Maschinengewehren zusammenzuschießen!«

»Mir wär's lieber, du setztest dich auf die Hosen und tätest was ...« brummte Bob und warf seine Mappe auf den Tisch. »Steck' da mal die Nase 'rein, wenn du nicht zu faul dazu bist ... das ist besser als eure Komplotte gegen die Republik — die übrigens auch von mir aus der Teufel holen kann.«

»Na also — in der Hauptsache sind wir wenigstens einig!« lachte Armin und zog den Stöpsel aus der Flasche. »Ich lade dich hiermit freundlichst zu deinem Friedenskognak ein. Als letzte Gegengabe für die unfreiwillige Gastfreundschaft, die du mir mal wieder erweisen mußt, hab' ich dir übrigens was mitgebracht.« Er griff nach einem etwas über einen Meter langen Paket, das hinter ihm auf dem Kanapee lag, und begann es auszupacken. »Hat Mühe genug gekostet, das durch all die roten Spione durchzupaschen, die alle Bahnhöfe besetzt halten, alle Züge nach uns Weißen abschnüffeln ...«

»Bin gespannt«, knurrte Bob. »Das erstemal, daß du dich meinetwegen in Unkosten gestürzt hättest.«

[S. 62]

»Wenigstens in moralische«, lachte der Bruder. »Na, da staunst du, was?«

Aus der Hülle entschälte sich — ein vom Kriege stark mitgenommener Karabiner ...

»So — und da ist auch Futter«, grinste Armin und ließ aus seinen vollgestopften Rock- und Hosentaschen ein Dutzend Ladestreifen mit S-Patronen auf den Tisch klappern. »Jeder Schuß für Spartakus!«

»Schnurrig, was für Rezepte die Leute nicht alle bereit haben, um Deutschland gesund zu machen!« zürnte Bob. »Dieser einstige U-Bootwüterich will neue deutsche Menschen erziehen, und du willst die alten niederknallen!«

Armin spitzte die Ohren. »Wer ist das — der einstige U-Bootwüterich?«

Bob erzählte von Heinz Freimanns Empfang in der Heimat und seiner Skepsis für Deutschland. Da horchte Armin auf. Er witterte einen Gesinnungsgenossen und beschloß, den Kapitänleutnant gleich morgen früh aufzusuchen.

»Na — und dein Dank für das da?«

»Ach so — bezahlen muß ich den also doch ... hab's mir gleich gedacht. Wieviel brauchst du mal wieder?«

»Je mehr, je besser!« schmunzelte der Leutnant a. D. »Wenn du den da nach seinem reellen Wert bezahlen solltest, müßtest du ihn genau so hoch einschätzen wie dich selber ... der wird nochmal der Werft ein kostbares Leben erhalten!«

»Ich arbeite«, sagte Bob verächtlich. »Mir tut keiner was. Der jüngste und frechste Lümmel auf der Werft weiß, daß keiner halb soviel schuftet wie ich ... davor hat die Bande schließlich doch Respekt ... Und nötigenfalls sind ja die zwei Fäuste da auch noch vorhanden ... Schießprügel ist was für Schlappstiefel und Angsthasen ...«

»Immerhin — du behältst ihn, das genügt mir!« triumphierte Armin. »'s ist mir 'ne brüderliche Beruhigung ...[S. 63] Schöne Bescherung, wenn Spartakus mir meinen Bankier aufknüpfte ...«

»Wird bald Schluß sein mit dem Bankier!« schalt Bob. »Noch zwei Monate, dann knöpf' ich die Tasche zu, verstanden?! Also such' dir Arbeit, mein Jungeken — das ist der beste Wiederaufbau!«

Bald streckten die Brüder sich zum Schlummer — der Ingenieur in seinem Bett, der heimatlose Söldner auf dem knackenden Sofa.

Ilse Carstensen! träumte Bob im Entschlummern. Wer ist deiner mehr wert — dieser schnurrige Träumer, der mit dir fiedelt — oder ich, der ich mit dir und für dich arbeite und schaffe?!


7

Als Ilse am folgenden Morgen die Schranke des beflissen und verehrungsvoll grüßenden Portiers durchschritten hatte und zu dem vielstöckig sich auftürmenden Bureaugebäude weiterschritt, trat ihr plötzlich ein Bursche in den Weg, nicht größer als sie, aber mit Schultern wie ein Stier. Er hatte sich mit einem schmächtigen Gefährten beim Pförtner gemeldet, seine Militärpapiere vorgelegt und seine und seines Genossen Wiedereinstellung zur Arbeit als ein Recht des ehemaligen Werftangehörigen und Kriegsteilnehmers in Anspruch genommen. Der Portier, ein Veteran von Siebzig, hatte den Mitkämpfer des Weltkrieges achtungsvoll gegrüßt und zu warten gebeten, bis der Vorsitzende des Arbeiterrats der Werft einträfe, dem die Neueinstellungen unterstünden. So hatten Tedje Tietgens und Clas Mönkebüll an der Schwelle ihrer einstigen Arbeitsstätte gewartet, als Ilse Carstensen den Weg zu ihrer Schreibmaschine angetreten hatte.

Das Mädchen stutzte, als der stämmige Gesell ihr plötzlich[S. 64] den Weg verlegte. Das freundliche Lächeln, mit dem sie den alten Türhüter begrüßt, war wie weggefroren: Ilse Carstensen war auf einmal unnahbare Patrizierin.

»Sie wünschen?«

»Dunnerslag!« griente Tedje, und wie eine heiße Welle stieg die Mannesgier in seine Augen, »an wat vör'n Pult geheurst du denn, mien Lütten?! Ick bruk 'n Schatz, mien seuten Engel, du wörst mi grod recht! Dei smuddligen Bolschewistendeerns in Rußland, dat weur doch nich dat Richtige op de Duer ...«

»Lassen Sie mich durch!« sagte Ilse in ruhigem Befehlston.

»Du —?!« gurgelte es bedrohlich aus des Bärtigen Kehle, »man nich so grotsnutig, lüttje Tippdeern ... Wat mien' Kam'roden in Rußland sünd, dei hebben sich dei Zorentöchter langt ... büst vör mi grod god genog, du smucke Vagel, du!«

Schon war der Veteran herzugesprungen, hatte den Dreisten am Rock beiseitegezerrt:

»Büst du besapen, Minsch?! Dat 's dei Dochter von unsen Herrn Chef!«

Und von links sprang Clas Mönkebüll herzu:

»Lot nah, Tedje! Du büst jo woll nich bi Verstand —!«

Tedje schüttelte die zwei Warner ab wie zwei Flaumfedern:

»Lot man, Jungs ... in Wiewersoken soll eener eenen nich rinschnacken!«

Und er griff nach des Mädchens Armen, die in mühsam verhohlenem Schreck erstarrten.

Aber schon flog er mit einem Ruck beiseite, taumelte gegen den Sandsteinsockel des Bureauhauses, daß ihm Schädel und Rippen knackten.

»Respekt, du Lümmel!«

Auf den ersten Blick erkannten sie einander: der Werkmeisterssohn, dessen Aufstieg den Tüchtigen ein Ansporn, ein fressender Neid den Faulen und Unfähigen war — und der[S. 65] Sohn des Kranführers, dem der Schnaps und die Mädels immer wichtiger gewesen waren als die Fortbildungsschule.

»Och — Tedje Tietgens!« sagte der Riese mit schnell wiedergekehrter Jovialität und streckte dem einstigen Schulkameraden die Hand hin: »Willkamen in de Heimat ... Un nix vör ungaud ... möst beter henkieken, wen du vor di hest ...«

Aber Tedje Tietgens schlug nicht ein. In seinen rotunterlaufenen Augen schwelte der Pariagrimm.

»Teuf, du ...« gurgelte er ... »teuft, all ji twei ...«

»Na, denn nich ...!« lachte der Ingenieur. »Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein —«

»Gnädiges Fräulein!« äffte Tedje nach. »Gnädiges Fräulein gift dat nich mehr ... Mien Kam'roden in Rußland —«

»— haben sich die Zarentöchter gelangt, das wissen wir all«, sagte der Ingenieur. »Lang' du di ok welk, wenn du jem find'st, mien Jung — öber wenn du di noch mol ünnersteihst un vergittet den nödigen Respekt vor dien'n Chef sien Fräulein Dochter, denn sleiht Bob Timmermanns di dien Knoken tau Mus, versteihst mi?!«

Ilse lachte.

»Er hat's nicht bös gemeint, Timmermanns ... Tedje Tietgens — hör' ich — der Sohn unseres braven Kranführers auf Helgen eins bis fünf? Und aus der Gefangenschaft zurück? Das freut mich zu hören. Seien Sie auch mir willkommen — ein andermal vertragen wir uns besser, nicht? Was macht Fräulein Antje, Ihre Schwester, drüben bei der Linie? Grüßen Sie sie recht schön von mir ...«

Wie betäubt stand Tedje Tietgens. Hatte sie ihm wirklich zugelächelt — die Feine, die Aristokratin — die ... verdammt — die Schöne —?

Eine Wut war in Tedje Tietgens' wuchtigem Körper ... eine Wut, wie er sie noch nie im Leben gespürt ... Warum durfte dieser Bob Timmermanns mit ihr gehen — ein Arbeitersohn[S. 66] wie er selber?! Und wie sie den angelacht hatte, ganz auf gleich und gleich ... Und ihn, den starken Tedje — den hatte sie doch nur eben so von oben her angelächelt.

Dumpf grollte Tedje Tietgens in sich hinein.

»Mien Kam'roden in Rußland — — Verdammi —!« brüllte er plötzlich auf und ballte seine Faust hinter dem Paare drein, das eben die Freitreppe zum Bureauhaus hinanschritt.

»Nich, nich, Tedje!« murmelte Clas Mönkebüll und umfaßte des Genossen zuckende Schultern. »Nix vör uns.«

»Verdammi, Jung — doch!« knirschte Tedje Tietgens.

Mit einem Ruck warf er den schweren Körper herum, schob sich an dem verblüfften Portier vorbei — und wandte der Werft den Rücken.

Clas Mönkebüll hastete hinter dem Kameraden drein.

»Wat's denn los mit di, Tedje?! Wullst du nich di anmelden tau'r Arbeit?«

»Arbeit? Wat Schiet!« schrie Tedje. »Besupen dau'k mi — un du mit — versteihst mi?!«


8

Bis tief in die Nacht hatten im Hause Freimann die Gatten beisammengesessen, Hand in Hand, wie kaum in fernen Bräutigamszeiten. Und ehe sie ihre Zimmer aufsuchten, hatte Georg den Browning aus dem Schubfach genommen, entladen und in Johannas Hände gelegt »— zur Sicherheit gegen Rückfälle!«

Gestärkt und verjüngt war der Präsident erwacht — gestärkt vom Kinderglauben der Frau, die auf ihr Vaterland vertraute, weil sie in ihm nichts anderes erblickte als das vergrößerte und erhöhte Abbild ihrer eigenen Welt. Und mehr noch hatte sie gewirkt, die Zauberin Güte. Beim Frühstück bat Heinz den Vater, ihn zum Bureau mitzunehmen und ihm[S. 67] seinen Platz am Arbeitspult anzuweisen. Georg Freimann antwortete nur mit einem kurzen »Gut!« Aber er bestellte den Wagen ab, schob den Arm in den des Sohnes und entwickelte unterwegs einen Arbeitsplan für Heinzens nächste Ausbildung. Er führte ihn durch das ganze weitgedehnte, so prachtvolle wie praktische Bureaugebäude der Linie, erklärte ihm die Einteilung der großen Gruppen des Betriebes.

Um dieselbe Stunde, als Vater und Sohn sich anschickten, die gemeinsame Arbeit aufzunehmen, betrat Elias Patterson das imposante H. T. L.-Gebäude.

»Ich wünsche zu sprechen Mister Freimann.«

Marmorgetäfelte Wände, knirschende Smyrnateppiche ...

Bauen können sie, die Deutschen ... oder konnten's ... vorher.

Aber da drinnen, hinter dem geschliffenen Glase der Bureautüren sah's minder glänzend aus:

Scheinen Zeit zu haben, die Jünglinge ...

Kein Zweifel: eine Konkursmasse vor der Liquidation — wie dies ganze zertrümmerte Deutschland ...

Lloyd George hatte recht behalten. Den knock out hatten sie weg, diese zähen Burschen.

»Good morning, Freimann — ah, auch der captain ... nun, Sie schauen ja wieder wie ein Gentleman aus ...«

Vater und Sohn gefroren in tiefverletztem Schweigen.

»— Also hören Sie, Freimann! Der Krieg ist zu Ende. Ich dächte, Sie und ich, wir ständen mindestens auf gleicher Stufe wie die Preisboxer — die reichen sich auch die Hände, wenn's vorbei ist. Der Blödsinn hat ausgetobt, die Vernunft kommt wieder ans Regiment. Wollen wir wieder die Alten sein miteinander?!«

»Ich vermute, Sie haben bestimmte Absichten und Vorschläge, Herr Patterson«, sagte Georg Freimann gemessen. »Bitte, sprechen Sie sich aus.«

»Gut — also, Herr Freimann — die H. T. L. hat ihre sämtlichen[S. 68] Schiffe verloren bis auf ein paar armselige Küstenkähne. Aber sie besitzt noch Werte — für die sie selber keine Verwendung mehr hat. Vor allem diesen Bureaupalast — er ist wundervoll ausgefallen, Herr Freimann, ich mache Ihnen mein Kompliment. Als ich Sie 1913 zum letztenmal besuchte, stand noch das alte Haus an dieser Stelle — und das war auch schon nicht übel. Dann sind da Ihre Kais — ich habe sie mir heute morgen schon angesehen. Trostlos leer schaut's da natürlich aus. Und ferner Ihre Niederlassungen im Ausland ... Zwar in den Ländern Ihrer Kriegsgegner ist natürlich alles verloren, aber in den neutralen Ländern sind Ihre ganzen Betriebseinrichtungen ja noch vorhanden. Und selbst in Feindesland haben Sie noch alte Beziehungen ... Das alles müßten Sie nun einzeln — liquidieren — wie wär's, wenn Sie das Ganze in Bausch und Bogen an meinen Konzern verkauften? Für Ihre Aktionäre kämen schließlich als Schmerzensgeld ein paar Prozent mehr heraus. Sagen Sie ja, Herr Freimann, und lassen Sie Ihre Generalversammlung einen Mindestpreis festsetzen.«

Georg Freimann hatte stumm zugehört. Ihm zuckte es in den Fingern aufzuspringen, um den lächelnden Gast aus dem Lande, das Deutschlands Vernichtung besiegelt hatte, zur Tür hinauszuwerfen. Da fiel sein Blick auf das Gesicht seines Sohnes.

Empfand er gleiches? Würde er mit jugendlicher Kraft und Geradheit die Entgegnung finden, welche dem schamlosen Angebot gebührte? Es war eine Prüfung.

»Mein Sohn — du hast Herrn Pattersons Vorschlag gehört. Ich bitte um deine Meinung.«

Heinz Freimann schrak leise zusammen. Er fühlte, daß der Vater ihn auf die Probe stellen wollte — daß eine Entscheidung über mehr noch als über das Schicksal der Liquidationsmasse der H. T. L. von ihm verlangt wurde.

[S. 69]

Oh — wer jetzt den Glauben hätte — diesen kindlichen, phrasenseligen Glauben jenes Timmermanns — der als Techniker ein Genie des Verstandes und Wissens war — und als Mensch ein so engstirniger Vergewaltiger seiner Mitmenschen ... Heinz Freimann glaubte sein Vaterland zu sehen, wie es war, in seiner inneren Zersetzung, seinem Kampf aller gegen alle, seiner hoffnungslosen Todesmattigkeit. War es nicht am besten, den Traum vom meerbeherrschenden, weltumspannenden Deutschland zu begraben — und zunächst einmal ganz von vorne anzufangen, den deutschen Menschen aufzubauen?!

»Vater — — ich würde vorschlagen, Herrn Pattersons Gebot in ernste Erwägung zu ziehen.«

Georg Freimanns Brauen senkten sich, bis sie die Augen fast verhüllten. Tonlos, doch mit geheimer Schärfe, klang seine Antwort:

»Ich bin anderer Auffassung.«

Im Gefühl grenzenloser Vereinsamung im Herzen neigte Heinz leise die Stirn.

»Herr Patterson!« sagte Georg Freimann, »ich ehre in Ihnen den ehemaligen Freund, den Gesinnungsgenossen jener Bestrebungen, denen wir beide in schöneren Zeiten gemeinsam gedient haben — sonst — würde ich — — Sie haben mich gestern im schwersten Augenblick meines Lebens gesehen. Der ist mittlerweile überwunden. Ich bin wieder der Alte — der, den Sie kennen, Herr Patterson. Und der antwortet Ihnen: Die H. T. L. ist nicht bankrott, ist nicht feil. Ich begreife, daß ihr Amerikaner den Gedanken habt, der Adler, den ihr zur Strecke gebracht habt, müsse nun außer Krone und Federn auch Balg und Eingeweide lassen. Sie irren, Herr Patterson — tot ist er noch nicht — der gerupfte, wehrlose Adler.«

Der Reeder erhob sich. Aus seinen Augen sprühte wieder der alte Hansegeist.

[S. 70]

Aber Elias Patterson blieb sitzen. Ein harmloses Lächeln spielte um seine schmalen Lippen.

»Well, Herr Freimann, ich sehe, Sie geben das Spiel noch nicht verloren. Sie sind kein Phantast, kein pangermanistischer Querkopf, ich weiß es. Was Sie anfassen, muß Hand und Fuß haben. Ich werde zurückfahren über den großen Teich — und abwarten. Entweder Sie erleben eine zweite und letzte große Enttäuschung mit Ihrem Vaterlande — dann komme ich immer noch zeitig genug, um aus der großen Liquidationsmasse zu erwerben, was mein Konzern brauchen kann. Oder aber: Sie bringen's tatsächlich fertig, Ihre Linie, Ihre stolze Schöpfung, über diese ungeheuerliche Krisis hinüberzuretten — dann kann ich Ihnen vielleicht in — na, sagen wir in einigen Monaten — einen anderen Vorschlag machen — einen Vorschlag, der Ihrem Instinkt als Führer der Schiffahrt Ihres Landes zusagen wird — ohne Ihr Ehrgefühl als Deutscher und als Schöpfer der H. T. L. zu kränken. Inzwischen — good bye, Mister Freimann — good bye, captain

Den Sohn würdigte Georg Freimann keines Wortes mehr. Da verließ Heinz wortlos das Arbeitsgemach — mit einem Gefühl der Heimatlosigkeit, das ihn aushöhlte. Im Vorzimmer schritt er zum Fenster und starrte dumpf sinnend hinaus auf das enge Geviert der Binnenalster. Es lag verlassen ... dumpf hinträumend wie diese ganze kriegserstarrte Stadt.

Die Sekretärin hatte beim Eintreten des Sohnes ihres Chefs die rastlosen Hände von den Tasten der Schreibmaschine sinken lassen. Einen Augenblick sah sie verständnislos zu dem jungen Herrn hinüber — ohne eine Ahnung, was dessen offenbar tiefe Erregung bedeuten könne. Dann nahm sie gelassen die Arbeit wieder auf.

Beim Klappern der Maschine kam es Heinz zum Bewußtsein, daß er nicht allein war. Er warf einen flüchtigen Blick zu dem jungen Mädchen hinüber — halb unbewußt nahm sein[S. 71] verwüstetes Gehirn den Eindruck von etwas Geruhigem, Starkem, einfach Klarem auf. Aber von neuem verloren sich seine Gedanken in die Wirrnisse seines Schicksals. Was nun?! Diesem verpesteten, versinkenden Lande, diesem von der Weltgeschichte selbst zum Untergange bestimmten Volke den Rücken kehren?! Aber wohin? und wozu? Und Ilse —? Wo war ein Halt, ein Sinn, ein Ziel?!

Von den drei Fenstern des Vorzimmers führte eines auf eine Seitengasse hinaus. Da drunten wurde jetzt Lärm. Gelassen stand die Sekretärin auf und schaute hinaus. Aha — wieder mal ein Pütschchen ... Diesmal galt's dem Postamt gegenüber. Der Pöbel hatte entdeckt, daß dort noch wie durch ein Wunder die Buchstaben »Kaiserliches« stehengeblieben waren, da, auf dem Amtsschild, prangte noch der gekrönte Reichsadler. Meinetwegen weg damit — nur, daß in der Regel dabei auch die Tageskasse und die Markenvorräte mit verschwanden ... Antje hatte ein blutrotes Herz. Aber Illusionen machte sie sich nicht. Die Sorte von Genossen, die mit solchen Kindereien die Republik befestigte, die kannte sie.

Mit einem Male verschwand das halb wohlwollende, halb verächtliche Lächeln von ihren Lippen. Eine Leiter war angelegt — ein anscheinend betrunkener Bursche im Militärmantel, mit struppigem Bart, kletterte unsicheren Fußes hinauf, um das Schild mit dem Adler herunterzuholen. Der Mob johlte Beifall. Es war Tedje ... den sie auf der Werft — zur Arbeit zurückgekehrt wähnte.

Hatte sie einen Laut ausgestoßen, eine erschrockene Bewegung gemacht? Der Sohn ihres Chefs stand plötzlich neben ihr.

»Ist Ihnen nicht wohl, Fräulein? Haben Sie sich erschreckt?«

Mit stummem Kopfschütteln verneinte das Mädchen.

»Hübsches Bild, wie?« sagte der Offizier. »Nein, diesem Volk ist wohl nicht mehr zu helfen. Es will seinen Untergang.[S. 72] Sehen Sie bloß diesen Lumpenkerl von einem Soldaten ... gewiß hat er sich drei, vier Jahre lang für Kaiser und Reich geschlagen — nun reißt er mit eigenen Händen das Symbol seines Vaterlandes herunter, um es im Wetteifer mit unseren Feinden in den Kot zu zerren!«

»Das ist mein Bruder«, sagte die Sekretärin starren Gesichts.

»Ihr — verzeihen Sie, das konnte ich nicht ahnen. Sind denn Sie —«

»— ein Kind des Volkes? Ja«, sagte Antje, nun voll jäher Glut in Antlitz und Stimme. »Sie meinen, ihm ist nicht zu helfen? So wie Sie und ... Ihre Klasse es angefangen hat — so freilich nicht.«

Eine Revolutionärin, die wie eine Bürgerin aussieht, dachte Heinz Freimann. Vielleicht dämmert hier ein Lichtstrahl ...

»Also, was haben wir falsch gemacht?«

»So ziemlich alles«, sagte das Mädchen. »Ihr gebt uns harte, freudlose Arbeit und so viel zum Leben, daß wir imstande bleiben, sie zu leisten. Schönheit — Seele —! Sehen Sie den da — ein schöner, starker Bursch, tüchtig zum Leben und Schaffen — und hat seit seinem vierzehnten Jahre nichts gelernt und nichts tun dürfen als täglich jede Minute zwei Nieten hämmern! Da ist er an das einzige gekommen, was ihm an Schmuck des Lebens erreichbar war: an den Schnaps und an die Frauenzimmer!«

»Also, Sie meinen,« sagte Heinz, »der Arbeiter habe das Recht, gegen seine Landsleute, gegen sein Vaterland anzuwüten, weil seine Arbeit schmutzig und eintönig ist? Aber ist denn diese Arbeit etwa unnötig? Muß sie nicht getan werden? Und hat, wer sie tun muß — tun, weil er nichts anderes gelernt hat — hat der darum das Recht, sich dem Suff und den Weibern zu verschreiben? Er mag sich emporarbeiten — unzählige seinesgleichen haben's vermocht — sie waren Proletarier,[S. 73] sie wurden Bürger ... wir brauchen gar nicht weit zu suchen, um einen Mann des Aufstiegs zu finden.«

»Aber dazu muß man stark sein, sehr stark, furchtbar stark«, sagte das Mädchen. »Das war mein Bruder nicht — so wenig wie die Tausende von uns, die ewig drunten bleiben müssen — in der trostlosen Tiefe. Dann hat er in den Krieg gemußt — für das Vaterland, das ihm nicht mehr bedeutete als seine harte Arbeit, seine ärmliche Wohnung, seine jämmerlichen Freuden ... dafür ist er zweimal verwundet worden — hat er zwei Jahre in den kaukasischen Bergwerken arbeiten müssen! Wundern Sie sich, daß er den Reichsadler zertrampelt, der ihm das Herz aus dem Leibe gefressen hat?!«

Eine Flamme glühte in des Mädchens Auge — war es Haß — oder verschmähte, zertretene Liebe?! Heinz Freimann war's, als öffne sich im nächtlichen Urwaldsdickicht eine Lichtung.

»Vielleicht haben Sie recht, Fräulein«, sagte er aus tiefem Sinnen, wie abschließend. »Ich — will darüber nachdenken.«

Zu Hause wartete seiner ein Besucher. Der stellte sich in tadelloser militärischer Haltung als Leutnant a. D. Armin Timmermanns vor und lud nach etlichen Einleitungsfloskeln den Herrn Kapitänleutnant ganz gehorsamst ein, dem Geheimbund »Retter des Vaterlandes« beizutreten. Zweck: Niederzwingung des Bolschewismus, Wiederaufrichtung der Monarchie, Befreiung der Heimaterde von der Schmach der Fremdherrschaft.

»Hohe, wundervolle Ziele!« sagte Heinz Freimann achtungsvoll. »Nur, so will mir scheinen, die Möglichkeit ihrer Verwirklichung liegt in weiter Ferne.«

»1813 hat es sieben Jahre gedauert von Tilsit bis Leipzig«, sagte der Leutnant. »Wir werden es in der Hälfte der Zeit schaffen.« Es gelte vor allen Dingen im Innern reinen Tisch machen — die Herrschaft des Gesindels müsse gebrochen werden[S. 74] ... Die Novemberverbrecher weggeräumt — sie und ihre geheimen Mitschuldigen von der hohen Finanz, der Presse, der Politik — damit Raum für den Retter werde.

»Weggeräumt? Wie wollen Sie das bewerkstelligen ...?«

»Mit denselben Mitteln, mit denen unsere Feinde im Kriege die Flaumacher und Défaitisten beseitigt haben — also mit allen.«

»Sie sind fehl am Ort, Herr Leutnant«, sagte Heinz Freimann gelassen. »Ich war selber Défaitist — und heute bin ich im Begriff, etwas zu werden, was in Ihren Augen vielleicht noch schlimmer ist —«

»Ich — verstehe nicht ...«

»Ist auch nicht nötig«, lächelte der Seemann, erhob sich und machte eine verabschiedende Verneigung.

Armin Timmermanns schlug knallend die Hacken zusammen, eisige Verachtung im Blick.

Armes Deutschland! dachte Heinz.


9

Von diesem Morgen an lebte Heinz Freimann in seinem Elternhause wie hinter einer Eiswand.

Zwar Mutter Johanna umgab ihn mit all ihrer rührenden Güte und bis ins kleinste sich erstreckenden Sorgsamkeit. Aber innerlich das fühlte er, hatte auch sie sich von ihm abgewandt. Der Wunsch, an ihrem Manne gutzumachen, was sie in Jahren der Verständnislosigkeit an ihm gefehlt zu haben überzeugt war, drängte jedes andere Gefühl, auch ihr mütterliches, in die zweite Linie. Heinz solle sich mit seinem Vater aussöhnen, den Platz an seiner Seite einnehmen, ein gehorsamer Mithelfer seiner Pläne werden — das sei Sohnespflicht — nicht mehr und nicht weniger.

Vergebens, wenn Heinz versuchte, der Mutter begreiflich[S. 75] zu machen, was in ihm vorging. Er begriff sich ja selber nicht — wieviel weniger konnte er sich andern erklären.

Ach — und auch Ilse verstand ihn nicht. Bob Timmermanns — das war ihr drittes Wort. Bob Timmermanns hat heute gesagt — Bob Timmermanns würde in diesem Falle sagen — —

»Es ist mir gleichgültig, Ilse, was dieser Herr denkt und tut, sagt oder sagen würde ... Ich muß meinen Weg gehen.«

»Und wohin soll der führen, Heinz?«

»Wenn ich das selber wüßte! Nur das eine ist mir klar: Etwas ganz Neues muß werden — neue Erkenntnisse, neue Gedanken, neue Gefühle — neue Ideale mit einem Wort ...«

»Ich glaube,« sagte Ilse, »das ist etwas sehr Altes und Einfaches, was uns not tut. Wir müssen arbeiten. Jeder an seinem Platze —«

»— sagt Bob Timmermanns«, schloß Heinz bitter.

Sie entzog sich ihm ... er würde sie verlieren — hatte sie schon verloren. Und hatte sie nicht recht? Diese Frau, er fühlte es, wollte aufschauen zum Manne — Klarheit verlangte sie, Willen und Ziel. Sie schauderte vor Wirrnis, Gärung, Halbheit.

Sie hatte verglichen — und der Vergleich war gegen ihn ausgefallen ...

Aber unwillkürlich verglich auch er. Arbeit — das war das Zauberwort, das die Welt, aus der er erwachsen war, ihm täglich in die Seele schmetterte. Dieser Stahlklang übertönte mehr und mehr die zarten Weisen, mit denen sein Elternhaus, mit denen wenigstens Mutter und Braut ihn empfangen hatten. Seit an jenem Heimkehrfeste der knarrende Baß dieses Herrn Timmermanns die tröstende Kantilene Beethovens zerrissen hatte, waren weder Mutter noch Ilse ans Klavier zu bringen. Es war, als schämten die Frauen sich, in dieser finsteren Zeit etwas anderes zu tun, als mit zusammengebissenen Zähnen dem »Wiederaufbau« zu dienen ...

[S. 76]

Dem Wiederaufbau, wie sie ihn verstanden: Schiffe — Schiffe — Schiffe ... Das war fortan der einzige Gedanke, schien der einzige Lebensinhalt all dieser Menschen geworden zu sein, die Heinz Freimanns Leben umgaben. Und er inmitten, abseits, müßig, inhaltlos ...

Eine andere Stimme war ihm erklungen — auch eine Mädchenstimme. Eine Arbeiterin, ein Arbeiterkind — aber sie hatte das Wort Arbeit ausgesprochen mit einem geheimen Haß und Abscheu im Klang ...

Und ihre Lebenslosung — wie hatte die gelautet? Schönheit — Freude — Seele ...

Seltsam: die Menschen hier oben, die fieberten nach Arbeit — und eine aus der Tiefe, die erhob Anklage wider die im Lichte Wandelnden — die forderte alle jene hohen Güter, die hier droben zu Hause waren — und für ihre Eigner plötzlich den Kurs verloren zu haben schienen ...

Immer dichter, immer finsterer lagerten sich Wolken und Wirrnis um Heinz Freimanns Seele. Zwei Welten, er fühlte es, umschloß dies Hamburg, dies Deutschland — zwei Welten, zwischen denen es keine Gemeinschaft mehr gab — keine mehr geben konnte. Die Welt von Harvestehude — und die Welt von St. Pauli ... Unverbunden standen sie nebeneinander. Ob sie auch am gleichen Werke schufen — zwischen ihnen gab es dennoch keine Beziehung mehr ... in zwei Nationen, zwei Rassen, in zwei verschiedene Arten von Lebewesen schienen diese Menschen eines Stammes und Blutes, einer Geschichte und Sprache zu zerfallen.

Und Heinz war heimatlos geworden — in jener der beiden Welten, aus der sein Leben stammte. Und die da drüben? Die andere, die nahe und doch völlig, völlig unbekannte, unerforschte, unerlebte Welt?! Die Welt, die sich nun anschickte, die Welt seines Ursprungs zu zertrümmern?!

[S. 77]

Hier war ein Problem, eine Frage, eine Dunkelheit, ein Rätsel — — vielleicht eine Aufgabe — eine Mission ...

Je tiefer Heinz im Elternhause sich vereinsamt und abgelehnt fühlte, je stärker tat in ihm eine Sehnsucht sich auf: einmal ganz aus dieser seiner Welt zu verschwinden — und in die andere hineinzutauchen ... in jene Welt, aus der es so erschütternd emporgeklagt hatte:

»Freude — Schönheit — Seele — alles habt ihr uns versagt ...«

Aber — war das wirklich die Stimme der andern Welt, und nicht am Ende nur die eines einzelnen Herzens — eines Herzens, das herausgewachsen war aus der Sphäre seiner Abkunft — ohne in der andern Wurzel fassen zu können?! War diese schlanke Sekretärin, die sich ein Kind der Arbeit genannt hatte — war sie vielleicht derselbe Fall wie er — nur umgekehrt?! Das mußte man herausbekommen. War jene Welt nur darum so gestaltlos, schmutzig, haßerfüllt, umsturzlüstern — weil jene andere, jene da oben, sich an ihr versündigt hatte — oder hatte jener andere recht, der diese ganze Welt da unten Gesindel nannte, dessen Herrschaft so schnell wie möglich gebrochen werden müsse?!

Ein Plan klärte sich schließlich aus dem Gebrodel empor — ein Plan, den vor ihm schon, er wußte es, andere Tieferstrebende seiner Lebensschicht gefaßt und ausgeführt hatten — der aber für den Sohn des Schöpfers der H. T. L. etwas Ungeheuerliches, etwas Grundstürzendes bedeutete. Wie — wenn er aus dem Kreise, der ihn ohnehin täglich frostiger ausschied — wenn er aus ihm freiwillig und unbemerkt ... verschwände?! um hineinzutauchen, unterzusinken, für eine Weile mindestens, in jener andern, unteren, unermeßlich bevölkerten, scheinbar ungegliederten — — Unterwelt?!

Wer wird ihn vermissen — sich um ihn bangen — nach ihm forschen, ihn zurücksehnen?!

[S. 78]

Ach — fast blieb nur noch die Mutter — und auch die mehr aus Mutterinstinkt als aus Mutterglauben ... Hatte sie nicht ein ganz neues Leben begonnen? ein Leben, in dessen Mittelpunkte plötzlich nicht mehr der Sohn, die Häuslichkeit, die Bücher, die Kunst standen — sondern der Gatte, die Linie, die Schiffahrt?!

Und Ilse?! Noch gab es Stunden zwischen den Verlobten, in denen sie mit schmerzlicher Sehnsucht eins das andere suchten ... Aber eine Kluft des Empfindens hatte sich zwischen ihnen aufgetan, die mit Küssen, Tränen, Umarmungen nicht mehr zu überbrücken war ... Der Moloch Arbeit, der diese Menschen in Fesseln geschlagen hatte, glotzte in jede bange Suchensstunde hinein und trennte das junge Weib, das diesem Dämon verfallen war, von dem jungen Manne, der nach dem unbekannten Gotte bangte ...

Der Vater? Der Schwiegervater? Für beide war er Luft — ein Abtrünniger — ein fast Wahnsinniger. Er brachte es fertig, in dieser Zeit ein tatenloses Grüblerdasein hinzuschleppen. Er war entartet — gebrochen — »mit den Nerven zusammengebrochen« — im günstigsten Fall ein Kranker, dessen Heilung man abwarten mußte. Aber diese harten Männer des Schaffens, des Bauens hatten nicht die Geduld, den Krankenwärter zu spielen. Er mochte mit sich selber fertig werden — oder man mußte ihn fallen lassen. Es gab viele solcher dekadenten Sprößlinge in allzu rasch aufgestiegenen Familien — die ließ man laufen, und wenn sie's gar zu toll trieben, ließ man sie entmündigen ... Wer sich nicht selber zu helfen wußte, den mochte der Teufel holen.

Heinz durchschaute sie alle — alle, seine nächsten, seine liebsten Menschen. Er wußte, bei ihnen hatte er verspielt.


Ein Abend kam, der gab letzte Klarheit.

Die Generalversammlung der H. T. L. hatte stattgefunden,[S. 79] sie war aus ganz Deutschland stark besucht worden. All diese gewichtigen Männer, die Spitzen des Handels und der Industrie, hatten Auftriebsstimmung mitgebracht. Das süße Gift des Bolschewismus schien seine Kraft zu verlieren. Die heimgekehrten Krieger fingen an, sich wieder an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen. Die eingeborene deutsche Tüchtigkeit bewährte sich — man durfte hoffen. Unter dem Einfluß dieser erwachenden Zuversicht waren die Pläne der Leitung mit einem Jubel begrüßt worden. Die Fachleute der Linie berichteten voll Enthusiasmus über die neuen Entwürfe der Werft. Alle Anträge der Direktion wurden fast widerspruchslos angenommen. Das Präsidium wurde beauftragt, ohne Verzug in Verhandlungen mit der Reichsleitung einzutreten, um sie zur Bewilligung der Ersatzleistungen für den beschlagnahmten Schiffspark zu veranlassen.

In strahlender Laune kam der Präsident mit Carstensen, welcher der Generalversammlung beigewohnt und über den neuen Dampfertyp der Werft persönlich berichtet hatte, zur Villa Freimann. Telephonisch hatten sie Ilse bestellt — sie traf wenige Minuten nach den Vätern ein. Frau Johanna hatte ein Festmahl gezaubert.

Das Tischgespräch war ein einziger Triumph, atmete Hoffnung, Schaffensdrang, Zukunftsglauben ... »Wir kommen wieder hoch!« Und der heimliche Triumphator der Stunde war ein Abwesender: Bob Timmermanns ... Sogar Vater Carstensen, dessen Selbstgefühl in den letzten Jahren, bei absinkender Kraft, ein wenig empfindlich geworden war, erkannte heute neidlos an: Der Recke war die Seele der Werft, die tragende Kraft der neuen Pläne.

»Und warum haben Sie ihn nicht mitgebracht?« fragte Johanna. »Heut abend gehört er doch eigentlich dazu!«

»Das ist wahr!« brach Ilse aus. »Toll von uns, nicht, Vater? Aber das läßt sich nachholen! Er ist ja Abend für[S. 80] Abend zu Haus und rechnet über seinen Laderaumtabellen. Ich ruf' ihn an — ohne Bob Timmermanns geht's nicht!«

Schon war sie von dannen.

Heinz hatte stumm, unbeachtet, in sich verkrochen inmitten der lauten, geschäftigen Lustigkeit gesessen. Nun erhob er sich und schlich hinaus, lautlos, wie von hinnen geweht. Er vernahm, wie Ilse draußen am Apparat im Tone fröhlich-stolzer Kameradschaft mit dem Mitarbeiter ihres Vaters sprach, ihn mit schmeichelhaften Worten einlud, an dem improvisierten Festschmaus teilzunehmen — des Riesen Stimme knarrte vernehmlich durch den Trichter in Ilses Lachen hinein. Da ging Heinz leise an der Braut vorbei, die ihn gar nicht bemerkte — und stieg zu seinem Zimmer hinan. Ihm war, er hätte alles verloren — Elternhaus und Liebe.

Den Plan der Trennung hatte sein Hirn schon längst gewälzt und in dunklen Stunden in Form gebracht. Versinken — verschwinden aus dem Bezirk des Glanzes und Besitzes, in dem er geboren war — untertauchen in der fremden, der zweiten, der unbekannten Welt ... Vielleicht war hier das Deutschland seiner Träume zu finden ... Und auch den Weg hatte er längst übersonnen.

Aus seiner fernen Seekadettenzeit wußte er seine Matrosenuniform noch in einer großen Truhe verstaut, die seine Jugendandenken barg. Nun kramte er die abgestreifte Hülle einer früheren Schicksalsstufe hervor und schlüpfte hinein. Seltsam, wie gut sie ihm noch paßte! Gefangenschaft und Heimkehrgram hatten ihn abmagern lassen.

Er streifte Ilses Ring vom Finger, steckte ihn in einen Briefumschlag, auf den er den Namen seiner Braut geschrieben. Das mochten sie finden, wenn er fortgegangen war ...

Eine Sekunde lang wurde ihm bang und bitter zum Umsinken. Ilse — — ich habe dich geliebt — geliebt als das Lichte und Klare in einem dunklen, verworrenen Leben ...

[S. 81]

Du aber suchst selber das Klare, das Einfach-Starke ... und hast's gefunden. Bei einem anderen gefunden — — vorbei —

Ein Abschiedsblick auf die Umwelt seiner Jugend — es war keine Wehmut drin. Die Vergangenheit fiel von ihm ab wie eine Schlangenhaut — abgestorben, schmerzlos.

Doch halt! Da stand ja der elegante, schwarzpolierte Kasten mit der Stradivarius — die konnte er freilich nicht mitnehmen in die andere Welt ... Aber ohne Geige — nein. Die war seines besten Wesens ein Stück.

Und er fand in den Tiefen eines Schrankes das immerhin noch recht kostbare Instrument, auf dem er einst die Anfangsgründe geübt hatte. Nun noch eine letzte Vorsicht, die jedes Mißverständnis ausschließen, seine Lieben vor unnützen Ängsten bewahren sollte. Ein paar Zeilen in Hast auf ein abgerissenes Notizblatt gekritzelt:

»Lebt wohl, ihr Lieben, für eine Zeit des Suchens. Sorgt euch nicht um mich, ich komme wieder. Um eines nur bitte ich, forscht mir nicht nach, das würde mich nur in weitere Ferne verscheuchen.«

Sein Zimmer führte auf den großen Altan an der Hinterfront der Villa, auf den Park und die Alsterseite. Er trat hinaus — es goß in Strömen. Schadet nichts. Ein Seemann ist wetterfest. Gewandter Klimmer, der er war, schwang er sich mühelos, den Geigenkasten unterm Arm, übers Geländer und abwärts in die regennassen Bosketts. Ein triefender Nebelschwaden hing über dem nächtlichen Bilde seiner versinkenden Heimatwelt. Fahl schimmerte die regungslose Fläche der träumenden Alster — nur wenige Lichter durchblinzelten wie tränentrübe Augen von der fernen Uhlenhorst herüber das Gedünst ...

Elternhaus — Liebe — ade ...

Ich geh' das Deutschland meiner Träume suchen.


[S. 82]

Zweites Buch


1

Im D-Zug Berlin-Hamburg saßen die Freunde zusammen — Georg Freimann, Carstensen, Timmermanns. Ihre Herzen brannten vor Verstimmung und Groll.

»Es war nicht gerade nötig, Freimann, daß Sie die Verhandlungen mit einem Bekenntnis zur Republik eröffneten«, sagte der alte Carstensen. »Dieser — na, sagen wir mal Opportunismus wirkte wenig überzeugend — gerade an Ihnen, der Sie, wie die Welt weiß, einmal ein Günstling, um nicht zu sagen ein Freund des Kaisers waren — und sich in der Sonne der Allerhöchsten Gnade immer höchst behaglich gefühlt haben.«

»Wenn diese Worte eine Anzweiflung meines Charakters sein sollen,« entgegnete Georg Freimann scharf, »dann sprechen Sie es bitte deutlich aus — damit ich genau weiß, wie ich mich hinfort zu Ihnen zu stellen habe.«

»Sie sind immer ein großer Diplomat gewesen, lieber Freund«, sagte der Greis behutsam. »Ich habe Ihre Elastizität stets bewundert. Sie ist eine der wichtigsten Ursachen Ihrer Erfolge geworden. Aber diesmal hat, meiner Beobachtung nach, Ihre Anpassungsfähigkeit Ihnen einen Streich gespielt. Es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß Ihre politische Neueinstellung auf die Herren, mit denen wir verhandelten, etwas verblüffend gewirkt hat. Ich brauche mich wohl nicht deutlicher auszudrücken.«

[S. 83]

»Nein — das brauchen Sie nicht«, sagte Freimann eisig. »Über meine Gesinnung zu urteilen, erlaube ich auch Ihnen nicht. Ich erkenne nur mein Gewissen als Richter an. Und mein Gewissen — das ist der Vorteil der Linie. Heute wie je.«

»Frage nur, ob Sie dem gestern wirklich gedient haben — dadurch, daß Sie sich so beflissen auf den Boden der Tatsachen gestellt haben. Das hat auf die Männer der Stunde keinesfalls überzeugend gewirkt. Das Ergebnis zeigt's: Wir kriegen kein Geld. Und damit gut' Nacht, H. T. L., gut' Nacht, Hammonia-Werft! Jetzt können wir beide die Bude zumachen.«

»Dafür bedanken Sie sich lieber bei Ihrem Herrn Mitarbeiter!« Georg Freimann warf dem stumm vor sich hinbrütenden Timmermanns einen bitterbösen Blick zu ... »Es wäre noch alles gut abgegangen, wenn dieser Gewaltmensch da nicht die Nerven verloren hätte — und den rötlichen Herren mit dem Vorwurf ins Gesicht gesprungen wäre, die Republik scheine nur Geld für Schaffung neuer Ministerien und keins für die nationalen Aufgaben zu haben ...«

»Kann sein, daß es geschadet hat«, erwiderte Bob Timmermanns mit grimmiger Genugtuung. »Mich freut's, daß ich's ihnen gesagt hab'! Sie werden's nicht hinter den Spiegel stecken.«

»Es war trotzdem eine Dummheit, Timmermanns«, sagte der Brotherr des Getadelten. »Eine Dummheit, für die wir alle büßen müssen.«

Bob Timmermanns hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge. Aber der alte Herr hatte recht ...

Die drei Männer, deren Stellung zueinander eine Lebensfrage der deutschen Schiffahrt bedeutete, verstummten in Bitterkeit und Entfremdung. Aber zu stark war in ihnen allen dreien das Gefühl der Verantwortung für das Schicksal der ihnen anvertrauten Unternehmungen, der Tausende von Menschenleben,[S. 84] die unmittelbar von ihren Entschlüssen abhingen — des Vaterlandes, das Eintracht und Zusammenarbeit von allen seinen Söhnen gebieterisch forderte — und von den Führern am meisten.

Georg Freimann war wirklich von den dreien der Anpassungsfähigste. Er war der erste, dem es gelang, Enttäuschung und Verärgerung niederzuzwingen. Seit dem rätselhaften Verschwinden seines Sohnes, an dem er sich selber einen Großteil der Schuld beimessen mußte, war er ohnehin zu Milde und Nachsicht geneigter denn je zuvor.

»Carstensen,« sagte er, »das hat keinen Zweck. Wir dürfen uns jetzt nicht entzweien — wir dürfen nicht. Das wissen Sie so gut wie ich und auch Timmermanns. Gesagt ist gesagt, geschehen ist geschehen. Also Schluß damit. Wir müssen vorwärts. Was ist zu tun?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der alte Carstensen mutlos. »Küstendampfer von dreitausend Tonnen bauen — und ab und zu mal einen neutralen Auftrag größeren Umfangs ergattern — dabei kann die Werft nicht bestehen. Und auch abgesehen davon — ich müßte danken. Liquidieren, Freimann! Wenn ich nicht mehr schaffen darf — Großes schaffen, wie ich's gewohnt bin — dann lieber Schluß!«

»Und unsere Arbeiter?!« warf Timmermanns dazwischen.

»Aha! Die Herren Arbeiter!« sagte Carstensen heftig. »Das verdammte Kapital hat zwar nicht das Recht, den Arbeitern Vorschriften zu machen, aber die Pflicht, ihnen Brot zu schaffen. Wie es das anfängt, das ist seine Sache.«

»Jawohl,« sagte Timmermanns, »es ist seine Sache. Und darum hat der Herr Präsident recht: was tun?«

Freimann hatte tief nachgesonnen. »Sie wissen, meine Herren, ich könnte der Linie — und vielleicht auch der Werft aus dem Schlamassel helfen, wenn ich an Elias Patterson nach Neuyork telegraphierte, die H. T. L. sei jetzt bereit,[S. 85] seinen Vorschlägen nachzukommen und ihre Aktiva an den Patterson-Konzern zu verkaufen. Dann faßte die Blue-Star-Line in Hamburg und damit in Deutschland Fuß, das Personal der H. T. L. würde übernommen und hätte in Zukunft unter dem Sternenbanner weiterzuarbeiten — für die Hammonia-Werft fiele wohl doch im Laufe der Zeit mancher Auftrag der Amerikaner ab — und ich für meine Person würde vielleicht als Subdirektor des Konzerns bis an mein Lebensende weiter vegetieren dürfen ...«

»Entzückende Aussichten!« brummte Timmermanns. »Dann hätte der Feindbund ja sein Ziel erreicht: die deutsche Schiffahrt als europäischer Nebenbetrieb der angelsächsischen ... Die deutsche Industrie wird den gleichen Weg gehen — schließlich ist ganz Deutschland nur noch eine Filiale der Entente, alle Deutschen Lohnsklaven ihrer Feinde ... Es ist erreicht!!«

»Nein,« sagte Georg Freimann, »es ist nicht erreicht — noch nicht ... Versuchen wir zunächst noch einmal bei den Banken unser Heil! Der neue Dampfer muß auf die Helgen, muß ... Diese Gesellschaft, die sich heute Reichsregierung nennt, wird abwirtschaften ... Wir werden unsere Entschädigung bekommen, wenn nicht morgen, dann übermorgen ... Solange müssen die Banken einspringen. Wollen sehen, ob nicht auch sie begreifen, daß Schiffahrt not ist — Leben aber nicht!«

In des Reeders Auge glühte der alte Hansentrotz. Die Freunde sahen's mit stolzer Genugtuung. Des Sohnes Verschwinden — es hatte dem zähen Eroberer den Nacken nicht gebrochen, nein gesteift. Und da sprach auch er selber schon den Gedanken aus, den die anderen hinter seiner arbeitenden Stirn geahnt:

»Dieser Phantast, der einmal mein Sohn hieß, der soll nicht recht behalten ... Nicht neue deutsche Menschen braucht's, die alten waren ganz gut so, so wie sie waren ...«


[S. 86]

2

In der zugigen Schiffsbauhalle der Hammonia-Werft stand ein junger Mann von etwa dreißig Jahren neben einem Vorarbeiter, der ihn anleitete. Der Lehrer bemühte sich, dem Schüler das »Versenken« beizubringen. Seltsamer Name für eine Arbeit, die nichts erforderte als eine sichere Hand, ein aufmerksames Auge und etliche Gewissenhaftigkeit! Eine Eisenplatte lag flach auf einem kniehohen Gerüst — um ihre vier Ränder zog sich eine Doppelreihe sauber eingestanzter Löcher. Sie waren für die Niete bestimmt, welche die Platte an das stählerne Schiffsgerüst anheften und damit zu einem Bestandteil der eisernen »Oberhaut« des werdenden Fahrzeugs machen sollten. Diese Löcher bedurften noch einer letzten Zurichtung durch Ausfräsen mit einem kegelförmig abgestumpften Bohrer. Diesen zu führen, sollte der »Neue« lernen — der heute morgen vom Betriebsrat der Werft als »Ungelernter« eingestellt worden war. Er hatte sich als Heimkehrer aus der russischen Kriegsgefangenschaft angemeldet. Papiere besaß er nicht, die waren in die Hände der Bolschewisten gefallen. Sein beschmutzter Matrosenanzug und seine korrekten Antworten auf einige seemännische Fragen machten seine Aussage glaubhaft, daß er mit U 387, das während eines Vorstoßes der Hochseeflotte in die Bucht von Ösel durch eine Wasserbombe außer Gefecht gesetzt worden und in die Hände der russischen Küstenverteidigung geraten war, in Gefangenschaft gekommen sei. Er hieß Anders Niemann.

»Junge, du hest 'n Kopp!« lobte der Vorarbeiter, als der Lehrling seine ersten Versuche gemacht hatte. »Du kümmst bald bi dei Utgeliehrten!«

Anders Niemann lächelte geschmeichelt.

»Büst all organisiert?« examinierte der Lehrmeister.

»Ick weur vor'n Krieg op'n Lann«, erklärte der Neue.[S. 87] »Doar hebbt wi noch kein Organisatschon hatt ... Öwerst ick lat mi noch hüt inschrieben ...«

»Dat's gaud,« lobte der Kollege, »süß weur ock dien's Bliewens hier nich lang west.«

Noch eine halbe Stunde blieb der Vorarbeiter neben seinem Zögling stehen, um dessen Arbeit zu überwachen — dann klopfte er ihm derb auf die Schulter.

»Du brukst kein'n Oppasser mehr — mok man so wieder ...«

Und Anders Niemann »versenkte« stumm und angespannt arbeitend Nietloch um Nietloch. War eine Platte fertig, so kam auch schon die nächste angerollt. Das vollzog sich wie die Arbeit eines ungeheuren Triebwerks, in dem auch die Menschen nur einzelne Stifte oder Radzähne waren.

In der Mittagspause folgte Anders Niemann dem Strom seiner neuen Kameraden, der sich aus dem ganzen weithingestreckten Werftgelände, in vieltausenden Rinnsalen zusammenfließend, zur Kantine ergoß. Alles bewegte sich in hastigem Tempo, die Hungrigen und Flinksten gar im Laufschritt. Man gab eine Marke ab, empfing einen Topf mit Zusammengekochtem, suchte sich in der niederen Halle an den langen, dichtumdrängten Tischen einen Platz und löffelte seinen Topf aus ... Anders Niemann hatte einen Schauder zu überwinden. Alles andere war zu ertragen ... die dumpfe Schlafstelle in der elenden Hafenkneipe drüben am St. Pauli Fischmarkt — man würde ja über kurz oder lang ein etwas menschlicheres Quartier finden. Die Gesellschaft der neuen Kollegen — der Dunst von frischem Schweiß und verschwitzter, verfilzter Wäsche, von ungepflegter Körperlichkeit, kurzum so etwas wie der Geruch einer fremden Rasse — das kannte er schließlich von der engen Gemeinschaft der Kaserne, von den Schlafkojen der Hochseeschiffe und des Tauchbootes ... Auf[S. 88] die Gespräche freute er sich ... um ihretwillen war er hier. Aber wie diese Menschen aßen — dies Schmatzen, Schlürfen, Schlingen — daran mußte man sich erst gewöhnen ...

Immerhin — Anders Niemann fühlte sich sehr wohl inmitten all der knorrigen, derbknochigen, muskelstarken, in verschlissene, schmutzstarrende, über und über geflickte Kleider gehüllten Gestalten, in deren Mitte er, mit aufgestemmten Ellenbogen, wie sie, sein erstes durch Handarbeit verdientes Mittagsmahl verzehrte. Und als der Heißhunger gestillt war, kam eine Unterhaltung in Gang. Aber von ihrem Inhalt war Anders ein wenig enttäuscht. Nichts Grundsätzliches — keine Ideen ... Lohnfragen — nichts als Lohnfragen ... Er war zwischen lauter ältere Genossen geraten ... Es sei ein Skandal, meinten die, daß heutzutage der Ungelernte wie der Gelernte bezahlt werde ... Das sei früher nicht gewesen, und das könne auch nicht bleiben. Und auch, daß es jetzt keine Akkordarbeit mehr geben solle, das sei ein Unverstand ... Wenn man mit fleißiger Hand nicht mehr verdienen könne als mit fauler, dann mache das ganze Arbeiten keinen Spaß. ... Anders Niemann lauschte mit stummer Genugtuung. Die revolutionäre Überspannung des Gleichheitsbegriffs schien bei den besonneneren Angehörigen der Klasse schon ihre erste Werbekraft verloren zu haben.

Bald brannten die Zigaretten. Nun kamen die persönlichen Fragen. Anders Niemann freute sich seiner Beherrschung des Plattdeutschen, das er seiner Vertrautheit mit der Mannschaft verdankte. Niemand kam auf den Einfall, der junge hübsche Kerl mit dem kahlgeschorenen »Stiftekopp« und dem ersten Stoppelflaum eines sprossenden Bärtchens auf der Oberlippe könne etwas anderes sein als ein waschechter Genosse ...

In bedeutend langsamerem Tempo als der Hinmarsch zur Futterstelle wurde der Rückmarsch zur Arbeitsstätte angetreten. Und Anders Niemann »versenkte« weiter seine Nietlöcher.[S. 89] Immer die gleiche Bewegung, das gleiche Tasten mit dem schnurrenden Bohrer, bis er richtig über der Mitte des Loches saß ... Dann eine Senkung, die rasenden Feilzähne packten zu — rrrr — das Loch war fertig ... weiter, weiter ... Das Hirn verblödete, die Augen schmerzten, alle Glieder brannten, bis endlich die Sirene Feierabend gebot ... Dann trottete Anders Niemann im Schwarm seiner Arbeitskollegen zur Werft hinaus, überquerte in der vollgepfropften Dampffähre den gärenden Elbstrom und schlenderte nun der Reeperbahn zu, um eine Abendunterhaltung im Stil seiner neuen Lebensführung aufzusuchen. Und alsbald war er untergetaucht in einem Schwall von Menschen, die in ihren Kleidern den Dunst der Arbeit mit sich trugen, in ihren Gesichtern die Abspannung eines Tagewerks, das ihnen nichts als freudlos ertragene Fron bedeutete ... eines Daseins, aus dem sie nichts zu machen, dem sie keinen Sinn, kein Ziel zu geben gewußt hatten ... Wie das dahinflutete, ruhelos, hoffnungslos, lechzend nach einem Augenblick der Entspannung, nach Genüssen, roh und leer wie ihre Mienen ... Ein grenzenloses Mitleid schwoll in Anders Niemanns Herzen. Wie arm waren diese Menschen ... Oh, sie waren nicht hungrig — sie waren satt, sie konnten sich noch satt essen, während unzählige Geistige schon darben gelernt hatten ... Sie waren Masse und hatten es verstanden, als Masse aufzutrumpfen und manches zu erzwingen, was die Angehörigen höhergestellter Berufe längst entbehren mußten ... Und dennoch waren sie arm. Sie hatten nicht verstanden, nicht gelernt, ihr Leben mit Stolz und Auftrieb zu füllen ... Würde man ihnen helfen können —?!

»Heute gr. Ball!« Anders war in einen Schwall von Pärchen geraten, der dem grell durch eine Bogenlampe erleuchteten Eingang eines Tanzlokals zustrebte und sich einsaugen ließ wie ein Schwarm Nachtschmetterlinge in einen Exhaustor. Drinnen eine Luft zum Schneiden — rote Papiergirlanden,[S. 90] rote Fähnchen an den Wänden — am Klavier ein abgeschabter Klimpergreis, neben ihm ein hagerer, langhaariger Jüngling mit der Geige — zu ihrem blöden Walzergedudel im enggekeilten Tanzgewirr sich drehend Paar um Paar — die Söhne und Töchter der »andern Welt«.

Anders Niemann bestellte sich ein Glas Bier in einen Winkel und beobachtete. Ihm ging's zunächst wie einst bei seinen Rekruten. Es schien, als seien das alles dieselben Menschen, derselbe eine Mensch in ein paar hundert fabrikmäßig hergestellten Exemplaren, nur jedes ein bißchen anders angemalt und ausstaffiert ... Die Burschen gutmütig, sinnenhungrig, zu handgreiflicher Gewalt so rasch bereit wie zu schneller Brüderschaft ... Die Mädchen putzfroh, verliebt, lechzend nach derber Zärtlichkeit, leichtgläubig und gleich schnell zum Lachen und Weinen zu bringen ... Allmählich schälte sich dann doch eine ganze Welt von Typen heraus — und aus dem Gewühl hob sich gar die eine oder andere Einzelpersönlichkeit von eigener Prägung.

Ein Strammer namentlich fesselte den versteckten Beobachter. Er schwitzte und schäumte förmlich Lebenskraft und Lebensgier. Die Mädchen rissen sich um seine Gunst, klebten an seiner breiten Brust wie Fliegen am Leimpapier. Aber er schien zu keiner zu gehören — nachlässig langte er sich Dirn um Dirn zum Tanz, sprach zu der schmachtenden Partnerin von oben herab, schob, wenn das Gewoge verebbte, die sehnsüchtig auf Gespräch und Einladung harrende wie ein lästiges Bündel von sich. Dabei brannte in seinen Augen ein Feuer, das ihn selber auszudörren schien. Er löschte es, indem er nach jeder Runde einen Schnaps hinunterkippte ... Eine schöne, wilde, gefährliche Bestie ...

Der Mordskerl, dem die Weiblein sehnsüchtig zuschmachteten, schien unter den Männern viel Bekannte zu haben. Von allen Seiten trank man ihm zu, hielt ihm das Henkelglas hin:

[S. 91]

»Suup, Tedje, suup! Büst lang naug bi Woter un Brot in't Bargwark fohrt!«

Aber nur mit einem der Kollegen hielt der Stramme Kameradschaft — einem Stillen, Seltsamen, der für Anders Niemanns Gefühl ganz aus dem Rahmen fiel. Blondes Schlichthaar war senkrecht zurückgestrichen von einer vierkantigen Träumerstirn, unter der ein Paar blaue Kinderaugen standen. Die Nase bäurisch grob, der Mund schmal und schwärmerisch, das Kinn breit ausladend und kantig wie der Schädel — ein merkwürdiger, unvergeßlicher Kopf.

In einer Pause bemerkte er, wie der Starke auf den wunderlichen Freund einsprach — der wehrte ab, aber wie einer, der sich gern nötigen lassen möchte. Und rundum wurden Stimmen laut:

»Clos Mönkebüll! Du sast uns 'ne Red' hollen! 'ne Red' van de niege Tied!«

Und endlich stand der Allbegehrte auf. Sein strammer Gefährte hob ihn wie eine Puppe auf den Tisch — alles drängte herzu, der Tanzbums wurde zur Volksversammlung.

»Kam'raden — Genossen — Brüder!« hob der Hagere mit leuchtendem Antlitz an: »Wer von uns fühlt dat nich, dat wir am Anfang stehn von eine neue Minschheit, von eine bessere, reinere Zeit?! Wir alle, was wir ältere Jungs sind, wo vor dem großen Massenmorden schon in der Arbeit gestanden sind, wir wissen es alle, daß wir damals wie in eine Stickluft gelebt haben und geschafft mit unsre schwielige, rissige Fäuste. Unsere Arbeit war der Fluch von unser ganzes Leben, wir waren angefüllt bis zum Bersten mit Haß — mit dem roten, glühentigen Haß — gegen den Staat, der nur für die Großen und Mächtigen inricht' wor, un vör uns arme Schindluder nix öwerig harr as Schinnerei un Invalidität. Un dorbi war in unsre Herzen ganz tief, tief innen eine große Sehnsucht, ein großes Heimweh nach eine bessere, schönere[S. 92] Welt ... und denn hebbt wi Johr üm Johr doar buten in Slamm un Füer liggen müßt un unsre Brüder drüben in' annern Graben kaputschießen oder uns von sie kaputschießen lassen ... do hebbt wi Tied naug hatt tau'n Simmelieren — doar sünd wi all erweckt worden un hebbt begrepen, dat wi uns blot sülben helpen künnen ... Un dorüm hebbt wi Sluß mokt un hebbt uns hulpen un hebbt dei Throns umstött ... Un nu is dat Volk Herr im eignen Hus ... Aber noch ragt in unsrer Mitte eine mächtige Burg! Doar sitten sei noch jümmers drin, dei Gewaltigen von't Kapital ... Diese letzte Zwingburg möt wi noch stürmen un breken, ut düsse letzte Stellung möt wi den Feind der Minschheit noch rutsmieten, doarmit dat dei grote Gottesfräden von Brüderlichkeit öber dei Welt kümmt, dat wi all den'n glieken Andeil an dei irdischen un an dei ewigen Göder bekamen — dat dat nich mehr Utpowerer gift un Utpowerte, kein Herren mehr un kein Sklaven, nix als freie, schöne, glückliche Menschen un Gotteskinner ... dat is dei niege Heilslehr', dei von Moskau utgahn is in alle Welt ... In ehrem Deinst hebbt wi de ierste dütsche Revolutschon mokt — un in ehrem Deinste wüllt wi bald dei tweite moken — un nach dem Götzen Monarchismus auch den Götzen Kapitalismus in den Abgrund stürzen ... In diesem Sinne, Genossen un Genossinnen: Es lebe die Weltrevolutschon!!« — —

Andächtiger als eine Prozession von Wallfahrern der Predigt unterm Gnadenbilde, hingerissener, gläubiger hatten diese jungen Männer und Mädchen dem Propheten aus ihrer eigenen Mitte gelauscht. Nun brach ein Jubel aus, der die niedere Halle sprengen wollte. Der Redner ward von nervigen Armen emporgehoben, hinter ihm formte sich ein Zug, der immer und immer wieder die Runde um den Tanzboden machte. Auch Anders Niemann ward in den Strudel gerissen. Irgend etwas in ihm jauchzte, irgend etwas schluchzte ... Er fühlte[S. 93] die Echtheit und Tiefe der Sehnsucht, die in all diesen jungen, vom Leben, von ihrem eintönig herben Arbeitsleben wie von den stumpfen, seelenlosen Genüssen ihrer Ruhestunden ungesättigten Menschen schwelte — nach etwas, dem sie selber keinen Namen zu geben wußten ... nach etwas, das vielleicht unerreichbar war, weil erst die ganze Weltordnung hätte umgebaut werden müssen ... diese fürchterliche neue Weltordnung des 19. Jahrhunderts, die aus der Welt Goethes und — na, meinetwegen auch Napoleons, die Welt der Massenarbeit und des Massenmordes gemacht hatte — die Welt der Maschine, das scheußliche Zerrbild der Schöpfung Gottes ...

Aus der Menge, die hinter dem redemächtigen Burschen wie hinter einem Triumphator drein tobte, rang ein Lied sich los:

»Wir bluteten vier Jahr'
in Schlamm und Glut und Graus
für Krone, Thron, Altar —
nun ist die Knechtschaft aus!
Was hoch und stolz, das fällt
im Sturm der neuen Zeit,
nun bringen wir der Welt
die rote Seligkeit!«

Und bei den ersten Klängen des Liedes geschah etwas Seltsames. Der gefeierte Redner sprang von den Schultern derer, die ihn erhöht hatten, und kämpfte sich bis zum Klavierpodium durch. Er schob den verhungerten Musikmacher vom Drehstuhl und schlug mit geübter Hand, in machtvollen Akkorden, die Tasten. Wie die Harfenarpeggien eines Rhapsoden rauschten seine Modulationen daher — von ihnen umrankt, schwang die neue Weise wie ein Sturmgesang durch den dumpfen, schweiß- und tabakdunstigen Raum, und taktfest dröhnte in ihren Rhythmus das Stampfen der nägelbeschlagenen Schuhe, das Händeklatschen der Mädchen ... Es schien, als wolle das[S. 94] Lied die Welt aus den Angeln heben — diese Greuelwelt des Apparates, der Macht, Allmacht gewonnen über den Menschen ...

Und als das Lied zu Ende war, als der Zug sich auflöste, alles den Plätzen, dem Schenktisch zustrebte, um die jählings entfachte Glut zu löschen — da blieb der Redner und Klaviervirtuos im zerschlissenen Soldatenrock am Klavier sitzen — und immer noch glitten seine Finger über die Tasten ... aber nicht stürmisch und zerschmetternd mehr erklangen die Weisen, die er dem abgeklapperten Instrument abzwang ... sie wurden immer munterer, lichter, freudiger ... Und Anders Niemann glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen — sie gingen in eine Melodie über, die er kannte — eine Tanzweise ... aber nicht der übliche Gassenhauer aus der letzten Modeoperette — es war Webers »Aufforderung zum Tanz«.

Da zog es den Neuling der Schiffsbauhalle mit geheimer Magie zum Instrument. Wortlos nahm er dem langmähnigen Geigenjüngling die Violine aus der Hand, klemmte sie unters Kinn — und übernahm die Oberstimme ... Der Feldgraue am Klavier sah nur einen Augenblick mit frohem Staunen zu dem unerwarteten Kumpan am Klavier auf, dann versank er nur noch tiefer in das perlende Gewoge des unvergänglichen Tanzliedes. Und durch den Saal, den eben der trunkenmachende Päan von der roten Seligkeit durchbrandet hatte, schwebte nun wie ein Gruß aus der fernen Welt der Schönheit und Grazie die holdselige Walzerweise des Freischützsängers.

Und schau! Die jungen Kerls und Deerns, die sich eben, ein rasender Haufe Weltenstürmer, hinter dem roten Fanal des berauschenden Liedes geballt, fanden sich nun Paar zu Paar, umschlangen einander und walzten durch den Saal, nicht brünstig aneinander geklemmt wie vordem beim lüsternen Schmalzgedudel der dirnenhaften Foxtrottseufzer, sondern gelöst, beschwingt, durcheinandergewirbelt von der kecken Heiterkeit eines naturverbundenen Genius.


[S. 95]

3

Die Verhandlungen mit den Banken wollten nicht vorwärts. Georg Freimanns Zuversicht geriet ins Wanken. Er hatte, dem Auftrage der Generalversammlung entsprechend, den Vertrag über die Lieferung eines Doppelschrauben-Turbinendampfers für Fracht- und Passagierbeförderung von siebenundzwanzigtausend Tonnen nach den Entwürfen der Hammonia-Werft unterzeichnet, und schon begann auf der größten Helling das Grundgerüst des Doppelbodens sich aufzubauen. Aber die Geldbeschaffung machte ernste Schwierigkeiten und drohte völlig ins Stocken zu geraten. Die Banken verlangten Garantien.

Ein abermaliger Versuch bei der Reichsleitung in Berlin schien nicht ratsam. Die hatte Wichtigeres zu tun, diesmal im Ernst Wichtigeres. Die Friedensverhandlungen in Versailles hielten sie in Atem.

In den Sitzungen des Direktoriums der Linie hüben wie in den Besprechungen der Werftleitung drüben flatterten die Gedanken der Verantwortlichen immer halb scheu, halb hoffnungsvoll um den einen Namen, den jeder auf der Lippe hatte, jeder auszusprechen sich scheute. Es war grauenhaft zu denken, daß dies stolze Deutschland, daß diese deutsche Handelsschiffahrt, die einmal die zweite Stelle in der Welt eingenommen hatte, nun nirgendwo anders das Heil erhoffen konnte als bei dem großen Feinde, dessen Eingreifen den Krieg wider die Welt zu Deutschlands Ungunsten entschieden hatte. Der Dollar hatte begonnen, seinen Siegeszug um den Erdball anzutreten.

Und eben von da drüben hatte eine Hand sich ausgestreckt, eine einzige Hand — nicht um zu helfen zwar, sondern um auch das Letzte noch zu nehmen, das der größten deutschen Schiffahrtslinie von einstiger Machtüberfülle noch geblieben[S. 96] war. Aber hinter dieser Hand stand immerhin ein Menschenantlitz — nicht eine Larve des Hasses und Vernichtungswillens ... Wie, wenn es gelänge, in dem Hirn, das dieses Antlitz, diese Hand regierte, etwas wie ein menschliches Verständnis, eine kluge Achtung zu erwecken für den zähen Lebenswillen, den unausrottbaren Hansengeist, der den Verzweiflungskampf der Linie, der Werft befeuerte?!

Das war die letzte Hoffnung, welche die harten Ringer diesseits und jenseits der Norderelbe noch aufrecht hielt, in den endlosen Besprechungen und Sitzungen, die der brennenden Frage der Geldbeschaffung galten. Denn schon waren die Banken so schwierig geworden, daß vorübergehend eine Stockung eintrat. Die Löhne konnten nur noch mit größter Mühe pünktlich bezahlt werden. Und damit kam aufs neue die Unruhe unter die Tausende von Angestellten, in den Kontoren wie auf der Werft. Was fragten diese Tausende nach den Schwierigkeiten der Leitung?! Sie verlangten an jedem Zahltag ihren Lohn — und bekamen sie den nicht pünktlich und richtig, so waren sie schnell bei der Hand mit unseligen, sinnlosen Taten der Mißhandlung und Sabotage.

Mit solchen Sorgen zerquälten die Leiter aller großen Betriebe Hamburgs ihre Tage und Nächte in den furchtbaren Sommermonaten des ersten Jahres nach dem Verstummen der Geschütze. Aber zu solchen Beklemmungen hatten Georg Freimann und sein Freund Detlev Carstensen noch einen bitteren Herzenskummer zu tragen. Von dem jungen Manne, der einmal die Lebenshoffnung dieser beiden Väter gewesen, war seit jenem regentriefenden Aprilabend, der seine Spur verschlungen und verwischt hatte, nicht die leiseste Kunde mehr gekommen.

Ein anderer freilich war über dies Verschwinden höchst erfreut gewesen. Aber gerade der mußte erfahren, daß seine Hoffnungen enttäuscht wurden.

[S. 97]

Im dienstlichen Verkehr hatte Bob Timmermanns täglich Gelegenheit, mit der Tochter seines Chefs in Berührung zu kommen. Er war der Mann, diesen Vorteil auszunutzen. Er zeigte sich von seiner besten Seite. Seine Unverwüstlichkeit durchdrang den ganzen Riesenapparat der Werft, befeuerte das Tempo der Arbeit, rann wie ein belebender Strom durch Kontore und Bauhallen, in die Docks und Helgen und ließ nirgendwo Erschlaffung, Unruhe, Unsicherheit aufkommen.

Ilse Carstensen wäre keine Frau gewesen, hätte sie nicht herausgefühlt, daß solche Leistungen eines Starken noch aus einer anderen Quelle ihre Unversieglichkeit schöpften als nur aus Pflichtbewußtsein, Schaffensdrang und Vaterlandsliebe. Bob Timmermanns besaß nicht die Kunst der Verstellung, des Abwartenkönnens. Das mächtige Gefühl, das seinen mächtigen Willen durchfieberte, verlangte nach Entladung, drängte nach Erwiderung.

Es gab Stunden, in denen Ilse der ungeheuren Energie dieser stummen Werbung, mit der Bob Timmermanns sie umgab, zu erliegen meinte. Das Gefühl der Wesensverschiedenheit, mit dem sie anfangs die überlaute, überderbe Art des Riesen abgelehnt, war längst überrannt. Der Werkmeistersohn war für die Patrizierin in die gleiche Ebene des Menschentums emporgestiegen.

Wäre Heinz geblieben — hätte die Braut täglich Gelegenheit gehabt, an der Stärke des Werbers die Schwäche und Verworrenheit des Verlobten zu messen — vielleicht hätte die Kraft gesiegt. Aber der Schwache, der Komplizierte, der Problematische war fort. Und knirschend erkannte Bob Timmermanns, was Heinz Freimann, wie Bob ihn zu kennen glaubte, in naivem Versagen getan — es war das klügste, was er hätte tun können. Die Ferne, das Geheimnis waren stärkere Mächte als die Gegenwart, die Eindeutigkeit ...

Untersinkend hatte der Entrückte im Herzen seines Mädchens,[S. 98] das immer noch den Ring des Verlobten am Finger und jenen, den er ihr zurückgelassen, auf dem Busen trug, einen Anker versenkt, der fester hielt als einst das Treuegelöbnis, die Angst um den Kämpfer, den Gefangenen, die Seligkeit des Wiederfindens. Ilse wand sich in Reuequal. Gewiß: wenn Ilse dem Verlobten hatte merken lassen, wie sehr der Ingenieur ihr imponierte — so war das nicht ganz ohne einen Hauch von koketter Bosheit geschehen ... Er hatte es merken sollen — hatte es gemerkt. Und darum war er still gegangen — darum ... So mächtig ist in der Frau das Allgefühl ihrer Liebe: sie will es nicht wahrhaben, daß der Geliebte auch noch anderen Einwirkungen unterliegt — was ihm geschieht, was er leidet und handelt — ihre Liebe wähnt sich selber die einzige Triebfeder der Leiden, der Entschlüsse, der Schicksale des Mannes, dem sie sich verbunden weiß ...

Das Verhalten seiner Mutter mußte sie in dem Glauben bestärken, sie allein habe ihn vertrieben. Wohl hatte Frau Johanna selber den Sohn in seiner Not ohne Mutterhilfe gelassen — hatte in der plötzlichen Erkenntnis ihrer Schuld gegenüber ihrem Gatten den Seelenkampf, die tiefe Verlassenheit ihres Sohnes übersehen ... Aber das hatte sie längst vergessen. Sie gab es der Schwiegertochter rückhaltlos zu verstehen: ihre Tändelei mit Timmermanns habe Heinz von hinnen getrieben ... Ja, selbst ihren Vater hatte Ilse im Verdacht, er denke das gleiche ... Diese Auffassung, so schmerzlich und drückend sie für Ilses Gewissen war — barg sie nicht auch eine ungeheure Schmeichelei? Eine verführerisch hohe Meinung von ihrem eigenen Wert? Es ist süß, wähnen zu dürfen, daß man für den geliebten Menschen das Schicksal bedeutet — das ganze, das alleinige Schicksal ...

Schließlich: welcher andere Beweggrund für Heinzens Flucht war erkennbar, war überhaupt denkbar?! In den kurzen Stunden des Beisammenseins — ehe das große Mißverstehen[S. 99] kam — waren die Seelen einander noch viel zu wenig nahegekommen, als daß Ilse eine Ahnung von den verwickelten Vorgängen hätte haben können, die Heinz von hinne getrieben — als daß sie hätte ahnen können, ihre betonte Abkehr von ihrem Verlobten sei nicht die einzige, ja nicht einmal die tiefste Ursache seiner Flucht gewesen — höchstens der äußere, fast zufällige Anstoß ...

Einerlei: der schmerzlich-süße Wahn, der Ilses Gewissen belastete, wob ein festeres Band um sie und das Bild des Geflohenen als dereinst seine Gegenwart ...

Bob Timmermanns fühlte das. Zu einfach, zu leicht verständlich war dieser Zusammenhang. Und mit seinem ganzen Berserkergrimm haßte der Sehnsüchtige den Entflohenen, der aus unbekannter Ferne mehr Macht über das Wesen seiner Verlobten übte denn jemals durch seine Gegenwart.


4

Anders Niemann hatte das erhoffte Quartier gefunden. Clas Mönkebüll, sein Partner am Klavier, und dessen strammer Freund Tedje Tietgens hatten den neuen Kollegen mit heimgenommen. Und mit dem Sohne des Hauses teilte nun auch der »Neue« das Zimmer, in dem einstmals die drei Brüder Tietgens gehaust hatten — — von denen zwei in Frankreich verscharrt lagen.

Anders Niemann war den beiden Alten bald ein lieber Hausgenosse geworden. Nicht nur, daß er und der blonde Holsteiner allabendlich mit ihrer Musikmacherei ganz neue Freuden in das schlichte Arbeiterheim gebracht hatten — es schwatzte sich so gut mit ihm ... Vater Tietgens taute auf. Er hatte einen Gesinnungsgenossen gefunden. Seinen Sohn hatte er längst aufgegeben — das war ein hoffnungsloser Radikaler[S. 100] — Kunststück, wenn man keinen Abend nüchtern nach Hause kommt — — auf dem Schnapssumpf blühte die Giftblume des Spartakismus am üppigsten — das hatte Vater Tietgens längst heraus. Schwieriger war's zu verstehen, daß auch der scheue, schwere Clas ein so hitziger Moskowiter geworden war.

Anders Niemann glaubte beide genügend zu verstehen, um sie dem Alten begreiflich machen zu können.

»Vadder,« sagte er, »wat Ehr Tedje is, dei is ganz vullsagen mit Haß — dorüm will hei alles kaputsloh'n, wo hei nich an kann. Clos is anners! — Clos hett tau väl Leiw ... Alle Minschen möchte hei glücklich moken ... Dorüm kann hei't nich mit anseihen, dat weck in Öberfluß sick mästen — un weck nich dat dröge Brot hebbt ...«

»Kannst recht hebben, Jung«, sagte der Alte. »Wo hest du blot all dei Wür her?! Denken kann'k ok so'n Soken — Öwerst wenn ick dat utspreken will, dann finn' ick dat nicht tausam'n ...«

Vorsicht! dachte Anders Niemann. Und er bemühte sich, seine Gedanken ein wenig einfacher zu fassen ...

Immer wieder versuchte er von den Menschen seiner neuen Umgebung zu erfahren, was der innerste Grund ihrer maßlosen Verbitterung sei. Vater Tietgens gab zu, es sei dem deutschen Arbeiter vor dem Kriege nicht schlecht gegangen, die »Verelendungstheorie« habe nicht mehr gestimmt ... Auch die soziale Gesetzgebung erkannte er als einen großen Segen für die Arbeiterschaft an. Nicht minder war es ihm klar, daß eine Verteilung der Güter der wenigen Reichen unter die zahllosen Armen keinem helfen würde — daß aber der Luxus der Großen vielen Kleinen Brot und Nahrung gebe.

Er selber, der Alte, stand seit Jahren in der Politik und empfand vor allem als Politiker. »Unse Klasse hat die mehrsten Minschen — und deiht die mehrste Arbet — da mutt se ok die mehrste politische Rechte hebben ... Wenn dat Volk tau[S. 101] seggen hatt harr', denn harrn wi den'n Schietkrieg nich kregen, odder hei weur nah en halv Johr tau Enn' west ...«

Das war ein Urteil, dem Anders auch im Munde seiner Arbeitskollegen immer wieder begegnete ... Man war zu lange festgehalten worden im Blutsumpf ... Und derweil hatten daheim die Schieber oben und die fünfzehnjährigen Rotzbengels unten sich Bäuche und Taschen gefüllt.

»Do sünd dei Kapitalisten an schuld ... un dei Generals in dei Etapp' ... nich blot in Dütschland, ok bi'n Engelsmann un bi'n Franzmann ... Dei hebbt dei Völker nich tauso'm finnen loten ... dei hebbt dei Verbrüderung hinnert ... Und dorüm möt dat Proletariat miehr Macht kriegen. — Nich alle Macht, as dei Spartakisten und dei Bolschewisten willen — öwerst miehr Macht, grote Macht ... Denn giwwt dat kein'n Krieg miehr, denn kümmt dei internationale Solidarität von't Proletariat! Vadderland? Ick haust op dat Vadderland! — Vadderland, so seggen dei Utpowerer, wenn sei den lütten Mann dat Fell öwere Ohren trecken!«

Ja — das war es: Dieser alte Mann, der so ganz deutsch lebte, dachte, handelte — er fühlte nicht deutsch. Man hatte es ihn nicht gelehrt ... und das wenige an vaterländischem Gefühl, das Schule, Kasernenhof und Heimatluft in ihm vielleicht doch geweckt, das hatte er sich aus dem Herzen wieder herausschwatzen lassen. Und es hätte wenig Zweck gehabt, würde Anders den Versuch gemacht haben, dem Alten von dem Deutschland seiner Träume zu erzählen. Es galt, nicht aus der Rolle zu fallen.

Immerhin, mit dem Alten war gut schwatzen. Schlimm war's, wenn Tedje der Dritte im Bunde war. Der schlug immer auf den Tisch:

»Vadder — du büst nich in Rußland west — du kanns goar nich mitsnacken! Dei Russen hebbt uns wiest, wo't mokt warden mutt! Ick segg jug, wenn een' dit mit anseih'n hett, wo[S. 102] sei dat Burschoapack tau foftig un hunnert an de Muur'n stellt hebbt — un denn eenmol mit'n Maschinengewehr dröwer hen, dat se ümpurzelten as Bliesoldoten — da giwwt Luft vör't Volk!«

»So — un wer mokt nu de Plän' vör dei Scheep un Dampers?« fragte der Alte bedachtsam.

»Na — de Inschineure —!« lachte Tedje. »Dei hebbt sei leben loten! Dei Inschineure, dei geheuren ok tau't arbeitende Volk ... Dat sünd Kopparbeiters, weißt du ... Öwerst dei kriegen nu nich dat Hunnertfache mehr as dei Handlanger un dei Nieters —!«

»Dei Frag' is blot, ob sei denn ok noch so gode Plän' moken köhnt —« warf Anders behutsam dazwischen. »Kopparbeit is wat anners as Handarbeit. En Kopparbeiter mutt anners lewen können as'n Handarbeiter ... dei brukt Bäuker — dei mutt reisen können un sich furtbilden ...«

»Wat du nich all weißt!« knurrte Tedje. »Du büst jo en ganzen Klauken, du! Öwer dit 's egol ... 'n goden Kierl büst du doch! Kumm, mien Jung, will'n ein'n drinken — un denn säukt wie uns en säute Deern un gohn mit ehr slapen — kumm, mien Jung!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür — und eine junge Dame trat ein — »Gu'n Abend, Vadder — gu'n Abend, Tedje ... ah, Besäuk?«

Plötzlich verstummte sie — und starrte den neuen Schlafburschen an wie ein Gespenst. Und Anders Niemann saß da wie behext ...

Aber schnell hatte Antje sich gefaßt. Sie ging auf den neuen Hausgenossen der Eltern zu und streckte ihm die Hand hin:

»Entschülligen S' man — ick harr all dacht, Sei wieren en Bekannten — Ick bün Antje.«

»Un dit is Anders Niemann,« lachte Tedje, der bei dem seltsamen Stutzen der Schwester und des Kollegen, wie auch[S. 103] der Vater, zuerst verblüfft und argwöhnisch dreingeschaut hatte — »kiek di'n man gaud an, mien Deern, dat 's 'n fixen Jungen — en Nieter von de Werft! Un he wahnt bi Muddern — un Viegelin spält hei noch'n beten beter as Clos Mönkebüll Klovier — dat is nu 's Abens bi Mudder Tietgens dat reine Künstlerkonzert ...«

Auch Anders hatte sich rasch gefaßt. Er brachte einen wundervoll linkischen Kratzfuß zustande und stotterte:

»Djä, Fräulein — dat's jo scheun ... ick harr gor nicht dacht, dat in de Uhlentwiet so wat Nüdliches wass'n künn ...«

»Dat gleuw ick di, Jung!« griente Tedje behaglich. »Dat is ok mien Swester ... Wat ick as Jung bün, dat is sei as Deern ... Nich, Mudder? Grod ut dien Gesicht sneden, donn as du noch jung weurst ...«

Das welke Mutterchen, das stumm und wesenlos in der Ecke hockte und sich nur zu regen pflegte, wenn es die Mannsleut zu betreuen galt, lächelte schweigend über sein ganzes, in tausend Fältchen zerknittertes Gesichtchen.

Und schon saß Antje mit den Männern am Tisch. Bald ward die Runde vollzählig — denn auch Clas Mönkebüll, dessen Gutmütigkeit von Mudder täglich zum Einholen angestellt wurde, kam mit einem Henkelkorb voll Bierflaschen, Brot und Wurst unterm Arm. Bald kaute alles aus vollen Backen, lustig flatterte das Gespräch um den Tisch.

Nur ab und zu warf Antje einen heimlichen Blick zu dem Flüchtling der Villa Freimann hinüber. Sie wußte längst, daß der Sohn ihres Chefs seit ein paar Tagen spurlos verschwunden war. Aber dies Wiedersehen — einstweilen überstieg es ihre Fassungskraft. Die Zeit war so kraus, so abenteuerlich, so vergiftet von Argwohn und Schurkerei — eine Sekunde lang schoß ihr der Gedanke: Spitzel? durch den Kopf. Kaum gedacht, schon verworfen. Diese schwermütigen, innerlichen Züge hehlten nicht Verrat. Ihr Geheimnis lag tiefer, verschleierter.

[S. 104]

Nicht minder unauffällig, nicht minder eifrig beobachtete der »Neue von der Werft« die Tochter seines Quartiergebers. Ihre Ähnlichkeit mit Tedje war auffallend — freilich nur im Gesicht. Die schlanke Figur mochte sie von der jetzt ganz verbrauchten und verwitterten Mutter haben. Ein Vergnügen, wie sie mit ihren Lieben verkehrte ... Sie sprang, um dem Vater Pantoffeln und Pfeife zu holen — ging der Mutter beim Abdecken und Spülen zur Hand — und mit dem rauhen Bruder stand sie auf einem Fuße derber, oft handgreiflicher Neckerei, die aus dem schlimmen Tedje ganz ungeahnterweise einen täppisch-vergnügten, kindlich-gutmütigen Buben herausschauen ließ ... In die Schwester war er offenbar so verliebt, wie ein sinnlich veranlagter, doch kerngesunder Bursch in eine bildhübsche Schwester eben verliebt sein darf. Antje vergalt ihm mit einer harmlos lustigen Kameradschaft, durch die eine halb mütterlich sorgende, halb überlegen-erzieherische Zärtlichkeit anmutig hindurchschimmerte ...

Aber Clas Mönkebüll?! Er warf kaum einmal ein schwerfällig hingestammeltes Wort in das neckische Geschwätz hinein. Er saß mit aufgestemmten Armen stumm und andachtsvoll dem Mädchen gegenüber — seine wasserblauen Augen unter der kantigen Stirn folgten jeder ihrer Bewegungen, sein schmaler Mund über dem breiten Kinn belächelte jedes ihrer Scherzworte wie eine Offenbarung ... Und Antje beachtete ihn kaum. Ja, manchmal schien es, als sei dies hingegebene, verzauberte Anstarren ihr unbequem ...

Sie schickte ihn schließlich selber ans Klavier — trat mit ins Nebenzimmer und staunte, daß die zwei Kunstgenossen richtige Noten, funkelnagelneue, auf das Klavier und auf ein aus Zigarrenbrettern zusammengezimmertes Stehpult stellten ...

»Darf ich Sie später nach Hause begleiten?« flüsterte Anders Niemann der Haustochter zu.

»Ja — aber die andern dürfen's nicht merken — ich nehme[S. 105] niemals Begleitung in Anspruch ... Gehen Sie in einer halben Stunde fort und erwarten Sie mich unten ...«

Clas Mönkebüll hatte zu präludieren begonnen. Es waren die ersten Takte des Andantes aus der Kreutzer-Sonate. Nur das Thema wollten sie spielen und die beiden ersten Variationen. Die übrigen waren für Clas doch gar zu schwer ... Nun sah der Holsteiner sich ungeduldig um. Er sah, daß sein Kollege und Antje einen Blick tauschten, in dem etwas wie ein geheimes Einverständnis glomm ... da schaute er schnell wieder auf seine Noten — ein banges Zucken um die schmalen Lippen.

Und dann stieg ein fremder, hoher Gast in die Proletarierstube hernieder. In unbegriffener Andacht neigten sich ihm die Herzen der wesensverschiedenen Menschen, die hier beisammensaßen, verbunden im Innersten durch ein gemeinsames, ihnen selber unbewußtes Geheimnis — das Geheimnis ihrer Sehnsucht ... Die hatte plötzlich Sprache bekommen — sie jubelte und klagte in ihnen allen als schmerzlich-seliges Gefühl einer tiefsten, innerlichsten Zusammengehörigkeit ... Und Anders Niemann war es zumute, als habe er nie so heiß die Wonne empfunden, in Tönen sich ausströmen zu können — nicht im weiland Kasino beim Damenabend — nicht einmal im Elternhaus — wie noch jüngst im Zusammenspiel mit dem Mädchen, das er so schmerzlich, so entsagend liebte — das nun, es konnte ja nicht anders sein, ihm längst entglitten war, eines Stärkeren, eines Ganzen Beute ... Nein, selbst bei ihrer Begleitung hatte er nicht so hingegeben, so aufgeschlossen gespielt — geschenkt — sich selber verschenkt wie heut ...

Denn die da oben, die lebten ja in der Fülle ... Sie hatten ihren Beruf, der war ihnen nicht eine fluchbeladene, zermürbende Hantierung, deren stumpfes Gleichmaß ihnen die Nerven zerrieb, die Seele aushöhlte — nein, höchster Lebensinhalt, Waffe und vollwertiger Ausdruck ihrer Persönlichkeit — nicht[S. 106] etwas Fremdes, von der Daseinsnot Erzwungenes — nein, sie selber ... Ihre Ruhestunden waren umstellt von einer Umwelt, die nicht minder ihres eigenen Wesens Prägung war ... Aber der Genuß der höchsten Schöpfungen des Genius — was bedeutete er ihnen mehr als eine Entspannung — eine Ausbalancierung ihres seelischen Gleichgewichtes?!

Diese Menschen empfingen das unbegriffene Gnadengeschenk der Schönheit wie eine Erfüllung ihrer Träume, eine Erlösung vom Fluch ihrer Existenz ... Keiner von ihnen, vielleicht nicht einmal die eine, die sich über die Sphäre ihres Ursprungs emporgeschwungen hatte — auch sie hätte wohl kaum zu deuten vermocht, was dieses rätselvoll bange Behagen denn eigentlich war, das die Lauschenden durchschauerte, das ihnen die müden, versorgten, vergrämten Herzen so schwer machte und zugleich so frei, ihre enge Welt um sie schön und schwebend — das den Wunsch entzündete, beisammen zu sein, sich eins dem andern hinzugeben, sich auszusöhnen, liebend zu verschwenden — —

Ja — was war es denn eigentlich?!


5

Anders Niemann hatte es doch nicht fertiggebracht, Antjes Vorschlag zu folgen und sich wegzustehlen aus dem Kreis, in dem er so unerwartet heimisch geworden war, um sie draußen zu erwarten. Die Unwahrheit seines Dahinlebens unter diesen einfachen, natürlichen Menschen bedrückte ihn ohnehin schon schwer genug. Er hatte eine Maske tragen müssen — sein ganzes Jugendleben hindurch — die starre, in korrekte Falten gebügelte Maske des wilhelminischen Offiziers. Nun lechzte er danach, er selber sein zu dürfen ... Wenigstens innerhalb dieses selbstgewählten Scheinlebens keine unnötige Komödie mehr! Ganz offen bat er, Antje heimbegleiten zu dürfen.

[S. 107]

Die Wirkung solcher fremdartigen Galanterie in diesem Kreise war verblüffend. Auf den Gesichtern der beiden Alten ein Staunen, fast als hätte er Antjes Hand erbeten ... Ein rascher Blickwechsel: Oho?! Na ja — schließlich: warum nicht? Einmal muß es ja doch sein — und der ist der Übelste noch lange nicht ... So stand es im Auge des müden Frauchens dort in der Ecke. Und der Alte blickte zurück: Hm ... eigentlich hätt' ich mir für meine Antje noch etwas Besseres gewünscht als einen Ungelernten aus der Schiffsbauhalle ... Nun, er mag sein Glück versuchen — ist er nicht gut genug für sie, wird sie ihn schon ablaufen lassen ...

Bruder Tedje war nicht der Mann, seine Gedanken und Gefühle bloß mit Blicken auszudrücken. Er schlug lachend auf den Tisch.

»Kiek mol! So'n Kierl! Gliecks Sprung auf, marsch, marsch! Paß Achtung, Deern — dat 's 'n Gefährlichen, dei!« In diesem Blick funkelte etwas, das zur Harmlosigkeit seiner Worte nicht recht stimmen wollte. Etwas von brüderlicher Eifersucht — im Hintergrunde gar etwas wie ein vager, noch ganz unbewußter Argwohn ...

Clas Mönkebüll aber saß stumm, regungslos, beklommen. Ein Traum, der entschwebt, ein strahlender Dur-Akkord, der in wehmütiges Moll zerrinnt ...

— »Es ist eine große Sorge um Sie daheim, Herr Kapitänleutnant«, sagte Antje und schritt hastig fürbaß, den Neuen Steinweg hinab. Um beide wogte das abendliche Getriebe der wimmelnden Straßen. Überall Menschen — Menschen, vom harten Alltagstempel geprägt ... Und rechts und links, aufstarrend wie die herzumängstenden Klippen einer endlosen Felsschlucht, die staub- und rußgeschwärzten Häuserfronten — hier die verzogenen, kaum mühselig noch im Lot sich haltenden Ziegelwände jahrhundertealter Zinshäuser, dort der gräßliche, verlogene Prunk stucküberladener, aber auch längst wieder halb verwitterter Warenhausfassaden ...

[S. 108]

»Kann mir's denken«, lachte Heinz. »Jetzt, wo's zu spät ist! Übrigens, bitte — Anders Niemann heiß' ich!«

Antje meinte zu begreifen. Sie hatte längst bemerkt, daß der Reif, den Herr Freimann damals an der Linken getragen, verschwunden war. Er berichtete, wie er zu Antjes Eltern gekommen sei — selbstverständlich ohne Ahnung des bevorstehenden Wiedersehens. Er habe ja nicht einmal den Namen der jungen Dame gewußt, die ihm eine so gründliche Lektion erteilt habe.

»Die scheint also doch einigen Eindruck auf Sie gemacht zu haben.«

»Ohne sie wäre ich vielleicht nicht hier.«

»Oh ... das ist mehr, als ich mir hätte träumen lassen.« Antje fühlte Glut in ihren Wangen.

»Sie sprachen mir von der Seele des Volkes — ich bin hingegangen, sie zu suchen.«

»Und — was haben Sie gefunden?!«

»Etwas sehr Schönes: das Gefühl einer tiefen Leere — und den glühenden Wunsch, sie ausgefüllt zu sehen.«

»Ausgefüllt — mit was?«

»Mit etwas Großem, Beglückendem, Aufrichtendem — mit einem Ideal.«

»Geben Sie's — das Ideal!«

»Wenn ich's hätte!«

»So helfen Sie's uns suchen.«

»Das will ich. Darum bin ich, wo ich bin. Aber ich glaube sogar, ich weiß es schon zu benennen — ein Vaterland — ein Mutterland, das allen den Seinen ein rechtes Elternhaus wäre ... Das Land unserer Liebe.«

»Ach, wenn Sie es fänden!«

»Ja — dann wäre uns allen geholfen — uns armen, zerrissenen Deutschen.«


[S. 109]

6

Ohne den Freunden, den Gesinnungsgenossen etwas zu verraten, hatte Georg Freimann an Patterson gedrahtet:

»Erwarte angekündigte Vorschläge.«

Vierzehn Tage später machte eine schlanke Privatjacht unter amerikanischer Flagge an den St. Pauli Landungsbrücken fest. Der Reeder ging an Land — mit ihm ein untersetztes, straffes Girl von siebzehn Jahren, mit kapriziöser Eleganz gekleidet — aschblond, nußbraune Augen, feste, weiße Hände ... Der alte Herr winkte ein Auto heran, Miß Bessie zog ein kleines Sternenbanner aus der Handtasche und befestigte es mit einem geübten Griff in der Düse des rumpligen Mietwagens.

»H. T. L.-Gebäude!« befahl der Ankömmling in leise fremdartig klingendem Deutsch.

»So, my darling, du magst nun eine halbe Stunde lang in der Stadt herumkutschieren —«

»Fällt mir nicht ein«, erklärte Bessie. »Ich bin toll vor Neugier, diese gräßlichen Deutschen kennenzulernen, die unsere ›Lusitania‹ versenkt und unsere armen Kriegsgefangenen gekreuzigt haben.«

»Diese nicht, die du jetzt kennenlernen wirst, Bessie«, sagte Patterson gehorsam und entließ das Auto.

»Schade ... die andern will ich aber auch kennenlernen.«

Vater und Tochter schwebten im palisandergetäfelten Lift zum Präsidentenbureau der Linie empor.

»Ich finde, daddy, hier sieht's gar nicht hunnisch aus ... Sollte der New York Herald uns beschwindelt haben?«

»Möglich«, murmelte Elias Patterson. »So — nun benimm dich manierlich. Die Deutschen sind ernsthafte Leute.«

Georg Freimanns Auge leuchtete heimlich auf, als er sah, daß der Gerufene nicht allein gekommen war. Auf einen Piratenzug nimmt man keine Dame mit.

[S. 110]

»Good morning, Freimann — darf ich wieder Freimann sagen? Der Mister geniert mich.«

»Sie dürfen, Patterson — weil Sie so reizende Gesellschaft mitbringen. Miß Patterson — willkommen in Deutschland.«

»Dank Ihnen, Mister Freimann«, sagte Bessie. »Sie haben einen Sohn, sagt daddy ... Er ist verlobt — schade ... Verlobte junge Männer interessieren mich nicht ... Verheiratete, das ist was anderes ... Ist er vielleicht schon verheiratet?«

»Leider nein«, sagte Freimann zwischen Lachen und Befangenheit. »Er ist durchgebrannt — mir und seiner Braut.«

»Durchgebrannt —?! Das finde ich smart von ihm ... Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht, Miß Patterson.«

»Oh — wir werden ihn suchen und finden. Ich wünsche ihn zu sehen ...«

»So, kleine Maid, nun halt' mal den Mund ...« sagte der Vater. »Ich habe mit Mister Freimann von Geschäften zu reden.«

»Das ist gut,« sagte Bessie, »ich liebe Geschäfte. Ich mache selber Geschäfte. Zu Hause, Mister Freimann, züchte ich Hunde — ganz kleine und ganz große — Collies, Neufundländer, alles, was Sie wollen. Schauen Sie her, das ist einer von meiner Zucht!« Und sie griff in die Tasche ihres Kleiderrockes und holte einen winzigen Zwergpintscher heraus, der, aus seiner Haft erlöst, sofort auf den nächsten Stuhl sprang und seine Freiheit mit wütendem Gekläff begrüßte. Aber schon hatte seine kleine Herrin ihn beim Wickel, schwenkte ihn ein paarmal wie einen nassen Lappen im Kreise und stopfte ihn wieder in die Tasche. »Das ist eins von meinen Zuchtmütterchen ... Von der hab' ich einen ganzen Wurf zu hundert Dollar das Stück verkauft ... Sehen Sie, das sind meine Geschäfte ... Von dem Erlös habe ich mir einen fabelhaften Kodak gekauft[S. 111] mit prima prima Objektiv ... Nachtaufnahmen kann man damit machen, sag' ich Ihnen!«

»So, nun ist's aber genug!« Vater Elias machte einen krampfhaften Versuch, Autorität zu markieren. »Herrn Freimanns Zeit ist kostbar.«

»Denkst du, meine nicht?!« lachte die Kleine. »Nun, ich will euch zweien eine Viertelstunde bewilligen. Dann wirst du mir die Stadt zeigen, die ich sehr niedlich finde ... Ein reizendes Puppenstädtchen, wenn man von drüben kommt ... Ich habe im Vorzimmer eine junge Dame gesehen, ich werde mir von ihr etwas erzählen lassen. Ich wünsche zu wissen, ob die deutschen Mädchen wirklich so langweilig sind, wie es immer in unseren Romanen steht.« Und schon war sie fortgeschwirrt.

Die Männer sahen sich an und lachten.

»Sie glauben nicht, Patterson, wie gut das tut, in Deutschland einmal wieder lachen zu hören und lachen zu dürfen ...«

»Nun, Sie werden sich noch oft genug zu ärgern haben über den Racker ... Sie kann einem schon auf die Nerven fallen ... Werden Sie dann ruhig grob, sie ist's gewohnt, wenn sie's gar zu bunt treibt ... Und nun ans Werk, lieber Freund. Sie haben gerufen — ich bin da.«

Georg Freimann schilderte dem Ankömmling die Lage mit jener rückhaltlosen Offenheit, die sich in seinem Geschäftsleben immer als die beste Politik bewährt hatte.

Patterson hörte aufmerksam und leise mit dem schmalen Kopfe nickend zu. So etwa hatte er sich die Entwicklung selber vorgestellt.

»Ich finde, lieber Freund,« sagte er bedächtig und mit einem Anflug von Ironie, »die Situation der Linie hat sich wenig geändert, seit Sie mein Angebot auf Übernahme Ihrer Aktiva so entrüstet zurückgewiesen haben.«

»Sie haben nicht unrecht, Patterson ... aber auch unser[S. 112] Wille hat sich nicht geändert, lieber unsern Trümmerhaufen mit eigner Hand in die Luft zu sprengen, als ihn unter das Sternenbanner zu stellen — wenigstens unter das Sternenbanner allein.«

»Hm — und wenn nun die Sterne und Streifen — sich neben Ihre Reichsflagge pflanzen würden? Ihr sollt ja eine neue bekommen, schwebt mir vor — wie sind doch die Farben?«

»Schwarz-rot-gold«, sagte Freimann unfroh. »Die Farben des Reiches im Mittelalter ... Auch sie haben eine Tradition.«

»Aber nicht als Handelsmarke«, erwiderte der Amerikaner. »Eine schöne Dummheit, Freimann. Die Firma ist pleite bis unters Dach — nur ein einziges Aktivum hat sie noch: das alte, in der ganzen Welt eingeführte Warenzeichen ... Und das wollen die Liquidatoren freiwillig fallen lassen ... Nette Kaufleute das ...«

»Wenn Schwarz-rot-gold uns aus der Tiefe unseres Jammers zu neuem Aufstieg führt — wäre es nicht kindisch, ihm die Gefolgschaft versagen zu wollen? Sie meinen, das schwarz-rot-goldene Banner und das Sternenbanner — sie würden sich miteinander vertragen?«

»Da beides die Hohheitszeichen von Republiken sind — warum nicht?« sagte der Mann von drüben. »Machen wir's kurz. Ich glaube, daß ihr dickköpfig genug seid, lieber unterzugehen als zu liquidieren. Ihr habt's bewiesen. Und Sie, Freimann, werden nicht nach Holland gehen ... Auf Ihren wirtschaftlichen Zusammenbruch zu warten, habe ich keine Geduld ... Also wie denken Sie über eine Fusion?«


»Guten Tag«, sagte Bessie zu der Sekretärin. »Sie verstehen ja Englisch, nicht wahr? Sie haben sehr schönes braunes Haar — es flimmert wundervoll in der Sonne. Sie haben sich einen sehr guten Platz ausgesucht — da am Fenster. Es ist sehr effektvoll. Erlauben Sie einen Augenblick.«

[S. 113]

Antje Tietgens saß in stummer Verblüffung. Knips! machte der Kodak. »Danke Ihnen«, sagte die Fremde. »Das ist das erste Porträt, das ich von einer deutschen Dame gemacht habe. Es ist ein guter Anfang.«

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte Antje.

»Oh — Sie sprechen Englisch, das ist schön«, sagte Bessie. »Waren Sie drüben?«

»Nein — ich lebe in einer Pension, in der vor dem Kriege sehr viele Amerikaner verkehrten.«

»Das merkt man«, sagte die Fremde anerkennend. »Ich bin Bessie Patterson ... Sie wissen, was das bedeutet?«

»Ich weiß«, lächelte die Deutsche.

»Möchten Sie gerne nach drüben kommen? Es ist drüben schöner als hier. Die Leute hier machen alle traurige Gesichter — Sie auch, sogar wenn Sie lachen. Ich liebe das nicht.«

»Wir haben wenig Grund zu lachen. Wir sind besiegt — im größten aller Kriege. Und wir fangen jetzt erst an, es richtig zu merken.«

»Oh — ich bin sehr neugierig, zu wissen, was ihr für Menschen seid. Ich habe mir euch ganz anders vorgestellt. Ich will das deutsche Volk kennenlernen.«

»Das Volk, Miß Patterson? Was nennen Sie das Volk? Bei uns versteht man unter Volk die sogenannten kleinen Leute.«

»Die will ich gerade kennenlernen. Ich bin eine Demokratin, Miß — wie heißen Sie? — Oh, das ist ein schwerer Name ... aber ich werde ihn lernen. In Amerika gibt es keine kleinen Leute. Es gibt nur solche, die das Rennen schon gemacht haben — und solche, die es noch machen wollen — außerdem natürlich auch solche, die ausgeschieden sind — weil sie nicht reiten können —. Aber auf die kommt es nicht an, sie sind uninteressant. Mein Vater, sehen Sie, der hat das Rennen gemacht.[S. 114] Und ich bin dabei, es zu machen. Dazu fehlt mir nichts als ein Mann. Wenn ich heimkomme, gehe ich mir vielleicht einen suchen. Vielleicht warte ich auch noch ein paar Jahre. Ich habe ja noch Zeit. Ich bin siebzehn. Ich finde schon den, den ich suche. Sind Sie schon dabei zu suchen?«


Es stellte sich heraus, daß Patterson bereits einen fertigen Entwurf für das Zusammengehen der H. T. L. und seines Konzerns mitgebracht hatte. Und noch mehr kam heraus: Die Blue Star Line, die wichtigste der transatlantischen Linien des Konzerns, hatte drei große Passagierdampfer der H. T. L. angekauft — darunter den »Altreichskanzler« ... der hieß jetzt »President Lincoln« und fuhr von San Franzisko nach Schanghai. Den Atlantischen Ozean oder gar seinen Heimathafen würde er niemals wiedersehen ...

Mit tiefer Bitterkeit und doch zugleich mit innerer Erleichterung vernahm der Präsident der H. T. L. die Vorschläge seines einstigen Konkurrenten — der nunmehr gewillt war, sein Partner zu werden. Es würde noch harte Kämpfe geben — ums Ganze und um tausend Einzelheiten ... Freimann betonte, daß die Linie sich mit der Hammonia-Werft dermaßen solidarisch fühle, daß eine Vereinigung der Interessen beider großer Reedereien für die H. T. L. nur annehmbar sei, wenn zugleich eine Bindung zustande komme, welche der Werft ein beträchtliches Mindestmaß von Aufträgen für die fusionierten Linien sichern würde ... Und dann war es immer noch fraglich, ob des alten Detlev Carstensen hartes Teutonentum für einen Wiederaufbau, dessen Grundlage das amerikanische Kapital bilden müsse, überhaupt zu haben sein würde ... Und auch in der Generalversammlung würde es nicht an Stimmen fehlen, die mit patriotischer Entrüstung jedes Zusammengehen mit Angehörigen eines der Feindstaaten als Vaterlandsverrat ablehnen würden — ohne doch einen anderen Weg der Rettung[S. 115] zu wissen ... Aber diese Gedanken behielt Georg Freimann für sich. Schließlich und endlich — blieb überhaupt eine Wahl?!

Nach einer halben Stunde der Aussprache erhoben sich die Männer und schüttelten einander die Hände mit dem unbedingten Gefühl, daß man sich zusammenfinden würde. Ein befreites Aufatmen hob Georg Freimanns Brust. Aus der Tiefe des deutschen Elends, über das wüste Geröll des deutschen Zusammenbruchs schien ein erster, noch schlüpfriger und klippiger Anstieg zu neuen Lebensmöglichkeiten gefunden.

Beim Scheiden trafen die Herren Miß Bessie in heftigem Geplauder mit der Sekretärin. Das Pintscherlein saß neben der Schreibmaschine und lauschte der Unterhaltung mit klugen Menschenaugen. Aber kaum waren die Männer in der Tür erschienen, da warf es sich ihnen mit wütendem Gekläff entgegen. Schon war seine Herrin hinter ihm drein, packte das tobende kleine Scheusal und stopfte es gelassen wieder in sein Gefängnis.

»Ich wünsche Mistreß Freimann meinen Besuch zu machen«, erklärte Bessie. »Daddy, fahr mich zu Mistreß Freimann. Good morning, Miß Tiet— Tiet— nein, das ist zu schwer, das kann man beim ersten Male nicht behalten. Aber ich werde es lernen ... Wie heißen Sie mit Vornamen? Antje — oh, das ist reizend, ich werde Sie Miß Antje nennen. Good morning, Mister Freimann — go on, daddy


7

Es war höchste Zeit gewesen. Vorgestern hatte die Werft zum ersten Male ihren Beamten und Arbeitern nur fünfzig Prozent ihrer Löhne zahlen können und sie, nach langer, erregter Aussprache mit dem Arbeiterrat, der schließlich der Maßregel zugestimmt hatte, wegen des Restes auf Anfang[S. 116] bis Mitte der nächsten Woche vertrösten müssen. Aber heute, am Montag früh, war die Stimmung auf der Werft bedrohlich. Überall schleppte die Arbeit sich nur mühsam hin — allenthalben standen erregte Gruppen zusammen. Die Hetzer forderten passive Resistenz und erreichten zum mindesten, daß das sonst so wohlgeregelte Ineinandergreifen der Hunderte von Arbeitselementen gründlich durcheinandergeriet. Folge: allgemeine, stündlich steigende Verärgerung.

Ihre trüben Spritzer gischteten bis in die Chefbureaus hinauf. Die Leitung kannte diese Sturmzeichen.

Bob Timmermanns kam vom Vortrag aus dem Zimmer des alten Carstensen. Auf seiner kantigen Stirn hockte die Sorge.

»Gnädiges Fräulein — es wäre vielleicht besser, Sie hielten sich heut nachmittag zu Hause«, sagte er zu Ilse und blieb schwer atmend neben ihrem Schreibmaschinentischchen stehen. »Es geht da unten dermaßen fragwürdig zu, daß kein Mensch die Bürgschaft für den nächsten Augenblick übernehmen kann. Wenn die Bestie da unten kein Geld zu sehen bekommt, wird sie gefährlich. Und Ihr Herr Vater weiß auch keinen Rat mehr. Die Banken rücken nichts mehr heraus. Es geht zu Ende.«

»Ich hoffe, Timmermanns, Sie haben eine zu gute Meinung von mir, als daß Sie mich ernstlich für eine Drückebergerin halten.« Auch auf Ilses Stirn vertiefte sich eine Falte — aber senkrecht über der Nasenwurzel. Sie war ererbt: Auf allen Bildern der Carstensen seit vier Jahrhunderten war sie erkennbar.

»Sie sind eine Frau ...« warnte der Riese. »Ich bin nicht immer zur Hand ... Erinnern Sie sich an Tedje.«

Ein Frösteln lief dem Mädchen über den Nacken. Seit damals war's ihr immer wieder aufgefallen: Der wüste Kerl stand täglich unfern der Schranke am Werfteingang, morgens,[S. 117] wenn sie kam, nachmittags, wenn sie ging ... In seinen Augen der gleiche Ausdruck wie damals, als er das scheußliche Wort von den Zarentöchtern gesprochen.

»Ich habe keine Angst, Timmermanns. Man muß seinem Schicksal auch ein bißchen vertrauen. Es gibt Schutzengel — ich weiß es aus Erfahrung.« Und sie lächelte dem Getreuen freundlich und dankbar zu. Er hatte es verdient — sie hatte ihn recht schlecht behandelt die letzten Wochen hindurch. Er hatte begriffen und an sich gehalten. Jetzt durfte er belohnt werden.

Aber um ihre Lippen erstarrte der zarte, schwebende Zug — es war schon wieder zu viel gewesen. In die stählernen Augen des Riesen trat ein Fieber, sein Mund zuckte unterm blonden Stachelbart.

Ilse neigte sich zur Maschine und schrieb eifrig. Da wandte sich Bob Timmermanns. Er fühlte ein Wanken in seinen Knien, als er hinaustappte. Und aus seinem Herzen stieg's ihm in die Kehle. Er biß die Zähne zusammen.

In seinem Bureau fand er unerwarteten Besuch. Bruder Armin — um seine Lippen kräuselte sich ein zufriedenes Lächeln.

»Na, Bobchen? Ist's bald so weit?«

Der Riese begrüßte ihn mit einem Knuff gegen den Bauch. »Mal wieder auf der Hetztour, was?! Hol' dich der Teufel ... Rechtsbolschewisten oder Linksbolschewisten, Hose wie Jacke.«

»Meinst du? Wer weiß — vielleicht schon heute nachmittag denkst du anders. Hier habe ich die Telephonnummer der hiesigen Zentrale vom Bund ›Retter des Vaterlandes‹ aufgeschrieben. Zwei Panzerautos mit Maschinengewehren stehen bereit. Du brauchst nur auf den Knopf zu drücken.« Der Leutnant griff in die Zigarettenschachtel, die auf des Bruders Arbeitstische stand, und ließ sich behaglich in den Ledersessel fallen.[S. 118] Er beobachtete mit Genugtuung, daß die Vorstellungsreihe, die er angesponnen, in seines Bruders Hirn weiterwob.

Er sollte noch eine größere Genugtuung erleben. Bob schritt zu seinem Kleiderschrank, um den Straßenrock, den er zum Vortrage beim Chef angelegt, mit einem seiner Arbeitskittel zu vertauschen. Ein Gepolter entstand — etwas Schweres plumpste aus dem Schrank auf den Fußboden. Es war der Karabiner.

»Donnerwetter, Bob — ist das Dings da etwa aus deiner Bude da drüben in dein Bureau herübergeflogen?!«

Da mußte Bob Timmermanns wider Willen lachen. Die Brüder sahen sich an — sie empfanden: trotz Bobs knurriger Ablehnung waren sie einander näher gekommen.

»Für den äußersten Notfall ...« grunzte Bob. »In der Sache ändert sich nichts. Ihr seid genau solche Schädlinge wie die Schürer und Stänker da unten.«

»Sollte nicht doch ein kleiner Unterschied sein?« schmunzelte der Leutnant. »Es gibt schließlich doch noch etwas anderes als die Wirtschaft — es gibt ein Ding, das heißt Politik! das heißt Partei!«

»Quatsch! Politik! Es gibt nur zweierlei Parteien auf Erden: die Fleißigen — und die Faulen! Die, welche arbeiten wollen — und die Hetzer! Jawohl, ich habe deinen Karabiner im Schrank stehen — aber solange es geht, führe ich Zirkel und Reißstift! Du aber, du hast nichts als deine Panzerautos und deine Maschinengewehre! Damit bringst du uns nicht wieder hoch! Arbeit' was! Dann kannst du von mir aus eine schwere Batterie im Schrank haben!!«

Klirr! Eine Fensterscheibe barst, ein wuchtiger Stein sauste vor Bobs Nase vorüber und krachte wider die jenseitige Wand. »Die Arbeit ihrem lieben Kapital!« hohnlachte Armin.

Da schnarrte der Fernsprecher. Bob, schon unterwegs zum Fenster, bremste die Wucht seines Körpers und nahm den[S. 119] Hörer. Im Lauschen schoß ein jäher Freudenstrahl in sein Gesicht.

»Donnerwetter! Das ist die Rettung, gnädiges Fräulein — tausend Dank! Ich lasse mir sofort den Arbeiterrat kommen. Schluß!«

»Was ist los?«

Aber Bob sprach noch nicht. Die helle Freude auf seinem Gesicht war abgeblaßt — irgend etwas schien in ihm sich aufzubäumen. Armin lauschte atemlos.

»Hilfe in der Not!« kam es keuchend aus Bobs Kehle. »Aber von wo?! Von — drüben ... wir müssen ... Hauptsache ist: Wir kriegen Geld ... Wir können wieder arbeiten ... Ist da Zentrale? Bitte Arbeiterrat ...«

Achselzuckend, zähneknirschend verließ Armin das Zimmer.


Tedje fauchte, als die Anordnung des Arbeiterrats durch die Werkstätten und Arbeitsplätze schwirrte. Nachzahlung der fehlenden Lohnhälfte für morgen sichergestellt! Arbeit früh sofort mit Hochdruck aufzunehmen! Was würde die Zentrale sagen? Und wie würde der Alte da oben auf seinem Kran triumphieren!

Was Tedje dem Vater niemals zu gestehen gewagt haben würde, war Tatsache geworden: Die Zentrale des Spartakusbundes hatte ihn zu ihrem Vertrauensmann auf der Werft bestellt. Ein Agent der Bundesleitung hatte ihn aufgesucht — und im Tresor der seit kurzem in Hamburg eröffneten Filiale einer Moskauer Bank hatte er ein paar Kisten voll Sowjetrubel deponiert ... Zu dem Geheimfach hatte Tedje Tietgens den Schlüssel. Und der Agent hatte dem Genossen zwinkernd auf die Schulter geklopft:

»Alles für großes Befreiungswärk ... Abber kleine Mäddchen in Hamburg wollen auch lebben ... Mußte ibberall Stimmung[S. 120] machen für großes Befreiungswärk — auch bei kleine Mäddchen ...«

Seitdem war Tedje bei den abendlichen Musikunterhaltungen im Elternhause nur noch ein seltener Gast. Um so bekannter und geschätzter wurde er von Nacht zu Nacht in den Weiberspelunken um die Reeperbahn herum.

Nach Berlin hatte er in den letzten Tagen berichten können, die Werft scheine am Ende ihrer Mittel — die Krawallstimmung seiner Kollegen sei im Wachsen. — Nun würde er mal wieder abblasen müssen ...

Bald kamen Anordnungen der Zentrale, welche der neuen Lage entsprachen. Die Glut durfte nicht kalt werden — es galt, sie zuzudecken und unter der Asche fortglimmen zu lassen. Zu solch heimlichem Schürwerk taugte der Genosse Mönkebüll nicht — was er sprach, war Lava aus glühendem Liebesherzen, wohl geeignet, lodernde Flammen anzufachen — zu elementar und naiv, um unterirdische Lavaströme im Sieden zu halten. Aber die Zentrale wußte Rat. Sie hatte ihre Spezialisten für jede Temperatur.

Sie versprach, den Genossen Dragomiroff zu schicken. Er würde sprechen über das Thema: »Deutschland als Stoßtrupp der Weltrevolution.« Das mußte ziehen ... Und nicht etwa als Sonderaktion für die Genossen der Hammonia-Werft. — Drüben in der Stadt sollte das arrangiert werden als Werbeversammlung für das gesamte Proletariat des Unterelbegebietes.

Tedje, der faule Geselle, dem die Arbeit stets eine Last gewesen war, wurde plötzlich ein vielgeschäftiger Hans Dampf in allen Gassen. Er setzte seine Freunde rückhaltlos an. Clas und Anders mußten nach Schichtschluß Plakate kleben, Briefe schreiben, mit Saalbesitzern verhandeln ... Anders Niemann war mindestens so eifrig wie Tedje. Tausendfache Gelegenheit, die Gesinnungen seiner neuen Welt zu erforschen ... Aber[S. 121] wenn er so abends durch die still gewordenen, im kargen Laternenschein, im Vollmondlicht der Frühsommernächte phantastisch hindämmernden Gassen Alt-Hamburgs und St. Paulis zog und die knallroten, in blutrünstigen Phrasen schwelgenden Werbeplakate an die Anschlagsäulen und Häusermauern pappte, kam er sich wie verhext und verwunschen vor ... Wenn Ilse ihn so gesehen hätte ... oder auch Antje ...

Antje —! Sie ahnte so wenig wie die braven Tietgens-Eltern etwas von der unterirdischen Betriebsamkeit der drei jungen Kumpane. Seit der neue Schlafbursch im Hause war, kam es wie von selbst, daß die Tochter öfters als vordem abends den Weg zur Uhlen-Twiete fand. Sie komme nur der schönen Konzerte wegen, betonte sie öfters, als nötig war. Dann schmunzelten die Alten in sich hinein. Als ob Mudder Minchen nicht längst gemerkt hätte, daß die Tochter niemals versäumte, ein paar Blumen für die Stube der drei »Söhne« mitzubringen ... daß sie Anders Niemanns Wäsche ausbesserte, ihm Bücher auf seinen Nachttisch legte ... Ja, einmal war Mudder in der Dämmerung der Tochter begegnet, wie sie mit Anders Niemann in versonnenem Gespräch den Holstenwall hinabschlenderte und bald mit ihm in die Anlagen um die alten Wallgräben hineinbog ... Ein seltsames Paar, die elegante Sekretärin und der schlanke Werftarbeiter im abgewetzten Matrosenanzug ... Aber der würde vorankommen, tröstete sich Mudder Minchen. Jetzt war er bereits von seiner eintönigen Hantierung am Versenkbohrer abgelöst. Er machte nun den Hilfsmann bei seinen Schlafkameraden — hatte die glühenden Nieten, welche der Vorwärmjung ihm zureichte, vom Innern des werdenden Schiffskörpers her durch die Nietlöcher zu stecken, die er selber noch vor wenigen Tagen »versenkt« hatte — und sie mit der Zange festzuhalten, bis Tedje und Clas, die Nieterzwillinge, sie von draußen mit raschem Ticktack ihrer lustig sausenden Schmiedehämmer unlösbar mit[S. 122] der Eisenplatte zusammengeschweißt. Derselbe Handgriff auch hier wieder, tausend-, zehntausendmal an einem Tage derselbe — aber man war doch nicht mehr allein, man arbeitete nicht mehr in der öden Schiffsbauhalle, sondern draußen auf der Helling in der Sommersonne, durchlüftet vom Hauch der nahen Nordsee — und konnte ab und an mit Vadder einen Gruß tauschen, der droben mit seinem Kran hin und wieder fuhr und aus seiner luftigen Höhe Stahlschiene um Stahlschiene herniederschweben ließ, die dann dem immer höher sich auftürmenden Spantengerüst eingefügt wurden ...

Das alles wußte Mudder Tietgens aus den allabendlichen Erzählungen ihrer Tisch- und Hausgenossen. Ihre vier Mannsleut' waren täglich bei der Arbeit vereinigt. Schön war das zu denken — das alte Frauchen, das im stillen Winkel fast stumm geworden war, vergnügte sich in seiner Einsamkeit mit der Vorstellung, wie sie da zusammen schafften, ihre vier Mannsleut' ... Aber den Anders, den hatte sie besonders in ihr Herz geschlossen, weil er ihr am meisten Ehre gab. Sie war ja so bescheiden, so wenig verwöhnt ... Aber schön war's eben doch, daß der Neue sie mit einer Achtung und Rücksicht behandelte, zu der Vadder und Tedje bei aller Liebe zu Mudder nun doch mal nicht erzogen waren. Ihr Fritzing, der wäre am Ende auch so geworden ... Aber der lag an der Somme — wenn die Granaten seinen Leichnam nicht längst in tausend Fetzen zerrissen hatten. Ach ja, Fritzing ... Die müden Augen standen wieder einmal in einsamen Tränen ... Sie begriff's, daß Antje zu dem schmucken Anders hielt ... Sie und Fritzing waren ja auch unzertrennlich gewesen ... Und Anders würde aufsteigen — der könnte es noch mal zum Werkmeister bringen ... früher als Vadder, der schon so lange von der Vierzimmerwohnung im Werfthaus drüben schwärmte — und ja doch wohl schließlich seinen Kran behalten würde, bis die Invalidität kam ... Tja, und wenn die Antje sich also[S. 123] für den Anders nicht zu fein war — Mudder Mines Segen hatten sie — die zwei Kinder.

Und Antje?!

Oh, Antje war klug.

So sehr sie in der Theorie Revolutionärin war und für das republikanische Ideal der Gleichheit schwärmte — sie stand lange genug im Leben der Oberschicht — sie wußte: Zwischen ihr und dem Sohne ihres Chefs lagen Welten ... Was wollte das besagen, daß Heinz Freimann sich in einen Anders Niemann gewandelt hatte? Eine Herrenlaune — eine Maskerade, die jederzeit abgestreift werden konnte wie ein Faschingskostüm ... Und Anders Niemann war dann wieder Heinz Freimann.

Und doch gab's Stunden, da war's der braunen Antje, als könne, als müsse ein Wunder geschehen. Das war, wenn sie einmal Sonntags mit Anders Niemann nach Blankenese schlenderte oder nach Großborstel. Dann flatterten Gespräche, Gedanken, Empfindungen zwischen den Kindern der zwei Welten hin und wider, die ein Band von Gemeinsamkeit woben, wie Antje sie niemals geträumt ... Sie hatte schon oft genug Gelegenheit gehabt, die reichen und übermütigen Söhne des Bürgertums aus der Nähe zu betrachten. In ihrer Pension hatte sie ihre Typen kennengelernt — aus aller Herren Ländern. Für die war eine arbeitende Frau stets nur das Ziel eines einzigen Wunsches ... Und da Antje die leiseste Anspielung mit dem Stolz einer Prinzessin abwies, hatte sie gar von diesem und jenem exotischen Jüngling stürmische Heiratsanträge bekommen. Das war nichts für sie gewesen. Ein Deutscher mußte es sein ... Gegen jenes Vaterland, das ihr die zwei Brüder entrissen, Fritzing, den Liebling zumal — gegen Kaisertum, Junkertum, Militarismus — gegen das alles empfand sie den leidenschaftlichen Haß ihrer Klasse. Wie ihre Lieben und auch die Mehrzahl ihrer Kolleginnen schwärmte sie[S. 124] für internationale Solidarität der Hand- und Kopfarbeiter aller Völker, für Verbrüderung der Nationen und ewigen Frieden. Aber noch stärker war in ihr der Weibinstinkt, der die Deutsche zum Deutschen zog ... Ihr selber völlig unbewußt war sie eine leidenschaftliche Nationalistin des Rassegefühls ... Und dieser Sohn des Großbürgertums in der ersten Reife vollerblühter Männlichkeit — der war ihr verwandt durch etwas, das sie kaum hätte deuten können. Es gab zwischen ihnen beiden ein gemeinsames Ideal, einen Traum, ein Wunschbild vom Menschentum — was war es nur?

In hundert Gesprächen umkreisten die zwei jungen Menschen dies unbekannte, ersehnte, erahnte Land ... Dies Land, in dem sie beide sich beheimatet fühlten. Sie vernahmen seine Stimme aus Beethovens Sonaten und Schumanns Klavierstücken, aus Wilhelm Meister, den er ihr, und aus Richard Dehmels Gedichten, die sie ihm zu lesen gegeben hatte. Aber auch in Vater Tietgens' abendlichen Schwärmereien von den Zukunftsrechten des Proletariats, in Clas Mönkebülls phantastischen Gesichten von der Erlöserin Weltrevolution, ja selbst in Tedjes Blutträumen war etwas von diesem fernen, nebelhaft vor den Seelen schwankenden Land ... Wenn Antje dann nach solchen Spaziergängen und Gesprächen in ihrem Pensionskämmerchen unter die Decke schlüpfte, dann träumte sie doch für selbstvergessene Viertelstunden den uralten Mädchentraum von dem Königssohn, der das Dornröschen weckte zu einem Leben im Licht ... Und dann rann ihr das trostvolle Gesicht einer Seelenheimat für alle Menschen ihrer Sprache und ihres Blutes zusammen mit seinem verengerten, ins Heimliche und Geborgene verkleinerten Abbild, seiner mütterlichen Urzelle: einer Heimat für zwei Glückliche.


[S. 125]

8

Vater Patterson hatte recht gehabt: Die kleine Bessie konnte einem schon auf die Nerven fallen.

Sie fand es selbstverständlich, daß sie den Vater überallhin begleiten durfte. An seiner Seite drang sie in die ängstlich umhüteten Bureaus der unnahbarsten Direktoren — im H. T. L.-Haus wie drüben auf der Werft. Und nicht minder ungeniert spazierte sie durch die endlos hingedehnten Werkstätten, ließ sich im Aufzug zum schwindelnden Helgengerüst emporfahren, turnte zum Entsetzen der ölbeklexten Maler zwischen ihnen über die frisch mit Mennig überholten Stahlgerüste, tauchte neben dem alten Tietgens im Kranführerhäuschen auf, war plötzlich wieder drunten, kroch durch den Doppelboden des werdenden Riesendampfers, kletterte an den Leitern der Aufrichtegerüste hinauf, flitzte über die Laufstege des schon zur vollen Höhe hinangewachsenen Zehntausendtonnendampfers, stand voll brennenden Interesses neben dem glosenden Vorwärm-Feuer und beobachtete, wie der Junge die rotglühenden Niete aus dem Kohlenbecken holte und durch eine offengebliebene Lücke der Beplattung ins Innere des Schiffes reichte ... staunte, wie der Stiel des Nietes plötzlich aus einem der Nietlöcher auftauchte, wie die Nieterzwillinge mit ihren langgestielten Hämmern zuschlugen und ticktack, ticktack aus dem Stiel ein glattes, rundes Köpfchen zurechthämmerten ... Und überall Fragen, Fragen — überall, knips, der Kodak in Tätigkeit ...

Und kaum war sie zu ebener Erde angekommen, dann tat sie einen Griff in die Tasche, und das Pintschermütterchen wurde in Freiheit gesetzt ... Es entschädigte sich für die stumm ertragene Haft, indem es mit widerlich grellem Kläffen den ernsthaften Herren in den Direktionsbureaus zwischen die Beine fuhr, die Arbeiter, deren Geruch das kleine Scheusal empörte,[S. 126] in die schlampigen Hosen biß ... Dann lachte seine Herrin, so daß der kostbare Reiherbusch auf ihrem Strohhütchen wippte wie vom Sturm gezaust.

Eines Morgens zog sie beim Frühstück ihrem Vater das Scheckbuch aus der Brusttasche, reichte ihm ihren Füllfederhalter hin:

»Schreib, daddy ... sechshundert Dollar ...«

»Goddam — wofür?«

»Wirst du gleich sehen. Habe mir ein Auto gekauft.«

»Du bist toll — wozu?«

»Für meine Studienreisen.«

»Ach, bitte — was studierst du, wenn man fragen darf?«

»Die Deutschen. Sie sind sehr merkwürdig, die Deutschen. Sie haben wenig zu essen, sind schlecht angezogen, mögen nur acht Stunden arbeiten und schimpfen, wenn man einen guten Anzug trägt. Aber ich weiß mit ihnen fertig zu werden. Ich lache sie aus, dann werden sie friedlich. Und noch eins: ihre Kinder ... Wenn man gut zu ihren Kindern ist, dann kann man alles mit ihnen anfangen.« Sie wies auf ein mächtiges Paket, das sie aus ihrem Zimmer mitgebracht: »Schau her, daddy ... alles Süßigkeiten und Schokolade für meine kleinen Freunde in den schlimmen Vierteln ...«

»In den schlimmen Vierteln?!«

»Gewiß — ich gehe immer in die schlimmen Viertel. Darum mußte ich mir das Auto kaufen — daß ich ordentlich herumkomme in den schlimmen Vierteln. Oh, du glaubst nicht, wie interessant es ist in den schlimmen Vierteln!«


9

Tedje hatte so etwas wie ein Hauptquartier aufgeschlagen. In einer jener finsteren Nebengassen der Neustadt, in denen die Männerwelt der Unterschicht ihre Trösterinnen zu finden[S. 127] wußte, hauste als Zuchtmeisterin eines Rudels verlorener Kinder der Schande ein hexenhaftes Weib, das im Nebengewerbe mancherlei Gut zu bergen und umzuschlagen wußte, welches ohne Zustimmung seiner Eigentümer in ihre Hände gelangt war ... Mudder Lore war eine Mexikanerin von Geburt — sie hatte einmal Dolores Jacinto geheißen. Ein Hamburger Kaufmannssohn hatte sie als junges Ding aus ihrer Heimat in die nordische Küstenstadt mitgenommen. Dann hatte er geheiratet, sie hatte die Abfindung, die der Überdrüssige, doch Dankbare, ihr ohne Knickern hinterlassen, mit neuen Freunden schnell verpraßt. Von Stufe zu Stufe sinkend war sie erst Insassin und dann, zum alraunenhaften Scheusal alternd, Vorsteherin eines Liebesverschleißes niedrigster Sorte geworden. In dieser Eigenschaft hatte Tedje sie kennengelernt — und war ihr Günstling geworden. Ihm führte sie ihre »frische Ware« zu — er machte gelegentlich den »Herausschmeißer«, wenn die Kunden zu frech wurden ... Und eines Tages hatte Mudder Lore ihrem Vertrauten auch ihre unterirdischen Vorratsräume gezeigt, in denen sie die Stapel von Waren jeder Art aufspeicherte, welche ihre Geschäftsfreunde ihr nächtens zutrugen. Tedje staunte: Ein Labyrinth von engen, stickigen Gängen, schlüpfrigen, ausgetretenen Treppen, muffigen Kellerlöchern und geheimnisvollen Gewölben — dazwischen hier und da eingekapselt plötzlich ein Stübchen für verstohlene Liebesfreuden, mit schwülem, verschlissenem, nach zweifelhaften Parfüms und altem Zigarettenqualm riechendem Prunk ausstaffiert — alles verbunden durch Geheimtüren, die im Innern von Schränken mündeten, die mit alten Kleidern oder Fastnachtskostümen vollgepfropft waren ... Eine wahrscheinlich jahrhundertealte Heimstätte des Lasters, Diebstahls, Verbrechens jeder Art — wie aus einem jener mit grellbunten Titelbildern gezierten Groschenhefte herausgeschnitten, die Tedjes einzige, in Massen verschlungene Lektüre bildeten.

[S. 128]

Tedje schrie vor Wonne, als Mudder Lore ihn in das Geheimnis ihres »Dachsbaus« einweihte. So etwas hatte er gesucht, seit er der Vertrauensmann des Spartakistenbundes geworden war. Hier war Schlupfwinkel, Arsenal und Munitionsdepot zugleich ...

In den nächsten Nächten füllten sich die unterirdischen Räume, in die vom Grundwasser der Flete feuchte Sickerungen hineindünsteten, mit ungewohnter, gefährlicher Ware. Dutzende von rostigen Maschinengewehren, Hunderte von Flinten und Karabinern, Berge von Handgranatenkisten — Abraum des grausamsten aller Kriege, Trümmer aus der großen Konkursmasse Deutschland — einstmals Werkzeuge ruhmreichster Verteidigung, nun bestimmt, in scheußlichem Bruderkriege den zum Irrsinn entarteten Idealen einer kreißenden Zeit zu dienen ...

Bei all solchem Greuelwerk waren Clas Mönkebüll und Anders Niemann die stets dienstwilligen Helfershelfer ihres Zimmergenossen.

Oft überkam den einstigen Offizier des Kaisers ein dumpfes Grausen. Furchtbar gefährliches Spiel, das er spielte! Es brauchte nur inmitten der gärenden Welt, in der er trieb, einer von jenen Hunderten von Söhnen dieser Welt aufzutauchen, denen er einst Vorgesetzter, Erzieher, Führer im Kampfe gewesen war — ein Wort, das ihn entlarvte — und der Abgrund, auf dessen schwankendem Boden er sich tummelte wie auf einem Sportplatz, verschlang ihn — das stinkende Labyrinth, in dessen pestaushauchende Tiefen er täglich hinuntertauchte, gab ihn nicht wieder heraus ...


»Dolores Jacinto, Pensionsinhaberin« stand ehrbar im Fernsprechverzeichnis. Aber eine geheime Verbindung führte von dem amtlichen Apparat, der harmlos im Korridor des allbekannten »öffentlichen Hauses« hing, in das tiefversteckte[S. 129] Kellergelaß, in dem Tedje seinen »Generalstab« um sich versammelte. Von hier aus sprach Tedje jeden Nachmittag nach seiner Heimkehr von der Werft mit der Berliner Zentrale. Um die Gefahr des Abhörens durch die Beamten zu vermeiden, machte ein Russe den Vermittler. Ihn hatte die Zentrale ihrem Vertrauensmann als Mitarbeiter — und ohne sein Ahnen zugleich als Aufseher — überwiesen. Er und ein paar Begleiter gleicher Nationalität waren von Tedje nach und nach als Ungelernte auf der Werft untergebracht worden. Mit diesem Dolmetscher und mit seinen beiden Kumpanen suchte Tedje täglich sein Hauptquartier auf.

Heute bekam er aus Berlin ein Lob. Er hatte berichten können, die Versammlung sei auf übermorgen abend festgesetzt, das Werbeplakat klebe in ganz Hamburg, ein Riesenandrang sei zu erwarten. Berlin teilte mit, Genosse Dragomiroff werde pünktlich mit dem Nachmittagszuge eintreffen. Sollte wider Erwarten der drohende Streik der Eisenbahner auf der Strecke Wittenberge-Hamburg sich nicht mehr bis übermorgen aufhalten lassen, so werde Dragomiroff im Auto kommen ... Man möge sich schlimmstenfalls auf eine unbedeutende Verspätung gefaßt machen.

Dragomiroff — der große Dragomiroff ... Er galt in Spartakistenkreisen als so etwas wie ein Prophet ... Tedje und seine Freunde fieberten nach der Bekanntschaft des Gewaltigen — keiner brennender als Anders Niemann ...

In Hochstimmung verließen die Gesellen ihren Unterschlupf und schlenderten die dunstige Gasse hinab. Als sie in die etwas breitere Knibbel-Twiete einbogen, sahen sie ein verblüffendes Schauspiel.

Ein winziges, gelblich-weiß-lackiertes Auto kam die Gasse herab, von den armseligen, verwahrlosten Kindern, die im Gassenschlamm ihr Wesen trieben, mit Hallo begrüßt. Eine Dame lenkte es — fast noch ein Backfisch. Sie winkte den[S. 130] Kindern lachend zu wie eine alte Bekannte ... streute im Fahren Hände voll in Silberpapier gewickelter Gegenstände, offenbar Schokoladetäfelchen, unter die jubelnde Schar, die sich, wie ein Schwarm Hühner aufs Futter, auf die süße Gabe stürzte mit Balgen und Gekreisch.

Da — o weh! — Hatte die Lenkerin im Grüßen und Spenden die nötige Achtsamkeit versäumt?! — Ein Stoß, ein Aufschrei, ein vielstimmiger Schreckensruf als Echo — ein Mädelchen von fünf Jahren, nur mit einem schmutzstarrenden Kattunröckchen bekleidet, flog vom Auto angerannt gegen einen Prellstein und blieb bewußtlos liegen.

Die unglückselige Fahrlässige stoppte ihr Gefährt sofort ab, sprang heraus, ohne sich um ihren Wagen zu kümmern, hob das kleine Opfer ihrer Unachtsamkeit mit zartester Sorgfalt empor, preßte es an ihre Brust — im Nu war sie von einem Rudel zeternder Weiber umringt. Entsetzliche Schimpfworte, geballte Fäuste, gekrallte Finger —.

Tedje Tietgens hatte den Auftritt beobachtet. Es stieg ihm glührot in die Augen. Eine Feine — eine wie jene, die seine Gier seit Wochen umstrich ... Zupacken — züchtigen — und im Strafen sich ersättigen ... Und schon hatte er die Weiber zur Seite gestoßen, stand vor der unglückseligen Kleinen, deren begütigendes Lächeln im Schreck erfror — —. Er riß das Kind aus den Armen der Zitternden, schob es einer keifenden Dicken zu, packte die »Feine« an den Schultern, zerrte sie empor, schüttelte sie und schauderte wie im Fieber, als er den Druck der kleinen, festen Brüste spürte.

Da fühlte er selber sich an den Armen gepackt. Von beiden Seiten.

»Tedje — büst du öwersnappt?! Lat ehr doch — is jo unschüllig, dei Lüttje! Is man'n Malleur west!«

Sie riefens durcheinander, seine beiden Kumpane: Clas, Anders ...

[S. 131]

Tedje blaffte wie ein Bullenbeißer, dem ein anderer Köter den erbeuteten Fleischfetzen streitig machen will. Aber mit derbem Zugriff zwangen die Freunde den Starken, sein Opfer fahren zu lassen.

Mannesgier, Pariahaß, gekränkte Eitelkeit schäumten auf in Tedjes zuchtloser Seele.

Er schüttelte die Freunde ab, daß sie zurücktaumelten. Kreischend stob der Weiberschwarm auseinander, ballte sich ringförmig wieder zusammen zu lüsternem Gafferkreis. Eine Rauferei zwischen drei Freunden, Kollegen, Proletariern um ein Kapitalistenfrätzchen?!

Wie bösartige Hunde kläfften die guten Gesellen einander an — kreischende Hetzrufe schrillten dazwischen. Das armselige Mädelchen, das des ganzen Spektakels unschuldiger Anlaß gewesen war, hatte sich im Arm seiner neuen Beschützerin längst von seinem Schrecken erholt und starrte auf die drei Kampfhähne.

Mit einem Male löste sich die dräuende Spannung des Moments in ein orkanartig aufbrausendes Gelächter. Die Fremde, durch das Eingreifen der Freunde ihres Bedrängers ledig geworden, hatte seelenruhig den Kodak, den sie am Riemen um den Hals trug, aufgeklappt, war einen Schritt zurückgetreten, hatte kaltblütig visiert — klapp! die Aufnahme war fertig.

»Thank you, gentlemen ...«

Die Komik der Situation war so elementar, die Geistesgegenwart der kleinen Missetäterin so verblüffend und versöhnend zugleich — daß aller Groll des in der Tiefe schwelenden Klassenhasses ebenso jäh, wie er aufgeflammt, in sich zusammensank.

Die Fremde schritt durch eine Gasse besänftigt schmunzelnder Menschen zu ihrem Auto, nahm eine riesige Bonbontüte heraus, stopfte sie dem Würmchen, dem sie Schmerz und[S. 132] Schreck zugefügt, in die Hand, pappte ihm eine Probe des Inhalts ins schleckernde Mäulchen — und schon saß sie in ihrem Puppenwägelchen, töffte triumphierend und fuhr durch ein Spalier lachender Gesichter, krähender Kinderfrätzchen von dannen.


10

In den nächsten Wochen bekam Elias Patterson zu spüren, was deutsche Gründlichkeit — und was deutsche Zerrüttung bedeutete.

Er selber hatte sich über die große Wassertiefe hinüber mit seinem Konzern spielend verständigt. Ein paar lange Kabeltelegramme waren hinüber- und herübergeflogen — und wenige Tage nach der grundlegenden Besprechung mit dem Präsidenten der H. T. L. befand sich Patterson bereits im Besitz unbeschränkter Vollmachten der gesamten hinter ihm stehenden Kapitalgruppen, mit den Deutschen im Rahmen seiner Vorschläge abzuschließen.

Auch finanziell arbeitete er in großem Stil. Zunächst streckte er der Werft für den Weiterbau des Schnelldampfers eine bedeutende Barsumme vor. Sodann deponierte er bei drei Hamburger Großbanken Schecks auf Neuyork und wies die Hinterlegungsstellen an, sich von den bezogenen amerikanischen Bankfirmen deren Einlösungsbereitschaft telegraphisch bestätigen zu lassen. Dies Guthaben stellte er den Banken, welche der Hammonia-Werft bisher das Geld für den Dampfer vorgeschossen hatten, als Bürgschaft zur Verfügung — unter dem Vorbehalt freilich, diese Bürgschaft gegenüber künftig zu erwartenden Abhebungen jederzeit zurückziehen zu können.

So konnte die Werft bis auf weiteres wieder arbeiten.

Aber Elias Patterson sollte seines Entgegenkommens, die Werft ihres Flottwerdens nicht lange froh werden. Der[S. 133] deutsche Jammer hemmte alsbald aufs neue den frisch erwachten Auftrieb.

Täglich versammelte der alte Carstensen seine Direktoren zu stundenlangen Konferenzen, die sich, außer mit den fast stündlich anschwellenden Forderungen der Arbeiterschaft, mit der nicht minder lawinenartig wachsenden Teuerung aller Materialien, Rohstoffe wie Halbfabrikate, zu befassen hatten. Die mühsam aufgestellten Kalkulationen des Gestern wurden durch die lächerlich-grausige Abwärtsentwicklung des Heute bereits wieder über den Haufen geworfen. Wohin würde man noch kommen? Und wie sollte das enden?! Wahrlich, es gehörte übermenschliche Nervenkraft dazu, in diesem Wirbel der Katastrophen den Mut und Entschluß zur Weiterarbeit hochzuhalten.

Der alte Carstensen verfiel sichtlich. Und Ilse wuchs wider Willen und Ahnen aus ihrer ursprünglichen Tätigkeit als Korrespondentin mehr und mehr in die Stellung der »rechten Hand« hinein. Das war ihr Stolz, ihr Glück — ihre Rettung fast. Denn wie der Vater sich immer tiefer und tiefer umdüsterte, die Lage des Unternehmens, das er auf altererbtem Grunde zu seiner stolzesten Blüte entwickelt, sich immer fragwürdiger gestaltete — die Wehen und Krämpfe, die das angstumschauerte, von Zwietracht und Zersetzung umstürmte Werden der jungen deutschen Republik erschütterten, immer heftiger und schmerzlicher aufzuckten — in diesem ganzen Wirrwarr von seelischer und körperlicher Überspannung fühlte Ilse mit schmerzhafter Deutlichkeit, daß sie ein Weib war — von der Natur zur Kämpferin im Ringen einer Welt um Neugestaltung nicht bestimmt. Und wo war die Brust, an die sie sich hätte lehnen, an der sie Lebensangst und Einsamkeitsschauer hätte ausweinen können?!

Ihr zur Seite stand ein Mann, dessen rauhe Tatkraft wie von selber in die immer sichtbarer freiwerdende Stelle des[S. 134] Oberleiters dieses Riesenorganismus zusammengeballter Kräfte vorrückte. Der hatte alles, was eine Frau in Ilse Carstensens Lage von dem Gefährten, den sie als Stütze brauchte, nur hätte wünschen können. Alles — außer dem einen ...

Die Tochter des alten Geschlechts von harten Rechnern, kühnen Unternehmern, kühlen Ziffern- und Tatsachenmenschen war alles andere als eine Schwärmerin. Ihr ererbter und durch ihre Arbeit seit vier Jahren geschärfter Sinn für die Wirklichkeit ihrer besonderen Lebensbedingungen sagte ihr täglich: der Mann, der da neben ihr aufgesproßt war wie ein Eichbaum — in eben die Aufgabe, die sie selber ihm als Lebensaufgabe anzuvertrauen in der Lage war, hineingewachsen wie eigens für sie geboren — das sei der Kamerad, den sie brauchte ... und nicht jener andere, der kampflos den Platz an ihrer Seite geräumt hatte, um ins Nichts zu verschwinden ...

Ilse war keine Romantikerin — ihrer Vorliebe für Schumann und Brahms zum Trotz. Sie war eine Carstensen — aber — sie war eine Frau. Das zähe Wollen ihrer Vorfahren richtete sich bei ihr auf frauliche Ziele. Sie verlangte, als Vollmensch, ein volles Leben — aber eben ein Frauenleben. Gerade die Carstensen in ihr sehnte sich nach der verträumten Weichheit, der ziellosen, undurchsichtigen Tiefe, dem wunderverheißenden Sonntag im Sohn der Johanna Freimann ...

Die Gütige gestattete ihr noch immer, sie Mutter zu nennen ... Aber in ihrem stillen Schmerzensgesichte las Ilse dennoch immer, immer die verstohlene Anklage: du — du hast ihn mir genommen!

Und so hatte Ilse doch schließlich keinen anderen Halt als den Mann, dem ihr Schicksal sie mit Gewalt in die Arme pressen zu wollen schien.

[S. 135]

Ilses Erscheinung verriet trotz der gesucht einfachen Kleidung, die sie für ihren Arbeitsalltag anlegte, den Bürgeradel ihrer Abstammung. Sie war nachgerade dem ganzen vieltausendköpfigen Werftpersonal als Tochter seines Brotherrn bekannt. Es kam ganz von selber, daß sie im Getriebe des Bureaugebäudes wie der Maschinenhallen, Helgen, Docks bisweilen an der Seite des Direktors Timmermanns gesehen wurde. Von dem aber wußte der jüngste Lehrling, daß er der Stellvertreter des alternden und unverkennbar langsam versagenden Werfteigners war ... Schon bezeichnete das Gerücht der Kantine die zwei als Brautleute ...

Und als solche galten sie auch in der Meinung jener zwei von den siebentausend werkenden Männern, die unter beider Leitung standen — jener zwei, die das Paar noch mit anderen Augen ansahen als mit dem scheelsüchtigen Aufblick der Dutzendmenschen zu den Auserwählten, den Begnadeten des Schicksals.

Anders Niemann ... Er sah dies Mädchen, das er einst im Arm gehalten, nun aus doppelter Ferne ... Sie war ihm verloren, verfallen ohne Gegenwehr dem Einfachen, dem Klaren, dem Wollenden ...

Bisweilen, wenn er hoch droben am werdenden Schiffsrumpf Niet um Niet setzen half, sah er da unten, hinten weit im Verwaltungsgebäude, die wohlbekannte, schlanke Gestalt am Fenster des Chefbureaus auftauchen oder an der Seite des blonden Gewaltmenschen zur Bauhalle hinüberschreiten ... Dann schrie sein ganzes Wesen nach ihr ... Am Abend war er dann verstört, zerrissen, abwesend ... Und wenn seine Freundin Antje ihn bei ihren immer häufigeren Besuchen im Elternhause in dieser Verfassung antraf, dann zerflatterte der letzte Nachklang der törichten Träume, die sie abends beim Einschlummern in der innersten Herzenskammer gewiegt hatte.

Und noch in einem anderen Manne war Sturm und Not,[S. 136] wenn die Feine, die Ferne neben dem Herrn Direktor aus dem Werkmeisterhause durch das Werftgelände ging. Vergebens, daß Tedje Tietgens sich von Mudder Lore so manches abenteuerlustige Weiblein aus der Kleinbürgersphäre der Neustadt, so manche ausgehungerte Kriegerswitwe, so manches mannslüsterne Fabrikgör in seinen Schlupfwinkel zutreiben ließ — der wüste Tedje gierte nach seiner »Zarentochter« ... Und es machte ihm ein grimmiges Vergnügen, sich abends neben der Portierloge aufzupflanzen und der Vorüberschwebenden mit schreckhaft drohender Begehrlichkeit ins Gesicht zu starren. Sie mied sein Auge nicht — sie ließ ihren Blick mit dem Ausdruck völliger Nichtbeachtung über den Frechling hinweggleiten ... Aber Tedje Tietgens wußte: bemerkt hatte sie ihn ... Ihn übersah man nicht. Und das genügte ihm für den Augenblick. Seine Stunde würde kommen.


Und durch die Sorgen und Kämpfe der Deutschen quirlte die kleine Hundezüchterin, Photographin, Automobilistin wie ein wahnsinnig gewordener Sonnenstrahl. Sie war beständig auf Entdeckungsreisen. Und überall fand sie Menschen, welche sich um Dinge quälten, die ihr neu, unverständlich, geheimnisvoll interessant waren. Alle diese Deutschen hatten ihre Sorgen — und Sehnsüchte.

Ihre neue Entdeckung war Ilse Carstensen. Um die war ja eine förmliche Dunsthülle von Rätseln ... Eine Braut, der ihr Bräutigam durchgebrannt ist ... Eine Dame aus den ersten, vornehmsten Kreisen einer Großstadt — die arbeitet wie ein Mann — statt sich verwöhnen, feiern und beschenken zu lassen ... Und dabei hat sie einen Verehrer, der sie mit lächerlich ehrerbietiger, täppischer Ergebenheit umwedelt wie ein treuer, am Auge der Herrin hängender Neufundländer ...

Das war überhaupt das erste, was Bessie herausbekommen hatte: Dieser Riesenkerl, aus dessen kantigem Schädel die Modelle[S. 137] des »President Lincoln« und des werdenden Riesendampfers für die neue Aktiengesellschaft, die ihr Vater zu gründen hergekommen war, entsprungen sein sollten — der war in diese kühle, imposante Stenotypistin verliebt wie nur ein wohldressierter Neuyorker business-man in eine typische Modeschönheit vom Manhattan Square. Er tat ihr ein bißchen leid, der arme Neufundländer. Vergebens Wedeln, Schöntun, Apportieren ... nicht einmal einen freundlichen Blick bekam er zum Dank, von einem Stückchen Zucker ganz zu schweigen.

Bessie stattete seit dem Beginn ihrer Schwärmerei für Ilse dieser täglich auf ihrem Bureau einen höchst unbequemen Besuch ab. Eines Tages wurde sie wieder einmal Zeugin, wie die neue Freundin ihren Seladon, der mit einer ganzen Menge guter Nachrichten vom Fortgang des Dampfers um ein freundliches Wort geworben hatte, kurz angebunden und fast ungnädig entließ. Da faßte sie sich Mut, für den Riesen ein gutes Wort einzulegen.

»Miß Ilse — Sie haben das härteste Herz, das ich jemals an einem jungen Mädchen gefunden habe ...«

Ilse hatte sofort verstanden. »Oh — Sie haben bemerkt, Kleine?!« sagte sie mit zurückhaltendem Lächeln.

»Ich bin nicht blind. Sie sind schlecht zu ihm, Miß Ilse.«

Die Deutsche mußte lachen. »Aber wenn er mich doch langweilt, Bessiechen?«

»Sie verdienen es nicht, daß er sich um Sie grämt. Er grämt sich um Sie, wissen Sie das nicht? Ja, Sie wissen's — aber Sie sind schlecht. Sie freuen sich, daß er sich grämt. Wo wohnt der arme Junge? Ich meine, welche Zimmernummer hat er? Ich werde ihn besuchen. Ich werde ihn vor Ihnen warnen. Ich werde versuchen, ihn zu trösten.«

Und schon war sie hinaus.

[S. 138]

Als sie vor dem Zimmer stand, dessen Tür die Aufschrift »Direktor Timmermanns« trug, klopfte ihr keckes Herz doch ein wenig. Von drinnen klang ein grimmiger Singsang, rauh wie ein indianisches Kriegsgeheul.

Ihr Klopfen wurde überklungen von diesem wilden Getöse. Da klinkte sie vorsichtig auf — und erblickte den Gestrengen in einer seltsamen Beschäftigung. Der Besucherin den Rücken zukehrend, hemdärmelig stand der Riese — mit beiden Fäusten hielt er ein Etwas, das Bessie sofort als ein ziemlich kurzes Soldatengewehr erkannte. Er war beschäftigt die Waffe zu putzen und sang dazu in dröhnendem Rhythmus ein Lied, dessen Worte Bessie nicht enträtseln konnte.

»Was nützet mihaich ein schönes Mädchen,
wenn andre mit spazieren gehn?
Was nützet mimamich ein schönes Mädchen,
wenn andre mit spazieren gehn?
Und küssen ihr die Schönheit ab,
und küssen ihr die Schönheit ab —
Daran ich meine,
so ganz alleine,
daran ich meine Freude hab'?!«

»Wundervoll! Entzückend!« jubelte Bessie, als der Barbar seinen Hunnengesang beendet hatte. Wie besessen klatschte sie in die Händchen.

Bob Timmermanns fuhr herum, vor Staunen blöde. Sie sahen sich an, der Enakssohn und das Püppchen — und lachten — lachten — lachten, daß ihnen die Tränen von den Backen liefen.

»Oh — das ist eine sehr wonderfull song«, radebrechte die Kleine — der Tölpel konnte ja kein Englisch, sie wußte schon. »Sie muß lernen zu mir diese wonderfull song ...«

»Das ist ein Soldatenlied, kleines Fräulein.«

[S. 139]

»Oh ... Die deutschen Soldaten sind sehr melancholical, wenn sie singen songs so swer — swer —«

»Schwermütig ...«

»Ja, swermjutig ... Sie müssen lernen zu mir diese swermjutige soldiers song ... Aber Sie müssen nicht singen swermjutige songs, Sie müssen singen lustige songs ...«

»Kann ich auch, kleine Puppe — da, nehmen Sie Platz ...« Er faßte die Besucherin um die Hüfte und setzte sie mit einem Schwung auf seinen mit Zeichnungen besetzten Arbeitstisch, daß die Röckchen nur so flogen. »Hören Sie zu:

›Bei der Kaiserin Klementine
haben wir heut Musik gemacht,
der eine spielte auf der Viggoline,
der andre auf dem Stiewelschacht —
Hodahumpahumpahadaha —
hodahumpahumpahadawumm!‹«

»Das Sie müssen auch lernen zu mir!« jubelte das kleine Ungeheuer. »Ist es auch eine German soldiers song? Ich wünsche zu lernen hundert German soldiers songs — das wird machen eine gigantische Effekt in Amerika ...«


11

Minder als Bessie war ihr Vater mit seinem Aufenthalt in Deutschland zufrieden. Das Tempo der Entwicklung machte ihn nervös.

Sah er die Werft unterm Druck des im Hintergrunde lauernden Spartakismus, so fand er die Linie durch die Schwerfälligkeit ihres Apparats gehemmt.

Zum Abschluß eines Vertrages wie die geplante Fusion war die Genehmigung der Generalversammlung erforderlich.[S. 140] Schon ihre Einberufung machte Schwierigkeiten. Bald streikte die Eisenbahn, bald streikte die Post ... Aus allen Teilen des Reiches kamen Anträge auf Aufschub, Bitten um Aufklärung, dringende Warnungen vor einer Verbindung mit dem amerikanischen Kapital ... Auslieferung an das feindliche Ausland, schmachvolle Kapitulation vor dem Dollar, Vaterlandsverrat waren tägliche Liebenswürdigkeiten.

Man kam nicht vom Fleck. Patterson verlor die Geduld. Er spielte seinen letzten Trumpf aus. Er stellte der Linie eine Frist zur Entscheidung über den Fusionsantrag des Patterson-Konzerns. Nach ihrem fruchtlosen Ablaufe werde der Kredit gesperrt.

Das half. Die Generalversammlung trat endlich zusammen.

Freimann hatte seinen großen Tag. Vor einer Hörerschaft der ersten Köpfe und Kapitalmächte der deutschen Hochfinanz, Industrie und Schiffahrt verfocht er seine These: Besser Schulter an Schulter mit Amerika leben als verlassen zugrunde gehen ... Die deutsche Ehre sei nicht in Gefahr ... Der Vertrag sei nicht eine versteckte Aufsaugung des Besiegten durch den Sieger, sondern ein Bündnis gleichberechtigter Mächte ... Es sei kein Zeichen nationaler Gesinnung, den ersten Ausweg aus dem Elend des Zusammenbruchs, den wohlmeinende Hände von drüben aufgetan, unversöhnlich wieder zu verrammeln ... Das Meer, die Lunge der Völker, müsse den Deutschen zunächst wieder geöffnet werden, koste es, was es wolle ...

Seefahrt ist not ...

Georg Freimann feierte einen großen rednerischen Triumph. Er schien in diesem Jahre furchtbarsten Ringens äußerlich gealtert, innerlich gereift — ungebrochen, ja gefestigt, nicht mehr geschmeidiger Stahl wie früher, nein, starres, kantiges Eisen ...

Fast einstimmig genehmigte die Generalversammlung die Anträge des Direktoriums. Und noch in derselben Stunde[S. 141] vollzogen die Herren Freimann und Patterson die längst fertig daliegende Fusionsakte.

Die United Transatlantic Lines waren gegründet.


In derselben Stunde, als die Führer der deutschen Überseeschiffahrt mit ihren Damen sich auf Einladung ihres neuen Verbündeten von drüben zu einem Festdiner im Atlantic-Hotel versammelten, strömten aus ganz Hamburg die Arbeiter und Unterbeamten der Werften und Häfen in dem niederen, doch weitgedehnten Saale der »Neuen Welt« am Heiligengeistfelde zusammen, um sich von Wassily Petrowitsch Dragomiroff aus Moskau über »Deutschland als Stoßtrupp der Weltrevolution« belehren zu lassen ...

Anders Niemann, der durch Antje über die Vorgänge im Präsidialbureau der Linie genau unterrichtet war, mußte lächeln in grimmig bitterer Ironie, als er sich Schulter an Schulter mit seinen Stubenkameraden zur »Neuen Welt« begab. »United Transatlantic Lines« und »Sturmtrupp der Weltrevolution« — konnte das deutsche Elend, die deutsche Zerrissenheit packender, wahrhaftiger formuliert werden?!

Mit seinen »Söhnen« ging auch Vater Tietgens zum Riesenmeeting seiner Klasse. Auf seiner Stirn stand Entmutigung und Hoffnungslosigkeit. Der Wahnwitz der Masse schickte sich an, mit den Trümmern des Deutschen Reiches auch die marxistische Ideologie in Atome zu zersprengen. Das Chaos brach an. Und Vater Tietgens, der graue Theoretiker der sozialistischen Doktrin, begann an allem irre zu werden — auch an der beseligenden Lehre vom Zukunftsstaat. Er hatte lange mit dem Entschluß gekämpft, in der Versammlung das Wort zu ergreifen und vor Überspannung des republikanischen, des sozialistischen, des Rätegedankens zu warnen. Er hatte verzichtet. Die Jungen, die Ungelernten, die formlose[S. 142] Masse der ewig Unbelehrbaren würden ihn niedergebrüllt haben. Das Unheil mochte seinen Lauf nehmen. Und wer — wer hatte es heraufbeschworen?!

Der alte Sozialdemokrat fühlte sich dumpf angeekelt von dem Gedanken, daß der Russe kommen dürfe, den deutschen Arbeiter über seine Aufgaben bei der Neugestaltung des Menschheitsaufbaues zu belehren ... Noch fast unbewußt keimte in seiner Brust die Erkenntnis, daß dem Deutschen nur der Deutsche helfen könne — daß moskowitische Ideale niemals Führer sein könnten im Ringen des zertretenen Deutschlands um seine Wiedergeburt ...

Was Tedje Tietgens bejubelte, anführte, organisierte — konnte es das Gute, das Heilsame sein?!

In der Brust des alten Mannes keimte etwas wie Angst und Abscheu vor der eigenen Brut ... dem Sohn seiner Lenden und seiner Lehren ...

Und nicht minder empört sah er auf diesen Anders Niemann ... In ihm hatte er gehofft, einen Gesinnungsgenossen zu finden — und hatte nun seit Wochen mit ansehen müssen, daß der junge Bursch, um den seine Antje sich bemühte und härmte — daß der ganz in die Hörigkeit seiner beiden Arbeitskameraden geraten war ...

Übrigens sah Tedje nicht drein, als sei er wunschlos glücklich ... Was er bisher nicht einmal den Hausgenossen anzuvertrauen gewagt hatte, war der Inhalt eines Eiltelegramms aus Berlin, das ihn vor einer halben Stunde erreicht hatte. Die Zentrale meldete, der Eisenbahnerstreik auf der Strecke Wittenberge-Hamburg sei gestern, allen Bemühungen um Aufschub zum Trotz, um einen Tag zu früh ausgebrochen, die Strecke lahmgelegt ... Es sei Fürsorge getroffen, daß der Genosse Dragomiroff in Wittenberge ein Auto vorfinden werde ... Schlimmstenfalls möge das Bureau die Versammlung bis zum Eintreffen des Hauptredners anderweitig beschäftigen ...

[S. 143]

Tedje biß die Lippen vor Wut. Die Zentrale hatte ja schon vorher auf diese Möglichkeit hingewiesen ... Als Einberufer, so sagte er sich zähneknirschend, hätte er für diesen Fall Vorkehrungen treffen, andere Redner bereithalten müssen ... Seine mangelnde Erfahrung hatte ihm einen Streich gespielt. Wie würde es möglich sein, eine Versammlung von fünftausend arbeitsmüden Männern und Frauen auf unbestimmte Zeit festzuhalten? Die Stimmung würde abflauen, die große Aktion verkleckern, womöglich alles auseinanderlaufen ... Eine wüste Blamage lag im Bereich der Möglichkeit ... Und dann war es um seine Stellung unter den Genossen geschehen ...

Einer von den vier Hausgenossen war ahnungs- und hemmungslos glücklich: Clas Mönkebüll ... Seit einigen Tagen glaubte er bemerkt zu haben, daß die Annäherung zwischen Antje und Anders keine rechten Fortschritte mehr mache. Seit Anders ganz und gar unter Tedjes Einfluß geraten war, hatten die Musikabende im Hause Tietgens seltener und seltener zustande kommen wollen. Eines Abends war Clas zufällig zu Hause geblieben, während seine beiden Freunde im »Hauptquartier« zu schaffen hatten. Da war Antje gekommen — schmerzlich enttäuscht ... Was ihr fehle, hatte Clas bescheiden gefragt ... Ach — es sei nur, daß sie sich so sehr auf die Musik gefreut habe ... Ei — da könne ihr geholfen werden ... ob er selber ihr vorspielen dürfe ... Und stundenlang hatte sie seinem vor Erregung doppelt ungelenken, leidenschaftlich hingegebenen Spiele gelauscht ... Und beim Abschied ein Blick, ein Händedruck — Clas bebte bei der bloßen Erinnerung.

Die Welt ist schön, der Mensch ist gut! sang es in Clas Mönkebülls Herzen. Alles wird neu, alles muß herrlich werden — »die Welt wird schöner mit jedem Tag!« Und er glaubte, glaubte brünstiger denn je an die Zukunft des Menschengeschlechts — an den neuen Erdentag — dessen erste[S. 144] Morgenröte heut aufgehen werde, heut — mit dem Vortrage des Genossen Dragomiroff ...

Ob sie auch kommen würde — sie? O gewiß ... von Tracht und Sitten eine Bürgerin war sie Genossin im Herzen ... Eine Gläubige auch sie, ein treues Kind ihres Standes, ihrer Klasse ... Eine Revolutionärin, rot bis in den innersten Winkel der Seele — sie, die Verkörperung der roten Seligkeit ...


Die Enttäuschung der vieltausendköpfigen Versammlung war grenzenlos.

Tedje saß glührot auf seinem Präsidentensitz und starrte in die Menge, die Kopf an Kopf in dem niederen, dumpfen Saal sich drängte. Seine Ankündigung, daß der Genosse Dragomiroff auf sich warten lassen müsse, weil die Genossen auf der Strecke Wittenberge-Berlin in den Streik getreten seien, hatte mit ihrer ganzen tragikomischen Ironie auf die harrende Masse gewirkt — dämpfend, beschämend, stimmungmordend ... Es war kein Vergnügen, mit müden Knochen, eng zusammengepreßt im atembeklemmenden Brodem sitzen zu müssen — Leib an Leib ringsum an den Wänden zu stehen bis auf die Stiege hinaus ... Gelächter scholl auf, Scharren, Trampeln, vereinzelte Pfiffe ... Tedje Tietgens schwang die Klingel, forderte in herrischen Worten Versammlungsdisziplin ... Da scholl eine Stimme aus dem Hintergrunde:

»Stillgestanden! Richt' euch! Aushalten! Durchhalten! Maul halten!«

Grimmiger, höhnischer scholl das Gelächter.

In dieser Not kam dem Einberufer ein rettender Einfall. Er winkte seinen Freund Clas heran, der drunten ganz bescheiden im dicken Knäuel an der Wand klebte:

»Clas — späl 'n Lütten op!«

Und schon saß Clas Mönkebüll an dem stark strapazierten Flügel, der als Begleitinstrument für die Proben und Konzerte[S. 145] der Arbeitergesangvereine im Hintergrunde des Podiums stand. Er schlug begeistert in die Tasten — aufbrandete sein Leiblied ...

Mit schmetterndem Gesang fiel die Versammlung ein. Alle zehn Verse wurden heruntergesungen:

»Der alte Haß sei tot,
die Liebe sei befreit —
aus unsern Herzen loht
die rote Seligkeit —!«

Aber auch die zehn Verse gingen zu Ende. Und noch immer kein Genosse Dragomiroff ...

Clas Mönkebüll war aufgestanden, hatte sich auf seinen Stehplatz zurückschleichen wollen. Da kamen Rufe aus der lauschenden Menge:

»Musik! Mehr Musik!«

Clas warf einen Blick zum Vorsitzenden, der nickte Genehmigung. Und wieder schritt Clas zum Klavier: und abermals rauschten Klänge auf. Auch jetzt ein Befreiungsklang ... aber nicht das rohe Trutzlied einer Kaste, nicht die Losung zum Bürgerkrieg — ein Sang von der Schmach und Not eines geknechteten Volkes, von seinem heroischen Dulden, seinem anschwellenden Ingrimm, seiner aufsteigenden Empörung — seinem Siege wider die fremden Bedrücker, seiner Erlösertat — vom Triumph der Freiheit — jener Freiheit, die den Herrenvölkern gebührt — den Männervölkern.

Wer von den Fünftausend, die drunten lauschten, kannte dies hochheilige Freiheitslied — kannte Beethovens Ouvertüre zu Goethes Egmont —?!

Wer von den Jauchzenden ahnte, daß er nicht den Aufstieg einer Klasse bejubelte, nicht den Anbruch der roten Seligkeit, den Sieg im Bürgerkriege, die Diktatur des Proletariats —[S. 146] nein, den Sieg eines brüderlich geeinten Volkes wider volksfremde Zwingherrschaft?!

Einer wußte es: der junge Mann mit dem kahlgeschorenen Schädel unter dem wetterbraunen Gesicht, in dem das kecke Schnurrbärtchen jetzt den letzten Rest von Ähnlichkeit mit jenem Typus verwischt hatte, den es durch sein ganzes Jugendleben getragen: dem Typus des kaiserlichen Marineoffiziers! In seinem verschlissenen Matrosenanzug sah Anders Niemann heut ganz und gar wie ein frischer, straffer Sohn der Arbeit aus ...

Aber der Blick, den er quer durch die Breite des Saales zu seiner braunscheiteligen Freundin sandte — der funkelte geheime Ironie ... Es war der Blick eines Wissenden — eines Liebenden, der hoch über dem Wust der Stunde in eine lichtere Zukunft seines Volkes schaute ... Und eine Ahnende erwiderte ihn ...

Du! sagte dieser Blick: gehören wir nicht zusammen — trotz allem — du und ich — ihr und wir?!

Ist es nicht herrlich, dieser ahnungslose Jubel der Tausende, die da meinen, den Wahn ihres eigenen, engen Klassensieges zu feiern — und in Wahrheit einer Befreiungstat zujauchzen, die — die uns allen, allen einmal nicht erspart bleiben wird, wenn wir Freie, wenn wir Deutsche, wenn wir — Menschen bleiben wollen?

Die Republikanerin, die Revolutionärin, die — Proletarierin fühlte in dieser Sekunde ganz als Deutsche ...

Und der Offizier, der Bourgeois, der Sohn des Großreeders glühte vom Überschwang brüderlichen Gemeinsamkeitsgefühls mit diesen Tausenden, deren Seele er in sich hineingetrunken seit Monaten — die er nun kannte in ihrer unbewußten, traumhaften Sehnsucht nach einem neuen Ideal, einer neuen Seelenheimat — einem neuen — freien — großen — nach innen und außen großen — wiedergeborenen — Vaterland —

[S. 147]

Mitten in dem Beifallssturm geschah es, daß aller Augen sich der Tür zuwandten, die vom Flur her auf das Podium führte. Da stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, eine fremdartige Gestalt: ein untersetzter Mann mit stumpfbegehrlichem Slawengesicht, den breiten Mund von struppigem Graubart umbuscht, mit stechenden Äuglein, in denen es zuckte und gewitterte von der fressenden Loheglut der Götterdämmerung...

»Dragomiroff!« schrie Tedje Tietgens und stürmte dem Moskowiter entgegen, tauschte mit ihm zwei schallende Bruderküsse.

Und »Dragomiroff!!« scholl betäubendes Echo des Fanatismus.

Schau! von den Gesichtern der Fünftausend war der feierliche Ausdruck des hingegebenen Lauschens, der gesammelten Andacht, der ahnungsvoll gläubigen Erhebung wie weggewischt ... Ein grelles Flackerfeuer loderte aus diesen zahllosen Augenpaaren, die nun stier und hingerissen auf den knochigen Burschen im lederumgürteten langen Leinwandkittel starrten...

Die Bestie wachte plötzlich auf — aus dem Abgrunde der Jahrtausende brodelte, kreißte, schwelte es wieder empor: das alte Chaos ... die Urnacht ...

Tedje Tietgens schwang die Klingel:

»Der Genosse Dragomiroff aus Moskau hat das Wort.«


12

Um dieselbe Stunde schäumte im Atlantic bereits der Champagner. Der Gastgeber konnte sich's leisten.

Die Deutschen, die da zur Tafel saßen, gehörten ausnahmslos zu jener Oberschicht des Besitzes, an die selbst Kriegs- und Revolutionsnot nicht herankönnen — solange der Krieg nicht im eigenen Lande ist und die Revolution nicht ihre letzten Folgerungen zieht. Erst gegenüber der Üppigkeit dieses[S. 148] Dollargastmahls kam es ihnen zum Bewußtsein, wieviel anspruchsloser doch auch die verwöhntesten und geschontesten von ihnen geworden waren.

Die Feststimmung, die diesen Kreis deutscher Seehandels-, Industrie- und Geldmagnaten zum ersten Male seit dem Schlußakt der grausen Tragödie wieder zusammenführte und für eine Stunde über den grimmigen Daseinskampf ihres Nachkriegsalltags hinwegriß, hatte einen melancholischen Unterton: aus Bewußtsein der deutschen Verarmung und Vereinsamung ...

Es war nicht alles Sympathie und Zusammengehörigkeitsgefühl, was aus den Augen der Deutschen sprach, wenn sie Elias Pattersons schmale, beherrschte Gestalt betrachteten, sein vor Behagen und Selbstbewußtsein glänzendes Yankeegesicht ...

Auch auf den Zügen der Damen, der Gesellinnen all dieser Machthaber des industriellen, kommerziellen, nautischen Deutschland, hatte die Sorge der Kriegsnot, der Schmerz um liebe Gefallene, das Grausen vor der roten Sturmflut unverwischbare Zeichen gegraben. Ihre prüfenden Blicke hingen mit nicht größerem Wohlgefallen denn die Gesichter ihrer Männer an den Vertreterinnen amerikanischer Weiblichkeit: das waren die Frauen des Generalkonsuls der Vereinigten Staaten und vor allem die Tochter des neuen Verbündeten: die exzentrische kleine Bessie Patterson ...

Trotz allem: es war ein Bild langentwöhnten Glanzes, das heute den eichengetäfelten Spiegelsaal des ersten Hotels des Kontinents füllte. Man war zwar nur geladen, um die Gründung der United Transatlantic Lines zu feiern — aber die Herzen der Deutschen feierten das erste Zeichen deutschen Wiederaufstiegs.

Auf den Scheiteln und Hälsen der Damen funkelte noch immer manch blendender Stein- und Perlenschmuck — die Frackaufschläge der Herren wiesen, dem Sturz der Throne zum[S. 149] Trotz, den blinkenden Schmuck der Orden all der verschwundenen deutschen Dynastien, und auf der Brust der jüngeren Teilnehmer leuchtete der stille, unverlöschliche Glanz der Eisernen Kreuze.

Auf dem Ehrenplatz der Hufeisentafel, zur Rechten des Gastgebers, thronte das feine, müde Gesicht Johanna Freimanns. Zu Ehren des glückhaften Abends hatte sie sich aus der Gesellschaft ihrer Bücher gerissen, die seit ihres Sohnes Verschwinden die einzigen Vertrauten ihrer einsamen Tage geworden waren. Während des Krieges hatte sie Ablenkung genug gehabt als Präsidentin des Roten Kreuzes — nun blieben ihr die Dichter ... Aber heute strahlte sie doch: Georg strahlte ja auch ...

Ihr gegenüber, an der Seite des amerikanischen Generalkonsuls, saß Ilse Carstensen. Auch sie gab sich betont heiter, unterhaltsam, überlegen. Ihr Partner strahlte, erzählte ihr, daß gleichzeitig mit dem Abgang der Nachricht vom Zustandekommen der Fusion nach Neuyork ein Kabelgramm Pattersons abgegangen sei, welches die Blue Star Line angewiesen habe, alle Vorbereitungen für die Wiederaufnahme des Verkehrs mit Deutschland zu treffen. Die »Union«, ihr pompösestes Schiff, solle als erstes unter der Flagge der neuen Allianzlinie für die Fahrt nach Hamburg bereitgestellt werden.

»Waren Sie schon drüben, Miß Carstensen? Aber nein, verzeihen Sie, das war eine dumme Frage — vor dem Kriege waren Sie ja noch ein Backfisch ... Um so besser: Ihr Vater wird Ihnen erlauben müssen, die erste Fahrt Hamburg-Neuyork an Bord der ›Union‹ mitzumachen ...«

Mit höflichem Lächeln dankte Ilse. Ob der Gentleman wohl ahnte, daß sie die Braut eines Tauchbootkommandanten war? Was für Schrecknisse und Abgründe lagen zwischen den beiden Völkern, deren mutigste Pioniere einander heute wieder die Hand zu reichen wagten —

[S. 150]

Lusitania — die Argonnenschlacht — die Vierzehn Punkte.

Dennoch — man stieß mit den Kristallschalen an, man tauschte Liebenswürdigkeiten und Zukunftspläne — es wurde wieder heller in der Welt — die Giftgasschicht, die den Erdball umlagert hatte, begann zu zerflattern ...

Bessie schmollte ein wenig. Sie saß auf einem Ehrenplatze zur Linken des alten Carstensen, der die Gattin des amerikanischen Generalkonsuls führte, und zur Rechten des Vorsitzenden des Aufsichtsrats der H. T. L., des Präsidenten der Deutschen Bank ... Zwischen den Weißköpfen kam sie sich wie verbannt vor. Sie hatte kategorisch verlangt, ihr Tischherr müsse der große dicke Direktor werden, der immer in Miß Carstensens Bureau komme ... Das hatte ihr Vater ihr ausnahmsweise einmal abgeschlagen — Robert Timmermanns saß heute, seiner gesellschaftlichen Stellung entsprechend, am unteren Ende der Tafel — inmitten einer Gruppe von Direktoren der Linie und der Werft. Dazwischen waren die kaufmännischen und technischen Mitglieder des Stabes eingestreut, den Patterson gleich bei seiner ersten Anwesenheit in aller Heimlichkeit in Hamburg installiert hatte, und der nun auf einmal aufgetaucht war und sich als glänzend informiert und mit allen Hamburger Verhältnissen aufs genaueste vertraut erwies.

Und jetzt erhob sich der Festgeber. Er war rücksichtsvoll genug, seine Begrüßungsansprache in einer Art von Deutsch zu halten. Ihr Inhalt schien der zu sein, daß er die Fusion der beiden großen transatlantischen Reedereien Deutschlands und der Vereinigten Staaten als ein erstes, hoffnungsvolles Zeichen der Wiederherstellung des durch den Krieg zerrissenen Weltverkehrs begrüßte, auf das Wohl der H. T. L. und der Erbauerin des ersten neuen Personendampfers der United Transatlantic Lines, der Hammonia-Werft, insonderheit der Vorsitzenden der großen Unternehmungen, der Herren Georg Freimann und Detlev Carstensen, sein Glas leerte.

[S. 151]

Die Versammlung erhob sich, die Deutschen grüßten mit ihren Gläsern zu ihren neuen Wirtschaftsverbündeten hinüber, in ruhigem, gemessenem Ernst, mit jenem Ausdruck respektvoller Zurückhaltung, welcher ihren Gefühlen entsprach. Die deutsche Würde — bei diesen Führern deutschen Schaffens war sie wohl aufgehoben.

Und nun schlug Georg Freimann ans Glas. Auf seinem Frackhemde blinkte das weiße Emaillekreuz des Roten Adlerordens, das Wilhelm II. ihm eigenhändig umgelegt, als der Reeder dem Kaiser einstens das Zustandekommen des Morgan-Trusts gemeldet hatte. Es schien ihm Pflicht, auch äußerlich zu bekunden, daß die deutsche Hochseeschiffahrt der Republik nur auf dem Fundament weiterbauen könne, welches das Kaiserreich gelegt habe.

»Meine Damen und Herren!« begann der Präsident. »Aus tausend Wunden blutet unser zerrissenes, zertretenes Vaterland. Niemand weiß das besser als wir, als dieser Kreis von Vorkämpfern deutschen Aufschwungs, der, wie wenige unserer Landsleute, die ganze Tiefe unseres Sturzes ermißt. Alle Großmächte des Erdenrunds haben wider uns im Felde gestanden. Eine aber hat durch ihren Beitritt zum Feindbunde den Sieg, der sich schon auf unsere heldische Gegenwehr niederzusenken schien, auf die Seite unserer Gegner hinübergezwungen: es ist das Land des Präsidenten Wilson — es sind die Vereinigten Staaten von Amerika.«

Alle Blicke im Saale flogen zu dem feinen Weltmannskopfe des Generalkonsuls und dem holzgeschnitzten Kommodorengesichte des Präsidenten des Patterson-Konzerns hinüber. In beider Mienen zuckte kein Nerv.

»Wir alle, meine Damen und Herren, kennen die Welt von Bitterkeit, welche diese Tatsache umschließt. Und darum wissen Sie auch alle, welche inneren Kämpfe hinter uns lagen, als wir uns entschlossen, in die Hand einzuschlagen, die uns zertrümmert[S. 152] hatte. Wir haben es getan in der schmerzlichen Erkenntnis, daß uns keine Wahl blieb, daß wir nur zu entscheiden hatten zwischen einsamem Versinken oder Anschluß an eine jener Mächte, deren Eingreifen unser Glück und unseren Aufstieg vernichtet hat. Es wäre unseres stolzen Schmerzes unwürdig, wollten wir diese Tatsachen in dieser Stunde verschweigen oder verschleiern.«

Die Versammlung lauschte in tiefem Ernst. Die Amerikaner konnten es sich nicht versagen, einen ruhigen Rundblick im Kreis ihrer Feinde von gestern zu tun. Der Eindruck war erschütternd. Alle diese Gesichter, die von zähester Energie, lebenslangem Fleiß, von Kenntnissen, Erfahrungen, angeborenem und anerzogenem Führertum sprachen, wiesen zugleich den unverwischbaren Stempel eines Jahrfünfts verbissener Gegenwehr gegen erdrückende Übermacht, versunkener Hoffnungen, unverwindbar entsetzlicher Enttäuschungen, unstillbarer Trauer, ungeheuerster Erschütterungen aller Grundlagen ihres Lebens und Empfindens — kurz aller tiefsten Leiden und Schmerzen, die über Staubgeborene verhängt werden können.

Aber in diesen scharfgeprägten Menschenköpfen war auch die Spur unbändigen Trotzes, unerschütterlichen Lebenwollens, unversieglicher Hoffnung.

Georg Freimanns Stimme bebte leise von innerem Krampf. »Diese klare Aussprache der Wahrheit mindert in nichts das Gefühl der Genugtuung, ja, ich schäme mich nicht zu sagen des Dankes für Sie, meine Herren von drüben, die Sie als erste die Versöhnungshand uns hingestreckt, als erste uns zu erneuter, gemeinsamer Arbeit im Dienste der Menschheit aufgefordert haben — vor allem für Sie, Freund Elias Patterson — der Sie zugleich der Gastgeber dieses unvergeßlichen Abends sind. Seefahrt ist not — ohne sie muß ein großes Volk in seiner eigenen Kraft ersticken und verkümmern. Darum haben wir Ihre Hand ergriffen, die uns den Weg zum Meer[S. 153] aufs neue erschließt. Und Sie, meine Herren von drüben, Sie haben durch die Tat bewiesen, daß Sie nicht wollen, daß unser Volk verkümmert und erstickt ... Darum haben Sie auch Ihre Zustimmung gegeben, daß das erste Schiff, das auf Rechnung zwar unserer Linie auf deutscher Werft erbaut, doch für gemeinsame Rechnung im Dienste der United Transatlantic Lines den Ozean, der Ihr und unser Land verbindet, durchqueren soll — daß dies stolze Schiff, dessen Rumpf auf den Helgen der Hammonia-Werft schon stattlich emporwächst, den Namen tragen soll, der unseren Herzen am teuersten ist: den Namen ›Deutschland‹.«

Ein feierliches Rauschen ging durch die Versammlung — es klang wie erster Flügelschlag des Adlers, der, von toddrohender Verwundung genesen, zu neuem Sonnenfluge sich reckt.

In der Deutschen Augen schimmerte es feucht. Frau Johanna Freimann aber und Ilse Carstensen senkten tief, tief den grauen, den blonden Scheitel ...

Der Präsident tat ein paar schwere Atemzüge. Nun hatte seine Stimme wieder den alten Vollklang:

»Meine Damen und Herren! Dunkel liegt auch heute noch die deutsche Zukunft vor uns. Alles, was uns teuer und heilig war, liegt in Trümmern, das Werdende ist noch gestaltlos und unbewährt. Wir aber arbeiten. Und unsere Arbeit, so hoffen wir, wird die Quelle unserer Zukunft sein, wie sie die Wurzel unseres vergangenen Glanzes gewesen ist. In dieser Hoffnung, in dieser Gewißheit begrüßen wir das Werk dieses Tages, begrüßen unsere neuen Mitarbeiter von drüben und den Herrn Vertreter des großen Volkes, das heute, wir wissen es, in seiner Gesamtheit noch fremd und ablehnend uns gegenübersteht, das aber dennoch das erste Land der Erde ist, dessen Bürger sich mit uns zu gemeinsamer Arbeit zusammengefunden haben. Wir begrüßen das Kind dieses Tages, die United Transatlantic Lines — wir begrüßen das freie Weltmeer, das[S. 154] sich nach vier Jahren der Verstrickung wiederum vor uns auftut — wir grüßen die Zukunft — die Zukunft unseres Volkes, die Zukunft des Menschengeschlechts.«

Kein Hoch klang, kein Jubelruf, kein Tusch — in stummem, feierlichem Ernst neigten sich die Gäste dieses Festes der Versöhnung vor der Weihe der Stunde.


13

Und endlich forderte die Freude doch ihr Recht.

Der Champagner löste die Lippen, beschwingte die Hoffnungen, machte die Augen der Frauen leuchten, entrunzelte die Stirnen der Männer. Die starre, zusammengeraffte Haltung der Deutschen lockerte sich. Man stand in Gruppen, man fand sich zu immer neuer Begrüßung zusammen.

Um Johanna Freimann, um Ilse Carstensen bildeten sich dichte Kreise der Verehrung, der Huldigung. War's nicht fast, als hielten zwei Fürstinnen der Vergangenheit Cercle?

Die Jugend von hüben und drüben drängte sich um den kleinen Wildfang von der Third Avenue. Bessie aber schaute unzufrieden in der Runde der bartlosen, geschniegelten Jünglinge umher, die sie umdrängten ... Sie spähte nach ihrem Lehrmeister — dem Riesen mit dem struppigen blonden Bart ...

Natürlich — da stand er inmitten des Kreises, der sich um Ilse Carstensen drängte ... Um fast seines ganzen Strudelkopfes Länge ragte er aus dem Schwall.

Da schoß ein toller Einfall durch Bessie Pattersons Hirn. »Machen Sie Platz, Gentlemen!« befahl sie und brach sich mit einer Art Schwimmbewegung durch die Fräcke Bahn. Und schon saß sie am Flügel. Sie präludierte im Rhythmus einer Jazz-Band ... Aber dann kam plötzlich ein marschfester Takt in ihr Spiel. Und mit einem munteren Krähstimmchen begann sie zu singen.

[S. 155]

Ihre deutschen Verehrer, auf deren Brust fast überall das Eiserne Kreuz prangte, verstummten und erblaßten vor Entsetzen. Aus dem kecken Bubenmündchen der kleinen Yankeemaid klangen Töne und Worte, die sie — — kannten — —

»Uäß nutzet mich eine schöne Mäddchen,
uänn andre mit spätziere gehn?
Uäß nutzet mich eine schöne Mäddchen,
uänn andre mit spätziere gehn —
und kussen ihr die Schönheit äbb,
und kussen ihr die Schönheit äbb — —

Mit triumphierendem Rundblick ersättigte sich das kleine Ungeheuer an der sprachlosen Verblüffung seiner Hörer — strahlte vor Wonne, als die Gruppe, die sie umdrängte, aus dem ganzen Saale Zuzug erhielt ...

Und plötzlich lachte sie mitten im Liede schallend auf: Ihr Gewaltmittel hatte geholfen — hinter der vier- und fünffachen Reihe staunender, lächelnder, fassungsloser Jünglinge, Männer, Greise, verhalten entsetzter alter und überlegen und abschätzig naserümpfender junger Hamburgerinnen tauchte der blonde Dickschädel ihres Lehrmeisters auf — auch in seinen wasserblauen Augen stand ein humoristisches Grausen ...

Schmetternd trällerte Klein-Bessie:

»Darän ich meine, so gänz alleine,
darän ich meine Freude häbb —
Darän ich meine, so ganz alleine,
darän ich meine Freude häbb —!«

Da klang in ihr tolles Krähen eine empörungbebende Stimme:

»Bessie, finish, please —!«

Elias Patterson, mit entgeistertem Gesicht, drängte sich durch die Menge und klappte mit einem Ruck den Deckel der Klaviatur zu.

[S. 156]

Da wirbelte Bessie sich vier-, fünfmal auf dem Klavierstuhl herum, patschte in die Hände wie ein Schulmädel und lachte, lachte, lachte ...

Inmitten des verlegenen Entsetzens, das die Familienszene umgab, klang da ein schmetterndes Echo. Eine Baßstimme, dröhnend wie ein barbarisches Siegesgeheul ... Der Bann war gebrochen — Hamburgs kühle Reserve, die Korrektheit der Ingenieure und Kaufleute aus Pattersons Stabe — das alles ward hingerissen in einen Ozean lang aufgestauter Fröhlichkeit ...

Selbst Papa Patterson entrann seinem Schicksal nicht ... Er mußte wieder einmal vor Klein-Bessie kapitulieren. Es hielt ihn nicht: er lachte mit.

Aber — — was — war denn — das — —?!

In die aufschäumende Heiterkeit derer, die im Lichte wohnen, drang plötzlich ein Grollen aus der Tiefe ...

Gegen die geschlossenen Rolläden krachten Steinwürfe — vieltausendstimmiges Gebrüll brandete von der Alsterpromenade herauf:

»Nieder mit dem Kapitalismus!«

»Licht aus — Messer 'raus!«

»Es lebe die Weltrevolution!«

Erblassen — Entsetzen — starres Verstummen — fieberndes Lauschen — —

Nun kam ein stampfender, knirschender Rhythmus in das formlose Getöse, das den Hotelpalast umbrandete ...

Gesang — schrecklicher, sturmtoller, Vernichtung dräuender Gesang:

»Die Guillotine saust,
der Rachejubel schreit,
es flammt in unsrer Faust
die rote Seligkeit!«

[S. 157]

Drittes Buch


1

Die Räterepublik in München hatte abgewirtschaftet.

Die Weimarer Verfassung war angenommen. Der »Friedensvertrag« unterzeichnet.

Es schien, als sollte das unglückseligste aller Länder zur Ruhe kommen.

Über Hamburg aber waren in eben jenen Tagen, da im Spiegelsaale von Versailles deutsche Namen unter das Instrument scheußlichster Vergewaltigung Deutschlands gesetzt wurden, noch einmal schwere, entsetzliche Tage gekommen. Durch die Gassen der Innenstadt raste die Junirevolte.

Eine Woche lang stand diesseits und jenseits der Elbe die Arbeit still. In den Adern der Stadt stockte das Blut.

Die Männer, welche dem Schaffen ihrer Heimat Führer waren, saßen in ihren Häusern, ihren Villen untätig, mit gramverzerrten Gesichtern, ohnmächtig geballten Fäusten.

Die grauen und weißen Häupter, in denen sich die Erfahrungen, Kenntnisse, Begabungen ihres Zeitalters konzentrierten, waren zu wertvoll, um dem Wahnsinn der tollgewordenen Masse preisgegeben zu werden. Ordnung zu schaffen, war Sache der Jugend — der Söhne und Erben jener Gesellschaftsschicht, die in guten Tagen zwar die Führung und Verantwortung des großen Schaffensprozesses der Nation auf sich genommen, dafür aber auch die Freuden, Genüsse und Erhebungen einer erhöhten Lebensstellung genossen hatte.

Die Bürgerjugend versagte nicht. Als der Blut- und Plünderungstaumel des Pöbels auf seinem Höhepunkt angekommen[S. 158] war, als die scheußliche Hefe der Großstadt im Bunde mit Schwärmen von Gott weiß wo herangeströmten stadtfremden Gelichters das Innere Hamburgs in ein Tollhaus zu verwandeln drohte, wurden die Bahrenfelder Jäger und Husaren alarmiert. Sie rückten ein, stellten sich entsagungsvoll unter das Kommando des kommunistischen Stadtkommandanten — kämpften in hartem Straßenkampfe viele Stunden lang wider die Meute, deren Führer der entartete Abschaum des ruhmvollen deutschen Heeres geworden war — und wurden dann durch scheußlichen Verrat überrumpelt, entwaffnet und unter die Nagelsohlen der vertierten Masse getrampelt.

Tage tiefster Schande für die Stadt der drei Türme — Tage, die ihre Chronisten ausstreichen möchten aus ihrer Geschichte ...

Und endlich kam dennoch die Erlösung.

Lettow-Vorbecks Regierungstruppen rückten in die umzingelte Stadt. Und plötzlich war das Gesindel zerstoben.


Für Anders Niemann war's eine entsetzliche Zeit gewesen. Kaum ein anderer Sohn der Stadt hatte auch nur entfernt Ähnliches gelitten. Um nicht den Argwohn seiner Arbeitsgefährten zu erwecken, hatte er sich nicht völlig zurückhalten dürfen. Aber er hatte einen Ausweg gefunden: Er hatte sich zum Sanitäterkommando gemeldet, hatte die Leiber seiner verwundeten Kameraden aus dem heftigsten Feuer herausschleppen, ihnen die erste Hilfe bringen dürfen ... Und hatte dabei mit hundert Sinnen beobachtet, gelauscht, gelernt ...

Er wußte nun, was es war, das »Volk«. Er wußte zu unterscheiden.

Er hatte begriffen: Es gab zweierlei »Volk«. Es gab die Masse — und es gab den Pöbel.

Die Masse ... Im unmittelbaren Umkreise des namenlosen Daseins, das er für eine ungewisse Zeit des Schauens und[S. 159] Erkennens über sich verhängt hatte, gehörten zur Masse die Tietgens-Eltern, Clas Mönkebüll und — ach ja, auch Antje.

Das waren die Millionen, die seit Beginn der Herrschaft der Maschine in allen zivilisierten Ländern herangewachsen waren, nicht Opfer, wie sie selber wähnten, sondern Produkte der Industrie. Die Fabrik hatte den Fabrikarbeiter, die Maschine den Maschinenmenschen erzeugt. Etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit — mit dem Proletarier vergangener Epochen auch nicht entfernt vergleichbar. — Ein neuer Typus, eine neue Rasse. Zunächst noch ohne seelische Verbindung mit den geschichtlichen Menschenarten, dann ohne historischen Instinkt. Und dennoch notwendig, unentbehrlich, ein organischer Bestandteil der neuen Unterschicht, welche sich zu formen begann unter der Herrschaft der ungeheuerlichsten aller Wandlungen, die jemals über das »Ebenbild Gottes« gekommen waren ...

Noch hatte diese Masse sich selber nicht begriffen — und die andern, die alten Stände, begriffen sie ebensowenig. Kein seelisches Band wob sich vom Hause Tietgens zum Hause Carstensen, von Antje zu Georg Freimann ... fremd und fern standen sie beieinander, diese Menschen, die an gemeinsamem Werke wirkten ...

Und was das entsetzlichste war: Am Boden der Masse, als dicke Hefeschicht des brodelnden Gärkessels dieses gigantischen Wandlungsprozesses hatte sich ein Etwas gebildet, das gar nicht neu, sondern uralt war, und doch, wie alle anderen Elemente der Menschheit, sein Gesicht gewandelt hatte — der Pöbel ...

Überall, wo im Laufe der Menschheitsjahrtausende die Zivilisation in das Stadium des Stadtlebens hineingewachsen war, überall da hatte sich Pöbel gebildet — der Bodensatz der Schwachen, der Faulen, der Lebensuntauglichen, der nicht Vollwertigen, der Dummen, der Schlechten ... Und uralt war[S. 160] auch die Erscheinung, daß dieser Pöbel, dieser Großstadtpöbel zuzeiten rebellierte — daß die Hefeschicht nicht mehr ruhig und stumpf an der Tiefe sich ablagerte, sondern aufschäumte, emporquoll, die ganze Masse des Volkstums durchtränkte, verunreinigte, in wüste Wallung brachte bis zum Überschäumen, bis zur greulichen Zersetzung ...

War's ein Wunder, daß diese Erscheinung in nie geahnter Furchtbarkeit an dieser Zeit sich auswirkte — an dieser nie erhörten Zeit der Umformung und der Erschütterung, welche die — — Maschine über die Menschheit verhängt hatte?!

Sie hatte ihr die Mittel gegeben, über Kontinente, durch Meerestiefen hindurch, rund um die Lufthülle des Erdballes zu schreiben erst und nun auch zu sprechen ... Und endlich hatte der Mensch gar das Fliegen, dem Grausen der Wassertiefe sich vermählend, das Tauchen gelernt ... Das alles verdankte er diesem Geschöpf seines Hirns, das nun die Meisterin seines Schicksals geworden war, der Dämon seines Geschlechts ...

Anders Niemann schwindelte, wenn er solch phantastischer Schickung nachsann — in den schlaflosen Stunden dieser finsteren Nächte, in denen neben ihm der schwere Atem seiner Kumpane klang.

Unsäglich das Grauen solcher Nächte — durchängstet von der hoffnungslosen Frage:

Wie soll das enden?!

Aber stärker noch als das Grauen schwoll in Anders Niemanns aufgeschlossener, von Schauen, Grübeln und Erkennen durchrüttelter Seele das Mitleid ... ein grenzenloses Mitleid mit diesem verdammten Geschlecht seiner Tage ...

Das »Volk« ... war es nicht verraten und verloren in seiner hilflosen Seelenöde? In seinem dumpfen Groll über dies Schicksal seines Daseins, das es durch eine unüberbrückbar scheinende Kluft vom Zusammenhange mit der Entwicklung seines Volkstums, mit der Geschichte seiner Nation, mit dem[S. 161] Seelen- und Geistesleben der historisch gewordenen Gesamtheit trennte? Das unverstanden und ohne zu verstehen nur das eine begriff: daß es irgendwie vergewaltigt werde, irgendwie betrogen um sein Menschenrecht: sinnvoll, befriedigt und freudig mitwirken zu dürfen am gemeinsamen Werk?

Was half es diesen Millionen, daß der Staat der Vergangenheit ihnen ein Mindestmaß der Existenz gesichert hatte, sie geschützt vor den lebenauslöschenden Folgen der Krankheit, des Unfalls, des Alters? Was half's ihnen, daß sie heute, zur organisierten Masse geballt, imstande waren, sich von Zeit zu Zeit eine gewisse Anpassung ihrer Entlohnung an den schwindenden Geldwert zu ertrotzen?!

Arm blieben sie dennoch — sie konnten nicht glücklich werden, niemals und auf keine Weise glücklich ...

Denn glücklich lebt nur, wer begreift ... wessen Denken geschult ward, sein Dasein in einem großen Zusammenhang als nützlich, zweckmäßig, wesentlich, notwendig, sinnvoll — heilig zu begreifen ...

Wer hatte sie das gelehrt — wer sah auch nur die Aufgabe, sie das zu lehren — wer war selbstlos, unantastbar — und dabei wort- und wissensgewaltig, überzeugt und überzeugend, wer war groß und rein genug, sie das zu lehren?!

Ach — und selbst der Abschaum, der Pöbel — verdiente er Verdammung, Niederknüppelung, Bändigung durch Knute und Kette, durch Fußtritt und Maulkorb — oder war nicht auch er weit mehr des Mitleids würdig, des Erbarmens, der Erlösung?

Dieser Tedje war von seinen Eltern gewiß mit aller Liebe und Sorgfalt erzogen, deren ihr tüchtiges, ernsthaftes Wesen, ihr angeborenes und in harter Lebensfron gestärktes Pflichtgefühl fähig war. Er war gewiß einmal ein schwieriger zwar, doch im Grunde gutartiger Bursch gewesen ... hätte vielleicht doch im Laufe ruhiger Entwicklungsjahre die Dämonen seines[S. 162] Wesens, den Schnaps und die Sinnengier, überwunden, und wär's an der Hand einer strammen, rüstigen, tüchtigen Frau ...

Aber da war der Krieg gekommen und hatte ihn gelehrt zu töten, zu nehmen, was nicht sein war, zu faulenzen, zu spielen, sich zusammenzurotten, zu neiden, zu hassen ... Die Gefangenschaft war gekommen, und die Peitsche kaukasischer Bergwerksvögte hatte seine Menschenwürde zerstriemt ... So war er geworden, was er war: ein Bolschewist — ein Verneiner des Wirklichen, ein Zertrümmerer des Überlieferten, ein Stück Chaos, ein Stück Satan ...

Und mit dem Haß und der Verneinung war die Gier gekommen und der Neid ... Haben, was die anderen hatten ... Nicht es verdienen durch zähe Arbeit des Kopfes — nein, es erraffen, an sich reißen mit der Masse der starken Fäuste — nicht es genießen mit den tausend Organen verfeinerter Hirne, nein, es verprassen und verwüsten in sinnloser, verständnisloser Orgie ...

Und wenn man jeden einzelnen der entsetzlichen Horde, welche die sechzehn jungen Bahrenfelder Jäger zerhackt, zerrissen, ersäuft, zertrampelt hatte — wenn man jede einzelne dieser Menschenbestien wissenschaftlich zergliedert hätte, der Entwicklung ihres Schicksals, ihrer Seele nachgespürt bis in die letzten Wurzeln ihres Wesens — hätte man nicht am Ende solchen Analysierens und Durchdringens überall das gleiche gefunden:

Unabweisbare Folgerichtigkeit — lückenlose Kausalität — unentrinnbare Logik — —

Notwendigkeit — —?!

Im Schauer solchen Erkennens begriff Anders Niemann auch sich selber — sein Handeln, Dulden, Unterlassen ... begriff's, daß er sich nicht, wie er's unzählige Male im Hirn gewälzt, der selbstgewählten Verstrickung entraffte — nein, daß er es fertig brachte, in seiner Maske, in seiner Rolle auch[S. 163] jetzt noch auszuhalten ... neben diesem rasenden Tedje, diesem verblendeten Clas ... Denn wichtiger noch als dies: daß der Ordnung ein Retter mehr, dem Chaos ein Bezwinger mehr entstand — wichtiger war dies andere: daß einer da war, der Ohren hatte zu hören, Augen zu sehen und ein Herz zu verstehen ...

Denn wenn hier eines retten konnte, dann war's das Herz — das hörende, schauende, verstehende Herz ...


In diesen Wochen letzter Verzweiflung, tiefsten Entsetzens war's für Anders Niemann ein Glück ohne Maßen gewesen, daß er fast täglich das Beisammensein mit der Freundin genossen hatte.

Das riesige Verwaltungsgebäude der H. T. L. war in diesen Tagen verödet gewesen, nur von einer Truppe unbedingt zuverlässiger, mit Maschinengewehren und Handgranaten schwerbewaffneter Beamten bewacht und darum von der Meute nicht gefährdet. So hatte Antje, nach Schauen und Begreifen lüstern wie ihr Freund und um ihres Freundes willen, sich in der Masse der Neugierigen umgetrieben, die, seltsam genug, am Rande des Dreckvulkans doch immer Kopf an Kopf sich gedrängt hatte, durch pfeifende Kugeln und gelegentliche Blutopfer beständig in Angst und Fluchtbereitschaft gehalten, dennoch nie ganz verscheucht ... Und abends hatten sie dann an Mudder Minings Tisch ihre Beobachtungen und Gedanken ausgetauscht, die beiden Alten, die Tochter und der Hausgenosse, dieweil Tedje und Clas in erstürmten Wirtschaften und Hotelsälen wüste Orgien gefeiert und ihre Spießgesellen mit trunkenen Phrasen berauscht hatten ... Und klarer noch als das kühle Beobachterauge des maskierten Sohnes der anderen Welt hatte das Herz des Mädchens aus der ringenden Klasse neuer Menschen begriffen und gedeutet, was sich da eigentlich vollzog ... dem Freunde den Weg gewiesen in die[S. 164] Tiefen dieser Tausende verworrener, verwahrloster, verhetzter, irregeführter Menschenherzen — in jene Tiefe, in der, ihrer selbst unbewußt, die Sehnsucht schluchzte — die Sehnsucht nach Zusammenhang, nach Licht, nach Sinn ...

Ihr Herz war voll Liebe, darum sah sie. Ihr Herz war licht, darum erkannte sie. Ihr Herz war Güte, darum begriff sie, darum konnte sie begreifen lehren.


2

Kaum waren die letzten Schüsse verhallt, kaum hatten die ersten Kompanien Lettows in den Höfen der staatlichen und städtischen Amtsgebäude ihre Gewehre zusammengesetzt, da kam auch das gewaltige Rädergetriebe der Arbeit dieser unübersehbaren Zusammenballung von Kräften und Möglichkeiten wieder in Schwung.

Im H. T. L.-Palast wie auf der Hammonia-Werft fand sich die überwiegende Mehrzahl der Angestellten aller Abstufungen alsbald wieder zur Arbeit ein.

Bob Timmermanns meldete sich bei seinem Chef mit verbundenem Kopf und Arm, dicke Beulen im Gesicht, blaue Flecken am ganzen schmerzenden Körper. Er war einem Rudel junger Lümmel, die auf der Werft zu plündern und Maschinen zu beschädigen versucht hatten, mit Armins Karabiner in der Hand entgegengetreten, hatte einen der Attentäter schwer angeschossen, war aber dann umzingelt und jämmerlich zusammengehauen worden. Nur das Eingreifen einer Anzahl Werkmeister, die ihm vom Familienwohnhause der alten Vertrauensleute mit bewaffneter Hand zu Hilfe gekommen waren, hatte sein Leben gerettet. Unter ihnen war auch der alte Tietgens gewesen, der jeden Morgen zur Werft gekommen war, um nach seinem Kran zu sehen.

[S. 165]

Vater Carstensen und Ilse konnten sich nicht genugtun, dem tapferen Verteidiger ihres Eigentums zu danken. Bob Timmermanns schwamm in Glück.

Aber wenn Ilses ernste Augen ihn mit nie erträumter Herzlichkeit anstrahlten, dann sah er neben ihrem schmal gewordenen, vom Grauen der durchlittenen Tage gezeichneten Gesicht ein keckes Stumpfnäschen auftauchen, hörte ein helles Krähstimmchen trällern:

»— und kussen ihr die Schönheit äbb —
und kussen ihr die Schönheit äbb ...«

Herr Elias Patterson war samt seiner Tochter und seinem ganzen Stabe mit dem letzten Schnellzug, der vor der Erstürmung des Hauptbahnhofes durch Spartakus noch hatte abgelassen werden können, inmitten eines entsetzten Schwarmes flüchtender Ausländer nach Bremen abgereist und von dort mit einem englischen Frachtdampfer nach drüben zurückgekehrt.

Zum Glück ergab eine telephonische Anfrage bei den Banken, daß er die eingeräumten Kredite weder eingezogen noch gesperrt hatte ... Also er hatte den Glauben an die unzerstörbare Kraft der deutschen Wirtschaft anscheinend noch nicht verloren.

Und kaum hatte der Telegraph die Kunde von Hamburgs Wiederherstellung in die Welt getragen, da kam auch schon Kabelgramm auf Kabelgramm geflogen, die dartaten, daß die Hoffnung auf Pattersons Standhaftigkeit nicht getrogen habe. Er bat um schleunigen Bericht über die Lage und riet dringend, nunmehr sofort an die Reichsbehörden mit dem Verlangen nach beschleunigter Anerkennung des Entschädigungsanspruchs der Reedereien heranzutreten.

So fuhren denn schon wenige Tage nach dem Einrücken der Regierungstruppen Georg Freimann und Detlev Carstensen[S. 166] mit einigen ihrer Direktoren nach Berlin. Bob Timmermanns hatten sie diesmal zu Hause gelassen — nicht nur weil er mit seinen Beulen und Verbänden wenig repräsentationsfähig aussah ... Statt dessen hatten sie einige Unterbeamte der Linie und einige Arbeiter der Werft mitgenommen, unter letzteren den alten Tietgens als Mitglied des Vorstandes der S. P. D., Ortsgruppe Hamburg. Dennoch erntete Robert der Gewaltige den Lohn seiner Aufopferung. Unter Verleihung des Titels »Generaldirektor« wurde er zum stellvertretenden Oberleiter der Werft ernannt und für die Zeit der Abwesenheit des Herrn Detlev Carstensen mit der Leitung des Gesamtbetriebes beauftragt.

Vor wenigen Wochen würde Bob Timmermanns diese ungewöhnliche Ehrung als Ermunterung noch stolzerer Hoffnungen aufgefaßt haben. Ilse Carstensen hatte etwas Derartiges befürchtet und sah den Tagen, in denen sie nun täglich mit dem Getreuen stundenlang zusammen zu arbeiten haben würde, mit geheimem Bangen entgegen. Aber sie erlebte eine angenehme Überraschung — oder hatte sie nicht einen leisen Beigeschmack von Enttäuschung? — Der Riese, so sehr er sich draußen im Vollgefühle seiner neuen Würde sonnte, war der Tochter seines Chefs gegenüber von einer seltsamen Befangenheit ...

Seine Mimik war so durchsichtig wie seine Psychologie. Die schlaue Ilse hatte ihn bald durchschaut. Die plötzliche Teilnahme der kleinen Neuyorkerin für sein Seelenleid — und dann die Szene im Atlantic — Bessie deutsche Soldatenlieder singend, Bob Timmermanns vor Lachen berstend und inmitten des entsetzten Hamburgertums wie ein Berserker Beifall brüllend — und nun das jähe Abflauen seiner Huldigungen — da bestand ein Zusammenhang ...

Ilse lachte belustigt in sich hinein, als sie ihres Verehrers Seelennot enträtselt zu haben meinte. Aber bald hatte sie noch[S. 167] mehr herausbekommen. Bobbie schwankte. Bobbie wußte noch nicht recht: ... Bessie — das Täubchen auf dem Dach — o weh — es war sogar schon ein paar Häuser weiter entschwebt ... Ilse: der Spatz in der Hand! Na, warte, Bobbie — so leicht soll dir deine Untreue denn doch nicht werden!

Und fortan machte die stolze Ilse sich das kokette Vergnügen, dem Abtrünnigen ein wenig einzuheizen.

Aber wenn Ilse Carstensen während der Werktagsstunden sich boshaft vergnüglich an dem schelmischen Spiel ergötzt hatte, ihren schwankenden Verehrer zwischen Entzücken und Verstimmung, zwischen hoffender Gewißheit und im Dustern tappendem Zweifel, zwischen Ilsetraum und Bessietraum hin und wieder zappeln zu lassen — dann weinte sie nachts in ihre einsamen Kissen um den Mann, der nun längst ihr Lebenskamerad wäre, hätte sie ihn zu verstehen, zu stärken, zu trösten gewußt in einer Krise, die seinem bewährten Herzen gewißlich keine Schande gemacht hatte.


3

Die Orkane, welche die drei Türme umtobt hatten, waren verstummt — aber drunten in der Tiefe brauste und gurgelte noch immer die »Tote See«.

Die Wahnwitzigen, welche die Lebensmittelgeschäfte ausgeplündert, auf dem Wochenmarkte die Eierkörbe umgestürzt und den Bauersfrauen die Preise diktiert hatten, bekamen nun die logische Folge ihres Eingriffs in den Wirtschaftsorganismus der Stadt zu spüren — leider mit ihnen die ganze Bürgerschaft. Die Zufuhr alles Notwendigen war ins Stocken geraten. Der Bauer blieb auf seinem Dorfe, die städtischen Händler waren ruiniert. Die Teuerung, die seit dem ersten Kriegsjahre langsam, doch unabwendbar angeschwollen war — nun[S. 168] ward sie Lawine und begrub die Reste des Wohlstandes ganzer Bevölkerungsklassen. Sie lastete wie immer am schwersten auf den Schultern des Proletariats. Sparen hatte es nicht gelernt. Seine Vorkämpfer hatten es nicht gelitten. Es durfte sich ja nicht »verbürgerlichen«.

»Tjä, denn helpt dat allens nich,« murmelte sogar Mudder Tietgens, »denn möt ji üm Lohnerhöhung inkomen, süß kann'k jug nich miehr satt kriegen, Jungs ...«

Und wieder telephonierte Tedje an seine Zentrale — und wieder kamen russische Hilfstruppen — kamen Hetzer und Rubelnoten. Die große Pestbeule war aufgestochen und heilte äußerlich ab — aber längst war der ganze Körper infiziert ... Das Gift fraß weiter und fand an dem tiefgeschwächten Ernährungszustande des hinsiechenden Patienten Deutschland den günstigsten Nährboden.

Tedje hatte sich von seiner ersten Angst erholt. Seine Stellung auf der Werft, inmitten seiner Kameraden, war fester als je. Nun schwang er sich an die Spitze eines Ausschusses der Werftarbeiter, welcher die neuen Lohnforderungen formulieren und der Leitung vortragen sollte.

Als Termin für die Aktion war der Tag bestimmt, in dessen Frühe die Regierungstruppen abrücken sollten ...

An diesem Morgen erhielt Bob Timmermanns beim Ankleiden den Besuch seines Bruders Armin. Der Leutnant erschien in Uniform, marschbereit. Die Schicksale, die hinter ihm lagen, hatten ihn sehr verändert.

Er hatte sich mit seiner Gefolgschaft junger Kaufleute und Studenten der Hamburger Einwohnerwehr zur Verfügung gestellt und hingebend an der Verteidigung des Rathauses teilgenommen. Nachdem die Hamburger »Regierung« mit dem unterlegenen Mob jenen schändlichen Waffenstillstand abgeschlossen hatte, war er mit seinen Kameraden der Rachewut des Gesindels ausgeliefert gewesen und wie durch ein Wunder[S. 169] mit zwei Messerstichen in Arm und Kopf davongekommen. In einer Privatklinik versteckt, hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten. Die Schmach und das Grauen hatten ihn niedergeschmettert. Das Leiden hatte ihn ernsthafter, aber auch gefährlicher gemacht. Armin Timmermanns war nicht der Mann zu vergessen. Er wußte jetzt erst, was Haß ist.

»Also leb' wohl, teures Bruderherz — und mein aufrichtiges Beileid, daß du ohne unsern Schutz in diesem Pestloch von Stadt zurückbleiben mußt ... Was macht der Karabiner?«

»Der ist auf meinem Bureau im Geldschrank eingeschlossen. Du hast recht behalten — er hat sich bewährt.«

»Ich weiß. Aber hast du das Gefühl, lieber Kerl, daß du ihn schon nach seinem vollen Werte bezahlt hast?!«

»Nein!« lachte Bob gutgelaunt und griff in die Brieftasche. »Wann sieht man dich in Hamburg wieder?«

»Hoffentlich bald ... Ich habe schon einmal so etwas wie deinen Retter spielen dürfen ... Die große Abrechnung mit den November- und Juniverbrechern möchte ich nirgendwo anders als hier erleben — wo man mich bespuckt und getreten hat ...«

Als der Generaldirektor an diesem Morgen das Werftgelände betrat, wußte er sofort, daß etwas nicht stimmte ... Überall feiernde, disputierende Gruppen ... Dicht vor dem Bureauhause, um die Laderampe und den Güterschuppen der Werfteisenbahn herum so etwas wie eine kleine Volksversammlung zusammengeballt. Das Gezeter eines Redners von der Rampe herniederschallend — grelle Zwischenrufe, die Klingel eines selbstbestellten Verhandlungsleiters — ein Güterwagen als »Olymp«, das Dach des Schuppens dicht von gierig lauschenden Hörern im Arbeitskittel besetzt — ja sogar am Schaft eines riesigen Bogenlampenkandelabers klebten sie wie die Fliegen ... Und als des verhaßten Generaldirektors allbekannte Gestalt unfern dem Meeting vorüberstapfte, schollen[S. 170] Pfiffe, Gröhlen, Schimpfworte: »Wullt du een' op de Nehs' hebben, Grotsnuut?!«

Aber auch das erkannte des Kundigen Auge: Es waren nur die jüngeren Elemente, die Ungelernten, die »Halbstarken«, welche die »Bewegung« trugen. Die älteren, besonnenen Werftangehörigen fehlten einstweilen. Ein Trost — aber ein geringer. Der Terror der Jugend würde früh genug auch die Widerwilligen, die Friedfertigen, die Maßvollen mitreißen ...

Ilse kam dem Freunde mit fiebernden Augen entgegen:

»Heut gibt's wieder was! Gut, daß Sie kommen — ich hatte schon Angst, man hätte Ihnen den Weg verlegt ...« Und ihre Augen leuchteten Dank, Vertrauen ... Bobbies Herz klopfte, seine Donnerstimme ward brüderlich zart:

»Keine Angst, Fräulein Ilse —« wahrhaftig, er wagte es, Fräulein Ilse zu sagen! — »es ist vorläufig halb so schlimm ... Nur die Lausebengels sind beisammen ... Aber freilich: das ist immer der Anfang ... Die andern lassen sich mitreißen ...«

»Ein Streik muß unter allen Umständen vermieden werden«, meinte Ilse. »Ein Kabel von Patterson ist da: Der Konzern bestehe darauf, daß die ›Deutschland‹ spätestens Mitte Januar vom Stapel laufe — andernfalls werde man die Hoffnung auf Wiederherstellung unserer Bündnisfähigkeit aufgeben ...«

»Wann wird er kommen?« fragte der Generaldirektor.

Um Ilses Lippen zuckte ein flüchtiges Lächeln. »Er schweigt sich aus. Aber hier ist noch ein Telegramm an Ihre Privatadresse.«

Timmermanns trat ans Fenster und las — o weh — es war Englisch — und dabei die Unterschrift: Bessie Patterson ... Verflucht ...

Ein kurzer Kampf — dann wußte er, was er zu tun hatte. Mochte die Stolze immerhin wissen, daß die kleine Dollarmaid ihm etwas mitzuteilen hatte.

[S. 171]

»Würden Sie die Güte haben, Fräulein Ilse, mir das vorzulesen?«

Und lächelnd entzifferte Ilse: »Höre bedauernd meines dicken Meisters Verletzung, kabelt Befinden.« Und mit boshaftem Schmunzeln las sie laut den Namen der Absenderin.

Bobbie glühte wie ein Stahlblock unterm Fallhammer. Na — wenn schon — —

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte voll und setzen Sie mir eine Antwort auf!«

Ilses Lippen zuckten vor Übermut. Sie kritzelte ein paar englische Worte auf ein Notizblatt und reichte es dem Treulosen.

»Heißt wie auf Deutsch?«

»Knochen wieder gesund, Herz unheilbar angeknackst. Bobbie.«

»Fräulein Ilse —!« stammelte der Riese. »Ich bitte Sie — wie können Sie nur —«

»Versuchen Sie nicht zu schwindeln — — Herr — Generaldirektor!« lachte Ilse. »Das können Sie nicht.«

Ein rauhes Klopfen überhob ihn der Antwort. Und schon sprang die Tür auf: Eine Gruppe junger und ganz junger Arbeiter stapfte geräuschvoll herein — mit ihr eine Wolke von Schweißdunst, Öldunst, Teerdunst, Schnapsdunst —.

Tedje Tietgens an ihrer Spitze ... auf seinen Zügen flammte die Röte der Destille. Da sah er Ilse — und eine zweite heißere Flamme zuckte in seinen Augen auf. Er wandte sich halb an den Generaldirektor, halb an die »Feine«.

»Wir sünd die Deputaschon von unsre Kollegen!« begann er pathetisch. »Wir sünd von die Versammlung unsrer Kollegen beauftragt, die Forderungen der Arbeiterschaft vorzulegen — und wir sünd beauftragt, die Werftdirekschon ein Ul — ein Ul —«

[S. 172]

»— ein Ultimatum, wollen Sie sagen, Tietgens«, half Timmermanns herablassend ein.

»Ja — dat is dat Wort —« stotterte Tedje, »öwerst ick bün nich Tietgens, dat Sei't wissen, Herr Timmermanns — ick heiß' Herr Tietgens!«

Die Kollegen knurrten grinsend Beifall.

»Und ich heiß' Herr Generaldirektor, Herr Tietgens, daß Sie's wissen«, erwiderte Timmermanns gelassen. »Nehmen Sie Platz, meine Herren, soweit die Stühle reichen. Bitte um die Aufstellung.«

Tedje setzte sich breitbeinig, reichte ein Blatt, das die Forderungen der Streikwilligen enthielt. Der Generaldirektor gab die Tabelle an die Tochter seines Chefs weiter. Die las aufmerksam, gesenkten Hauptes. Tedje verschlang jede ihrer Bewegungen. Höll' un Düwel — so was in die Arme kriegen — — das nächste Mal mußte es noch viel doller gehn — die rote Woche durfte nur ein Auftakt gewesen sein. Man hatte sich begnügen müssen, entwaffnete Männer aus der Bourgeoisie zu massakrieren ... bis an die Weiber war man noch gar nicht gekommen ...

Ilse Carstensen reichte ihrem Getreuen das Blatt zurück. Beider Blicke trafen sich. Bob Timmermanns verstand Ilses stumme Frage: Ist das überhaupt tragbar? Er schüttelte den Kopf.

»Meine Herren,« sagte der Generaldirektor, »wenn Sie denken, die Werftleitung hätte die Mittel, um diese Forderungen zu bewilligen, dann irren Sie sich. Wir verfügen über einen Kredit, der beschränkt ist — das Geld ist fast alle. Herr Carstensen ist in Berlin, um mit der Reichsregierung wegen der Entschädigungen für die Reedereien zu verhandeln. Werden die vom Reich bewilligt, dann läßt sich über eure Forderungen reden. Vorher — ausgeschlossen. Sagen wir heute ja[S. 173] zu diesen Ansprüchen, dann müssen wir in acht Tagen die Bude zumachen.«

»Een Pund Brot kost' seit gistern hundert Mark, Herr Generaldirektor«, sagte Tietgens. »Reken Sei sick gefälligs ülben ut, woans en Familienvadder mit den'n ollen Lohn bestohn kann.«

Und wieder brummten die Genossen Zustimmung.

Timmermanns schwieg in dumpfem Sinnen. Sie hatten recht ... die Leute ... Die Not der Zeit wuchs allen über die Köpfe — den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern ... Als ungerecht, als überspannt konnte man die Ansprüche der Arbeiterschaft unmöglich bezeichnen. Aber was war zu machen? Es ging nicht ...

»Leute, seid vernünftig ... Wenn wir eure Forderungen bewilligen, ist die Werft in acht Tagen pleite, ich schwöre es euch ... Es ist eine schwere Zeit — wir müssen alle zusammen uns einschränken ...«

»Solang dei Döchder von unse Arbeitgebers noch Brillanten an die Fingers drägen,« rief Tedje mit einem Vampirblick nach Ilses leise bebenden Händen, »solang'n söhlen Sei uns nich wat von Inschränken vörklöhnen —«

In Scham zog Ilse ihre Hand zurück ... Wie hatte sie nur vergessen können, den Ring abzulegen ...

»Ji sitten in dei Villas un eeten Botter un Wittbrot!« kreischte Tedje und sprang auf. »Wie slopt op Stroh un fret dreuges Markenbrot — kamt uns nich mit Inschränken, süß sprekt wi en anner Word!! Ne, Timmermanns, so mötten Sei uns nich komen!« Und er hieb mit der hammergewohnten Faust auf den Tisch, daß die Tintenfässer tanzten.

»Respekt, Minsch, Dunnerslag noch mol!« brüllte da Bob Timmermanns. »Wenn ji vergeten doht, wen je vör jug hebbt, dann smiet ick Sei an de Wand, Tietgens, as all eenmol! Hebbt Sei dat all vergeten?«

[S. 174]

Diese Erinnerung an seine Niederlage vor den Ohren und Augen dieser Frau — der wilde Bursche verlor den Rest seiner Besinnung. Er griff einen Stuhl und schwang ihn empor. Seine Kameraden fielen ihm in den Arm. Ilse riß Timmermanns zurück — ihre Kinnbacken bebten.

»Teuf, mien Deern!« schrie Tedje unter den Fäusten seiner Kollegen. »Ick will di woll kriegen — un wenn dien Schlöks von Brögam bi di wakt und bi di slöppt ... Unsre Kam'roden in Rußland — —«

Da schnarrte der Fernsprecher.

Ilse nahm den Hörer ... und schon hatte sie ihres Vaters Stimme erkannt. Es war wie ein Zauber — als stünde er neben ihr, so laut und klar klang seine Stimme, dem Beben froher Erregung zum Trotz, das sie durchschwirrte ...

»Ach, Ilse — du selber? Eine Freudenbotschaft: Die Regierung bewilligt der H. T. L. als erste Rate hundert Millionen!«

»Meine Herren,« sagte Ilse, »die Werftleitung bewilligt die Forderungen der Arbeiterschaft.«

»Verdammi!« knirschte Tedje Tietgens in sich hinein.


4

Selbfünft schritten sie über das Werftgelände, vom Direktionsgebäude zur Helling hinüber — umstiebt vom ersten Schnee.

»Goddam!« knurrte Elias Patterson, »arbeiten könnt ihr immer noch, ihr Deutschen ...«

In seinem knisternden Nerzpelz sah er neben der verschlissenen Vorkriegseleganz Detlev Carstensens wie der reiche Verwandte aus, der den verarmten Vetter zu besuchen kommt.[S. 175] Aber der verarmte Vetter brauchte sein Haupt heute nicht niederzusenken, da stand seine Leistung: die »Deutschland« reckte sich schon bis fast unters Krangerüst ... Und überall klang im scharfen Dezemberhauch das tausendfältige Ticktack der Niethämmer, das schnarrende Schwirren des elektrischen Nietens — das Knarren der Krane, die viele hundert Tonnen hoben wie Streichholzschachteln und durch die Lüfte entführten wie Flaumfedern ... Der alte Carstensen nahm die geflüsterte Anerkennung des Mannes von drüben mit stummem Behagen hin. Ja — es ging aufwärts ...

Timmermanns fand sich selber sehr komisch — zwischen den zwei jungen Damen, von Bessies frierendem Köterchen mit verärgertem Kläffen umkreist ... In eine von euch bin ich verliebt, dachte er — wüßt' ich nur genau in welche ...

Ilse beobachtete den Getreuen, Treulosen, mit geheimem Schmunzeln ... Bobbies Psychologie war heute mal wieder sehr durchsichtig ...

Es war, als empfinde auch Bessie, daß ihr langer Lehrmeister nicht mit ganzem Herzen bei ihr sei. Sie schob plötzlich ihre kleine feste Hand unter seinen Arm, lachte den Überraschten von unten her vielsagend an. Es war wie eine Beschlagnahme.

Hoch droben auf dem obersten Laufsteg hämmerten die Zwillinge Tedje und Clas. Pink, pank! — Die Gesichter vom Schneesturm gerötet, die Hände klamm vor Frost, der ganze Oberleib dampfend vom Schaffen, aller halben Minuten ein Niet — tick tack — pink pank.

Plötzlich sah Tedje, daß sein Helfmann Anders entgeistert in die Tiefe starrte. Tedje folgte dem Blick — und sah da unten seinen Feind stehen — und — — die Feine ...

Düwel — und noch jemanden, den er kannte ...

Dies kleine Gör in dem plustrigen silbergrauen Pelzmantel, war das nicht — —

[S. 176]

»Verdammi, Jung — weißt noch, Anders? Wegen dei hebbt wi twei us an de Köpp kregen vör Tieden!«

Wahrhaftig — sie war's ... Anders Niemann aber starrte wie verzaubert auf — die andere ... So nahe hatte er sie — seit seinem Versinken — nicht mehr gesehen ...

Da hob sie den Blick — alle drei schauten sie an der Steile des Schiffsrumpfes empor, Bob Timmermanns' erklärendem Finger folgend ... Mit einem Ruck zog Anders den Kopf in die Luke zurück. Und die kleine Amerikanerin hob den Kodak, die zwei schwindelfreien Klopfgeister hoch droben aus der Froschperspektive festzuhalten ...

In Tedjes frostrotes Antlitz schlug die Lohe des Abgrundes. Seine Brust keuchte, die Augen traten aus ihren Höhlen ...

»Mak keen Beesteri, Tedje!« rief Clas heiser.

Zu spät ... wie aus Versehen glitt der wuchtige Niethammer aus Tedjes Fingern, sauste in die Tiefe ...

Ein dreifacher Aufschrei drunten —

Haarscharf zwischen Robert Timmermanns und Ilse Carstensen klirrte das Wurfgeschoß des Hasses auf einen Querbalken der Helling, schnellte schräg empor, prallte mit hellem Klang wider die eiserne Schiffshaut, fiel zum zweiten Male dicht vor den Füßen der Erstarrten nieder.

Hoch droben glotzten zwei Jungmännergesichter — eins aufatmend, dankbar, daß der Streich mißglückt — eins grimmzerfressen, zähnefletschend in tückischer Wut ...

»Entschülligen S' man — t' weur man 'n lüttjes Verseih'n ...«


[S. 177]

5

Herr Patterson hatte einen endlosen Fragebogen mitgebracht: Die Fusion hatte drüben tausend Probleme und Einzelfragen ausgelöst, die besprochen und geklärt sein wollten. Und neben Bessie und dem technischen und kaufmännischen Stabe waren diesmal auch mehrere führende Persönlichkeiten der Kapitalgruppen mitgekommen, welche im Patterson-Konzern zusammengeschlossen waren. Während auf der Hammonia-Werft die »Deutschland« mit wahren Riesenschritten dem Tage des Stapellaufs entgegenwuchs, kamen für die Direktion der Linie wie der Werft harte Wochen voll täglicher, stundenlanger Sitzungen. Die Herren von drüben waren sachkundig, zäh, auf die Wahrung ihrer Interessen bedacht. Es gab scharfe Auseinandersetzungen. Manchmal schien es, als solle das junge Bündnis über einem Sonderpunkt wieder scheitern.

Elias Patterson war diesmal nicht ganz der zärtliche, rücksichtsvolle Vater wie bei seinem ersten Besuch. Bessie kannte das. Sie wußte, das Geschäft ging vor. Sie würde sich auch ohne daddy die Zeit zu vertreiben wissen.

Zu ihrem nicht geringen Ärger versagte aber auch ihr Freund und Sangesmeister. Auch er stand ganz im Banne der Arbeit. Die Amerikaner verlangten neuerdings, daß die H. T. L. sofort auch noch zwei Frachtdampfer von je zwölftausend Tons auf Helgen lege. Dazu reichte die von der Regierung bewilligte Entschädigungsrate nicht aus. Neue Reisen nach Berlin, neue Verhandlungen wurden nötig. Und wenn es heute gelang, bei den Ministerien, beim Reichstage neue Bewilligungen durchzudrücken — morgen warf die anschwellende Markentwertung alle Vorschläge über den Haufen.

Oft zuckten die Amerikaner untereinander die Achseln: Nein, es war doch unmöglich, mit den Deutschen zu arbeiten ... ihre nationale Disziplin war zum Teufel — sie fraßen einander[S. 178] auf, bewucherten sich gegenseitig in den Hungertod, in den Bürgerkrieg, in den völligen Untergang hinein ...

Und dann wieder staunten die Herren über täglich neue Überraschungen deutscher Tüchtigkeit und Unverwüstlichkeit. ... Ein Rätsel, diese Menschen, dieses Volk ...

Bob Timmermanns verzehnfachte sich. Er hatte sich's in den Kopf gesetzt, auch die Frachtdampfer müßten völlige Neuschöpfungen werden ... Alle Probleme, welche die Entwicklung der Schiffsbautechnik in den Jahren der Isolierung und Absperrung Deutschlands hatten heranreifen lassen, wollten an der Hand der ausländischen Fachliteratur und Publizistik studiert, durchdacht, immer neuer, eigenartiger Lösung entgegengeführt sein. Die Konstruktionsbureaus ächzten unter der Last ihrer Aufgaben, welche der Generaldirektor ihnen stellte. Es galt, die Sachverständigen von drüben in ständiger sprachloser Verblüffung zu halten ... Was galt in solchen Tagen die Stimme des Herzens? Sie hatte zu schweigen. Und sie schwieg. Bob Timmermanns hatte sich in der Gewalt.

Wenn Bobbie jemals geträumt hatte, die Aufmerksamkeit, die Bessie ihm unverkennbar entgegenbrachte, würde seine Aussichten bei Ilse verbessern — dann hatte er sich getäuscht. Die schattenhafte Eifersucht, die sich fast unbewußt in Ilses Kopf mehr als in ihrem Herzen geregt hatte — sie fand keine Nahrung, weil Bob für Bessie einfach keine Zeit hatte. Aber was das Auftauchen der kleinen Nebenbuhlerin nicht bewirkt hatte, das erzwang ganz ungewollt und ahnungslos des Generaldirektors unerhörte Tüchtigkeit. Er imponierte dem Mädchen, das er vergötterte. In diesen drangvollen Wochen des Planens und Ringens entfaltete sich Bob Timmermanns' technische Genialität, seine fanatische Hingabe an die Werft und ihre Aufgaben, seine titanische Arbeitskraft so überwältigend, daß Ilse sich gefangen und verstrickt fühlte. Ein Rauhbein, ein Streber, ein Prolet —. Ilses krampfhafte Selbstverteidigung[S. 179] übte immer neue Kritik an Roberts Wesen. Aber ohne auf Wirkung auszugehen oder sie, als sie eintrat, auch nur zu bemerken, zwang der Starke das Mädchen, das ihn nun kannte und erkannte wie kein anderer Mensch, in den Bann seiner Persönlichkeit. Ein Rauhbein — ein Streber — ein Prolet — aber ein Mann — ein Kerl.

Und Heinz Freimanns Bild verblaßte — ward entrückt ... Die Ferne, die Zeit übten ihre Rechte.

Nur eine empfand das mit Trauer und Bitterkeit: Johanna Freimann.

In ihrem mütterlichen Herzen stand über allem Gram der felsenfeste Glaube an das Kind ihres Wesens. Er lebt, er arbeitet, er wächst ... Er wird wiederkommen, ein Lebensheld, wie er ein Kriegsheld gewesen ... Ganz gleichgültig, wo er sich verborgen hält und warum — gleichgültig, was er treibt, leidet, fühlt — es ist notwendig — notwendig für ihn und darum für sein Volk, sein Vaterland ... Er wird seiner Mutter, seinem Elternhause, seiner Braut nicht anrechnen, was sie alle durch Teilnahmlosigkeit, durch Mangel an Verständnis, an gläubiger, entsagender Liebe wider sein Werden, seine Genesung gefehlt ... Denn sein Wesen ist Güte, ist Herzenskraft ... In seinem Herzen trägt er den Kompaß, der ihn leiten wird durch die Wirrnis, die er über sich selber verhängt hat ...

So sah Mutter Johanna den Sohn, so erklärte ihn ihre Sehnsucht — so mühte sie sich, sein Bild im Herzen der Braut aufzurichten ... Ihr feines Fühlen hatte längst durchschaut, daß jenes Bild in der Seele des Mädchens, das sie dem geliebten Jungen auch bei seiner zweiten Heimkehr entgegenführen wollte, nicht mehr ganz hell im Lichte stand ...

Dies Ahnen, dies Wissen hing wie ein quälender Schatten zwischen den zwei Frauen, die einander so viel geworden waren. Der Kampf gegen diesen Schatten war der geheime[S. 180] Inhalt aller Gespräche, die endlos jene immer karger ausgesparten Stunden ausfüllten, in denen Mutter Johanna und Ilse um die Zukunft rangen.


6

Auch zwischen Bessie und Ilse herrschte nicht mehr das alte muntere Einverständnis.

»Ilse, ich liebe Sie!« rief die Kleine im Tone der Ausruferin vor einer Menagerie. »Und ich will, daß Sie mich lieben ... Aber Sie wollen nicht, ich fühle es ...«

»Kleiner Schafskopf!« erwiderte Ilse. »Ich mag Sie lieber als alle Mädchen der Welt — genügt Ihnen das?«

»Ich will, daß Sie mich lieber haben als alle anderen Menschen der Welt ... Aber es gibt zwei Menschen, in die sind Sie verliebt ... Und das ist mehr als lieben ...«

»Zwei, Bessiechen?«

»Ja, zwei ... Sie tragen einen Ring von einem Manne, den ich nicht kenne ... Also sind Sie noch immer in ihn verliebt, sonst hätten Sie den Ring längst abgelegt ...«

»Nun, und der andere?«

Die kecke Kleine wurde rot bis unter die strohblonden Stirnlöckchen.

»Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen ... Und er ist sehr verliebt in Sie, wenn er jetzt auch keine Zeit hat — für uns beide ...«

Da flog über die stolze Stirn Ilses ein flüchtiges Rot. »Liebling, ich will Ihnen ganz offen etwas sagen: Der Mann, den Sie meinen, der ist ein Esel.«

»Schämen Sie sich, Ilse!«

»Doch, er ist ein Esel. Kennen Sie nicht die Geschichte von dem Esel zwischen den zwei Heubündeln?«

[S. 181]


Zum Glück hatte Bessie noch eine andere Freundin. Der ging es besser als ihrer Kollegin von der Hammonia-Werft. Denn sie war nur »Arbeitnehmerin« und nicht Tochter des Hauses ... Die stülpte um fünf Uhr den Kasten auf ihre Schreibmaschine — und war dann frei. Bessie belegte sie nun energisch mit Beschlag. Und seit sie erst heraus hatte, daß Antje ein Kind des Volkes, ein Kind jener »schlimmen Viertel« war — seitdem fand die kleine Demokratin sie noch viel interessanter ... Damals, als die Blue Star Line vom 27. Stock eines Wolkenkratzers am Broadway hernieder ihre Fäden um den Erdball zu spinnen begann — damals schon war ihr Leiter ein junger Abenteurer namens Elias Patterson. Der entdeckte in einem seiner Riesenbureaus eine allerliebste kleine Stenotypistin, eine Fabrikarbeiterstochter aus Long Island, und machte sie zu seiner Frau. Kein Wunder, daß die einzige Tochter dieses Paares eine tiefe Sympathie für die Privatsekretärin des Herrn Freimann empfand.

Dieser Freundin hatte Bessie natürlich auch ihr Abenteuer mit dem kleinen Mädchen erzählt ... Und mit geheimem Gruseln hatte Antje die Geschichte wiedererkannt. Andersherum war sie ihr ja nicht mehr neu. Sie hatte an manchem Abendschwatz bei Mudder als Gesprächsstoff herhalten müssen. Aber die Sekretärin bekam doch eine Gänsehaut bei dem Gedanken: wie, wenn der verkappte Offizier und der herzensgute Clas — nicht zur Stelle gewesen wären? — und warnte.

Bessie lachte: »Mein Schutzengel ist mir noch stets auf irgendeine Art zu Hilfe gekommen ... Er ist immer da, ich weiß es — sonst wäre ich nicht so übermütig ...«

Antje war skeptisch — sie warnte die kleine Phantastin energisch. »Es könnte vielleicht doch einmal passieren, daß der Schutzengel sich verschliefe, wenn Sie losgondeln mit Ihrer weißlackierten fliegenden Nußschale ... oder daß er nicht mit könnte mit Ihrem Tempo ...«

[S. 182]

»Schämen Sie sich, Miß Antje!« zürnte Bessie. »Ein Schutzengel kann alles ...«

Plötzlich klatschte sie in die Hände — blieb vor einem Ladenfenster stehen: »Schauen Sie — da ist er ja schon wieder, und zwar in eigener Gestalt! Da sitzt er hoch oben auf diesem Tannenbaum ... Aber schauen Sie — was ist das für ein merkwürdiger Baum?«

Und Antje erklärte ... Ein Ton von Rührung kam in ihre ruhige Stimme ... Zuviel hatte man erlebt, zuviel ... Zuinnerst war jedes deutsche Herz verwundet. Die lindeste Berührung machte es zucken — selbst die Seligkeit der Erinnerung wurde zum Schmerz.

»Es ist ein Kinderfest, Miß Bessie ... aber wir alle werden Kinder, wenn Weihnachten kommt — und warten, daß wir beschenkt werden — beschenkt mit irgend etwas, das groß und heilig ist und hoch, hoch über unserm Wünschen und Hoffen steht ...«

»Was haben Sie, Miß Antje? Sie weinen ja ...«

»Ach — es ist nichts ... Ich bin ein bißchen überarbeitet ... wir sind's alle ... Ach, Miß Bessie, wenn sie ahnten, wie wir leiden, wir alle ...«

Bessie ahnte es nur zu gut. Und in ihrem Herzen regte sich etwas wie böses Gewissen. Sie wußte: An diesem deutschen Leiden — Amerika hatte daran sein gerüttelt Maß von Anteil. Man hatte ihm gesagt, es gehe wider die Hunnen ... Nun wußte Bessie Bescheid im Hunnenlande ...

»Oh,« lachte sie, im Bedürfnis abzulenken, »was ist das für ein hübscher alter Mann, der da neben dem Lichterbaum steht, mit einem großen Bart — und einem großen Sack — und er trägt einen Besen in der Hand?«

Das sei der Weihnachtsmann, erklärte Antje. Er gehöre zu einem echten deutschen Weihnachtsfeste wie der geschmückte Tannenbaum und der geflügelte Engel an seiner Spitze ...

[S. 183]

Ein sehr merkwürdiges Land, das Hunnenland. — Wie werden meine Freundinnen staunen in Neuyork, wenn ich ihnen erzähle vom Hunnenland ...

Die Vorstellung des Kinderfestes spukte in Bessies kapriziösem Köpfchen weiter. So etwas mußte sie machen — für ihre kleinen Freunde in den schlimmen Vierteln.

Zuerst nahm sie sich vor, den großen Festsaal im Atlantic mit Beschlag zu belegen und ihre Günstlinge dorthin einzuladen. Aber dann hätte daddy davon erfahren — und die anderen alle, die sie immer auslachten und exzentrisch schalten ... man hätte ihr Fest hintertrieben oder ihr wenigstens die Freude verdorben ... Nein — das mußte ganz im geheimen geschehen, und erst wenn alles vorbei wäre, würde Bessie berichten und sich am komischen Entsetzen der andern weiden ...

Das Christkind steigt zu den Menschen nieder, hatte die ernste Antje gesagt ... Nein — es war nicht das richtige, die Kinder der schlimmen Viertel ins Atlantic zu bestellen ... Sie würden geblendet und blöde stehen und all die Pracht bestaunen — und schon in ihren jungen Seelen würde der Haß aufglühen, von dem die Freundin ihr erzählt hatte ... Der Neid der Armen auf die Reichen ...

Nein, man würde zu ihnen gehen — niedersteigen wie das Christkind selbst ... Bessie fühlte, wie es ihr feucht in die Augen schoß vor Bewunderung und Ergriffenheit über ihre eigene Güte, ihr verständnisvolles Zartgefühl ... Man würde einen Saal mieten, einen kahlen, schmucklosen Tanzsaal mitten drin im Schmutz und Brodem der Proletariergassen — den würde man mit Flittergold und bunten Fähnchen ausputzen, und in der Mitte müßte so ein großer, schöner Baum stehen. Auf der Spitze ganz oben aber müßte der Schutzengel schweben ... und ein Weihnachtsmann müßte auch dabei sein — mit einem langen Bart — einem Sack voll vergoldeter weißer Nüsse und Apfel — und einem Besen unterm Arm ...

[S. 184]

Wenn sie nur jemanden wüßte, der ihr helfen könnte ... keiner von ihren Freunden ... keiner von den Deutschen, die hätten sie nur ausgelacht und wieder einmal so seltsam angeguckt, als sei sie eine Sehenswürdigkeit aus dem Zoologischen Garten, irgendein exotisches kleines Wundertier ... Und die Amerikaner? Es waren smarte Jungen dabei, die Bessie wohl leiden mochte — aber sie waren alle nüchtern und schwunglos wie ein Lineal — die würden sie groß und respektvoll anstaunen — und schleunigst bei daddy verpetzen. Nein — es müßte einer aus der andern Welt sein, aus der Welt der schlimmen Viertel.

Und da fiel ihr ein, daß ja ihr Schutzengel schon einmal beliebt hatte, die Gestalt eines jungen Arbeiters aus den schlimmen Vierteln anzunehmen. Wie, wenn sich das wiederholen möchte? Man wird sehen.

Und Bessie stopfte Little Puck in die Tasche und kurbelte an.

Ihr Ortssinn war fabelhaft entwickelt, wie all ihre Sinne. Schon im Lyzeum hatten ihre Lehrer behauptet, sie müsse Indianerblut in den Adern haben ... Mit der Sicherheit einer Nachtwandlerin fand sie alsbald die finstere, von hohen, geschwärzten Giebelhäusern umstellte Gasse wieder, in der es ihr vielleicht doch wohl schlimm ergangen wäre, wenn der Schutzengel wirklich geschlafen hätte — oder ihrem Tempo nicht hätte folgen können ... Pah — diese Stenotypistin mit dem braunen Madonnenscheitel — was wußte die von einem Schutzengel?!

Richtig ... hier war's gewesen — hier an der Ecke zu dieser — noch viel engeren — puh — wahrhaftig, ein bißchen gruseligen Gasse war er aufgetaucht, der schmucke Bursch, in dessen Herz ihr Schutzengel an jenem Sommernachmittage gefahren war ...

Heute war es kalt, und nur wenig Kinder huschten hin und wider, Körbe am Arm und schmutzige Geldzettel in den Händen[S. 185] ... Aber die erkannten sie, schwirrten kreischend heran und boten der Tante die klebrigen Patschen.

»Kennen ihr ein junges Mann, was hat ein braunes Schnurrbart ... und hat ein Gesicht sehr gut — und ist sehr mjutig?«

Die Kinder grinsten verlegen, enttäuscht, daß die gewohnte Spende ausblieb.

Bei der Gassenkreuzung stand ein hexenhaftes Weib mit lauernden, gierigen Augen. Sie sah die Fremde, die Vornehme, die Auskunft suchte — und sah das elegante Wägelchen, witterte Valuten. Sie schob sich heran:

»Wat wull dei Dam', Kinnings?«

Die Kinder kicherten: »Dei Dam' söcht en jungen Mann!« Gelächter brach aus. Die älteren Gören quiekten vor wissender Wonne.

»Yes, madam,« bestätigte die Fremde, ein wenig beunruhigt durch die Erscheinung der Alten, »ich suche ein junges man, braunes Schnurrbart, was ist sehr mjutig.«

Über das Runzelgesicht der Alten zuckte ein jählings aufflackerndes Verständnis. Nicht die erste kleine Abenteurerin aus der Welt des glänzenden Scheins, der Dolores Jacinto zu einer perversen, abseitigen Seligkeit verholfen hatte ...

»Den'n kann ick Sei besorgen,« kicherte die Hexe, »so ein'n kenn ick gaud ... kam'n Sei man mit mi! Dat Maschinken, dat stellt wi bei mi ünner — dat verwohr' ick so lang'n. Doar kümmt Sei nix an ...«

Dunnerslag! dachte Mudder Lore im Voranhumpeln, während die Fremde vom schwatzenden und feixenden Kinderschwarm umschwirrt, etwas benommen in die schwarze Schlucht der Nebengasse folgte — »Fohrräder heff ick all männigesmol opbewohrt — öwerst 'n Auto, un noch dortau son'n fien' — dat is dat ierstemol ... Tedje sall nich slecht[S. 186] kieken, wenn ick em dit säute Fräten bring ... Man gaud, dat hei grod doer ünn'n in'e Gang'n is ...«

In ihrem alten Hirn war die Sprache ihrer mexikanischen Heimat längst verdunstet — sie dachte sogar auf hamburgisch.

Es ging in einen stockfinsteren Gang — Bessie schauderte und schickte ein wortloses Stoßgebet zu ihrem Schutzengel: Komm, ich fürchte, heut werd' ich dich brauchen ...

»So ... hier lat'n wi dat Maschinken stohn ... Da kümmt sei nix an ...« Schade — surrte es durch das Hirn der Alten — dat wier wat taum Verschärfen — öwerst doar wieren tau väl Oogen rund rüm ... Nein — für das Eigentum der kleinen Kundin war gesorgt ... Auf so gefährliche Sachen ließ Mudder Lore sich nicht ein. Die Dame würde gut bedient werden ... dies eine Mal ... Denn solche vornehmen Vögel pflegten nicht zum zweiten Male wiederzukommen. Die brauchten Abwechslung — und scheuten es, eine Spur zu hinterlassen, die entdeckt werden konnte.

Nun eine Stiege hinauf — durch einen elektrisch beleuchteten, nach scheußlichen Parfüms duftenden Korridor — hier und da öffnete sich eine Tür, ein wuschliger Mädchenkopf tauchte auf, nackte Schultern ... und noch einer, noch einer — Kichern, kreischende Worte, kreischendes Gelächter — Bessie fühlte, daß ihre blonden Stirnlöckchen sich wie Schraubenzieher aufrichteten ... Umkehren? fliehen? war es nicht schon zu spät? Schutzengel, hilf!!

Einen Augenblick machte die Führerin halt, öffnete ein Behältnis, das in einer Ecke stand — holte zwei Flaschen mit Goldhälsen und eine dritte hervor, um deren Hals ein halbmondförmiges Etikett mit drei Sternen sich schlang — füllte einen verbeulten Kühler mit knirschenden Eisstücken, packte alles in einen Korb, entnahm aus einem andern Schrank ein paar Sektschalen, legte sie sorgsam zu dem übrigen — grinste vertraulich, streckte die Hand aus ... Bessie, von Entsetzen geschüttelt,[S. 187] griff in ihre Tasche, drückte der Alten einen ganzen Haufen Dollarnoten in die Krallen — die prüfte genau, schmunzelte zufrieden, knickste und humpelte weiter.

Am Ende des endlosen Korridors hielt die Führerin — hier schien die Welt zu Ende ... Aber plötzlich drehte sich wie durch Hexerei die ganze Abschlußwand — eine neue Finsternis gähnte ... Doch die Alte fand drinnen tastend einen Schalter, eine schwache Birne glomm auf, ein neuer Korridor öffnete sich ... Nun eine ausgetretene Stiege hinunter, knips, neues Licht, ein neuer muffiger Gang ...

Bessies Kehle war wie zugeschnürt. Wenn der Schutzengel nicht kam, war sie verloren ...

»Nein — nein —« stammelte sie zwischen Grausen und Ekel. »Sie wissen nicht ... Sie taten nicht verstehen mich ... ich will — lassen mich gehen ...«

Die Hexe grinste begütigend. Sie kannte solche Anwandlungen von Reue im entscheidenden Augenblick ... Das legte sich — das hatte keine Bedeutung.

»Nein, nein!« stotterte die Kleine noch einmal und klammerte sich an den skelettartig hageren Arm ihrer Führerin — »ich will fort, ich will heraus ...«

»Ruhig, ruhig, mien Düwken!« tätschelte die Alte, »do kümt jo all de Frigersmann — nich bang sien, mien Lütting, hei is 'n Strammen, du schast tofreden sien ...«

Eine mächtige Mannesgestalt tappte den Flur entlang — tauchte plötzlich im dunstigen Lichtkegel auf ...

Bessie erstarrte ... Das — das war — —

Fassung ... Mut ... und Dreistigkeit — — nur Lachen konnte retten ...

Wie ein brünstiges Tier stand er vor ihr, die alte Hexe drückte sich grinsend in eine Ecke ... er ... vor dessen rohen Tatzen — damals! — der Schutzengel in Gestalt des jungen[S. 188] Mannes mit dem braunen Schnurrbärtchen — — den hatte sie gesucht — und da war — der andere ...

Er selber schien nicht minder sprachlos erstarrt als sein Opfer ...

Bessie hatte sich wieder. Sie zwang ein schwirrendes Lachen der Wiedersehensfreude auf ihre Lippen.

Der stiernackige Bursch im geflickten, rostfleckigen Arbeitskittel fühlte etwas wie Kavaliersanwandlung.

»Dat's aber scheun, Fräulein — dat wi uns hier wiederfinnen ...«

»Oh, ich bin entzuckt ... heute Sie gefallen mich viel besser als bei unser erstes Begegnung.«

»Sei mich auch, Fräulein —« Tedje konnte galant werden, o ja, das konnte er — »Sei hebben mi glieks sihr god gefallen, hahaha ...«

»Wie heißen Sie?«

»Ick heit Tedje Tietgens ...«

»Tiet —?!« Bessie horchte hoch auf. »Ich kenne eine junge Mädchen — was auch heißt Tiet—«

»Wat's dit?! Sei kennen mien' Swester Antje —?!«

»Antje — yesthat's it!« Schutzengel, hab' Dank!!

Über das Gesicht des Burschen, das sich schon dunkler rötete, glitt eine jähe Ernüchterung. Antje — sie kennt Antje ... Er machte eine Bewegung, als wolle er etwas Bedrückendes, Störendes verscheuchen. Eine Bekannte, eine Freundin vielleicht von Antje ... hatte nicht die Schwester etwas von einer kleinen Amerikanerin erzählt, mit der sie häufig zusammenkomme?

»Sagen Sei, Fräulein — sind Sei am End' von Amerika?«

»Yes, yes, ich bin ein Bürger von die United States ...« Die Kleine reckte sich. Ihr war, als flattre schirmend über ihrem Köpfchen das Sternenbanner.

[S. 189]

»Düwel, Düwel ...« Tedje richtete sich aus seiner lässig-behaglichen Haltung auf ... Seine Stimme klang verändert — beunruhigt, respektvoll ... Etwas von der Verehrung für die Schwester, die in Tedjes rohem Herzen als stilles Heiligtum ruhte, glitt auf dies fremde Mädchen über, von dem Antje mit Achtung und Sympathie gesprochen hatte.

»Nu seggen S' mi man dit eine, Fräulein — wie kamen Sei in dit Lakal — un bi Mudder Lore?!« Ein dumpfes Begreifen meldete sich an: Hier war ein Mißverständnis ... ein Geheimnis ...

»Oh — ich bin gegangen zu suchen ein junges Mann — mit ein braunes Schnurrbart ...«

»Na — dat heff' ick ja ook —« versuchte Tedje zu scherzen.

»Nein — ich meine ein andres junges Mann — was Sie kennen also ... damals, Sie wissen, wie Sie haben wollen strafen mich, habend geworfen zur Erde das kleine Mädchen, das andere junge Mann hat gesagt, Sie nicht Böses tun zu mich ... und ihr habt euch nahe geschlagen, ihr zwei, für meine Sache ...«

»Dunnerslag ... dat 's mien Fründ Anders Niemann ...«

»Ach ... sehen Sie, Sie kennen ihm ... Sie werden mich bringen zu ihm ...«

Wenige Minuten später schritten sie ganz freundschaftlich die nun schon tief im Dämmer liegende Lastergasse hinab zur Knibbel-Twiete — die kleine Amerikanerin und der Spartakist. Sprachlos, verständnislos glotzte die Mexikanerin hinter den zweien drein. Aus den Fenstern gafften die Wuschelköpfe ihrer Kinderchen ... Tedje schob Bessies Auto wie ein Kinderwägelchen vor sich her. Und eine Viertelstunde später standen die zwei vor Vadder Tietgens' einstöckigem Ziegelhäuschen. Tedje pfiff das Signal des Freundschaftsbundes der drei Stubenkameraden: die Anfangszeile des Liedes von der roten Seligkeit ... Alsbald antwortete von droben die zweite Zeile —[S. 190] aus einem Fensterchen schob sich der Kopf des jungen Mannes mit dem braunen Schnurrbärtchen ...

In Bessies Herzen war ein dankbares Frohlocken. Der Schutzengel hatte auch diesmal nicht geschlafen.


7

Auf die frostklirrenden deutschen Lande senkte die sechste Schmerzensweihnacht sich nieder. Die sechste Schmerzensweihnacht!

Nach dem Donner der Geschütze der Zweieinhalbtausend-Kilometer-Front waren zur Stunde auch die Maschinengewehre und Handgranaten des Bruderkrieges verstummt. Nicht mehr starben täglich zwölfhundert deutsche Männer den Schlachtentod. Aber immer noch siechten dahin die Darbenden, die hilflosen Alten, die hilflosen Kinder ... Noch immer lag auf dem ausgepreßten Volke der würgende Bann der Hungerblockade ...

Und dennoch: Bis dicht an die heilige Stunde heran, im ganzen Lande, vom Fels bis zum Meer, sausten die Spindeln, ratterten die Webstühle, glühten die Essen, wuchteten die Fallhämmer, ticktackten die Nietschlegel ...

Der Geist der Arbeit hatte sich aus Kriegslähmung und Welterneuerungsfieber losgerungen.

Die Bauleute waren am Werk, die Trümmer wegzuräumen — und aus dem Schotter hoben sich langsam die Mauern des neuen Reichsbaues. Auf dem Gerüst flatterte ein neues — ein uraltes Panier.

Nicht alle Blicke, längst nicht alle, grüßten es mit Ehrfurcht und Glauben. Es waren die schlechtesten nicht, jene Hunderttausende, welche die alten Farben nicht vergessen mochten, für die sie gelebt, geschafft, gekämpft, geopfert, geblutet.

[S. 191]

Aber auch die waren wackere Deutsche, die da glaubten, die neue Zeit brauche auch ein neues Gleichnis ... Die da hofften, es werde einst die Stunde kommen, da die Schwarz-weiß-roten und die Roten sich zusammenfänden, um im Schwarz-rot-gold das Zeichen eines neuen Bundes aller, aller deutschen Menschen zu verehren ...

Einstweilen war es ein Glück und eine Hoffnung, daß sie alle drei, die Hüter der heiligen Erinnerungen, die Fanatiker der roten Seligkeit — und die Vorkämpfer eines Deutschland der Brüderlichkeit sich wieder zusammenzufinden begannen, tief unterhalb des wirren Treibens der brodelnden Oberfläche des Parteikampfes zu stiller, scheinloser, hingebender Arbeit ...

Heute aber schritt über die gärende Fläche und über die schaffende Tiefe das uralte Fest der Rast — der Sammlung — des Einklangs ...

Das Fest der Menschen, die guten Willens sind.


Im palisandergetäfelten Speisesaal der Villa Freimann saßen stille, müde, sinnende Menschen um einen hohen, schmucklosen Tannenbaum, in dessen dunklen Nadeln sparsam verteilte Lichter knisterten. Frau Johanna hatte es sich nicht nehmen lassen, der Braut ihres Sohnes und dem alten, immer mehr in sich zusammensinkenden Freunde Detlev Carstensen das Fest zu bereiten. An Gaben fehlte es nicht — aber selbst in diesem Kreise, den die rauhe Lebensnot noch nicht zu nahe bedrängte, trugen die Geschenke den Stempel der ernsten Zeit. Man spendete nicht mehr Gold, Edelsteine, Bronzen, Bilder — man schenkte Genußmittel, die man sich sonst versagte — man gab Gegenstände des täglichen Bedarfs ...

Ach — und mitten in der Reihe waren auch die Gaben für den einen aufgebaut, der dem Feste fern blieb ... dem gleichwohl aller Gedanken, Träume, Schmerzen galten. Dem Verschollenen ... Wenn er heimkäme, würde er sie finden ... und[S. 192] er würde heimkommen — aus der geheimnisvollen Ferne, in die er sich geflüchtet vor dem Unglauben der Seinen — wie er einst heimgekommen war aus dem Graus der Meerestiefe, in den ihrer aller Glaube ihn begleitet hatte.

Keine hatte den Abwesenden, den Entrückten reichlicher, sinnvoller, zarter beschenkt als jene, die sich als die Hauptschuldige seines Versinkens fühlte ... Ihr war, als hätte sie doppelt gutzumachen — doppelt innig zu bekunden, wie treu sie zu ihm stände ...

Mutter Johanna hatte in Ilses Beisein den Vorschlag gemacht, den treubewährten Mitarbeiter ihres alten Freundes am Festabend von seiner Junggeselleneinsamkeit zu erlösen. Und dabei hatten ihre Augen mit seltsam scharfer Prüfung die Züge der künftigen Schwiegertochter gesucht ... Ilse hatte das empfunden, hatte sich heftig gegen diesen Vorschlag gewandt: Herr Timmermanns stecke tief in der Arbeit, lehne alle Einladungen ab, fühle sich am wohlsten in seiner verräucherten Bude zwischen seinen Zeichnungen und Tabellen, sei überhaupt kein Mann für Feste des Gemüts ... Und schnell und mit geheimem Aufatmen hatte Johanna die geplante Einladung aufgegeben.

Aber einen anderen Gast hatte man nicht ausschließen dürfen: Bessie Patterson. Sie gehörte ja seit zwei Wochen zum Hause. Ihr Vater war heimgekehrt, um bald nach Neujahr an Bord des Dampfers »Union« der Blue Star Line, welcher als erstes Schiff unter der Flagge der United Transatlantic Lines den neuen Dienst Neuyork-Hamburg aufnehmen sollte, wiederum die Europafahrt anzutreten. Aber Bessie hatte es durchgesetzt, daß sie bleiben durfte. — »Ich kann meine Studien über dies kuriose Land jetzt nicht unterbrechen ...« Sie hatte es halbwegs erzwungen, daß Frau Johanna ihr die Gastfreundschaft ihres Hauses anbot ... obwohl die den kleinen Exzentrikclown nicht mochte ... Und so war Bessie seit zwei Wochen[S. 193] in ein Gastzimmer der Villa Freimann übergesiedelt, samt dem allverhaßten Puck, dem Kodak und dem Puppenauto ...

Selbstverständlich stand auch für sie ein reicher Gabentisch gedeckt. Aber welch Aufatmen, als Bessie am Nachmittag von irgendwoher da draußen angerufen hatte, man möge sie zum Feste entschuldigen — sie werde vielleicht nach dem Abendessen erscheinen ... Gottlob — die Heiligabend-Stimmung war gerettet ...

Ilse hatte still in sich hineingelächelt. Auch sie würde sich nach der Bescherung für eine Stunde beurlauben müssen. Bessie hatte sie im letzten Augenblick ins Vertrauen gezogen und zu ihrer Kinderweihnacht eingeladen. Der Wagen war bestellt.

Als aber die Kerzen brannten, die Gaben ausgetauscht waren — da bedauerte Johanna fast, daß der kleine Sprühteufel fehlte. Die Stimmung war da — aber anders, als die Festgeberin gehofft hatte. Die Väter saßen stumm rauchend in ihren Sesseln, von bohrenden Sorgen und trotzigen Plänen bedrückt und ausgefüllt, und starrten abwesend in die tröstlichen Lichter.

Die Frauen aber durften einander kaum ansehen, so wurden ihnen auch schon die Augen feucht. Und der eine, der ihnen allen Trost, Hoffnung, Stütze hätte sein sollen — der fehlte. Sie alle fühlten sich schuldig, ihn missen zu müssen. Sie alle hatten ihn ausgetrieben — dem Heimgekehrten hatten sie keine Heimat gegeben, weil er anders war und anderes ersehnte, als sie es von ihm gehofft, erwartet, verlangt hatten ...

Und kurz nach dem Abendessen stand Ilse auf, bat, sie für eine Stunde zu beurlauben, da sie zu einer Weihnachtsfeier des Roten Kreuzes zugesagt habe, und ließ die drei Alten allein.

Da ging Frau Johanna leise aus dem Zimmer. Sie wußte: Georg liebte keine Tränen.

[S. 194]


In Mudder Minings Stube brannte ein winziges Bäumchen, nur mit vier Kerzen, aber mit viel verblichenem Flitterkram aus besseren Tagen ausgeputzt. In der engen Wohnstube war's ganz unsagbar gemütlich und friedvoll. Wie hatte sich aber auch ein jedes angestrengt, die Seinen zu beschenken! Vollends Tedje — Kunststück, er war seit Monaten der reine Großmogul ... Die Eltern fragten nicht nach der Quelle solches plötzlichen Wohlstandes — der Junge war großjährig, hatte sein Tun und Lassen selber zu verantworten ... Jedenfalls war Vadder sehr erfreut über seine »tapezierten« Zigarren, seinen Tabak, seinen Schnaps, seine Ölsardinen — ob er auch tiefinnerst den leisen Verdacht hegte, diese Schätze möchten irgendwie im Zusammenhang mit den Wirren vom vergangenen Juni stehen ... Und wenn Mudder ihren Lieben heut Bohnenkaffee und Frankfurter Würstchen vorsetzen konnte, so dankte sie auch das der Freigebigkeit ihres Einzigen ... Und wie hatten die zwei Kostgänger sich angestrengt, Clas und Anders! Ein kaum noch erträumter Reichtum an allerhand langentbehrten guten Dingen war auf dem Gabentisch gestapelt —. »Die reinsten Friedensweihnachten —!« meinte Vadder Tietgens — paff, paff — »Dunnerslag — wat'n Tobak!«

Aber den Vogel schoß Antje ab. Die hatte ja wohl ihre ganzen Ersparnisse draufgehen lassen ... Sie hatte ihre Gaben nicht unterm Weihnachtsbaum aufgebaut, sondern war mit einem Berg Pakete gekommen und ging nun von einem zum andern. Und jeder bekam etwas ganz Besonderes, etwas, das an jene Zeiten gemahnte, die für deutsche Menschen wohl sobald nicht wiederkommen würden ... Eine lange Pfeife mit Hornausguß für Vadder — für Mudder eine wollene — ja wahrhaftig, eine reinwollene Strickjacke ... Dann kam Tedje dran — er bekam als Ersatz für die Bolschewistenmütze, die Antje nicht leiden mochte, einen wunderschönen grünen Lodenhut[S. 195] — und eine in Seidenpapier gewickelte Flasche, die er sofort begierig ausschälte ... Da setzte er sie mit einem harten Bums auf den Tisch, markierte einen Tobsuchtsanfall der Enttäuschung, warf sich auf die Schwester, packte sie zähneknirschend an den Armen — und versetzte ihr einen schallenden Klaps auf jene Stelle ihres schlanken Körpers, die er vor Jahren manchmal nach Bruderart harmlos gezüchtigt.

Die anderen am Tische brachen in ein Freudengeheul aus. — Die Aufschrift der Flasche lautete:

»Apollinaris« ...

Und dann kam Clas an die Reihe: Er bekam Noten — Klavierstücke von Grieg ...

Aber mit wahrer Fieberspannung beobachteten alle Hausgenossen, wie Antje nun, eine leichte Röte um Stirn und Augen, verlangsamten Schrittes sich ihrem Anders näherte. Die Alten tauschten einen Blick: Wird's nun kommen — das Erwartete — trotz mancher Bedenken im geheimen doch Ersehnte?

Mit unsicheren Händen reichte das Mädchen dem Freunde ein Buch — er las die Aufschrift:

»Seefahrt ist not ... Roman von Gorch Fock.«

Der Finger der Geberin unterstrich leise die Aufschrift: also wohl auf die kam es an ...

Anders Niemann hörte die Donner von Skagerrak — sah aus der aufgewühlten See die Schaumfontänen aufschießen bis hoch über die Beobachtungstürme der kämpfenden grauen Schiffsriesen — fühlte die Stahlwände auf S. M. S. Derfflinger krachen und knirschen unterm Einschlag und Bersten der Granaten Jellicoes ... und sah dann unter Hunderten von Leichnamen deutscher Kameraden einen treiben, um dessen erblassende Stirn die Glorie des Dichters schwebte ...

Dann blickte er ins Antlitz der Mahnerin. Es sprach: Entscheide dich ... Wohin gehörst du?

[S. 196]

Ist dir Seefahrt not, dann laß ab von mir — und steige wieder empor in die Höhen, auf denen du geboren bist — auf denen du entbehrt und ersehnt wirst ... Ich glaube, ich weiß fast, du wirst es tun ... dann aber tu's bald — ich trag's nicht mehr ...

Oder gehörst du zu uns? Dann sag's — dann laß mich's wissen ... Ich bin reich, ich habe einen Himmel zu verschenken ... Willst du ihn, dann sprich ... Ich trag's nicht mehr ...

Und Heinz verstand die bange, schluchzende Frage. Und er gab ihr stumm die Antwort. Er schenkte der Freundin den »Poggfred« ... Darin stand die schmerzvoll süße Ballade von der kleinen Fiete — oft hatte er sie ihr vorgelesen:

»Was willst du — noch einmal dein Köpfchen lehnen
an meine Brust — ich soll mich nach dir sehnen?!«

Da neigte sie leise das braungescheitelte Haupt. So stirbt ein Mädchentraum.

Und keiner der Lauschenden, der Harrenden, der nicht begriffen hätte. Enttäuscht die Alten — aufatmend Clas Mönkebüll ... aufknirschend vor verbissener Wut der Bruder ...

Er hatte nun endlich ernst machen sollen, der Duckmäuser, der um Antje herumstrich, als könne er das Wort nicht finden ... Der sie längst ins Gerede gebracht hatte bei allen Kollegen — bei den Lästermäulern in allen Höfen und Twieten um den Neuen Steinweg — bis hinunter zu den Gemüseweibern auf dem Neumarkt ... Wenn sie denn schon einmal einen Kerl haben mußte, dann in Gottes Namen den ... Er war wenigstens rot bis in die Knochen und nicht so ein Halber, Lauer wie Vadder und seine Gesinnungsgenossen von der S. P. D. — Aber der Kerl war ja wohl nicht recht bei Troste ... Sah er nicht, wie Antje sich verzehrte um ihn? oder — wollte er nicht sehen? Hatte er am Ende gar — verdammi!! eine andere gefunden? — eine mit Geld? Na wart, Kamerad!!

[S. 197]

Immer giftiger schwoll in Tedjes wildem Herzen die Wut. Was sie wohl auch heut wieder zu tuscheln hatten, die zwei? Und Clas steckte ja wohl mit ihnen unter der Decke — wie seit acht Tagen schon — seit er selber dumm genug gewesen war, die kleine Dollarkröte laufen zu lassen und sie gar noch mit seinem Freund Anders zusammenzubringen ... Aber es kam noch schlimmer. Es war ein förmliches Komplott ... Als man bei den Bierflaschen saß, fing's trotz aller Enttäuschung an, recht gemütlich zu werden unter Mudders Weihnachtsbaum. Die guten Leibbinden-Zigarren, die Tedje vor einem halben Jahr aus dem Alsterpavillon hatte mitgehen heißen, die feinen Schnäpse aus der Elysium-Bar — das war doch mal wieder 'n richtiges Weihnachtsfest ... Plötzlich standen sie alle auf, Clas, Antje, Anders — und sagten ein bißchen verlegen, sie hätten noch 'nen Gang — in einer halben Stunde wären sie wieder da ... Weg waren sie — und hatten Tedje nicht ins Vertrauen gezogen, wie schon seit acht Tagen nicht mehr, wenn sie die Köpfe zusammensteckten und verschwunden waren alle drei ...

Nach ein paar Minuten stand auch Tedje brüsk auf. »Ick warr bald wedder kamen ...«

Und Vater und Mutter blieben allein. Ganz traurig und verlassen saßen sie da, nur die Schnäpse und Zigarren zur Gesellschaft ...

»Tjä, Mudder, denn helpt dat nich — denn möten wi uns allein trösten ...«

»Hest jo mi, Vadder —« sagte Mudder Mining und legte ihr müdes, dünnumsträhntes Köpfchen an ihres Lebensgefährten breite Schulter.

Verlöschend knisterten die Weihnachtskerzen.


[S. 198]

8

Im dumpfen Tanzsaal einer verkommenen Gastwirtschaft in der Wincklerstraße hatten Antje und Bessie den ganzen Nachmittag am fröhlichen Festwerk gewirkt, bis die Sekretärin sich zur Bescherung der Eltern verabschiedet hatte. Seitdem arbeitete die kleine Fee aus dem Dollarlande allein weiter, wie Antje sie's gelehrt. Für dreißig Kinder hatte sie Gaben besorgt — für dreißig Kinder, die sie noch gar nicht kannte. War alles fertig, dann würde sie mit ihrem Freund Anders durch die Straßen gehen und von den Schaufenstern der Neustadt die Ärmsten unter den Armen auflesen, die dort herumlungerten, um wenigstens einen Abglanz des Festes der Glücklichen zu erhaschen. Inzwischen fühlte Bessie sich seltsam heiter und begnadet. So hatte sie noch nie zuvor im Leben empfunden, daß Reichtum eine Gnade bedeutet — und eine Verpflichtung zugleich ... Sie hatte sich nicht genug tun können im Kaufen und Auswählen ... Antje hatte sie zügeln müssen.

»Nicht gar zu sehr verwöhnen! — Sie werden's nie wieder so gut bekommen — und später immer enttäuscht und traurig sein ...«

»Unsinn, Antje! Sie sollen ihr Leben lang an dies Weihnachten denken ... Und ich komme ja auch wieder ... Ich möchte immer hierbleiben — es gefällt mir viel besser in Deutschland als in Amerika ... Ihr friert, sagt ihr? Es ist warm bei euch — viel wärmer als drüben ...«

Nun freute sie sich, daß sie soviel, viel mehr gekauft hatte, als die Führerin hatte dulden wollen. Sie schob zuletzt unter jeden Teller noch eine Fünf-Dollarnote. So — nun war sie aber auch völlig blank ... Gut, daß sie im Hause Freimann Quartier hatte ...

Und dann kicherte sie heimlich auf: Jetzt mußte der dicke Bobbie ihren Gabenkorb bekommen haben — der arme Bobbie[S. 199] in seinem einsamen Junggesellenstübchen — zwischen seinen langweiligen Schiffsmodellen und Kartenstößen ... Ob er sich's wohl schmecken ließ? All die erlesenen Dinge, die sie zusammengepackt? Und ob er wohl einmal dabei an sie denken würde?! Ach nein — er dachte gewiß an die schlanke Ilse — die soviel vornehmer war, soviel interessanter, soviel klüger ... Und der kleinen Bessie Busen hob sich in einem melancholischen Seufzer ...

Ach was — an die Arbeit ... Ilse hatte recht, ein Esel war er, ein recht dicker, langohriger Esel ...

An die Arbeit! Wie hübsch der schmutzige, kahle Saal doch geworden war unter den schmückenden Mädchenhänden! Es war doch gut, daß sie Ilse eingeladen hatte — die würde staunen — und sich vielleicht doch ein wenig schämen, daß sie sich so wenig um Elias Pattersons verlassenes Töchterchen gekümmert hatte.

So ... fertig ... Wenn jetzt nur die Freunde kämen ... Antje und ihre zwei jungen Männer, die sich so nützlich gemacht hatten in den Tagen der Vorbereitung ... Der hübsche Anders — dessen Seele einmal Bessies Schutzengel hatte beherbergen dürfen — und der wunderliche Kauz, dessen arbeitsharte Fäuste doch so schön gespielt hatten auf dem scheußlichen, klapprigen Pianino da hinten in der Ecke ... Wie drollig er sich ausnehmen würde im Kostüm des Weihnachtsmannes, das nebenan im Kämmerchen ausgebreitet lag — samt allem Zubehör: dem langen weißen Umhängebart — dem Sack mit Äpfeln und Nüssen — und der Rute für die unartigen Kinder ...

Horch — welch wunderschönes Getön da draußen?! Bessie stieß das Fenster auf, um zu lauschen. Freilich still war's heute in den finsteren Höfen ... hinter den schneeüberlagerten Fensterborden der schwarzen Hausfronten, die das Geviert umstanden, blinkten überall die Kerzenbäume — und droben, wo[S. 200] die Hauswände mit schwarzem Strich zu Ende gingen, ein Stück stahlblauen Nachthimmels, mit tausend funkelnden Sternen beflittert ...

Aber über all das schwang sich ein mächtiges Getön — noch nie meinte die Tochter in der tosenden Millionenstadt der Wolkenkratzer und autodurchrasten Avenuen solch wunderbare Musik vernommen zu haben. Glocken — Kirchenglocken — aber wie viele — wie unmenschlich viele!

Sie konnte nicht wissen, die kleine Genießerin aus dem Goldlande, daß es kaum noch die Hälfte von den Glocken waren, die in dieser Stadt um diese Stunde dereinst, vor dem Kriege, das Christfest eingeläutet hatten — daß mehr als die Hälfte von jenen heute, in hunderttausend Fetzen zerrissen, eingebettet in der Erde der Schlachtfelder dreier Erdteile lag, in den Tiefen dreier Ozeane ... inmitten der modernden Leiber wackrer Soldaten aus allen Kontinenten des wahnsinnig gewordenen Erdballs ...

Die übriggeblieben waren — ihr vereinter Schall war immer noch machtvoll genug, das Herz der hergewehten Lauscherin mit nie geahnten Schauern zu füllen. Zumal von der Straßenseite her das gewaltige Geläut der Michaeliskirche die Lüfte durchbrauste ... Der Amerikanerin war es, sie hörte die Stimme dieses wundersamen, geheimnisvollen, rätselschweren Landes — dieses Landes, das sie drüben das Hunnenland nannten — und in dem sie nichts als gütige, schnurrige, traurig-selige, stolze, klingende Menschen gefunden hatte ...

Wahrlich, wenn irgendwo die Lehre des Kindes von Bethlehem in den Herzen eine Stätte gefunden hatte, dann war es hier — und nicht im Lande der Bethlehem Steel Company ...

O holdes Wunder, das im Liede dieser Glocken schwang — o Seele, Mädchenseele, erschauernd in nie geahntem Glück der Verbundenheit — des Einklangs mit Erdseele, Menschenseele, Weltseele ...

[S. 201]

Doch — da waren die Freunde ... Wie sie staunten, die beiden guten Jungen — die hatten wohl nie so etwas Schönes gesehen alle zwei ... Ganz ergriffen standen sie und starrten auf den Glanz dieses reichen Festes, als sei es ihnen selber zugerichtet ... mit rechten Kinderaugen staunten sie, die zwei guten Jungen ...

»So, Antje!« befahl die Festgeberin, »nun werden Sie helfen zu Ihr guter Freund Mister Clas anziehen sein Kostüm ... Und Sie, Mister Anders, Sie werden gehen mit mir auf die Straße zu suchen unsere kleine Gäste. In halb eine Stunde, ich hoffe so, wir werden haben zusammen unsre dreißig. Aber gut achtgeben, Mister Anders, daß sie sind richtig sortiert ... fünfzehn Jungen, fünfzehn Mädchen, sonst gibt's confusion

Und Clas und Antje waren allein. Das Mädchen half unter Kichern und Prusten ihrem Getreuen die grauwollenen Pluderhosen über seinen Sonntagsanzug ziehen, den mit weißem Krimmer verbrämten langschößigen Kittel, die hohe schwarze Pelzmütze, an der ein paar lange weiße Locken angenäht waren ... Zuletzt hing sie ihm noch den ehrwürdigen Bart um — klatschte dann jubelnd in die Hände: Der Weihnachtsmann war fertig, wie aus dem Bilderbuch herausgeschnitten! Ein Spiegel hing im Kämmerchen, blind, verstaubt:

»Kieken S' mol, Clos, wat vör'n nüdlichen Wihnachtsmann wi ut Sei mokt hebbt!«

Der gute Junge sah sich an und kannte sich nicht. Nur ein schmerzliches Gefühl von Unsicherheit und Befangenheit überkam ihn bei dem Anblick, bei des Mädchens Fröhlichkeit. Er konnte den Entsagungsblick nicht vergessen, den Seufzer nicht, der ihre volle Brust gehoben hatte, als sie und Anders einander beschenkt hatten. Er begriff nur schwer, was in den beiden vorgegangen war in jenem Augenblick ... Nur das eine fühlte er: und ob sie jetzt lachte und in die Hände klatschte wie ein Schulkind — sie litt ...

[S. 202]

Er wandte sich ab — es stieg ihm feucht in die Augen. Er nahm seinen Sack und seine Rute und stapfte in den Saal zurück. Das alte zerschrammte Pianino zog ihn wieder magisch an, wie schon einmal heut am Tage, als er einen Stoß Pakete abgeladen hatte, welche die Fremde ihm bei Tietz aufgehalst ... Und er saß, hauchte in die frostverklammten Finger, die vom ewigen Ticktack, vom eisigen Dezembersturm immer ungelenker wurden — und schlug die Tasten an:

»O du fröhliche,
o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit ...«

Auf einmal konnte er nicht mehr weiter. Es warf ihn um. Seine Finger glitten von den Tasten — über den weißen Bart kollerten aus des Jünglings wasserhellen Nordlandsaugen die blanken Tränen ...

»Wat hebbt Sei, Clos?«

»Och ... Antje ... ick bün so unglücklich ... En Musiker harr' ick warden mücht ... un ick weet, ick harr't warden künnt ... öwerst mien Vadder weur man 'n Arbeitsmann, as ick nu ok een bün ... ick heff mien Klavierstünn' opgeben ... öwerst ick heff ümmer flietig speelt — un Sei weeten jo ok, Antje, dat ick schön spälen kann — öwerst nu warden mien Finger ümmer stiewer und stiewer ... un bald ward dat woll ganz all sien mit dat Klavierspeelen ...«

Umsonst versuchte Antje den lieben Jungen zu trösten. Sie hatte es ja selbst bemerkt, wie sein Spiel nachließ ... Proletarierlos ...

Sie trat von hinten an den Freund heran und streichelte ihm ganz lind und leise die nasse Wange überm flächsernen Umhängebart. Da sank das Haupt des armen Weihnachtsmannes an Antjes hochatmende Brust — seine glühenden[S. 203] Schläfen fühlten das heiße Klopfen des starken, ringenden Mädchenherzens.

»Antje!« stammelte Clas und suchte der Freundin schlanke Damenhände zu fassen. »Antje ... mit düssen Anders, dat ward jo doch nix ... ick weit nich, wat dat is mit den Jungen ... öwerst ick gleuw — ick gleuw ... Antje ... ick heff Sei so bannig giern ...«

Da löste die Schlanke sich ganz langsam von Haupt und Händen des Mannes.

»Mien lewe Fründ!« sagte sie leise und innig, »mien lewe Fründ ...«

»Antje ... und dat wier ganz unmögelich, dat Sei ... ick weit, Sei sünd tau gaud vör mi ... öwerst ick heff Sei so giern, so bannig giern ...«

»Still, still, mien gauden Clos ... ick kann't nich ... ick kann't nich ...«


»Sie kommen!« rief Antje. Auf dem Hofe scholl das Geschwirr halblauter Kinderstimmen, von Andacht und bang hoffender Spannung gedämpft ...

»Schnell, Clas, Lichter anzünden!«

Bald flammte der Baum im Wunderglanze der seligen Nacht.

Und — da kamen sie. Die Tür flog auf, Bessie trat ein, so stolz, frostfrisch und süß wie eine kleine Märchenfee — sie trat zur Rechten — und zur Linken ihr Gefährte, kaum fähig, seine Erschütterung zu meistern.

Und nun trappsten und trippelten sie herein — auf ihren zerschlissenen, geflickten Nagelschuhen — ach, es waren gar ein paar Barfüßer dabei — die Kinder des Elends ... In jedem dieser fahlen, verquollenen, schrundigen, oft von Narben und Schorf überkrusteten Gesichter stand eine Geschichte ... das Schicksal einer Blüte, die der Frost gelähmt, der Wurm[S. 204] zernagt, der Sturm zerpflückt, die Dürre verödet ... In den meisten noch ein Rest des großen Kinderstaunens über den Irrsinn des Leidenmüssens — in vielen aber auch schon die Gerissenheit und Verschmitztheit des gehetzten Getiers, in dem und jenem gar schon das Notmal frühreifen Lasters, ererbten, verfrühten Erwachens des Bewußtseins des zu selbstverständlicher Hantierung gewordenen Verbrechertums ...

Und doch allen gemeinsam in diesem Augenblick ein verklärender Zug von Glückseligkeit — die alle hatten dieser Weihnachtszeit entgegengehungert ohne Hoffnung auf einen Lichterbaum, einen freundlichen Willkomm, eine schenkende Hand, eine noch so bescheidene Gabe — bei keiner Wohltätigkeitsorganisation waren sie angemeldet, keine mildtätige Familie hatte sie für diesen Abend in den Frieden ihres Hauses geladen — sie waren allesamt Freiwild, Nachwuchs der Fäulnisschicht, die in der untersten Schlammtiefe der Großstadt wuchert, prädestiniert zu einstigen Insassen der Obdachlosenasyle, der Bordelle, der Zuchthäuser, der Irrenanstalten.

Und nun war ihnen doch einmal, ach vielleicht nur dies eine Mal, das große Kindheitswunder erschienen ... In ihr dumpfes, verpestetes, verdammtes Leben fiel ein Strahl des ewigen Gnadenlichts ...

Man sah's ihnen an: keines begriff, was eigentlich mit ihm geschah ... Sie ahnten nicht, was die Person mit dem feinen Pelzrock und den blanken Stiefelchen von ihnen wollte — wie sie dazu kam, einen Haufen fremder Kinder von der Straße aufzulesen und mit sich zu schleppen ... Und wie kam es, daß sie sich als Helfer einen jungen Kerl von ihrer Sorte ausgesucht hatte — einen Arbeitsmann und ehemaligen Matrosen?! Und da war ja noch eine Dame, nicht so fein wie die Kleine — Dunnerslag! Dies und jenes aus der Neustadt kannte sie sogar: Das war ja Vadder Tietgens seine Antje aus der Uhlen-Twiete, die bei der H. T. L. tippen ging!

[S. 205]

Aber nun geschah etwas ganz Ungeheuerliches, Unheimliches und doch eigentlich Wunderschönes: Da stand ja unter dem Lichterbaum auf einmal — so'n alter Kerl, wie sie wohl in den großen Ladenschaufenstern standen, aber ausgestopft — und das war ein lebendiger — zwar die scharfen Augen der Wildlinge sahen sofort: Es war gar kein wirklicher alter Mann, er hatte ein frisches, rotes Jugendgesicht, und der lange, ehrwürdige, schneeweise Bart, den er trug, der war aus Wolle, und er hatte sich ihn nur umgehängt zum Spaß ... aber das war ja gerade das Schöne, daß es man Spaß war ...

Ach — und nun ging der Weihnachtsmann ans Klavier und fing an zu spielen ...

Und die dreißig Kindermünder sangen froh und tapfer und grell und selig mit, als nun die alte Weise klang — die wunderliebe deutsche Weise von der stillen, der heiligen Nacht.


Die drang durch die Fensterscheiben in die schluchtenge, flockendurchstiebte Gasse hinaus, in die nun draußen, drunten die gleißenden Lichtkegel eines Automobils fielen. Und aus dem Wagen tastete sich eine schlanke, pelzbehandschuhte Hand, schob sich ein feiner Mädchenfuß ... Mit leichtem Gruseln stand Ilse Carstensen im schmutzigen, schlüpfrigen Schnee.

Und da schrak sie plötzlich heftig zusammen: Aus der Dämmerung, welche der matte Widerschein der Wagenlampen außerhalb ihres scharfumgrenzten Bereichs schuf, stierten ein Paar Augen sie an, unstet flackernd, heißhungrig wie die Lichter eines Wildkaters ...

Mit hastigen Schritten floh Ilse da die Stiege zur Wirtshaustür hinan ... Und nun klang ihr das Lied von droben entgegen:

»Christ, der Retter ist da —
Christ, der Retter ist da ...«

[S. 206]

Das rüttelte an ihres Herzens Pforten, die sie daheim im Elternhause gewaltsam hatte zusperren müssen, damit die liebsten Menschen nicht sähen, was sie doch nicht sehen durften — ihres einsamen Herzens hilflos zitternde Not ... Nun sprangen die Riegel, wehrlos, unverteidigt ergab sich des Mädchens verlassene, verlorene Seele der Gnadenbotschaft aus der Höhe.

Sie klinkte die Saaltür auf, hinter der soeben die letzten Klaviernachklänge verschwebten — und stand geblendet im verschwenderischen Lichte des Tannenbaums, den die Hand einer Glücklichen aus glücklichem Lande für die Ärmsten des ärmsten aller Völker geschmückt hatte. Und Ilse sah ... sie sah das Bild aufatmenden Kinderglücks, das, ungläubig immer noch und endlich doch begreifend, unfaßbarer Schätze sich bemächtigt ... Sie sah das lachende, gebeselige Gesicht ihrer exzentrischen kleinen Freundin, in deren Augen sich die Neugier der schauensfrohen Globetrotterin mit dem reinen Herzensgold der Güte so lieblich mischte — und sie sah, wie nun der Weihnachtsmann vom Klavier her an der Festgeberin Seite trat und sie ihm dankbar und bewundernd die Hand schüttelte. Aber da war ja auch noch ein anderes Paar — sieh da — Fräulein Tietgens, ihres Schwiegervaters Sekretärin — mit der die kleine Patterson sich ja, Ilse wußte es, in ihrer unterstrichenen Popularitätssucht so demonstrativ angefreundet hatte ...

Auch sie war um die Kinder bemüht, half ihnen bewundern und packen — aber dabei lächelte sie mit weich-wehmütigem Schwesterblick einem jungen Manne in Matrosenkleidern zu, welcher, der Tür den Rücken kehrend, mit der Sekretärin plauderte.

Wirklich ein feines, eigenes Geschöpf, dieses Fräulein Tietgens — sah wahrhaftig wie eine Dame aus — und war doch, wenn man sich recht erinnerte, aus ganz kleinen Verhältnissen ... Und der junge Mann, mit dem sie im Wechsel mit[S. 207] ihren Unterweisungen auf die tausend Fragen der immer mehr auftauenden Beschenkten so eifrig und hingegeben plauderte — das wird wohl so etwas wie ein Schatz sein ... merkwürdiges Paar, die sorgfältig, fast elegant gekleidete junge Person — und der Matrose mit dem kahlgeschorenen Kopfe ...

Nun drehte der Seemann sich um, ein tiefgebräuntes Gesicht mit braunem Schnurrbärtchen neigte sich zu einem der Buben nieder, ein Paar arbeitsderbe Fäuste griffen zu, um dem Knaben beim Verstauen seiner Schätze behilflich zu sein — jetzt hob der Kopf sich ein wenig — —

Ilse fühlte etwas wie einen Stoß gegen ihr Herz. Ihre Augen brannten, in ihrer Kehle stieg ein Schluchzen empor ... das keinen Ausweg fand —

Und wieder wandte er — er! — wandte sich wieder an dieses Fräulein Tietgens, und Scherzworte flogen hin und her — es lächelte der weich-wehmütige Schwesterblick ... in tiefem Verstehen strahlten die zwei jungen Menschen einander an, in ihren Augen war der Abglanz des Lichterbaumes, die Weihe des Liebeswerkes, in dessen Dienste sie sich regten, die reine Flamme der Menschengüte.

Sie — sie ist gut zu ihm — sie darf um ihn sein, ihm helfen, mit ihm Gutes tun an den Ärmsten — und ich — —

Also hier — hier ist er — hierhin hat er sich geflüchtet aus der Welt der Geschäfte und Fusionen, der Kontore und Werften, der Helgen und Docks, des Trotzes und Ehrgeizes, des Ringens um Besitz und Macht —?!

In Ilses Wesen löste sich etwas — etwas Starres und Stählernes — etwas Stolzes und Steifes — löste sich, fiel ab wie Schale, wie Schlacke — und aus befreiter Tiefe quoll's auf, eine Fülle ward entbunden, eine Helligkeit brach hervor, eine lang gebundene Musik ward Harfen- und Schalmeienjubel — ein Mensch ward sich seiner Menschlichkeit bewußt.

Und jetzt — jetzt richtete der junge Mann im Matrosenkittel[S. 208] sich vollends auf, sein Antlitz, geheimnisvoll angezogen, wandte sich zur Tür — — und da sanken seine Arme am Leib herab — und auch in seine Augen kam jählings das gleiche kinderselige Staunen, wie es auf den dreißig Angesichtern der freudelachenden Beschenkten stand.

Und Blick senkte sich in Blick.

Du bist's — du — — hier find' ich dich — hier bist du —! staunte Ilses Auge. Unter den Ärmsten der Armen — im Kleide der Schlichten ... hingegeben dem Werk der schenkenden Güte — —

Verstehst du mich? fragten des Geliebten Blicke zurück.

Nein — ich versteh' dich nicht — aber ich glaube — — ich — ahne dich ... und mir ist, als säh' ich dich heut erst, wie du bist ... begriff' erst heute, wer du bist ...

Eine Sekunde nur hielten die Augen der Liebenden einander fest — schimmernd im Glanz der Weihnachtslichter grüßten ihre Seelen sich über den Abgrund hinüber, den Heinz zwischen sich und seine Welt gelegt ...

Aber diese eine Sekunde gab tiefstes Verstehen — dieser kurze Blicketausch war letztes Erkennen — ein Liebesgeständnis ... ein neues Verlöbnis. Erlösende, beseligende Zwiesprache der Herzen — inmitten des Schwarms, der sich um die Gabentische drängte — heiligstes Geheimnis dieser heiligen Nacht — —

Und schon war Heinz wieder Anders Niemann geworden — mit einem Ruck zurückverwandelt ...

Denn hinter Ilse Carstensens Lichtgestalt war im Rahmen ein Schatten aufgetaucht — ein Gespenst aus der Tiefe ... inmitten des Liebesfestes ein Dämon des Hasses ...

Nur einen Moment — und schon war er verschwunden — geblendet, hinweggescheucht vom Glanz der heiligen Stunde.


[S. 209]

Viertes Buch


1

Ein verschlissenes Plüschsofa, davor ein fleckiges Marmortischchen in der dumpfen, dunklen Nische eines winzigen, kleinbürgerlichen Cafés der Steinweg-Passage zwischen Altem Steinweg und Wexstraße — das war seit Weihnachten für Heinz und Ilse das Asyl ... Hier wußte niemand, wer das elegante, schlanke Mädchen war, das sich mit einem Matrosen traf — niemand kümmerte sich darum. Hier hatten die Verlobten einander gefunden. Ilse begriff nun alles — verstand des Freundes Suchen und Sehnen — wußte, was er da unten erhofft und gefunden, kannte seine Erlebnisse, seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen ...

Draußen fegten die Sprühschauer und Sturmböen des Vorfrühlings um die berußten Ziegelfronten der Neustadt — aber durch die jagenden Wolken fiel bisweilen doch auch schon ein Strahl der belebenden Märzsonne. Unter das Glasdach der stickigen Passage, in die muffige Enge dieses spießigen Kaffee- und Kuchenverschleißes brach kein Sonnenblick, wehte kein Lenzhauch. Aber die zwei Menschen, die in der Frühnachmittagsstunde dieses Sonntags die einzigen Gäste waren, die hatten ihren Frühling mitgebracht. Sie saßen Hand in Hand, und ihre Worte, ihre Gedanken jagten sich wie draußen Wind und Wolken, und durcheinander wirbelten Bangigkeit und Hoffnung, Sorge und Zuversicht.

»Wie schön du dich heute gemacht hast!« strahlte Heinz. »Für mich armselige Blaujacke schwerlich — also beichte, für wen?«

[S. 210]

»Selbstverständlich nicht für dich!« lachte Ilse. »Für ganz wichtige Leute! Um drei Uhr legt an St. Pauli Landungsbrücke die ›Union‹ an — das erste Schiff, das unter der Flagge der United Transatlantic Lines Hamburg anläuft! Alle diese Pracht ist für die von drüben!«

»Ein großer Tag für meinen Vater!« sagte Heinz versonnen.

»Für uns nicht minder! Für unser ganzes Vaterland!« sagte Senator Carstensens fleißige Sekretärin. »Und morgen mittag Stapellauf der ›Deutschland‹ — doch, wir sind ein Stück vorwärts gekommen.«

»Aber,« meinte Heinz bedenklich, »das innerpolitische Thermometer steht wieder einmal auf Sturm. Die Arbeiterschaft ist furchtbar erregt. Man munkelt von einem unmittelbar bevorstehenden Rechtsputsch — die Republik sei in Gefahr.«

»Es scheint etwas daran zu sein«, gab Ilse zu. »Auch in unserem Bureau und bei der H. T. L. sind Informationen eingelaufen, daß irgend etwas bevorstehe wie ein Unternehmen zur Wiederherstellung der alten Ordnung ... Also die Stimmung in ›euren‹ Kreisen ist bedrohlich?«

»Sehr ... es wäre höchst fatal, käme die Sache gerade jetzt zum Ausbruch ... Also hör': Mein Schlafkamerad Tedje Tietgens ist wieder sehr tätig. Sollte wirklich ein gegenrevolutionäres Unternehmen in diesen Tagen zum Klappen kommen, dann sind Rückwirkungen auf die Hamburger Arbeiterschaft unvermeidlich — dann kracht's auch hier, und ganz besonders auf unserer Werft!«

»Das wäre fürchterlich ...« sagte Ilse unruhig. »Ach, Heinz, wie bang' ich mich um dich ... Vor diesem Tietgens hab' ich eine entsetzliche Angst ... Du weißt ja, der unheimliche Kerl lauert mir seit Monaten bei jeder Gelegenheit auf ... Vor ein paar Tagen, ich muß es dir sagen, ist mir sogar etwas ganz Entsetzliches passiert ...«

[S. 211]

Und glühend vor Scham und Empörung erzählte sie dem Freunde, daß der Arbeiter sich erfrecht habe, sie in der Dämmerung anzusprechen. Er müsse sie einmal mit Heinz zusammen beobachtet haben ... denn er habe gesagt »Fräulein, wenn mein Kamerad Anders Niemann die Ehre hat, mit Ihnen spazierenzugehen, dann ist es vielleicht erlaubt zu fragen, ob auch unsereins einmal so frei sein darf ...«

»Unverschämtheit!« zischte Heinz. »Das ist allerdings schlimm ... Ich habe schon seit ein paar Wochen das Gefühl: er ist nicht mehr wie sonst ... er hält sich zurück, belauert mich ... Nun — und was wurde weiter? Was sagtest du, tatest du?«

»Alles ist gnädig abgelaufen«, erzählte Ilse, noch fiebernd in der Erinnerung. »Der Bursche hatte mich kaum angesprochen, da trat ein hochgewachsener Herr dazwischen und schrie deinen Freund an, er solle mich in Frieden lassen, ich sei die Tochter des Senators Carstensen ... es war ein Leutnant Timmermanns — der Bruder unseres Generaldirektors ...«

»Ah — deines stillen Verehrers!«

»Ach — der ist mir längst abtrünnig geworden!« lachte Ilse ein wenig befangen. »Er zappelt gewiß in diesem Augenblicke vor Ungeduld, bis die ›Union‹ anläuft ... Ich habe ihn an Amerika verloren ...«

»Sein Glück!« gab Heinz das Lächeln zurück und drohte mit dem Finger. »Nun — und wie ging's aus?«

»Es hätte nicht viel gefehlt und Leutnant und Arbeiter wären um meinetwillen handgemein geworden. Aber Herr Timmermanns war zum Glück nicht allein ... Ein paar sehr stattliche junge Herren, die in seiner Gesellschaft gewesen waren, erschienen als Verstärkung — da ist der böse Tedje schleunigst verduftet. Aber dieser entsetzliche Abschiedsblick — mir gruselt noch, wenn ich daran denke ... ekelhaft ...« Ihre Schultern fröstelten — unwillkürlich zog sie den Blaufuchskragen[S. 212] am Hals zusammen. »Heinz — und du mit solchen Kerlen seit einem Jahr unter einem Dach, in einer Kammer zusammen — wie du das nur erträgst ... Wenn ich nachts schlaflos liege — du ahnst nicht, wie oft ich's tu um deinetwillen — mich ängstigen entsetzliche Bilder ... hast du denn wenigstens das Gefühl, daß deine ganze wunderliche Unternehmung ihren Zweck erreicht?«

»Das hat sie längst getan, Ilse — und ich denke, es ist nun genug. Ich warte jetzt nur noch den Stapellauf der ›Deutschland‹ ab — dann werde ich wieder Heinz Freimann — und Anders Niemann wird Episode gewesen sein ...«

»Heinz — ist's wahr?!« Die Braut umschlang den Verlobten und küßte ihn. Aber ihre Hände und Lippen zitterten. »Und dann, Heinz, und dann?«

»Dann werden meine Erfahrungen ›ausgewertet‹, wie wir im Kriege sagten. Das ist ein langes Kapitel ...«

»Erzähl' mir, Heinz — erzähl' mir ... Ich will doch einmal deine Gehilfin werden, deine Mitarbeiterin — noch in einem ganz anderen Sinne als jetzt bei Vater ...«

»Wo soll ich nun anfangen, Ilse, um dir das klarzulegen, was ich gelernt hab'? Ich kenne nun — oder bilde mir's wenigstens ein — ich kenne das große Rätselding: die Arbeiterseele.«

»Gibt's das denn überhaupt?« fragte Ilse. »Ich lebe doch nun seit vier Jahren inmitten unserer Arbeiterschaft — von Seele habe ich wenig gespürt, möglichst viel Lohn und möglichst wenig dafür leisten müssen — da hast du die Arbeiterseele!«

»Ilse! Jetzt sprichst du Harvestehudisch und nicht Deutsch!« zürnte Heinz.

»Ach nein — die sind unersättlich, die!« eiferte die Patriziertochter. »Was hat das Kaiserreich nicht alles für sie getan![S. 213] Bedenk doch nur — unsere vorbildliche Arbeiterschutzgesetzgebung!«

»— die kein großes Kulturvolk uns nachgemacht hat — sollte das nicht zu denken geben?! Frag' mal unsere Ärzte, unsere Juristen, unsere Sozialpsychologen! Da wirst du seltsame Dinge zu hören bekommen: Rassenverschlechterung trotz der Hygiene ... Untergrabung des Verantwortlichkeitsgefühls, des Spartriebes, des Familiensinnes — Züchtigung der Rentenpsychose und des Simulantentums — — Und was das schlimmste ist: das Volk fühlt halb unbewußt, daß diese Fürsorge nur seinem leiblichen Wohl gilt — nur bestimmt ist, seinen Wert als Produktionsfaktor vor allzu schneller Abnutzung zu bewahren ... Wer aber hat die wahre, die seelische Aufgabe erkannt, die das riesige Anwachsen des Industrieproletariats unserer Zeit gestellt hat? Wer hat es unternommen, dem Manne an der Maschine einen — Lebensinhalt zu geben? Sein Dasein einzuordnen in den inneren Entwicklungsgang der Nation? Wer hat sich den Mächten entgegengestemmt, die es seinem Volkstum entfremdeten — es zum Internationalismus erzogen?! Wer hat den Arbeiter gelehrt, sich als Deutschen zu fühlen?«

»Und das — das willst du —?!«

»Ich will's — solange kein anderer es tut — kein anderer als vielleicht der Feind — durch das Übermaß seiner Bedrückung! Diese Fragen sind die wichtigsten von allen großen Menschheitsfragen unserer Tage. Entweder wir lösen sie, oder unser Volkstum, unsere Kultur, unsere ganze Welt versinkt in der roten Flut.«

»Also was willst du tun?«

»Ich gehe nach Berlin. Ich fordere eine Reform des Volksschulunterrichts auf nationaler und sozialer Grundlage. Ich werde meine Erfahrungen allen Männern der Zeit unterbreiten,[S. 214] die irgendwelchen Einfluß auf die Geschicke unseres Vaterlandes haben oder verdienen. Ich werde schreiben, ich werde schreien, wenn's sein muß: Hier ist eine ungeheure Not — Millionen der Menschen, die unsere Sprache sprechen, die unseres Blutes sind, schmachten in hoffnungsloser seelischer Verzweiflung. Oh, ich weiß noch gar nicht, was ich alles tun werde. Ich weiß nur das eine: Hier muß geholfen werden. Ich verstehe ja jetzt auf einmal alles — ich begreife, warum wir den Krieg verloren haben. Darum, weil wir innerlich noch gar kein Volk waren, als die große Prüfung über uns kam.«

»Und euer berühmter Geist von 1914?«

»Ein schöner Traum — eine Vorahnung nur von — etwas, das einmal kommen muß ... Ein Ergebnis der eisernen Friedensdisziplin unseres Heeres — nicht eines tief inneren Zusammengehörigkeitsgefühls unseres ganzen Volkes ... Das furchtbare Erwachen ist gekommen — langsam, unabwendlich. Im Graus der Schlachten zerschmolz mit dem geschulten Heere der Geist des 1. August ... Wir mußten auffüllen ... aus den Massen, die der Friedensdrill nicht erfaßt hatte — die außerhalb der Volksverbundenheit geblieben waren. Das hat sich in Kürze nicht ausgleichen lassen — man hat's auch nur sehr unvollkommen versucht. So — ist's gekommen.«

»Und — was soll werden?« fragte Ilse.

»Hand ans Werk! Der Proletarier muß erkennen lernen, daß auch er ein Deutscher ist. Daß wir zusammengehören — über den Klüften der Bildung, des Besitzes, der Bekenntnisse, der politischen Überzeugungen. Dies und nichts anderes will die deutsche Stunde, die deutsche Not. Das alles habe ich inmitten meiner neuen Freunde erlebt und erkannt — das will ich den Deutschen sagen, das müssen sie begreifen lernen — dieser Gedanke, diese Erkenntnis muß die Grundlage alles unseres zukünftigen Denkens werden. Nicht mit Arbeiterschutzgesetzen,[S. 215] nicht mit Lohnerhöhungen, nicht mit Sozialisierung der Betriebe, nicht mit der Diktatur des Proletariats — aber auch nicht mit Wiederherstellung der alten Ordnung, nicht mit der Wiedereinführung des ›Herr-im-Hause-Standpunktes‹ ist uns geholfen ... unser ganzes nationales Leben muß umgestaltet werden, aufgebaut auf dem einen Grundgedanken der Erziehung aller Deutschen zur Volksgemeinschaft!«

»Ach, Heinz,« klagte Ilse, »die Volksgemeinschaft — ist das nicht auch nur ein Wort, eine Theorie — eine Phrase?!«

»Es ist ein Wort — eine Phrase ist es nicht«, sagte Heinz mit stolzem Ernst. »Es ist — das Wort.«

»Welch eine Riesenarbeit nimmst du auf deine Schultern!«

»Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, sie zu tragen. Aber darauf kommt es auch gar nicht an — dazu bedarf es aller Kräfte der Nation. Die Hauptsache ist, daß diese Aufgabe zunächst einmal erkannt wird. Ich habe sie erkannt — und ein Lump will ich sein, wenn ich nicht alle meine Kräfte daransetze, sie in den Brennpunkt unserer nationalen Arbeit zu rücken! Früher haben wir uns überhoben, jetzt trauen wir uns überhaupt keinen Aufschwung mehr zu ... Aber hör' ein Beispiel: Ein amerikanischer Matrose hat mir's in einer Hafenkneipe erzählt. In jeder Schule in den Vereinigten Staaten, aber auch in jeder, hängt über der Schultafel eines jeden Klassenzimmers ein riesengroßes Sternenbanner. Wenn der kleine Bub oder das Mädchen morgens sein Schulzimmer betritt, stellt es sich zunächst vor die Flagge, legt salutierend die Hand ans Köpfchen und sagt: My flag! Dann kommt der Lehrer, begrüßt die Kinder, und stehend singt die ganze Klasse zuerst das amerikanische Flaggenlied! Das nenne ich nationale Erziehung!«

»Wundervoll! Wundervoll!« rief das Mädchen. »Aber — wer wird die Kraft haben, so etwas in Deutschland einzuführen?[S. 216] Ja — und welche Flagge sollen unsere Schulkinder nun salutieren? Wir haben ja zwei — an der einen hängt unser Herz, unsere heiligsten Erinnerungen — und die andere — die wird uns aufgezwungen ...«

»Ja, es ist eine Trauer,« sagte Heinz, »ein rechtes Gleichnis unserer unausrottbaren deutschen Zerrissenheit. Ich würde vorschlagen: Wenn die schwarz-rot-goldene Flagge einmal durch ein Reichsgesetz eingeführt worden ist, wollen wir sie ehren als ein Symbol unseres einigen, unzerstörbaren Deutschen Reiches. Mit meiner Treue gegen unsere schwarz-weiß-roten Erinnerungen hat das gar nichts zu tun. Nicht auf das Zeichen, auf die Sache kommt es an. Ich bin ein so guter Schwarz-weiß-roter gewesen und geblieben als irgendein Deutscher, ich dächte, das hätte ich bewiesen und beweise das auch heute noch. Aber sobald ein Mehrheitsbeschluß vorliegt, der die neue Flagge einführt, scheint es mir sinnlos, dies neue Gleichnis zu schmähen, das ja übrigens in Wirklichkeit uralt ist. Hinter der schwarz-rot-goldenen Flagge wie hinter der schwarz-weiß-roten sehe ich, ehre und liebe ich die gleiche Sache, mein deutsches Vaterland ... Mein deutsches, denn ich habe nur eins. Ich kann mich nicht in einen Hamburger und in einen Deutschen teilen. Und es wäre schön, wenn auch der Preuße und der Bayer und der Lipper sich endlich als Deutsche fühlen wollten und auf das Kokettieren mit einem Spezialpatriotismus verzichten lernten ... Siehst du, das alles sind Bruchstücke der großen neuen Erkenntnis, die das Jahr in der Tiefe mir gebracht hat ... das alles will ich bekennen vor meinem Volk, bekennen vor meinen Standesgenossen und meinen Kameraden. Nicht rückwärts, vorwärts wollen wir schauen in die deutsche Zukunft!«


[S. 217]

2

An den St. Pauli Landungsbrücken — ein Bild fast wie aus der Friedenszeit ...

Ja, die Stimmung der Hunderte, die wartend harren, noch gespannter, erregter, fast fieberhaft. — — Was einst alltäglich war, nun ist's ein Langersehntes, ein fast schon Mythe Gewordenes.

Ein Riese des Ozeans wird erwartet — ach, es ist kein deutsches Schiff ... das gibt's nicht mehr ... Gibt's — noch nicht wieder ... Wird's aber geben, einmal wird's das wieder geben ... Drüben auf der Hammonia-Werft, auf der vordersten Helling, mit seinem massigen Leib aufragend bis unters Krangerüst, wuchtet der Gigantenleib der künftigen »Deutschland« ... Schon flattert auf der Spitze des Aussichtstürmchens, dessen keckes Stahlskelett in die planvolle Spierenwirrnis des Helgengerüstes eingebaut ist, das schwarz-rot-goldene Banner des neuen Reiches — — morgen wird das stolze Schiff vom Stapel laufen.

Und was heute kommt, ist fast so etwas Ähnliches wie ein deutsches Schiff ... Die »Union« der Blue Star Line wird heut zum ersten Male unter der Flagge der United Transatlantic Lines von Neuyork her Hamburg anlaufen — dieser Linie, die trotz ihres englischen Namens das erste Zeugnis deutsch-amerikanischer Verständigung ist ... ein erstes tröstliches Zeichen des Wiederaufbaues der Weltwirtschaft — nach der allverschlingenden Sintflut die Taube mit dem Ölzweig ...

Am Heck wird sie das Sternenbanner führen, am Top aber die weiße Fahne mit den Buchstaben »U. T. L.« — dem Symbol erster Wiederbesinnung der wahnzerrissenen Menschheit.

Inmitten der Hunderte, die des großen Ereignisses harrten, stand eine Gruppe von Vertretern der Hansa-Transatlantik-Linie[S. 218] und der Hammonia-Werft. Es galt, den Chef des befreundeten Konzerns zu begrüßen, der heut zum dritten Male von drüben kam, diesmal inmitten eines großen Kreises von Vertretern der Kapitalgruppen, die sich unter seiner Leitung zur Großmacht des Patterson-Konzerns zusammengeschlossen hatten. Alle diese Herren, deren Namen und Bedeutung das Kabel schon längst ihrer Ankunft vorausgesandt, würden kommen, um an das große Einigungswerk der Linie die letzte Hand zu legen — und dem feierlichen Stapellauf der »Deutschland« beizuwohnen, der Zeugnis ablegen sollte, daß die junge Republik die Nachwehen der furchtbarsten Prüfung, die qualvollen Wehen ihres Werdens überwunden habe.

Hatte sie das wirklich?!

Wer das Bild des Hamburger Hafens kannte, wie die wartenden Herren von Linie und Werft es kannten — wer wußte, was sie wußten — der mußte es billig bezweifeln.

Es brodelte wieder einmal mächtig in der Tiefe der Stadt Hamburg — wie es in Deutschlands Tiefen brodelte und schwelte.

Seit heute morgen standen die Arbeiter in der Hephästos-Werft im Streik — und auch auf der Hammonia hatten den ganzen Tag über die Versammlungen einander abgelöst. Es war, als sollte den Amerikanern mit aller Gewalt gleich bei ihrer Ankunft klargemacht werden, daß diesen Deutschen nicht mehr zu trauen, nicht mehr zu helfen sei ...

Schlimmer noch: die Wissenden ahnten, es müsse noch Ärgeres kommen als ein örtlicher großer Ausstand im Hamburger Hafen. Mit den ersten Frühlingslüften war in den Herzen aller derer, die an das neue, an das schwarz-rot-goldene Deutschland nicht glauben wollten, eine jähe Hoffnung aufgekeimt. Der starke Mann, der sich's zutraute, das Rad der deutschen Geschichte um sechs Jahre zurückzudrehen — — er war gefunden.

[S. 219]

Die Männer freilich, welche die Ankunft ihrer Vertragsfreunde von drüben erwarteten, die sahen dieser Entwicklung mit tiefer Beklemmung entgegen. Was gab ihnen dieser fast Namenlose, von dem man munkelte, er plane die rettende Tat des Umsturzes von oben, der Gegenrevolution? Sie kannten ihn nicht, er bedeutete ihnen nichts — was würde er dem Volke bedeuten? Und wenn es wirklich zur Tat kam — würde sie nicht das Signal sein zur Entfesselung eines neuen, schrecklichen Bürgerkrieges — ein neues, vielleicht das letzte Glied in der Kette, die Deutschland immer noch von der Völkerwelt abschloß, um es nun vollends zu erwürgen?!

Es waren keine hoffnungsfreudigen Gespräche, welche der alte Detlev Carstensen, schneeweiß und altersgebeugt, und Georg Freimann, gefurchten Antlitzes, doch stramm und zusammengerissen, mit ihren Mitarbeitern tauschten.

Ein wenig abseits standen zwei von den Frauen, die dem großen Ereignis dieses frühlingumwitterten Märznachmittages am nächsten standen: Frau Johanna — und Bessie.

Mutter Johanna war verjüngt, aufgeblüht, kaum wiederzuerkennen. Ihr hatten die zwei Freundinnen, mit Heinzens Erlaubnis, schon am ersten Weihnachtstage das große Geheimnis anvertrauen dürfen:

Heinz ist gefunden!

Oh, nun war alles gut, alles gut. Der fromme Mutterglaube hatte nicht getrogen ... Er ging seinen Weg, er wußte sein Ziel. Noch hielt ihn die Aufgabe, die er selber sich gestellt, in der Tiefe fest, in die er freiwillig hinabgetaucht ... Wer ein Führer des Volkes werden wollte, der mußte es vor allem kennen bis in seinen moorigen Bodensatz hinunter. Aber einst — doch gewiß bald — da würde er wiederkehren — um den Seinen Kunde zu geben, was er da unten erlebt — und vielleicht den rettenden Gedanken ins Licht zu heben, die große Versöhnungstat — die aus allen Deutschen Brüder[S. 220] machen sollte — aus den sechzig Millionen in Wahrheit endlich nach tausendjährigem Irren — ein Reich — ein Volk.

So träumte Mutter Johanna ...

»Wo nur Ilse bleibt?« zürnte die ungeduldige Bessie. »Ich wette, sie trifft sich einmal wieder mit ihrem Matrosen ... Ach, wer's auch so gut hätte ...«

Die achtzehnjährige Brust hob sich in einem tiefen Seufzer. Bobbie — du dummer Klotz ... Bangst dich immer noch um deine Ilse — willst es nicht glauben, daß du bei der verspielt hast ... ahnst nicht, daß ein kleines Mädel aus weiter Ferne dich hunnisches Rauhbein gar zu gern in einen Gentleman von neuestem Neuyorker Schick umdressieren möchte ...

»Wehe aber, wenn sie zu spät kommt zur Ankunft ...«

Nein — sie würde nicht zu spät kommen. Eben tauchte sie auf — ganz frühlingsmäßig zum Empfang geputzt.

Ach — es war ihr schlecht bekommen, das Wagnis, an diesem Sonntage, da es wieder einmal kriselte in der Welt des Hamburger Hafens, in der Tracht der Glücklichen ohne Geleit einen Gang durch die schlimmen Viertel zu machen. Sie glühte vor Erregung, ihre stolzen Züge waren fast zum Weinen verzogen ... Es hatte abscheuliche Rufe, Schimpfworte, Drohungen gehagelt um ihren hastigen Wandel ... Wenig hätte gefehlt, und die erbosten Weiber aus den Hafenstraßen hätten ihr das seidene Jäckchen in Fetzen gerissen ...

Aber nun, zwischen der erschrockenen Schwiegermutter und der scheltenden Freundin, schüttelte sie Schreck und Scham ab.

»Mama — Bessie — ich hab' ihn gesprochen ... übermorgen kehrt er heim ... Nur noch den Stapellauf der ›Deutschland‹ will er abwarten — dann, meint er, sei's genug — dann macht er Schluß mit Anders Niemann — und will wieder unser sein ...«

Ein Jubelruf auf Mutterlippen ... fast hätte Mutter Johanna[S. 221] die Braut umarmt ... Aber nein — Hamburg ist Hamburg, man weiß sich zu beherrschen, wenn andere zuschauen.

»Und dann? Und dann, Ilse?«

»Er hat große Pläne ... Er will nach Berlin, will im Kultusministerium berichten ... hat allerhand Vorschläge für eine Reform des Unterrichtswesens auf nationaler Grundlage ... freilich — es will mir kaum über die Lippen — unter Anerkennung der Republik — er, des Kaisers Offizier ...«

Da rümpfte auch Johanna die Nase. Das war ja kaum möglich ... Nun, man würde ja hören ... Wenn er nur wiederkam — alles andere würde sich finden — diesmal sollte er nicht mehr klagen dürfen, sein Elternhaus sei ihm nicht Heimat mehr ...

»Puh!« lachte Bessie, »was ihr zwei für Gesichter macht, wenn ihr von eurer Republik sprecht ... Sie beißt nicht, die Republik ... Daddy und ich sind auch Republikaner, sogar geborene ... gebt mir acht, ihr werdet's auch ... Oh, ich werde sehr gut sein mit Mister Heinz, wenn er ein Republikaner ist ... Nimm dich in acht, Ilse — wenn du schlecht zu ihm bist, schnapp' ich ihn dir vor der Nase weg ... Er hat mich einmal gerettet, also gehört er mir so schon halb und halb ...«

»Und wie beurteilt Heinz die Lage der Werft?«

»Nicht allzu ungünstig ... Die älteren, besonneneren Elemente sind gegen den Streik. Zwar leidet alles furchtbar unter der Geldentwertung ... Aber der alte Tietgens, der ihr Führer ist, hat heute drüben in der Versammlung eine große Rede gehalten: Die Amerikaner kämen heute an, denen dürfe man nicht das Schauspiel eines inneren Zerwürfnisses bieten — sonst verlören sie das Vertrauen — und die Vereinigung der beiden Linien bräche wieder auseinander ... Auch würden sie dann der Werft keinen Dampfer in Auftrag geben ... und wenn die Werft nichts zu tun habe, könne sie keine Löhne[S. 222] zahlen ... Das hatte Heinz ihm alles klargemacht ... da siehst du, Mama, wie gut es ist, daß er noch geblieben ist ...«

Erregung schwoll auf — alle Hälse reckten sich ... Dort hinten, wo für das Auge die schwärzlichen Häusermassen von Altona mit den hochgetürmten Eisengerüsten der Hephästos-Werft zusammenzustoßen schienen, tauchte zwischen dem Mastengewirr der kleinen Dampfer und Segler, die nun die Stelle der Riesen von einst belegt hatten, der Rumpf eines Gewaltigen auf, überragt von den klobigen Zylindern der drei schwarzen Schornsteine mit dem weißen Reif, auf dem sich alsbald der blaue Stern abzeichnen würde ... Voran tänzelte das Lotsendampferchen — als führe die Hand eines Kindes einen tappenden Goliath, der sich zum Spaß die Augen hätte verbinden lassen.

Ein Rauschen innerster Bewegung ging durch die harrende Menge. Fünf Jahre lang war der drittgrößte Hafen- und Handelsplatz der Welt vom großen Leben des Erdballs abgeschnitten gewesen — ausgesperrt vom freien Weltmeer, dem Tummelplatz aller großen Völker, dem Sehnsuchtsziel germanischer Träume seit Wikingertagen — dem Ruhmespfade der Hansa, der froh befahrenen Lebensstraße des zweiten Kaiserreichs ...

»Unsre Zukunft liegt auf dem Wasser —« herrischer Fürstenmund, der einst dies kühne Wort gesprochen, nun in selbstgewählter Verbannung verstummt ...

Der Irrsinn innerer Zwietracht hatte das festlandgebundene Volk der Deutschen aus der Reihe der hoffenden Nationen getilgt ... Wär's möglich — täte die See aufs neue vor ihm sich auf?!

Mit fest zusammengebissenen Zähnen stand Georg Freimann.

War nicht eine Stunde gewesen, da neben dem begonnenen Abschiedsbrief an die Lebensgefährtin der Browning lag —?

[S. 223]

Dankbar suchte das Auge des Reeders der Gattin liebeschweres, wissendes Antlitz.

Nun flatterten viel hundert weiße Tücher, viel hundert winkende Hände — drunten auf dem wimmelnden Landungssteg ... Droben aber auf den Promenadendecks, der Kommandobrücke, harrten Kopf an Kopf gedrängt die Sendlinge der Neuen Welt der Ankunft in dem Lande, dessen verzweifelte Gegenwehr von Amerikas Granaten in den Grund geschossen worden war. Und auch droben winkte manche Hand, flatterte manches Tuch den Gruß der wiedererwachten Menschlichkeit.


3

Tedje Tietgens fühlte es in allen Knochen: seine Stunde kam. Immer näher und näher. Unabwendbar.

Seine Seele war ganz Haß geworden. Ganz Grimm und Rachegier. Die tollen, blutigen Junitage durften nur ein Vorspiel gewesen sein. Nur ein Vorspiel.

Die »Deutschland« war fertig. Ihr Stapellauf bedeutete ihm den Triumph des Kapitalismus — das Scheitern der Weltrevolution. Und was ihm selber nur dumpf und wirr in Sinnen und Hirn gor — der Sendling des Ostens hatte den Höllensud gargekocht. Die »Deutschland« würde nicht vom Stapel laufen — —

Seit Wochen hatten Tedje und sein Vertrauter päckchenweise das Dynamit, das die Berliner Zentrale geschafft, in ihren Taschen auf die Werft geschmuggelt. In einem verschwiegenen Keller standen drei Kisten bereit, groß genug, eine Armada in die Luft zu blasen ...

Oh, wie er es haßte, das stolze Schiff, an dessen Vollendung seine starken Fäuste seit mehr denn einem Jahre mitgeschafft — im Bunde mit seinen Freunden, seinen Stubengenossen!

[S. 224]

Aus welchem Kopfe war es entsprungen? Jeder auf der Werft wußte es: Bob Timmermanns — der Werkmeisterssohn — hatte es ersonnen. Er, der ihn einmal am Kragen gepackt und an die Wand geschmissen wie einen tollen Hund ...

Wer würde den Ruhm davon haben? Die Hammonia-Werft. Der alte Carstensen — für den hatte er sich abgeschunden sein ganzes Jugendleben hindurch ... er und die Tausende seiner Kollegen ... Und oll Carstensens Tochter würde am Bugspriet stehen und die Sektflasche gegen die Eisenwand des Dampfers schleudern ... Sie, die Feine, die »Zarentochter«.

Und dann — dann würde die »Deutschland« zu Wasser gehen — und nach Amerika fahren — und schwer Geld verdienen — für die H. T. L. Für die Feinde — die Kapitalisten.

Und Tedje? Und die andern fünf-, sechstausend, die daran mitgeschafft hatten in Glut und Frost, in Fleiß und Schweiß?

Nicht zu früh triumphieren — ihr da oben im Licht!!

Die »Deutschland« läuft morgen nicht vom Stapel! Die »Deutschland« geht heut nacht in die Luft!

Und dann — wenn alles drunter und drüber geht — dann holt Tedje Tietgens sich seine Feine — seine »Zarentochter« —!!


In dumpfer Maulwurfshöhle hielt Spartakus Kriegsrat. Tedje Tietgens hatte nicht den Vorsitz mehr — die Beratungen leitete im Auftrage der Berliner Zentrale der Sendling Moskaus: der Genosse Dragomiroff. Und in der Runde der Spießgesellen, die um Mudder Lores Tisch saßen, an den Wänden sich rekelten, auf dem Fußboden kauerten, sah man inmitten der lenzluftgebräunten Köpfe der Werftarbeiter manches fahle, spitzknochige Slawengesicht. Die Wodkaflasche kreiste, in den Taschen knisterten die Sowjetrubel.

Dragomiroff war mit der Haltung des Hamburger Proletariats höchst unzufrieden. Die Schlappmacher von der Mehrheitssozialdemokratie,[S. 225] selbst die unsicheren Kantonisten, die Unabhängigen — sie schielten alle nach dem Brotkorb, den der Kapitalismus ihnen mit kargen Brocken zu füllen geruhte. Kein Glaube mehr, keine Begeisterung, kein Opfermut! Da waren wir Russen doch andere Kerle, hatten ganze Arbeit gemacht!!

Nein, so ging's nicht weiter. Jetzt oder nie! Die Gegenrevolution rüstete zu ihrem längst geplanten großen Streich. Die Zentrale hatte sichere Kunde, daß in den nächsten Tagen die Weißen mit einer ganzen Armee gen Berlin rücken würden, um die Regierung der Lauen und Halben zu stürzen und das Reich des Mammonismus und Militarismus aufs neue aufzurichten in Deutschland.

Da ging über die angespannten Gesichter der Lauschenden eine jache Glut.

Nieder die Bourgeoisie! Es lebe die Weltrevolution! Die Weißen an die Laterne!

Der Russe lachte Hohn. Sein gewandtes, östlich schnarrendes Deutsch goß siedendes Öl in die Seelen seiner Hörerschaft. »Pah — schreien! Damit seid ihr immer bei der Hand, ihr schlappen Deutschen! Aber wo steckt ihr, wenn's ans Handeln geht?! Ein bißchen putschen, ein paar Cafés und Villen plündern, das Rathaus mit Maschinengewehren punktieren, einen Haufen entwaffneter Weißgardisten zertrampeln — dazu reicht's! Sind das Taten? Lausbubenstreiche sind's, nichts weiter! Der Feind, der handelt —! In eben dieser Stunde läuft im Hafen ein Dampfer ein, an dessen Bord die Zwingherren Amerikas von drüben kommen — das internationale Kapital reicht dem deutschen die Hand, damit dem Siegeszuge des Bolschewismus ein Damm entgegengetürmt werde! Und drüben auf der Werft soll morgen ein Schiff vom Stapel laufen, das ihr selber, ihr albernen Tröpfe, gebaut habt als Bindeglied und Stärkung für die Macht des Götzen, der[S. 226] euch alle knechtet, euch Proletarier der alten wie da drüben in der neuen Welt! Dieses Schiff wird den Namen ›Deutschland‹ tragen — eine neue Herausforderung des international gesinnten deutschen Proletariats — eine neue Verherrlichung des Nationalismus — dieser diabolischen Erfindung des Kapitals, das mit seiner Hilfe die Arbeiter des Erdenrunds verhindert, sich in unwiderstehlicher Stoßkraft zu verbrüdern — das sie vier Jahre lang widereinander gehetzt hat ... Und sie mußten sich gegenseitig zerfleischen, vorn im vordersten Graben, aber die Offiziere, die Sendboten des Kapitals, die euch in Blut und Tod jagten, die blieben hübsch hinten und versteckten ihr kostbares Leben, das Leben eurer Unterdrücker, in bombensicheren Unterständen!«

»Haut sie!« brüllte der Chor der jungen Gesellen, von denen gut die Hälfte höchstens im Rekrutendepot den Krieg erlebt hatte. »Messers rut! An'ne Wand dei Schufte!«

»Deutschland! Was heißt das? Ist Deutschland der Proletarier Vaterland? Dann ist's ein Rabenvaterland! Hat's für euch jemals etwas anderes übrig gehabt als verblödende Arbeit — elenden Hungerlohn — stinkige Zinskasernen — gemeinen Fusel und halbverfaulte Kartoffeln — und wenn eure Knochen morsch wurden, aufgerieben und zermürbt von einem Leben der Arbeit für die Großen — hundert Mark Invalidenrente?!

Und übermorgen werden sie jubeln, wenn das Werk eurer Hände zu Wasser geht, jubeln und sich brüsten, als hätten sie es gebaut und nicht ihr!

Soll's dazu kommen?!«

»Nein!« brüllte die Horde.

»Gut — so sorgt mir, Genossen, ihr Entschlossenen, ihr Jungen, ihr, die ihr euch ekelt mit mir vor der Halbheit und Lauheit der Maulproletarier, der verkappten Bourgeois — sorgt mir, daß die versumpfende, verrottende sogenannte ›Bewegung‹[S. 227] endlich Beine bekommt, Flügel bekommt, Klauen und Zähne bekommt! Sorgt, daß ein Fanal aufglüht, ein Posaunenstoß schmettert, eine Sprengmine in die Luft geht!

Es lebe die Propaganda der Tat!!«

Der Sendling Lenins ließ sich in einen Stuhl fallen — stürzte ein Glas Branntwein hinunter. Und mit eisig kühlem Vivisektorenblick musterte er die wüste Schar seiner Hörer, die ihn tobend, armefuchtelnd umdrängten.

»Wat söhlt wi moken — Genosse? Wat köhnt wi dauh'n? Du hest doch'n Plon, Kierl — spuck'n mol ut!«

Dragomiroff empfand: Die Zündschnur glomm. Nun mochte ein anderer pusten, sie in Brand zu halten. Er gab dem Genossen Tietgens das Wort.

Tedje stand auf. In seinen dunklen Augen glosteten drei Höllen auf einmal: Wollust, Zerstörungswut — und die gelbste, tückischste, stinkendste aller Schwefelflammen: der Neid. ... Der Neid des Unfruchtbaren auf die Könner, des Athleten auf die Gedankenriesen, des Glaubensleeren auf die Glaubensstarken.

»Jungs!« zischte er, »dei ›Dütschland‹ lopt morgen nich von'n Stopel — wi blost ehr in dei Luft!! In'n Keller von dei Maschinenbuhalle, doar stohn dree Kisten Dynamit!!«

Was — — — hatte er gesagt — der Tedje?!

Die »Deutschland« in die Luft blasen — mit — Dynamit?! — Die — — »Deutschland« —?!

Starr saßen sie plötzlich, die jungen Burschen — glotzten blöden, jählings erblaßten Gesichts im Kreis — —

Die Wodkadünste, die Phrasennebel rissen, verflatterten ... Eine Tat reckte sich auf, scheußlich, irrsinnig — eine fratzenhafte Ausgeburt der Hölle ...

Selbst für diese zerrütteten, verrohten Gestalten zu aberwitzig, zu bestialisch ...

Anders Niemann saß regungslos. Er hatte hundertfachen[S. 228] Schreckenstod geschaut — seine Nerven hatten gezuckt wie unter glühenden Zangen — sein Herz hatte nicht gebebt. Jetzt bebte es.

Die »Deutschland« in die Luft gesprengt ... War's auszudenken?

Dragomiroff — nun ja, Halbasien — — ein Tier mit Menschenantlitz und Menschensprache, aber mit Wolfsinstinkten ...

Aber Tedje — —! War das möglich — dann — was war dann nicht zu fürchten — von der Masse, der entfesselten, der zuchtentsprungenen —?!

Anders Niemann saß in fieberndem Lauschen und Schauen. War's möglich — sie — konnten ihn dulden — — — — diesen — diesen Plan?!

Sie fielen nicht über ihn her, über diesen höllenentstiegenen Satan — schlugen nicht mit ihren sehnigen deutschen Werkerfäusten das Hirn zu Brei, das diesen gräßlichen Gedanken ausgespien?! Ihm und — — seinem Helfershelfer, diesem Sohn einer deutschen Mutter?!

Nein — sie überlegten — — hinter dieser und jener niederen Stirn, in dem und jenem unstet flackernden Augenpaar glomm's schon auf — eine scheußliche, quallige Zerstörungswollust ...

Ja, sie wankten, sie taumelten, diese Haltlosen, Glaubenslosen, Willenlosen — stürzten hinein in den Mahlstrom des Irrsinns, der aus dem giftgeschwollenen Maul des Höllenfremdlings zu ihren Seelen emporbrandete, ersäufte, hinwegschwemmte, was gut, gesund, eigen — was deutsch in ihnen war. Der Osten siegte — das Nihil ...

Die Ungestalt über die Gestalt, das Chaos über den Kosmos ... Ahriman über Ormuzd ...

»Verdammi — ick bün dobi!!«

Clas Mönkebüll hatte es gerufen — der blauäugige Holste,[S. 229] der Schumann und Brahms zu spielen wußte und den schmerzlichen Wahn im Herzen trug, er hätte ein Künstler werden können, hätte des Elends würgende Faust ihm nicht das Werkzeug der Seele gestumpft ...

»Ick ook! Ick ook!«

Dort und dort reckte sich eine arbeitsharte Faust ... immer mehr — immer mehr ...

Sinn war in Unsinn verwandelt, Schaffenskraft in Zerstörungswut, Tat in Untat ...

Waren's noch Menschen, Deutsche, Brüder — die beisammenhockten, den scheußlichen Plan durchsprachen bis in alle Einzelheiten, die Rollen verteilten, die Stunde, die Minute des Vollbringens festlegten, das — Chaos organisierten —

Anders Niemann blieb noch immer ganz regungslos. Unvorbereitet stand er dem Entsetzlichen gegenüber, das sich plötzlich hirnerstarrend vor ihm aufreckte.

Mitwisser — dieses — dieses Geheimnisses?! Dieses — dieses Planes —!!

Ja — nun wandte sich's gegen ihn, was er seit einem Jahre, reinen Herzens, getan und gelebt. Er war in diese Welt der Tiefe hinabgestiegen, ein Liebender, ein Suchender — und sah sich plötzlich nun verstrickt, hineingezerrt in ein entsetzliches Geheimnis — er, Georg Freimanns Sohn.

Was tun?!

Die »Deutschland« — Georg Freimann — die H. T. L. — die United Transatlantic Lines — das Vaterland — das alles war eins — das alles wollten sie vernichten, diese Verrückten, mit einem einzigen Streich — einem Bubenstreich — einem Satansstreich — —

Heinz — Anders — Mann — Sohn — Deutscher — was tun?!

Im Sinnen war's ihm plötzlich, als stäche eine glühende Nadel ihm ins Hirn. Aufblick: Tedje —! Er belauert, wittert mich! Vorsicht —!!

[S. 230]

Anders Niemann fühlte ein Würgen, als griffe eine drosselnde Faust nach seiner Kehle. Nur jetzt nicht erkannt, durchschaut, zertreten werden!! Einen Augenblick lang meinte er, klar zu sehen — wähnte nun erst zu wissen, was sein Weg war — meinte plötzlich zu begreifen, daß dies der eigentliche Sinn seines Handelns habe sein sollen: daß er des grausen Anschlags Mitwisser hatte werden sollen ... und so der Retter ... der »Deutschland« ... Deutschlands ...

Aber nein, es war ja ganz anders gewollt, geplant, ausgeführt ... ganz, ganz anders — —

Ein Spion — — ein Spitzel wider Willen? Wahnwitzige Schrulle des Geschicks — —. Zwölf Monate Kamerad unter Kameraden, Freund unter Freunden, Stubengenoß, Tischgenoß — dem sie alle vertraut — den eine — — liebte.

Und nun: Denunziant — Verräter?!

Unmöglich, Heinz Freimann — unmöglich!!

Die hohe Sendung, die dich in die Tiefe geführt, sie wäre nicht nur gescheitert — sie wäre auch — geschändet ... dein Sehnen zur scheußlichen Fratze entstellt ...

Nein — das war unmöglich — gab's denn kein anderes Mittel, das Unausdenkbare zu verhindern?!

Und Anders Niemann warf sich dem Mahlstrom entgegen. Er bat ums Wort. Er beschwor die Kameraden, abzustehen von ihrem grauenvollen Vorhaben.

»Kameraden!« rief er, »ick begriep dat nich: Dei ›Dütschland‹, dei hebbt wi doch mokt, alltausomen hebbt wi s' mokt! Nich blot dei Inschenöre, nich blot Timmermanns — du un du un du un ick, wi hebbt unsen Sweit un uns' Gedanken un — ick kann't nicht beter seggen, wi hebbt en Stück von uns' Hart 'rinbugt in dat Schipp!«

»Hahaha!!« lachten da um die Wette der bärtige Russe, der ungeschlachte Tedje.

[S. 231]

»So ist's recht!« knarrte Dragomiroff. »Deutscher Knechtssinn! Unausrottbar! Wer bist du denn, junger Mann, daß du's besser weißt, was dem Arbeiter frommt, als ich, der Vorkämpfer des siegreichen russischen Proletariats, he?! Oder dein Kollege Tietgens hier, der Vertrauensmann der glorreichen Volksrepublik des Ostens?«

Anders Niemann ließ sich nicht den Mund verbieten. Heiß schwoll ihm das Herz. Arbeiter sein, das durfte doch nicht heißen, das Werk seiner Hände verachten und hassen! Liebe müsse bei dem Tagwerk sein, sonst sei es sinnlos und verflucht! Mit wildem Flehen rang er um das Herz der Brüder. Vollendet stehe da drüben das große, gemeinsame Werk — vom rechnenden messenden Kopf ersonnen, aufgetürmt von der tausendfältig schaffenden Hand ... Morgen solle es hinaus in die freie Flut, um später, nach weiteren Monaten harter Arbeit der werkelnden Faust, hinauszufliegen und denen da draußen in aller Welt zu verkünden, daß Deutschland noch aufrecht stehe — daß es Erdrosselungskrieg und Erdrosselungsfrieden überstanden habe und leben, leben, leben wolle ... Freilich, davon könne Dragomiroff nichts verstehen — er sei ein Russe, ein Fremdling ... Und arbeiten habe noch kein Mensch den jemals gesehen ...

»Tedje, Clos!« beschwor er die Freunde, »wi hebbt tausomen vel hunnertdusend Niete mokt in dei ›Dütschland‹ — is dat nich uns' Wark, dat Schipp, is dat nich uns' Kind?!«

In Clas Mönkebülls heißem Gesichte sah Anders den Abglanz seiner Glut wühlen und flammen ... Aber noch etwas anderes erkannte er in des Freundes Auge: etwas, das ihn seit Wochen zuweilen angeglotzt aus des treuen Burschen zerquältem Gesicht: etwas wie dumpf schwelender Haß ... Und — Tedje?!

Kiek den Duckmäuser! Tut sich auf einmal als Klugschwätzer auf — will mir meinen schönen Racheplan vermasseln! Der[S. 232] Schleicher, der scheinheilige — um den meine Antje sich härmt! Na teuf, mien Jung!

Dragomiroff hatte lauernd, abwartend beobachtet, wie des Matrosen Worte wirken würden. Er sah, wie sie eindrangen, dort und dort, in die verwilderten, verstörten Herzen. Jetzt war's Zeit.

»Hast du nun genug gequatscht, du Schwätzer, du Pope, du Scheinheiliger?« schrie er wutverzerrten Gesichts. »Ich will dir helfen, du Esel, klüger sein zu wollen als wir, die Vorkämpfer der proletarischen Freiheit! — Genossen! Wer steht zu unserm Plan? Wer will der vorderste sein am großen Vernichtungswerk, das den Götzen Mammon zertrümmern soll? Wer legt die Zündschnur — wer setzt sie in Brand?!«

Nur zwei traten vor: Tedje Tietgens und — — Clas Mönkebüll ...

Arm in Arm stellten sie sich, auf Dragomiroffs Geheiß, in der Kameraden Mitte. Der Russe nahm sie mit Handschlag in Eid und Pflicht und gab ihnen einen knallenden Weihekuß. Und so die anderen alle — sie, die sich verpflichtet hatten, die ständigen Wächter der Werft von hinten anzuschleichen und mit zähem Messerschnitt in die Gurgel zu erledigen. — »Dann aber, Genossen,« schloß Dragomiroff, »dann, wenn die Tat geglückt ist — dann heißt es: Zu den Waffen! Denn die Weißen stehen bereit, unsere Tat wird auch für sie das Signal. Dann heißt's die Kameraden fortreißen, ehe die zur Besinnung kommen. Es lebe die Propaganda der Tat!«

Dann winkte er Tedje zu sich heran.

»Tietgens!« flüsterte er ihm heiser ins Ohr, »gib acht auf den Quatschkopp, den Niemann — der Hund ist gefährlich!«

»Dat will'k woll gleuwen, Genosse!« zischte Tedje zurück. »Clos Mönkebüll sall em op dei Hacken blieben! Verlot di op mi, den'n Kierl lot wi nich ut Sicht!«

[S. 233]


Und nun: der Wirrwarr und Lärm des Aufbruchs ... Heinz raffte sich aus seinem krampfigen Grübeln. Er hatte Klarheit. Was galt Heinz Freimanns Leben, was galt selbst seine Ehre — wo es um alles ging?! Nein — wer solches plante, der hatte das Recht auf Treue verwirkt ...

Wenn der Anschlag mißglückt — mißglückt, weil er verraten ist — Tedje Tietgens wird wissen, an wen er sich zu halten hat. An den Kollegen, den er einmal mit der Tochter seines Chefs hat spazierengehen gesehen ... und das bedeutet ein gräßliches Ende — vielleicht ein spurloses Verschwinden ... Was tut's? Die ihn lieben, werden wissen, wie und für was er gestorben ist ...

Aber schweigen? Den Plan dieser Schreckenstat kennen und schweigen?! Unmöglich ...

In einem Nebelmeer von Zigarettenqualm schwamm das unterirdische Gelaß — alles umdrängte den Russen, verlangte noch letzte Weisungen ... Heinz hatte sich bis zur Tür durchgepirscht. Ein rascher Späherblick in der Runde — nein — niemand beobachtete ihn ... und mit einem Ruck war er im stockfinstern Flur, tappte sich die wohlbekannten triefenden Wände entlang, glitschige Stufen hinauf, öffnete eine geheime Tür nach der andern mit kundigem Druck — stand im Flur des Vorderhauses, verschwand in der Telephonzelle, in der sonst die verlorenen Kinder, die unter Mudder Lores Fuchtel ihre armseligen Leiber feilhielten, mit ihren Freunden ihre Sonntagsverabredungen trafen. Das aber entging ihm, daß mit Katzentritten vier Füße ihm nachgeschlichen waren — daß zwei Männergestalten dicht neben der Telephonzelle in der Wand verschwunden waren — in einem geheimen Versteck, aus dem man jedes Gespräch belauschen konnte ...

Er hob den Hörer, verlangte die Nummer der Villa Carstensen ...

»Hier bei Senator Carstensen ...«

[S. 234]

»Hallo — kann ich Fräulein Ilse sprechen? Bitte sofort — es ist äußerst dringlich ...«

Er lauschte in bebendem Warten. Klangen nicht draußen Tritte?

»Ilse Carstensen ...«

»Hier Heinz ... Ilse, ich muß dich unbedingt sofort sprechen ...«

»Unmöglich, Heinz — du weißt doch, die Amerikaner — in einer halben Stunde beginnt der Empfang bei euch zu Hause — ich bin gerade bei der Toilette ...«

Ein Bild stieg sekundenlang vor des Mannes Augen auf ... eine Vision — beglückend und fern wie ein nie erreichbares Sehnsuchtsland ...

»Wann kannst du dich frei machen?«

»Frühestens nach dem Abendessen, ich denke etwa um halb zehn ...«

»Das wird zur Not genügen. Also höre, Ilse: Ich werde um punkt halb zehn im Auto an unserer Gartentür vorfahren, auf dem Harvestehuder Weg ... Du erwartest mich, steigst zu mir ein, wir fahren einmal um den Häuserblock herum, ich sage dir schnell, was zu sagen ist — und in fünf Minuten kannst du wieder bei euren Gästen sein ... einverstanden?«

»Ja, Heinz — kannst du mir nicht wenigstens eine Andeutung —?«

»Telephonisch unmöglich ... Es bleibt dabei: um halb zehn an unsrer Gartenpforte! Laß mich nicht im Stich, es steht viel, es steht alles auf dem Spiel ... Auf Wiedersehen, mein Herz ...«

»Auf Wiedersehen ...«

Mit einem Ruck riß Heinz die Tür der Telephonzelle auf — spähte umher, ob er unbelauscht geblieben sei — alles leer, alles still ... Völlig beruhigt kehrte Heinz um, legte aufs neue den ganzen Weg bis zum Versteck der Verschwörung zurück[S. 235] und mischte sich unter die Genossen, die noch immer erregt schwatzend beisammenhockten.

Kaum war er hinter der geheimen Tür verschwunden, welche aus dem Flur des Vorderhauses in das unterirdische Labyrinth führte, da öffnete sich neben der Telephonzelle die Wand, und mit wutverzerrten Gesichtern traten Tedje und Clas aus dem Versteck hervor.

»So'n Hund, so'n entfomtigen Hund!« knirschte Tedje. »Clas, ick mutt di wat seggen: Düssen Anders, düssen Kierl, de mien Swester 'n Kopp verdreiht hett — den'n heff ick — vor drei Dag heff ick'n seihn, as hei sick mit Fräulein Carstensen in dei Passage an'n ollen Steinweg dropen hett — un is mit ehr in 'ne lüttje Konditorei verswunnen — un doar hebbt sei 'n Stünn' un länger tausomen snackt ... Un nu telephoniert hei 'ne gewisse Ilse, und seggt tau ehr: Hier Heinz ...«

»Verdammi —!« zischte Clas, »verdammi! Is dat denn meuglich, dat hei — dat uns' Anders Niemann —«

»— en Spitzel is? En ganzen hundsgemeinen Spion un Verräter?! Wenn du dat nu noch nich markt hest, Clos, denn lat di in Alsterdörp in dei Idiotenanstalt opnehmen — doar geheurst du hen, mien Jung!«

»Wat mokt wi mit em, Tedje, wat mokt wi blot?!«

»Dat 's nu dien Sok, Clos«, sagte Tedje mit tückischem Grinsen. »Ick denk', du hest sowieso wat mit em aftaumoken, mit düssen Anders Niemann odder ... Heinz ... Dunnerslag ... doar fallt mi wat in — Heinz ... Im Hause meiner Eltern, hett sei seggt ...«

Und mit atemlosen Worten erinnerte er den Freund: ob er sich denn nicht mehr entsinnen könne, daß vor einem Jahr in ganz Hamburg davon gesprochen worden sei, der Kapitänleutnant Heinrich Freimann, der Sohn des Generaldirektors der H. T. L., eben als Kapitänleutnant aus englischer Gefangenschaft zurückgekehrt, sei plötzlich spurlos verschwunden?!

[S. 236]

»Dat is hei, Clos! Strof mi Gott, dat is hei!!«

Clas Mönkebülls gutmütiges Musikantengesicht hatte sich längst in Grimm und Glut verzerrt. Dem Kameraden, dem Kollegen hatte er Antje blutenden Herzens gönnen müssen ... wehe aber, wenn dieser Kollege ein Schuft war, ein Verräter, ein Weißer gar, ein — nicht auszudenken — ein Bourgeois, ein ehemaliger Offizier ...

»Du weits nu Bescheid. Clos! Ick verlot mi ganz op di ... Hest 'ne Waffe?«

»Heff ick!« knirschte Clas und ließ sein Messer einschnappen. »De kümmt mi nich weg, Tedje.«

»Mok dien Sok' man gaud, Clos ... ick leg' ok 'n gaud Wort vör di in bi mien Swester ...«

Da lächelte Clas melancholisch und beschattet. Im Augenblick, als er die Hand zum Schwur dem Russen hingestreckt, hatte er in tiefer Seele das dunkle Rauschen vernommen — das er aus den Erzählungen seiner Kriegskameraden kannte. Wem es erklungen war, der hatte des kommenden Tages Morgenröte nicht mehr geschaut. —

»Dat 's vörbi, Tedje ... hüt nacht goht wi twei kaput ...«

»Meuglich —« murmelte Tedje ... »öwerst denn sall dei entfomigter Slieker, dei Anders Niemann — ne, dei Heinz Freimann — dei sall denn mit us twei tausom'n kaput gohn!!«

Wenige Augenblicke später stand Clas Mönkebüll neben Heinz — der bewegte sich wieder ganz harmlos inmitten der abschiednehmenden Kameraden, die sich immer noch nicht von den Wodkaflaschen trennen konnten.

»Kumm, Anders!« sagte Clas und stieß den Schlafkameraden vertraulich mit dem Ellbogen an, »wüllt een' Lüttjen nehmen! Wer weit, ob dat nich de letzte is!«

Anders Niemann fuhr herum. Diese Stimme — unterirdisches[S. 237] Grollen ... dies Gesicht — verändert, verzerrt ... Die aufrechte Gestalt wie seltsam verkrümmt ... Reue?! Freilich, diese arme, arbeitsrissige Hand, der die Läufer und Passagen immer mehr unter den Fingern wegrollten — sie hatte sich einem Werk des Wahnsinns verschworen ... ein Fluchgezeichneter, ein Todgeweihter vielleicht ... unmöglich, ihm diese Bitte abzuschlagen. Man wird sich rechtzeitig losmachen müssen.

»'t is recht, Clos — wo goht wi hen?«

Clas Mönkebülls Augen flackerten irr und trüb. »Wat söhlt wi noch wied lopen? Lot uns in Mudder Lor' ehr lütt' Kabuff sitten ... sei hett 'n ollen lüttjen Köhm, so een' is in ganz Hamborg nich weddertaufinnen ...«

Im schlimmsten Falle, du Hund, kommst du aus Mudder Lores Dachsbau überhaupt nicht wieder heraus! — —


Tedje hatte sich als letzter von Dragomiroff getrennt. Nun war er sich selber überlassen. Er schlenderte durch die engen Gassen des unheimlichen Viertels zwischen Wexstraße und Neustädter Straße. Sein Schädel dampfte, Gesicht und Hände zuckten im Krampfe.

Anders Niemann ein Spitzel ... ein Spion ... der verschollene Sohn des Generaldirektors der H. T. L.! Und wohnt seit einem Jahr in Mudders Jungsstübchen ... ißt an Vadders Tisch — schafft auf der Hammonia-Werft mit Clas und Tedje ... und macht die arme Antje Tietgens verrückt ... Hund du — Hund —!!

Was hat er nur gewollt?! Sekundenlang blitzte es durch Tedjes brodelndes Hirn, ob doch irgendein Geheimnis dahinterstecken möchte — irgendein verborgenes Wollen, das anständig wäre und ehrenwert ... Nein, nein — es soll nicht sein! Er soll ein Schuft sein, nichts weiter als ein ganz gemeiner[S. 238] Verräter. Jetzt ist's ja klar, er hat spionieren wollen, nichts als spionieren! Na, und das ist ja auch gelungen — jetzt weiß er etwas, das lohnt, verdammi, das ganze Jahr Verstellung!

Wirst dich verrechnet haben, Spion! Der starke Arm, der alle Räder stehen lassen kann, wenn er will — der greift nach deiner Gurgel! Wir lassen dich nicht aus — sollst danebenstehen und zusehen, wie die stolze Hoffnung deines Vaters in die Luft geht — und dann — dann bist du reif fürs Messer!

Und wenn du nicht mitgehen willst — wenn du Anstalten machst, Alarm zu schlagen, zu warnen — dann — schon vorher! Bei Clas bist du gut aufgehoben — schon um Antjes willen —!

Arme Antje ... Wenn nun morgen keiner von uns dreien wiederkommt?! Sie wird weinen — um wen? Nicht um den armen Clas, der sich hätte totschlagen lassen für sie ... um den Bruder vielleicht ein paar Tränchen ... aber die Augen aus dem Kopfe wird sie sich weinen — um den Schuft, um den Halunken, um den Verführer, um den Verräter ...

Nein ... Das darf nicht sein ... Sie soll wenigstens wissen, wer er ist ... Sie soll — sie soll nicht um ihn weinen ... einerlei, ob er unter Clas' Messer verblutet oder heut nacht mit der »Deutschland« in die Luft geht — Antje Tietgens soll nicht um ihn weinen. Sie soll erfahren, daß sie ihr Herz und ... wer weiß was sonst noch alles an einen Lumpen und Verräter weggeschmissen hat. Sie wird sich grämen vor Schande — aber sie wird wenigstens nicht um ihn weinen. Das ist er nicht wert ... Die Ehre soll er nicht mal im Tode genießen.

Also heim — zu Antje ...

Und dann? War nicht noch etwas anderes zu erledigen, bevor es ans große Rachewerk geht?! Was war's doch nur?!

Ah — die Feine ...

[S. 239]

Halb zehn an unserer Gartenpforte — du erwartest mich, steigst zu mir ins Auto — —

Wirst vergebens warten auf deinen Bräutigam, schöne Zarentochter ...

Aber wie — wenn statt seiner — ein anderer im Auto säße —?!

Düwel, Düwel — dit wier 'n Snack —!!

Mit einem Ruck blieb Tedje stehen — mitten in einer der üblen Gassen, an deren Fenstern die armseligen Huldinnen der schlimmen Viertel auf Beute warteten.

Da war sie ja, endlich, die lang umlauerte Gelegenheit ... Hahahaha!

Der eigene Bräutigam hatte sie aus ihrer Festung herauslocken müssen — trieb sie in Tedje Tietgens' Arme ...

Das kommt nie wieder!

Und just in der letzten Stunde vor der großen Entscheidung — vor der Tat, die so leicht mißglücken kann — — Dynamitkisten sind keine Schiffsniete ... da kann einer leicht aus Versehen mit in die Luft gehen ... Und vorher das da!

Düwel, Düwel — so 'n Snack!

Esel und Schlappstiefel, wer da nicht zupackt!

War ja alles zum Lachen einfach, — die zwei hatten's ja eingefädelt!

Als wenn man nicht ein halb Dutzend Freunde hätte unter den Benzinkutschern ... Dazu noch irgendeinen handfesten Kollegen als Helfershelfer — ohne Gewalt wird es ja nicht abgehen ... Die läßt sich in Stücke reißen — schreit ganz Hamburg zusammen ... Für alle Fälle ein Paket Watte und eine Flasche Äther, kriegt man in jeder Drogerie — —

Aber schnell, schnell, in zehn Minuten ist Ladenschluß!


[S. 240]

4

Mudder Lores »Bar« entbehrte nicht einer gewissen klebrigen Gemütlichkeit. Hier hatte Anders Niemann nach mancher Sitzung des »revolutionären Aktionskomitees« mit seinen Freunden scharf gezecht. Und nun — diese Abschiedsstunde ...

Da saß er ihm gegenüber, dem guten Gesellen, mit dem er unzählige Stunden reinen Glücks erlebt — wenn sie zusammen an Mudder Minings klapprigem Pianino Beethovens und Brahms' Sonaten gespielt — und sich emporgeschwungen hatten über Enge und Niedrigkeit in strahlende Höhen kampfgeläuterten Menschentums ... Und nun — nun war's vielleicht das letztemal ...

Anders hob das Glas: »Nich so trurig kieken, Clas, vellicht kümmt dat all man half so slimm.«

Da traf ihn aus des Freundes Augen ein Blick, unter dem er zusammenzuckte.

»Wi will'n drinken ...« stammelte der Holsteiner, »nich snacken ... blot nich snacken ... ick kann nich ... ick kann nich ...«

Was war das?! Ahnte er irgend etwas? Unmöglich — Woher sollte er ...

Clas Mönkebüll war nicht der Mann, eine Hölle verschwiegen in der Brust zu tragen. Er litt ohne Grenzen.

»Wat hest du, Clos? Is di nich gaud —?!«

»Ne,« sagte Clas, und seine Brauen zogen sich so fest zusammen, daß sie die Augen fast verhüllten, »gaud is mi nich.«

Anders glaubte zu begreifen. Der Schwur ... die Freveltat, zu der er sich im Wirbel des Augenblicks hatte dingen lassen ... dieser wahnwitzige, fluchwürdige Plan — — Ach — wenn man ihn retten könnte ...

»Jo, Clos, hest recht ... dat döggt nich, wat wi uns von düssen Russen hebbt ansnacken loten.«

»Dat helpt nich ... wi hebbt sworen ...« Clas stürzte ein[S. 241] großes Glas Schnaps hinunter und winkte der grellbunt gekleideten Aufwärterin um eine frische Füllung.

»Ick nich, Clos — ick nich ...«

»Ne ... öwerst ick ...«

Ein ungeheures Mitleid schwoll in Anders Niemanns Seele. Wie er verzweifelt rang, der treue Bursch, wider das Unausdenkbare, das der Dämon aus dem Osten ihm eingeblasen ... Oder war's etwa das nicht allein?! Immer wieder hoben sich des Freundes wirre Augen und sandten einen Blick herüber, in dem noch mehr lag als nur Verzweiflung über das eigene Schicksal ... ein Argwohn, ein Verdacht ... Nein, das war unerträglich. Anders fühlte erst in dieser Stunde mit voller Klarheit: Dieser junge Mensch aus der Tiefe war ihm wert und lieb geworden — und dies das letzte Beisammensein vielleicht ... Wie immer der Ausgang sein sollte, ob es zur Vollendung kam oder nicht — Anders Niemann und Clas Mönkebüll würden nie mehr zusammen arbeiten, plaudern, trinken, musizieren ... O Wehmut ohne Grenzen ... o grausamer Irrsinn des Lebens ...

Wohl hatte Anders Niemann eine Maske getragen — wohl war zwischen ihm und dem Proletarier da drüben niemals im letzten Sinne Wahrheit gewesen ... Dennoch — ein Band hatte sich geknüpft, stark genug, wenn eines Tages die Hülle des Truges fiele, über die Klüfte des Standes und der Bildung hinüber ein Leben lang zu dauern — ein Anfang war gemacht, diese Klüfte zu überbrücken ... in seiner Freundschaft zu diesem Schlichten hatte Heinz Freimann einen ersten Schimmer der Erfüllung seiner kühnen Träume von einer versöhnenden Gemeinschaft aller deutschen Menschen erlebt ... Und nun dies Ende ... War denn kein Ausweg? War es denn ganz unmöglich, diesen kindguten, herzenswarmen Menschen der höllischen Verstrickung zu entreißen, in die er sich hatte hineinzerren lassen?!

[S. 242]

»Clos ... segg mi, dat — dat bliwt, dat du hüt nacht — ick kann't un kann't nich gleuwen von di ...«

»Dat bliwt!!« sagte Clas hart.

Hier war ein Kamerad über Bord gegangen, kämpfte mit den Wogen, die ihn verschlingen mußten. Und der alte Seemann stürzte sich in den Strudel. Rettung! Rettung!

Er nahm seine ganze Kraft zusammen. Welches Glück, daß er der Sprache des Volkes mächtig geworden war bis in ihre feinsten Schattierungen! Wie mit wuchtigen Schwimmstößen rang er sich an die Seele des Freundes heran, packte die widerstrebende, kämpfte verzweifelt wider ihren selbstmörderischen Willen zum Untergang. Von Deutschland sprach er, das ihrer beider Vaterland sei. Von dem stolzen Schiff, in das sie beide seit einem Jahr ihre Kraft und ihren Fleiß hineingebaut. Von dem Fahneneid, den sie einst als Rekruten geschworen ...

Umsonst. Immer finsterer, immer unnahbarer zog des Arbeiters Seele sich vor dem heißen Werben des Mannes zurück, den er ein Jahr seinen Freund genannt. Und plötzlich überkam den Werber die jähe Erkenntnis, daß zwischen ihm und dem Gefährten noch etwas anderes liegen müsse als der Schwur, den jener geleistet ...

»Clos — du hest wat gegen mi — segg't mi iehrlich, Clos!«

»Ick verstoh nich ...«

»Doch — du versteihst mi ... hett di een' wat ... seggt öwer mi —?«

Clas konnte nicht lügen. Mit einem Male richtete er sich hoch auf, sah dem Frager starr ins Auge und sagte:

»Geben Sei sick keine Meuh — — Herr — Kapitänleutnant.«

Anders Niemann fühlte einen Stoß wider das Herz. Also das!! Aber wie?! und seit wann?!

[S. 243]

»Ach so!« sagte er, und ohne sein Wollen ging eine Verwandlung mit ihm vor. Anders Niemann sank in die Tiefe — Heinz Freimann ward wiedergeboren.

»Also du weißt, wer ich bin, Clas Mönkebüll«, sagte er gefaßt. »Ich will dich jetzt nicht fragen, woher. Komm her, lieber Junge, hier ist meine Hand. Ich bin dein Freund — du hast keinen besseren. Glaub' mir's — werde nicht irre an mir Ich will dir alles erklären.«

»Geben Sei sick kein Meuh, Herr.«

Er stand auf, gab dem Frauenzimmer am Büfett einen Wink. Die verschwand. Man hörte, daß sie die Tür hinter sich abriegelte. Nun schritt Clas Mönkebüll zu der Tür, die zum Flur führte, schloß sie ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und trat auf Heinz Freimann zu.

»Wenn Sei vellicht noch en Vadderunser beden will'n —«

In seiner Hand blinkte das Messer.

Heinz Freimann sprang auf. Einen Augenblick lang fuhr's ihm durch den Kopf: Eine Waffe! Dann: Schreien! Um Hilfe schreien — pah — umsonst. Er begriff nichts — nichts als dies eine: Er war verloren.

Und plötzlich ein Blitzstrahl: Antje ... Was in diesen umdüsterten Augen schwelte, war nicht allein der Haß der Klasse — solch fressendes Feuer entzündete nur verschmähte Liebe.

»Ein Wort noch, Clas!« sagte er fest und in Haltung. »Du willst mich töten, weil ich um euren Plan weiß — und weil du glaubst, daß ich ihn verraten will. Ehrlich gestanden, ja — ich hätte ihn verraten müssen, wenn du mich leben ließest. Müssen, Clas — und wenn's mich meine Ehre gekostet hätte. Ich habe euch gewarnt — habe euch angefleht mit allen Kräften meines Herzens, ihr solltet dem Hund, dem Moskowiter, nicht folgen. Es hat nichts geholfen. Darum muß ich euch verraten — muß, wenn du mich leben läßt. Tu du, was du verantworten kannst. Aber ich glaube, zuvor ist zwischen dir und[S. 244] mir noch etwas anderes klarzustellen. Du bist unserer Freundin Antje Tietgens gut. Du glaubst, ich hätte sie dir abwendig gemacht. Und darum willst du mich töten. Tu's — aber dann geh hin zu Antje, grüß' sie von mir — und sag' ihr, ich hätte dir in meinem letzten Augenblick gesagt, daß ich niemals auch nur die leiseste Gunst von ihr bekommen hab' ... Ich habe ihre Lippen niemals berührt —!«

Da wurde Clas Mönkebülls gestraffter Körper plötzlich matt und schwankte. In die grimmverzerrten Züge trat ein ungläubiges, irres Staunen. Die zuckenden Lippen stammelten:

»Is — dat — wohr?! — Is dat — wohr —?«

»So wahr ich ein braver Soldat bin — und dein guter Kamerad, dein treuer Freund, der dich wie einen Bruder ehrt und liebt ...«

Des armen Burschen Hand mit dem blinkenden Messer sank schlaff am Leibe herab. »Nu kann'k 't nich dauhn,« stammelte er heiser, »nu kann'k 't nich dauhn ...«

»So tu auch das andere nicht, Clas!« rief Heinz und legte seine beiden Hände auf des Freundes Schultern. »Besinn dich! Du bist ein Deutscher ... Es ist Wahn, dein Lied von der roten Seligkeit ...«

»Dei kümmt — dei kümmt ...« Das war wie ein verzweifeltes Sichaufbäumen gegen empordämmernde Erkenntnis — krampfhaftes Sichanklammern an treibende Trümmer ... Und nun: ein letzter Blick — mit beiden Fäusten umklammerte Clas Mönkebüll des Freundes Rechte — es war, als wolle er ihn an seine Brust reißen — aber mit einem krampfigen Schluchzen machte er sich los, stürmte zum Ausgang, schloß auf, zog den Schlüssel ab, warf die Tür von draußen zu — ein schwerer Riegel ward vorgeschoben, der Schlüssel krachte ins Schloß. —

Heinz Freimann war gefangen.


[S. 245]

5

»Öwersnappt sünd's, Mudder — öwersnappt!« eiferte Vadder Tietgens.

»Hest recht, Vadder«, hüstelte Mining. »Helpt jo allens nich, dat oll Gestreik un Geputsch ... flietig in dei Hann' spucken un arbeiten, as ji freuer arbeit' hebbt — nich acht Stünn', ne, tein, twolf ... süß köhnt wi jo nich wedder hoch komen!«

Da paffte Timm Tietgens eine mächtige Unmutwolke: »Ne, Mudder, dat mi den'n Achtstünndag, dat mutt blieben ... öwerst se möten in dei acht Stünn' ok würklich arbeiten un nicht ümmer diskurieren un debattieren ...«

Antje saß still und bedrückt den Alten gegenüber. Wo nur die Jungens blieben?! Es braute sich etwas Schwüles, Dräuendes zusammen — sie fühlte es am Zerren ihrer Nerven, am aussetzenden Schlag ihres gequälten Herzens. Ach, daß ein Mensch so leiden konnte, wie sie litt seit Monaten. Sie, die aufrechte, nackensteife Frau ...

Vadder Timm gähnte vernehmlich. »Ick bün meud — ick warr doch hellschen klapprig, nich, Mudder? So 'n grote Red' — dat is nix miehr vor mi ... Geihst du nich to Hus, Deern?«

»Ick wull op dei Jungs luern«, sagte Antje gepreßt. »Öwer goht ji man tau Bed, all beid ... ick heff' jo 'n Slötel ...«

Und dann saß sie einsam — lauschte dem Stundenschlag der unzähligen Kirchtürme, die über dem Brodem der Stadt ihres feierlichen Ruferamtes walteten — und sann — sann — sann ...

Nun feiern sie in der Villa Freimann — die Glücklichen, die Reichen ... Und morgen, nach dem Stapellauf, da werden sie wieder feiern ... Das Werk, das zwölftausend Hände geschaffen,[S. 246] sie rechnen sich's allein an, weil's aus ihrem Kopf entsprungen ist ... Und wer wird dann der zwölftausend fleißigen Hände gedenken, ohne die ihr Planen ewig Papier und Phantasie bliebe?! Nein — die Faust hatte schon recht, sich zu ballen und aufzurecken wider den herrischen Kopf, der allein im Lichte stand ... Gemeinsam war das Werk, gemeinsam sollte die Feier sein ... die Freude ... der Stolz ...

Einer von denen da oben, der hatte angefangen, das zu begreifen. Der träumte von einer neuen Welt, in der Kopf und Fäuste das Werk nicht nur gemeinsam schüfen, nein, auch gemeinsam begriffen, umfingen mit ihrer ganzen Seelenmacht. — Er hatte nicht umsonst ein Jahr lang die Luft dieses Hauses, dieser bescheidenen Stuben geatmet, nicht umsonst aus Mudders Topf gegessen, mit Vadder geraucht und politisiert, mit den Burschen geschlafen und gewacht, gearbeitet und geschwatzt ...

Und würde nun doch emporsteigen aus der Niederung — empor in seine helle Welt — in die Welt des herrschsüchtigen Kopfes, des triumphierenden Geistes, des Glanzes, der Feste — empor zu seinen Menschen, den Menschen seiner Rasse, seiner Klasse — empor — empor zu — der andern ... mit der sie ihn vor wenig Tagen, Schulter an Schulter, durch die kahlen Bosketts am Glacis hatte schlendern gesehen — wie er hundertmal mit ihr geschlendert war — mit der armen Antje ...

Und Antje würde vergessen sein ... vergessen die unzähligen Stunden, in denen er ihr, sie ihm gegeben hatte — das Beste, was ein jedes besessen — eine Welt von Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten und Hoffnungen ...

Ach ja — einmal ein Jahr aus seiner Welt in die andere hinüberwechseln, aus der Höhe in die Tiefe steigen ... das konnte er, das mochte er — aber dann — dann tat sie sich doch aufs neue zwischen hüben und drüben auf, die ewige, die[S. 247] unausfüllbare Kluft zwischen den zwei Völkern, die eines Blutes waren, eine Sprache redeten, eines Staates Bürger waren — eines Vaterlandes Kinder ...

Pah — Vaterland!!

Ach — es blieb doch ewig wahr: Nur die da oben, nur die hatten überhaupt ein Vaterland ... die unten, die blieben ewig die »vaterlandslosen Gesellen ...«

O Heinz — du hast das alles empfunden und verstanden — du Guter — du Reiner — du Großer im Wollen und Sehnen ... du willst sie schließen helfen, die unüberbrückbare Kluft ...

Oh, wenn dir das gelänge — ja, wenn du auch nur standhaft, gläubig, heilig genug wärst, dein Leben zu setzen an dies Werk — deine Antje wollte sich's nicht gereuen lassen, daß sie ihr ganzes Herz in dich, in dein Wollen und Wesen hinein verblutet hat ...

— Horch ... die Stiege knarrt ... Tedje ... nicht ganz sicher, wie immer ... aber ... allein. Und Clas und Anders —?!

Da stand er in der Tür ... Gott ... diese Augen —

So blickt kein Mensch ... so blickt ein — —

»Kiek ... Antje ... un dei Ollen?!«

Das Mädchen legte die Hand auf die Lippen.

Leise schwankend tappte sich der Bruder an den Tisch. In seinen gedunsenen Zügen zuckten die Gedanken, die Gefühle, wetterleuchtend von innerem Aufruhr. Jetzt legte er die rissige Arbeitshand auf der Schwester vollen Arm:

»Hest 'n arg leiw — dien'n Kierl — nich wohr, mien Deern?«

»Ick verstoh di nich, Tedje ...«

Nein — sie verstand ihn nicht ... zwar seine Worte, aber nicht sein Fühlen. In seinem rohen, zerwühlten Gesicht strahlte[S. 248] jählings etwas selten, fast nie Geschautes auf — eine wehe Güte — eine schmerzvolle Liebe ...

»Wenn hei nu eens Dogs nich wedder köm' — dat deed di weih, nich wohr, mien Deern?«

Wunderlicher Gesell — seine Stimme zitterte — es stand etwas in seinem Auge, das im stillen Schein des Glühdrahts blinkte wie eine Perle ... Und schon war's verwischt, hinweggeweht ... und etwas Tückisches, Lauerndes, Abscheuliches flatterte empor.

»Ick will di wat vertellen, Antje ... Clos un ick — wi gohn hüt nacht en sworen Gang tausomen ...«

Antje saß erstarrt ... ganz Lauschen — ganz ahnungsvolles Grausen ...

»Meuglich, dat wi tausom'n dorbi kaput gohn ... dat wi, kein ein wedder an Mudders Disch tau sitten kümmt ... Dat wull ick di seggen, mien Deern ... du sast dei Ollen grüßen van uns twei ... un wenn't so kümmt ... denn sast du Vaddern seggen, dat wi follen sünd op dat grote Slachtfeld von dei Frieheit — as truge Söhns von't Proletariat ...«

»Um Gottes willen, Tedje — wat hebbt ji vör?!«

Und mit dem nervösen Begreifen, das diese grausengewöhnte Zeit ihren Menschen angezüchtet:

»Den'n Damper! dei ›Dütschland‹? ... dei wöllt ji sabotieren —?!«

Tedje schwieg — ein Satansgrinsen um die Lippen, zwischen denen die Zähne bleckten wie ein Hyänengebiß.

»Jo — dei geiht in dei Luft, hüt nacht!!«

»Dat's nich wohr, Tedje — dat's nich wohr!«

»So wohr as ik hüt noch hier sitt — un morgen vellicht nich miehr ... Wi hebbt sworen, Clos un ick —!«

»Tedje —« schrie das Mädchen, »un Anders? — Wat is mit Anders?!«

[S. 249]

Da verzerrte sich des Bruders Gesicht zu einer Grimasse urweltentstiegenen Hasses.

»Dien Kierl — hahaha! Dien Kierl! Weißt du, wer dat is? 'n Spitzel is hei, 'n ganz hundsgemeinen Verräter!«

Und in grellen, abgerissenen Sätzen stieß er heraus, was er wußte von Anders Niemann. Daß er in Wahrheit Heinz Freimann sei — und daß er um halb zehn das Fräulein Carstensen treffen wolle, seine Braut, um ihr den Anschlag seiner Kameraden zu verraten.

»Öwerst doar hett hei keen Glück mit — Clos Mönkebüll bliwt em op de Hacken ... hei mutt met op dei Werft ... Un wenn wi annern in dei Luft gohn, denn geiht hei mit! Un wenn hei sich vörher muckst, dann sitt em Clos sien Messer twüschen dei Rippen!«

Entgeistert hatte Antje der entsetzlichen Kunde gelauscht. Nun saß sie noch immer bewegungslos, unfähig, das Unfaßbare in sich aufzunehmen.

»Na, Deern, wat seggst nu tau dien'n Kierl?! Dat heff'k di seggen wullt — dat du weißt, wat hei vör'n Halunk weur — un dat hei nich wert is, dat du di üm em grämst, wenn hei verswinnt op Nimmerwedderseihn ...«

»Tedje!« schrie Antje. »Dat dörft ji nich — ji dörft em nix dauhn! Ji kennt em nich — öwerst ick, ick kenn' em ... Ick heff dat jo allens wußt, von'n iersten Oogenblick an heff ick dat wußt, donn all, as ick em seih'n heff an Mudders Disch ...«

»Dat — hest du — wußt?!«

»Dat heff ick, Tedje ...« Und in jagenden Worten versuchte sie dem Bruder klarzumachen, was den Kapitänleutnant Heinz Freimann heruntergezogen in die Welt der harten Handarbeit ums tägliche Brot ...

Tedje Tietgens hatte sich in einen Stuhl fallen lassen. Er ließ der Schwester angstgehetzte Schilderung über sich hinbrausen — im Anfang mit hämischem Grinsen — dann[S. 250] immer gebannter ... immer verstörter. Fern, ganz fern dämmerte etwas herauf — eine Ahnung, ein mattes, ungewisses, hauchhaftes Leuchten ...

Nein — nein — das durfte nicht sein ... Der Traum von der roten Seligkeit, die moskowitische Prophetie hatte in Tedjes zerfahrenes, verludertes Leben etwas wie einen Sinn, ein Ziel, eine Hoffnung hineingebracht ... An das alles klammerte er sich verzweifelt an, um nicht ins Bodenlose zu sinken ... Brüsk raffte er sich auf:

»So — nu is't 'naug, Antje! Hest di gaud besabbeln loten, Deern — ick fall' do nich op 'rin! Allens Swindel, allens Kaptalistenhumbug! Adjüs, Swester — ick heff di seggt, wat ick weit — nu mok, wat du wullt ... grüß dei Öllern — un wenn wi nich wedderkomen — denn vergeet mi nich ganz, heurst?«

Er faßte die Schwester an beiden Schultern, wie er's so oft getan — preßte sie an sich in wilder, verzweifelter Zärtlichkeit — riß sich los — stürmte hinaus, die hölzerne Stiege hinunter polterten seine schweren Schuhe, die Tür fiel drunten ins Schloß, auf der Straße verklang sein Schritt.

An allen Gliedern schlotternd, stand Antje. Über ihre zuckenden Wangen stürzten die Tränen.

Was tun? Was tun?!

Die »Deutschland« sabotiert — Antje wußte, was das bedeutete. Die H. T. L. — die United Transatlantic Lines — die Hammonia-Werft — alles brach zusammen. Ach — und ihre kleine Welt? Die Welt ihres armen, gemarterten Herzens? Der Bruder — Clas — verloren beide ... diese enge, geliebte Stube — morgen wird sie widerhallen vom Jammer der Verzweiflung ...

Und Heinz —! Wo war er? Sie wußte es nicht — kein Schatten einer Ahnung ... Nur das eine war gewiß: Er war in den Händen der zwei Männer, mit denen er seit einem[S. 251] Jahr Wachen und Schlaf geteilt — die er als seine Freunde, sie wußte es, geehrt und geliebt — nun waren sie binnen einer Stunde durch ein unbegreifliches Schrecknis seine Todfeinde geworden ...

Auch er — verloren — verloren ... und damit das letzte, was ihres eigenen Lebens ganzer Sinn und Inhalt geworden war.

Was tun?! Es gab nur eine Antwort, nur eine Lösung:

Zu ihr — zu der andern — zu seiner Braut. Wenn einer noch retten konnte — dann war sie es — sie — und die Menschen, die sie umgaben — die Klugen, die Starken, die Mächtigen.

Und schon stand Antje in Hut und Mantel, schon raste sie die Treppe hinunter.

Zu ihr ... zur Schwester ihres Leides ...


6

Aus ungezählten hellerleuchteten Fenstern strahlte Haus Freimann die Siegeshoffnung seines Herrn in die Märznacht — in die kahlen Parks und Baumarkaden um die vornehmste Villenstraße Deutschlands.

Die Yankees waren keine zugeknöpften Engländer — sie waren freimütige Söhne eines freien Landes. Es war ihnen wohl in dieser Stunde, durch die ein warmer Hauch von Versöhnung, von Menschlichkeit, von Hoffnung flutete. Und sie hielten's nicht für Raub, sich behaglich zu geben, wo sie sich behaglich fühlten.

Die Herren waren im Salon beisammen, in Gruppen um kleine Tische verteilt. Frau Johanna inmitten — strahlend in Hoffnung und Güte. Manch offenes Männerwort wurde gesprochen. Die Deutschen konnten sich manchen lange getragenen Groll von der Seele reden.

[S. 252]

Hinüber und herüber flog's — Anklagen, Bitterkeiten — grundlose und tief berechtigte hüben und drüben ...

Und doch über dem allen eine geheime Entspannung. Man sah sich, man fühlte sich wieder — man sprach sich aus ... man fing an, einander zu begreifen ...

Die Jugend im Saale hatte kurzen Prozeß gemacht. Ihr Lebensdrang, ihr Freudebedürfnis hatte den großen Abgrund schnell überbrückt. Misses und Jungmädchen, Jungherren und Gentlemen drehten sich längst im Onestep, im Boston, im Tango ...

Zwar fehlte von den beiden jungen Königinnen dieses Abends die eine: Ilse Carstensen hatte sich nach aufgehobener Tafel für eine Stunde entschuldigen lassen. Die war längst herum — aber vergebens schauten die jungen Ingenieure und Abteilungschefs vom Patterson-Konzern sich die Augen aus nach der schlanken blonden Hamburgerin. Bessie aber konnte sich kaum des Ansturms der kriegsgestählten Jünglinge erwehren, auf deren Fräcken — nu jrade! — die Eisernen Kreuze von verbrausten Schlachten, von verschmerzten Leidensjahren erzählten.

Wie ein Turm ragte Bob Timmermanns' Hünengestalt, leuchtete sein blonder Schädel, flammte sein blonder Bart über dem Tanzgewühl. Er brach sich und seiner Tänzerin Bahn wie seine Schiffe durchs Wellentosen des entfesselten Ozeans ... Aber immer wieder sah man in seinem Arm das straffe Körperchen der munteren Bessie, an seinem breiten Männerbusen das kapriziöse Köpfchen mit den weißblonden Wuschellocken. Und im Gewühl neigte der Riese den kantigen Friesenschädel, schmachtete das Schelmengesicht zu ihm empor:

Bär du — Hunnensohn — du gefällst mir ...

Musik verklingt — Gewühl beruhigt, entwirrt sich ...

Zu Bob Timmermanns tritt auf leisen Sohlen, in Eskarpins[S. 253] und Seidenstrümpfen, korrekt gefältelten Gesichts der greise Charlie:

»Herr Generaldirektor — eine Sekunde, wenn ich bitten darf ...«

»Schön — verzeihen Sie, Miß Bessie ... Gehen Sie hinaus«, flüsterte Timmermanns dem alten Diener zu. »Ich finde Sie draußen ...«

Verflucht! Jedenfalls etwas Unangenehmes ... Eine Meldung von der Werft ... Nur jetzt keine Krise, nur jetzt nicht ...

Beim Hinaustreten erkannte er sofort die junge Dame im schlichten Lodenmantel ... die Sekretärin des Hausherrn.

»Fräulein Tietgens — was gibt's?«

»Herr Generaldirektor — heut nacht um drei Uhr soll die ›Deutschland‹ in die Luft gesprengt werden.«

»So — —« sagte Bob Timmermanns tonlos. »So — — Erzählen Sie, Fräulein.«

»Herr Generaldirektor — ist Fräulein Carstensen wieder im Saal?«

»Nein — sie hat sich vor — es muß schon länger als eine halbe Stunde sein — sie hat sich entschuldigt — Kopfschmerzen — ist nach Hause gegangen — wollte bald wieder hier sein. Aber was hat das mit — mit der ›Deutschland‹ zu tun?«

»Sie — ist nicht — wiedergekommen?! Ich war vor zehn Minuten schon einmal hier, um nach Fräulein Carstensen zu fragen — man sagte mir, sie sei nach Hause gegangen — ich ging zur Villa Carstensen ... Da ist sie auch nicht ... ist überhaupt gar nicht da gewesen ...«

Robert Timmermanns griff sich an den Kopf. »Sie machen einen ganz verständigen Eindruck, Fräulein — aber alles, was Sie mir da erzählen — bitte, nehmen Sie sich ein wenig zusammen — und sagen Sie mir kurz und bündig, was Sie zu sagen haben.«

[S. 254]

Und nun erzählte Antje. Ihr Bericht war klar wie ein Diktatbrief ihres Chefs.

Der Generaldirektor hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu, ohne sie auch nur durch einen Ausruf, einen Laut zu unterbrechen.

»Fräulein,« sagte er dann mit einer Gelassenheit, durch die nur leise das Beben seiner Erschütterung hindurchschwang, »Sie wissen, was auf dem Spiele steht. Die Amerikaner dürfen's nicht merken — Sie verstehen mich. Ich werde niemanden benachrichtigen als — als meinen Bruder, der glücklicherweise drinnen im Saal ist. Und, Fräulein — Ihren Herrn Chef werden wir auch in Kenntnis setzen müssen.«

Er winkte dem alten Charlie — der stand wie eine Mumie an der Saaltür, hinter der eben jetzt aufs neue die lockenden Tanzweisen aufquirlten.

»Kennen Sie meinen Bruder, den Leutnant Timmermanns? Ich muß ihn sprechen. Holen Sie ihn heraus — und auch den Herrn Präsidenten. Aber so, daß es nicht auffällt — verstanden?«

Der Diener nickte wortlos. Die Saaltür öffnete sich, eine Sekunde lang blitzte das Fest in die Dämmerung der Diele hinaus, jubilierten die Geigen, rauschten die Akkorde des Flügels, schwebte der Tanz einher. Antjes Seele schrie. Bob Timmermanns stand unbeweglich, das harte Gesicht in scharfem Überlegen zusammengekrampft.

Im Augenblick, da der Alte die Tür von draußen schließen wollte, schlüpfte ein zierliches Figürchen an ihm vorüber, von perlmutterfarben schillernden Pailletten überrieselt, spähenden Blicks — Bessie ... Hatten ihre Indianersinne die Witterung des drangvollen Moments?

»Verdammt — die fehlt uns gerade ...« zischte Timmermanns.

[S. 255]

Aber schon hatte Bessie ihre Freundin Antje erkannt. Sie raschelte heran, streckte beide Hände aus.

»Oh, das ist schön, daß Sie kommen, Miß Antje. — Ich habe mich den ganzen Abend nach Ihnen gesehnt! Warum sind Sie nicht auf dem Fest? Sie gehören doch auch dazu ... Ich wette, Sie haben wegen dieses Schiffes mehr Briefe geschrieben als alle anderen Menschen zusammengenommen! — Aber — was haben Sie? Sie sind ja so aufgeregt? Und auch Sie, Mister Bobbie.«

Sie ließ sich nicht beruhigen. »Nein, nein, mir macht keiner was vor — stimmt etwas nicht in Ihrem Stapellauf? Es wäre entsetzlich ...«

»Fräulein Bessie,« sagte Timmermanns, der von ihrem hastigen Englisch natürlich keinen Ton verstand, aber den Sinn ihrer Fragen erriet, »gehen Sie ruhig wieder hinein — ich komme gleich zurück, Sie haben mir den nächsten Boston versprochen ... Fräulein Tietgens hat etwas Geschäftliches mit mir zu bereden — zu Unruhe ist nicht die leiseste Veranlassung ...«

Umsonst — da kamen schon die Herren — der Leutnant, der Präsident. Und Bessie war nicht abzuschütteln ...

»Nein, nein, ich gehe nicht fort ... Ich will wissen, was los ist ... Vor allem will ich wissen, wo Miß Ilse ist ...«

Es blieb nichts übrig — man mußte in ihrer Gegenwart Antjes Bericht entgegennehmen.

Mit der letzten Anspannung seiner Willenskraft hörte Georg Freimann seine Mitarbeiterin an. Was die sagte, war unbesehen als Wahrheit anzunehmen. Aber — — welche Kunde!!

Die »Deutschland« in Gefahr — Ilse verschwunden — Heinz wiedergefunden, aber in höchster Not ...

Ein Schwindel wollte den Reeder umwerfen. Gewaltsam raffte er sich zusammen — und übernahm sofort die Führung.

[S. 256]

»Miß Bessie, Sie haben gehört und verstanden, nicht wahr? Ich erwarte von Ihrer Freundschaft zu uns allen, daß Sie Ihrem Vater und Ihren Landsleuten gegenüber schweigen werden. Versprechen Sie mir das?«

Das Mädchen kämpfte vergebens mit den Tränen. »Miß Ilse!« stammelte sie schluchzend, »o Gott, wo ist Miß Ilse?!«

»Davon später! Ihre Hand, Miß Bessie — Sie werden die Ihrigen nicht unnütz und vorzeitig beunruhigen? Gut — so bleiben Sie ... Herr Generaldirektor — Sie übernehmen ja wohl den Schutz der Werft. Mein Wagen wird Sie zum Hafen bringen. — Sie alarmieren die Hafenpolizei, außerdem werde ich Ihnen noch zwei oder drei Ihrer jungen Herren herausschicken ... Genügt das? Oder haben Sie noch Wünsche oder Fragen?«

»Nein, Herr Präsident!« sagte Robert fest.

»Gut — so bleiben zwei weitere Fragen: Wo ist Fräulein Ilse Carstensen — und wo ist mein Sohn? Haben Sie eine entfernte Vorstellung, Fräulein Tietgens, was mit den beiden geschehen sein könnte?«

»Nein, Herr Präsident«, flüsterte Antje. »Nicht die leiseste Ahnung ... Aber ich fürchte, ich fürchte ...«

»Was fürchten Sie?!«

»Ich weiß — daß mein Bruder ...« Schamglühenden Gesichtes verstummte sie.

»Ihr Bruder hat schon seit Monaten Fräulein Carstensen beunruhigt —« sagte Robert. »Wir wissen es, Fräulein Tietgens. Glauben Sie, daß — halten Sie es für möglich — — mein Gott, das wäre ja entsetzlich ...«

»Ich ... kann mir wenigstens Fräulein Carstensens Verschwinden — nur auf diese Weise erklären —« stammelte das gepeinigte Mädchen.

»So ... das ... halten Sie für möglich«, sagte Georg Freimann[S. 257] durch die Zähne. »Und wohin könnte er sie ... mein Himmel — — Hamburg ist groß ...«

Verzweifelt zuckte Antje die Achseln.

Die kleine Bessie hatte bislang stumm und gespannt gelauscht. Jetzt trat sie hastig einen Schritt vor:

»Ich weiß, wo Miß Ilse ist! Mister Freimann, geben Sie mir einen tapferen jungen Mann zur Begleitung, mehr brauche ich nicht. Mister Timmermanns soll sich Polizisten holen, ich werde mir auch Polizisten holen. Aber außerdem brauche ich einen tapferen und eleganten jungen Mann zur Begleitung. Geben Sie mir den, ich werde Miß Ilse finden und befreien.«

Sie ließ sich auf keinerlei weitere Erklärungen ein. Aber ihre Bestimmtheit hatte etwas dermaßen Ansteckendes und Beruhigendes —

»Gut«, entschied Georg Freimann. »Sehen Sie sich diesen Herrn da an — Sie wissen, es ist der Bruder des Herrn Generaldirektors Timmermanns — würde der Ihren Ansprüchen genügen?«

Bessie musterte den Leutnant mit scharfer Prüfung.

»Er tanzt sehr gut, dieser Herr — er hat auch sehr viele Orden, also ist er jedenfalls sehr tapfer gewesen — er genügt mir. Kommen Sie, Mister Timmermanns.«

»Ich vertraue Ihnen Fräulein Bessie an, Herr Leutnant«, sagte Freimann. »Ich weiß, Sie werden sich eher in Stücke reißen lassen ...«

»Dessen können der Herr Präsident sicher sein«, sagte Armin.

»Gut — so bliebe noch zu überlegen, ob wir nichts für meinen — Sohn tun können ...«

Und abermals stand Antjes zuckendes Gesicht in dunkler Glut.

»Er wohnt bei meinen Eltern ... Wenn er irgendwo zu[S. 258] finden ist, dann ist er dort ... Ich will hingehen ... Es ist wenigstens eine entfernte Möglichkeit ...«

Wiederum griff die kleine Amerikanerin ein. »Wir gehen nachher alle mit Ihnen, Miß Antje, und suchen den jungen Mister Freimann. Vorher aber suchen wir Miß Ilse — und Sie, Sie gehen mit uns. Wir werden in die schlimmen Viertel gehen — und Sie, Sie kennen sich aus in den schlimmen Vierteln ... Miß Ilse haben wir in einer halben Stunde — dann ist immer noch Zeit, Mister Freimann zu suchen ...«

»Miß Bessie,« sagte der Präsident, »ich mache mir schwere Gewissensbisse, Sie ohne Zustimmung Ihres Vaters in ein Abenteuer —«

»Oh, oh, Mister Freimann, nein, nein. — Sie werden doch meinen guten Daddy nicht aufregen! Ach nein, der ist solche kleine Überraschungen von mir gewohnt ...«

»Jedenfalls ist es mir eine große Beruhigung, Fräulein Tietgens, daß Sie mit von der Partie sind ... Mein Gott, welche Zeit, welche Zeit ...«

»Herr Präsident,« sagte Robert Timmermanns, »es ist jetzt alles aufs beste überlegt. Gehen Sie ruhig zu Ihren Gästen zurück — die dürfen unter keinen Umständen etwas merken. Dazu brauchen Sie ihre Nerven. Alles andere überlassen Sie ruhig Ihren Getreuen ...«

Als die drei jungen Ingenieure der Werft, die Georg Freimann zusammengesucht hatte, sich im Vestibül einfanden, trafen sie den Generaldirektor bereits im Pelz. »Vorwärts, vorwärts, meine Herren ... das Auto wartet ... Ich erkläre Ihnen draußen alles.«

Armin strahlte wie ein Sekundaner beim ersten Rendezvous, als er der kleinen Amerikanerin den Arm bot. »Gnädiges Fräulein — ich habe in Krieg und Frieden manche nächtliche Streife mitgemacht — aber noch nie mit einer Dame am Arm ...«

[S. 259]

Bessie, bis zur Nasenspitze in einen Sealpelz von märchenhafter Kostbarkeit gehüllt, schob ihre feste kleine Rechte in den straffen Arm ihres Kavaliers — mit der Linken zog sie Antje an sich heran.

»Wir werden gehen an ein sehr schlimmes Platz ... Ich noch nicht weiß, wie zu kommen hinein ... Ich werde sein ein kleines Mädchen von der Straße ... und will gehen mit Sie zu solch eine Platz, wo er will bleiben mit ihr in diese Nacht ...«

»Donnerwetter!« schmunzelte Armin. Aber er schämte sich sofort. Die Lage war verteufelt ernst.

Die drei traten in den Park hinaus. Ein frühlingslauer Nachtsturm tobte ihnen entgegen.

»Also kommt ... Ich weiß sehr genau das Weg ... nur ich weiß nicht, wo zu finden das nächste Police office ...«

»Das weiß ich«, sagte Antje. »Aber schnell, schnell, Miß Bessie ...«

Unter den sturmgepeitschten Ulmen des Harvestehuder Weges warteten das Carstensensche und das Freimannsche Auto. Wenige Sekunden später sausten beide davon — das eine zum Hafen, das andere zur Neustadt.

Georg Freimann aber hatte schon längst mit strahlendem Gesichte den Saal betreten. Der Tanz war wieder flott im Gange. Amerika und Deutschland plauderten, flirteten, stepten, becherten um die Wette. Es war nichts vorgefallen — gar nichts.

»Ich gratuliere Ihnen, lieber Freund«, sagte Elias Patterson und klopfte dem Hausherrn bewundernd auf die Schulter. »Ein ganz entzückendes Fest — ein glückliches Omen für morgen — und ein vielversprechender Auftakt für die Reihe von angenehmen Tagen, die Ihre Gastfreundschaft uns bereiten wird ... Ihr seid doch Mordskerle, ihr Deutschen ...«


[S. 260]

7

Entsetzlich, mit solch aberwitzigen Träumen ringen zu müssen — — und sich nicht wachkämpfen zu können ... Es war ja, dem Himmel sei Dank, nur ein Traum, das alles ... Gleich würde sie aufwachen ... in ihrem behüteten Bettchen daheim — und die abscheuliche Vision abschütteln mit einem befreienden Aufatmen ... diese ekelhaften Wahnbilder von einem angstvollen Gang durch den Freimannschen Park — um irgendwen — wen nur? — zu treffen — von einem Auto, in das man vertrauensvoll einstieg, um diesen jemand zu finden. Von einer frechen Umarmung — einem abscheulichen, süßlichen, erstickenden Geruch — von mühsamer Gegenwehr gegen ein grausiges, unfaßliches Etwas, das sich auf Lunge und Willen stürzte ...

Himmel, wie schwer der Schlaf — wie mühsam dieser Kampf um das erlösende Erwachen ... Eine Angst schwoll in Ilses Brust. — Mein Gott — wenn das alles am Ende gar kein — Traum — gewesen wäre — sondern —

Mit letzter Anspannung rüttelte Ilse an den verschlossenen Pforten des Erwachens — nun richtete sie sich empor, nun riß sie krampfhaft die Augen auf — — und schloß sie sofort wieder, von Grausen durchfröstelt bis ins Mark. Nein — der Traum war noch immer nicht abgeschüttelt ... oder — —?!

Und abermals hob sie mühsam die Lider — — und sah — — und sah — — sah sich — — nicht im Nachtgewande, nicht in ihrem behüteten Bettchen — nein, in ihrem meergrünen Gesellschaftskleide, mit bloßen Schultern, denen der pelzgefütterte Abendmantel entglitten war — — wo? Auf einem verschlissenen verstaubten Diwan, inmitten eines Berges abgeschabter Kissen, die nach alten, schlechten Parfüms und kaltem Zigarettenqualm rochen ... verknitterte Samtportieren — ein Taburett, darauf ein Sektkühler mit zwei goldenen[S. 261] Flaschenhälsen — zwei Schalen, in denen die Perlen leise knisternd aufstiegen ...

Wahnsinn!! Gegenüber ein aufgeschlagenes Bett ... aufgleißend im matten Schein einer roten Ampel ...

Und neben dem Bett saß ... ein Dämon ... ein Tier mit lauerndem Basiliskenblick ... er ... der Kerl ...

Ein einziger wilder Schrei des Entsetzens — dann hatte Ilse begriffen. Und schon hatte sie sich gefaßt. Sie erstarrte in der Haltung einer unnahbaren Königin. Sie wußte, daß sie verloren war. Und ihre Hände tasteten, ihre Augen spähten umher nach einem Werkzeug, sich die hämmernden Adern zu öffnen.

»Na, mien Deern — glücklich opwokt!« grinste der Unhold. »Wat heff ick di seggt —?! Mien Kamroden in Rußland — —«

Seltsam — Ilse Carstensen empfand eigentlich keine Angst. Nicht ein Mensch, ein Deutscher, ein Landsmann — ein betrunkener Gorilla ... Was diese glotzenden Augen heischten, diese zusammengekrampften Fäuste zu erzwingen willens waren, das war vollkommen unmöglich — das würde nie geschehen. Und ihre schmalen Lippen sprachen im Ton unsäglicher Verachtung über den Abgrund der Klassen hinüber:

»Ich wünsche ungestört zu bleiben. Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Über Tedjes Haupt klang in diesem Augenblick ein dunkles Rauschen. Er kannte es — aus den Erzählungen seiner Kameraden im Felde, wenn eine größere Unternehmung bevorstand. Dann hatte der oder jener seiner liebsten Kriegsgesellen ihm heiser flüsternd dies Gefühl beschrieben ... und von denen, die sich solchermaßen ihrer Angst zu entlasten versucht hatten, war niemals einer wiedergekommen.

Da ächzte der wilde Tedje — und in seinem fiebergeschüttelten Körper schäumte gieriger Lebenshunger, quälender[S. 262] Durst nach Helle, Glück, Genüssen empor ... Die Stunde war da, die er ewig ersehnt hatte. Die lichte, die obere Welt ... Die Welt, die nichts von Schmutz und Schweiß, von Frost und Hunger, von eintönig freudloser Arbeit und stumpfsinnigen, tierischen Genüssen weiß. Die Welt voll Inhalt, voll Seele, voll Sinn ...

Und wie sie da vor ihm sich auftat — das Sinnbild seiner Träume, in seiner Hand, ihm verfallen, wehrlos, rettungslos — da fühlte, da wußte sein dumpfgrübelndes Hirn, daß er sie ja doch nie erfassen, nie besitzen, nie — haben könnte ... Sie an sich reißen, wie man ein kostbar gebundenes Buch rauben mag, ein Buch, dessen Lettern man nicht lesen kann — ja, das vermochte er ... Ein solches Buch kann der Räuber verschmutzen, zerreißen, zerstampfen — begreifen, erfassen, erleben kann er es nicht.

Das alles schoß als mystisches Ahnen durch den Kopf des wilden Tedje ... Das lähmte ihm den gierenden Willen, den tierischen Trieb. Ein grenzenloses Mitleid mit sich selber überkam ihn, ein tiefer Ekel vor der schmutzigen Niedrigkeit seiner Existenz, aus der er selber nichts zu machen gewußt. Selbst seine Schönheit, die ihm unzählige Frauen seines Bereichs als willenlose Beute in die Arme getrieben, seine Manneskraft, der Dunst der Gefährlichkeit, der ihm den Respekt seiner Feinde, sogar seiner Vorgesetzten im Felde verschafft hatte — in dieser Frau erweckte das alles nichts als Ekel und Abscheu — kaum Haß, ja nicht einmal Furcht, nicht einmal Abwehr ... Die Welt seiner Sehnsucht lehnte ihn ab, stieß ihn aus, ganz selbstverständlich, ganz tatlos, durch ihre bloße Gegenwart, durch ihre eisige Fremdheit, ihre weltenweite Ferne ...

Gut denn — und wenn er sie denn niemals haben, niemals erleben soll — die Welt seiner Träume — so soll sie wenigstens zertrümmert sein.

Langsam, von Selbstekel und Zerstörungswollust geschüttelt,[S. 263] erhob sich der wilde Tedje. Geduckten Hauptes, wie der Kampfstier in die Arena schreitet, tappte er auf das niedere Tischchen zu, auf dem die goldbehalsten Flaschen, die gefüllten Kristallschalen seine Sehnsucht höhnten. Und da fuhr auch das Mädchen empor. Jetzt hob der Mann die arbeitsharte Tatze, sie krampfte, sie krallte sich zusammen, die blassen Schultern der »Zarentochter« mit wütendem Griff zu packen. Da nahm Ilse Carstensen mit einer gelassenen Bewegung eine der Sektschalen und stieß sie dem Bedränger ins glutgedunsene Gesicht, daß sie klirrend zersprang.

Tedje taumelte, von Wein und Blut überströmt — und fühlte zugleich eine Faust in seinem Nacken. Die Tür hinter ihm war aufgeflogen — ein Herr im Frack — Schutzmannshelme — —

Aber schon hatte der Arbeiter sich losgemacht. Ein Sprung — ein Griff in das aufgeschlagene Bett — die Daunendecke flog dem Befrackten entgegen, umhüllte ihn sekundenlang, daß er wankte — den nachdrängenden Beamten in die Arme sank — — und jetzt — Höllenspuk! jetzt klaffte an der Wand zwischen Bett und Diwan ein meterbreiter schwarzer Spalt ... ein Hohngelächter gellte — der Spalt schloß sich —

Tedje Tietgens war verschwunden — wie weggeweht.

Ein Beben rann durch Ilse Carstensens hochaufgerichtete Gestalt. Ein Schrei des Entsetzens und der Erlösung zugleich ...

Und schon war das enge Gelaß mit Menschen wie gestopft. Armin Timmermanns hatte sich freigemacht, schoß auf Ilse zu:

»Zur rechten Zeit gekommen, gnädiges Fräulein?!«

Stumm nickte das Mädchen — bot ihrem Retter die eiskalte Hand. Der zog sie ritterlich an die Lippen ... Und jetzt — jetzt schwirrte ein helles Triumphlachen — und da streckte Bessie der geretteten Freundin ihr festes Händchen entgegen, fiel ihr jauchzend und schluchzend um den Hals ... und jetzt[S. 264] — hoch lauschte Ilse auf — durch das wirre Brausen erregter Männerstimmen hatte sie eine Stimme vernommen —

Gewimmel der Polizisten, die alle Möbel abrückten, Teppiche und Bilder aufhoben, um nach der Feder zur geheimen Tür zu fahnden, durch die der Attentäter verschwunden war.

Sie stießen eine scheußliche, schlotternde, greinende Vettel in die Mitte des Raumes ...

»Olle Düwelsbroden, wies uns dei Fedder, süß brekt wi di alle Rippen in'n Liew kaput ...«

Und jetzt — durch die Reihen der Behelmten drängte sich ein junger Mann in einer Matrosenbluse ...

»Ilse —!!«

Da warf Senator Carstensens stolze Tochter sich an des Verlobten Brust. Vergebens Fragen, Bitten, Tröstungen. Sie weinte — weinte — weinte.


8

Über den unruhig wogenden Elbstrom, vom Sprühschaum umstiebt, sauste ein leise fauchendes Motorboot. Am Steven, fieberhaft nach vorn spähend, als könne sein Blick die Mitternachtsschwärze durchdringen, stand Robert Timmermanns — den Zylinder fest in den Nacken geschoben, den Paletot überm Frack. Neben ihm ein Polizeileutnant, im Boot ein Vierteldutzend junger Ingenieure der Werft und zwölf Schutzleute, Karabiner umgehängt, Revolver im Gurt.

»In dieser Nacht, Herr Generaldirektor,« flüsterte der Polizeileutnant, »rückt die Armee der Ordnung in die Stadt Berlin ein ... Morgen früh sitzt die Regierung der Republik hinter Schloß und Riegel ... In acht Tagen herrscht wieder Zucht und Recht in Deutschland.«

[S. 265]

»Gott geb's!« knurrte Robert. »Mir ist's im Augenblick wichtiger, daß wir noch zurecht kommen, ehe sie uns die ›Deutschland‹ in die Luft sprengen.«

Kommen wir zu spät, dachte er bei sich — dann schieß' ich mir eine Kugel aus Armins Karabiner in den Schädel.

Schade wär's doch —! sann er grimmig. Es fing gerade an, ein bißchen nett zu werden — das Leben. United Transatlantic Lines — Generaldirektor — Stapellauf der »Deutschland« — und ich laß mich hängen, wenn ich die tolle kleine Yankeemaid nicht doch noch ein bißchen lieber habe, als ich diese unheimlich vornehme Ilse jemals hätte haben können ... Na — wollen sehen ... Wenn mir von den Saboteuren einer zwischen die Klauen kommt, dem sei Gott gnädig ...

Auf der Werft alles still. Der riesige Würfel des Verwaltungsgebäudes zur Linken — gegenüber das phantastische Gefüge des hochgetürmten, breit hingelagerten Helgengerüstes — und darunter wie ein Gebirge massig aufwuchtend der dunkle Gigantenleib der »Deutschland« — alles lag in gelassen rastendem Schweigen.

Da stieß — des Polizeileutnants Fuß plötzlich an etwas Weiches ... Dies Gefühl kannte er — aus hundert Nachtgefechten ...

Eine Taschenlampe blitzte auf: ein lebloser Mann — an seinem Hals ein gräßlich klaffender Schnitt — Blutgüsse auf Kleidern und Fußboden ... Bob Timmermanns erkannte den Toten: ein braver Werftwächter ...

»Ihr Hunde —!« knirschte er, »ihr Hunde!«

Weiter — weiter! Heran an die Helling, heran an das Schiff! Wir dürfen nicht zu spät kommen! Da — ein paar Gestalten, die sich niedergekauert, springen auf, rasen gehetzt von dannen. ... Schon fliegen die Karabiner an die Backen, Schüsse blitzen hinter den Fliehenden drein — weiter! weiter! Der hastige Gang wird zum Lauf — da sind wir am Schiffsrumpf[S. 266] — steil klaftert die Eisenwand sich empor, vom Gewirr der Gerüste und Laufstege befreit, bereit, in die Flut zu gleiten ...

Schau! Glimmt dort nicht etwas am Boden?! Hölle und Teufel, eine Zündschnur ... Mit den mächtigen Tatzen zerdrückt Bob Timmermanns die Glut ... Mit dem Lichtkegel der Laterne verfolgen sie die Schnur: Da steht eine Blechkiste, groß genug, um ein ganzes Geschwader in die Luft zu sprengen ... Und da — noch ein Toter — nein, ein Sterbender ... Bob Timmermanns kennt das Gesicht, aber nicht den Namen ... Ein Blondkopf mit großen, halb offenen Träumeraugen — hinter dieser Stirn hätte man alles andere gesucht als einen Dynamitarden ... Er ist gut getroffen ... aus seiner Schlagader rinnt matter schon der pulsende Strahl. Er öffnet den Mund — will etwas sagen — aber es kommt kaum noch ein Hauch ... Es klingt wie: Antje ...

Hast gebüßt, Gesell. Zieh hin, wo auf dich wartet, was du verdient hast.

Sie haben gut gesorgt, die Hunde. Mittschiffs eine zweite Kiste aufgebaut, am Heck eine dritte. Vor allem die Zündschnuren durchschneiden! Unnütze Vorsicht — die haben sie nicht einmal mehr in Brand gekriegt — außer der einen.

Der Polizeileutnant teilt eine Wache und Patrouillen ein. Das ganze Werftgelände wird abgestreift, ein paar junge Kerle, die sich versteckt hatten, werden eingefangen und unsanft vor den Leutnant geführt. Schluchzend gestehen sie ihre Teilnahme an dem Komplott. Aufgefordert aber, die Namen der Rädelsführer zu nennen, schweigen sie, halb angstvoll, halb verbissen. Einen Kameraden verraten? Das tut man nicht — außerdem würde es einem schlecht bekommen. — Einer ist gefallen — kennt ihr den? Sie werden zu dem Toten geführt: Ja — das ist der Mönkebüll.

Still liegt das weite Werftgelände, still dahinter zieht der[S. 267] Fluß seine Bahn zum Meer. Hamburg schläft, Altona schläft. Die paar Schüsse haben die Stadt der Arbeit nicht aus dem Schlummer geweckt.


Bob Timmermanns saß in seinem einsamen Bureau und braute sich einen Grog. Über ihn kam eine furchtbare Müdigkeit. Verflucht, waren das Tage gewesen ... Die Vorbereitungen für die Ankunft der Amerikaner, für den Stapellauf hatten die Direktion in fieberhafter Anspannung gehalten. Und dann — das Fest ... der Tanz ... Die Ankunft der Sekretärin — ihre Schreckensbotschaft — Kleine Bessie — wie mag's dir ergangen sein.

Des Riesen harte Züge wurden ganz weich. Er streckte sich in seinem Klubsessel, trank in bedächtigen Zügen das glühheiße Getränk — und fiel in Träumerei. Kleine — süße Bessie ... Ein ganzer Teufelskerl, diese tolle Neuyorkerin ... Mit ihrer ruhigen Bestimmtheit hatte sie sogar dem Präsidenten imponiert.

Hamburg ist groß! hatte er mit hängenden Armen gesagt. Und die Kleine: Ich weiß, wo sie ist ... Glück zu, Prachtkerlchen ... Wenn du das fertig bringst — und uns unsere Ilse wiederschaffst — dann verlange von Bob Timmermanns, daß er vom Aussichtstürmchen auf dem Helgengerüst in die Elbe springt — er tut's.

Kleine ... süßeste ... Bessie ...

»Guten Morgen, Bob.«

Der Generaldirektor fuhr auf. Teufel — eingeschlafen ... Vor ihm stand sein Bruder Armin — auch er noch immer im Frack.

»Erzähl'!«

»Gerettet!«

»Erzähl'!«

[S. 268]

»Erst einen Grog, mein Teurer ... Die Hauptsache weißt du ja.«

Ein hastiges Berichten hinüber und herüber.

»Entwischt — Düwel un Dunnerslag!« fluchte Bob. »Gib acht, der macht uns noch zu schaffen! Ich wette, der steckt hinter allem ... und du meinst, er hat ihr nichts getan?«

»Wir sind im allerletzten Augenblick gekommen. Hat ihm einfach das Sektglas in die Fresse gehauen!«

»Die Ilse! Die Prinzessin! Kaum zu fassen! Wo ist sie nun?«

»Liegt jedenfalls im Augenblick schon mollig und weich in ihrem seidenen Bettchen ...« schmunzelte Armin. »Ja, mein guter Bob — bei der hast du verspielt ...«

Bob Timmermanns entzündete die Spiritusflamme aufs neue. Er lachte stumm in sich hinein. Wenn du ahntest, Bruderherz ... »Zigarette gefällig?«

»Danke!« sagte Armin und füllte sich sein Etui.

»Und — die kleine Amerikanerin?« fragte Bob — leichthin, wie er meinte. Aber des Bruders scharfes Ohr hatte doch den Unterton gehört. Er lachte in sich hinein. Recht so ... Geld in die Familie ...

»Weißt du, was — ich bekommen habe von der? So wahr ich lebe — einen Kuß! — Da leckst du dir die Lippen, nicht — Bobchen?! Habe sie dann persönlich im Atlantic abgeliefert. Sie platzt vor Stolz. Übrigens mit Recht. Süßer kleiner Käfer — schwärmt für dich, Bob!«

Er bekam keine Antwort. Einen Augenblick träumten beide Brüder den Wölkchen ihrer Zigaretten nach.

»Na, mein Jung,« fragte nach einer kleinen Pause Armin, »bist du nun bald soweit? Glaubst du's nun, daß Republik und Chaos das gleiche bedeuten?«

Bob gähnte heftig. »Verdammt müde«, sagte er. »Büschen happig, dieses Nächtchen.«

[S. 269]

»Schlaf, Michel, schlaf!« sang Armin wütend. »Du wirst's nicht eher glauben, als bis du mit der ganzen Werft in die Luft fliegst.«

Bob rappelte sich auf. »Ne, Armin, du hast recht. Wenn dein Kapp es schafft — ich war schon ein halber Republikaner — aber dann mausere ich mich rückwärts. So geht's nicht weiter.«

»Aha — dich ins Schlepptau nehmen lassen, wenn's gut gegangen ist! So reden sie alle — so schwatzt dies ganze marklose Bürgertum ... Nein — mittun — selber handeln — vorangehen!«

»Das mögen andere machen. Ich bin Generaldirektor der Werft — werde morgen alle Hände voll zu tun haben, den Streik niederzuhalten.«

»So is recht — Herr Generaldirektor! Jeder sorgt für sein Krämchen — rettet ›die‹ Deutschland — seine kleine ›Deutschland‹, und derweil geht das große Deutschland in die Luft — äh — schlappe, versumpfende Nation ...«

»Was soll ich machen?!«

»Erlaube mir, mich morgen mit einer Anzahl meiner Kameraden in Arbeiterkleidern auf der Werft einzufinden. Wir schaffen noch vor Dämmerung unsere Waffen heran ...«

»Du vergißt, lieber Kerl: der Eigentümer der Werft ist ein gewisser Senator Carstensen!«

»Der wird dir's morgen danken, daß du auch diesmal in seinem Interesse das Richtige angeordnet hast! Kommt's morgen oder übermorgen auf der Werft zum Krawall — so greifen wir ein und treiben die Arbeiter zu Paaren ... Alle öffentlichen Gebäude, alle Werftdirektionen, alle Bahnhöfe in unsere Hand. Der rote Senat, die rote Bürgerschaft werden abgesetzt, eine örtliche Diktatur für Hamburg wird aufgerichtet, die Verbindung mit Berlin wird aufgenommen, über[S. 270] dem hoffentlich morgen abend die schwarz-weiß-rote Fahne weht.«

Bob war im Lauschen wach geworden. Der Schrecken saß ihm noch in den Gebeinen. Nein — wenn sie ihm an seine Schiffe wollten — dann hörte die Gemütlichkeit auf.

Und dann — die Amerikaner! Sollten sie denn schon einmal das Schauspiel eines deutschen Bürgerkrieges miterleben, dann wenigstens eines solchen, der mit dem Siege der Ordnung endigte.

»Mein lieber Armin — das läßt sich hören. Das mußt du mir noch mal genauer auseinandersetzen.«

Die Brüder steckten die Köpfe zusammen.

Draußen ragte die gerettete »Deutschland«.

Und zu Füßen des Schiffes erkaltete der Leichnam eines jungen Deutschen, der für das Vaterland seiner Träume gestorben war.


9

Tedje Tietgens tastete sich einen Seitengang im Labyrinth der Mudder Lore entlang, der, nur ihm bekannt, in einer Nebengasse mündete. Er hatte sich im Dachsbau verirrt ... hatte lange im Finstern umhertappen müssen, nachdem er das letzte Streichholz verbrannt. Bis er schließlich fast durch einen Zufall doch noch einen Ausgang gefunden. Jetzt öffnete er eine Tür, die ins Freie führte ... Vorsicht ... Vielleicht hatten die Blauen auch dieses Schlupfloch erspäht und besetzt?! Nein — alles still ... und schon war er draußen, schob sich wie eine Katze an den finsteren, klebrigen Ziegelmauern entlang, stand auf der menschenverlassenen Wexstraße. Hastete dem Hafen zu. Er hielt einen Augenblick inne, wischte sich mit dem Rockärmel die angetrocknete Kruste aus Wein,[S. 271] Blut, Schweiß vom Gesicht. Seine mächtige Gestalt bebte, seine Kinnbacken knirschten vor fressender Wut.

Die »Zarentochter« war ihm entrissen. Jetzt wenigstens nicht zu spät kommen, wenn die »Deutschland« in die Luft geht ... Clas Mönkebüll wird da sein ... Und »Anders Niemann« — hahaha! Feine, den wenigstens kriegst du nicht wieder zu sehen — deinen »Heinz«! Der geht mit deinem Schiff in die Luft!!

Nur nicht zu spät kommen! ...

Die Turmuhren schlugen an. Verdammt ... drei Uhr ... Er beschleunigte den Schritt, stand endlich am Hafen, auf St. Pauli Fischmarkt, hart gegenüber der Werft. Dort hatten Dragomiroff und die Spießgesellen ihn erwarten wollen.

Alles tot, menschenleer. Verdammt ... also doch zu spät gekommen ... Aber — warum ging's denn da drüben noch nicht los?!

Horch — ein Motorboot töfft über den hochgehenden Strom — legt zu Füßen des Lauschers an. Ein paar dunkle Gestalten klimmen die Treppe hinauf — im Licht einer Straßenlaterne aus grauem Wirrbart das fahle Gesicht des Genossen Dragomiroff.

Tedje tut einen leisen Pfiff ... das Signal der Moskauer. Er wird erwidert ...

»Nun?«

Der Russe knirscht einen schmutzigen Fluch. »Jetzt kommst du, Scheißkerl — jetzt, wo alles versaut und vorüber ist ...«

Er erzählte. Eine Stunde und länger hatte er mit den Genossen gewartet — kein Clas, kein Tedje. Schließlich war Mönkebüll gekommen ...

»Allein?!« fragte Tedje heiser.

»Allein —«

»Un Anders Niemann? Ick harr em opdrogen, dat hei em[S. 272] mitbringen süll — un wenn dat nich güng, denn süll hei em kolt moken ...«

»Wohl bedacht!« lobte der Russe. »Ich habe ihm nie getraut, dem Braunen ... dann wird Clas ja wohl mit ihm abgerechnet haben. Um so besser —«

»Na — un doar dröben? Worüm is dat denn nich losgohn?«

»Da muß Verrat im Spiele sein ... Wir hatten die erste Lunte bereits angezündet — auf einmal fallen Schüsse, Mönkebüll bricht neben mir zusammen ... Wir reißen aus, was Beine hat ... Na, und da sind wir ... Ein paar von uns scheinen sie erwischt zu haben.«

»Verdammi ... wat nu, Genosse?«

Der Russe ließ sich Tedjes Abenteuer ausführlich erzählen.

»Hundesohn!« schäumte er. »Das hast du davon, daß du in einer Nacht, die der Tat gehört, dein Säuchen hüten mußtest ... Nun erzähl' mir wenigstens alles — ich merke, du hast noch irgend etwas hinterm Berge ...«

Und schamglühend mußte Tedje gestehen, daß er ein Telephongespräch belauscht hatte — und dabei erfahren, daß Anders Niemann, sein Freund und Vertrauter, der Mitwisser aller Geheimnisse des Komplotts, ein Spitzel und Verräter war ...

Auf einmal hellte des Russen Gesicht sich auf. »Du — das rettet uns vielleicht. Ein Spitzel — ein Sohn des Präsidenten der H. T. L. — das ließe sich ausschlachten ... Laß sehen — laß sehen ... Ich hab's, du Ochse! Gib acht: Ich nehme an, Clas Mönkebüll hat dafür gesorgt, daß der Verräter auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist ... jetzt drehen wir den Spieß um. Ich habe ganz sichere Nachricht, daß heute nacht in Berlin eine große gegenrevolutionäre Unternehmung zum Klappen kommt. Glückt sie, so reagiert morgen früh das ganze[S. 273] deutsche Proletariat mit dem Generalstreik. Also die Stimmung wird morgen früh ohnehin ziemlich gespannt sein. Da haken wir ein. Du bist ja dank deiner kleinen Seitensprünge bei der Unternehmung gegen die ›Deutschland‹ gar nicht kompromittiert — kannst dein Alibi nachweisen, hahaha! Du wirst morgen früh den Kollegen die Geschichte mit diesem Anders Niemann oder Heinz Freimann erzählen — und daß der die ganze Sabotagegeschichte angezettelt hat. Er selber kann sich nicht mehr verteidigen, Clas wird auch schweigen, wenn er nicht überhaupt schon ganz stumm ist ... Hast du begriffen?«

Mit glühenden Augen hatte Tedje dem Genossen zugehört. Nun dämmerte ihm das Verständnis. Ein Spitzel — der ein Jahr lang auf der Werft gearbeitet hat — den sie alle kennen, die Kollegen, und der ist ein Sohn des Präsidenten der H. T. L. — und jetzt, wo der Anschlag auf den Dampfer mißglückt, ist er verschwunden ... Daraus ließ sich etwas machen.

»Also gib acht, du Schuft. Wir stellen die Sache so dar, als ob das ganze Attentat gegen die ›Deutschland‹ das Werk eines Spitzels gewesen sei — eines agent provocateur, du weißt wohl, was das ist, nicht wahr?«

»Weit ick, weit ick«, grinste Tedje. »Ick begriep ganz gaud. Dei Kollegen söhlen gleuwen, dat dei ganze Sabotasch' —«

»— nur ein Bluff der Weißen ist — ein Mittel, das Bürgertum gegen die Arbeiterschaft aufzuputschen ... Sollst mal sehen, was das für eine bildschöne Wut gibt ... Hauptsache ist, daß der Stapellauf morgen vereitelt wird — daß die Amerikaner den Eindruck bekommen: in Deutschland geht alles drunter und drüber ... Wie ich sie kenne, werden sie sich dann für die Weiterführung des Bündnisses bedanken — werden abreisen und Werft und Linie ihrem Schicksal überlassen. Wenn wir das erreichen, ist so gut wie alles gewonnen. Die Verbindung zwischen dem Kapitalismus Amerikas und Deutschlands, die sich schon angesponnen hatte, reißt wieder ab — ein Haupthindernis[S. 274] für das Übergreifen der Weltrevolution nach Deutschland ist beseitigt. Verstehst du mich, Tedje?«

Aufleuchtenden Auges bejahte der Bursch. Die Rache ... sie kam also doch noch ...

Aber — wenn man ihn morgen da drüben — wegen seines Attentats auf die Tochter seines Chefs — verhaften ließe?!

»Du wirst nicht so dumm sein und ihnen in die Hände laufen. Bring die Arbeiterschaft nur ordentlich in Bewegung. Wenn's kocht, greift keiner ungestraft in den Topf.«

»Dat mok ick!« flammte Tedje auf. »Nich koken — öberkoken sall dei Supp — dat oll Timmermanns un oll Carstensen sick dei Nees' verbrennt!«

Und ich — hab' ich die »Zarentochter« nicht gekriegt — der andere kriegt sie wenigstens auch nicht ...

Hahaha — du Feine! Deinen Bräutigam, den siehst du nicht wieder! Der liegt, wo Mond und Sonne niemals hinscheinen — mit Clas Mönkebülls Messer zwischen den Rippen —!!

Und wenn die »Deutschland« nicht in die Luft gegangen ist — die H. T. L. geht deshalb morgen doch in die Luft! Und hoffentlich die Hammonia-Werft mit ...

Und dann — Generalstreik ... in Hamburg, in ganz Deutschland ...

Sie kommt ja doch — kommt doch — die Diktatur des Proletariats — die Weltrevolution — —!

Die rote Seligkeit — —!!


10

An der Lombardsbrücke hatten Heinz und Antje sich von Bessie und ihrem Kavalier, dem strammen Leutnant Timmermanns, verabschiedet.

Als die beiden außer Sicht waren, zog Heinz die Hand der[S. 275] Freundin in seinen Arm, beugte sich nieder und küßte die fleißigen Finger. In Dank und Wehmut schwoll ihm das Herz.

»Antje —« sagte er leise — »Antje ... alles hast du gerettet — die ›Deutschland‹, die Werft — die — Linie — meines Vaters Lebenswerk — meine Ilse — mich selber — alles ... Mädchen, Mädchen — wie soll ich dir danken?!«

Sie schritten den neuen Jungfernstieg entlang. Die träge Wasserfläche der Binnenalster kräuselte sich kaum — der Märzsturm, vom starren Schirm der ragenden Hotel- und Kaufhausfronten abgefangen, brauste nur droben in den Lüften und hetzte dichte Wolkenzüge, die selten ein flüchtiges Aufleuchten des sinkenden Mondes durchstieß. Die nächtlichen Straßen wie gefegt ... an den tief umschatteten Häuserreihen hallten die Schritte des einsamen Paares gespenstisch wider.

In Antjes Seele rangen Glück und Bitterkeit. Ja, ihr — — euch hab' ich alles gerettet — und ich?!

Mein Bruder flüchtig, die Polizei auf seiner Spur ... morgen vielleicht sitzt er hinter Schloß und Riegel — weil er es gewagt hat, Blick und Hand zu einer von euch zu erheben ... und vielleicht außerdem als Schuldiger des scheußlichen Planes, den doch nur die Verführung aus dem Osten ihm eingegeben haben kann ... Der Anschlag ist mißglückt — gottlob — das Getöse der Explosion hätte ganz Hamburg erschüttert. Nein — diese Sorge war man los. Der Generaldirektor war zur rechten Zeit gekommen. Aber Clas Mönkebüll? Der gute, stille, umgängliche Mensch, der sie einmal vergebens um Liebe gebeten hatte?! Was mag aus ihm geworden sein? Vielleicht ist er gefangen, vielleicht — — und morgen früh werden die Eltern alles erfahren — die Kammer der »drei Söhne« wird verödet sein — — für lange Zeit — vielleicht für immer ... Das stille Glück um Mudders Tisch ist zertrümmert ...

Ach, Antje — und dein eigenes Herz?!

Er hielt, er küßte ihre Hand — der Mann, der seit einem[S. 276] Jahr ihres Lebens Inhalt war ... ihres Lebens Inhalt bleiben würde ... Aus Dank — nur aus Dank — weil sie ihm die Braut gerettet hatte ... Ahnte er denn gar nicht — auch nicht im leisesten — was er ihr bedeutete? O doch, er ahnte, nein, er wußte es — mußte es wissen ...

Pah — was war sie ihm? Eine interessante Bekanntschaft — aus einem Abschnitt seines Entwicklungsganges, der nun hinter ihm lag — ein weibliches Exemplar jener fernen, fremden Rasse, an deren Erforschung er ein Jahr seines Lebens gesetzt — ein — Studienobjekt ... Was wußte er von ihrer Seele — von ihrer Liebe? Was — verlangte er von ihr zu wissen?!

Heinz wußte von ihr. Alles wußte er — und daß er ihr ewiger Schuldner bliebe — bleiben müßte. Denn morgen war's ja doch zu Ende — alles, was zwischen ihnen beiden gewesen war — dies lange, erlebnistiefe, schöne — ja, ja! unsagbar schöne Jahr hindurch. Gott — zu Ende? War das möglich? Durfte das möglich sein?

Denn jetzt erst — jetzt, da es zu Ende ging — jetzt erst, da dieses Mädchen ihm die Braut, die Zukunft, das Leben gerettet hatte — jetzt erst ward es ihm ganz und schmerzlich klar: er liebte Antje ... nicht wie eine Freundin — nein, wie eine Ersehnte, Unentbehrliche — ein Stück seines Wesens, ein bestes Teil seines Lebens.

War das möglich?! Liebte er denn Ilse — nicht?!

O ja, ja — er liebte Ilse — heißer, sehnsüchtiger, stolzer, hoffender denn je ... war das — möglich?!

Es war Wirklichkeit ... eine Wirklichkeit, zu schön, zu groß, zu hold für diese Erde ...

Er mußte wählen — er hatte gewählt. Was ihn zu diesem Mädchen zog, das da so still, so dunkel, so leidvoll neben ihm schritt — dem er so viel, dem er verdankte, was er niemals[S. 277] vergelten konnte — das mußte er niederzwingen — das durfte sie nicht einmal ahnen.

Er raffte sich zusammen. Er begann zu sprechen, hastig, in halb scherzhaftem Ton fröhlicher, dankbarer Kameradschaft. Sie soll sich nicht grämen um ihren Bruder. Tedje wird Verzeihung erhalten. Für alles — für sein Vergehen gegen Ilse — für seinen Anteil an dem — gottlob — vereitelten Plane dieser Nacht — für seine Wühlarbeit auf der Werft. Man wird für ihn sorgen — so daß er sich emporarbeiten kann — er ist ja so begabt, so energisch. Nur mißleitet ist er — man wird ihn auf den rechten Weg bringen.

Ob er wohl glaubt, was er da sagt? dachte Antje. Sie fühlte den herzlichen Willen des Freundes, ihr Gutes und Aufrichtendes zu sagen. Das machte sie froh — nur helfen konnte er ihr nicht.

In tiefer Nachtstille lag die gewaltige Stadt. Die Schritte des einsamen Paares hallten wider an den vielfenstrigen Fronten der stattlichen Kaufhäuser, der hochgetürmten Bank- und Handelspaläste. Seine Welt — die ihn nun wieder an sich zog, ihn halten würde. Und sie — sie wird vergessen sein — wenn nicht morgen, dann übermorgen.

Ihre Seele weinte, rang, schrie — er hörte es nicht, sollte es ja auch nicht hören — nein, das sollte er nicht. Für Mitleid hatte Antje keine Verwendung.

Heinz redete, redete ... Wieviel er gelernt habe — in dem langen, ernsten, reichen Lehrjahr. Wie tief er allen zu Dank verbunden sei — und daß er seinen Dank in Taten umsetzen wolle. Er wird mit seinem Schwiegervater sprechen ... Vadders Träume werden sich nun erfüllen — in ein paar Tagen wird er Mudder in das Werkmeisterhäuschen neben dem Werftgebäude führen können. Und auch für Clas Mönkebüll wird nun gesorgt werden. Er soll nicht länger Niete setzen ... Er ist ja noch so jung — man wird ihn auf das Konservatorium[S. 278] schicken — einen tüchtigen Musiker aus ihm machen. Und dann — dann will er selber, Heinz, sich an die Verwirklichung all der großen und rettenden Pläne machen, welche das Lehrjahr in ihm gereift. Er will auf ein paar Jahre in die Direktion der Werft eintreten ... will sofort Bildungskurse für die Begabten, Strebsamen unter den Arbeitern einrichten, Vorträge für die ganze Arbeiterschaft — mit Lichtbildern — die sie in den Sinn des ganzen großen Produktionsprozesses einführen. Vielleicht läßt es sich ermöglichen, die Älteren und Bewährten irgendwie am finanziellen Erträgnis der Werft zu beteiligen ...

Er redete — redete ... Antje warf nur zuweilen ein kaum bewußtes Wort dazwischen: »Ja — das wär' schön —« oder: »Gewiß, das könnte viel Segen stiften ...« Aber ihr Herz klagte stumm: er liebt mich nicht. Er gehört der andern — gehört ihr allein.

Plötzlich durchkreuzte ihren Schmerz ein angstvoller Gedanke: Tedje — — wo war er, was trieb er in diesem Augenblick?!

Die Polizei war hinter ihm drein — pah, sie würde ihn nicht kriegen, des war sie sicher. Aber — was tat er, was plante er sonst?! Er war nicht der Mann, die Hände in den Schoß zu legen. Und hätte er's gewollt — sein böser Dämon lauerte ja auf ihn, würde ihn zu neuen, entsetzlichen Plänen aufpeitschen — der Genosse Dragomiroff ...

Nur mit halbem Ohr lauschte sie fortan den Schwärmereien des Freundes. Was würden sie aushecken in dieser Stunde — ihr Bruder — und der Russe?!

Es half nichts — sie mußte den Freund warnen ...

Sie unterbrach seine eifrigen Zukunftsphantasien — fragte ihn, was er selber jetzt zu tun gedenke. Und nun erst besann sich Heinz, daß er sich diese Frage im Drange der Ereignisse dieser wilden Nacht noch gar nicht überlegt hatte. Das war ja[S. 279] selbstverständlich, daß er Antje zu ihrer Wohnung begleitete ... Aber dann?! In sein Quartier zurück — zum Hause Tietgens, um dort womöglich mit Clas und Tedje zusammenzutreffen? Nein — das ist vorbei. Nun — sein Elternhaus steht ihm ja offen — aber — dann kommt's schon morgen früh heraus, daß Anders Niemann — — Und — die Arbeiter? Werden nicht die Kollegen sein ganzes Handeln aufs ungeheuerlichste mißverstehen —?

Hastige Gedanken werden jagende, einander überstürzende Worte.

»Heinz — bedenk doch — Dragomiroff — und — mein Bruder ...«

»Natürlich — sitzt die Polizei dem auf den Hacken — er ahnt ja nicht, welch eine Fürsprecherin er gefunden hat ... Er muß denken, ihn könne nichts retten, als wenn — als wenn morgen —«

»— alles drunter und drüber geht!« nickte Antje in zitterndem Eifer. »Alles drunter und drüber — auf der Werft — in ganz Hamburg ...«

Da war der Freihafen, da der Wolkenkratzer, in dem Antjes Pension sich befand. Und die zwei mußten wandern, wandern ... Die Vorsetzen entlang ... Schon umschritten sie den mächtigen Häuserblock der Verwaltungsgebäude an St. Pauli Landungsbrücke.

»Gewiß, gewiß,« sagte Antje, und die quälende Sorge um den Freund durchzitterte immer unverhüllter ihre sachlich verhaltenen Worte, »so kommt's, verlaß dich drauf! Sie sind zu allem fähig, die zwei!«

»Nun gut — so geh' ich morgen früh zur Arbeit, als sei nichts vorgefallen — und stelle mich dem Sturm.«

»Du bist wahnsinnig, Heinz! Du kennst sie nicht — die Arbeiter! Der leiseste Verdacht — und sie reißen dich in Stücke!! Nein, Heinz, nein — das darfst du nicht!«

[S. 280]

Sie preßte des geliebten Mannes Arm ... Ihre bebende Angst durchbrach den Wall der Entsagung.

Heinz fühlte den Druck, hörte das Zittern der Stimme, verstand der Freundin gefoltertes Herz. Er hätte sie an sich reißen mögen, um sie nicht zu lassen ... und hatte doch vor wenigen Stunden den Mund einer anderen geküßt, in kniefälligem Dank um ihre Rettung, um Wiederfinden, Lebenshoffnung, Glauben an nahe Erfüllung ...

O Glück, o Sehnsucht, o Schmerz ... Laßt ab, ihr ewigen Mächte, mit mir zu spielen ...

Es ist zu schwer, ein Mensch zu sein ...

»Aber was soll ich denn sonst tun, Antje?«

»Es gibt nur eins: Du mußt zu deinen Eltern gehen, dich verborgen halten, bis alles vorbei ist ...«

»Damit der Russe und dein Bruder gewonnenes Spiel haben? Damit sie den Kollegen sagen können, ich sei verschwunden, weil ich ihre Rache fürchtete?! Dann werden sie glauben, daß die Werftleitung mit mir im Einverständnis gewesen sei — werden das Ganze als ein Komplott der Direktion ansehen ... Und der alte Carstensen, Timmermanns, die Werft?! Nein — das ist unmöglich — — ich habe die ganze Verantwortung ... Ich habe für mich allein gehandelt, ich allein muß die Folgen tragen, darf sie nicht auf alle diese Männer abwälzen, die von mir keine Ahnung gehabt haben —«

»— was die Arbeiter aber niemals glauben werden —« warf Antje ein.

»Siehst du, siehst du! Und darum muß ich mich in Bereitschaft halten, muß im äußersten Falle meine Person einsetzen, um Zeugnis abzulegen vor der ganzen Arbeiterschaft, daß die Werftleitung nichts von mir gewußt hat, daß das Attentat auf die ›Deutschland‹ nicht mein Werk ist, nicht eine Tat der Provokation — kurz: Für die Wahrheit muß ich zeugen — komme was wolle!«

[S. 281]

»Heinz, Heinz — du bist verloren!«

»Mag sein — Früchte meines Tuns —! Ich hab' eine Maske getragen ein ganzes Jahr lang — ein Dasein geführt, das ein einziger großer Betrug war — und habe Schlafen und Wachen, Dach und Speise, Arbeit und Muße geteilt mit euch ... Jetzt kehrt sich's gegen mich ... Ich bin ein alter Seemann und Soldat — kein Drückeberger ... Ich werde mich dem Schicksal nicht aufdrängen — aber bereit werd' ich mich halten. Ich werde — — jetzt weiß ich, was ich tu. Ich fahre morgen früh im geschlossenen Auto zur Werft, melde mich beim Generaldirektor Timmermanns. Kommt es zum Äußersten, so stell' ich mich den Arbeitern. So ist's gut — so mach' ich's.«

Vergebens, daß Antje in zitternder Angst immer aufs neue den Freund beschwor, sich in seinem Elternhaus in Sicherheit zu bringen, bis der Sturm, der kommen müsse, vorbei sei ...

Nun hatten sie die Gebäude am Hafentor umschritten — da lag die gigantische Rotunde des Elbtunnels — und vor ihnen brauste der sturmgepeitschte Fluß — und nun — nun hob sich über die niederen Schuppen drüben, im ersten fahlen Morgenlicht, das Gewirr der breit hingelagerten Baugerüste der Werft. Und da — da lag der Koloß der »Deutschland« — unversehrt, wie ein Gebirge aufgetürmt ... Eine Ruhe strömte von ihm aus, eine Kraft — die goß neuen Glauben in die ringenden Herzen der beiden engverbundenen Menschenkinder.

Einen Augenblick standen sie stumm und regungslos, erschüttert vom Anblick des stolzen Werkes deutscher Tatkraft, deutschen Lebenswillens, deutscher Hoffnung. Die Sozialistin, des Kaisers Offizier. Zwei deutsche Menschen — zwei Liebende.

Es warf sie zusammen. Mit jäher Bewegung riß Heinz das Mädchen in seine Arme. Sie küßten sich. Ihre Tränen rannen.

Es ist zu schwer, ein Mensch zu sein ...

Sie lösten sich — sie hielten einander an den Händen. Sie[S. 282] suchten einer des andern Blick — auf ihren bleichen Gesichtern lag das erste ferne Leuchten des neuen Tages. Des Tages, da die »Deutschland« sich den Wellen des großen Stromes vermählen sollte.

Und sie wußten, daß sie zu entsagen hatten. Sie wußten, daß sie die Kraft zur Entsagung finden würden.


11

Der Morgen kam. Hamburg stieg in seinen Tag.

Unter den grauen Massen der Hafen- und Werftarbeiter, die längs des Elbufers auf die Dampfbarkassen und Motorboote warteten, liefen wilde, erregende Gerüchte um. Berlin in der Hand der Gegenrevolution ... Die Regierung entflohen — oder, wie andere wissen wollten, hinter Schloß und Riegel ... Auch in Hamburg rühren sich die Weißen ... heute nacht sind ganze Kisten mit Waffen und Munition zur Hammonia-Werft hinübergeschafft worden ... Die Republik ist in Gefahr ...

Erregte Gruppen rotteten sich zusammen, ballten sich zu immer größeren Massen, zu förmlichen Volksversammlungen. Hier und dort sprang einer, der des Wortes mächtig war, auf eine Rampe, eine Treppe, schleuderte wilde Hetzreden über die murrenden Häupter, die geballten Fäuste seiner Klassengenossen.

»Kam'roden! Proletarier! Brüder! Die Reakschon is wieder am Werk! Die Errungenschaften von die Revolution sollen euch entrissen werden! Ji söhlt wedder veertein Stünn däglich schuften statts acht! Dei Löhne söhlt jug besneden warden! Der Militarismus erhebt aufs neue sein scheußliches Haupt! Op dei Hammonia-Werft hefft sei hüt nacht söben Genossen an de Wand stellt!«

Wutschreie — Pfiffe — geschwungene Knüppel ...

[S. 283]

Ein anderer wußte noch mehr:

»Spitzel sünd in'ne Gang! Aschang prowockatöhrs! Do dröben op dei Werft hett hüt nacht so'n Oos den'n niegen groten Dampfer in dei Luft sprengen wullt, öwer dei Nachtwach hett em bi't Schlaffittchen kregen!«

»Wo is dei Halunk?!« schrie's aus der Menge. »Dei mutt lüncht warden, dei Swienhund!«

Da heulte die Sirene der Barkasse. In dunklen Strömen fluteten die Erregten zur Landungsbrücke, trotteten über die schmalen Stege, schwangen sich über die Brüstung des Dampfers, fanden sich während der Fahrt zu kleineren Grüppchen zusammen. Die Jungen kreischten und hetzten: »Wi hebbt Waffen! Wi störmt dei Direkschon! Sei möten uns den'n Spitzel rutgeben!«

»Proteststreik!« schrie eine grelle Knabenstimme.

»Ne — Generalstreik! Generalstreik!« —

Das war das Wort der Stunde.

Aber die Älteren, die Besonneneren protestierten.

»Kold Blaud, Jungs, ümmer kold Blaud! Mit Generalstreik fängt dat an, mit Utsperrung hett dat sin'n Furtgang! Dei Streikkassen sünd leddig. Dat Leben ward däglich dürer! Dei Verdeinst dörf nich afrieten — süß köhnt wie Hungerpooten sugen.«

Vadder Tietgens hatte einen schweren Stand inmitten der Halbwüchsigen, der Ungelernten, der Kriegsverwahrlosten.

»Dat is allens Bleudsinn mit dei Sabotasch! Dat will wi uns erst mol negger bekieken!«

»Swiegt Sei man blot still, Vadder Tietgens! Ehr eigen Söhn hett mi dat vertellt! Hei loppt op dei Landungsbrügg rüm un vertellt dat jeden, dei't heurn mag!«

»Mien Söhn is en ... Dei Düwel sall em halen! En Hetzer is hei!«

»Ehr Söhn is 'n ganzen dägten Kierl! Ehr Söhn sall vör[S. 284] sien Kollegen op de Direkschon — un sall uns' Forderungen vördrägen, sall oll Timmermanns dat Mul stoppen!«

Der Alte raffte sich zusammen. Auf dem Fährdampfer, der schaumumsprüht die hochgehende lehmgelbe Elbflut durchquerte, ließ er zum zweiten Male die große Rede vom Stapel, die er zehnmal hatte halten wollen — und zehnmal wieder in sich hineingewürgt hatte aus Angst vor dem Hohngebrüll der »Halbstarken« ... bis er sie gestern abend endlich losgeworden war. Heute sprach er noch freier, leidenschaftlicher, eindringlicher ... Daß sie doch alle Deutsche seien ... Daß die »Deutschland« vom Stapel müsse, müsse — damit der Hafen wieder aufblühe, Hamburg, das Vaterland ... Daß es Wahnsinn sei, wenn die Arbeiter gegen ihre Brotherren wüteten, ihre Führer im großen Kampf um Deutschlands wirtschaftliche Wiedergeburt ... Daß man zusammenhalten müsse, brüderlich zusammenhalten ...

Umsonst — die Verbohrten, die Verhetzten, die Unbelehrbaren, die Unreifen brüllten den alten Mann mit rohem Gelächter nieder ...

»Generolstreik — Generolstreik!«

»Nieder mit die Reakschon!«

»Es lebe das internationale Proletariat!«

»Es lebe die Weltrevolution!«

Drüben auf der Werft fand der alte Tietgens alles in wildester Erregung. Niemand dachte daran, die Arbeit aufzunehmen Einer erzählte es dem andern, eine Gruppe schrie der andern die Geschehnisse der Nacht zu.

»Unsern Kolleg Mönkebüll hebbt sei dotschotten hüt nacht! Sien Liek liggt in dei Hall von't Direkschonsgebäude!«

»Dei Hellingen sünd polezeilich afsparrt! Polezei is op dei Werft!«

Einer kam vom Eingang herangestürzt:

»Jungs — Kollegen — weet ji all dat Niegste? Dei Swienhund,[S. 285] dei hüt nacht dei ›Dütschland‹ hett in de Luft sprengen wullt, dat is'n Spitzel west! Un weit ji ok wer? Een von dei Nieters — Anders Niemann hett hei sick nennt! Öwerst in Wohrheit weur dat 'n Spion! Offizier is hei west — Marineoffizier! Kapteinleutnant! un hett en ganzes Johr op de Werft as Nieter arbeit! Un weet ji ok, wo hei heet, dei Halunk, dei entfomigte? Hei heet Freimann, Hinrik Freimann — un is en Söhn von den'n Generoldirekter von dei H. T. L.!«

Weit offenen Mundes hatte der alte Tietgens die phantastische Erzählung angehört. Jetzt legte er dem jungen Burschen seine schwere Faust auf die Schulter:

»Dat sast du mi bewiesen, mien Jung, wat du doar snackt hest! Anders Niemann is mien Fründ — hei wohnt as Kostgänger in mien Hus siet en Johr! Dat sast du mi bewiesen! — Wer hett di dat seggt?!«

Der Halbwüchsige hielt den zürnenden Blick des Graukopfes aus. »Dat hett Ehr Söhn mi seggt, Vadder Tietgens!«

»Lagen is dat — utverschamt lagen!« schäumte der Alte. »Vör Anders Niemann legg ick mien Hand in't Füer!«

Umsonst — von allen Seiten schwirrte es heran, das entsetzliche Gerücht. Anders Niemann ein Spitzel — ein agent provocateur der Gegenrevolution ... ein Saboteur — ein scheußlicher, schmutziger Spion und Verräter ...

Hochauf schäumte die Wut. Das war ein Bubenstreich, so abgefeimt, so bodenlos gemein, daß er nur mit einer unmißverständlichen Gegendemonstration des ganzen Werftpersonals beantwortet werden konnte.

Von Werkstatt zu Werkstatt, von Halle zu Halle, von Dock zu Dock, von Helling zu Helling schwirrten die wahnwitzigsten Gerüchte, Vermutungen, Fragen, Kombinationen.

Wie war es denn möglich, daß der Bubenstreich hatte entdeckt[S. 286] werden können? Vielleicht war überhaupt alles bloß ein Schwindelmanöver, um das Bürgertum gegen die Arbeiter aufzuputschen — Stimmung für den Umsturz von oben zu machen? Die Republik zu unterwühlen?!

Aber nein — es war ja geschossen worden auf der Werft — und da standen sie ja am Fuß des Helgengerüstes, mit fünf Schritt Abstand, Gewehr am Riemen, Handgranaten am Gürtel — die Würgengel des Proletariats, die Schutzengel des Kapitalismus, die Noskebrüder. In voller Ausrüstung, als wäre Krieg ... Die ganze Helling, auf der die »Deutschland« ihres Stapellaufes harrte, war abgesperrt ... Mit stummem, verächtlichem Lächeln ließen die Beamten die Flüche, die gräßlichen Schimpfworte der Wütenden über sich ergehen.

Auch droben in den weiten Gängen, Hallen, Treppenhäusern des Direktions- und Verwaltungsgebäudes fieberte die Erregung, schwirrten die Gerüchte von Kontor zu Kontor. Die Stimmung war gespalten. Ein Teil der kaufmännischen und technischen Beamten stand zur Republik, ein anderer, vor allem die meisten der ehemaligen Kriegsoffiziere, ersehnte die Gegenrevolution, die Diktatur des starken Mannes, die Wiederherstellung der alten Ordnung, im letzten Hintergrunde den Sturz der Republik, die Wiederaufrichtung der Monarchie ... Niemand dachte an Arbeit — die ganze Hammonia-Werft stand in tollster Gärung.

Und inmitten dieses wilden Treibens wuchtete stumm, riesenhaft, herrlich die »Deutschland« — ein Werk von Menschenhand, doch nicht leblos, seelenlos — ein Stück Weltgeist, zu einer Wirklichkeit des Erdenlebens materialisiert ... Eine Abkürzung, ein Symbol des großen, immer noch herrlichen, immer noch heiligen Landes, dessen Namen sie in goldenen Buchstaben zu beiden Seiten des Vorderstevens und über der massigen Schwellung des Hecks trug.

[S. 287]


Und wiederum fühlte sich Ilse wie eingehüllt in eine dichte, lastende Wolke, die nicht weichen mochte. Aber diesmal war es kein ängstliches, quälendes Gefühl — eine tiefe, süße Geborgenheit, der das Herz nur ungern sich entraffte, um wieder hinauszustreben in den heischenden Tag ... Denn diesmal war sie ja wirklich daheim — in ihrem behüteten Bette ... und alles, alles war gut ... sie war gerettet — Heinz war gerettet ... alles — war gut. Und Ilse konnte sich noch nicht entschließen, die Augen zu öffnen ...

Aber plötzlich meldete sich die Gewohnheit strenger Lebensführung — das Pflichtbewußtsein. Heute: Stapellauf der »Deutschland« — großer Tag für die Werft ... Senator Carstensens fleißige Sekretärin wird wieder einmal die erste sein auf dem Bureau ...

Mit einem Ruck richtete sie sich auf — und schau — an ihrem Bette saß in all ihrer lächelnden Güte Mutter Johanna. Nun legte sie die Hand auf die Schultern der Schwiegertochter, drückte sie sanft in ihre Kissen zurück.

»Aber ich muß doch zur Werft, Mama —«

»Still, Kind, still — dein Vater will, daß du dich ausschläfst ... und ich habe ihm feierlich versprechen müssen, dich unter keinen Umständen vor dem Mittagessen aus dem Bett zu lassen. Wir fahren dann um zwei Uhr alle zusammen zum Stapellauf — mein Mann, ich, du, die Herren von der Linie, die Amerikaner ...«

Ilse ergab sich. Es war so seltsam süß, nach langer Zeit einmal wieder betreut zu werden von Mutterhänden ...

Frau Johanna hatte tausend Fragen auf der Seele. Aber sie zwang sie nieder.

»Nur Ruhe, Ilsekind, nur Ruhe — fürs Erzählen bleibt noch Zeit genug ...«

Das Frühstück mußte im Bett verzehrt werden — und dann[S. 288] zog Johanna sich in eine Ecke zurück und Ilse blieb ihren Träumen überlassen.

Heinz kommt wieder, sang ihr Herz: Heute kommt er wieder für immer, für alle Zeit. Bald bin ich sein ... Ein neues Leben fängt an — meines und seines — unser Leben ...

Nein, sie war nicht geschaffen, ihre Tage auf dem Bureau, an der Schreibmaschine zuzubringen ... Sie hatte ihre Pflicht getan — als Tochter ihres alten Hauses, ihres alternden Vaters — mit Stolz und Freude — aber im tiefsten Innern hatte sie sich immer gesehnt, eines gepflegten Hauses beglückte, beglückende Herrin zu sein — wie vor ihr die lange, lange Reihe der Frauen, deren Bilder alle Wände ihres Elternhauses schmückten — wie die Carstensens sie sich im Laufe der Jahrhunderte aus den ersten Familien ihrer Vaterstadt geholt hatten, ihnen hauszuhalten und Kinder zu schenken ...

Freilich, sie wird keine Carstensen bleiben — sie wird eine Freimann ... Im Hause ihres künftigen Gatten hängen keine Ahnenbilder aus vier Jahrhunderten. Was tut's? Der Mann, dem sie folgen wird, ist ein zwiefach Bewährter — ein Kriegsheld — und hat nun auch im Leben des Alltags durch tausend Anfechtungen seinen Weg gefunden ... Wird in der vordersten Linie stehen, nun es gilt, das tief gesunkene Vaterland wieder emporzuheben. Vertrau' mir, Heinz — vertrau' deiner Ilse ... Sie will dir die Kameradin sein, die du brauchst ... Nie mehr wird sie hochmütig, verschlossen auf die dunklen Massen herabschauen, die drunten hastend sich mühen, damit die Carstensens reich und geehrt regieren droben im Kontor — und in prächtigen Villen wohnen ... Heinz Freimann soll nicht umsonst da drunten Niete gesetzt und in des Kranführers Hause gewohnt haben ... Zwar dieser entsetzliche Tedje ist ein Tier — aber wer hat denn Ilse Carstensen gerettet aus seinen Händen? — Diese Antje — die seine Schwester ist ... und die Heinz Freimann seine Freundin nennt ...

[S. 289]

Freundin? Ilse lächelte still in sich hinein. Sie wußte: Was Heinz für dieses Mädchen empfand, war mehr als Freundschaft ... Und das Mädchen liebte ihn ... Noch vor wenigen Tagen hatte dies Wissen ihr manche bittere, qualvolle Stunde gebracht. Nun waren die längst verflogen. Denn dies Gefühl, das zwischen Antje und Heinz war — was wäre aus ihr selber geworden ohne diese zarte, verschwiegene Neigung? Sie wäre verloren ... Was so viel Segen gebracht, konnte es böse, gefährlich, konnte es unrecht sein?! Nein, ihr beiden tapferen, hilfreichen Menschen — ihr sollt Freunde sein, Freunde fürs Leben. Ich vertrau' euch.

Und um dieser Rettungstat willen, Antje Tietgens, soll auch deinem Bruder vergeben sein ... Vielleicht ist er noch zu retten ... vielleicht, wenn in sein wildes Leben ein wenig Fürsorge, ein wenig Leitung kommt — vielleicht lernt auch er noch einmal erkennen, daß Heinz Freimann recht hat: daß wir alle zusammengehören, wir armen, gepeinigten Deutschen ... ohne Gleichheitswahn, ohne Freiheitsphantom — eingereiht zu sorgsam gestufter Gemeinarbeit ...

Oh, wie alles licht wurde, wenn man solche tröstliche zukunftweisende Gedanken dachte ... solche Heinz-Gedanken ...


Auch jenseits des frühlingssturmüberkräuselten Spiegels der Außenalster, in einem Hotelzimmer des Atlantic, wob der Morgentraum um eine Mädchenstirn. Bessie Patterson dehnte sich im Glück ihres Rettertums. Oh, wieviel würde sie drüben zu erzählen haben ... Sie würde interviewt werden ... Die Zeitungen würden riesenhafte Beschreibungen bringen: Junge amerikanische Lady rettet deutschen Großreeders Tochter — Bündnis der amerikanischen und deutschen Transozeanlinien durch Heldentat junger Neuyorkerin gekittet ... Wer weiß — vielleicht machten sie drüben aus ihren Hamburger Erlebnissen gar noch einen Film, der die Welt erobern würde ... Und alle[S. 290] ihre Freunde müßten darin vorkommen — vor allem er, der ihr so stark, so tapfer, so tollkühn erschien wie eine Coopersche Romanfigur — der dicke Bobbie ... Ach Himmel — wie mochte es dem wohl ergangen sein heut nacht?! Nun gewiß, er war zur rechten Zeit gekommen — wäre die »Deutschland« in die Luft gegangen, das hätte man doch wohl in der ganzen Stadt gehört ...

Ach nein — was Bobbie anfaßt, das glückt ...

Bobbie ... du armer, dummer Hunne — du dicker, grauer Esel zwischen den zwei Heubündeln ...

Es klopfte. »Ich bin's, Bessie — darf ich?«

»Aber gewiß, daddy

Vater Elias trat ein, ganz verstört ... »Steh auf, Kind ... Es stimmt etwas nicht in der Stadt ... Und überhaupt in diesem entsetzlichen, versinkenden Lande ... Aus Berlin sollen Nachrichten gekommen sein: Eine Gegenrevolution ist im Gange ... Deutschland steht vor dem Bürgerkrieg ... Wer weiß, ob der Stapellauf heut nachmittag überhaupt stattfinden kann ... Vor allem aber erzähl' mir, warum du heut nacht so ganz heimlich vom Fest verschwunden bist ... Mister Freimann sagte, du hättest Migräne und seist schlafen gegangen ... Migräne? Ist ja ganz etwas Neues bei dir ... Ich wollte dich heut nacht nicht stören ...«

»Ach, daddy —« lachte Bessie — »was ich dir alles zu erzählen habe —? Du wirst staunen —!«


Antje Tietgens saß längst in ihrem Bureau. Das Telephon stand nicht still. Kaum war sie eingetroffen, da läutete ihr Chef von seinem Haus aus an: Er habe Nachricht aus Berlin, daß dort ein Rechtsputsch im Gange sei. Das Bureau solle versuchen, Verbindung mit der Berliner Vertretung der Linie zu bekommen. Das Postamt gab zur Antwort: Jede Verbindung mit Berlin sei unterbrochen. Aber beim Nachtdienst[S. 291] waren noch Stöße von Telegrammen aus der Reichshauptstadt eingelaufen. Sie meldeten: Die Truppen der Gegenrevolution marschieren mit wehenden Fahnen in die Stadt. Die Regierung ist nach Süddeutschland geflohen. Die Linksparteien werden den Generalstreik proklamieren.

Bald rief die Hammonia-Werft an, die eine eigene Verbindung mit der Linie unterhielt. Antje erkannte die Stimme des Generaldirektors Timmermanns.

»Wer ist am Apparat?«

»Tietgens ...«

»Ach, Sie, liebes Fräulein — nun, so kann ich Ihnen gleich im Namen der Werft unsern vorläufigen Dank abstatten ... Die Sabotage der ›Deutschland‹ ist vereitelt. Leider nicht ganz ohne Blutvergießen: ein Werftwächter ist erstochen, ein Werftarbeiter erschossen worden ...«

»— Ein Werftarbeiter?! — Wissen Sie zufällig seinen Namen?«

»Doch — auch das — ein gewisser Mönkebüll ...«

Clas — o Gott — mein armer, armer Clas — nun hast du sie, deine »rote Seligkeit« ... Nun schwebt deine unruhvolle Seele in den Musikantenhimmel, den du so oft heruntergezwungen auf unsere arme Tränenerde ... Still, mein Herz ... bin ja im Dienst ...

Herr Timmermanns berichtete: Die Stimmung der Arbeiterschaft auf der Werft sei sehr beunruhigt ... Er hoffe gleichwohl, der Bewegung Herr werden zu können. Wenn der Herr Präsident komme, sei ihm zu berichten, daß die Werft entschlossen sei, den Stapellauf stattfinden zu lassen. Noch Fragen?

»Herr Generaldirektor, darf ich ein gutes Wort für ... für meinen unglücklichen Bruder einlegen? Ist Ihnen etwas über ihn bekannt geworden?«

»Noch nicht, liebes Fräulein ... jedenfalls in den Händen der Polizei ist er nicht, das habe ich bereits festgestellt. Seien[S. 292] Sie überzeugt, daß er jede erdenkliche Nachsicht erfahren wird — schon um seines würdigen Vaters willen, unseres alten treuen Mitarbeiters — vor allem aber um Ihretwillen ... Und noch einmal: den Dank der Werft ... auch im Namen meines Herrn Chefs, der noch nicht eingetroffen ist ... Sie werden noch von uns hören. Auf Wiedersehen, liebes Fräulein — seien Sie getrost, ich werde für ihren Bruder tun, was in meinen Kräften steht.«

Tief aufatmend legte Antje den Hörer auf die Gabel. Oh, wie gut, wie gut ... Vielleicht war er noch zu retten — der arme, wilde, verführte, der geliebte Junge ...

Georg Freimann trat ein. Mit ausgestreckten Händen ging er auf seine Mitarbeiterin zu. War's möglich? Er zog ihre Hand an seine Lippen ...

»Fräulein Antje,« sagte er mit einem Ausdruck in Gesicht und Stimme, den das Mädchen an seinem Chef noch niemals gesehen hatte, »ich finde keine Worte, um Ihnen zu danken. Was wäre geschehen ohne Sie? Es ist nicht auszudenken —«

»Meine Pflicht — Herr Präsident —«

»Ach was, Pflicht — ein Prachtmädel sind Sie ... Die Linie, die Werft können Ihnen niemals vergelten, was Sie für uns getan haben ... Und ich — ich vollends — Sie haben mir meinen Sohn, meine Schwiegertochter und — mein Lebenswerk gerettet ... Kommen Sie her, Kind — ich kann nicht anders ...«

Er nahm das Mädchen in seine Arme — er küßte ihre Stirn wie einer lieben Tochter ... Seine herbe Stimme erstickte in einem jähen Schluchzen.

»Oh, unser Volk ...« stammelte er, ich hab' es oft verflucht und verlästert in diesen gräßlichen Zeiten ... Um Ihretwillen werd' ich's wieder lieben, ihm neu vertrauen lernen ... um Ihretwillen, Sie liebes, liebes, herrliches Mädchen ...«


[S. 293]

12

Der alte Carstensen, noch immer tief erschüttert vom Schrecken und vom Erlösungsglück dieser Nacht, hatte sich in selbstverständlicher Pflichterfüllung auf sein Kontor begeben. Die Botschaften, die ihn empfingen, rissen ihn in den Wirbel der Gärung hinein, die sein Eigentum, die Stätte seiner Lebensarbeit, durchfieberte. Alsbald ließ er sich seinen getreuen Stellvertreter zum Bericht kommen.

Bob Timmermanns stand vor seinem Brotherrn mit nicht ganz reinem Gewissen. Zwar erntete er ein warmes Lob und einen herzlichen Dank für sein tatkräftiges Eingreifen, das die »Deutschland« gerettet und unübersehbares Unglück von der Werft, der Stadt Hamburg, dem ganzen Vaterlande abgewandt hatte. Aber er fühlte sich dennoch tief bedrückt. Seit Morgengrauen hatten hundertfünfundzwanzig junge Männer in Arbeitertracht, durch Geleitschein von seiner eigenen Hand ausgewiesen, die Portierloge der Werft passiert. Die packten in diesem Augenblick, er wußte es nur zu gut, in den weitläufigen Kellerräumen des Direktionsgebäudes jene geheimnisvollen Kisten aus, die um fünf Uhr auf einem Lastauto angerollt waren ... War es möglich, daß alle diese Vorbereitungen unbemerkt geblieben waren — daß nichts davon bis zu den erregten Massen der Werftarbeiter durchgesickert war? Die ballten sich da unten überall, zu Füßen der ragenden Helgengerüste und Docks, an den Eingängen der Kantinen, der Maschinen- und Schiffsbauhalle, zu schwärzlichen Klumpen zusammen. Aus denen schrillten abgerissene Fetzen von Hetzreden, grelle Zwischenrufe, bisweilen ein jähes Aufbrüllen Hunderter von Männerkehlen herüber. Wußte man dort bereits, daß das Direktionsgebäude, dem berühmten hölzernen Roß von Ilion vergleichbar, den gewappneten Feind des Proletariats im Bauche berge —?!

[S. 294]

Bob Timmermanns fühlte sich nicht berechtigt, dem Herrn dieses Hauses und dieses Betriebes das nächtige Geheimnis zu verschweigen.

Der alte Carstensen war entsetzt. »Mein lieber Timmermanns,« sagte er langsam und nach Worten ringend, »Sie haben heute nacht — so viel für mich getan — daß ich — daß ich mich schwer entschließen kann, Ihnen zu sagen — daß Sie mit dieser Anordnung — Ihre Kompetenzen denn doch erheblich überschritten haben ...«

»Ich weiß, Herr Senator, ich weiß —« stotterte der Riese. »Aber bei der Kürze der Zeit — —«

Carstensen hob die Hand. Auf seinem zerfurchten Greisengesicht war ein Zug, den Timmermanns lebenslang kannte. Er kündete den Herrn — schnitt jeden Widerspruch ab.

»Wenn Ihr Bruder Gegenrevolution spielen will, so mag er das tun, wo er es verantworten zu können glaubt — ich für meine Person muß Ihnen, lieber Freund, mit aller Bestimmtheit erklären, daß ich mir auf meinem Grund und Boden jede Betätigung antirepublikanischer Gesinnung, so ehrlich und edel sie gemeint sein mag, verbitten muß. Ich habe vor wenigen Minuten telegraphisch aus Berlin die Schreckensbotschaft bekommen, daß tatsächlich dort in dieser Nacht eine große gegenrevolutionäre Unternehmung stattgefunden hat — und zwar, soweit es sich im Augenblick übersehen läßt, mit einem gewissen ... unleugbaren ... Anfangserfolg. Ich wünsche nicht, daß meine Werft in diese Bewegung hineingezogen wird, verstehen Sie mich, lieber Timmermanns? Was geschehen ist, ist geschehen. Ich lehne jede Verantwortung für Leben und Sicherheit der jungen Leute ab, wenn Sie — — nehmen Sie mir's nicht übel, ich bin doch ein bißchen sprachlos!!«

In glühender Beschämung senkte Timmermanns den blonden Schädel. »Herr Senator, ich werde Sorge tragen, daß[S. 295] niemand sich zeigt ... ich werde meinem Bruder sagen, daß er sich und seine Leute lediglich als Schutzmannschaft für die Werft zu betrachten hat — daß nicht das mindeste unternommen werden darf ohne einen persönlichen Befehl aus Ihrem Munde ...«

»Recht so, Timmermanns. Danke Ihnen.«

In diesem Augenblick trat die Sekretärin, die Ilses Dienst übernommen hatte, ins Zimmer und meldete eine Abordnung der Arbeiterschaft.

»Sollen kommen. Bleiben Sie, Timmermanns.«

Schweren Schrittes stapften die Männer ins helle Gemach. Lauter gereifte, scharfgeprägte Köpfe — besonnene, erlesene Vertreter ihrer Klasse. Werkmeister, Vorarbeiter. Als ihr Sprecher voran der alte getreue Kranführer Timm Tietgens.

Detlev Carstensen sagte gelassen: »Nehmen Sie Platz, meine Herren.«

Der alte Tietgens begann seinen Spruch. Die Arbeiterschaft sei in tiefer Erregung. Sie müsse die Werftleitung um Aufklärung ersuchen. Erstens: es sei heute nacht, wie das Gerücht wissen wolle, ein Sabotageversuch gegen die »Deutschland« unternommen worden. Dabei solle einer der Arbeiter erschossen worden sein. Die Arbeiterschaft sei überzeugt, es sei ausgeschlossen und unmöglich, daß dieses schändliche Unternehmen in ihren Reihen geplant worden sei. Sollten tatsächlich Angehörige der Werft bei der Ausführung beteiligt gewesen sein, so könne es sich nur um einzelne Verführte und Bestochene handeln. Der angeblich Gefallene — es werde der Name Clas Mönkebüll genannt — sei ihm, dem Sprecher, persönlich bekannt. Er sei seit einem Jahr sein Kostgänger — ein etwas phantastischer Junge, leidenschaftlich, aber grenzenlos gutmütig, leider leicht zu beeinflussen. Ob es Tatsache sei, daß er gefallen sei?

»Das ist leider Tatsache«, sagte Detlev Carstensen. »Die[S. 296] Werftleitung hatte von dem geplanten Unternehmen Kunde bekommen — Herr Generaldirektor Timmermanns hat die Polizei alarmiert — es ist ihm gelungen, die geplante Untat im letzten Augenblick zu vereiteln. Leider hat man einen meiner braven Werftwächter erstochen aufgefunden. Dann sind Schüsse gefallen — man hat den Arbeiter Mönkebüll sterbend angetroffen, die anderen Täter sind entflohen. Am Fuße der ›Deutschland‹ fanden sich drei Kisten Dynamit, groß genug, um die ganze Werft zu rasieren. Eine Zündschnur brannte, das ist die Lage.«

Der alte Tietgens richtete sich hoch auf. Die Arbeiterschaft weise mit Entrüstung und Empörung die Verantwortung und den Verdacht der Übereinstimmung mit dieser Tat ab.

Carstensen erklärte ruhig und bestimmt, er nehme diese Erklärung mit Dank und vollem Glauben entgegen. Es habe ihm nichts ferner gelegen, als die Gesamtheit seiner Mitarbeiter oder auch nur ihre Gesinnung für eine solche abscheuliche und sinnlose Tat verantwortlich zu machen.

Jetzt müsse aber noch etwas anderes zur Sprache kommen, fuhr der Sprecher der Arbeiter fort. Es gehe das Gerücht: die Tat sei das Werk eines Spitzels, eines Provokanten. Es werde der Name eines Arbeiters genannt, der seit einem Jahr unter dem Namen Anders Niemann auf der Werft als Nieter tätig sei. Das Gerücht aber wolle wissen, daß dieser Arbeiter — in Wirklichkeit gar kein Arbeiter gewesen sei — daß sein Name ein angenommener sei — daß sein Träger in Wirklichkeit ganz jemand anders sei — nämlich — — der Sohn des Präsidenten der Hansa-Transatlantik-Linie, der seit einem Jahr verschollene Kapitänleutnant Heinrich Freimann — —.

Der alte Carstensen saß wie eine Mumie. Seine Augen nur wurden unnatürlich groß, in seine wächsernen Züge stieg eine kongestive Röte. Er hatte das alles ja kommen sehen. Aber[S. 297] nun war es da — — und eine zitternde Wut war in ihm — gegen den jungen Mann, dem er die Hand seiner Tochter vertraut hatte — — und der legte nun durch sein phantastisches Tun den Feuerbrand an das Werk, dem Detlev Carstensen sein Leben gewidmet hatte. Und neben ihm saß der Generaldirektor — in der gleichen stummen Empörung — ihm schoß das Blut in die Augen, in die Stirn ... seine mächtigen Fäuste ballten sich, sie begannen zu zittern, als müsse er sich zwingen, sich mühsam bändigen ...

»Ich weiß das alles —!« sagte Detlev Carstensen. »Aber — ich weiß es erst seit heute nacht.«

»Herr Senator,« begann Robert Timmermanns zwischen zusammengebissenen Zähnen, »gestatten Sie mir eine Frage an den Sprecher der Arbeiterschaft? Ich danke ... Herr Tietgens, ist Ihr Sohn auf der Werft?«

»Ja, Herr Generaldirektor.«

Er wagt es!! dachte Robert Timmermanns. Er wagt es ... Und wider Willen fühlte er eine dumpfe Bewunderung für des Proletariers freche Größe.

»Haben Sie Ihren Sohn schon gesprochen heut morgen?«

»Das hab' ich, ja. Und er hat mich alles bestätigt, wat ich vorgedragen hab'. Er is auch der Ansicht, dat der sogenannte Anders Niemann der Täter is. Der is ja auch heut morgen nich auf de Werft.«

Timmermanns erhielt Erlaubnis, Tedje Tietgens holen zu lassen. Ein Beamter sollte den Auftrag erhalten — aber die Arbeiter mischten sich ein: es sei jetzt nicht rätlich, einen Herrn vom Bureau zu den Arbeitern hinauszuschicken — man könne für seine Person nicht bürgen. Eines der Mitglieder der Abordnung erklärte sich bereit, den jungen Tietgens herbeizuschaffen.

Carstensen ersuchte mit matter Stimme Herrn Timmermanns, die Verhandlung weiterzuführen. Regungslos, mit[S. 298] geschwollenen Stirnadern saß der alte Herr — folgte dem Fortgang der Besprechung mit abwesendem Gesicht — nur die schweren Atemstöße seiner Brust verrieten den Sturm, der sein Inneres schüttelte.

Der alte Tietgens erzählte ausführlich, wie Anders Niemann zu ihm gekommen sei, wie er bei ihm gelebt habe, ein Vertrauter seines Hauses, ein Freund seiner Kinder und des umgekommenen zweiten Kostgängers geworden sei. Des alten Mannes Augen feuchteten sich in der Erinnerung ... Niemals hätte er für möglich gehalten, was nun Wahrheit zu sein scheine ...

Die Arbeiterschaft könne sich diesen ungeheuerlichen Vorgang nur so erklären, daß die Werftleitung von der Anwesenheit des Sohnes des Leiters der befreundeten Linie Kenntnis gehabt haben müsse ... Und das um so mehr, als jetzt auch bekannt geworden sei, daß der Kapitänleutnant Freimann mit der Tochter des Herrn Carstensen verlobt sei ... Und darüber verlange man in erster Linie Aufklärung.

Jetzt regten sich die Lippen des Greises, der dieses Hauses Herr war, der Arbeitgeber der Achttausend da unten war, die sich anschickten, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.

»Die Werftleitung hat keine Ahnung gehabt, daß der Nieter Anders Niemann, wie Sie behaupten, einen falschen Namen getragen hat. Genügt Ihnen das, meine Herren?«

Die Arbeiter steckten die Köpfe zusammen. Einer der Werkmeister meinte:

»Herr Senator, Ihnen glauben wir alles. Aber — hat auch der Herr Timm — der Herr Generaldirektor nix davon gewußt?!«

»Mein Ehrenwort«, sagte Robert Timmermanns. »Auch ich habe erst heute nacht erfahren, daß der junge Freimann ein Jahr lang unerkannt auf der Werft gearbeitet hat.«

»Herr Generaldirektor,« sagte Timm Tietgens, »Sie haben[S. 299] einen Bruder, der is im Krieg Leutnant gewesen — dann hat er mit die Bahrenfelder ins Rathaus gesteckt, letzten Juni, Sie wissen wohl. Und jetzt soll er ja auch wieder im Land herumspuken. Kann der wohl etwas davon gewußt haben?«

Timmermanns zuckte die Achseln. »Er ist im Hause — Sie können ihn fragen.« Das war ihm herausgerutscht — schon bereute er.

Die Arbeiter horchten hoch auf — tuschelten erregt zusammen.

»Dann darf man wohl fragen,« sagte Tietgens bedächtig prüfend, »wat de Herr Leutnant Timmermanns heut auf die Werft zu suchen hat?!«

»Er hat mich besucht, zum Donner!« rief der Generaldirektor. »Das geht doch wohl keinem Menschen was an als Herrn Senator Carstensen, nicht wahr?!« Beschämung und Grimm erstickten des Riesen Stimme.

»Ja — dat wär' der dritte Punkt«, fuhr Tietgens ruhig und entschieden fort. »Wir möchten gern wissen, ob dat wohr is, dat heut nacht Waffen auf die Werft geschafft sünd — un dat im Keller mehr als hundert Weißgardisten versteckt sünd?!«

In diesem Augenblick riß der alte Carstensen sich aus seiner Erstarrung. Sein Mitarbeiter hatte ihm heut nacht sein Eigen, sein Alles gerettet — jetzt galt's, für ihn einzutreten. Er richtete sich auf.

»Die Werftleitung hat es für ihre Pflicht gehalten, Vorkehrungen zu treffen, um im Notfalle die Anlagen der Werft, das heute nacht durch bübischen Anschlag gefährdete Schiff und Leib und Leben ihrer arbeitswilligen Mitarbeiter gegen unbesonnene und frevelhafte Anschläge verhetzter und landfremder Elemente zu schützen.«

In der Stimme des Greises war Herrenklang. Die Abordnung, die schon willens gewesen war, sich zu erheben und[S. 300] die Verhandlung abzubrechen, empfand, verstand diesen Klang.

Da öffnete sich die Tür — und Tedje Tietgens trat ein. Hochaufgereckten Hauptes — polternden Schritts. In seinen verwüsteten Zügen stand verbissener Wille, knirschender Trotz. Rebell — Zerstörer — Dämon.

»Goden Morrn' alltausomen«, sagte er frech.

Auf einen Wink seines Chefs übernahm Timmermanns die Befragung. Tedje antwortete knapp, höhnisch, verschlossen.

Ja, es sei wahr — Anders Niemann sei der Kapitänleutnant Freimann. Die ganze Arbeiterschaft wisse bereits um den Bubenstreich des fälschlichen Anders Niemann ... Sie sei überzeugt, daß er ein Werkzeug der Reaktion sei — und sie sei entschlossen, diese Schurkerei mit der Verkündigung des Proteststreiks zu beantworten ... Übrigens sei es inzwischen bekannt geworden, daß in Berlin ein monarchistischer Putsch gegen die Republik im Gange sei ... Die Arbeiter seien entschlossen, die Republik mit allen Mitteln zu verteidigen ... also werde es ohnehin in der nächsten Stunde zum Generalstreik kommen.

»Genug!« unterbrach da der alte Carstensen und stand auf, mühsam, doch gebietend. Und alle erhoben sich. »Ich wiederhole noch einmal: die Werftleitung steht allen diesen Dingen völlig fern und verurteilt sie. Nun aber noch ein Wort an Sie, meine Mitarbeiter — wenigstens an die Verständigen unter Ihnen — denn Sie, Tedje Tietgens, Sie gebe ich auf, Sie sind entlassen, mit Ihresgleichen wünsche ich nicht eine Sekunde länger zusammenzuarbeiten. Aber ihr, ihr alten, getreuen Kameraden, von denen ich jeden einzelnen seit Jahrzehnten kenne, von euch erwarte ich, daß ihr nicht die Tat des Wahnsinns, welche die ›Deutschland‹, unser aller gemeinsames Werk, vernichten wollte — daß ihr die nicht weit schlimmer wiederholt. Ihr alle wißt, was dieser Tag für die Werft, für[S. 301] die H. T. L., für Hamburg, für unser ganzes Vaterland bedeutet. Heut nachmittag sollte die ›Deutschland‹ vom Stapel laufen — und ich hoffe noch immer, sie wird's. Amerika wartet auf dies Ereignis — als auf ein Zeichen, daß Deutschland nicht das Werk seiner Feinde vollenden wird durch innere Zerrüttung — daß der Bürgerkrieg, der dem Kriege gefolgt ist, sich ausgetobt hat. Vereitelt ihr diese Hoffnung — ihr seid alle viel zu erfahren und vernünftig, als daß ihr nicht wüßtet, was das für Folgen haben wird — für unser Vaterland, für die Werft, für euch alle, für mich! Wir gehören zusammen. Wer uns trennt, vernichtet uns. Nicht mich allein — euch alle mit. Guten Morgen, meine Herren, ich danke Ihnen.«

Er neigte kurz und herrisch das Haupt. Die Arbeiter, tief bewegt, verbeugten sich mit all der Ehrerbietung, die sich in Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit mit ihrem Brotherrn in ihnen angesammelt hatte. Aber in die nachdenksame, beherrschte Stille schrillte ein rohes Gelächter.

»Hahaha!« grinste Tedje Tietgens, »kiek, wo se sick duken, wo sei den Steert intrecken, dei ollen grotmuligen Bullenbieters! Öwerst ji sünd nich dei Arbeiterschaft — ji sünd olle lendenlahme Knackstäwels! Wat wi annern sünd, wi Jungen, wi Radikolen — wi lat't uns nich besabbeln! Wi willt unse Republik verteidigen gegen den gefräßigen Götzen Mammon!«

Da winkte der alte Tietgens seinem Sohne Schweigen und trat noch einmal vor:

»Herr Senator — meine Kollegen un ich, wir werden dat all beraten, wat Sie uns gesagt haben. Ich für meine Person, ich glaub' Sie ja dat alles ... Aber dat mit die hundertzwanzig Mann vom Leutnant Timmermanns — un mit die Waffenkisten — dat gefällt uns nich — un dat eine kann ich Sie sagen im Namen von die ganze Arbeiterschaft: Reakschon is nich! — Gegenrevolution is nich! ... An unse Republik[S. 302] laten wi nich rühren — wer dat verseuken will, dei is unser Feind — un gegen den'n stohn wi all tausomen bit op den'n letzten Blaudsdruppen!!«


Die Arbeiter hatten sich entfernt. Carstensen und sein erster Mitarbeiter blieben allein. Der Greis schwieg. Er fühlte das Gebäude seines Lebens wanken. Der Sturm aus dem Osten hatte seine Fundamente unterwühlt. Bis zu dieser Stunde hatte der alte Mann alle Erschütterungen der Zeit mit einem Achselzucken abgetan. Kriegsfolgen — Ermattungs- und Lähmungserscheinungen ... Das gleicht sich aus ... In einem, in zwei Jahren läuft die Karre wieder wie zuvor ... Die unruhigen Elemente werden allmählich abgestoßen, man wird wieder Herr im Hause sein ... Er hatte es bis zur Stunde vermieden, persönlich mit den Arbeitern zu verhandeln. Dafür war sein Stellvertreter da. Jetzt hatte er ihnen ins Auge gesehen ... Darin stand etwas Neues, etwas, dem die Zukunft gehörte. Die Masse war aus ihrer Unpersönlichkeit erwacht. Man würde sie niederhalten müssen — aber überhören durfte man sie nicht mehr.

Gut — aber er würde dabei nicht mehr mittun. Mochte die Jugend sehen, wie sie mit der erwachten Masse fertig wurde.

Robert Timmermanns sah, wie die aufgerührten Gedanken hinter der von harten Adersträhnen gesäumten Stirn seines Chefs arbeiteten. Er wartete, bis der Senator das Wort an ihn richten würde. Da schrillte das Telephon. Präsident Freimann erkundigte sich nach der Lage.

»Wollen Sie selber antworten, Herr Senator?«

»Geben Sie her. Glauben Sie, Timmermanns, daß wir es verantworten können, an dem Stapellauf festzuhalten?«

»Mit Bestimmtheit, Herr Senator.«

[S. 303]

»Guten Morgen, Freimann, guten Morgen ... Ja, ja, allerdings, es ist eine gewisse Unruhe unter der Arbeiterschaft ... Aber zu irgendwelcher Besorgnis ist einstweilen keine Veranlassung ... Doch, doch, Sie können die Amerikaner durchaus beruhigen ... Ja, der hat tatsächlich die Frechheit gehabt, auf der Werft zu erscheinen, als wenn gar nichts vorgefallen wäre ... Er scheint der schlimmste Hetzer zu sein ... So, Sie haben seiner Schwester versprochen, ein gutes Wort für ihn einzulegen ... Nun, er macht's uns freilich schwer genug — wollen sehen, was sich tun läßt ... Ich ließe den Schuft am liebsten sofort verhaften ... Nein, nein, es bleibt alles bei unsrer Verabredung ... Um drei Uhr erwarte ich die Anfahrt der Herrschaften ... Um drei ein Viertel geht die ›Deutschland‹ zu Wasser ... Wie meinen Sie? Es würde die Amerikaner beruhigen, wenn einer meiner Herren sie abholen würde? Doch, doch, das läßt sich machen ... Ich halte die Lage auf der Werft sogar für so vollkommen gesichert, daß ich Ihnen meinen Generaldirektor schicken kann ... Das dürfte den Herren genügen, wie? Sie nehmen Ilse mit, nicht wahr? — Ob Heinz hier draußen ist? Nein — bis jetzt nicht ... So? Fräulein Tietgens behauptet, er müsse bei uns sein? Nun, dann wird er wohl noch kommen ... Ich soll ihn nicht allzu unsanft empfangen? Na, lieber Freund, er hat mir mit seiner phantastischen Unternehmung eine schöne Bescherung angerichtet ... Ich soll ihm wenigstens verzeihen, wenn alles gut geht? Wenn alles gut geht, lieber Freimann — so weit sind wir leider noch nicht. Grüßen Sie Ihre Sekretärin ... und bringen Sie das Prachtmädel mit zum Stapellauf — sie gehört mit dazu, sie vor allen ... Ich danke ihr dann noch persönlich. Also auf Wiedersehen um drei, lieber Freund — Ob mir gut ist? Doch, doch, selbstverständlich — meine Stimme — matt? Keine Idee ... Schluß!«

Mit mächtiger Willensanspannung rang der Greis die tiefe[S. 304] Müdigkeit nieder ... Heute noch einmal galt es, vor Mitarbeitern und Außenwelt den Herrn der Werft darzustellen. Einmal noch ...

»Sie haben gehört, Timmermanns ... Die Linie legt Wert darauf, daß Sie die Amerikaner abholen ... Ich hoffe, die Werft kann Sie entbehren. Im schlimmsten Falle habe ich ja Ihren Bruder. Ich bin jetzt ganz froh, daß er da ist. Können ihn mir schicken.«

Schon hatte der Generaldirektor die Türklinke in der Hand, da klopfte es. Robert Timmermanns öffnete — Heinz Freimann trat ein in seiner abgewetzten Matrosenbluse ... Aber in Gesicht und Mienen ganz der verantwortungsfreudige, tatbewußte Offizier.

»Guten Morgen, Papa. Ich melde mich ganz gehorsamst zur Stelle.«

Detlev Carstensen saß unbewegt. »Ich weiß noch nicht, ob für dich ein Platz in diesem Zimmer ist, Anders Niemann!« sagte er beherrscht. »Verantworte dich.«

Timmermanns wollte sich verabschieden. Sein Chef befahl ihm mit Handwink zu bleiben.

In knappen Sätzen sprach Heinz aus, was ihn bewogen habe, in die Tiefe hinabzusteigen. Er gab zu, sein Handeln habe sich gegen ihn gekehrt — ihn selber und alles, was er liebe, in Gefahr gebracht. Aber der Schwiegervater wolle nicht vergessen, daß er auch Opfer gebracht — ein schweres Opfer. Er sei treulos geworden an den Kameraden — deren Vertrauen ihn zum Mitwisser ihrer verbrecherischen Pläne gemacht habe. Sein Leben sei in höchster Gefahr, seine Ehre nicht ganz fleckenrein. Auch einem Verbrecher die Treue brechen sei Verrat. Er sei bereit, sein Leben als Sühneopfer darzubieten. Er stelle sich zur Verfügung für den Fall, wo es gelten möchte, vor der Arbeiterschaft Zeugnis abzulegen, daß die Werftleitung von seiner Anwesenheit auf der Werft keine[S. 305] Ahnung gehabt — daß er kein Spion, kein Spitzel der Direktion, kein agent provocateur der Gegenrevolution sei, sondern ein Deutscher, voll heißer Liebe zu seinen Volksgenossen, voll heißer Sehnsucht, beizutragen zu großen Werke der Versöhnung der Klassen.

Detlev Carstensens strenge Züge waren immer milder geworden beim knappen, freimütigen Bericht des Verlobten seiner Tochter.

»Du Träumer,« sagte er mit leisem Kopfschütteln, »du Phantast ... Es ist gut, mein Junge ... Ich glaube dir jedes Wort ... Ich glaube sogar fast, ich fange an, dich zu verstehen ... Herr Timmermanns wird dich im Hause verbergen ... Du bleibst zur Verfügung, bis wir dich brauchen ... Wenn die ›Deutschland‹ zu Wasser gegangen ist, werde ich wissen, ob du noch wert bist, die Hand meines einzigen Kindes in die deine zu nehmen.«

Er winkte gnädig Entlassung.


Die Mittagspause kam. Von Arbeit war nicht viel die Rede gewesen auf der Werft. Überall hatten Versammlungen unter freiem Himmel stattgefunden — mit dem sausenden Märzsturm kämpfend hatten die Redner sich heiser geschrien. Ein heißer Kampf: die ruhigen, verständigen Elemente waren schroff gegen den Generalstreik. Die Sabotageangelegenheit sei nicht geklärt — die Werftleitung habe sorgfältige Untersuchung unter Mitwirkung der Arbeitervertreter versprochen — man müsse das Ergebnis abwarten. Es sei Wahnsinn, den Stapellauf zu hintertreiben — er müsse heut nachmittag um drei Uhr planmäßig und ohne Störung stattfinden, sonst sei die Verbindung mit Amerika gefährdet. Die Folgen seien jedem Vernünftigen klar: Aufhören der Bestellungen auf Dampferneubauten, Erliegen der Werft, Schluß mit jeder Arbeitsmöglichkeit —

[S. 306]

Die Hetzer griffen's auf: das sei ja im höchsten Grade wünschenswert —!! Die Verbindung der Kapitalisten von hüben und drüben bedeute eine neue Versklavung des arbeitenden Volkes — der Bolschewismus müsse triumphieren, die Reaktion niedergeschmettert werden — die Woge der Weltrevolution werde alle Dämme niederreißen, die das Proletariat des Erdballs in Nationen zersplittere — dann werde die neue Menschheit erstehen, die Brot und Seligkeit für alle bringe ...

Eine Einigung war nirgends zustandegekommen. Als die Sirenen im ganzen Hafengebiet die Mittagstunde ausriefen, trieb der Hunger alles in die Kantinen. Die Arbeit hatte stillgestanden — die Küche war glücklicherweise treulich am Werke geblieben.

Aber auch die Hetzer blieben am Werke. Der Terror vergewaltigte die Vernunft. Als die Essensstunde vorüber war, hatten die Fanatiker, die Wahnwitzigen die Oberhand gewonnen.

Und plötzlich waren auch Waffen da. Woher sie kamen, wer vermochte es zu sagen? Sie waren da. Die Halbwüchsigen schleppten ganze Arme voll rostiger Gewehre heran, drängten sie den Unwilligen auf, stopften jedem ein halbes Dutzend Ladestreifen mit grünspanüberzogenen Patronen in die Taschen. Auf erhöhten Punkten postierten ehemalige Somme- und Flandernkämpfer Maschinengewehre.

Armin Timmermanns verstand sein Handwerk: sein Meldedienst funktionierte. Kein Zweifel, es galt ... Ein Koppel mit Patronentaschen und kurzem Seitengewehr umgeschnallt, einen Stahlhelm auf dem Kopf, einen Karabiner umgehängt, trat er in dienstlicher Haltung vor den alten Carstensen:

»Herr Senator, ich melde ganz gehorsamst: die Roten rüsten zum Sturm auf das Verwaltungsgebäude.«

Detlev Carstensen thronte in seinem Arbeitsstuhl wie ein[S. 307] Cäsar, der die Kunde empfängt, seine Hauptstadt sei im Aufruhr. Kaum, daß seine schneeweißen Brauen sich etwas zusammenzogen.

»Ihr Bruder schon zurück?«

»Nein, Herr Senator.«

»Gut — ich lege den Schutz der Werft in Ihre Hand. Sie werden Übereilungen zu verhüten wissen.«

»Jawohl, Herr Senator. Gehorsamsten Dank.«

Draußen harrten seine Adjutanten. Knapp und klar erklangen seine Befehle. Alles beste Schule. Treppauf, treppab spritzten die jungen Herren auseinander. Gemessenen Schrittes folgte der nervige Diktator der Hammonia-Werft. Er wußte: es würde klappen. Mochten sie kommen — sie sollten sich blutige Köpfe holen.

Jetzt dröhnte die weite Halle des Lichtschachtes, der das ganze Gebäude durchstieß, vom Ansturm der Jungmannen, die nun behelmt und bewaffnet dem Keller entquollen und die Treppen hinanstürmten, um die ganze Front nach der Werft hin zu besetzen. In den Korridoren öffneten sich die Türen — erschrockene Köpfe tauchten auf — Direktoren, Ingenieure, Prokuristen, Sekretärinnen ... Ah — also doch! Man war verteidigt ...

Sie mochten kommen.


13

Vor dem Hotel Atlantic, an der stattlichen Häuserreihe entlang, welche das weitgedehnte Becken der Alster im Osten einsäumt, hielt die stattliche Reihe der Kraftwagen, welche die Vorstände der United Transatlantic Lines zum Stapellauf ihres Dampfers »Deutschland« führen sollten. Im Vestibül waren die Festgäste versammelt: die Direktion der Hansa-Transatlantik-Linie[S. 308] mit ihren Damen, die Abgesandten des Patterson-Konzerns. Nur Elias Patterson selber und seine Tochter fehlten noch.

Georg Freimann bewegte sich inmitten seiner Freunde mit seiner ganzen weltmännischen Geschmeidigkeit und Sicherheit. Niemand sah ihm an, welche Sorgen seine Seele bedrängten. Noch fehlte der Generaldirektor Timmermanns, der ihm Kunde bringen sollte, wie es auf der Werft stehe ... noch fehlte jede Kunde von Heinz ...

Endlich — da tauchte über dem Gewimmel der glattrasierten Yankeegesichter der Blondbart des Hünen auf ... Sein holzgeschnitztes Gesicht strahlte Hoffnung und Zuversicht ... Aber das konnte Maske sein ... und wirklich, was er mit raschen Flüsterworten von der Stimmung der Arbeiterschaft auf der Werft erzählte, klang nicht übermäßig beruhigend ...

»Was meinen Sie — können wir's wagen?«

»Ich übernehme die volle Verantwortung ...«

»Also gut ... und mein Sohn?«

»— ist auf der Werft in Sicherheit. Er benimmt sich glänzend. Sie können stolz auf ihn sein. Da wächst uns allen eine Stütze heran.«

»Timmermanns ... Sie wissen nicht, was das für mich bedeutet ... Ich danke Ihnen. — Also los ... Vielleicht holen Sie Herrn Patterson persönlich ab ... dritter Stock, Zimmer 285.«

»Noch eins, Herr Präsident ... wenn die Amerikaner im Wagen sitzen, möchte ich verschwinden und vorauf zur Werft zurückfahren, um mich zu überzeugen, daß wir es wagen können, unsere Gäste anfahren zu lassen. Wenn nein, dann lasse ich die ganze Kavalkade bei der Ausfahrt aus dem Elbtunnel zurückhalten. Ich nehme das vorderste Auto, sause gleich los und fahre auf dem nächsten Wege über den Rathausmarkt[S. 309] zum Hafen. Sie, Herr Präsident, nehmen vielleicht den zweiten Wagen und fahren die Yankees zunächst mal über Lombardsbrücke, Ringstraße und Holstenwall am Bismarck vorbei — kann ihnen sowieso nichts schaden, wenn sie den Schutzpatron unsres Vaterlandes mal zu sehen kriegen ...«

»Abgemacht —« sagte Georg Freimann und trat wieder unter seine Gäste. Gestrafften Nackens, leuchtenden Angesichts. Er fühlte sich verjüngt, erneuert. Er war nicht länger erbelos, nicht mehr allein. Er hatte einen Verbündeten. Sein eigen Fleisch und Blut.

Der Generaldirektor Timmermanns fuhr im Lift zum dritten Stock empor, den Chef des befreundeten Konzerns persönlich zur Fahrt auf die Werft einzuladen. Aber seine kraftvolle Rechte zauderte doch einen Augenblick, ehe er am Salon anklopfte, den der Hotelpage ihm als Wohnung des Herrn Patterson bezeichnet hatte.

»Enter, please!« Eine helle Mädchenstimme hatte es gerufen. Himmel — wenn er sie allein träfe ... und wär's auch nur für einen Augenblick ...

Und — da stand sie ... Wie der leibhaftige Frühling ...

»Ah, Mister Timmermanns ... Das ist schön — Sie wollen kommen zu holen uns ... Nun — was tun Sie sagen zu Ihre kleine Gesangschülerin? Tat nicht ich machen sehr gut mein Sache — diese Nacht?«

»Fräulein Bessie — Sie sind das prachtvollste kleine Frauenzimmer, das mir je in meinem Leben vorgekommen ist ...«

»Oh — das freut mich — das freut mich — quite enormously ...«

»Wahrhaftig — Fräulein Bessie?«

»Aber Sie, Mister Bobbie — Sie sein ein ganz, ganz dummer dicker Hunne ...«

»Wie — meinen Sie das — Fräulein Bessie?«

[S. 310]

»Ja, wenn Sie das verstehen noch immer nicht — dann sind Sie noch viel, viel dümmer, als ich dachte jemals ...«

»— — Bessie — —!!«

Und schon flog das feine Figürchen in seine Arme. Er hob sie wie ein Püppchen an seine breite Brust.

Da öffnete sich die Tür, die zu den Schlafgemächern führte — Elias Patterson stand mit einem Gesicht, das ihn in der Generalversammlung um seine ganze Autorität gebracht haben würde.

Bessie machte sich los, stürzte auf den Vater zu, ergriff seine Hand und zerrte ihn auf den Deutschen zu.

»Deinen Segen, daddy, schnell — schnell — die Herren warten drunten schon seit einer Viertelstunde auf uns ...«


Die Autokolonne ruckte an. Gleich hinter dem Wagen, in dem die beiden Chefs der United Transatlantic Lines saßen, kamen die vier Damen:

Mutter Johanna Freimann, überselig, seit Georg ihr hastig zugeflüstert: »Heinz auf der Werft in Sicherheit — Timmermanns ist begeistert von ihm ...«

Neben ihr Klein-Bessie, kaum fähig, ihren Jubel zu bemeistern ... Wenn man doch erst losfahren möchte! Dann wird sie erzählen ... Warum auch verschweigen, was so gut wie besiegelt und unterschrieben war? Er sträubte sich ja noch ein bißchen, der gute daddy — aber wann hatte ihm das je etwas genützt?!

Auf dem Rücksitz Ilse Carstensen — glühend im Glück über so tröstliche Nachricht — und doch auch fiebernd vor Unruhe ... Wie mochte es stehen auf der Werft?!

Alle drei Frauen Vertreterinnen der Oberschicht des Bürgertums zweier Welten — verwöhnter, als sie selber ahnen mochten, durch die Macht des Besitzes ... Die schützte sie vor[S. 311] tausend Stößen des Lebens, denen von hundert Staubgeborenen neunundneunzig langsam erliegen ...

Und als vierte die eine, sorgfältig, doch im Vergleich unendlich bescheiden gekleidet — Antje Tietgens ... die Sekretärin — heute von allen mit Ehre überhäuft ... noch ganz benommen von ihrem Glück, und doch auch sie beklommen von geheimem Bangen vor dem Schicksal der nächsten Stunde, im Herzen die qualvoll süße Erinnerung an den höchsten Augenblick ihres Lebens ...

Die Wagenkolonne fauchte über die Lombardsbrücke. Vor den Augen der Amerikaner tat sich ein Standbild auf, das auch bei den Bürgern der Metropole der neuen Welt seinen Eindruck nicht verfehlen konnte — in seiner bodenständigen Eigenart, seiner alteingewurzelten Vornehmheit. Zur Linken das enge Becken der Binnenalster, der Jungfernstieg mit seinem flutenden Verkehr, die drei Türme — zur Rechten der breit ausladende See der Außenalster, schon wieder wie in Friedenszeiten vom lustigen Gewimmel der Paddelboote und im Frühlingssturm sich blähender Segel belebt ... Dann ging's über die Reste der einstigen Umwallung — zwischen den märzkahlen Bosketts, aus denen die Spiegel der ehemaligen Festungsgräben blinkten, und der stattlichen Reihe der Amtsgebäude und der Musikhalle ...

Und jetzt — jetzt tauchte aus braunen Baumgruppen ein ragendes Gleichnis empor: von Hugo Lederers Meisterhand geschaffen, das Bild des Mannes, der einstmals die Fürsten und Völker Deutschlands zum »ewigen« Bunde zusammengezwungen ...

Der steinerne Gigant schaute schweigend, wachsam gen Westen — dorthin, wo das Meer war, dem Deutschen ewig ersehnt, ihm ewig wieder versperrt vom Neide der Welt ... Seine gepanzerten Arme hielt er um den Knauf des Schwertes verschränkt, das er seinem Volke geschmiedet, das sein Volk[S. 312] sich hatte entreißen und zerbrechen lassen nach vier Jahren eines Abwehrkampfes, wie nie ein Volk ihn bestanden ...

Die beiden deutschen Mädchen sahen einander in die Augen, die Patrizierin, die Sozialistin ... und fühlten zum zweiten Male, daß sie Schwestern waren, Schwestern durch Blut und Schicksal. Und eine preßte der andern Arm in stummem Gelöbnis:

Zusammenhalten — — weil wir zusammengehören —!!


14

Sie kamen.

Aus der Deckung der Maschinenhalle, der Schiffsbauhalle, der hochragenden Docks schoben sich tausendköpfige Massen zusammen, ballten sich zu einer lebenden Mauer, die dunkel und dräuend immer näher auf das Verwaltungsgebäude heranrückte. Dahinter ragte der schwarze Schattenriß der »Deutschland« — überhöht vom breitgespannten Schirm des Eisengerüstes, auf dessen Türmchen die Seehandelsflagge des Deutschen Reiches flatterte.

Armin Timmermanns überflog vom Fenster des Chefkontors mit dem Blick des kampfbewährten Führers das Bild der Lage. Die Wahnsinnigen! Wollten sie als dichtgekeilte Masse zum Sturm antreten?!

Näher — immer näher ...

»Gestatten Herr Senator, daß ich das Feuer eröffne?«

Detlev Carstensen saß im Thronsessel seiner Arbeit wie sein eigenes Standbild. Auf seiner kantigen Stirn schwollen die Aderstränge. Nun hob er sich mit schwerfälligem Ruck.

»Das — Feuer eröffnen?! Herr Leutnant — wir sind nicht auf dem Schlachtfeld — wir sind auf meiner Werft. Eins ist noch nicht versucht. Wo ist Heinz Freimann?«

[S. 313]

»Er wartet im Zimmer meines Bruders.«

»Soll nach unten in die Vorhalle kommen.«

Der Greis schritt zur Tür.

»Darf ich fragen, was Herr Senator beabsichtigen?« fragte Timmermanns verständnislos.

»Mit meinen Leuten reden. Mein Schwiegersohn wird mich begleiten. Geschossen wird nicht.«

»Zu Befehl, Herr Senator.«

Gelassenen Schrittes stieg Detlev Carstensen in die weitgedehnte Vorhalle hinab. Dort drängten sich, zwischen den Glaskästen mit den gewaltigen Dampfermodellen, ganze Rudel aufgeregter alter Herren in Kontorröcken und schlotternde, schluchzende Bureaudamen.

In einem Seitengang harrte der Stoßtrupp — Studenten, junge Kaufleute —, alles alte Kriegsoffiziere, zwei Dutzend Teufelskerle vom Schlage ihres Führers — des Augenblicks, der sie im Notfalle in den Kampf reißen sollte —. Carstensen begrüßte die bunt zusammengewürfelte Versammlung mit einem stummen Kopfnicken. Um ihn war eine Würde, eine Kraft, vor der sich alles neigte. Durch eine schnell sich öffnende Gasse schritt er zum Hauptportal — sah unbeweglich hinaus — der dunklen Mauer entgegen, die sich immer näher, immer dräuender gegen sein Lebenswerk heranschob.

Und jetzt traten zwei junge Männer an seine Seite ... Heinz — Armin ...

»Sie brauche ich noch nicht, Herr Leutnant«, sagte Carstensen. »Halten Sie sich bereit — aber nur für den äußersten Fall.«

Mit ruhigem Griff öffnete der Greis die Tür, schob seinen Arm unter den des Schwiegersohnes und trat mit ihm auf die breitausladende Freitreppe hinaus —

Die dunkle Mauer erstarrte — stand. Eine Stille ward. Nur eine Sekunde — dann schwoll dumpfes Wutgebrüll auf,[S. 314] tobten wüste Schreie: »Doar is hei ja — dei Schuft! dei Spitzel! dei Spion!«

Detlev Carstensen streckte die Rechte aus — und abermals ward lastende, lauschende Stille.

»Arbeiter!« rief Detlev Carstensen, und seine Stimme klang voll und gebietend wie in den Tagen seiner Lebenshöhe, »dieser Mann ist kein Spion — kein Verräter. Um euch nahe zu kommen, hat er mit euch gelebt und geschafft. Die Werftleitung hat nichts davon gewußt. Was er sonst noch zu sagen hat, hört von ihm selber.«

Heinz Freimann sprach: »Kameraden! Ich habe nicht viel zu sagen. Ich bin nicht ehrlos gewesen. Was ich wollte, kann und muß ich vertreten. Laßt meinen Fall untersuchen und dann macht mit mir, was ihr wollt — ich wehre mich nicht!«

Und ruhigen Gesichtes löste Heinz Freimann sich von Detlev Carstensen und stieg langsam die Freitreppe hinunter, der geballten Masse entgegen, die schweigend, unbeweglich seinen Worten gelauscht hatte. Viele drohend erhobene Fäuste, viele geschwungene Waffen senkten sich.

Da klang aus der Menge eine wüste, schrille Jungmännerstimme: »Du Swindler! Klooksnacker du! Olle Volksbedreiger! giv mi mien Fründ t'rügg — Clos Mönkebüll giv mi wedder!«

Und aus der Masse drängte ein grimmiger Bursch sich hervor in schmutzig zerfetztem Arbeiterkittel. Hoch schwang er das Gewehr über dem Kopfe, sprang mit ein paar wilden Sätzen heran, sich auf Heinz Freimann zu stürzen.

Im selben Augenblick flog an dem Greise, der droben ragte, und dem jungen Mann, welcher der Masse seine wehrlose Brust bot, eine andere Männergestalt vorüber, warf sich dem Anspringenden entgegen: der Leutnant im Stahlhelm — und auch er schwang im Anlauf über seinem Haupte das Gewehr —.

[S. 315]

Schon standen die zwei auf eines Schrittes Breite einander gegenüber. Die Kolben sprangen in die Luft, zielten nach des Feindes Haupt, sausten nieder —.

Aber Tedje Tietgens' Arm war stärker — in weitem Bogen flog des Leutnants Waffe zur Seite, ein zweiter Kolbenschlag donnerte auf seinen Stahlhelm nieder, daß Armin betäubt zu taumeln begann ... in derselben Sekunde ließ der Proletarier das Gewehr fallen, zückte sein Messer und grub es mit tückischem Stoß tief in des Leutnants Hals.

Über dem zusammenbrechenden Leibe des Feindes stand Tedje Tietgens hoch aufgerichtet — stieren Blicks — das blutige Messer in der langsam sinkenden Hand.

Da — aus dem ersten Stockwerk des Bureaugebäudes — ein Knall, ein Feuerstrahl — Tedje Tietgens zuckte jäh auf, seine Rechte ließ das Messer fallen, fuhr nach dem Herzen — und schon sank der mächtige Körper in sich zusammen, fiel über den verröchelnden Leib seines Opfers.

Droben Bob Timmermanns, irren Auges, den rauchenden Karabiner in der Hand — —.

Das alles in fünf Sekunden ...

Nun endlich brach ein Aufschrei aus Tausenden von Kehlen — aber ein Aufschrei nicht der Wut, der Rache — sondern des Entsetzens — des Abscheus vor dem eigenen Tun ...

Kainstat hüben, Kainstat drüben ...

Doch schon einen Atemzug später tausendstimmig ein zweiter Schrei — Heinz Freimann war vorgesprungen, stand neben den verknäulten Leibern der Opfer des Wahns — breitete die Arme gegen seine Kameraden aus: »Über mich dies Blut — schlagt mich tot!«

Schon hoben sich aufs neue viel hundert geballte Fäuste, mordgierige Waffen. Und aus dem Verwaltungsgebäude quoll Armins Stoßtrupp hervor — des Führers Tod zu rächen.[S. 316] Eine Sekunde noch, und ein Blutbad begann, unhemmbar, unsühnbar ...

Aber zwischen den gezückten Waffen, den anrückenden Gestalten der entflammten Rächer zwängten sich mit einem Male zwei Frauengestalten hindurch. Ilse Carstensen flog mit jagenden Sprüngen über den Platz, schon stand sie neben dem stumm verzweifelnden Heinz — trat vor ihn hin, breitete weit und schützend die Arme aus. Und jetzt stand Antje Tietgens neben ihr — auch sie reckte die Arme, den Sohn des Bürgertums zu decken gegen ihre Klassengenossen ...

Und sieh: der Ansturm von hüben und drüben erlahmte. Bajonette, Kolben senkten sich — mit ausgebreiteten Armen standen beide Frauen inmitten — Gleichnisse beide von einer höheren Ordnung der Dinge, Künderinnen einer reineren Zukunft, einer kommenden Menschheit. Zwei Töchter eines Volkes ...

Da hob Ilse die Rechte — wie eine Priesterin, wie eine Seherin stand sie da.

Und aller Blicke folgten der gebietenden Weisung: Hoch überm Schwall der fiebernden Tausende türmte sich ihrer heute zum Kampf gekrallten Hände gigantisches Friedenswerk: die »Deutschland« ...

Antje starrte in tränenlosem Jammer auf des Bruders zusammengesunkenen Leichnam. Nun aber richtete sie sich auf und rief: »Arbeiter, Kameraden, kennt ihr mich? Der Tote da, das ist mein Bruder — und dieser Anders Niemann hier, das ist mein Freund! Keiner hat gewußt, wer er war, solange er zwischen euch geschafft hat. Ich aber, ich hab's gewußt! In all der Zeit hab' ich's gewußt! Und ich, ich, die Proletarierin, ich bezeuge es ihm nun auch: Er ist kein Spitzel, kein Spion! Er ist unser Bruder, unser Kamerad! ... Gebt Liebe um Liebe! Laßt uns zusammenhalten — wir gehören zusammen! Kopf und Faust, Arbeit und Kapital, Bürger und Proletarier[S. 317] —! Das hat er mich gelehrt, er, mein Freund, unser Freund — glaubt mir's, glaubt's ihm ... Der da, mein armer Bruder, der hat's ihm nicht glauben wollen ... darum ...« Ihre Stimme wollte brechen — aber noch einmal raffte sie sich auf: »Versöhnung! Brüder — Kameraden — Versöhnung!!«

Und jetzt trat der alte Carstensen vor bis zu der Stelle, wo der todbereite Mann stand — geschützt nur von der Liebe der zwei Frauen, die ihn verstanden.

Der Senator hob im Vorschreiten das Gewehr von der Erde, das des Leutnants Händen entfallen war. Und nun ergriff er auch das zweite, das der Arbeiter hatte sinken lassen, um zum Messer zu greifen. So stand der alte Mann — in jeder Hand eine Waffe ... nun hob er beide — hoch in die märzlich durchstürmten Lüfte. Über dem schneeweißen Haupt, aus dem diese ganze Schaffenswelt ringsum entstanden war, schwankten die zwei braunen Kolben. Nun sausten sie nieder aufs blutgetränkte Pflaster des Werfthofes, zersplitterten mit einem ächzenden Krachen. So groß war die Bewegung, so einfach und herrlich ihr Sinn — sie zwang die Tausende in ihren Bann.

Und jetzt trat aus der Pforte Bob Timmermanns, den Karabiner in der Hand, aus dem er den rächenden Schuß getan. Dem Beispiel seines Meisters folgend hob er als erster die Waffe und schlug sie entzwei.

Da ging durch die harrenden Massen ein tiefes, aufatmenden Begreifen.

Erst waren es drei, vier, sechs Arme, die sich hoben, die Waffe des Bruderkrieges zu zertrümmern — schon zersplitterte Kolben um Kolben, flog Schaft um Schaft zuhauf — nun stürmten Dutzende heran, dem Opferfeste, der Versöhnungsfeier sich anzuschließen — zu Hunderten jetzt zerkrachten die Gewehre, geweiht dereinst zu des Vaterlandes Verteidigung,[S. 318] geschändet nun durch den Kampf der Parteien, der Klassen, der Brüder ...

Und wie Waffe um Waffe zersprang, wie die Trümmer zum Berge sich türmten inmitten — da traten sie von hüben und drüben aufeinander zu, die Roten und die Weißen, und schauten sich ins Auge. Und Hammerhand und Federhand fanden, fügten sich zusammen über den Leichnamen der Opfer, besiegelten in stummem Gelöbnis den neuen Bund, den Bund der Deutschen, schwuren wortlos heiligen Schwur.

Droben aber an einem Fenster des ersten Stockwerks, zwischen aufatmenden Männern und leise schluchzenden Frauen, stand das Kind eines fernen, eines glücklichen Landes, eines längst schon einigen und freien Volkes — inmitten seiner staunenden Landsleute vom Patterson-Konzern — und sah, wie Deutsche zu Deutschen sich fanden — sah den Starken, den Trotzigen, dem sie sich zu eigen gelobt, drunten Hand in Hand mit dem alten Manne stehen, dem er den Sohn erschlagen, dessen Sohn ihm den Bruder getötet ...

Und da quoll aus ihrer jungen Seele ein heiliges Gelöbnis: für dieses Volk zu zeugen, soweit ihre schwache Mädchenstimme Kraft hatte zu klingen ... an dieses Mannes, dieses Volkes Zukunft ihr unentweihtes Herz, ihr freudig pulsendes Leben zu wagen.

Mehr noch — mehr noch — immer mehr — alle — alle — —

In dichten Massen drängten sie heran, die eben noch zum Sturm antraten wider die Herzkammern ihres eigenen Schaffens und Lebens. Zur großen, freien Sühnetat eilen sie herzu, zerschlagen die Werkzeuge des Hasses, zerschlagen den Haß, die Verbitterung, den Neid — schwören ab dem Bruderzwist, dem Klassenzwist. Geloben sich dem Genius ihres Volkes, der selbstverleugnenden Arbeit fürs Ganze, der Eintracht, der Versöhnung, der Wiedergeburt.

[S. 319]


Spürst du, wie ein leises Beben den rostfarbenen Gigantenleib der eisernen Riesin durchrinnt?! Die Hammerschläge dröhnen und treiben die letzten Keile heraus. Nichts hemmt nun mehr den Drang der Gewaltigen, der sie zum Strome treibt, in das sturmgepeitschte Wogengetriebe, das ohne Hasten und ohne Rasten dem nahen, dem freien Meer entgegen sich wälzt.

Und jetzt — jetzt ist es getan — in erhabener Ruhe setzt die lastende Masse sich in Bewegung. An ihrem Heck flattert die Seeflagge des Deutschen Reiches ...

Die Bremsketten rasseln, die Gleitbahn ächzt, der Boden wankt unterm schweren Wandel der Riesin —

Schneller, immer schneller —

Und nun erschallt ein Jauchzen ringsum — nun heben sich zu jubelndem Gruß die tausend und aber tausend Hände derer, die sie planten, die sie bauten — die aber tausend Hände, noch bebend vom Treugelöbnis, das sie alle zum neuen Bunde zusammengefügt ...

Jetzt schäumt die Welle des Elbstromes hochauf grüßt schäumend ihre jüngste Bezwingerin ...

Hoch droben am Heck aber, wo die sturmgepeitschte Fahne des Deutschen Reiches flattert, sehen die tausend und aber tausend Augenpaare der Jauchzenden in goldenen Lettern den Namen glänzen, dem sie ihr Herz, ihre Faust, ihr Leben heut aufs neue geweiht:

den Namen des Landes unserer
Liebe
.



[S. 320]

Walter Bloem Romane

Hafis Ausgabe

signet

10 Ganzleinenbände in Kassette M. 32.50
10 Halblederbände in Kassette M. 48.—


Jeder Band ist einzeln lieferbar
in Ganzleinen M. 3.25, in Halbleder M. 4.80


Inhalt

Band 1: Das eiserne Jahr

Band 2: Volk wider Volk

Band 3: Die Schmiede d. Zukunft

Band 4: Das verlorene Vaterland

Band 5: Der krasse Fuchs

Band 6: Das jüngste Gericht

Band 7: Brüderlichkeit

Band 8: Das lockende Spiel

Band 9: Sonnenland

Band 10: Das Land unserer Liebe


Walter Bloem steht seit langem in der ersten Reihe jener Erzähler, deren Werke dem deutschen Volke ans Herz gewachsen sind. Mit dem Studentenfrohsinn des »Krassen Fuchses« stürmte er übermütig hervor; dann klärte der gärende Most sich zum Edelwein in den vaterländischen Romanen, der Trilogie »Das eiserne Jahr«, »Volk wider Volk« und »Die Schmiede der Zukunft«, Schilderungen aus der gewaltigen Zeit des Krieges 1870/71 voll packenden Lebens und begeisterter Gesinnung. Ihre hellen Flammen wurden vom Sturmhauch des Weltkrieges zu düsterer Glut angefacht, im »Verlorenen Vaterland« am heißesten lodernd, um dann voll tiefen Gefühls in »Brüderlichkeit« und dem »Land unserer Liebe« das Unglück des jüngsten Jahrzehnts zu beleuchten.

Alle diese Romane — und nicht minder die hier unerwähnten — können beste, jedem Leser zuträgliche Geisteskost genannt werden. Geschieht nun durch billigsten Preis das Möglichste, um diese in Hunderttausenden von Exemplaren verbreiteten Dichtungen einem noch viel größeren Kreise zugänglich zu machen, so darf dies als ein wahrhafter Dienst an unserem Volke gelten.