Title: Vom köstlichen Humor
Eine Auslese aus der humoristischen Literatur alter und neuer Zeit
Editor: Ludwig Fürstenwerth
Contributor: Carl Beyer
Ilse Frapan
Balduin Groller
Wolfgang Lenburg
Johannes Trojan
Release date: March 23, 2025 [eBook #75693]
Language: German
Original publication: Leipzig: Hesse und Becker Verlag, 1916
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Die Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.
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Über Verfasser und Inhalt | 7 |
Carl Beyer, Stanislaus Wetterwetzer | 9 |
--"--, Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten | 46 |
Ilse Frapan, Dat Undeert | 65 |
Balduin Groller, Die Tante und der Onkel | 145 |
--"--, Eine Entlarvung | 214 |
Wolfgang Lenburg, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer Müller« | 227 |
Johannes Trojan, Wie man einen Weinreisenden los wird | 253 |
--"--, Kleine Leiden auf einer Landpartie | 260 |
--"--, Drei Gedichte: | |
Männertreue und Weiberkrieg
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275 |
Der Glückstag
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276 |
Der Oberamtsrichter von Neckarsulm
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280 |
[S. 7]
Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit, deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an den Rhein und die Donau erstreckt.
Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters Fußstapfen zu treten. Carl Beyer, der Pfarrer a. D., der in Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist historische Stoffe behandelt — Reuters Geist und Humor steckt in dem Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze, begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang leicht ergeben. —
Ilse Frapans »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den Kinderszenen — am Schlusse »kriegen« sie sich. —
Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners Balduin Groller in der noch nicht in Buchform[S. 8] erschienenen humoristischen Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema, den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll etwas leichtes Gepäck nicht fehlen.
Dazu gehört auch Wolfgang Lenburgs Skizzensammlung »Oberlehrer Müller« — unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen —, aus der hier eine Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße 27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht, der Oberlehrerton ist echt.
Johannes Trojan, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan, und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen.
[S. 9]
Carl Beyer,
Stanislaus Wetterwetzer.
Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.
[S. 10]
Mit Genehmigung des Verlages Fr. Bahn in Schwerin
i. Meckl. aus »C. Beyer, Stane und Stine«, gbd.
M. 1.—, und aus »Wilhelm Pickhingsts Kriegs-
fahrten«, kart. M. 1.—.
[S. 11]
»Guten Tag, Herr Pastor! — Da bin ich, Herr Pastor!«
Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen echten Landstreicher vor sich hatte.
»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?«
[S. 12]
»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie noch, Herr Pastor? — In Altstädt, Herr Pastor? — Weihnachten, Herr Pastor? — Da bin ich, Herr Pastor.«
Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen, wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige Gesichter war die Bewegung wie plötzliches[S. 13] Blitzezucken gegangen, die meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten, war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm.
Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich, Herr Pastor, bitt' schön. — Auf mich selbst kann ich mich gar nicht verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen, er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein.
Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn offenbar hatte der Rock kein[S. 14] Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,« sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin.
»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?«
»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.«
Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos — gelernt beim Vater als Kaufmann im Materialgeschäft — nach dessen Tode hier und dort beschäftigt, endlich dienstpflichtig — gerade noch so eben das Maß — allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren — stets Störung einer tadellosen Front — Strafen mit Nachexerzieren, — schlecht schießen, weil das Gewehr zu schwer — Kugel suchen, Tornister mit Steinen tragen — »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.«
»Das heißt, Sie desertierten.«
»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin auf ein Dorf,[S. 15] und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei, Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ ich mir nicht gefallen und ging wieder weg — nein, Herr Pastor, nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete beim Bauern Schafe — zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite — »als das vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub, verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann weg. Nach drei Tagen eingefangen. — Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor! Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde eingesteckt — dreimal — Herr Pastor, Herr Pastor — nur dreimal in vier Jahren — sonst kam ich immer durch — und etwas Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen Gerichten herumfragen, Herr Pastor.«
[S. 16]
»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf später verschob.
»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat — das ist nichts geworden, Herr Pastor, — und nun komme ich um Rat, Herr Pastor, bitt' schön.«
»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?«
»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann, indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog. Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte.
Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen. Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen erfordere.
»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de sall di[S. 17] hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen, dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi mi.« Mit diesen Worten ging er davon.
Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war, tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an.
Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und dabei von Gestalt fein und zart[S. 18] wie ein Knabe, in allen Bewegungen unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah, entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo heißt du denn, min Jung?«
»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen.
»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit.
»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.«
»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di 'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den Stall. Un mak de Dör achter di tau.«
Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof noch mit leichtem, federndem[S. 19] Gang), fand er seine muntere Stimmung wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und — wupp stülpte er ihn sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden. Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und ging wieder an die Arbeit.
»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu und schlug alsbald den Haken ein.
Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen.
»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte[S. 20] sie verwundert. »Du fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.«
Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,« versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine Hände und zog mit Leibeskräften.
Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter.
Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß auf Socken[S. 21] — die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen — in die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall. Uns' Jung will uns dod bliewen.«
Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen.
»Ick kiek mi üm — dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.«
Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an, hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust, schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht.
»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min Sofa rupdrägen.«
»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...«
[S. 22]
»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.«
»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre Brust gelehnt.
Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang — ligg ganz stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n Dokter verluren gahn. — Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa.
Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand — nicht etwa wieder auf die Brust, sondern etwas tiefer.
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald verständnisvoll. Ihm antwortete[S. 23] Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten Sie mich für einen Bettler genommen.«
»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte.
»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der Mettwurst?«
»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein Lieblingsessen.«
»Am Verhungern — und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf.
»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf keinen Kummer kommen lassen.«
»Ja, das ist es ja gerade. — Und dabei seit zwei Tagen nichts gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf.
Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür.
»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst.
[S. 24]
»Dort hinten — hängt sie — an der Wand.« Sie flüsterte es mit absterbender Stimme.
»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! — Verhungert und verdurstet bei meiner Arbeit!«
»Ja doch — um Gottes willen ja —« Sie trat in die Küche zurück und füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke.
»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei.
Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war, kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.«
»Was ist denn geschehen?«
»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den Fall, da[S. 25] kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt neben uns verhungern. — Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen versinken, so schlingt der Mensch.«
Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt: »Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er behält ihn sicherlich während der Nacht hier.«
Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab, freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein, schlich zur Tür.
[S. 26]
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,« lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.«
Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder, denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber können Sie auf dem Kirchhofe graben?«
»Gruft graben, Herr Pastor? — Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten.
»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so, daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein, jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.«
Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze, die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an das Werk zu gehen.
Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich. »Satt sind Sie,[S. 27] wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh, daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich habe eben aus dem Fenster gesehen — an der Dachrinne kann ich jeden Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.«
Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte.[S. 28] »Ick stah hüt morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹ seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.«
»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd.
»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone gnäterswarte Hor.«
»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.«
»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch? Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren[S. 29] Manns-Spaten in den Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte, war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten.
»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen.
»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und dazu gehört Geduld.«
»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe — wie — ein Regenwurm, Herr[S. 30] Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.«
»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige zu zerhacken, das ist etwas für Sie.«
»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht, immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab.
»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles ersetzt, Herr Pastor.«
[S. 31]
»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube, Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.«
Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder, einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange, der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp — hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand[S. 32] zeigte, »ganz rein! ganz rein! Hopp hopp — hü hott!«
An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern, da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel, das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur Nachbarstadt? — Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte der kleine Mann dann ab.
Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte, um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend, von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war[S. 33] längst vorbei, da kam der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half sofort. »Herr Pastor — mit meinen Beinen — gar nicht tot zu kriegen! Das kommt vom Wandern. — Nur die Arme — Regenwürmer — mürbe —« da taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr Pastor — armes Luderchen —, Herr Pastor — ich will — ich kann —« Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett.
Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her vergnügt und vertrauensvoll[S. 34] an, und vor solcher Art von Beredsamkeit verstummte sie errötend.
Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken. Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich[S. 35] und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße Papier gelaufen wäre.
Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert, Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt, Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich mit Steinen nach ihnen.
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»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine, die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete.
»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei Wäldag.«
»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.«
Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur die geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er mitgenommen.
Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach. Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut und freundlich, wie sie gewesen war.
Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte ihn hinter[S. 37] den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab ich eins. — Nun hab ich eins, Herr Pastor, — ein so Kleines — so — so — so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf Handlänge.
»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.«
Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge fast bis an die Decke. »Herr Pastor — Herr Pastor — Herr Pastor!«
»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.«
Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,« sagte er langgezogen.
»Natürlich wird es verkauft.«
»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.« Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor, mein Fleisch und Blut ...«
Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck[S. 38] seine glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte.
»Ein so — so — so Kleines, Herr Pastor. — Ich bitt' schön, Sie müssen's mal sehen, Herr Pastor, — o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr Pastor, — und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« — Er lief schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. — Ich hab' eins, ich hab' eins. — Gemolken habe ich, Herr Pastor — ein so Kleines — ein so Kleines — Stine hat's mir in den letzten Wochen gezeigt, Herr Pastor, ein so — so — so Kleines, Herr Pastor — und alle haben sie zu fressen — Frau Pastorin und die Kinder — — —.« Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte, als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse nachahmen.
Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus[S. 39] sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht, voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was sein Herz füllte.
Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung, Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.«
Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie dann ihre Herrschaften eintreten.
»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen Sie nur die Hände — wie eine Haselnuß — Frau Pastorin, die Füße — da — da — da — akkurat wie ein Frosch — und hier die Haare, oh, lang wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater, das bin ich[S. 40] nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht, Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.«
»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine inzwischen dem Seelsorger zu.
Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb — er war sogar des Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin.
Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen.
»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich, indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich gaud?«
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»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen könnte.«
»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,« sagte sie harmlos.
Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen —«
»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.«
»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte.
»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di doch nich friegt.«
»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?«
»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt[S. 42] heww? du süst mi nich up de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du all orig 'n Knick weg.«
»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir ernähren lassen? Das soll ich, Stine? — Soll ich das, Stine?« Er fuhr einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte ihn nur wütender.
»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte ich mit ihm um die Wette lutschen? — Was soll ich, Stine? Mich vor meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! — Zu Hause bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?«
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Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen.
»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« — die große Frau schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer, stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater, sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück.
Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich[S. 44] nicht, aber er wurde blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel. Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen — nein, er sagte bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren. Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer, und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände. Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor[S. 45] nur beim Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen.
So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor »Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes »Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen.
Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine lacht, dann aber fällt der Bau auseinander.
[S. 46]
Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich getan.
Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen. Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter abgewiesen. Nun denn — um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not. Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der durch zwei[S. 47] Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde. Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein Griff — und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke.
Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern. Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu[S. 48] erschnappen sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag ich das Pech damit dauernd los geworden sein.«
Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde, denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine Barrikade[S. 49] oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang.
Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu. In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den Rückzug.[S. 50] »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade. Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas näher — und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist, gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte, sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl, sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn,[S. 51] und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit — der Kürassier war ein baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen — sollte er ihn niederschießen? Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle — doch nein, so von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte, Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt, Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall.
Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm doch erobert, ein Blick, oh,[S. 52] sie hatten eine wunderbare Größe! Und die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert! Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang auf seinen Socken, als wollte er sagen: »Ätsch, ich bin doch noch davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen wollte, und der Deutsche winkte ihm, er[S. 53] sollte nur kommen. Der Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte, daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe. Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf — nun — Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar,[S. 54] daß er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten. Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber, der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh, Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr, duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder Haut, hob ihn[S. 55] mit seiner Bärenkraft, und hup — da machte er ihm einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen auffallend schnell auf die Beine brachte.
»Ah, grand respect! — Une main vigoureuse! Dans le monde entier on ne trouve pas son pareil«[1], sagte er würdevoll grüßend, nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete: »Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch. Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie Cognac klang und sicher so wie boire. Wilhelm Pickhingst[S. 56] spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig; Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte, daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig;[S. 57] verlegen sah er auf die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup, da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an! »Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur! Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?«[2] und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »Eh bien, allons, camerade, vous êtes mon prisonnier.«[3] Der Franzose zog die Schuhe wieder an, und so wanderten[S. 58] beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt — gleich darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen, umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um sich.
St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts sein Bataillon auftauchen. — »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is, kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« — Abermals ein Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile[S. 59] fort, alle wollten Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße, sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen, und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte sein werden.
Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die Freiheit.
Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft, offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete, nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand, aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es[S. 60] an dem einen Wagen laut. Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres ertönte hinter ihm — es kümmerte ihn nicht — »Halt!« unmittelbar darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage, vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. — Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn der[S. 61] Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die Kürbisflasche — da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft, die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen schmutzigen Fetzen Papier und rief: »Votre nom, votre nom, mon brave camerade!«[4] Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon.
[S. 62]
Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten, auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er phantasierte.
Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden konnte. — In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na, Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?«
Er sah den Mann an und sah um sich — es war am Markte, und viele Menschen standen in der Nähe — am liebsten hätte er ihn durch das Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben.[S. 63] »Du Hans Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.« — Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so nach Hause.
Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er, schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten. Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es und zerdrückte eine Träne in seinem Auge.
Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen). Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß noch etwas von[S. 64] dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun — man frage sich selbst, wie man es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben.
[S. 65]
Ilse Frapan,
Dat Undeert.
[S. 66]
Mit Genehmigung der Verleger Gebrüder Paetel in
Berlin aus Ilse Frapan »Zu Wasser und zu Lande.«
Geb. M. 5.50.
[S. 67]
»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit! Un nu mal op engelsch: hep! hep! hep! hurrah!«
»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten fröhlichen Haufen.
Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch: ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken, Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei, hurra!«
Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den Blankeneser Strand, und[S. 68] unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen, festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg.
»Und noch einmal! Und noch einmal!«
Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann, mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet, das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke, allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen, wat?«
»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die Kleinen können das je sonst nich.«
[S. 69]
»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.«
»Nee! da war sie je man fünfviertel!«
»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, — sünst sünd ji an' Enn' hesch[5], wenn't an't Klappen kummt! Wanneer[6] schall Vadder denn opkamen?«
»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide[7].«
»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe[8] in den dicken rotmarmorierten Ärmchen.
»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.«
»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff nach dem Arm der Kleinen.
»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei —«
»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge[S. 70] habt ihr 'n büschen zu früh aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!«
All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich palmengleich elastisch hin und her bog.
»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst mitgebracht.«
Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen, wir haben alle neue Stiefel an.«
»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester.
Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer so'n Unsinn, — nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund von Feuerland, wo die Lehmänner[9] wohnen!«
»Mama steckt reine Gardinen auf.«
»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.«
»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein Schiff, lütt Jung?«
»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige[S. 71] Chor, sogar Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas undeutlich herauskam.
Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand!«
»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt[10], sei doch 'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.«
Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen, daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?«
»Tante Manga, kommst du zu uns?«
»Nein, ich will den Schirm tragen.«
»Und ich trag' die Tasche, nich?«
»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!«
»Papa und Onkel Hartig!«
»Heute Nachmittag oder morgen früh!«
»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.«
»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich 'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander.
[S. 72]
Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das ganz rot übergossen aussah.
»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus, während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam der Gartentreppe zuschob.
Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den Garten.
»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte hinunter.
»Ach Gott nein, wieso denn?«
Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage heraus kommen, aber jetzt — und nun haben Sie gedacht — o wie dumm von mir.«
Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der Dampfergesellschaft seh',[S. 73] krieg' ich's immer mit der Angst, und weil Ihr Vater doch nu der Inspektor is — das geht uns Seemannsfrauen allen so, 'n büschen bange is man doch immer.«
Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der Schwelle wollte sie nicht weiter.
»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt — sehn Sie, Frau Tönnies, darum wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher.
»Ja, mein Mann kommt heute.«
»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.«
»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona, nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die Leiter bestieg.
»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt — na überhaupt, so neun, das is 'ne kleine Horde!«
[S. 74]
Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören das gewesen? Ich mein' die Tappsen[11] da bei der Tür und beim Sofa; können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu alles rein —«
»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen auf.
Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch gehn und Stuben fäulen[12]!«
»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen[13] und Fäuel[14] zurück.
Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt beendete.
»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten — bloß, weil mein Mann kommt —«
»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf.
»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen[S. 75] is immer schön, wenn man das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.«
Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll das junge Mädchen, »ich hol' sie!«
»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her.
Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen[15] klärte, war nicht sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam. »Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder schall ick Gören möten[16]?« fragte sie mürrisch.
»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!«
[S. 76]
»Was sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als Kathrin Gewalt anwendete.
»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her, wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus Antwerpen gekriegt?«
Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, — es wäre rücksichtslos — wo Sie sich so lange nicht gesehen haben —«
»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder.
[S. 77]
Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn 'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa sein Schoß?«
Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben riefen einfach: »Ich!«
Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!«
Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!«
Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das — noch andere!«
»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!«
Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen. Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn sitzen?«
Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.«
Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es: »Mit mein' Onkel Hartig kann[S. 78] man überhaupt viel besser spielen, mit dem kann man 'n büschen albern!«
»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des Kindes niedersah, aber keine Antwort gab.
»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.«
»Ich weiß wohl — und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht gewußt — wenn ich ihn 'mal gesehen habe — er kam ja öfter zu Papa, denn hat er immer so ernst ausgesehen —«
»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa, das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein Bruder nu komisch — sich annögeln[17] oder gute Worte geben, das kann er nich, das kann ich auch nich.«
»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung.
»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen haben[18], wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt immer gleich: meinst', ich will einem da um zu[S. 79] Füßen fallen? ich werd' noch früh genug Kap'tän, — besorg' du mir man 'n kleine nette Frau, denn da kann ich mich nich mit abgeben.«
Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog.
»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als Schiffsjunge gedient hat.«
»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell, — »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.«
»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem.
Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen; freilich — gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit kommt erst, wenn Papa da ist!
Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem frugalen Mittagbrot einzuladen, aber[S. 80] gerade, als Fräulein Dehn den Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens — die Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge — sie konnte sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben, und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen. Sonderbar!
»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon 'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr[19] je nu all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch 'n orrendlichen Klacks[20],« riefen die anderen. Klatsch, klatsch, klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine leer war.
»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga[S. 81] Dehn, der es bei der Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse, daß ich so lange geblieben bin.«
»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.«
Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen Filethandschuhe wieder in die Tasche.
»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?«
Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne.
»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria nich hier sein, — das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht, neun werden.«
»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz ab.«
»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, — ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können Sie sich das denken?«
[S. 82]
Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen Schein; sie nickte eifrig.
»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu hiddelig[21], was soll ich denn im Bett tun.«
»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich, als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie wieder prüfend an.
»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.«
Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen Sie?« — »Bitte, Frau Tönnies, kann ich nich heute aufwaschen?« bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom Klären wegzugehn.«
Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na, freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten kann.«
»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht; Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze[S. 83] Woche kein Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.«
»Na, Sie werden doch nicht weinen?«
Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind, der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an.
»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer sich drehn[22], sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee machen.«
Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe. Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, — ist da woll am Ende 'n Passagier mit, der — —.«
Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst da wäre, nicht?«
Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune Krebsschale vor das Fräulein hin.
[S. 84]
»Kiek, du, das 'n Tasch[23], die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst du ihm, Tante Manga?«
»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der Kleine aufmerksam betrachtete.
»Aber du hest Geld in de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus, »das' noch besser.«
»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!«
Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich, und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.«
Frau Tönnies wurde blutrot.
»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?«
»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut, hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte, faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, — lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.«
Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse auf und stellte sich in die Ecke.
[S. 85]
»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück.
»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig soweit, aber — wenn man kein Wort sprechen kann — ohne daß die Gören —«
»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga, und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt. Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.«
»Komm, Hinrich, sei artig! Du — wenn du es doch so gut gehört hast — was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich heran.
»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst.
Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten[S. 86] Lächeln an; plötzlich nahm sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die glatte Stirn zwischen den Augen.
»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr böse.«
Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?« brummte er, sich über die Stirn wischend.
»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus an 'n Strand, wir kommen alle nach.«
Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen. Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn die Tassen ineinander stellte.
»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon; haben Sie nicht eine Arbeit für mich?«
»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die muß ich befestigen.«
Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die[S. 87] Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub, Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, — alles duftete durcheinander, so stark es konnte.
»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das heraus war.
»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen, wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken — — und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch! Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, — drinnen auf 'n Vorplatz, denn 'rauskommen darf ich nich, nee — das mag er nich, — denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n Ruff[24] wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹«
[S. 88]
Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre kleine feste Hand zitterte.
»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut.
»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen, aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen könntest, das wär' 'mal nett.«
»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab.
Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn.
»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, — ich glaube, es is bloß, weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib' ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu Füßen gefallen.‹«
Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig aus.
»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause[S. 89] gehn. Ich glaube, die Ewer drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe aus der Tasche.
Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, — ach, bleiben Sie man, bis das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!«
Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit Recht: Kirschenland.«
Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen.
»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!«
»Und tüchtig wedeln!«
[S. 90]
»Ob Papa woll'n blue-light abbrennt, wenn er vorbei kommt?«
»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.«
»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn geht es nich, denn wird sie zu voll!«
»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper.
»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die ›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug, die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!«
Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen weiter ins Fahrwasser hinaus.
»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies lächelte wohlgefällig.
»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.«
Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück.
»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt![S. 91] Unser Stack[25] liegt schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper, hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, — Schlick, der weiter drunten im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer, als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag hin und her.
»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem[S. 92] Wasser zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher, durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach.
Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt, so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, — der Himmel war klar geworden.
»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter, das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell! Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich geworden.
Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter? Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat! Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch einmal — — und[S. 93] noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn, wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck! Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra! hurra! hurra!«
Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten, hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende Kind.
Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie[S. 94] Silber glänzten, nun verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile im Osten, wie es vorher im Westen gestanden.
»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink, Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen aufsetzen — in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.« Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um. »Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?«
Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd an.
»Frau Tönnies, ich bin auch so — so recht glücklich. Sie haben solchen guten Mann, Frau Tönnies.«
»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte[S. 95] Zentral«[26]. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge — haben Sie meinen Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.«
»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und wenn Sie allein sind« — Manga blickte blinzelnd zu Boden — »denn komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein, nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir 'n andermal holen.«
Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte.
[S. 96]
»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!«
Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet — der Fisch war butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die »kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen, braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar[S. 97] etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt, die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein, daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht, daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte, um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«.
»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›Smartness‹ hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«, wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre Verwandten zu besuchen.
»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck[S. 98] warst und immer so patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, — Junge, sag' ich zu mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder lachen wie die richtigen Grienaapen[27], — du, solche hätt' ich nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und Schlarren[28] auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! — Bloß 'n büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im Kartenzimmer —«
»Wie du die Sonne genommen hattest[29],« fiel Frau Tönnies glücklich ein.
»Ja, daß du da immer 'reinkamst — wo du nichts verloren hattest, und denn gleich weggeguckt,[S. 99] wenn ich die Tür aufmachte — schwubb den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch gesehen.«
Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue Anmusterungen zu besorgen, — endlich mußte das Schiff ins Dock gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war.
»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen, der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du, Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum: »All right, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?«
»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?«
[S. 100]
Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit. Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein, ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm; ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte[S. 101] sie mit großer Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«.
Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes M. D. glänzte.
»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag in dem Ausruf.
Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab. »Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört Fräulein Dehn zu.«
Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen.
»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu kommen.
»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf[S. 102] der vierten Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte.
»Na, Stine, min Deern?«
»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie ihn am Ende — du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.«
Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat geiht mi dat an?«
»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?«
Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen, Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen.
»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel', und du gibst ihn bloß ab?«
Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!«
Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf den Zehenspitzen auf und ab.
[S. 103]
Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein und strich an ihrem seidenen Kleide herum.
»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.«
Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein[30], Stine?«
»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.«
»Er hat ja drei Stück, Deern.«
»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen dumpfen fernen Klang bekam.
Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor sich hin.
»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in ein heftiges gezwungenes Lachen aus.
»Wat du klok[31] büst.«
»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen Hals gelegt hätte, — aber sich mit seinem Bruder handgemein machen, das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar[S. 104] Schritte treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na, heb' den Schirm man gut auf — wenn die Gören bei den Schrank gehn —«
Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.«
Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich sicher steht — —«
»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu zerbrechlich aussah, — das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote Wolke zog über seine ungebräunte Stirn.
»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje nüdliche Dings ganz entzwei?«
Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt' ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene sah, der den Kopf hängen[S. 105] ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren, richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm, mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor.
Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das verhängnisvolle Paket in seine Kammer.
»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'? Sie hat mich da all immer um gebeten.«
Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger, da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche Deern, das bringt Glück an Bord.«
Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden täte, Tönnies?«
Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal, Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.«
»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung. Sie wollte es durchaus[S. 106] nicht zugeben. »Er hat da woll man seine Putzen[32] mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.«
Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.«
»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte unruhig näher.
»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen Dwarsdriever[33], de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die Gatten lachten um die Wette.
»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst, denn such' dir man 'n ander Paar aus — din Broder hett all sin Bekummst[34],« meinte Tönnies.
»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat'[S. 107] er nich,« sagte Stine zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.«
»Denn ward he woll sitten blieben, — he hett dulle Küren[35].« Mit einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. — —
Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd entgegenschrien.
»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei Dinger fahren wir heute, Tante Manga!«
»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge.
»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper mit bedächtigem Händefalten.
»Jasper Dickwust[36]!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um den drolligen Kleinen herum.
[S. 108]
Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen. Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war frei.
»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung fehlte, Stine war nicht impulsiv.
»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule, und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll lachen.«
Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.«
Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid.
[S. 109]
»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott[37]!«
Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe Begegnung in Aussicht, und dazu — einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, — »und nun noch den Sonnenschirm!«
Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,« platzte sie heraus, »weil —«
Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten! Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu bekommen.
»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte.
Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten Kindern, die fünf anderen im[S. 110] Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut zogen.
»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«, flüsterte Anna.
»Rohmtorten[38]«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper, Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.«
Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin — auf der Straße und vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich, daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach Hause.«
Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten; sie saßen schon auf[S. 111] den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies' glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge, das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß.
»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß[39], die möcht' ich woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein voran — Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin; oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir müssen wohl 'n bißchen warten.«
[S. 112]
»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.«
»Die kleinen Kinder —« begann das Fräulein und sah sich abermals um.
»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, go ahead, go ahead!« Er machte eine seiner kurzen energischen Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen, dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen, die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf[S. 113] den eisernen Schlagbetten, — en anständiger Kasten, was?«
Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit Herausforderung fester unter den seinen schob.
Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte, — sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der Augenblick weh tue.
»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst, guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen sie.«
Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die muschelartigen feingerippten Zapfen, die den[S. 114] Kupferboden des Schiffes bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern.
»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.«
Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut.
»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die Löckchen um ihre Stirn bebten.
»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?«
»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje, Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre. Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und[S. 115] freudewinselnd der kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika mitgebracht hatten.
»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.«
»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm, »nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward kann ihn auf'n Teller legen.«
Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n Zwickel[40]?« sagte er halblaut zu ihm.
Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete.
Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte, was sind denn das für Gewächse, Herr — Herr Holert?«
Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht[S. 116] erhellte sich. »Sweet potatoes[41], Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über die Schulter weg.
Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie aus diesen Knollen?«
Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus, und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in die Augen, prüfend, vorsichtig.
Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken. »Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts weismachen, he lüggt[42].«
Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen. Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat.
»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.«
Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich. »Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag', Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und[S. 117] die Zunge im Mund hält, — denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.«
Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen, ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je.
Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«, damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. —
»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen, ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft.
»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah das[S. 118] Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz mit Photographien bepflastert.
»So sahst du damals aus, Stine.«
»So sah ich damals aus.«
»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider allein machen mußte.«
»Und da bist du als Bräutigam.«
Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der Kinder mit sich, die hineingewollt hatten.
»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.«
Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und ab, und Stine verglich es mit der Photographie.
Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten, — zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste,[S. 119] stolperte Anna herein und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer hinter sich, — den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf, und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, — ich weiß aber woll warum!« setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu.
Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut[43].«
»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch! Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran gearbeitet wurde.
»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind entgegen, »soll ich es 'mal sagen?«
»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund zugehalten ward. »Weil du all den Rohm[44] in deine Tasse gegossen hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«, rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen.[S. 120] Aber nun setzte es einen Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, — — weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten.
»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den Unsinn ein.
»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte.
»O, Herr Holert —« sie legte die Hände zusammen.
»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach — aber das kennen Sie ja alles! Na, schad't nix — sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt, fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen Mund aufmachen.«
[S. 121]
»O darum —« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und verwirrend.
»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn —«
»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an, der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch, jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von —«
»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend.
Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut, tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.«
»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen.
»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester.
»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem Taschenbuch!« reizte der Kapitän.
[S. 122]
Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er versuchte zu lachen.
»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein.
»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach dem Werftplatz, als gehe sie nicht im geringsten an, was hier gesprochen wurde.
»Dat muchst du woll, — ward aber nix ut!«
»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen wendete sich halb gegen sie.
»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt Papa früher als ich zu Tisch.«
»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll —« begann Stine niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum Aufbruch.
Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-, zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich[S. 123] den Hut auf den Kopf und stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen brannten zwei hochrote Flecken.
»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen, sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt,[S. 124] aber da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte« — hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit einen vertieften Reiz verlieh.
Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen —
»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig geblieben?«[S. 125] Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein, bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans Schlüsselloch, dann auch das Auge.
»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie, glücklich über ihre Schlauheit.
»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er in Lebensgefahr gewesen, — mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos.
[S. 126]
»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot, sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren, aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, — dann ging die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der Kapitän wurde »quirrig[45]« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, — warum konnte er nicht dort wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht, weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die Gärten beinahe aneinander stießen? Es war[S. 127] nur gut, daß Stine so wenig Zeit zum Grübeln hatte, — die bevorstehende Abreise hielt sie in Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich — zumal, da die Tropen täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem aus der Waschbalje[46] der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht zu sehen, — der Kisten, denn der guten Schwester erschien es selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder, wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb scherzenden Anschuldigungen[S. 128] seines Schwagers sogleich reinigen können, aber — und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung — wenn man einem Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit. Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war — Fräulein Dehn — und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres Mannes von der Zeugleine nahm — stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und freundlich an.
»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!«
Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu helfen.
»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?«
Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte. »Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.«
Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das[S. 129] der Beutel für die Kneifen[47], Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.«
Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig befühlte.
»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester. Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch so'n Ärger —«
Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt hatte.
»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?«
[S. 130]
»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut — ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.«
»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?«
»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu — nich mit Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was 'reinkommen soll, und sprechen tut er nich soviel.« Die Frau tat einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die Augen.
»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit sanftem Vorwurf.
Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder mit getan.«
»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu ihr auf: »Gestern abend — in vier Tagen wollen sie[S. 131] weg — kommt mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹«
»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein. Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert.
»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich zu plätten —«
»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen —« sie errötete und spielte mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.«
»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen sehen, daß ich es ganz gut machen werde.[S. 132] Wenn ich will, kann ich den ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes Kleid und eine große Schürze — ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch' ich den Rock«, sagte sie endlich.
Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.«
Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, — Gott, es hätt' ja doch angehen können — und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.«
Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche Vorrichtung die dicken[S. 133] Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte sie.
Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir, Ihr Bruder soll es nicht wissen! — Ist er schon öffentlich verlobt, Frau Tönnies?«
»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n großen Slöpendriwer[48].«
Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor.
»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm 'raus.«
»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau.
»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?«
Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es[S. 134] war am Ende gar kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende, langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm, und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen.
Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief. Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß. Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom, der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen. Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen, und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra schreien, — aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen. Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von der glitzernden Fläche, die[S. 135] so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer.
Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, — das waren keine Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die Ritze. Ach so, der Briefträger war's, — sie hörte ihn ans Fenster der Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend.
»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen! Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.«
»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar Stunden hier an den Ärmeln zu tun.«
»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk' ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus sagen[S. 136] soll, — ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders, wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.«
Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie die gute Frau noch gar nicht gesehen.
»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm.
»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, — es is ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren[49], und der Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.«
Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach dem Abendbrot, — ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen nach der Arbeit«, lachte sie.
»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau Tönnies davon, um sich anzukleiden.
Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu sich hereingucken.
»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen[S. 137] Sommer hab' ich dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich man nich die Zeit lang werden, — mein Bruder is das gar nich wert, daß —«
»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin wieder allein.
Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen. Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling: die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte dabei. — —
»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und stand auf[S. 138] den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen Kopf da drinnen gezeigt.
Das Mädchen stand sprachlos, — das blaue Tuchgebäude war ihren Händen entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen betroffen worden.
»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit belegter Stimme.
Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«, stotterte sie.
»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die hervorbrach.
»Stine ist aus.«
»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!«
»Sie müssen das Un-, — den Südwester ja doch haben —«
»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot und bestürzt, »Sie sind bei meinem Rock zu Gange?«
Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte[S. 139] zu Boden, und der Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht, daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin.
»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte Antwort.
»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der Waschbalje, hinter der sie stand.
»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!«
»Ach, Sie waren bei uns?«
»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal — allmählich 'mal — Ihren Sonnenschirm wiederbringen — sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe gewesen,« — er errötete wie ein Knabe — »ich mocht' immer nich 'reinkommen.«
»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht.
Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge.
»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,« platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn müssen Sie das nich für[S. 140] ungut nehmen, denn kann das leicht geändert werden, — das is all zum Abschrauben.«
»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und stürmte mit einem Seufzer davon.
Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, — richtig, da war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes M und H? Überrascht wiederholte sie laut: »M. H.? M. H.?«
Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin — die andere Krücke.
»Hier ist das andere — wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte Stimme. Sie nahm es — aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen M. H. zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit stürmisch festzuhalten. Das Mädchen[S. 141] richtete sich zuerst auf. »Nun muß ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest.
»Das Beste weißt du noch nich.«
»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn.
»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger Zeit.«
»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt.
»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja nicht wissen — das kann ja sein — vielleicht hab' ich Glück, daß sie mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm die Augen naß wurden, ermannte sie sich.
»Ich muß wohl ins Haus jetzt —« sie blickte an sich nieder — »ich will mich schnell umziehen.«
»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.«
Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.« Neben[S. 142] einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten. Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach, aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.«
Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend. Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks, das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende, verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und staunte hinunter und drückte sich fester die Hände.
[S. 143]
»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend, nachdenklich — »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« — — — —
Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt, die Kinder bejubelten die neue Tante — nur Kapitän Tönnies zeigte sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.«
Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte: »Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.«
Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein war.
»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte sie befangen.
»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine Weile ging er mit großen[S. 144] Schritten hin und her und ließ sie weinen. Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse, ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum zurück.
»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was Unrechtes is es nich.«
Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht, wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt. Es könnte sie nur glücklich machen, wenn sie's sähe, dies freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen — aber der Kapitän zeigt's nicht — er ist eben noch nie jemandem, auch seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen.
[S. 145]
Balduin Groller,
Die Tante und der Onkel.
Eine Entlarvung.
[S. 147]
»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen, und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas. Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet um einige beruhigende Zeilen
Dein alter treuer
Fridolin.«
Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, Dr. Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von Gerolstein seine guten[S. 148] Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren, sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte.
Dr. Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort hin, um es zu beantworten — Zeit hatte er ja. Er schrieb:
»Mein lieber Junge!
Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei, vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast. Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs Beobachtungszimmer. — Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und hoffe noch auf eine gute Besserung.
[S. 149]
Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also nicht ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm! Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben. Solamen miseris socios habuisse malorum. Ich weiß, man kann statt miseris auch miserum sagen; Du siehst also, ich bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich ›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner Verhältnisse ist er gerade großartig genug.
Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ — das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit zu Zeit ein paar Ärzte Hungers stürben, so käme die Statistik gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit stelle.
Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre, wegzusterben[S. 150] wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine Vorbedingungen — dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit — nun, wir wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! — aber Glück hast Du entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen.
Quae cum ita sint — komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein würdiger Freund, und es fehlt[S. 151] mir nicht an Argumenten, eine große Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst, und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten soll.
Ad vocem Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger, Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen Gefechtes von der[S. 152] Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen.
Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie!
Dein schiefgewickelter Freund
Arnold.«
Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte:
»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet.
Dein F.«
Die umgehende Antwort lautete:
»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse Menschen, die von ihren Rechten[S. 153] einen unbescheidenen Gebrauch zu machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser einen großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür wäre ich sonst
Dein Freund A.«
Darauf kam noch eine Erwiderung:
»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist?
Auf Wiedersehen!
Dein F.«
Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen:
»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir wohl mündlich auseinandersetzen.
Ich drücke dich an meinen Busen!
Dein A.«
[S. 154]
Cherchez la femme! hatte sich Arnold gedacht, als er, nach den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen:
Dr. Friedrich Bruckner — von seinen Freunden immer nur Fridolin genannt — hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen großen Nichtstun bestehen. Fridolin — wir zählen zu seinen Freunden und haben das Recht, ihn so zu nennen, — Fridolin hatte sich für eine Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen.
Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht, das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur schon ein bißchen lange her.
Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf auszuschreiten, hatte er nicht;[S. 155] denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck, von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße, die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu erblicken.
Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken. Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr gegen sich.
Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes: in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im nächsten[S. 156] Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte. Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief:
»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf die Bäuche!«
Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn.
»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um — schützen Sie — ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank ins Gras; sie war ohnmächtig.
Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht.
»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug. »Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen[S. 157] Kognak aus meiner Feldflasche. So ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.«
»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge Dame mit matter Stimme.
»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können — ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon abgerissen.«
»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war nur so fürchterlich erschrocken.«
»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich denn für einen Mörder gehalten?«
»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken bin, sondern was vorhergegangen ist — es war entsetzlich!«
»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin endlich auch ich da, — mein Name ist Dr. Friedrich Bruckner — und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen. Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie zu sterben, vollkommen überflüssig[S. 158] sind. Denn ich sehe — leider! — keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.«
»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten — ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus meiner Tante geworden?«
»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine Blicke nach allen Richtungen hin schweifen.
»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.«
Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das.
»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er. »Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und vielleicht auch noch[S. 159] morgen quälen werden, während die Sache ganz bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt genügend ausruhen.«
»Aber meine Tante —.«
»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen, daß Sie sich krank machen.«
»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!«
»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.
»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle, sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?«
»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.«
»Das sehe ich. Ihr Aussehen — alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum Glück ist man nicht nur Arzt — homo sum!«
[S. 160]
»So heißt ein Roman von Ebers.«
»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein Roman hier ist mir lieber!«
»Wenn nur die Tante —«
»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.«
»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben. Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar —«
»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.«
»Richtig; und ein Fenster hat sie auch —«
»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.«
»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!«
»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt.
»Die war so — ach Gott, wenn nur die Tante —!«
»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!«
»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie[S. 161] ßen wollte, da trugen die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit, sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.«
»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?«
»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.«
»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?«
»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, — ach, du meine Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!«
»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! — Was geschah da?«
»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen, denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an[S. 162] uns vorüberziehen zu lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr. Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen konnte, — wie weit und wie lang, das weiß ich nicht — und ich kam erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.«
»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die Patientinnen in den Schoß fallen.«
»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir jetzt die Tante suchen.«
»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und — jetzt wollen wir die Tante suchen!«
Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven Regun[S. 163] gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war, drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes, liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt hatte.
Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu.
Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe schwanken[S. 164] können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es.
Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also kombinieren.
Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen, daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden wird.
Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ, so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal separat aufgerechnete Echo, das seine[S. 165] zärtlichen Rufe »Tante, teuerste Tante!« beantwortete.
Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte sein können, aber — der Genius der Menschheit wird ersucht, hier sein Antlitz zu verhüllen, — Fridolin erklärte dagegen auf das bestimmteste, daß zur Rechten etwas durch die Zweige geschimmert habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe. Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante.
So sind die Männer! Und so ist die Welt!
Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein[S. 166] geholt werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen begegnete — es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin, alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war —, zu fragen, ob sie keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu wollen.
So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut beraten, was nun weiter zu geschehen habe.
»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich habe nicht einen Pfennig bei mir!«
»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie werden mir zusehen!«
Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden[S. 167] Sie mir aber doch auch geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!«
»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.«
»Die Tante wird Ihnen dann schon alles —«
»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!«
Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken, mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe.
»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?«
»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die p. t. Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.«
[S. 168]
»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie schneiden herunter!«
Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der Nacht nichts geschieht.«
»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«, meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont aufsteigenden Mond deutend.
»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe. Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.«
Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs Herz.
»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich weiß nicht, was mit mir geschehen soll.«
»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Ich möchte sagen, ich weiß es. Um diese Zeit werden Tanten nicht mehr gefunden.«
[S. 169]
»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt.
»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?«
»Das ist ja nur um so schlimmer!«
»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich höflichst zu empfehlen!«
»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!«
»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!«
»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein —«
»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!«
»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen.
»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?«
»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum[S. 170] verbeugen Sie sich denn? Da ist doch nichts so Großes dabei!«
»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag zurück in die Pension?«
»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist zugesperrt.«
»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie abholte?«
»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.«
»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz; zurück nach Gerolstein?«
»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.«
»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache ist nicht so einfach!«
Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe ich sofort auf und davon![S. 171] Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?«
»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.«
»Sie wissen nicht, wo?«
»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt, und ich hatte nach nichts gefragt.«
»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?«
»Jawohl!«
»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?«
»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu kümmern; ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.«
Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen sollte.
»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige Vermutung kommen, was sie nun wohl anfangen wird. Was glauben Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?«
»Ängstigen wird sie sich!«
»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung[S. 172] wird nicht ausreichen, uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun. Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind, und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher, als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind. Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹ übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet[S. 173] ist, wird sich dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.«
Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach Dresden brachte.
»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen.
»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin, »für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein. Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.«
»Ich habe keine Eltern mehr.«
»Aber ein Heim haben Sie doch dort?«
»Ja, bei meinem Onkel.«
»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?«
[S. 174]
»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.«
»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie sogar nur noch mich als Beschützer!«
»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor. Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren so lieb zu mir — wie soll ich Ihnen nur danken?«
»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!«
»Sie? Wofür denn?«
»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist eigentlich alles gesagt.«
»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!«
»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute. Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir verbracht zu haben?«
»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur so!«
»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach Gerolstein oder, wenn es[S. 175] gut geht, nach Wien, nach Frankreich, — Gott weiß, wohin noch? — mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie wiedersehen!«
»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen, durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit stiller Freude.
»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst vergessen haben.«
»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt.
»Sie werden!«
»Gewiß nicht!«
»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf Nimmerwiedersehen auseinander sollen?«
»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge Käthe.
»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die Idee[S. 176] blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren, daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde, und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu verkümmern.
»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die letzte Erinnerung an mich verwischt sein!«
»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß nicht!«
[S. 177]
»Oh, ich weiß das besser!«
»Das können Sie nicht besser wissen!«
»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!«
»Jetzt bedauern Sie es auch noch!«
»Habe ich nicht alle Ursache dazu?«
»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue mich an dem, was ist und was wirklich war.«
»Fräulein Käthe?«
»Herr Doktor?«
»Ich möchte Ihnen etwas sagen.«
»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.«
»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?«
»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.«
»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja gleich unter Menschen! — Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so gar nichts angehen.«
»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir —« sagte Käthe nun ängstlich stockend.
[S. 178]
»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte: Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!«
»Nein, das ist noch nicht unritterlich.«
»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?«
»Herr Doktor!«
»Ist es unritterlich?«
»N—ein — ich glaube, — es ist nicht unritterlich.«
»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig — ein ganz klein bißchen — gut sein können?«
»Herr Doktor, — ich bitte Sie —«
»Ist es unritterlich?«
»Ich weiß nicht, ob —«
»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!«
»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!«
Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen Abschiedskuß.
»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste.
»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch. Käthe!«
[S. 179]
»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem ihrigen nahebrachte.
»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!«
Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch unritterlich, sondern einfach natürlich. —
»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?«
»Vielleicht!«
»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen sollen?«
»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen — und mich finden!«
Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen.
So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen[S. 180] herabgesandt. Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch — von wegen der Tante! — nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen die Formel gefunden: Du wirst mich suchen — und mich finden!
Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein. Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte.
Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren, da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine Begegnung mit Käthe bringen.[S. 181] Gerolstein war nicht so groß, daß ein schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen würde.
In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte, sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit, die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen.
Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde Arnold. Das Schreiben lautete:
»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen großartigen Kriminalfall vertieft.[S. 182] Zur vollständigen Vernichtung des Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. — Der Geh. Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten.
Dein wohlaffektionierter F.«
Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den Rechtsanwalt Dr. Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im Bette empfing.
Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich — er hatte solche Schmerzen in der Seite — eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs war eine[S. 183] stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben Tage bei einem Frühschoppen begehen konnten. Solche Bosheiten begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der Zivilisation erfreut.
Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen: den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen »Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben verbitterte.
Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten? »Gerolsteiner Radfahrerklub[S. 184] ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum »Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, — es steckte eine große Bosheit dahinter.
Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht beliebt — das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind bei der Opposition niemals beliebt — und sie setzte ihm zu mit Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt« so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere Numa Pompilius, der zweite König Roms, und so oft Numa Pompilius im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle Maßen wütend. Denn unter Numa Pompilius war immer er gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß eine hohe Behörde[S. 185] ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu niederträchtig.
Numa Pompilius wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen, um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. Egeria war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und man wußte, daß auch der Gerolsteiner Numa Pompilius von einer Gerolsteiner Egeria beraten wurde.
Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe hatte es ihm angetan.
Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht, wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man; das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil eine weise Egeria da war, wurde er Numa Pompilius genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal aufgekommen war, da[S. 186] tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten, glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein nur so gegangen wäre!
Jetzt war die Analogie mit Numa Pompilius und Egeria erst recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier« auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit Numa Pompilius nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer Befriedigung voraussetzten — und da war[S. 187] dann eigentlich nichts mehr zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die »Numidier« nun als eine Art Leibgarde für Numa Pompilius aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem auch noch grob anfuhr.
Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden. Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine[S. 188] Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war ganz in der rechten Stimmung dazu.
So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden. Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald einsah, daß er als Doktor juris hier nicht zu dem gewünschten Resultate gelangen werde.
»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein Medicinae Doktor her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.«
»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende Ministerpräsident.
[S. 189]
»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine Dr. Bruckner?«
Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch und fertigte das Schreiben an Fridolin ab.
Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen.
»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?«
»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz gewaltig!«
»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz — es ist nur natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was aber sagte der Attentäter?«
[S. 190]
»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte genau so wie ich, nur viel gröber.«
»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?«
»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen, auch noch verhöhnt!«
»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen.«
»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er liege auch nicht auf Rosen.«
»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?«
»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht auf die Gasse gehen!«
»Das ist stark!«
»Und dann — sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das eigentlich, ein Pneumatik?«
»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.«
»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich, das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine Laterne[S. 191] an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint, da ich doch keinen Pneumatik habe?«
»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten — ich glaube, der Mensch hatte die Vermessenheit, auf das — das Embonpoint Ew. Exzellenz anzuspielen!«
»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den Bauch hängen soll?«
»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.«
»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!«
»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose Ew. Exzellenz als Corpus delicti produzieren, und Dr. Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.«
In diesem Moment meldete der Lakai, daß Dr. Friedrich Bruckner um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden.
»Ach, lucus in fabula!« sagte der Exzellenzherr, er sagte wirklich »lucus«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend hinzu.
[S. 192]
Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine Wort:
»Hinaus!«
Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert:
»Der Mann mit dem Pneumatik!«
Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort eine junge Dame mit der Frage bestürmte:
»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?«
Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse — es war Käthe.
»Käthe! Du — Sie — gnädiges Fräulein — hier?«
»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen.
»Und der da drin ist dein — Ihr — unser Onkel?«
»Natürlich!«
»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!«
»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.«
[S. 193]
»Und die Tante?«
»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort.
»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!«
Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation ein vorzeitiges Ende.
»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte. »So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum Velozipedfahren?«
»Ich bitte dich — in Gerolstein!«
»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!«
»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.«
»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!«
»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze der lieben Straßenjugend[S. 194] von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen ausgesucht.«
»Was gedenkst du nun zu tun?«
»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!«
»Mensch, bist du verrückt?!«
»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu werfen.«
»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer Radfahrer!«
»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse, und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig[S. 195] tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat. Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.«
Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf zusammen.
»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!«
»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen ›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen gefallen!«
»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.«
»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹ begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.«
»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß auf den Hals!«
»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.«
»Fridolin, man wird dich einsperren!«
»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt! Übrigens — die beste Art der Verteidigung ist — anzugreifen. Ich werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann —«
[S. 196]
»Und dann?«
»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!«
»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum — Gerolstein?!«
»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.«
»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!«
»Eins schließt doch das andere nicht aus!«
»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!«
»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel nicht einen Schafskopf heißen!«
»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade, daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen Sensationsprozeß daraus gemacht!«
»Das kannst du ja noch, — nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden, du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu einer imposanten[S. 197] Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht schaden.«
»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!«
»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen aufgelesen hast!«
»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu prozessieren als für ihn.«
»Ich könnte« — fuhr der Rechtsanwalt fort — »nun ganz gut das mir von ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt werde und sich in Wohlgefallen auflöse.«
»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.«
»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig entschuldigen.« —
So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn gedacht hatte. Herr Besenbeck, der[S. 198] gebietende Staatsmann, wollte von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn kennen lernen.
Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh, meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich selbst.
Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt.
Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold[S. 199] doch für rätlich, die Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben.
»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei.
»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen gibt es keine Einwendungen.«
»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse —«
»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse stattgefunden hat?«
»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.«
»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon? Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die Schleiermachergasse nicht genannt werden.«
[S. 200]
»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung in der Schleiermachergasse —«
»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand und an meine Instruktion zu halten.«
»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.«
Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria, — die schöne Baronin Waltersheim[S. 201] wohnte in der Schleiermachergasse! Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin nicht mehr schlimm werden.
»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen, und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß — die Opposition zerschmettert haben!«
Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war.
»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele. Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern[S. 202] und das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der Lohn für unsere Mühe sein!«
Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh tun wollte.
Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der »Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte.
Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau. Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder »regieren« gehen müsse.
[S. 203]
»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze! Unsere Sache steht ausgezeichnet!«
Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das Schriftstück vorzulesen, und Arnold las:
»Gerolsteiner Radfahrerklub
›Die Numidier‹.
An Se. Hochwohlgeboren Herrn Dr. Arnold Winter,
Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias
Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums
Gerolstein
in Gerolstein.
Hochgeehrter Herr!
Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten, ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem[S. 204] Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.«
»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las weiter:
»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied preisgeben, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig ist, dem Strafverfahren anschließen!«
»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!«
»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las:
»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses, daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn ein Radfahrer schuldig ist, es doch nicht alle sind; wir wollen zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame[S. 205] Sache machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission in die Schleiermachergasse entsendet werden, damit sie den Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12 in der Schleiermachergasse.«
»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. — In dem Hause Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. — Der junge Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter:
»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden, des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern,[S. 206] sich der Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln. —«
»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12 veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem Ingrimm. — Arnold las weiter:
»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf, Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich in die Schleiermachergasse! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.«
Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft.
»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt, kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel führen: ›Die Katastrophe in der Schleiermachergasse‹ — denn eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es[S. 207] soll ihnen gesagt werden, daß jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe, nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des Staates erwägend — und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen, den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht einschlafen zu lassen.
Mit sportlichem All Heil!
Dr. A. Wohlrab, Präsident.
Dr. Fr. Bruckner, dzt. Schriftführer.«
»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der Schriftführer heißt Dr. Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe, der —«
[S. 208]
»Es scheint.«
»Das ist stark!«
»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst den Stab über sich bricht.«
Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein.
Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr leutselig:
»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen nachzugehen.«
Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte »abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, — die Sache sei es ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei;[S. 209] er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich daran doch gar nicht erinnern!
Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident, die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität. Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets eine nachdrückliche Förderung erfahren solle.
»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die Leidenschaften zu entfesseln.«
Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen müsse.
[S. 210]
Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr. Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die »Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls, nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft zu bringen.
»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt.
»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!«
»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.«
»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.«
»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.«
»Damit will er sich nicht mehr begnügen.«
»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?«
»Das würde er für ungesetzlich halten.«
»Ja, was in aller Welt will er sonst?«
»Er will seinen Prozeß.«
»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug und berittenen Bannerträgern vielleicht?!«
»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.«
[S. 211]
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis, hören Sie — um jeden Preis?!«
»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich wage nicht —«
»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!«
»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur von einem Familienmitgliede gefallen lassen.«
»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und mir herzaubern!«
»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies doch möglich wäre.«
»Das ist ja ein kompletter Narr!«
»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt — sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. — Dr. Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von ihr wiedergeliebt.«
Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann wieder von sich wie ein Blasebalg.[S. 212] Die mächtige Präsidentenglocke wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet, daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe. Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl.
»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?«
»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«, erwiderte Käthe.
»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!«
»Den würde ich allerdings nicht nehmen!«
»Nicht?! Warum nicht?«
»Weil ich keinen Prinzen will.«
»So — das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun aber kein Prinz wäre — aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe, — wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, — kennst du einen Herrn Dr. Friedrich Bruckner?«
Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja!
»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?«
»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die Staatsräson da verlangen sollte —«
[S. 213]
Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an die Brust.
»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie ihn küßte.
Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte:
»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde werden würden!«
[S. 214]
Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren, um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter — seine einzige Tochter — hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind, im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde.
Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte Carlo auftauchen.[S. 215] Er machte sich also schleunig auf und kam und sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den »Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt der Hinauswurf erfolgen.
Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen, mit wunder[S. 216] hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken. Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen.
»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.«
»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe.
»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften lassen kann.«
»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!«
Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen Zündhölzchenbehälter mit Feuer.
»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.«
[S. 217]
»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht. Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!«
»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.«
»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind, beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat manchmal so seine kleinen Launen!«
»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von Ihrem hohen Roß herabzusteigen.«
»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.«
»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg in Mähren.«
»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in Abrede zu stellen.«
»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben, achtundzwanzig.«
»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir die achtundzwanzig geglaubt hat.«
»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!«
»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf[S. 218] Jahre habe ich aus meinem Leben gestrichen, — bleiben genau achtundzwanzig. Ich war berechtigt dazu. Denn — sagen Sie selbst, Herr Rodebach — so ein Leben in den Gefängnissen — ist denn das wirklich ein Leben?!«
»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem Zimmer zu jagen!«
»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang, und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie also durchaus wollen — bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, — und Nervenschocks sind nicht billig!«
»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der Verstand stehen!«
»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich gewählt haben. Ich fühle mich — Sie wissen sehr wohl, aus welchen zarten Rücksichten —«
»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort davon zu sprechen.«
[S. 219]
»— verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen, europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, — ich beschönige nichts — die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern der Name Ihres Hauses — reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu ungleich zu Ihren Ungunsten.«
»Darin haben Sie allerdings recht!«
»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und korrekt zu handeln.«
»Der edle Stolz eines Gauners!«
»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich Ihr Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja, es spricht sich besser, wenn —«
»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre.[S. 220] Das Vergnügen, einen philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße genossen sein.«
»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach. Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt — ich werde keinen unedlen Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen, vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven. Aber ich bitte — entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter verlobt!«
»Das ist erlogen!«
[S. 221]
»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten. Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von schriftlichen Beweisen vorzulegen. — Hat sich mit meiner Tochter verlobt, hat sie geküßt —«
»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!«
»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern. Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und meiner nicht minder hochverehrten Braut.«
Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur Besonnenheit.
»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen beweisen, daß Sie selbst mir die Mittel an die Hand gegeben haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin. Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten[S. 222] Ehrenbeleidigung erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.«
»Auf alle Gefahr hin — Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter Schurke!«
»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da würden Sie heilig eingehen.«
»Ich würde es darauf ankommen lassen.«
»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten Angehörigen viel zu hoch.«
»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!«
»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich — ich habe das Herz Ihrer Tochter gewonnen!«
[S. 223]
»Reden Sie nichts davon!«
»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine Heilige. Sie hat mich liebgewonnen — ich stelle es unter Beweis! —, und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben — was weiß ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, — da kann sie, wenn sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich haben ...«
»Ein Vorurteil — gegen einen Betrüger?!«
»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht, daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den — Minder[S. 224] klugen. Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht anders im Kampf ums Dasein.«
»Wie bereits erwähnt — ein philosophischer Gauner!«
»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und darum — es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach —, trete ich zurück und gebe meine Ansprüche auf.«
»Reden wir deutlich. Was kostet das?«
»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt. Ferne sei es von mir —«
»Keine Redensarten! Was kostet's?«
»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft —«
»Der Hochstapelei!«
»Die Hochstapelei — war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube ich das Auslangen finden zu können.«
»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.«
»Mit zweitausend Mark monatlich —«
»Monatlich?!«
»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen Ansprüchen mein Leben[S. 225] fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen Preis.«
»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!«
»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen. Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt erhalte.«
»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort verlautbaren lassen!«
»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn ich diese Bedingung nicht einhalte.«
»Wünschen Sie etwas Schriftliches?«
»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.«
»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen sofort ab.«
»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch[S. 226] anstandshalber eine kleine Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, — ich bin momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht erlauben —«
»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken. Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs — Sie haben nicht schlecht gelebt, Hofmann!«
»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich — auf Ferien war.«
»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!«
Eine Verbeugung — und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen weniger auf der Welt.
Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein — esprit d'escalier! Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst — zu spät — erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache übertragen hätte — er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er war's auch so zufrieden.
[S. 227]
Wolfgang Lenburg,
»Straße 27«.
Aus »Oberlehrer Müller«.
[S. 228]
[S. 229]
Mit Genehmigung der Verleger Gebrüder Paetel in
Berlin aus W. Lenburg »Oberlehrer Müller«.
Gbd. M. 3.—
Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der Beschämung.
Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie erster Stock.«
Wer Berlin W, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete, Rückkompanie und Kulturmangel.
»Straße 27!«
Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen[S. 230] Balkons zum Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten Nasen.
Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes Einkommen und manche Nebeneinnahmen!«
Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft!
Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen.
Welch törichter Aberglaube!
Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der Menschen zu roden.
Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie[S. 231] hören, daß ich jetzt in der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!«
Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad, fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« — Rückzahlung bis 1930 ausgeschlossen — zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich noch nie von Rönne losgekommen.
Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, — aber es ist gar nicht so schlimm!«
Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch nicht »da hinten«, sondern in Berlin W. Ja, wirklich, in Berlin W, und dicht am Kurfürstendamm.
Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite.
[S. 232]
»Holla, siebenundzwanzig — vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie steht's?«
Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter Dr. Scherbe, ebenso überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34 mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne.
Dr. Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen. Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: bisher. Jetzt aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.«
»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›nick-names‹.«
»Na, Verehrtester,« erwiderte Dr. Scherbe mit beschwichtigender Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders denn[S. 233] als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen ›Scherbengericht‹ zu danken? — Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher Nummer.«
»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen.
»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens beantragt und durchgesetzt.«
»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.«
»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber ein anderer, ganz neuer Beiname für Sie gewählt worden, und zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von mir.«
Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in finsteren Haß zu verwandeln.
»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die von den[S. 234] sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug ich für Sie den Namen ›Der Taxameter‹ vor.«
»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit unverhohlenem Mißbehagen.
»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd, »die Kerls haben ja so gelacht!« — — —
[S. 235]
Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen, doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen.
Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel, Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen.
Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an sich geringfügigen[S. 236] Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück. Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und Schusters nicht die schuldige Ehre an, »Hans-Sachs-Straße« aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten, die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt werden.
Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle, den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum[S. 237] Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er selber müsse offen bekennen, daß er von der Marlitt wohl schon, aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch.
Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja »einen Komponist schließen« und die Straße »Marlittstraße« nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob die Marlitt eine Schustertochter war, so sympathisch ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf »Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde.
Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände nur verwechselt hätten, und der Marlo und die Marlitt möglicherweise eine Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht fassen,[S. 238] daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel, dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten Mamsell«.
Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja, es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten.
Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner sämtlicher Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe noch Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest.
So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil schon recht fidelen Buchstaben[S. 239] namens der versammelten Bewohner der Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »Marlittstraße« zu benamsen, besonders »in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte unserer Dichtkunst zu verdanken haben«.
Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt.
Wie der eigentliche und endgültige Schlußakkord jenes Abends geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben.
Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel widerspiegelte. —
Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des alten[S. 240] Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, — ihm ist ein Söhnlein geboren.
Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig in der Marlittstraße wohnen muß.
Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen, und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt.
Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung: Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße.
[S. 241]
Schade!
Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist!
Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden würde.
Aber schade ist's doch!
Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark mehr zahlen, — das geht beim besten Willen nicht.
»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches Eheleben begonnen haben.«
Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. —
Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu können, das heißt — noch bei Lebzeiten.
[S. 242]
Ach, wir modernen Nomaden!
Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht.
Wo sie ihr Nest wohl hat? — Sicher nicht an unserem Hause!
Großstadt und Schwalbennest!
Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja, da war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem grünumrankten Vaterhause.
Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater, der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich, wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, der hatte ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen gehörte!
Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher gefiederter Sängerchor!
[S. 243]
Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und Gebieter hauste.
Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde!
Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht mein Herz in Sehnsucht schwellen.
Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten, während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt.
Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine Wünsche ruhiger und immer ruhiger, — bis sie ihn hinaustrugen aus dem Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. — —
[S. 244]
Und mich hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem sonnigen Garten meiner Kindheit.
Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's jetzt noch recht kämpfen.
Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt.
Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. —
Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend entgegenhält.
Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh hinausgeschaut in den linden Septembertag?
»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's[S. 245] nicht aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« —
Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten.
Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt »unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte.
»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr Haupt an der Brust des Mannes barg?«
»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr wohl.«
»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint ihnen so hell wie uns eitel[S. 246] Lust und Freude aus den Augen des kleinen Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? — Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?«
Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an meiner Brust verborgen und antwortet nicht.
Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen.
»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen Wohnungswechsel freue!
Gewiß freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und das fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn[S. 247] wir eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie.
Wie schön, und welche Ersparnis!
Oder wenn's nicht so ist, dann doch immerhin Aussicht auf Bäume und Gärten. Oder wenn's auch das nicht ist, so könnten wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen. Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus.
Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben zur großen Müdigkeit, die erworben werden muß, um köstlich zu erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.«
»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du[S. 248] da froh und glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern, deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!«
»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt. Doch, doch, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.«
»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar, ach, wenn's doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach, und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde? Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und Macht gelangen. — Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung, die dich niederdrückt?«
»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren,[S. 249] seit welchen ich mich mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja, fühlen kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich, darstellend schaffen — Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. Und doch sollen einmal meine Lieder erklingen. Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen Glanz des Nachruhms hin.
Und Geld?!
Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! — Sieh, wenn wir uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles irdische Gold entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig voran!« —
[S. 250]
Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung, um unseren Nachfolgern Platz zu machen.
Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! — —
Da klingelt es.
Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen Räumen uns umgibt?
Soso, nur der Postbote ist's.
Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt er mir?
»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen, der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück. Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man kann doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!«
»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung.
Nein, — es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte.
[S. 251]
Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz blaß aus.
Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den Transport verlohnen würden.
»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen, Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734 vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören uns nun. Uns!! Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben reden!«
»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern, »Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle Kulturaufgabe der Schule sein!«
»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches Denkmal setzte und über[S. 252] ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?«
»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern legend, »ach, dann wirst du doch vielleicht noch berühmt.«
»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.«
»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte, »das Publikum wird dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu:
»Schon mir zuliebe.«
[S. 253]
Johannes Trojan,
Wie man einen Weinreisenden los wird.
Kleine Leiden auf einer Landpartie.
Drei Gedichte.
[S. 254]
Mit Genehmigung der J. G. Cottaschen Buchhandlung
Nachfolger in Stuttgart und Berlin: »Wie man einen
Weinreisenden los wird« und »Kleine Leiden auf einer Land-
partie« aus »Johannes
Trojan, Das Wustrower
Königsschießen u. a. Humoresken«. Gbd.M. 3,—.
»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag aus«
»Johannes Trojan, Gedichte«. »Der Oberamtsrichter
von Neckarsulm« aus »Johannes Trojan, Scherz-
gedichte«. Gbd. M. 3,50.
[S. 255]
Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die Firma J. G. Pfropfenberg & Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde, bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger Spannung erwartete ich den jungen Mann.
Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!« Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten Hauses Pfropfenberg & Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...«
[S. 256]
»Halt!« fiel ich ihm ins Wort — »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?«
»Jawohl«, erwiderte er.
»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten! Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum, geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in den Rhein zu stürzen.«
Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er eben das Wort ergreifen wollte, zuvor.
»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?«
[S. 257]
»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...«
»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?«
»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg & Comp., in dessen Auftrag ...«
»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter. Ich selbst — Sie wissen, daß ich Käfersammler bin — möchte manchmal mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier tauschen.«
Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma Pfropfenberg & Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...«
Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?«
[S. 258]
»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen.
»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?«
»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit.
»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich.
»Meyer — A. H. Meyer!«
»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap führten, dort einen Herrn Meyer kennen, dem Sie sehr ähnlich sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend, besonders da auch der Name zutrifft. Dieser Meyer war Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine — warten Sie einmal — richtig! eine geborene Kloppfleisch. Ein prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen ist er auch natürlich älter geworden.«
Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir —« begann er noch einmal.
»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?«
»Ja!« stöhnte er.
[S. 259]
»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?«
Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« — rief er mit vor Ärger halb erstickter Stimme — »ich muß mich Ihnen empfehlen. Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...«
»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr vorstellte.«
»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit. Wenn Sie einen Auftrag ...«
»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule oder ...«
Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...«
[S. 260]
Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten Halteplatz für Droschken zu.
Ob er wohl wiederkommen wird?
Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn die Rede auf Landpartien kam — nein! über diese Vergnügungen bin ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen.
Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe.
Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann sie so nicht stehen, also sagen[S. 261] Sie mir schnell: was soll geschehen? Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt, die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich führen. Ein grausamer Barbar endlich — ich verschweige seinen Namen, obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle — gab den Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie werde schon von selbst nachgehüpft kommen!
Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte meiner letzten Landpartie erzählen.
Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius. Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war ich und der neunte — doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es war[S. 262] beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren, hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend ausbreiten sollte.
Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten« angetreten.
In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen. Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten unten fand folgendes Wechselgespräch statt.
»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte.
»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es von oben.
[S. 263]
»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.«
»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume? Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?«
Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten, um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei, betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen.
Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn nicht der Steuerrat und[S. 264] der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen »draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat. Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der Gesellschaft anzuschließen.
Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte, vollständig ausgedacht und erlogen war.
Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören. Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß zu[S. 265] nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte.
Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst. Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem alten[S. 266] Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen Richtungen hin gepriesen wurde.
Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben, als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...«
»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit sein.«
»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie — bis Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig. Das macht zusammen noch keine Stunde.«
»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat.
»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender[S. 267] der in hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.«
Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen.
Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist, sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten, einen steglosen Bach — den die Damen auf hineingelegten Steinen überschreiten mußten — und einen Bruchacker zu passieren hatten. Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.«
»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.«
[S. 268]
Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner, und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag.
Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker fragend an.
»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.«
Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als[S. 269] noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten.
»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts abbiegen.«
Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese. Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb. Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß.
»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er. »Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.«
»Ei, zum —« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf[S. 270] mein Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie! helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!«
Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben wir endlich den Spitzbuben gefangen!«
»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen.
Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um mich nach[S. 271] der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete, das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war. Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich nachher bestätigt.
Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte, bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde.
Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das[S. 272] Jammern und Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden Fuhrmannsschenke, anlangten.
Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen, dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?« sagte der Steuerrat.
»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.«
»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.«
Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach.
»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen.
»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet! Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun sollen!«
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Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde. Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt, von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert.
»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde.
»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte.
Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte. Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«, schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht, ob es[S. 274] der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich ihn auf keinem meiner beiden Arme.«
»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.«
Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns auf den Weg nach der Bahnstation.
Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken.
Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir zu Hause an.
Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen[S. 275] ging ich am Stock, ein ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß.
Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines. Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer — lassen Sie ihn doch ja in der Kiefer sitzen!
Veronica chamaedrys und Ononis spinosa.
Die Frau spricht:
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Der Mann spricht:
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(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.)
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[S. 287]
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Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig.
[1] »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt findet man nicht ihresgleichen.«
[2] »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum mir diese Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?«
[3] »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.«
[4] »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!«
[5] heiser.
[6] wann.
[7] Flut.
[8] Lumpenpuppe.
[9] Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe.
[10] Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr.
[11] Fußspuren.
[12] naßwischen.
[13] Bürste.
[14] Lumpen.
[15] Kessel.
[16] steuern.
[17] anschmeicheln.
[18] Kapitän sein.
[19] ihnen.
[20] Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen.
[21] unruhig.
[22] Zeichen, daß die Flut eintritt.
[23] Taschenkrebs.
[24] Übereilen.
[25] kleiner Damm.
[26] Mittelamerika.
[27] Affen.
[28] Pantoffeln.
[29] d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest.
[30] Wer.
[31] klug.
[32] Scherz.
[33] Der quer durch den Strom schifft.
[34] Teil.
[35] Launen.
[36] Dicker.
[37] Ruß.
[38] Rahmtorten.
[39] mit Petroleummotor.
[40] Wie siehst du aus?
[41] Bataten.
[42] lügt.
[43] Naseweis.
[44] Rahm.
[45] verdrießlich.
[46] Trog.
[47] Zeugklammern.
[48] Spaßmacher.
[49] schwärmen, herumlaufen.