The Project Gutenberg eBook of Geschichten

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Title: Geschichten

Author: Robert Walser

Illustrator: Karl Walser

Release date: May 30, 2025 [eBook #76191]

Language: German

Original publication: Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1914

Credits: Jana Srna, Hans Theyer and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHICHTEN ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.

Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.

Buchdeckel
buchrücken
Buchrücken

Geschichten
von
Robert Walser

mit Zeichnungen von Karl Walser

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Kurt Wolff Verlag, Leipzig
1914


Einband und Zeichnungen von Karl Walser. Gedruckt bei
Hesse & Becker, Leipzig. 100 Exemplare wurden auf Stratford
abgezogen und handschriftlich numeriert.


Copyright 1914 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig


Inhalt

Seite
Sechs kleine Geschichten
1. Von einem Dichter
2. Laute
3. Klavier
4.
5.
6. Der schöne Platz
Simon. Eine Liebesgeschichte
Zwei Geschichten
Das Genie
Welt
Mehlmann. Ein Märchen
Seltsame Stadt
Der Greifensee
Der Waldbrand
Der Park
Illusion
Theaterbrand
Kerkerszene
Lustspielabend
Katzentheater
Ein Schlafzimmer
Flußgegend mit Turm
Eine Singspielhalle
Vornehme Straße mit Gartengitter
Die Schauspielerin
Die Talentprobe
Kleist in Thun
Wenzel
Paganini. Variation
Die Schlacht bei Sempach
Tagebuch eines Schülers
Ein Vormittag

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[S. 1]

Sechs kleine Geschichten

1. Von einem Dichter

Ein Dichter beugt sich über seine Gedichte, deren er zwanzig gemacht hat. Er schlägt eine Seite nach der anderen um und findet, daß jedes Gedicht ein ganz besonderes Gefühl in ihm erweckt. Er zerbricht sich mit großer Mühe den Kopf, was das wohl für ein Etwas ist, das über oder um seine Poesien schwebt. Er drückt, aber es kommt nichts heraus, er stößt, aber es geht nichts hinaus, er[S. 2] zieht, aber es bleibt alles wie es ist, nämlich dunkel. Er legt sich ganz auf das geöffnete Buch in seine verschränkten Arme und weint. Dagegen beuge ich mich nun, der Schelm von Verfasser, über sein Werk und erkenne mit unendlich leichtem Sinn das Rätsel der Aufgabe. Es sind ganz einfach zwanzig Gedichte, davon ist eines einfach, eines pompös, eines zauberhaft, eines langweilig, eines rührend, eines gottvoll, eines kindlich, eines sehr schlecht, eines tierisch, eines befangen, eines unerlaubt, eines unbegreiflich, eines abstoßend, eines reizend, eines gemessen, eines großartig, eines gediegen, eines nichtswürdig, eines arm, eines unaussprechlich und eines kann nichts mehr sein, denn es sind nur zwanzig einzelne Gedichte, welche aus meinem Mund eine, wenn nicht gerade gerechte, so doch schnelle Beurteilung gefunden haben, was mich immer am wenigsten Mühe kostet. Eins aber ist sicher, der Dichter, der sie gemacht hat, weint noch immer, über das Buch gebeugt; die Sonne scheint über ihn; und mein Gelächter ist der Wind, der ihm heftig und kalt in die Haare fährt.


[S. 3]

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2. Laute

Ich spiele auf der Laute Erinnerung. Sie ist ein geringfügiges Instrument mit nur immer einem und demselben Klang. Dieser Klang ist bald lang, bald kurz, bald träge, bald hurtig. Er atmet in ruhigen Zügen, oder er setzt in einem hastigen Sprung über sich selber hinweg. Er ist traurig und lustig. Das Sonderbare ist nur, daß, wenn er schwermütig klingt, er mich lachen macht, daß, wenn er lustig ist und springt, ich dabei weinen muß. Gab es jemals solchen Ton?[S. 4] Wurde jemals auf so wunderlichem Instrument gespielt? Es ist kaum in die Hand zu nehmen, das Instrument; die Hände, selbst die weichsten und feinstgebildeten, sind zu rauh dafür. Es hat unaussprechlich dünne, zarte Saiten. Haare sind Halftern dagegen. Es gibt einen Knaben, der darauf zu spielen weiß; und ich, der ich Zeit habe, auf der Lauer zu liegen, ich horche ihm zu. Er spielt Tag und Nacht, ohne an Essen und Trinken zu denken, in die Nacht und in den Tag hinein. Vom Tag in die Nacht und von der Nacht in den Tag hinein. Die Zeit muß ihm nur dazu da sein, sie wie einen Ton an sich vorbeiwehen zu lassen. Sowie ich auf ihn horche, den Spielenden, so horcht er, der Spieler, die ganze Zeit lang auf seine Geliebte, den Klang seines Instruments. Noch nie lag ein Verliebter so treu, so beständig auf der Lauer. Wie süß ist es, dem Lauernden aufzulauern, den Verliebten verliebt zu sehen, den Vergessenen an seiner Seite zu fühlen. Der Knabe ist Künstler,[S. 5] die Erinnerung sein Instrument, die Nacht sein Raum, der Traum seine Zeit; und die Töne, denen er das Leben gibt, sind seine eifrigen Diener, die von ihm reden in der Welt begierige Ohren. Ich bin nur noch Ohr, unsäglich ergriffenes Ohr.


[S. 6]

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3. Klavier

Ich weiß nicht, wie der Bursche heißt, der das Glück hat von einer so schönen und hoheitsvollen Klavierlehrerin Unterricht auf dem Flügel zu genießen. Jetzt eben ist er daran, sich von den schönsten Händen der Erde die Behendigkeit auf den Tasten beibringen zu lassen. Die Hände der Dame gleiten über die Tasten wie weiße Schwäne auf dem dunklen Wasser. Sie sprechen sehr anmutig schon aus, was hinterher[S. 7] die Lippen sagen. Der Knabe ist von einer Zerstreutheit umfangen, welche die Lehrerin nicht beachten zu wollen scheint. »Spielen Sie das;« aber er spielt es unbeschreiblich schlecht. »Spielen Sie es noch einmal;« aber er spielt es noch schlechter als zuvor. Nun, es muß noch einmal gespielt werden; aber er spielt es schlecht. »Sie sind träge.« Er weint, dem dies gesagt wird. Sie lächelt, die dies sagt. Er liegt mit dem Kopf auf dem Klavier, der sich das muß sagen lassen. Sie streichelt ihm das braune weiche Haar, die ihm dies hat sagen müssen. Nun küßt der Bursche, der unter der Liebkosung aus seiner Scham erwacht, die zärtliche Hand, die sehr vornehm und weiß ist. Nun umschlingt die Dame den Hals des Knaben mit ihren herrlichen Armen, die sehr weich und zu einer Umarmung die rechten Zangen sind. Nun läßt sich die Dame küssen und nun erliegen die Lippen des lieben Burschen einem Kuß der freundlichen Dame. Nun haben die Knie des Geküßten nichts[S. 8] Eiligeres zu tun, als wie umfallende Grashalme zusammenzusinken, und die Arme des Knienden nichts Einfacheres, als wieder die Knie der Dame zu umarmen. Der Dame Knie schwanken ebenfalls und nun sind beide, die gütige, schöne Dame, und der einfache arme Knabe, eine Umarmung, ein Kuß, ein Zusammensturz, eine Träne — und was mehr ist: eine unerwartete schreckliche Überraschung für jemanden, der in diesem Augenblick die Türe des Zimmers öffnet, was sowohl der Süßigkeit von der beiden vergessener Liebe, als der Erzählung davon ein Ende bereitet.


[S. 9]

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4.

Nun, ich besinne mich, daß einmal ein armer, von Stimmungen sehr gedrückter Dichter lebte, welcher, da er sich an der freien Gottesnatur satt gesehen hatte, auf den Entschluß kam, nur noch seine Phantasie dichten zu lassen. Er saß eines Abends, Mittags oder Morgens, um acht, zwölf oder zwei Uhr in dem dunklen Raum seines Zimmers und sagte zu der Wand desselben:[S. 10] Wand, ich habe dich im Kopf. Gib dir keine Mühe, mich mit deiner ruhigen seltsamen Physiognomie zu täuschen. Fortan bist du ein Gefangener meiner Phantasie. Hierauf sagte er dasselbe zu den Fenstern und zu der düstern Aussicht, welche ihm dieselben tagtäglich boten. Hernach unternahm er, von Abenteuerlust angefeuert, einen Spaziergang, welcher ihn durch Felder, Wälder, Wiesen, Dörfer, Städte, über Flüsse, Seen immer unter dem schönen Himmel führte. Aber zu Feldern, Wiesen, Wegen, Wäldern, Dörfern, Städten und Flüssen sagte er immerfort: Kerls, euch habe ich fest im Schädel. Bildet euch nicht länger ein, ihr Leute, daß ihr auf mich einen Eindruck macht. Er ging heim und lachte beständig vor sich hin: Ich habe sie alle, ich habe sie alle im Kopf. Also ist anzunehmen, daß er sie noch jetzt dadrinnen hat, wo sie (wie gerne wollte ich ihnen helfen) nicht mehr hinauskommen. Ist das nicht eine phantasievolle Geschichte???


[S. 11]

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5.

Es war einmal ein Dichter, der so verliebt in den Raum seines Zimmers war, daß er den ganzen Tag über in seinem Lehnstuhl saß und die Wände anbrütete, die vor seinen Augen lagen. Er entfernte die Bilder von diesen Wänden, um durch keinen zerstreuenden Gegenstand gestört und verleitet zu werden, irgend etwas anderes zu betrachten, als die kleine, fleckige, unfreundliche Wand. Man kann nicht sagen,[S. 12] daß er den Raum mit Absicht studierte, sondern man muß gestehen: Er lag ohne einen Gedanken in den Banden einer grundlosen Träumerei, in welcher seine Stimmung weder lustig noch traurig, weder munter noch melancholisch, sondern so kalt und gleichgültig wie die eines Wahnsinnigen war. Er verbrachte drei Monate in diesem Zustande und an dem Tage, mit welchem der vierte beginnen sollte, konnte er sich nicht mehr von seinem Platze erheben. Er war festgeklebt. Das ist etwas Sonderbares und es liegt Unwahrscheinlichkeit in dem Versprechen des Erzählers, der beteuert, daß sogleich noch Sonderbareres folgen soll. Zu dieser Zeit nämlich suchte ein Freund unseres Dichters den Dichter in seinem Zimmer auf und fiel, wie er dasselbe betrat, in dieselbe schwermütige oder lächerliche Träumerei, in welcher der erste gefangen lag. Einige Zeit nachher widerfuhr einem dritten Verse- oder Romanschreiber, der kam, um nach seinem Freunde zu sehen, das gleiche[S. 13] Unglück, in welches nacheinander sechs Dichter fielen, die alle kamen, um sich nach dem Freunde zu erkundigen. Nun sitzen alle sieben in dem kleinen, dunklen, düsteren, unfreundlichen, kalten, kahlen Raum und draußen schneit es. Sie kleben an ihren Sitzen und werden wohl nie wieder eine Naturstudie machen. Sie sitzen und starren, und das freundliche Gelächter, welches diese Geschichte belohnt, ist nicht imstande, sie aus ihrem traurigen Bann zu erlösen. Gute Nacht.


[S. 14]

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6. Der schöne Platz

Die Geschichte, obschon ich an ihrer Wahrscheinlichkeit zweifle, hat mir, als man sie mir erzählte, viel Freude bereitet; und ich gebe sie, so gut ich kann, hier zum besten, unter der einzigen Vorbedingung jedoch, daß man mich bis zum Ende nicht durch Gähnen unterbreche: Es waren einmal zwei Lyriker, von denen der eine sich Emanuel nannte, welcher ein sehr nervöser, sensibler, junger Mann war. Der andere, mehr gröberer Natur, hieß Hans. Emanuel[S. 15] hatte sich einen Winkel im Walde ausgefunden, der vor aller Welt verborgen war, und wo er sehr gerne zu dichten pflegte. Zu diesem Zwecke schrieb er artige und unbedeutende Verslein in ein Notizbuch, welches er von seinem Großvater geerbt hatte, und schien mit diesem seinem Berufe sehr zufrieden zu sein. Und wahrlich, warum hätte er es nicht sein sollen? Die Stelle im Wald war so still und angenehm, der Himmel über derselben so heiter und blau, die Wolken so unterhaltend, die Bäume des gegenüberliegenden Randes so abwechselnd und von so gesuchter Farbe, die Wiese so weich, der Bach, der diese einsame Waldwiese bewässerte, so erfrischend, daß Herr Emanuel ein Narr hätte sein müssen, wenn er etwas anderes als sich glücklich gefühlt hätte. Der Himmel lachte zu seinem unschuldigen Gedichtemachen ebenso blau und schön herab wie auf die Waldbäume; und der Frieden dieses Idylls schien so unzerstörbar, daß die Störung, die nun sogleich[S. 16] herantreten wird, wie das Unglück in der Woche, sehr unglaublich erscheinen muß. Die Sache ist aber folgende: Ich habe euch Hans schon genannt. Hans, dieser zweite Lyriker, trieb sich einmal, selber getrieben vom Zufall, in dem Walde und in der Nähe des einsamen Platzes umher und entdeckte bei dieser Gelegenheit den Winkel und dessen Bewohner, den Bruder Emanuel. Sofort erkannte Hans in Emanuel, obschon sie sich nie zuvor gesehen, den Dichter, so wie ein Vogel den andern sofort erkennt. Er schlich sich hinter ihn und, um die Geschichte kurz zu machen, versetzte ihm einen tüchtigen Schlag auf die Wange, daß jener laut aufschrie und ohne sich weiter umzusehen nach dem, welcher ihn also traktiert hatte, die Beine springen ließ und zwar so schnell, daß er im Augenblick nicht mehr zu sehen war. Hans triumphierte! Er durfte hoffen, seinen Nebenbuhler auf ewig von der schönen einträglichen Stelle verjagt zu haben und er sann gleich darüber nach, wie er[S. 17] wohl am wirksamsten die Lieblichkeit dieser einsamen Waldgegend darzustellen habe. Auch er hatte ein Notizbuch bei sich, welches voller Verse, schlechter und guter, war, die er nächstens zu veröffentlichen hoffte. Dieses Buch zog er nun hervor und fing an, darin allerlei Gedankenlosigkeiten hineinzukritzeln, wie Lyriker zu tun pflegen, um sich in die geeignete Stimmung zu bringen. Er schien aber viele Mühe zu haben, die ruhige milde Schönheit seiner errungenen Landschaft in zarte Silben zu zwängen, so daß etwa noch ein Schimmer von Lebendigkeit hervorgucken mochte; und wie er dabei war, sich auf solche Weise abzuplagen, erstand ihm von vorne oder von hinten eine neue Plage, die derart war, daß sie auch ihm dieses Paradies, welches er wie ein Hund dem andern abgekläfft hatte, verleiden mußte. Es zeigte sich eine dritte Person auf dem Schauplatz in Gestalt einer Dichterin. Hans, der, erschreckt durch das Geräusch, aufblickte, erkannte sie sogleich als eine[S. 18] solche, verlor keine Zeit mit Galanterien, sondern verschwand wie sein Vorgänger im Augenblick. — Hier stockt die gute Erzählung und ich billige und begreife ihre Ohnmacht vollkommen, da ich ebensowenig wie sie imstande wäre, hier fortzufahren, wo alles Weitergehen in den Abgrund der Nutzlosigkeit führen müßte. Denn wäre es etwa nichts Nutzloses, noch das Gebaren der Dichterin herzuleiern, wo schon zwei Dichter abgesungen sind? Ich begnüge mich, zu berichten, daß die erstere an der Schönheit des Waldplatzes nichts Schönes und an der Seltenheit desselben nichts Seltenes fand und ebenso geräuschvoll verschwand als sie aufrückte. Mag der Teufel Poet sein.


[S. 19]

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Simon. Eine Liebesgeschichte

Simon war zwanzig Jahre alt, als ihm eines Abends in den Sinn kam, er könnte so, wie er gerade im weichen grünen Moose am Wege lag, fortwandern und Page werden. Dies sprach er sehr laut in die Luft hinauf zu den Tannengipfeln, welche, ich weiß nicht ob es wahr oder erlogen ist, ihre scheinheiligen Bärte schüttelten und ein stummes, tannzapfenartiges Gelächter[S. 20] anstimmten, welches unserem Mann auf die Beine half und ihn antrieb, sofort das zu werden, wozu ihn eine unbändige Lust anfeuerte. Jetzt hat er sich erhoben und marschiert ins Blaue oder Grüne hinein, ohne sich um eine geographische Richtung zu kümmern. Kümmern wir uns ein wenig um sein Äußeres. Er hat lange, für einen angehenden anmarschierenden Pagen viel zu lange Beine, welche seinem Gang etwas Tölpelhaftes geben. Seine Schuhe sind schlecht, seine Hose ideal zerrissen, sein Rock voller Flecken, sein Gesicht ist ein unzartes Gesicht und sein Hut, um auf das oberste zu kommen, kommt langsam in eine Form hinein, in die ihn unsorgfältige Behandlung und geringer Stoff mit der Zeit bringen müssen. Er, der Hut, sitzt auf ihm, dem Kopf, wie ein verschobener Sargdeckel, oder wie der blecherne Deckel auf einer alten rostigen Bratpfanne. Wirklich, der Kopf ist beinahe kupferrot und hat nichts gegen einen gebratenen Vergleich einzuwenden. An Simons[S. 21] Rücken (wir, die Erzählung, gehen jetzt immer hinter ihm her) hängt eine alte wüste Mandoline und wir sehen, wie er dieselbe in die Hand nimmt und darauf zu zupfen anfängt. O Wunder. Welch einen silbernen Klang birgt dieses alte magere Instrument. Ist es nicht, als wenn liebliche weiße Engel auf goldenen Geigen spielten! Der Wald ist eine Kirche und die Musik, welche tönt, wie die eines alten ehrwürdigen italienischen Meisters. Wie zart er spielt, wie weich er singt, dieser rohe Bengel. Wahrhaftig, wir verlieben uns in ihn, wenn er nicht bald aufhört. Er hört auf und wir haben Zeit, uns auf neuen Atem zu besinnen.

Wie seltsam, dachte Simon, als er aus dem Wald heraustrat und bald wieder in einen neuen hineinkam, wie seltsam, daß die Welt keine Pagen mehr hat. Hat sie denn etwa keine schönen, großen Frauenzimmer mehr? Wohl nicht, denn ich besinne mich, die Poetin unserer Stadt, der ich meine Gedichte zusandte, war dick, behäbig[S. 22] und majestätisch genug, um eines beweglichen Pagen zu bedürfen. Was tut sie wohl jetzt. Denkt sie wohl noch an mich, der ich sie anschwärmte? Mit solchen Gedanken und Empfindungen brachte er es ein Stück Weg weiter. Die Wiesen schimmerten, als er neuerdings aus dem Wald heraustrat, wie ausgeschüttetes Gold, die Bäume darauf waren weiß, grünlich, grün, und so saftig, daß er lachen mußte. Die Wolken lagen träge und breit am Himmel wie ausgestreckte Katzen. Simon streichelte in Gedanken ihr farbiges weiches Fell. Dazwischen lag Blau von wunderbarer Frische und Feuchte. Die Vögel sangen, die Luft zitterte, der Äther triefte von Wohlgerüchen und in der Ferne lagen felsige Berge, zu denen unser Bursche nun geraden Wegs hinlief. Schon fing der Weg an zu steigen und schon fing es an, zu dunkeln. Simon griff wieder in die Mandoline, auf welcher er Zauberer war. Die Erzählung setzt sich hinten wieder auf einen Stein und horcht ganz verblüfft.[S. 23] Unterdessen gewinnt der Verfasser Zeit, auszuruhen.

Es ist ein mühseliges Geschäft, Geschichten erzählen. Immer hinter solch einem langbeinigen, mandolinenspielenden romantischen Bengel herlaufen und horchen, was er singt, denkt, fühlt und spricht. Und der rohe Schurke von Page läuft immer und wir müssen hinter ihm herlaufen, als ob wir wahrhaftig des Pagen Page wären. Hört weiter, geduldige Leser, wenn ihr noch Ohren habt, denn jetzt machen bald verschiedene Personen ihre untertänigsten Reverenzen. Es wird lustiger. Ein Schloß zeigt sich; welch ein Fund für einen burgruinensuchenden Pagen. Nun zeige deine Kunst, Kind, oder du bist verloren. Und er zeigt sie. Er singt die Dame an, welche sich auf dem Balkon im ersten Stock zeigt, mit so süßer, lügenhafter Stimme, daß das Herz der Dame notwendigerweise gerührt wird. Wir haben ein dunkles, märchenhaftes Schloß, wir haben Felsen, Tannen, Pagen, nein, nur einen Pagen, ja,[S. 24] unsern Simon, welcher in diesem Augenblick alle lieblichen Pagen der Welt in seiner zierlichen, oben beschriebenen Person vereinigt. Wir haben Gesang und Mandolinenton, wir haben Süßigkeit, welche der Knabe seinem Instrument zu entlocken weiß. Es ist bereits Nacht, Sterne schimmern, Mond brennt, Luft küßt, und wir haben, was wir unbedingt haben müssen, eine milde, weiße, herablächelnde Dame, welche mit der Hand heraufwinkt. Der Gesang hat im Herzen der Frau Platz genommen, denn es ist ja ein so einfacher, lieber, süßer Gesang. »Komm herauf, lieber, süßer, schöner, gefühlvoller Knabe!« Wir hören noch das Jubilieren, das Schluchzen vor Freude, das einen kurzen Augenblick aus der Kehle von dem glücklichen Kerl die Nacht durchdringt; wir sehen seinen Schatten verschwinden, und nun ist draußen alles Stille und Schatten.

Der Verfasser grübelt nun aus seiner gequälten Phantasie hervor, was seine Augen nicht mehr sehen dürfen. Die Phantasie hat durchdringende[S. 25] Augen. Keine zehnmetrige Mauer, kein noch so schwarzer giftiger Schatten hemmt ihren Blick, der Mauern und Schatten wie ein Netz durchsieht. Der Page flog die breite, teppichbelegte Treppe hinauf und wie er oben ankam, stand seine gnädige Herrin im schneeweißen Kleid am Eingang und zog Simon mit der Hand hinein, auf welche derselbe seinen heißen Atem hauchte. Alle die Händeküsserei zu beschreiben, die nun folgt, erlasse man uns. Keine Stelle der schönen Arme, Hände, Finger, Fingernägel blieb von den gierigen roten Lippen ungeküßt, und diese Lippen schwollen ganz auf bei dem galanten Geschäft. Deshalb, jetzt merken wir, haben Pagen stets solche wie zwei Seiten eines Buches aufgeschlagene Lippen. Lesen wir ruhig, was die Sprache darin weitererzählt.

Die Frau, nachdem sie dem Knaben Einhalt geboten, erzählte ihm in vertraulicher Weise, etwa so, wie man zu einem klugen anhänglichen und treuen Hund spricht, daß sie sehr einsam[S. 26] sei, daß sie nachts immer auf dem Balkon stehe, daß die Sehnsucht nach einem unsagbaren Etwas sie keine angenehme gedankenlose Stunde verbringen ließe. Sie strich Simon das rauhe Haar von der Stirne weg, berührte seinen Mund, tastete an seinen glühenden Wangen und sagte mehrere Male hintereinander: »Lieber, guter Knabe! Ja, du sollst mein Diener, mein Knecht, mein Page sein. Wie hübsch du gesungen hast. Wie treu deine Augen sehen. Wie schön dein Mund lächelt. Ach, einen solchen Knaben wünschte ich mir schon lange zum Zeitvertreib. Du sollst um mich herumspringen wie ein Reh und meine Hand soll das zierliche kleine unschuldige Reh streicheln. Ich will mich auf deinen braunen Leib setzen, wenn ich müde bin. Ach ...« Hier errötete denn doch die hohe Frau und sah lange verschwiegen in einen dunklen Winkel des Zimmers, welches sehr prächtig schien. Dann lächelte sie wohlwollend, und stand, wie sich selbst beruhigend, auf und nahm beide Hände Simons[S. 27] in eine von den schönen ihrigen. »Morgen kleide ich dich als Pagen an, lieber Page. Du bist müde, nicht wahr?« und lächelte und aus dem Lächeln küßte ihm gute Nacht entgegen. Sie führte ihn hinauf in einen, wie es schien, hohen Turm, in ein kleines, reinliches Gemach. Dort küßte sie ihn und sagte: »Ich bin ganz allein. Wir wohnen hier ganz allein. Gute Nacht!« und verschwand.

Als Simon am folgenden Morgen hinunterging, stand die weiße Frau, wie wenn sie schon lange geduldig wartete, an der Türe. Sie reichte ihm Hand und Mund und sagte: »Ich liebe dich. Ich heiße Klara. Nenne mich so, wenn du mich begehrst.« Sie gingen in ein kostbares, ganz mit Teppichen ausgefüttertes Zimmer, welches eine Aussicht in einen dunkelgrünen Tannenwald hatte. Hier lagen auf der reichgeschnitzten Lehne eines Stuhles schwarzseidene Pagenkleider. »Diese ziehe nun an!« — O, was für ein dummglückliches ehrlichbegeistertes Gesicht muß nun[S. 28] unser Kaspar, Peter oder Simon machen! Sie deutete ihm, sich darin umzukleiden, ging schnell hinaus, kam lächelnd nach zehn Minuten wieder hinein und fand Simon als den schwarzseidenen Pagen wieder, wie sie sich in träumerischen Stunden wohl einen solchen mochte phantasiert haben. Simon sah sehr hübsch aus in dem Kleid; seine schlanke Gestalt paßte vorzüglich in die enge Gefangenschaft der Pagentracht. Er benahm sich auch sofort sehr pagenmäßig, schmiegte sich schüchtern und doch unbewußt an den Leib der Frau. »Du gefällst mir,« lispelte sie. »Komm, komm!«

Sie spielten nun Tag für Tag Herrin und Page, und befanden sich wohl dabei. Simon war es ernst. Er dachte, er habe nun seinen eigentlichen Beruf gefunden, worin er auch sehr recht hatte. Ob es der gnädigen Frau mit ihrer Gnade ernst war, daran dachte er keinen Augenblick, und darin hatte er auch wieder sehr recht. Er nannte sie Klara, wenn er um ihren wollüstigen Leib dienend beschäftigt war. Er fragte sonst[S. 29] nichts, denn das Glück, o Leser, hat keine Zeit zum lange Herumfragen. Sie ließ sich ruhig, als wie von einem Kind, von ihm abküssen. Einmal sagte sie zu ihm: »Du, ich bin verheiratet, mein Mann heißt Aggapaia. Nicht wahr, ein teuflischer Name. Er wird bald zurückkehren. O, wie fürchte ich mich. Er ist sehr reich. Ihm gehört das Schloß, die Wälder, die Berge, die Luft, die Wolken, der Himmel. Vergiß den Namen nicht. Wie heißt er schon?« Simon stotterte: »Akka — —, Akka — —.« »Aggapaia, mein lieber Knabe. Schlafe ruhig darauf aus. Der Name ist kein Teufel.« — Sie weinte, als sie dies sagte.

Es vergingen wieder einige Tage und als eine Woche oder zwei verlebt waren, saßen sie, Frau und Page, eines Abends, als es schon dunkel zu werden begann, auf dem Balkon des Schlosses. Die Sterne funkelten wie verliebte Ritter hinunter auf das seltsame Paar: die modern gekleidete Frau und den spanisch kostümierten[S. 30] Pagen. Der griff, wie er immer abends zu tun pflegte, in die Saiten seiner Mandoline und die Erzählung streitet mit mir über den Punkt, was süßer gewesen sei, das Spiel der behenden Finger, oder die stillen Frauenaugen, welche auf den Spieler herabsahen. Die Nacht schwebte wie ein Raubvogel umher. Das Dunkel nahm zu, da hörten sie beide einen Schuß fallen im Wald. »Er kommt, Teufel Aggapaia ist in der Nähe. Bleibe ganz ruhig, Knabe. Ich stelle dich ihm vor. Du hast nichts zu fürchten!« Dennoch runzelte, die dies gesagt hatte, die Stirn, ihre Hände zitterten, sie seufzte und mischte ein kurzes Lachen unter die Flut von Beängstigung, welche sie zu verbergen bemüht war. Simon betrachtete sie ruhig; unten sagte jemand: Klara! Die Frau antwortete mit einem lieblich klingenden, sonderbar hohen »Ja«. Die Stimme erwiderte und fragte: Wen hast du da oben bei dir sitzen? »Mein Reh ist's; mein Reh!« Wie das Simon hörte, sprang er auf, umarmte das[S. 31] zitternde Weib und schrie hinunter: »Ich bin's, Simon! Mehr als zwei Arme braucht es nicht, um dir zu beweisen, du Schurke da unten, daß ich ein Bursche bin, der nicht mit sich Spaß treiben läßt. Komme nur herauf, ich stelle dir meine geliebte Herrin vor!« Teufel Aggapaia, welcher wohl merkte, daß er im Augenblick ein sehr dummer, hintergangener, gehörnter Teufel sein müsse, blieb unten stehen, scheinbar, um den Angriff zu überlegen, den eine so gefährliche Lage, wie die, vor welcher er stand, erforderte. »Ein blinder, kalter, achselzuckender, frecher Schuft da oben. Meine Überlegenheit ist zweifelhaft. Ich muß überlegen, überlegen, überlegen.« Die Nacht auch, das seltsame Benehmen der Frau, die Stimme des »Buben da oben«, das rätselhafte Etwas, wofür der Teufel kein Wort fand, hießen den Teufel blindlings überlegen. Überlege, wimmerten die Sterne, überlege, schnarrten die Nachtvögel, überlege, schüttelten unklar und doch deutlich genug die Tannengipfel heraus ...[S. 32] »Er überlegt,« sang siegesfroh des Pagen frische Stimme. Er überlegt noch heute, der arme schwarze Teufel Aggapaia. Er klebt an seiner Überlegung fest. Simon und Klara sind Mann und Weib geworden. Wie? sagt später einmal die Geschichte, welche hier atemringend der Ruhe bedarf.


[S. 33]

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Zwei Geschichten

Das Genie

In einer eiskalten Nacht stand Wenzel, das Genie, auf der Straße, in einem dünnen, dünnen, und nochmals dünnen Kleidchen und bettelte die Passanten an. Die Herren und Damen dachten, Gott, er ist ja ein Genie, er darf sich das schon erlauben. Genies bekommen den Schnupfen nicht so schnell wie gewöhnliche[S. 34] Sterbliche. Wenzel schlief die Nacht im Portal des Königlichen Palastes und seht, er ist nicht erfroren. Genies erfrieren nicht so leicht, und mag es noch so kalt sein. Am Morgen meldete er sich bei der jugendlichen schönen Königstochter an, in dem Kleid, das er noch anhatte. Er sah erbärmlich darin aus, aber die Bedienten stießen sich gegenseitig in die Seiten und vor die Schlauköpfe und murmelten: ein Genie, Kinder, ein Genie, und meldeten Wenzel bei der Herrscherin an und ließen ihn zu derselben lustig eintreten. Wenzel verbeugte sich gar nicht einmal vor der Prinzessin, denn seht, so etwas kommt einem Genie nicht bei. Die Prinzessin jedoch, in richtiger Anerkennung von der Größe ihres Geistes, verbeugte sich tief vor dem Genius, ich meine vor dem jungen Wenzel, und reichte ihm eine schneeweiße Hand zum Schleckkuß dar, worauf sie fragte, was er denn wolle. »Zu essen«, erwiderte der Grobian, aber die Antwort fand Anklang, denn sofort wurde[S. 35] auf den Wink der Gütigen ein herrliches Frühstück mit Portwein hereingetragen, alles auf silbernen Schüsseln und in Kristallflaschen und das alles zusammen auf einem goldenen Brettchen. Das Genie schmunzelte, als es das sah, denn seht, Genies sogar können schmunzeln. Die Königin war überaus freundlich, aß mit Wenzel, der nicht einmal eine anständige Krawatte anhatte, seinem genialen Zustand gemäß, erkundigte sich über seine Werke und trank Gesundheit mit ihm: alles mit einer unschuldigen süßen Grazie, die ihr besonders eigen war. Das Genie war zum erstenmal in seinem wildzerrissenen Leben vollkommen glücklich, denn seht: auch Genies haben oft die feine, übrigens sehr menschliche Eigenschaft, glücklich zu sein. Wenzel brachte unter anderem beim Tischspruch vor, daß er gesonnen sei, morgen oder übermorgen die Welt umzustürzen. Die Königstochter, die begreiflicherweise heftig darüber erschrak, eilte ängstlich und lieblich kreischend,[S. 36] wie eine gescheuchte Nachtigall zum Zimmer hinaus, das Genie seinem Genius überlassend, und erzählte alles ihrem Vater, dem Herrn Prinzregenten des Landes. Dieser allerdings ersuchte dann Wenzel, sich doch möglichst schnell und behend zu entfernen, was befolgt wurde. Nun befindet sich unser Genie wieder auf der Gasse, hat nichts zu essen, was ihm übrigens alle Leute gern verzeihen, da er solch ein grantiges Genie ist; und weiß nicht woaus, woein vor Kummer. In diesem Zustand kommt ihm eben ein flinker genialer Gedanke (alle genialen Gedanken sind äußerst behend) zuhilf. Er läßt schneien, und zwar so heftig und so lang, daß in kurzem die Welt im Schnee vergraben liegt. Er, das Genie, liegt auf der hartzugefrorenen Schneekruste, oben, und hat und pflegt das nicht üble Gefühl, daß unter ihm eine Welt vergraben liege. Er sagte sich, es sei eine Welt von drückenden Erinnerungen. Dies sagte er sich lange genug, bis er endlich merkt, daß[S. 37] er wieder Hunger sowohl nach gutem erdenmäßigem Essen (zum Beispiel solchem im Hotel Continental) als nach schlechter Behandlung durch die Menschen hat. Die Sonne da oben ist auch nicht gerade angenehm, und so allein in der Sonne zu sitzen — puh — er friert ganz. Kurz, er läßt den vielen Schnee wieder schwinden. In der Welt ist dadurch einiges und weniges anders geworden: ein frischgewaschenes Geschlecht von Menschen ist erstanden, das Hochachtung vor aller Art Übermenschlichkeit bekommen hat. Das gefällt eine Weile Wenzel, bis es ihm wiederum nicht mehr paßt. Er jammert, und die Seufzer, die aus seinem Innern kommen, gelangen zu allgemeiner Anerkennung. Man will ihm helfen, man sucht ihn zu überzeugen, daß er ja der Menschheit sogenannter Genius ist, oder ihn vorstellt und personifiziert. Aber alles das hilft nichts, weil eben einem Genie auf keine Weise zu helfen ist.


[S. 38]

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Welt

Als der alte Herr Zerrleder abends etwas zu spät nach Hause kam, nahm ihn gleich sein Herr Schlingel Sohn über das Knie und walkte ihn tüchtig durch. »In Zukunft«, sprach der Sohn zum Vater, »gebe ich dir überhaupt keinen Hausschlüssel mehr, verstanden!« — Wir wissen nicht, ob es so ohne weiteres begriffen wurde. Am andern Morgen bekam die Mutter von der Tochter eine schallende Ohrfeige (weithinschallend[S. 39] ist das rechte Wort), weil sie zu lange vor dem Spiegel gestanden. »Eitelkeit«, sprach die entrüstete Tochter, »ist eine Schande an so alten Leuten, wie du bist,« und jagte die Arme in die Küche. Auf der Straße und in der Welt trugen sich folgende beispiellose Dinge zu: Die Mädchen gingen den jungen Herren um die Ecken nach und belästigten sie mit ihren Anträgen. Einzelne dieser also verfolgten Jünglinge wurden rot über die frechen Anreden von heranstreichenden Damen. Eine solche Dame machte am hellen Tageslichte einen offenbaren Angriff auf einen ganz unbescholtenen, gut beleumundeten Bürgerssohn, welcher schreiend die Flucht ergriff. Ich selber, zügelloser und weniger tugendhaft, ließ mich von einem jungen Mädchen abfangen. Ich sträubte mich eine Weile, jedoch nur aus vorher studierter Ziererei, womit ich das feurige Mädchen nur noch mehr reizte. Ich hatte das Glück, von ihr im Stich gelassen zu werden, was mir recht war, der ich[S. 40] nur auf bessere Damen erpicht bin. In der Schulstube konnten die Schullehrer ihre Lektion zum siebenten oder achten Mal wieder einmal nicht und wurden deshalb in Arrest gesetzt. Sie weinten, denn sie hätten so gern den Nachmittag mit Biertrinken, Kegeln und andern Flegeleien verbracht. Auf den Gassen schlugen die Passanten ungeniert an den Wänden ihr Wasser ab. Hunde, die zufällig vorüberspazierten, entsetzten sich billigerweise darüber. Eine adlige Dame trug einen bestiefelten und bespornten Lakaien auf ihrer zarten Schulter; eine rothäutige Magd wurde in offener Kalesche vom Herzog des Landes spazieren geführt. Sie lächelte mit drei Wackelzähnen gar manierlich. Die Kalesche wurde von Studenten gezogen. Jeden Augenblick rührte man sie mit der flinken Peitsche. Einige Straßenräuber liefen hinter einigen verhafteten Gerichtsdienern her, welche sie unterwegs in Schenken oder Bordellen aufgegriffen. Der Spektakel lockte eine Menge Hunde herbei,[S. 41] die die Gefangenen lustig in die Waden bissen. So geht es eben, wenn Gerichtsdiener saumselig sind. Über dieser Welt voll Possen und Sünden stürzte der Himmel heute nachmittag herein, zwar ohne Krachen, nein, vielmehr als ein weiches feuchtes Tuch und verschleierte alles. Weißgekleidete Engel liefen barfüßig in der Stadt umher, über die Brücken, und spiegelten sich eitel aber anmutig im blinkenden Wasser. Einige der schwarzborstigen Teufel jagten mit wildem Geschrei, ihre Gabeln in der Luft schwenkend, zum Entsetzen aller Menschen daher. Sie benahmen sich im ganzen sehr ungeniert. Was soll ich noch sagen? Himmel und Hölle spazieren auf den Boulevards, in den Kaufläden handeln die Seligen und die Verdammten untereinander. Alles ist Chaos, Geschrei, Gejodel, Laufen, Rennen und Stinken. Endlich erbarmte sich Gott dieser schnöden Welt. Er ließ sich herbei, die Erde, die er einst in einem Vormittag verfertigt hatte, ohne weiteres[S. 42] in seinen Sack zu stecken. Der Augenblick (gottlob, daß es nur ein Augenblick war) war freilich entsetzlich. Die Luft wurde mit einem Mal so fest oder noch fester wie Stein. Sie zerschlug die Häuser in der Stadt, die gegeneinanderprallten wie Trunkenbolde. Die Berge hoben und senkten ihre breiten Rücken, Bäume flogen wie ungeheure Vögel durch den Raum, und der Raum selbst zerfloß schließlich in eine gelbliche kalte unbestimmbare Masse, die weder Anfang noch Ende hatte, weder Maß noch Etwas, sondern Nichtsmehr war. Von Nichts sind wir auch nicht mehr imstande, etwas zu schreiben. Selbst der liebe Gott löste sich aus Gram über seine eigene Zerstörungswut endlich auf, so daß dem Nichts nicht einmal mehr der es bestimmende, färbende Charakter blieb. —


[S. 43]

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Mehlmann.
Ein Märchen

Es war einmal eine kleine, schwarzverhangene Bühne. Auf die Bühne sprang ein weißer Mehlmann und tanzte. Man hörte seine Schritte und Absätze nicht, denn die Bühne war mit dicken Teppichen belegt. Plötzlich stand der Mehlmann still, legte den Finger dumm an die spitze, rötliche Nase, sann, wie es schien, nach und machte dann Gesichter. Das war seine Gewohnheit.[S. 44] Das Publikum kannte es zur Genüge. Es wußte, wann es kam; es kam pünktlich wie ein Wechsel am Verfalltage. So ein Mehlmann verfügt über seine zwanzig Gesichter im Gesicht. Es ist nur dumm, daß man sie alle auswendig kennt wie die Knöpfe an seinem Gilet. Die Komik ist ein begrenztes Gebiet, und hochgebildete Komiker gibt es selten.

Der Mehlmann war nicht hochgebildet. Er entstammte einer Lehrerfamilie, und war selber ein sehr entarteter Zweig. Seine Familie natürlich verabscheute ihn bloß. Einst berechtigte der Mehlmann zu großen Hoffnungen, aber wie die Dinge jetzt stehen, berechtigt er zu einem halben Gelächter. Man bemitleidet ihn mehr, als daß man ihn komisch findet. Er erscheint in seiner Komik eingezwängt wie der Irrsinnige in der Zwangsjacke. Sein Auftreten gibt nur Fühllosen zu lachen, Empfindliche macht es eher vor Zorn weinen.

Der Mehlmann huschte dumm ab, es sollte[S. 45] ein Witz sein, das Abhuschen, aber es war wie ein Fehltritt. Armer, armer Mehlmann!

Ein Knabe kam! Ein schlanker, schmaler Knabe im schneeweißen, enganliegenden Kleid. Das Kleid mit goldenen Rissen, Schlitzen und Umschlägen! Eine dunkelrote, großblättrige Rose im Gürtel. Es war ein wunderschöner Anblick, man rief ah! In dem ah! lag viel Liebe und Achtung und das größte Interesse. Frauen fanden das Kleid des Knaben in Verbindung mit seiner Haltung wundervoll. Die Rose schaukelte im Gürtel. Jetzt flog der Knabe mit einem Male durch die Luft, ohne daß man einen Abstoß bemerkt hatte, nicht wie ein Akrobat, nein, wie ein Engel. Das Herabfallen aus dem Raum auf den Boden war namentlich unvergleichlich schön. Der erste Tritt auf dem Boden war zugleich der erste Schritt zu einem leise hin und her wiegenden Tanz. Welche Grazie, sagte man. Wie männlich doch noch, sagten die Damen. Wie kindlich einfach, sagten anwesende große Künstler.[S. 46] Eine Baronin, die Baronin von Wertenschlag, warf dem Tanzenden ein Veilchenbukett zu. Er erhaschte es mit dem Mund an seinem kleinen Stiel. Man jubelte über die süße, zartsinnige Geschicklichkeit. Ein junger Gott ist er, der Sohn einer Göttin, so sagte man wieder.

Auf einmal schoß aus der Kulisse eine zischende, rote Kugel hervor, rollte bis vor die Füße des Tanzenden, dieser sprang mit einer leichten Hebung des Beines hinauf und die Kugel rollte mit dem Knaben davon, dem Hintergrund zu, der, so schien es, in einen Abgrund verlief. Jetzt sah man nichts mehr.

Es ist die Sonne, die ihn davongetragen hat, sagte eine Dame.

Nein, der Mond, sagte ein Mann.

Nein, sein Herz, sagte ein Mädchen, und errötete.

Die Mutter des Mädchens schaute es groß und gütig an, nahm es dann beim Köpfchen, streichelte es und küßte es.

[S. 47]

Unterdessen fragten die Kellner, ob Bier gefällig sei.

Spitzbuben!

Dann trat eine große, vornehm gekleidete Dame auf die Bühne und sang Lieder. Ein Lied ist ein Schmerz! Es gibt keine lustigen Lieder, nur lustige Sinnesarten, Gemüter! So empfand man, und dann ging man nach Hause.

Die Baronin Wertenschlag stieg mit gesenkten Augen und träumend in ihren Wagen. Ein Dichter komplimentierte. Der Kutscher rollte davon. So ein Flegel von Kutscher!


[S. 48]

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Seltsame Stadt

Es war einmal eine Stadt. Die Menschen darin waren bloß Puppen. Aber sie sprachen und gingen, hatten Gefühl und Bewegung und waren sehr höflich. Sie sagten nicht nur: Guten Morgen, oder: Gute Nacht, sie meinten es auch, und zwar herzlich. Herz hatten diese Menschen. Daneben waren sie vollkommene Städter. Das Bäuerliche und Grobe hatten sie, gleichsam unwillig, sanft abgeschüttelt. Der Schnitt sowohl[S. 49] ihrer Kleider als ihres Betragens war der feinste, den man sich, ist man Menschenkenner oder Berufsschneider, nur denken kann. Alte abgetragene und am Leib schlotternde Kleider trug kein Mensch. Der Geschmack war in einen jeden einzelnen hineingedrungen, einen sogenannten Pöbel gab es nicht, alle waren sich in Manier und Bildung vollkommen gleich, ohne sich doch ähnlich zu sein, was wieder langweilig gewesen wäre. Auf der Straße sah man auf diese Weise eben nur schöne, elegante Menschen mit edlem, freiem Betragen. Die Freiheit wußten sie auf das feinste zu handhaben, zu leiten, zu zügeln und zu bewahren. Deshalb kamen nie Ausschreitungen in bezug auf öffentlichen Anstand vor. Verletzungen der schönen Sitte gab es ebensowenig. Die Frauen namentlich waren herrlich. Ihre Kleidung war ebenso entzückend wie praktisch, ebenso schön wie lockend, ebenso anständig wie reizend. Das Sittliche lockte! Die jungen Männer spazierten abends hinter[S. 50] diesem Lockenden einher, langsam, wie träumend, ohne in hastige, gierige Bewegungen zu verfallen. Die Frauen gingen in einer Art Hose einher, einer meist weißen oder hellblauen Spitzenhose, die gegen oben in eine engschließende Taille verlief. Die Schuhe waren farbig, von feinstem Leder und hoch. Entzückend war, wie sich die Schuhe den Füßen und dann dem Bein anschmiegten, und wie das Bein es fühlte, daß es von etwas Kostbarem umgeben war, und wie die Männer es fühlten, wie das Bein es fühlte! Das mit dem Hosentragen hatte das Gute, daß die Frauen Geist und Sprache in ihren Gang legten, der, unter dem Rock verborgen, sich weniger betrachtet und beurteilt fühlt. Es war überhaupt alles ein Fühlen. Die Geschäfte gingen glänzend, weil die Menschen lebhaft, tätig und brav waren. Brav waren sie aus Bildung und Taktgefühl. Einander die leichte, schöne Existenz streitig machen, das mochten sie nicht. Geld war genug vorhanden und für[S. 51] alle genug, weil alle so vernünftig waren, zu allererst fürs Notwendige zu sorgen, und weil alle es allen leicht machten, zu schönem Geld zu kommen. Sonntage gab es keine, ebensowenig eine Religion, um deren Satzungen willen man sich hätte streiten können. Die Vergnügungsorte waren die Kirchen, in denen man sich zur Andacht versammelte. Lust war diesen Menschen eine heilige, tiefe Sache. Daß man in der Lust reinlich blieb, war selbstverständlich, denn alle hatten das Bedürfnis dazu. Dichter gab es keine. Dichter hätten solchen Menschen nichts Erhebendes, Neues mehr zu sagen gewußt. Es gab überhaupt keine Berufskünstler, weil Geschicklichkeit zu allerhand Künsten zu allgemein verbreitet war. Das ist gut, wenn Menschen nicht der Künstler bedürfen, um zur Kunst aufgeweckte und begabte Menschen zu sein. Diese waren es, weil sie gelernt hatten, die Sinne als etwas Köstliches zu hüten und zu benützen. Man brauchte nicht Redensarten in Büchern nachzuschlagen,[S. 52] weil man selber seine, laufende, wache und zitternde Empfindung hatte. Man sprach schön, wo man auch Anlaß nahm zu sprechen, man hatte die Herrschaft der Sprache, ohne zu wissen, wie es kam, daß man sie bekommen. Die Männer waren schön. Ihre Haltung entsprach ihrer Bildung. Es gab vieles, an dem man sich ergötzte, mit dem man sich beschäftigte, aber es geschah alles in Beziehung auf die Liebe zu schönen Frauen. Es wurde alles in feine und träumende Beziehung gebracht. Gefühlvoll sprach und dachte man über alles. Geschäftssachen wußte man empfindlicher, edler und einfacher zu besprechen, als es heute geschieht. Es gab keine sogenannten höheren Dinge. Ein solches sich nur vorzustellen, das wäre für diese Menschen, die alles schön nahmen, was war, einfach unleidlich gewesen. Alles was geschah, geschah lebhaft. So? Wirklich? Was für ein dummer Kerl ich bin! Nein, mit dieser Stadt und diesen Menschen ist es absolut nichts. Das hat keine[S. 53] Wirklichkeit. Das ist aus der Luft gegriffen. Fahr ab, Bursche!

Da ging der Bursche spazieren und setzte sich auf eine Gartenbank. Es war Mittag. Die Sonne schien durch die Bäume und machte Flecken auf den Weg, auf die Gesichter der spazierenden Menschen, auf die Hüte der Damen, auf den Rasen, es war spitzbübisch. Die Spatzen hüpften leicht umher und Kindermägde rollten mit Kinderwägelchen. Es war wie ein Traum, wie ein bloßes Spiel, wie ein Bild. Der Bursche lehnte seinen Kopf in seinen Ellenbogen und ging auf in dem Bild. Plötzlich stand er auf und ging weg. Nun, das ist seine Sache. Dann kam der Regen und verwischte das Bild.


[S. 54]

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Der Greifensee

Es ist ein frischer Morgen und ich fange an, von der großen Stadt und dem großen bekannten See aus nach dem kleinen, fast unbekannten See zu marschieren. Auf dem Weg begegnet mir nichts, als alles das, was einem gewöhnlichen Menschen auf gewöhnlichem Wege begegnen kann. Ich sage ein paar fleißigen Schnittern »guten Tag«, das ist alles; ich betrachte mit Aufmerksamkeit die lieben Blumen,[S. 55] das ist wieder alles; ich fange gemütlich an, mit mir zu plaudern, das ist noch einmal alles. Ich achte auf keine landschaftliche Besonderheit, denn ich gehe und denke, daß es hier nichts Besonderes mehr für mich gibt. Und ich gehe so, und wie ich so gehe, habe ich schon das erste Dorf hinter mir, mit den breiten großen Häusern, mit den Gärten, welche zum Ruhen und Vergessen einladen, mit den Brunnen, welche platschen, mit den schönen Bäumen, Höfen, Wirtschaften und anderem, dessen ich mich in diesem vergeßlichen Augenblick nicht mehr erinnere. Ich gehe immer weiter und werde zuerst wieder aufmerksam, wie der See über grünem Laub und über stillen Tannenspitzen hervorschimmert; ich denke, das ist mein See, zu dem ich gehen muß, zu dem es mich hinzieht. Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche sich erlaubt, über Wege, Wiesen,[S. 56] Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir, und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann. Lassen wir sie doch in ihrer althergebrachten Überschwenglichkeit selber sprechen: Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser, und zwar so dem Himmel ähnliches Wasser, daß es nur der Himmel und jener nur blaues Wasser sein kann; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen. Ich komme zu keinen Worten, obgleich mir ist, als mache ich schon zu viel Worte. Ich weiß nicht, wovon ich reden soll; denn es ist alles so schön, so alles der bloßen Schönheit wegen da. Die Sonne brennt herab vom Himmel in den See, der ganz wie Sonne wird, in welcher die schläfrigen Schatten des umrahmenden[S. 57] Lebens leise sich wiegen. Es ist keine Störung da, alles lieblich in der schärfsten Nähe, in der unbestimmtesten Ferne; alle Farben dieser Welt spielen zusammen und sind eine entzückte, entzückende Morgenwelt. Ganz bescheiden ragen die hohen Appenzellerberge in der Weite, sind kein kalter Mißton, nein, scheinen nur ein hohes fernes verschwommenes Grün zu sein, welches zu dem Grün gehört, das in aller Umgebung so herrlich, so sanft ist. O wie sanft, wie still, wie unberührt ist diese Umgebung, wird durch sie dieser kleine, fast ungenannte See, ist selber also so still, so sanft, so unberührt. — Auf eine solche Weise spricht die Beschreibung, wahrlich: eine begeisterte, hingerissene Beschreibung. Und was soll ich noch sagen? Ich müßte sprechen wie sie, wenn ich noch einmal anfangen müßte, denn es ist ganz und gar die Beschreibung meines Herzens. Auf dem ganzen See sehe ich nur eine Ente, welche hin und her schwimmt. Schnell ziehe ich meine Kleider aus[S. 58] und tu wie die Ente; ich schwimme mit größter Fröhlichkeit weit hinaus, bis meine Brust arbeiten muß, die Arme müde und die Beine steif werden. Welch eine Lust ist es, sich aus lauter Fröhlichkeit abzuarbeiten! Der eben beschriebene, mit viel zu wenig Herzlichkeit beschriebene Himmel ist über mir, und unter mir ist eine süße, stille Tiefe; und ich arbeite mich mit ängstlicher, beklemmter Brust über der Tiefe wieder ans Land, wo ich zittere und lache und nicht atmen, fast nicht atmen kann. Das alte Schloß Greifensee grüßt herüber, aber es ist mir jetzt gar nicht um die historische Erinnerung zu tun; ich freue mich vielmehr auf einen Abend, auf eine Nacht, die ich hier am gleichen Ort zubringen werde, und sinne hin und her, wie es an dem kleinen See sein wird, wenn das letzte Taglicht über seiner Fläche schwebt, oder wie es sein wird hier, wenn unzählige Sterne oben schweben — und ich schwimme wieder hinaus. —


[S. 59]

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Der Waldbrand

Noch konnte man nichts bemerken, aber mit einem Male stand der ganze Berg in roten Flammen. Die herrlichen, breitgewachsenen Eichen brannten wie leichte Zündhölzer herunter,[S. 60] die weißen Felsen liefen schwarz an von der Glut, die an ihnen hinaufleckte. In der Stadt sahen die Menschen mit Fernrohren zu dem feurigen Schauspiel hinauf, und im See, am Fuße des Berges gelegen, spiegelte sich der schreckliche Brand in wundervollen Farben wider. Unten in den Straßen liefen und schrien und hüteschwenkten die erregten Bürger. Einzelne mieteten Boote, fuhren in den See hinaus, um aus gehöriger Entfernung den Anblick zu genießen, unter diesen Genußmenschen befanden sich junge Dichter und Maler, sogar ein Musiker war dabei, der die brennende Welt auf sein tönendes Innenleben wirken ließ. Ob er später einmal eine Symphonie daraus gemacht hat, ist bis heute noch nicht ermittelt worden. Die Feuerwehr war natürlich solch einem Naturbrande gegenüber absolut machtlos; nichtsdestoweniger läuteten die Glocken und hornten die Hörner und sprangen auf Wagen die Spritzen und deren Bedienung umher. Die[S. 61] Stadträte waren durch Eilboten oder Telephon und Telegramme zu einer Sitzung berufen worden. In den stillen, verborgenen Teichen, die in alten, herrschaftlichen Gärten schlummerten, leuchtete es und warf Flecken von Brand und Glut hinein, daß ein Mensch, wenn er vorbeiging, es sehen mußte. Das Glockenläuten wollte absolut nicht aufhören. Die Flammen da oben schienen die Glocken in Bewegung zu setzen, immer stärker, immer stürmischer, hin und her, mit Getöse und Getön, verschiedene Glocken wie eine einzige Übermächtige loslassend; zu Fenstern, die nie geöffnet wurden, steckte heute eine alte Mannes- oder Frauensperson, eine treue, von der Welt gar nicht gekannte Magd, oder ein Herr mit Habichtsnase und schneeweißem Haar den Kopf heraus, um zu sehen, zu hören und weiß nicht was sonst noch zu machen. Der unsichtbare, geläufige Schrecken lief durch die Gassen, klopfte an alte Gartentore, stieg über Mauern und traf die Stirne[S. 62] eines Fräulein, welches am Fenster stickte; der Schreiner hatte seine Hobeln aufgesteckt, der Schlosser sein Hämmern, der Schuster sein Klopfen, der Schneider sein Stechen, der Handlanger auf den Bauplätzen sein Schaufeln, der Totengräber sein Graben, der Uhrmacher sein Polieren, der Gelehrte sein Studium, alles hatte einen neuen und einen gleichen Beruf bekommen, den des bangen Abwartens, wie das enden würde. Aus den umliegenden, über die Felder und Hügel verstreuten Ortschaften lief es herbei, ein Gerassel von Beinen, Köpfen und Armen; Fuhrwerke sprangen, Radfahrer radelten, Weiber schrien, Kinder, die gestoßen wurden, weinten, fielen um und erhoben sich wieder; am Bahnübergang gab es eine Stockung von Menschen, Rädern und Schimpfworten, bis der Eisenbahnzug vorbeifuhr und man durchkonnte. Immer dieses Geläute und diese schreckliche Röte, als ob irgendwo, in einer räuberischen Ecke, die Welt angezündet worden wäre,[S. 63] von einem krassen, übernatürlichen Spitzbuben, von einem Gott; als ob die Glocken ohne die Röte nicht hätten läuten und schallen können, als ob der Tag, wie ein in zornige Scham gehülltes Gesicht, mit diesem feurigen Rot unbedingt hätte überzogen werden müssen. Manchmal sah es wie eine groß angelegte, dekorative, freskohafte Wandmalerei aus, Feuerbrand darstellend, bis ein Laut dazu kam, der einen wieder an die plastisch-bewegliche Wirklichkeit erinnerte. Jetzt wiederum schien es mehr am Himmel als auf der Erde zu brennen, so sehr hatte das Feuer den Himmel gerötet. Die untergehende Sonne schien ein mattes Lämpchen dagegen zu sein, nicht imstande, noch ein einziges Auge an sich zu ziehen. Oftmals hielten die Hornrufe inne, als müßten sie Atem geschöpft haben, um zu erneuten Leistungen zu gelangen. Stundenweit, hieß es später in den Zeitungen, sah man das herrlich-traurige Farbengemälde, und die entfernten Menschen stießen sich in den fernen[S. 64] Wohnungen, Straßen, Plätzen, Promenaden und Arbeitsstätten an und sagten: du, sieh, was ist das für ein Schein, dort in der Ferne? Dann wurde es Nacht, aber niemand wagte, sich niederzulegen und zu schlafen; die Lampen wurden angezündet in den Zimmern, und um die Familientische vereinigt saßen Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Bruder, Kind und Schwester und Tante und Schwager, und sprachen miteinander von der Waldfeuersbrunst und von dem furchtbaren Schaden, den sie angerichtet hatte. Viele Leute gingen hinauf zu der weiten, sich über den ganzen, breiten Berg erstreckenden Brandstätte, die noch zischte und dampfte und knisterte in ihrem Verlöschen. Andern Tags erblickte jedermann statt des grünen einen schwarzen, rauchenden Berg, der schöne Wald war verbrannt, alle die heimlichen Lustplätze, das Moos über dem hohen Felsen, das Dickicht der Pflanzen und Sträucher, die hohen Tannen und Eichen mit ihren Armen voll grünen, süßen[S. 65] Laubes, alles das ist ein jammervoller Anblick gewesen und der materielle Schaden ein beinahe tödlich verwundender. Man ist nie dahintergekommen, wer den Brand verursachte, aber man vermutet, es seien Schuljungens gewesen, die sich mit allerhand Feuerzeug von jeher gern im Wald herumgetrieben haben. Ein Maler hat davon ein Gemälde gemacht, er heißt Hans Kunz, ist ein Trunkenbold und ein Verächter aller guten und wohlgefälligen Sitten. Das Bild wird im Rathaussaal aufgehängt werden, zum fortdauernden Andenken an das große, Wald-, Berg- und Gemeindeunglück.


[S. 66]

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Der Park

Wachehabende Soldaten sitzen auf einer Bank neben dem Portal, ich trete ein, zu Boden gefallene, dürre Blätter fliegen und wirbeln und rollen und rühren mir entgegen. Das ist ungemein lustig und zugleich gedankenvoll; das Lebhafte ist immer gedankenvoller als das Tote und Traurige. Parkluft grüßt mich; die vielen tausend grünen Blätter der hochaufragenden Bäume sind Lippen, die mir guten[S. 67] Tag sagen: Auch schon aufgestanden? In der Tat ja, ich wundere mich selber. So ein Park, das ist wie ein weites, stilles, abgesondertes Zimmer. Übrigens ist es in einem Park eigentlich immer Sonntag, denn es ist immer ein bißchen wehmütig, und das Wehmütige erinnert lebhaft an zu Hause, und Sonntage hat es ja eigentlich nur zu Hause gegeben, wo man ein Kind gewesen ist. Etwas Elterliches und Kindliches haben Sonntage. Ich gehe weiter unter den hohen, schönen Bäumen, wie das leise und freundlich rauscht, ein Mädchen sitzt allein auf einer Bank, sticht mit dem Sonnenschirm in den Boden, hält den hübschen Kopf gesenkt und ist in Gedanken versunken. Was mag sie denken? Will sie eine Bekanntschaft machen? Eine lange, hellgrüne Allee tut sich auf, einzelne Menschen begegnen mir, die Bänke sind indessen ziemlich spärlich besetzt. Wie die Sonne so scheinen mag, so für gar nichts. Sie küßt die Bäume und das Wasser des künstlich angelegten Sees,[S. 68] ich betrachte ein altes Geländer und lache, weil es mir gefällt. Heutzutage ist es Mode geworden, vor alten eisernen Geländern stehen zu bleiben und deren solide, zierliche Arbeit zu bewundern, was ein bißchen dumm ist. Weiter. Ein Bekannter steht plötzlich vor mir, es ist Kutsch, der Schriftsteller, er erkennt mich nicht, während ich ihn doch freundlich grüße. Was hat er? Übrigens hatte ich immer geglaubt, er sei in die afrikanischen Kolonien gegangen. Ich eile auf ihn zu, da verschwindet er mit einem Male; tatsächlich, es ist nur eine alberne Einbildung von mir gewesen, der Platz unter der hohen Eiche, wo ich ihn zu sehen glaubte, ist leer. Eine Brücke! Wie das Wasser unter der Sonne glitzert und schimmert, so zauberhaft. Aber es fährt hier niemand im Kahn, das gibt dem See etwas Verschlafenes, es ist, als ob er nur gemalt daläge. Junge Leute kommen. Merkwürdig, wie man sich an solch einem Sonntagvormittag in die Augen schaut,[S. 69] als ob man sich gegenseitig etwas zu sagen hätte, aber man hat sich nicht das geringste zu sagen, sagt man sich. Ein kleines, entzückend schlankgebautes Schloß ragt vor mir zwischen Bäumen in die weißlich-blaue Luft. Wer mag hier gewohnt haben? Vielleicht eine Mätresse, ich hoffe es, der Gedanke ist anziehend. Hier mag es einstmals von hohen und höchsten Herrschaften gewimmelt haben, Droschken und Kaleschen und Diener in grünen und blauen Livreen. Wie verlassen und vernachlässigt jetzt das edle Gebäude aussieht! Gottlob beachtet man es nicht, denn wenn der Baumeister käme und es mit Hilfe einer Gelehrtenbrille renovierte, man gestatte mir, diese Idee unabgewogen hinunterzuschlucken. Was ist aus uns Volk geworden, daß wir das Schöne nur noch in Träumen besitzen dürfen. Eine alte Frau und ein alter Mann sitzen da, ich gehe vorüber, auch an einem lesenden Mädchen gehe ich vorüber, es geht nicht gut an, ein Liebesabenteuer mit den Worten[S. 70] anzufangen: Was lesen Sie da, Fräulein. Ich gehe ziemlich rasch und plötzlich bleibe ich stehen: Wie schön und still ist so ein Park, er versetzt einen in die abgelegenste Landschaft, man ist in England oder in Schlesien, man ist Gutsherr und gar nichts. Am schönsten ist es, wenn man scheinbar das Schöne gar nicht empfindet und nur so ist wie anderes auch ist. Ich blicke ein wenig zum stillen, halb grünen Fluß hinunter. Übrigens ist ja alles so grün, und grau, das ist eigentlich eine Farbe zum Schlafen, zum die Augen zudrücken. In der Ferne, von Blättern umschlossen, sieht man das bläuliche Kleid einer sitzenden Dame. Zigaretten darf man hier auch nicht rauchen, ein Mädchen lacht hell auf, sie geht zwischen zwei jungen Herren, von denen der eine sie umschlungen hält. Wieder eine Aussicht in eine Allee, wie schön, wie still, wie merkwürdig. Eine alte Dame kommt auf mich zu, das feine, blasse Gesicht von Schwarz umrahmt, diese alten, klugen Augen. Offen gestanden,[S. 71] ich finde es prachtvoll, wenn eine vereinzelte alte Dame durch eine grüne Allee geht. Ich gelange zu einer Blumen- und Gewächsanlage, wo auf einer hübschen Bank im Schatten ein Jude sitzt. Hätte es vielleicht ein Germane sein sollen, würde das besser gewesen sein? Eine kleine Statue steht mitten unter Blumen, es ist eine kreisrunde Anlage, ich gehe langsam rund herum, da kommt wieder das lesende Mädchen, es liest jetzt gehend, es lernt halblaut französisch. Diese wundervolle Langeweile, die in allem ist, diese sonnige Zurückgezogenheit, diese Halbheit und Schläfrigkeit unter Grün, diese Melancholie, diese Beine, wem seine, meine? Ja. Ich bin zu faul, Beobachtungen zu machen, sehe auf meine Beine herab und marschiere weiter. Ich sage ja, Sonntage gibt es nur an Familientischen und auf Familienspaziergängen. Der erwachsene, einzelstehende Mensch ist dieses Vergnügens beraubt, er kann, wie Kutsch, jede Stunde nach Afrika abdampfen.[S. 72] Überhaupt, welch ein Verlust, fünfundzwanzig Jahre alt geworden zu sein. Es gibt anderes dafür, aber von diesem anderen mag ich jetzt nichts wissen. Ich bin jetzt auf der Straße und rauche und trete in eine bürgerliche Kneipe ein, und hier bin ich auch sogleich Herr der Umgebung. Schöner Park, schöner Park, denke ich da.


[S. 73]

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Illusion

Ich besaß doch wenigstens eine Landkarte, sie hing an der Wand meines Schreibzimmers, und da konnte ich, soviel ich Lust hatte, mit der Nasen- oder Fingerspitze in der weiten Welt umherreisen. Das große weitschweifige Rußland entzückte mich schon als Körper. Mitten in diesem mächtigen Körper lag ganz wie ein fester, schöner, ehrlicher Mittelpunkt[S. 74] in einer Mitte die Stadt Moskau, die der Schnee versilberte. Schlitten, ganz kleine und zierliche, flogen, von munteren Pferden gezogen, im Schnee durch die merkwürdigen Straßen dahin. Herrlich strahlten, als es begann dunkel zu werden, aus den Fenstern der fürstlichen Paläste die Lichter, und herrlich war es, zu sehen, wie aus manchem Fenster sich anscheinend süße und schöne Frauengestalten hervorbeugten. Lieder, uralte russische Lieder, von der nationalen Wehmut verzaubert, tönten mir bestrickend nach. Ich trat in ein Vergnügungshaus hinein, und da konnte ich ihnen in die Augen schauen, den stolzen russischen Frauen. Sie lächelten, aber unnennbar verächtlich, so als liebten sie dieses Leben und verschmähten es gleichzeitig. Wundervolle Tänze wurden aufgeführt, feenhaft schöne Malereien schmückten die Wände der Säle von oben bis unten. Unedles erblickte ich fast gar nichts, sei es, daß mir die Augen überliefen vom sichtbaren und[S. 75] unsichtbaren Entzücken, sei es, daß mich das Vorurteil, alles schön zu finden, beseelte. Ich setzte mich an einen der reichgedeckten Tische und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Weine wurden mir kredenzt von großen, mützenbedeckten Leuten; da schritt eine Frau, Dame vom Wirbel bis zur Sohle, auf mich zu, und da sie sich vom Anstand, den ich, beglückt wie ich war, zur Schau trug, überzeugte, setzte sie sich unter einer artigen, unaussprechlich anmutvollen Verbeugung zu mir an den Tisch und befahl mir in der Sprache, die jeder Liebende versteht, ihr ein Glas Wein einzuschenken. Sie nippte am Glas wie ein Eichhörnchen. Im Verlauf unserer Unterhaltung, sonderbar, ich verstand mit einemmal gut Russisch, bat ich sie, mir die Hand zum Kuß darreichen zu wollen. Sie ließ sie mir und mich durchrieselten Wonnen, als ich meine Lippen auf dieses blasse, süße, schneereine und weiße Wunder drücken durfte, mir war es, als sauge ich einen neuen Glauben[S. 76] an Gott ein durch die Berührung und Bewegung, der ich mich mit Seelengewalt und -lust hingab. Sie lächelte und nannte mich einen netten Menschen. Und dann, und dann, weh mir Elendem, verschwand das alles und ich saß wieder im schriftstellernden, gedankenvollen Zimmer. Neue Ideen strömten auf mich ein, es war mir, als müsse ich Felsblöcke fortwälzen. Es war schon Nachmitternacht geworden, ich trat, umnebelt von Einbildungen, ans offene kalte Fenster und überließ mich dem Anblick der überwältigenden Stille.


[S. 77]

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Theaterbrand

Es war damals eine eigentümliche Zeit. Man muß über die Einzelheiten der damaligen sozialen Weltordnung schweigen, weil man darüber in zu großen Zorn geraten müßte. Eine unerhörte Verschwendungs- und Genußsucht, ein Luxus ohnegleichen herrschte, wo man auch hinkam. Die Persönlichkeit galt alles. Der Kühnheit[S. 78] und dem Ehrgeiz war alles gestattet. Der Geldsack schrieb die Gesetze vor. Trotz dem Elend, in dem die Armen lebten, gab es entsetzlich viel Menschen, derart, daß auf einzelne Menschenleben nicht das geringste Gewicht gelegt wurde. Eine Polizei gab es damals ebensowenig wie eine Kirche; der Mörder konnte ungestraft morden, der Dieb stehlen, der Ungläubige spotten, der Starke triumphieren, die Kraft beleidigen, wann und wo und wen sie wollte. Der Degen oder die Pistole in der Hand war die einzige Waffe, Ungebühr abzuwehren. Dazumal mußte sich jeder einzelne selber wehren und Recht und Billigkeit verschaffen. Etwas allerdings besaß diese schreckliche Epoche: ein glänzendes Theater. Die Schauspieler glichen edlen, gewandten Rittern von Geblüt, so vortreffliche Manieren besaßen sie und mit soviel ausgesuchter Feinheit wußten sie sich auf der Bühne zu bewegen. Auch was die Sprache betrifft, waren sie erlesene und gut[S. 79] erprobte Meister. Malerei und Dichtung blühten in der üppigsten Weise trotz den Gefahren des Alltags; ja man möchte sagen, daß diese edlen Blumen vielleicht gerade um der Schutzlosigkeit willen, welcher sie ausgesetzt waren, zu so unübertroffen schönen Blüten und Düften gelangten. Und erst die Baukunst. Die Städte glichen zu jenen Zeiten architektonischen Märchen. Entzückend luftig wölbten sich die schlanken Brücken über die zahlreichen tiefen Kanäle. Die hohen Fassaden der Häuser trotzten einen stolzen, schlimmen, aber schönen Geist aus. Wie gesagt. Na ja.

Eines Nachts, es wird so gegen zehn Uhr gewesen sein, brach in einem der zahlreichen Theater der Hauptstadt jenes von uns modernen Menschen gottlob weit entfernten und in die Zeiten zurückversunkenen Reiches Feuer aus. Hallo, Feuer! so tönte plötzlich ein Schreckensruf. Das Theater war dick voll von Zuschauern, gespickt und geschlagen voll bis hoch[S. 80] oben. Die Galerien erst, die sogenannten Flöhböden, glichen einem wimmelnden Ameisenhaufen. Kopf an Kopf, Atem an Atem, Gesicht an Gesicht saßen dort oben die Menschen aus den unteren Volksschichten. In den Logen saßen Prinzen und Prinzessinnen aus fürstlichen Häusern, prachtvolle, steinkalt scheinende Menschenfiguren. Auch Geldleute, die nirgends fehlen, wo die anmutige Vornehmheit sich zeigt, waren anwesend, mit dito Gemahlinnen mit flach abgezeichneten, weit vorragenden, Wohlleben ausstrahlenden Brüsten. Diamanten blitzten an Hälsen, Perlen an nackten Armen, und die schmiegsamen, ringgeschmückten Hände hielten einen Fächer, ein Spitzentuch oder ein Glas zwischen den Fingern. In der Mitte der Theaterdecke hing ein herrlicher Kronleuchter, blendendes Licht ausstreuend, nieder. Das Orchester spielte. Solche Menschen, die sich an den Darbietungen der Bühne satt geschaut hatten, promenierten in den Gängen hin und[S. 81] her, lustig und nachdenklich, geziert und schön, getragen und einfach, in jeder Tonart, in allen nur erdenklichen Schrittarten. Aber Feuer, Feuer! Kein Mensch kümmert sich jetzt um Tonarten.

Zu jenen liederlichen Zeiten gab es kaum eine Feuerwehr, aber absolut keine Brandvorsichtsmaßregeln. Zuerst schlug die Flamme, als wäre es ein ergötzliches Schauspiel gewesen, zum Bühnenraum heraus. Einige wollten schon in die Hände klatschen und bravo rufen, aber jetzt merkten sie plötzlich, sei es an der Blässe nachbarlicher Gesichter, sei es an irgendeiner unhörbaren Schreckensstimme, die nicht das Ohr, sondern die Seele zu vernehmen pflegt, daß es eine ernsthafte Flamme war, die da hervorsprang, ein Tier, ein furchtbares, mit dem nicht zu spaßen war. Auch jetzt gab es aber noch etliche, die nichts von dem Tiger wußten, der da urplötzlich geboren worden und zum Herrscher des Theaterabends geworden war. Die[S. 82] Schauspieler, die gerade spielten, schrien laut auf und flüchteten vom Kunstfeld weg, und nun schrie auch das Publikum. Auf den Galerien erhob sich eine neue Art Untier: die Angst. Jede neue Minute schien jetzt irgendein neues Ungeheuer gebären zu wollen. In einer der Logen, die der Adel besetzte, stand an eine goldene Säule gelehnt Ritter Josef Wirsich, einer jener Edelleute, die dem sichern Tod pflegen ruhig ins Auge zu sehen. Dieser furchtbare Mensch verzog keine Miene, keinen Zug, keine Muskel seines stahlharten Gesichtes. Er schaute gleichgültig auf ins Furchtbare, das jetzt geschah, und blieb unbeweglich.

Man muß nicht glauben, daß es zu den damaligen Zeiten eiserne Schutzvorhänge, Rolladen oder derartiges gab. Nein, jenes Geschlecht hatte für solche oder ähnliche Dinge kein Verständnis. Und nun das neue Tier, das da eben aufstund: der panische Schrecken! Jetzt, Mensch, verzweifle an den Künsten deiner Kultur. Es[S. 83] gab jetzt einige ganz Kopflose, Verstürmte und Verzweifelte, die sich, da sie keine Rettung mehr sahen, von der Galerie mit dem unsinnigen Kopf voran in die Tiefe des Theaterraumes stürzten, auf Leute, die dort unten stehen und warten mußten, herab, auf Frauen herab, die verzweiflungsvoll und herzenzerreißend schrien, auf Knaben, die zum erstenmal in ihrem Leben ins Theater gehen durften. Das Verderben nahm ebenso grauenhafte wie geradezu lächerliche Gebärden an. Zwei oder drei Menschen wurden durch den Ton der grausigen Angstschreie vorzeitig getötet. Der Tod verzerrte sein Gesicht sowohl zu den komischsten wie zu den traurigsten Fratzen. Aber Josef Wirsich, der typische Mensch jener Epoche, stand auch jetzt noch, als ob er ein schicksalwendender Gott gewesen wäre, unbeweglich.

Es waren auch Kinder im Theater. Man erbebe nicht, man versetze sich ins Zeitalter und man wird nicht weinen beim Tod eines unschuldigen[S. 84] Kindes. Man versetze sich in beides: ins Zeitalter und in den Unglücksmoment, und man wird eine Furchtbarkeit, die jetzt beginnt, um sich zu greifen, nicht allzu entsetzlich finden. Mütter zertraten ihre eigenen lieblichen Blüten; Männer rissen Kindern ganze Büschel Haare aus, und es gab ein schönes kleines Mädchen, dem mit Füßen ins Augenlicht getreten wurde. Ein Kampf entstand, wie ihn die späteren Kulturen vielleicht nie wieder inmitten des alltäglichen Lebens erlebt haben. Frauen wurden an Säulen und Geländern erdrückt, und unterdessen fingen auch die Menschen an zu brennen, zu brennen, wie Papier brennt. Aber was fürchterlicher brannte als Frauen, das war der erstickende innerliche Jubel, der die Geretteten zu zerfressen drohte, als sie sich gruppenweise draußen in der Kälte und im winterlichen Frost befanden, wo sie sich zu dritt und zu viert, einander schlagend vor Freude, in den knirschenden Schnee warfen. Viele wurden irrsinnig.

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Hunderte von Geängstigten warfen sich zu den Fenstern des ersten, zweiten und dritten Stockwerkes blindlings hinaus, auf den harten Schnee hinunter, wo sie mit zerschmetterten Gliedmaßen liegen blieben. Einige von denen, die derart hinaussprangen, hatten feurige Flügel, ihre Köpfe brannten oder ihre Hände, und sie sahen wie merkwürdige Vögel aus, die schreien aber nicht fliegen konnten. Hundert Menschen lagen im Treppenhaus auf einen rauchenden, verkohlte Äste emporstreckenden Haufen zusammengehäuft. Durch einen von diesen Leichenhaufen arbeitete sich Wirsich hindurch, es gelang ihm, er fing an zu brennen, er verstand das Feuer zu ersticken, er schlug links und rechts mit seinen furchtbaren Kräften aus, er wollte leben, es kam ihm plötzlich der Gedanke, er müsse leben, und er kam lebendig aus dem Rachen des Todes heraus. An der frischen Luft angelangt, gab es ein Rettungswerk für ihn. Er fing mit seinen eisenstarken Armen zu Fenstern herausstürzende[S. 86] Menschen auf. Die Haut seines Gesichtes und seiner Hände hing ihm in schwarzen Fetzen herunter, und dieser Mensch fand den Mut, nachdem er die Brandstätte verlassen hatte, zu seiner Freundin, der Gräfin Nidau zu gehen, die gerade zu dieser Stunde eines ihrer berühmten Gastmähler gab. Er trat dort ein, man schrie auf bei seinem Anblick, und er lachte und bat, indem er seiner Herrin mit seiner verbrannten Lippe die Hand küßte, um die Erlaubnis, seinen Durst löschen und ein Glas Wein trinken zu dürfen.


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Kerkerszene

Maria Stuart: Wie hübsch du bist, Mortimer. Und so jung. Du lernst die Königin von Schottland spät kennen. Nein, schweige. Sage nichts. Ich weiß ja so gut, was du mir sagen willst, aber ich weiß noch mehr: ich weiß, daß du mich liebst, und das kannst du nicht sagen, das zeigst du. Welche schönen[S. 88] Augen; du hast die unschuldigen Augen eines schüchternen Rehes, Mortimer. Wie du die Hand da küssest. Sauge! Dein Mund betet an meiner Hand. Du bist an die rechte Frau gekommen, sie ist gewohnt, daß man sie anbetet. Sie liebt das jedesmal neu. Meine Hand liebt dich, Junge. Willst du kein Junge sein, schmollst du, du machst mir so sonderbare Lippen. Wenn ich zu dir sage: Knabe! so bist du Marias Mann, und das ist ein Knabe. Ich entfeßle die Männer von allen Verpflichtungen. Sie lieben mich, das ist ihre einzige Stärke. Willst du den Degen zücken und Verschwörungen anzetteln? Laß das, ich hasse diese Art akademischer Tapferkeit, das hast du in Rom gelernt, du mußt wissen, das imponiert mir gar nicht. Wenn man so reizend aussieht wie du, darf man nicht wollen in der Welt eine Rolle spielen. Lerne kühn sein zu meinen Füßen. Deine Befreiungspläne hassen mich, aber der Schwung deiner Lippen liebt mich und[S. 89] befreit mich aus dem Kerker. Gib mir ihn, gib Küsse. Dein Mund ist dein Sarg. Schau diese Hand an. Wie schmeckt dir der Hauch? Angeworfen an den Duft dieser Hände stirbst du eines Tages. Dein letztes Röcheln, wenn du blutüberströmt, wie deine beneidenswerten Vorgänger, am Boden liegst, wird mir noch Dank sagen. Sieh zu, daß es nicht soweit kommt, ich wünsche es nicht, aber gib her, noch einmal! Nicht so stürmisch. Du kostest zu wenig! Knabe, du bist verworfen, merke dir das. Dein rascher Untergang steht dir auf der Stirn geschrieben. Sei behutsam. Nicht, nicht so. Lerne in die Wollust die Ehrfurcht zwängen. Laß uns stumme Musik machen, laß uns die Königin von England entthronen. Knie nieder. Bette dich mit dem Kopf in meinen Schoß. So. O, die Pracht dieses Palastes, die Unversiegbarkeit dieses Herrschertums! Ich bin schön, ich empfinde es. Du bist reizend, Mortimer, weil du mich meine Königreiche empfinden[S. 90] machst. Dank. Wie süß es ist, dir durchs Haar zu streichen. Deine schwarzen Locken brennen. Deine vor mir niederstürzende Liebe wirft Elisabeth in Verzweiflung. Was tust du? Suchst du Gott? Da wirst du nie an ein Ende kommen. Laß es lieber. Da? Tu's nicht. Ich möchte deiner Wonne die Spitze nicht biegen. Was für Glieder du hast, und dein Nacken. Es ist mir, als habe er Augen und sähe mich durstig an. Ich verstehe es, Durst zu entflammen. Was kann sie mir rauben, die englische Willkür? Die Freiheit? Nichts mir Unpassenderes. Das Glück? Es liegt mir zu Füßen. Die Machtentfaltung? Ich spüre die höchste. Die Ruhe? Ich werde geliebt. Das Frauentum? Es feiert Triumphe. Sieh mich an, Mortimer. Steh auf, geh jetzt. Du willst nicht? Ich mag es dir nicht befehlen. Deine Wünsche und Lüste umflattern mich wie gezähmte Tauben. Ich ströme Zwang aus, weil ich so viel Wildheit ausströme. Meine Zartheit geht noch über[S. 91] meine Schönheit. Du lächelst. Ich wünsche, du stürbest jetzt. Ich kann die Gnade vergrößern, aber nicht noch versüßen. Laß uns jetzt still sein. Laß uns thronen im Nichts-mehr-Empfinden.


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Lustspielabend

Ich saß auf der Galerie des Lustspielhauses zu Z..., das halbausgetrunkene Bierglas neben mir, den Zigarrenstengel zwischen den Zähnen, neben Studentinnen, Arbeitern und dicken Weibsbildern. Die Luft war schon fast zum Ersticken. Die gipsenen Engel am Plafond des Theaters schienen zu schmachten und zu schwitzen. Ab und zu beugte ich mich über die Brüstung herunter, um zu sehen, was unten los sei. Dort unten saßen an Tischen, dick[S. 93] ineinandergedrängt, junge bessere Leute, Korrespondenten aus Bankhäusern, Studenten mit noblen Schmissen in den Stehkragengesichtern, ältere, feine Herren, die das Leben lieben, und Damen aus anscheinend guter Familie. Auf dem Balkonrang in rotsamtnen Sesseln saß die ganz gute Welt, ich glaubte einige mehr oder weniger ehrwürdige Literaten unterscheiden zu können, unter anderen einen Redakteur, einen Kerl, der sonst immer mit »belletristischen Spaziergängen« aufrückte. Ich kannte ihn ein bißchen. Er sah einem guten braven Schweinemetzger ähnlich, mochte aber trotzdem zu den Feineren zählen. Prachtvolle Damenhüte gab es da, und edle, lange, an den Arm angepreßte Handschuhe bis über die üppigen, biegsamen Ellbogen hinaus. In der Mitte der Saaldecke hing ein Kronleuchter herunter und warf strahlendes Licht auf die Menschen. Da donnerte einer mit kurzen, harten Schlägen auf das Klavier, daß es wie eine mächtig-klangvolle Orgel erbrauste.[S. 94] Der Klavierspieler hatte lange, schwarze, wellige Locken auf dem Kopf und ein schönes Profil am Gesicht. Es kostete nichts, es dürfen betrachtet zu haben. Das herrliche Klavierspiel war der unsichtbare, großbeflügelte, ernste Engel, der mit seinem Gefieder leise an die Sinne der Zuschauer und Zuhörer anschlug. Und dann ging der Vorhang in die Höhe, und das Lustspiel wurde abgehaspelt, als ob es ein Strang Baumwolle gewesen wäre, zwischen zwei Hände gestreckt, daß man es abwinde. Es wurde milliönisch flott gespielt. Der Direktor selber spielte die Hauptrolle. Während der Pausen versank ich jedesmal in tönende Träumereien. Es war mir, als wären die nackten, kühnen, steinernen Figuren zu beiden Seiten der Bühne auf ihren Postamenten lebendig geworden. Eigentlich müßte das alles überflüssig gewesen sein. Das Klavier spritzte mich immer mit Tönen an, hol's der Teufel, ich sah die schlanken Hände des Schlägers und Spielers auf den weißen Tasten[S. 95] auf- und niedertanzen, ich hätte mit dem größten Vergnügen eine halbstündige Pause gehabt. Unter mir, auf dem Balkon, putzte sich eine ältere Dame mit ihrem rasend bespitzten Taschentuch die Nase. Ich fand alles schön und unendlich zauberhaft. Die Kellner fragten, ob Bier gefällig sei. Diese schnurrige Frage kam mir so sonderbar vor. Was waren das für Menschen, die derart an die Leute herantreten und fragen konnten, ob man wünsche, etwas zu trinken? Einer der Kellner hatte ein reines, borstiges Schnurrbartgesicht, man sah nur den großen, gewichsten Schnurrbart und dazwischen ein Paar große, dunkelglühende Augen. Sie schimmerten wie Lichter aus einem Waldesdunkel heraus. Ein anderer war bartlos und krankhaft blaß und elend mager im Gesicht, daß ihm die Backenknochen wie Klippen eines Felsenufers vorsprangen. Diesem nahm ich ein Glas Bier ab, bezahlte sofort und steckte mir einen neuen Zigarrenstumpen in den Mund. Da warf[S. 96] mir das Klavier eine neue, machtvolle Welle ins Gesicht, an die Brust, in die Rockärmel hinein, daß ich glaubte, mich nach einem Handtuch umschauen zu müssen, um mich abtrocknen zu können. Aber die Strahlen des gelblichschimmernden Kronleuchters hatten das schon besorgt, ich brauchte keine Angst zu haben. Da gab es wieder Momente in der Pause, wo ich meinte, meine beiden Augen seien lange, dünne Stangen geworden und hätten die Hand einer der unter mir sitzenden Damen berühren können. Aber sie schien nichts zu merken, sie ließ mich machen, und was ich tat, war doch so unverschämt. Dicht neben mir saß ein herrschaftliches Dienstmädchen, ein lieb aussehendes, kleines, zierliches Ding, ich fragte sie, wie sie heiße, sie sagte es leise. Eigentlich sagte sie es mir mehr mit den Augen und mit ihren beiden, hochrotglühenden Wangen, als mit dem Mund. Sie hieß Anna. Ich bestellte ihr ein Glas Bier und blies ihr Rauch ins Gesicht, um sie[S. 97] lachen zu machen. Wie ihre Augen schwarz und feucht glänzten, es war, als schimmerten zwei kleine Kügelchen aus schwarzem Silber. Unten auf dem Balkon saß die Baronin Anna von Wertenschlag, auch eine Anna, aber eine ganz, ganz andere. Von dem Hut der Baronin fielen lange, geschweifte Federn rückwärts wie sterbende Vögel. Sie zitterten, als ob sie ein leises, unsagbares, menschliches Weh empfunden hätten. Die Frau saß in einem tiefschwarzen Kleid, das gegen unten mächtig gebogen und gebauscht war, Platz für dreie oder viere einnehmend, zwischen zwei jungen, aber, wie es den Anschein hatte, wenig gefährlichen Kavalieren. Sie schien in Gedanken versunken. Da ging der Vorhang wieder auf, und das lustige, kammerzöfliche Stück lispelte weiter. Auf der Bühne geschah es, daß eine reich gewordene Bürgersfrau einer armen Adligen die vornehm ausgestreckte, lässig dargehaltene Hand küssen mußte, weil es die althergebrachte, schöne[S. 98] Sitte erforderte. Nachher aber, wie die Dame von Stand verschwunden war, spottete die Bürgerliche, und gewiß nicht ohne Berechtigung, und spuckte verächtlich auf den Teppich des gräflichen Empfangzimmers aus. Dieses Benehmen erweckte von der Galerie herab ein stürmisches, Sympathie kundgebendes Gelächter. Einer schrie sogar Bravo, das mochte ein adelsfeindlicher Republikaner gewesen sein. Von den unteren Regionen kehrte sich manches Gesicht erstaunt und ein wenig ärgerlich nach oben, zu sehen, wer der Pöbelianer sei, dessen Beifall ein so wenig passender und so überlauter war. Aber die Untensitzenden sollten ihren Ärger denn doch lieber ein wenig zurückgehalten haben, denn schon der nächste Augenblick bewies, daß es auch unter ihnen Pöbelhelden gab. Der Direktor als Ehegatte trat auf, da schmeißt einer der fabelhaft gut angezogenen Studenten, der mit seiner Nase beinahe an die Rampe anstößt, irgendeinen Witz auf die Bühne. Es wird gelacht,[S. 99] und es wird freundlichst angenommen, den Künstler werde es zu einem höflichen Mitlächeln zwingen. Davon aber war keine Spur, der Direktor, mit der Zornesröte im Gesicht und mit dem Zittern des heftigsten Unwillens in der Stimme, wandte sich mit folgender, von verachtungsvollen Gebärden begleiteter Ansprache an das Publikum:

Meine Damen und Herren (was will er, was hat er, was ist hier unten? dachten wir erhöhten Galeriemenschen). Sie haben soeben gehört, wie man mich beleidigt hat. Wäre es einesteils nicht eine Bande von unreifen Buben (die ganze Galerie streckte die Hälse vor), und wären es andernteils nicht respektgebietende Menschen, die ich da, Kopf an Kopf, vor mir sehe, beim Erdenhimmel, ich wollte nicht daran denken, daß ich ein Tiger sei, nein, ich wollte als Mensch in die Rotte hineinspringen, um sie, der ganzen elendiglichen Reihe nach, in die unterste Hölle hinunterzuohrfeigen. Ich habe vieles gesehen[S. 100] und vieles in meinem Künstlerberuf erduldet, wenn mich aber, der ich nun, ein alternder Mann, bald an das Ende meiner Laufbahn angelangt bin, ein junger Affe anspuckt — Verzeihung ...

Und er spielte weiter. Nie wieder in meinem späteren Leben habe ich noch einmal solch eine prachtvoll-seelenvolle Zurückdrängung der persönlichen Wut gesehen. Im ganzen Theater war es pips-mäuschenstill geworden. Ich hätte darauf schwören mögen, die Herzen der Zuschauer pochen gehört zu haben. Nach und nach vergaßen alle den unfeinen Auftritt. Der fragliche Student schien sich erhoben und geräuschlos aus dem Staube gemacht zu haben, wozu er gewiß alle nur denkbare Veranlassung hatte. Annas Brust hatte sich auf- und niedergehoben vor Erregung, jetzt lächelte sie. Das Stück war so friedlich, so wiänerisch, gutes, altes, solides Fabrikat. Es spickte wie aus Spickröhrchen eine Anzahl junger Mädchen aufs Tapet, die alle einen Mann haben wollten und schließlich,[S. 101] das ahnte man schon, auch einen kriegen würden. Schneidige Bureaulisten scheichelten in Sommerhüten, mit Spazierstöcken bewaffnet, umher und hatten so zuckersüße Manieren und so gewählte Worte. Ein Husar in angespannten Hosen und herrlichen Stiefeln machte viel Wesens von sich. Bald war es ein Garten, bald ein ärmliches Zimmer, bald eine Landstraße, bald ein hochherrschaftliches Kabinett, worin gespielt wurde. Um ihm Achtung zu bezeigen, überwarf man den Direktor mit Beifall, das war natürlich dumm und ein wenig roh, und doch dürfte es dem Mimen geschmeichelt haben. Diese Leute wissen ja schließlich zu unterscheiden und haben dabei ihre eigenen Gedanken. Dann gab es wieder eine Pause, und wieder bekam ich eins über den Schädel von der Musik, daß ich ganz wie von selber den Mund auftat, um hinzuhorchen. Anna, das Dienstmädchen, plauderte von den Gewohnheiten ihrer Herrschaft, wobei sie natürlich die Lächerlichkeiten[S. 102] bevorzugte, ich hörte ganz der Musik zu und dazwischen noch halb und halb dem Geplauder. Die Hitze kam wieder, um sich an den Stirnen und unter den Achseln beklemmend anzumelden. Die Kellner sammelten die Biergläser ein, ziemlich unwirsch, und unten um die breitröckige Anna von Wertenschlag herum säuselten und scharwenzelten und tanzschrittelten sie, die Halunken, die wohl wußten, wo's etwa Trinkgelder geben mochte. Die ganze Galerie schwitzte, kochte, dampfte und dunstete. Die dicken Weibsbilder klebten bereits mit ihren Röcken und Unterröcken an den braunlackierten Klappstühlen an, sie sagten es sich und schrien vor Schreck und Genugtuung. Viele wischten sich den Schweiß von der Stirn ab. Anna von Wertenschlag hob den Kopf in die von Gesichtern gesprenkelte Höhe. Welche wundervollen Augen! Dann kam der letzte Akt, und dann ging es nach Hause. Während des Hinaustretens spielte noch einmal der Klaviermann.[S. 103] Die Treppen erbebten unter den hinabpolternden Schritten. Welle auf Welle floß es mir nach, so schön, so groß und so melodiös gute Nacht und auf baldiges Wiedersehen sagend. Draußen regnete es. Die Baronin stieg in den Wagen, und die Kutsche rollte davon.


[S. 104]

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Katzentheater

Ein Schlafzimmer

Es ist Mitternacht vorüber. In einem Bett schläft Muschi, ein kohlrabenschwarzes Kätzchen, in schneeweißen, spitzenbehangenen Kissen. Wie das kleine Kinder zu tun pflegen, schläft Muschi mit offenem Mündchen. Eine ihrer Pfoten hat sie unter den Kopf gelegt, während die andere über den Bettrand herunterhängt. Es sind niedliche kleine Pfoten. Im Zimmer ist es zauberhaft still, und es entströmt ihm ein[S. 105] eigener Duft, ähnlich dem Duft einer Kinderküche, in der gerade etwas ganz Köstlich-Süßes gebacken und gebraten wird. Auch etwas Prinzeßhaftes duftet daraus hervor in den Zuschauerraum. Auf einem Nachttischchen brennt ein winziges Nachtlicht, einer züngelnden Kirschblüte ähnlich, und verbreitet einen milden, rötlichen Schein gegen das Bett zu. Muschi träumt, man merkt das, denn sie zuckt manchmal mit der Pfote und blinzelt ein wenig mit den Augendeckeln. Die Fenster des Zimmers sind von entzückend saubern Gardinen und Umhängen dicht, wie von Schnee, umrahmt. Auch das hat etwas entschieden Kleinkinderhaftes und Blütenartiges. Tisch, Kommode, Sessel und Kleiderschrank sind angenehm und absolut ungezwungen im Raum verteilt. Muschis Kleider liegen neben der Schlafenden auf einem Stuhl. Auf einmal geht eine der Gardinen auseinander, und ein Räuber, das heißt, ein großer Kater als Räuberhauptmann verkleidet, steigt geräuschlos[S. 106] und sich vorsichtig nach allen Seiten umwendend, zum Fenster hinein. Er steckt in Stulpenstiefeln, hat einen hohen, spitzen Hut auf dem Kopf und Waffen im Gürtel. Sein Bart und seine wilden Augen sind schrecklich, und seine Bewegungen sind die eines in der Tat ausstudierten Spießgesellen. Er tritt an das Bett heran, ergreift die kleine, ahnungslose Muschi beim Schopf, zieht sie zu den Kissen heraus, schlägt sie in ein Tuch und tut dann das zappelnde Ding, das schreien will und nicht kann, in einen dafür bereitgehaltenen großen Sack hinein. Zufriedenes Grinsen und Schnurren. Das Orchester spielt eine bald wehklagende, bald leise und spitzbubenhaft-triumphierende Melodie. Drinnen im anderen Zimmer ruft eine Stimme: Muschi, Muschi. Das klingt gesungen und sehr gedehnt. Der Räuber dreht sich schurkengewandt auf den Schuhabsätzen um und macht sich zum Fenster hinaus. Im nächsten Augenblick geht eine Tür auf, und herein tritt[S. 107] im weiten Nachtkleid die Amme der Muschi. Eine Art Frau Wangel ins Katzliche hinüber transponiert. Sie bleibt erstarrt stehen und will miauen. Es ist aber schließlich schon eine ältere Katze, und der Schreck lähmt ihr sowohl die Glieder als die Stimme. Sie sinkt unter kläglichen Gebärden in Ohnmacht. Dann besinnt sie sich und läuft laut miauend, eigentlich beinahe schon mehr menschlich schreiend, zum Zimmer hinaus.


[S. 108]

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Flußgegend mit Turm

Im Turm, ganz hoch oben, brennt ein Licht. Es ist Nacht, und der Sturmwind braust. Die Amme tritt auf, den Regenschirm unter dem Arm. Nach ein paar Schritten gegen das Publikum zu bleibt sie stehen, ermüdet von langen Wanderungen, wie es scheint, zieht das rotgetüpfelte Schnupftuch aus der Rocktasche und hebt ein minutenlanges, rührendes Schluchzen an. Unter anderem putzt sie sich die platteingedrückte[S. 109] Katzennase, wie es alte Frauen, die weinen, zu tun pflegen. Sie hat sich von Hause aufgemacht, um die geraubte Muschi zu suchen, und sie sucht nun schon an die zehn Jahre lang. Sie spricht schon zehn verschiedene Sprachen, weil sie schon durch zehn fremde Länder gegangen ist. Zu Hause sitzt die vornehme Mama von Muschi und ißt beinahe nichts und trinkt nichts, denn sie will und kann sich nicht an den Schmerz gewöhnen, der ihr sagt, sie habe ihr einziges Kind verloren. Die Amme hat denn auch sogleich, ohne eine Miene zu verziehen oder ein überflüssig Wort zu reden, die groben Wanderschuhe angezogen und ist mit ihren alten Beinen bis zu diesem schauervollen Turm gelaufen. Überall hat sie gerufen: Muschichen, Muschichen. Manchmal sogar hat sie in ihrer Seelenangst geschrien: Müschibüschi, Müschimüschichen, und solches zärtliches, unsinniges, dummes Zeug mehr, und nie ist ihr geantwortet worden. Der Amme sind zu verschiedenen[S. 110] Malen von müßigen Witwern Heiratsanträge gemacht worden, auf der Reise, in der Herberge, aber sie hätte eher eine Ohrfeige annehmen mögen, als solch einen schmutzigen Heiratsantrag, der zu nichts gut war, als sie abzulenken von der großen, süßtraurigen Aufgabe ihres Lebens, nämlich, das Müschischüchen suchen zu gehen. Diese ihre Trauer kommt, wie sie so dasteht, beredt zum Ausdruck; jetzt aber wendet sie sich gegen den Turm und bemerkt das kleine Licht in der Höhe. Alsogleich sieht sie sich zu einem kräftigen Miauen veranlaßt, das sich so anhört, als frage sie das Licht etwas. Das Licht blinzelt nur ein ganz klein wenig, wie das schließlich von solch einem Licht auch gar nicht anders zu erwarten gewesen ist. Ist Muschi da oben? fragt die Amme. Keine Antwort. Sage mir doch, liebes Licht, weißt du, wo meine Muschi ist? Keine Antwort. Keckheit das, nicht einmal einer Amme aus vornehmem Haus zu antworten. Also denn[S. 111] nicht? Keine Antwort. Die Amme tritt vom Turm weg. Der Sturm bläst das freche, lieblose Licht aus. Wolken ziehen über die Bühne. Es darf dies als ein Bild entlegenster Einsamkeit gelten. Die Amme weint und macht sich bereit, weiterzugehen. Sie zieht an einem Zipfel den Rock hoch und wischt sich die Augen damit.


[S. 112]

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Eine Singspielhalle

Also soweit hat es nun die Muschi gebracht; an die Varietétheateragenten ist sie verhandelt worden. Laß mal sehen. Wirklich, da steht sie auf der Bühne, in einem erbärmlichen Flitterröckchen, in hohen Schuhen mit geschweiften Absätzen, in knallroten Strümpfen, die bis über die Knie hinaus sichtbar sind, und[S. 113] muß für den Taglohn tanzen. Hübsch ist sie indessen geworden, das kann man auf den ersten Blick sehen, sie ist denn auch die beste Nummer auf dem ganzen Programm. Sie hat was Vornehmes an sich, was Stolzes, das nur von der Abstammung herrühren kann. Die Zuschauerkater sind ganz plebejisch aussehende Kerle mit breiten Mäulern und ziemlich dreckigen Manieren. Mit den Vorderpfoten klappen sie die Bierglasdeckel zu und freuen sich über die ganze stumpfsinnige Bedeutungslosigkeit ihres Tuns. Ein schlechter Dunst weht im Lokal, Kellnerinnen bedienen und wollen immer etwas zum besten bekommen haben. Muschi tanzt, und sowie sie den Tanz beendet hat, setzt sie sich zu anderen Tänzerinnen auf eine samtüberzogene Bank, um sich gelassen angaffen und anwitzeln zu lassen. Ihr Köpfchen hält sie gesenkt, und mit ihren Pfoten spielt sie wie in lange, wehmütige Gedanken verloren mit den knisternden Spitzen ihres Tanzröckchens. Ihre Augen,[S. 114] wenn sie sie aufschlägt, sind so groß, traurig und schön. Es sind gelbe Augen. Man wird nie vergessen dürfen, daß es eben nun einmal, so wie die Dinge liegen, Katzenaugen sind, aber es sind Katzenaugen von der feinsten und edelsten Sorte. Ein unauslöschlicher Kummer, mit einer unauslöschlichen Erinnerung verbunden, scheint darin zu brennen. Da will sie ein Kerl von unten her an das in der Tat fesche Bein fassen, pfui, mit den Saupfoten. Sie versetzt ihm einen heftigen Stoß mit dem scharfkantigen Stiefelabsatz ins breite Schnauzengesicht hinein, daß er laut miauend davonläuft, um dem Herrn Wirt Anzeige zu erstatten. Leider ist es nun gerade ein guter Duzfreund des Wirtes. Dieser stürzt vor und ohrfeigt die Muschi, die nun in Tränen ausbricht. Die Kellnerinnen, die dem Gast flattieren wollen, sagen, das sei recht, so gehöre es sich, nur munter in die Fresse gehauen, das sei gesund für solch ein Stolztruthähnin. Muschi weint und muß weinend tanzen,[S. 115] sie tanzt aber so schmerzlich schön, daß es den wüstesten Schmierfinken nicht mehr erlaubt ist, aus irgendeiner innern Ahnung heraus, sie noch ferner zu belästigen. Der feuchte Glanz in Muschis großen Augen hat sie energisch eingeschüchtert. Die Kater brüllen Bravo und klatschen in die Pfoten und lecken das ausgeschüttete Bier von den Tischen ab. Der Wirt, ein urgelungenes, dickes Tier, macht eine unendlich komische wichtige Miene.


[S. 116]

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Vornehme Straße mit Gartengitter

Zehn Jahre sind wieder verflossen. Die Ammenkatze tritt auf, auf einen Knotenstock herabgebeugt, halb blind von dem vielen Suchen: Zehn Jahre, zwanzig Jahre, und damals, als sie im Bettchen lag, war sie vier Jahre alt, eins dazu, das macht fünfundzwanzig, denkt sie und versucht, mit der alten Schnauze[S. 117] zu lächeln. O, was für ein uraltes, verwittertes Lächeln das ist. Das bröckelt vom Mund wie Steine von einem alten, zerrissenen Gemäuer. Es ist helles Sonntagvormittagswetter. Auf den Sträuchern im Garten blendet die Sonne. Es hat, wenn man durchaus zeigen will, daß man gebildet ist, etwas von dem neufranzösischen Impressionismus. Die Alte hat sich auf einen der beiden Steine, wie sie etwa vor Gartentoren stehen, gesetzt und hüstelt ein bißchen. Das ist so, wenn man alt ist, man hustet sogar im heißesten Sommer. Wie schmerzlos sie dasitzt. Das Suchen ist ihr zu einer sozusagen lieben, unentbehrlichen Gewohnheit geworden. Sie sucht schon längst nicht mehr, um zu finden, sondern aus einer ihr selber nicht bewußten Lust am Suchen. Es genügt ihr, das letzte bißchen Pflicht zu erfüllen. Sie hofft nicht mehr. Hoffnung ist ihr bereits seit längerer Zeit Entweihung geworden. Auch suchen tut sie nicht mehr so recht, nur noch so gehen und ein bißchen sehen,[S. 118] das tut sie. Alt, alt ist sie geworden und so schön müde, so schön schwach, so abgelaufen, so abverdient, so das ganze Leben um einer Pflicht willen abgetrieben. Da sitzt sie, und Katzenleute gehen an ihr achtlos, in der Meinung, es sei eine faule Bettlerin, vorüber. Niemand schenkt ihr mehr als etwa so einen halbpatzigen Blick, Kindermädchen wägeln mit Kinderwagen vorüber. Arbeiter und Herren im Zylinder, alles Kater natürlich. Aber Katerliches und Menschliches vermischt sich. Die Herren drehen sich langweilig die Schnurrbärte, die bis hinten an die Ohren reichen. Selbstverständlich gehen sie alle mehr oder weniger stramm aufrecht. Die Elektrische saust vorüber. Ganz junge Katzenkinder springen spielend umher, und die Sonne lacht so freundlich. Hinter den Büschen des herrschaftlichen Gartens schimmert das grau-bläuliche Schieferdach eines Hauses, und jetzt, aber alte Amme, was soll das? Nicht, nicht doch. Nicht schlafen. Siehst du nicht? Eine[S. 119] himmlisch schöne, in weiße Schleier gehüllte, junge Frauengestalt ist aus dem Gartentor herausgetreten. Die Alte macht bä wä — — und sinkt um und ist tot vor Freude. Die schöne Erscheinung ist Muschi. Sie ist eine schöne, vornehme Katze geworden, Frau eines Ministers. Wie sie nun die alte Frau hat umfallen sehen, steigt ihr eine Ahnung auf. Sie eilt zu ihr hin, erkennt sie, kniet neben ihr und ist ganz starr, kein Wunder, da die Kindheitwelt sie jetzt überwältigt.


[S. 120]

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Die Schauspielerin

Die schöne Schauspielerin und der bärtige Mann sitzen zusammen in einem halbdunkeln Zimmer. Die Fenster stehen offen. Die Frau erhebt sich aus ihrer halb sitzenden, halb liegenden Haltung, tritt auf den schmalen, länglichen Balkon heraus und winkt dem Manne,[S. 121] nachzukommen. Wie schön, wie frei ist die Welt, sagt sie, indem sie lächelt: unsereins muß das so stark fühlen. Wir Schauspielerinnen hängen nur mit den flüchtigsten Blicken an dem süßen, offenen Bilde der Welt, aber diese Blicke sind uns wie Musik, wie tiefe, tiefe Gedanken, wie Wellen, die an uns heranschlagen und uns mit herrlich-schönem, dankbarem Gefühl bespritzen, daß wir ganz durchnäßt, durchfüllt davon werden. Wir sind ja so geknebelt; Sie zum Beispiel haben die Aufgabe, in den Strudel und in das harte, prachtvolle Spiel unterzutauchen, Sie jagen Ihren Genüssen und Geschäften in natürlicher Kraftanstrengung nach, treiben mit den Treibenden, ruhen mit den Ruhenden und lachen, wo es irgendwo einen Anlaß gibt, in ein Gelächter auszubrechen. Wir Künstlerinnen sehen unser ganzes Dasein in der Kunst dahinfließen, einen Menschenschmerz, eine Menschenscham oder einen Menschenjubel nachzuahmen und empfinden oft in der Arbeit, die[S. 122] unser Beruf uns kostet, einen beengenden, nicht schönen Stillstand; alles Strömende will uns dann stocken, alles Stürzende und Sinkende und Fliegende scheint sich in uns hineingebohrt zu haben, wir tragen alles und werden von nichts, nichts fortgetragen, und emporgehoben können wir nur werden von der stumpfen, abschließenden, treuen Geduld in dem beharrlichen Weiterschaffen. Des beweglichen Geschäftsmannes Schaffen beruht auf einer natürlich-schönen Weitherzigkeit und luftigen Weitschweifigkeit, die ich mir so gesund für Körper und Seele vorstelle, die ich kaum noch dem Duft und der Ahnung nach kenne, da wir Schauspielerinnen die Weitverbreitetheit und alles Umliegende beinahe hassen müssen, um nur ja so recht das feste, ewig Nahe zu sehen, woran wir angekettet leben. Sie haben wohl kaum einen Begriff, wie die Kunst ketten, ja würgen kann, einengen, ach, und einem alle lebendig-warmen Aussichten vor den Augen weg, wie Vögel aus[S. 123] der stillen Luft hinab, niederschießt, daß es einem scheinen möchte, alle Erlebnisse, die süßen und schlechten, lägen da vor den Füßen, am fleckigen Boden, aus vielen trockenen, elenden Wunden langsam und schwärzlich blutend. Sie, Sie haben es schön. Nein, wir Künstlerinnen haben es nicht schön.

Der Mann sagt nichts, und die Schauspielerin, indem sie den schönen, üppig geformten Arm lässig ausstreckt, spricht weiter:

Wie da unten in der Straße die unbekannten, lieben Menschen gehen, sich umschauend, einander überholend, Wagen fahrend, Pakete tragend, springend, atmend und Schultern wiegend! Man sehnt sich nach Menschen, wenn man zwanzig Jahre lang auf der Bühne Menschenschicksale dargestellt hat. Schon als zwölfjähriges Kind habe ich zu spielen begonnen; durch den künstlerischen Erfolg bin ich zum erstenmal in Verbindung mit unbefangenen Menschen geraten, aber ich fürchte, es waren nicht die Unbefangenen,[S. 124] die zu mir hintraten, um mir ihre Bewunderung vor die Füße zu legen. Durch den Erfolg lernt eines nur die stupiden Anbeter und die ebenso dummen Neider kennen, Schwätzer in der Regel, die Angst davor haben, sich einer Empfindung, einem Gefühl oder einer Tat hinzugeben. Ich habe sie alle rasch durchschaut, ohne Zorn, nur mit einem gewissen Kummer, der mir sagte, es sei etwas irgendwo, das ich nie würde dürfen kennen lernen. Und dann habe ich ja auch immer zu tun gehabt. Ein Künstlerberuf ist eine eiserne Kiste, die einen kaum atmen läßt, darin man steckt in halb aufrechter Haltung, nicht frei und doch auch nicht so ganz und gar gefangen, den Kopf an der Luft, aber auf irgendeine Weise sieht man sich gefesselt, man weiß es, und im nächsten Augenblick weiß man es wieder nicht mehr.

Das sei schließlich mit jedem Lebensberuf so, meint der Mann.

O nein, sagt sie, mit Euch andern ist es ganz[S. 125] anders. Ihr habt trockene, notwendige Berufe, und das ist das Schöne. In unsern Leistungen, wenn sie gute sind, badet Ihr Euch wie in erfrischenden, einsamen Bergquellen; das Gefühl, durch den Geschäftstag hindurch unterdrückt, springt Euch lachend, weinend, tausendfarbig und tausendtönig auf, wie Wunden, aber nicht wie trockene, eher wie fließende, und sanft und wohlig schmerzende. Unsereins dagegen hat immer mit Gefühlen und Empfindungen, mit rein Menschlichem und Ideellem zu tun, wir müssen es messen, zerschneiden, auseinanderlegen, berechnen und es auf Wirkungen hin, die es machen soll, erproben. Wir pröbeln und schneidern mit Dingen, die in der Brust anderer Menschen gesund und geheimnisvoll und unangetastet ruhen, heiligen, gefährlichen Quellen gleich, die man nicht ungestraft beständig hervorreizt. Dann, wenn man das getan hat, ist man so kalt und leer, daß man hingehen möchte, um sich einem gelassenen, unangefochtenen, braven[S. 126] und simpeln Menschen an die breite, gute Brust zu werfen. Wie köstlich erscheint einem an solch einem Schauspielabend der Atemzug solch eines Menschen, man möchte die Kunst hassen und sich selber nicht minder, empfinden zu müssen, daß man sich an sie angeschlossen hat. Und doch ist sie schön, und doch ist das alles so schön. Gehen wir hinein.

Sie treten beide wieder in das Zimmer hinein.

Trinken Sie einen Schnaps?

Ja, er trinkt einen. Sie schenkt ein, während sie in tiefes, schönes Nachdenken versunken scheint. Das Mädchen stellt eine Lampe auf den Tisch. Die Frau sagt:

Halb sieben. Jetzt kann ich noch zwanzig Minuten mit Ihnen dasitzen, dann muß ich gehen. Sie kommen nicht ins Theater, nein? Ja, Sie reisen noch heute abend. Ich werde heute nacht müde nach Hause kommen, ich spüre es schon jetzt. In zwanzig Tagen sitzen Sie wieder auf Ihren halbwilden Pferden, jagen[S. 127] durch die Steppe, wirtschaften und schaffen mit Kopf und Händen und Fäusten. Schreiben Sie mir, es schreibt ja heutzutage niemand mehr Briefe, machen Sie eine Ausnahme, Ihre Briefe werden mir den Duft der Prärie hier in dieses Zimmer tragen. Es ist so schön, abends heimzukommen und einen Brief aus einer fernen, fernen Gegend auf dem Tisch liegen zu sehen. Ich werde vielleicht an Sie denken. Es wird vorkommen, daß mir, wenn ich einmal zornerbebend oder hell auflachend, wie es gerade das Spiel verlangt, auf der Bühne stehe, plötzlich Ihre Stimme einfällt, Ihre Figur, ein Wort, das Sie einmal gesagt haben, der Stiefel da an Ihren Füßen, die Haartracht, der Bart, der Blick Ihrer Augen. Sehen Sie, so lernt man eines Tages auf wunderliche Art einen Menschen kennen, man spricht eine Stunde lang, oder zwei mit ihm, er geht, er will weiter nichts, man vergißt ihn, weil man keine Ursache hat, sich zu nötigen, seiner[S. 128] zu gedenken. Er mag einem eines Tages zwischen einer hastigen Wagenfahrt und einem aufregenden Wortwechsel wieder einfallen; vielleicht schneit es, wenn ich an Sie denke, oder ich habe die Hand gebrochen, muß im Zimmer sitzen, und ich erinnere mich plötzlich Ihres Händedrucks. Leben Sie wohl, jetzt muß ich mich umkleiden.


[S. 129]

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Die Talentprobe

Zimmer der königlichen Hofschauspielerin Benzinger

Frau Benzinger: Also Sie wollen Schauspieler werden. Treten Sie näher zu mir heran. Genieren Sie sich nicht. Fallen Sie nicht um vor Schreck, wenn ich Sie nun etwas näher ins Auge fasse. Wenn mein Atem Sie streift, ist das noch keine Ursache, rot über den[S. 130] ganzen Kopf zu werden. Haben Sie noch nie mit einiger Gelassenheit das Bein einer Frau gesehen? Die Spitzen meines Unterrocks, die Sie sehen, sind nur das gelinde und gewöhnliche Vorspiel dessen, was einem Bühnenkünstler täglich und stündlich begegnet, und worüber er hinwegsehen muß. Wir Künstler sind ein freies, zwangloses und, wie wir uns gern einbilden, ehrliches Volk. Sie dagegen sind ein Jüngling aus dem dicksten, gefüttertsten bürgerlichen Milieu, und Sie wollen zur Bühne? Na, tragen Sie mal etwas vor.

Der junge, schüchterne Mann hat etwas vorgetragen.

Frau Benzinger: Das ist nichts. Danken Sie Gott, daß Sie einem Menschen in die Hände gefallen sind, der es so gut mit Ihnen meint, daß er offen zu Ihnen spricht. Unwahrheiten sind in solchen Fällen Morde. Sie sind schüchtern, Sie sind erschrocken, wie Sie sahen, daß ich das eine meiner natürlichen Beine[S. 131] über das andere gelegt habe; aber Sie dürften meinetwegen noch hundertmal schüchterner und schreckfüßiger sein, das hätte nichts zu sagen, denn das liegt nur in Ihrer großen Jugend und tiefen Unerfahrenheit. Aber Sie besitzen auch nicht die leiseste Spur eines schauspielerischen Talents. Alles ist verborgen, verhüllt, vertieft, trocken, holzig an Ihnen. Sie mögen der glühendste Mensch innerlich sein, zerwühlt meinetwegen von herzlichen Leidenschaften, doch es kommt nichts an Ihnen zur Erscheinung, nichts zum Ausdruck. Sie sprechen eine ganz ordentliche Sprache, daß man fühlen muß, wie richtig Sie urteilen, wie anständig Sie über Sachen nachdenken, das aber, mein Knabe, ist das Aller-Allerwenigste von dem, was an Erfordernissen für einen angehenden Künstler in Betracht kommt. Ich bin eine ältere Frau und erprobte Schauspielerin und muß deshalb wohl wissen, was sich Ihnen gegenüber für eine Sprache ziemt. Mein Knabe, schütten Sie den allzu[S. 132] feurigen Wein Ihrer Träume von Bühnenlaufbahn und dergleichen rasch aus der Schale Ihres jungen Kopfes und fahren Sie fort, den Beruf, den Sie erlernt haben, auszuüben. Was würden Ihre Eltern sagen, wenn ich Sie unglücklich machen wollte? Das Geld, das Sie mir für Ihre Stunden ausbezahlten, würde in meinen Händen widerwärtig brennen, und ich würde das Gesicht Ihrer Frau Mutter sehen, dessen kummervoller Ausdruck mich für den Frevel, Ihnen die Wahrheit vorenthalten zu haben, gräßlich strafen müßte. Nein, ich tue das nicht. Aber bleiben Sie noch einen Augenblick. Nehmen Sie hier dicht neben mir Platz. So. Sie sind zu gut und zu schlecht für den Schauspielerberuf. Sie würden immer nur schauspielern, nicht spielen; Unmensch, Bär, Windbeutel, ungeziemende lächerliche Fratze, nicht Mensch auf der Bühne sein. Die heilige, inbrunstvolle Flamme fehlt Ihnen, das Auge, das Lippenpaar, die drohende, bewegliche Wange.[S. 133] Bewegung fehlt Ihnen. Manier, sehen Sie, das haben Sie, aber das bedeutet nichts, das ist menschlich. Sie haben nichts Künstlerisches. Ich bin davon überzeugt (geben Sie mir die Hand), daß Sie innere Gaben besitzen, die Sie, wenn Sie heranreifen, zum guten, brauchbaren Mann stempeln werden. Ich glaube, daß Sie ein schöner Mensch werden; auf der Bühne, im goldenen Licht der Rampe, wären Sie häßlich, glauben Sie es mir. Sie müssen mir das glauben, kindlich, denn verstehen können Sie es noch nicht, weil Sie zu jung und zu unberührt von schrecklichen Erfahrungen sind. Drücken Sie einen Kuß auf meine Hand.

Der junge Mensch küßt der Schauspielerin beide Hände.

Frau Benzinger: Sie kommen viel ins Theater, nicht wahr. Ja, das ist so gefährlich für junge Köpfe. Ins Theater sollten nur reife Menschen kommen, das hätte das Gute, daß es auch einen veredelnden, verschärfenden Schein[S. 134] und Einfluß auf die Bühne und deren Kunstleistungen würfe. Ich bin so froh, lieber junger Mann, Sie haben warnen und abschrecken zu dürfen. Ein anderer würde Sie aufgenommen haben, würde vielleicht noch seinen Spaß daran gehabt haben, Ihnen Gift in Ihr ganzes, Ihnen selber noch unbekanntes Leben zu streuen. Gehen Sie jetzt. Leben Sie wohl. Nein, nein, besuchen Sie mich nie mehr. Lassen Sie die ganze Theaterei stramm beiseite, baden Sie Ihre Empfindungen in natürlicheren Quellen, werfen Sie sich in gute, männliche Pflichten, und wenn Sie dreißig Jahre alt geworden sind, können Sie zu mir kommen und mir erzählen, was Sie errungen, erlitten und erlebt haben. Ich freue mich darauf, Sie so lange aus dem Gesicht zu verlieren; das verspricht mir die Freude, Sie als festen Menschen wiederzusehen. Hier. Behalten Sie das. Es ist mein Bild. Vergessen Sie nie, was ich Ihnen gesagt habe.


[S. 135]

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Kleist in Thun

Kleist hat Kost und Logis in einem Landhaus auf einer Aareinsel in der Umgebung von Thun gefunden. Genau weiß man ja das heute, nach mehr als hundert Jahren, nicht mehr, aber ich denke mir, er wird über eine winzige, zehn Meter lange Brücke gegangen sein und an einem Glockenstrang gezogen haben. Darauf wird jemand die Treppen des Hauses herunterzueidechseln gekommen sein, um zu sehen, wer[S. 136] da sei. »Ist hier ein Zimmer zu vermieten?« Und kurz und gut, Kleist hat es sich jetzt in den drei Zimmern, die man ihm für erstaunlich wenig Geld abgetreten hat, bequem gemacht. »Ein reizendes Bernermeitschi führt mir die Haushaltung.« Ein schönes Gedicht, ein Kind, eine wackere Tat, diese drei Dinge schweben ihm vor. Im übrigen ist er ein wenig krank. »Weiß der Teufel, was mir fehlt. Was ist mir? Es ist so schön hier.«

Er dichtet natürlich. Ab und zu fährt er per Fuhrwerk nach Bern zu literarischen Freunden und liest dort vor, was er etwa geschrieben hat. Man lobt ihn selbstverständlich riesig, findet aber den ganzen Menschen ein bißchen unheimlich. Der zerbrochene Krug wird geschrieben. Aber was soll alles das? Es ist Frühling geworden. Die Wiesen um Thun herum sind ganz dick voller Blumen, das duftet und summt und macht und tönt und faulenzt, es ist zum Verrücktwerden warm an der Sonne. Es steigt[S. 137] Kleist wie glühendrote betäubende Wellen in den Kopf hinauf, wenn er am Schreibtisch sitzt und dichten will. Er verflucht sein Handwerk. Er hat Bauer werden wollen, als er in die Schweiz gekommen ist. Nette Idee das. In Potsdam läßt sich so etwas leicht denken. Überhaupt denken die Dichter sich so leicht ein Ding aus. Oft sitzt er am Fenster.

Meinetwegen so gegen zehn Uhr vormittags. Er ist so allein. Er wünscht sich eine Stimme herbei, was für eine? Eine Hand, nun, und? einen Körper, aber wozu? Ganz in weißen Düften und Schleiern verloren liegt da der See, umrahmt von dem unnatürlichen, zauberhaften Gebirge. Wie das blendet und beunruhigt. Das ganze Land bis zum Wasser ist der reine Garten, und in der bläulichen Luft scheint es von Brücken voll Blumen und Terrassen voll Düften zu wimmeln und hinunterzuhängen. Die Vögel singen unter all der Sonne und unter all dem Licht so matt. Sie sind selig und[S. 138] schläfrig. Kleist stützt seinen Kopf auf den Ellbogen, schaut und schaut und will sich vergessen. Das Bild seiner fernen, nordischen Heimat steigt ihm auf, er kann das Gesicht seiner Mutter deutlich sehen, alte Stimmen, verflucht das — er ist aufgesprungen und in den Garten des Landhauses hinabgelaufen. Dort steigt er in einen Kahn und rudert in den offenen morgendlichen See hinaus. Der Kuß der Sonne ist ein einziger und fortwährend wiederholter. Kein Lüftchen. Kaum eine Bewegung. Die Berge sind wie die Mache eines geschickten Theatermalers, oder sie sehen so aus, als wäre die ganze Gegend ein Album, und die Berge wären von einem feinsinnigen Dilettanten der Besitzerin des Albums aufs leere Blatt hingezeichnet worden, zur Erinnerung, mit einem Vers. Das Album hat einen blaßgrünen Umschlag. Das stimmt. Die Vorberge am Ufer des Sees sind so halb und halb grün und so hoch, so dumm, so duftig. La, la, la. Er[S. 139] hat sich ausgezogen und wirft sich ins Wasser. Wie namenlos schön ihm das ist. Er schwimmt und hört Lachen von Frauen vom Ufer her. Das Boot macht träge Bewegungen im grünlich-bläulichen Wasser. Die Natur ist wie eine einzige große Liebkosung. Wie das freut und zugleich so schmerzen kann.

Manchmal, besonders an schönen Abenden, ist ihm, als sei hier das Ende der Welt. Die Alpen scheinen ihm der unerklimmbare Eingang zu einem hochgelegenen Paradiese zu sein. Er geht auf seiner kleinen Insel, Schritt für Schritt, auf und ab. Das Meitschi hängt Wäsche zwischen den Büschen auf, in denen ein melodiöses, gelbes, krankhaftschönes Licht schimmert. Die Gesichter der Schneeberge sind so blaß, es herrscht in allem eine letzte, unanrührbare Schönheit. Die Schwäne, die zwischen dem Schilf hin und her schwimmen, scheinen von Schönheit und abendlichem Licht verzaubert. Die Luft ist krank. Kleist wünscht sich in einen[S. 140] brutalen Krieg, in eine Schlacht versetzt, er kommt sich wie ein Elender und Überflüssiger vor.

Er macht einen Spaziergang. Warum, fragt er sich lächelnd, muß gerade er nichts zu tun, nichts zu stoßen und zu wälzen haben? Er fühlt, wie die Säfte und Kräfte in ihm leise wehklagen. Seine ganze Seele zuckt nach körperlichen Anstrengungen. Er steigt zwischen hohen, alten Mauern, über deren grauem Steingebröckel sich der dunkelgrüne Efeu leidenschaftlich niederschlingt, zum Schloßhügel hinauf. In allen hochgelegenen Fenstern schimmert das Abendlicht. Oben am Rand des Felsenabhanges ist ein zierlicher Pavillon, dort sitzt er und wirft seine Seele in die glänzend-heilig-stille Aussicht hinunter. Er wäre jetzt erstaunt, wenn er sich wohl fühlen könnte. Eine Zeitung lesen? Wie wär's? Ein dummes politisches oder gemeinnützliches Gespräch mit irgendeinem wohlangesehenen, offiziellen Schafskopf führen? Ja? Er ist nicht unglücklich, er hält im stillen diejenigen[S. 141] für selig, die trostlos sein können: Natürlich und kraftvoll trostlos. Mit ihm steht es um eine kleine, gebogene Nuance schlimmer. Er ist zu feinfühlend, zu gegenwärtig mit all seinen unschlüssigen, vorsichtigen, mißtrauischen Empfindungen, um unglücklich zu sein. Er möchte schreien, weinen. Gott im Himmel, was ist mit mir, und er rast den dunkelnden Hügel hinunter. Die Nacht tut ihm wohl. In seinen Zimmern angekommen, setzt er sich, entschlossen, bis zur Raserei zu arbeiten, an den Schreibtisch. Das Licht der Lampe nimmt ihm das Bild der Gegend weg, das stimmt ihn klar und er schreibt jetzt.

An Regentagen ist es entsetzlich kalt und leer. Die Gegend fröstelt ihn an. Die grünen Sträucher winseln und wimmern und regentröpfeln nach Sonnenschein. Schmutzige, ungeheuerliche Wolken gleiten den Köpfen der Berge wie große, freche, tötende Hände um die Stirnen. Das Land scheint sich vor dem Wetter verkriechen zu wollen, es will zusammenschrumpfen.[S. 142] Der See ist hart und düster, und die Wellen sprechen böse Worte. Wie ein unheimliches Mahnen saust der Sturmwind daher und kann nirgends hinaus. Er schmettert von einer Bergwand zur anderen. Dunkel ist es und klein, klein. Es ist einem alles auf der Nase. Man möchte Klötze nehmen und damit um sich herumhauen. Weg da, weg.

Dann ist wieder Sonne und es ist Sonntag. Glocken läuten. Die Leute treten aus der hochgelegenen Kirche heraus. Die Mädchen und Frauen in engen, schwarzen, silbergeschmückten Schnürbrüsten, die Männer einfach und ernst gekleidet. Gebetbücher tragen sie in der Hand, und die Gesichter sind so friedlich und schön, als wären alle Sorgen zerflossen, alle Falten des Kummers und Zankes geglättet und alle Mühen vergessen. Und die Glocken. Wie sie daherschallen, daherspringen mit Schällen und Tonwellen. Wie es über das ganze, sonntäglich umsonnte Städtchen glitzert, leuchtet, blaut und[S. 143] läutet. Die Menschen zerstreuen sich. Kleist steht, von sonderbaren Empfindungen angefächelt, auf der Kirchtreppe und verfolgt die Bewegungen der Hinuntergehenden. Da ist manch Bauernkind, das wie eine geborene, an Hoheit und Freiheit gewöhnte Prinzessin die Stufen hinunterschreitet. Da sind schöne, junge, kräftestrotzende Burschen vom Land, und von was für einem Land, nicht Flachland, nicht Burschen von Ebenen, sondern Burschen, hervorgebrochen aus tiefen, wunderlich in die Berge eingehöhlten Tälern, eng manchmal, wie der Arm eines etwas aus der Art geschlagenen, größeren Menschen. Das sind Burschen von Bergen, wo die Äcker und Felder steil in die Einsenkungen hinabfallen, wo das duftende, heiße Gras auf winzigen Flächen dicht neben schauervollen Abgründen wächst, wo die Häuser wie Tupfe an den Weiden kleben, wenn einer unten auf der breiten Landstraße steht und hoch hinaufsieht, ob es etwa da oben noch Menschenwohnungen geben könne.

[S. 144]

Die Sonntage hat Kleist gern, auch die Markttage, an denen alles von blauen Kitteln und Bäuerinnentrachten wimmelt und gramselt auf der Straße und in der Hauptgasse. Dort, in der Hauptgasse, sind unter dem Bürgersteig, in steinernen Gewölben und in leichten Buden Waren aufgestapelt. Krämer schreien bäuerlichkokett ihre billigen Kostbarkeiten aus. Meistens scheint ja an solch einem Markttag die hellste, wärmste, dümmste Sonne. Kleist läßt sich von dem lieben, bunten Menschengetümmel hin und her schieben. Überall duftet's nach Käse. In die besseren Kaufläden treten die ernsthaften, bisweilen schönen Landfrauen bedächtig ein, um Einkäufe zu machen. Viele Männer haben Tabakspfeifen im Mund. Schweine, Kälber und Kühe werden vorübergezogen. Einer steht da und lacht und treibt sein rosafarbenes Schweinchen mit Stockschlägen zum Gehen. Es will nicht, da nimmt er es unter den Arm und trägt's weiter. Die Menschen duften zu ihren[S. 145] Kleidern heraus, zu den Wirtschaften heraus tönt Lärm von Zechenden, Tanzenden und Essenden. All die Geräusche und all die Freiheit dieser Töne! Fuhrwerke können manchmal nicht durchfahren. Die Pferde sind ganz von handelnden und schwatzenden Menschen umzingelt. Und die Sonne blendet so exakt auf den Gegenständen, Gesichtern, Tüchern, Körben und Waren. Alles bewegt sich, und das sonnige Blenden muß sich so schön natürlich mitfortbewegen. Kleist möchte beten. Er findet keine majestätische Musik schöner und keine Seele feiner als Musik und Seele dieses Menschentreibens. Er hätte Lust, sich auf einen der Treppenabsätze zu setzen, die in die Gasse hinunterführen. Er geht weiter, an Weibern mit hochaufgerafften Röcken vorbei, an Mädchen, die Körbe ruhig und fast edel auf den Köpfen tragen, wie Italienerinnen ihre Krüge, wie er's kennt aus Abbildungen, an Männern, die gröhlen, und an Betrunkenen, an Polizisten, an Schuljungens, die ihre Schulbubenabsichten[S. 146] mit sich herumtragen, an schattigen Flecken, die kühl duften, an Seilen, Stöcken, Eßwaren, falschen Geschmeiden, Mäulern, Nasen, Hüten, Pferden, Schleiern, Bettdecken, wollenen Strümpfen, Würsten, Butterballen und Käsebrettern vorüber, zu dem Gewimmel hinaus, bis an eine Aarebrücke, an deren Geländer gelehnt er stehen bleibt, um in das tiefblaue, herrlich dahinströmende Wasser zu schauen. Über ihm glitzern und strahlen die Schloßtürme wie flüssig-bräunliches Feuer. Es ist ein halbes Italien.

Zuweilen, an gewöhnlichen Werktagen, scheint ihm das ganze Städtchen von Sonne und Stille verzaubert zu sein. Er steht still vor dem seltsamen, alten Rathaus mit der scharfkantigen Jahreszahl im weißschimmernden Gemäuer. So verloren ist alles, wie die Gestaltung irgendeines Volksliedes, das die Leute vergessen haben. Wenig Leben, nein, gar keins. Er steigt die holzbedeckte Treppe zum vormals gräflichen[S. 147] Schloß hinauf, das Holz duftet nach Alter und vorübergegangenen Menschenschicksalen. Oben setzt er sich auf eine breite, geschweifte, grüne Bank, um Aussicht zu haben, aber er schließt die Augen. Entsetzlich, wie verschlafen, verstaubt und entlebendigt das alles aussieht. Das Nächstliegende liegt wie in weiter, weißer, schleierhafter, träumender Ferne. Es ist alles in eine heiße Wolke eingehüllt. Sommer, aber was eigentlich für Sommer? Ich lebe nicht, schreit er und weiß nicht, wohin er sich mit Augen, Händen, Beinen und Atem wenden soll. Ein Traum. Nichts da. Ich will keine Träume. Schließlich sagt er sich, er lebe eben viel zu einsam. Er schaudert, empfinden zu müssen, wie verstockt er sich verhält der Mitwelt gegenüber.

Dann kommen die Sommerabende. Kleist sitzt auf der hohen Kirchhofsmauer. Es ist alles ganz feucht und zugleich ganz schwül. Er öffnet das Kleid, um die Brust frei zu haben. Unten, wie von einer mächtigen Gotteshand in die[S. 148] Tiefe geworfen, liegt der gelblich und rötlich beleuchtete See, aber die ganze Beleuchtung scheint aus der Wassertiefe heraufzulodern. Es ist wie ein brennender See. Die Alpen sind lebendig geworden und tauchen ihre Stirnen unter fabelhaften Bewegungen ins Wasser. Seine Schwäne umkreisen dort unten seine stille Insel, und Baumkronen schweben in dunkler, singender und duftender Seligkeit darüber. Worüber? Nichts, nichts. Kleist trinkt das alles. Ihm ist der ganze dunkelglänzende See das Geschmeide, das lange, auf einem schlafenden großen, unbekannten Frauenkörper. Die Linden und Tannen und Blumen duften. Es ist ein stilles, kaum vernehmbares Geläute da, er hört's, aber er sieht's auch. Das ist das Neue. Er will Unfaßliches, Unbegreifliches. Unten im See schaukelt ein Boot. Kleist sieht es nicht, aber er sieht die Lampen, die es begleiten, hin und her schwanken. Er sitzt da, vorgebeugten Antlitzes, als müsse er zum Todessprung in das Bild der[S. 149] schönen Tiefe bereit sein. Er möchte in das Bild hineinsterben. Er möchte nur noch Augen haben, nur noch ein einziges Auge sein. Nein, ganz, ganz anders. Die Luft muß eine Brücke sein und das ganze Landschaftsbild eine Lehne, zum Daranlehnen, sinnlich, selig, müde. Es wird Nacht, aber er mag nicht hinuntergehen, er wirft sich an ein unter Sträuchern verborgenes Grab, Fledermäuse umschwirren ihn, die spitzen Bäume lispeln mit leise daherziehenden Windzügen. Das Gras duftet so schön, unter dem die Skelette der Begrabenen liegen. Er ist so schmerzlich glücklich, zu glücklich, deshalb so würgend, so trocken, so schmerzlich. So allein. Warum kommen die Toten nicht und unterhalten sich auf eine halbe Stunde mit dem einsamen Manne? In einer Sommernacht muß einer doch eine Geliebte haben. Der Gedanke an weißlich schimmernde Brüste und Lippen jagt Kleist den Berg hinunter, ans Ufer, ins Wasser, mit den Kleidern, lachend, weinend.

[S. 150]

Wochen vergehen. Kleist hat eine Arbeit, zwei, drei Arbeiten vernichtet. Er will höchste Meisterschaft, gut, gut. Was da. Gezaudert? Hinein in den Papierkorb. Neues, Wilderes, Schöneres. Er fängt die Sempacherschlacht an mit der Figur des Leopold von Österreich im Mittelpunkt, dessen sonderbares Geschick ihn reizt. Dazwischen erinnert er sich des Robert Guiskard. Den will er herrlich haben. Das Glück, ein vernunftvoll abwägender, einfach empfindender Mensch zu sein, sieht er, zu Geröll zersprengt, wie polternde und schmetternde Felsblöcke den Bergsturz seines Lebens hinunterrollen. Er hilft noch, es ist jetzt entschieden. Er will dem Dichterunstern gänzlich verfallen sein: es ist das beste, ich gehe möglichst rasch zugrunde!

Sein Schaffen zieht ihm die Grimasse, es mißlingt. Gegen den Herbst wird er krank. Er wundert sich über die Sanftheit, die jetzt über ihn kommt. Seine Schwester reist nach Thun, um ihn nach Hause zu bringen. Tiefe Gruben[S. 151] liegen in seinen Wangen. Sein Gesicht hat die Züge und die Farbe eines in der ganzen Seele Zerfressenen. Seine Augen sind lebloser als die Augenbrauen darüber. Die Haare hängen ihm in dicken, spitzen Klumpen von Strähnen in die Stirne, die verzerrt ist von all den Gedanken, die ihn, wie er sich einbildet, in schmutzige Löcher und Höllen hinabgezogen haben. Die Verse, die ihm im Gehirn tönen, kommen ihm wie Rabengekrächze vor, er möchte sich das Gedächtnis ausreißen. Das Leben möchte er ausschütten, aber die Schalen des Lebens will er zuerst zertrümmert haben. Sein Grimm gleicht seinem Schmerz, sein Hohn seinen Klagen. Was fehlt dir, Heinrich, liebkost ihn die Schwester. Nichts, nichts. Das hat noch gefehlt, daß er sagen soll, was ihm fehlt. Auf dem Boden des Zimmers liegen die Manuskripte wie von Vater und Mutter scheußlich verlassene Kinder. Er gibt seiner Schwester die Hand und begnügt sich, sie lange und stillschweigend anzuschauen. Es[S. 152] gleicht bereits einem Glotzen, und das Mädchen schaudert.

Dann reisen sie. Das Meitschi, das Kleist die Wirtschaft geführt hat, sagt ihnen Adieu. Es ist ein strahlender Herbstmorgen, der Wagen rollt über Brücken, an Leuten vorbei, durch grobpflastrige Gassen, Leute schauen zu Fenstern heraus, oben ist Himmel, unter Bäumen ist gelbliches Laub, sauber ist alles, herbstlich, was weiter? Und der Fuhrmann hat eine Pfeife im Mund. Es ist alles wie immer. Kleist sitzt in eine Ecke des Wagens gedrückt. Die Türme des Thuner Schlosses verschwinden hinter einem Hügel. Später, in weiter Ferne, sieht die Schwester Kleistens noch einmal den schönen See. Ein bißchen kühl ist es jetzt schon. Landhäuser kommen. Na nu, solche vornehme Landsitze in einer solchen Berggegend? Weiter. Alles fliegt und sinkt vor den Seitenblicken nach rückwärts, alles tanzt, kreist und schwindet. Vieles ist schon in herbstliche Schleier gehüllt, und ein[S. 153] bißchen vergoldet ist alles von einem bißchen Sonne, die aus Wolken herausscheint. Solches Gold, wie das schimmert, und wie man's doch nur im Dreck auflesen kann. Höhen, Felswände, Täler, Kirchen, Dörfer, Gaffer, Kinder, Bäume, Wind, Wolken, ei was. Ist's was Besonderes? Ist's nicht das Weggeworfen-Gewöhnlichste? Kleist sieht nichts. Er träumt von Wolken und Bildern und ein bißchen von lieben, schonenden, streichelnden Menschenhänden. Wie ist dir, fragt die Schwester. Kleist zuckt mit dem Mund und will ihr ein wenig zulächeln. Es geht, aber mühsam. Es ist ihm, als habe er vom Mund einen Steinblock wegräumen müssen, um lächeln zu können.

Die Schwester wagt vorsichtig von baldiger Inangriffnahme einer praktischen Betätigung zu reden. Er nickt, er ist selber der Überzeugung. Ihm flimmern musizierende, helle Scheine um die Sinne. Eigentlich, wenn er es sich aufrichtig gesteht, ist ihm jetzt ganz wohl; weh,[S. 154] aber zugleich wohl. Es schmerzt ihn etwas, ja, in der Tat, ganz recht, aber nicht in der Brust, auch nicht in der Lunge, nicht im Kopf, was? Wirklich? Gar nirgends? Ja doch, so ein bißchen, irgendwo, daß es ja sei, daß man's nicht genau sagen kann. Item, die Sache ist nicht der Rede wert. Er sagt etwas, und dann kommen Momente, wo er geradezu kindlich glücklich ist, und da natürlich macht das Mädchen gleich eine etwas strenge, strafende Miene, um ihm's denn doch auch ein bißchen zu zeigen, wie sonderbar er eigentlich mit seinem Leben spiele. Das Mädchen ist eben eine Kleistin und hat Erziehung genossen, das, was der Bruder über den Haufen hat werfen wollen. Sie ist natürlich seelenfroh, daß es ihm besser geht. Weiter, hei, hei, ist das eine Wagenfahrt. Aber zu guter Letzt wird man ihn laufen lassen müssen, den Postwagen, und zu allerletzt kann man sich ja noch die Bemerkung erlauben, daß an der Front des Landhauses, das Kleist bewohnt hat, eine[S. 155] marmorne Tafel hängt, die darauf hindeutet, wer da gelebt und gedichtet hat. Reisende mit Alpentourenabsichten können's lesen, Kinder aus Thun lesen und buchstabieren es, Ziffer für Ziffer, und schauen einander dann fragend in die Augen. Ein Jude kann's lesen, der Christ auch, wenn er Zeit hat und nicht etwa der Zug schon im Abfahren begriffen ist, ein Türke, eine Schwalbe, inwiefern sie Interesse daran hat, ich auch, ich kann's gelegentlich auch wieder einmal lesen. Thun steht am Eingang zum berner Oberland und wird jährlich von vielen tausenden Fremden besucht. Ich kann die Gegend ein bißchen kennen, weil ich dort Aktienbierbrauereiangestellter gewesen bin. Die Gegend ist bedeutend schöner, als wie ich sie hier habe beschreiben können, der See ist noch einmal so blau, der Himmel noch dreimal so schön, Thun hat eine Gewerbeausstellung gehabt, ich weiß nicht, ich glaube vor vier Jahren.


[S. 156]

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Wenzel

Es ist Neujahrsabend, und wir befinden uns im Stadttheater zu Twann, einem schon von den Römern gegründeten Städtchen, gelegen am Fuße einer hohen Bergkette. Wir wollen uns indessen nicht über die Geographie verbreiten, sondern den »Räubern« von Schiller zusehen, denn diese werden gespielt, mit diesem Stück beginnt man gewöhnlich zu Twann die Saison. Es wird feurig gespielt, wenigstens findet das Wenzel, ein junger Drahtfabriklehrling[S. 157] von ungefähr siebzehn Jahren. Er steht oder sitzt oben auf der Galerie, von der es allgemein heißt, sie drohe nächstens zusammenzustürzen. Der Gemeinderatspräsident visitiert mit Spazierstock und Augenmerk die Galeriebrücke schnell und bündig, dann geht er in seine Loge hinunter, die Schaukel- und Hängebrücke wird für diese Nacht schon noch fest genug halten.

Wie herrlich aufregend diese »Räuber« sind, und wie gehagelt voll das Theater ist. Etwas Grünes hat man auf der Bühne gesehen, das ist der Amaliapark gewesen, ein Degen ist blitzend gezogen worden, und ein dünnbeiniger Schurke Franz hat sich auf seine Fersen gelegt, das heißt, er hat vor dem Weib in Schwarz die Flucht ergriffen. Hundertfach schön sind die Worte gewesen: »Könige sind Bettler, Bettler Könige!« — Wenzel hat gezittert.

Dann hat es eine Nachtszene gegeben, mittelalterlich angehaucht, Franz ist im Nachthemd[S. 158] hervorgedechlet, von Gespensterfurcht gejagt. Und wie er sich dann solchermaßen, wie es der Autor vorgeschrieben hat, benimmt, sich am Boden wälzt und ungeheuerliche Worte ausspricht, brüllt ein Uhrschalenmacher von der Galerie hinunter: il est fou! Daraufhin gibt es einen Tumult. Der betrunkene Neujahrsbruder wird hinunter- und hinausspediert, drei andere haben sich auf ihn geworfen, das gibt natürlich ein Getrampel und Gefluche, und der Franz-Mime wirft von unten her einen zündenden, edlen Blick auf die Höhenszene hinauf. »Wie wenig Verständnis gibt es doch in der Welt für die hohe Kunst«, denkt Wenzel.

Von da an ist sein heimlicher Entschluß gefaßt: er will Schauspieler werden. Zufolgedessen begibt er sich in die Buchhandlung Rüfenach an der Neuquartierstraße, um Klassikerwaren einzukaufen. Er gibt Geld aus, ziemlich viel sogar, Geld ist zwar rar bei einem Lehrling, aber was tut man nicht für eine erstmalig[S. 159] aufbrausende Begeisterung! Und so schleppt er denn Schiller, Goethe und den großen Engländer unter dem Arm in seine Dachkammer, ins elterliche Haus, und beginnt mit dem Rollenstudium.

Er liest auch die aufreizenden Biographien großer Bühnenkünstler in der »Gartenlaube« und in »Vom Fels zum Meer« und im »Buch für Alle«. Diese nachher berühmt gewordenen Leute haben vorher alle scheinbar auch kein Talent gehabt, gerade wie Wenzel, der vorläufig auch noch keins hat, der schüchtern ist, gerade wie jene Großen, der arm ist, auch gerade so, der Eltern hat, die ihn nicht verstehen, gerade so! Aber die Berühmtgewordenen haben sich frühzeitig auf die Beine gemacht, um einen Beschützer ihrer Pläne zu finden. Wenzel will das jetzt einstweilen ebenfalls tun.

In der Stadt Twann lebt ein reicher Herr, Bankier seines Zeichens und Wappens, eine Art Dandy, der in kostbarem Anzuge zu Pferd[S. 160] durch die Straßen der Stadt reitet. Eine Art Fürst, von dem es bekannt ist, daß er die Künste liebt und freigebig ist. In der Nacht des St. Niklaustages wirft besagter Herr jedes Jahr Kleingeld unter die notleidenden Schulkinder. Nun, ein notleidender Kunstbeflissener paßt ihm vielleicht nicht weniger als die darbende Jugend. Kunst ist auch eine Art Jugend, und der Kunsthunger peinigt nicht weniger als der tatsächliche Durst und Hunger.

Und Wenzel entwirft folgendes Schreiben: Hochverehrter Herr! Ich wage es, eine Bitte auszusprechen. Ich habe den Wunsch, Schauspieler zu werden, ich denke, ich werde einer tüchtigen Ausbildung bedürfen. Ich muß sprechen und mich benehmen lernen, das kostet Geld. Würden Sie mir welches vorstrecken? Es wird viel von Ihrer Güte und Menschenfreundlichkeit erzählt. Ich bin im Drahtzuge beschäftigt, und wenn Sie sich über meine geringe Person erkundigen wollen — aber wozu das? Ich bitte[S. 161] Sie, nicht zu denken, ich bettle. Der Seelenernst, der mich veranlaßt, Ihnen zu schreiben, bittet; er kann nicht betteln. Tausend Franken würden genügen, ich kann Entbehrungen ertragen. Meine Liebe zur Kunst ist eine offene, ich weiß nicht, wie groß sie ist, aber ich messe sie auch nicht, ich leide darunter, also wird sie groß sein müssen. Die Beschäftigung mit der Lektüre der Klassiker hat mich mutig gemacht. Verzeihen Sie, daß ich glauben kann, Sie seien bereit, mir Geld zu geben. Entschuldigen Sie die Kühnheit eines Herzens, das denkt, es gebe hilfsbereite Menschen. Nehmen Sie mir diesen Ton nicht übel, der junge Schiller hat auch so gesprochen.

Hochachtungsvoll und hoffnungsvoll

Wenzel.


Der Brief wird abgeschickt. Unterdessen werden Rollen auswendig gelernt. Der junge Frohmutige bekleidet sich mit einer Samtweste, die[S. 162] sein Vater zu Hochzeiten getragen hat. Über die Schulter wirft er einen alten Onkelsmantel, der in einer Stadt am Mississippi erhandelt worden ist, und um die Hüften wird eine Glarnerschärpe gewunden. Der Kopf bekommt eine zweckentsprechende Bedeckung, es ist dies eine Pfanne aus Filz, geziert mit einer Wildentenfeder. Die Hand hat sich eine gräuliche Pistole zu verschaffen gewußt, und den Beinen haften Waldhüterstiefel an. Also ausstaffiert wird »Karl« eingeübt.

Da fliegt auch schon aus der Villa des Kunstfürsten Antwort zurück: »Lieber, junger Freund, hüten Sie sich vor Bühnenlaufbahnen, das ist trügerisch. Glauben Sie mir, daß ich Ihr Bestes will, wenn ich Sie davon abzuhalten versuche, in die Welt der großen Worte, der schönen Gebärden und der glänzenden Kostüme hinüberzutreten. Der Schein hat Sie verführt. Bleiben Sie ein fleißiger und bescheidener Bürger, und lesen Sie nur die Klassiker, aber[S. 163] ruhig und ohne den Inhalt dieser schönen Bücher ernster zu nehmen, als gesund und vernünftig ist.« —

Gesund und vernünftig. Das sind keine Worte, die ein heißes Kunstherz trösten oder beruhigen. Wenzel macht dem Direktor des twanner Stadttheaters einen Besuch, um diesen Mann zu ersuchen, ihn auf die Tournees mitzunehmen. Er könne ja auch Körbe schleppen oder Zettel vertragen. Er würde gesagt haben, er könne ja möglicherweise auch Schuhe putzen, aber er hat nicht den Mut, das zu den Lippen herauszustoßen. Ein spanischer Schnurrbart antwortet ihm: »Junger Mann, ich kann unmöglich die Verantwortung übernehmen.«

Viele achtzehn Jahre alte Menschen gibt es auf der Welt, einige lassen sich Rat sagen, aber andere hören auf kein noch so kluges Wort. Wenzel will seinen Kopf durchsetzen. Er schreibt: »Edler Herr und Meister!« und richtet unter diesem Titel einen Brief an einen hauptstädtischen,[S. 164] beinahe ganz großen Schauspieler. Hierauf kommt es zur Talentprobe. Ein paar verstaubte Lorbeerkränze hören dem Vortrag zu, eine Frau, die wunderbar an Norddeutschland erinnert und an die Romane in der »Gartenlaube«, und er selber, der donnersschön dastehende Mime, der ein Gesicht hat, das an eine Abbildung denken läßt. Dieser Besuch endigt wehmütig.

Zu Hause werden Maskenübungen vorgenommen. Wenzel versucht, Hamlet in der Dachkammer zu geben. Ferdinand in »Kabale und Liebe« geht wie von selber. Der Spiegel dient dazu, zu prüfen, ob man fähig sei, dem Gesicht verschiedene Züge und Charaktere zu verleihen. Oft wird das Haar in Unordnung geworfen, weil das malerischer ist und ein bißchen Trost vorschwindelt. Auch bindet Wenzel selbstgeschnittene Seidenreste um den Halskragen, das kleidet und versetzt um ein ganzes Jahrhundert in die Zeiten zurück. Die Berge werden bestiegen, und hübsche, runde Weidenplätze, die[S. 165] die Natur anmutig gebildet hat, müssen als Schaubühne dienen. Rundum sind Tannen, und oben ist Himmel, und mitten drin steht der angehende und anlaufende Schauspieler Wenzel. Eines Tages tritt er dem Dramatischen Verein von Twann und Umgebung bei.

Ein Doktor der Literatur und Redakteur des »Expreß« leitet die Unternehmung. Wenzel findet ihn trocken und anmaßend. In einem hellerleuchteten Saal werden Übungen abgehalten, und der Doktor korrigiert an den Sprachausdrücken herum. Eine Heroine ist auch da, sie heißt Fräulein Sturm, und eine komische Alte, diese ist zwanzig Jahre alt und hat eine Stumpfnase und heißt Fräulein Knuchel. Sie hätte auch lieber das tragische Fach genommen, aber man hat gelacht über ihre Schmerzen und hat sie ins Komische geworfen. Wenzel gibt man ein historisches Trauerspiel »Niklaus Leuenberger« zum in die einzelnen Rollen Abschreiben, er nimmt das Manuskript nach Hause.

[S. 166]

Eines Abends nach dem Nachtessen will es der Vater ins Feuer werfen. Wenzel verteidigt das Manuskript, einem Löwen nicht unähnlich, bedeckt es mit der schützenden Hand und ruft aus: »Bist du ein Barbar, Vater, daß du Werke anerkannter Dichter zerreißen und in den Ofen werfen willst? Was haben diese schönen, armen Papiere dir zuleide getan? Gib lieber mir Prügel, wenn du zornig auf eine Beschäftigung bist, die du, wie es scheint, nicht zu würdigen, nur zu hassen imstande bist. Meinst du, mich von meinen Plänen abspenstig gemacht zu haben dadurch, daß es dir gelungen wäre, eine Tat der Wut und Unklugheit zu begehen? Was willst du? Ohrfeige mich, aber rühre diese schriftstellerische Arbeit, deren Wohlaufgehobenheit mir heilig ist, nicht mit der Hand an. Außerdem verdiene ich mit Abschreiben Geld. Wie kann man sich gegen eine unschuldige dramatische Dichtung derart ereifern, daß es einen gelüsten kann, sie zu vernichten. Du tätest besser[S. 167] daran, mir die Ideen, von denen es in meinem Kopfe wimmelt, aus demselben herauszuschlagen, aber wie ist das möglich, ohne mir diesen Kopf einzuschlagen? Wisse, Vater, Schauspieler habe ich werden wollen, und Schauspieler will ich auch heute noch werden. Was gilt mir die väterliche Zuneigung, wenn sie nicht anders kann, als dasjenige zu hassen, und bestrebt ist, dasjenige auszurotten, was mir das Liebste und Bedeutendste auf der Welt ist? Wie kann ich jemals von dem Fieber, das mich ergriffen hat, durch so unpassende Heilmethoden, wie die sind, die du dir anzuwenden erlaubst, geheilt werden, und wie ist es denkbar, daß Liebe zur Kunst nur ein Fieber ist? Und wenn! Deine Angriffe können mich niemals von der Schädlichkeit dieses Übels überzeugen, da müßtest du mir viel leidenschaftsloser begegnen. Leidenschaft gegen Leidenschaft, Krankheit gegen Krankheit! Ja, ich erlaube mir, das einen Fanatismus zu nennen, den Ungestüm, mit welchem du bemüht bist, die[S. 168] höhere Bildung, der ich mich hingegeben habe, mit Händen und Fäusten zu ersticken. Ist es ein Unsinn, wovon ich entflammt bin, nun gut, so wird er sich mir eines Tages in seiner wahren Gestalt und Stimme vorstellen, ich werde den Kunstgedanken dann aufgeben und trostlos sein. Dein Benehmen, lieber Vater, macht mich nicht unglücklich, sondern zornig, und jetzt erlaube mir, das Zimmer und den Schauplatz einer unschönen Szene zu verlassen und in meine Dachkammer hinaufzugehen.« So endet eine grimmige Attacke auf ein Bühnenmanuskript.

Ein anderer Auftritt, der bald hierauf stattfindet, gestaltet sich viel weicher, aber dafür viel schmerzlicher. Der Ort der Handlung ist die Küche. Wenzel hilft seiner Schwester Mathilde beim Geschirrabtrocknen. Diese sagt: »O, Wenzel, ich glaube halt doch nicht so recht an dein Talent. Denke doch nur an den eleganten jugendlichen Liebhaber von Müller. Du mein Gott, was bist du für ein grobes, gewöhnliches[S. 169] Kräutchen dagegen. Was hast du für Manieren. Glaubst du, mit dem bißchen Begeisterung, das du hast, auf die Welt der Bretter hinaufgelangen zu können? Sieh dich doch an! Oder glaubst du, du kämest aus in der großen Welt mit deinen paar Maria-Stuart-Rollen, oder Mortimer, oder wie der Herr heißt, den du immer beim Schuhwichsen vor dich her deklamierst? Ich kann mir das nicht so recht denken. Hast du jemals Handschuhe getragen? Du bist ja doch zu so etwas viel, viel zu schüchtern. Du kannst nicht einmal den Mund auftun, wenn meine Freundinnen da sind, wieviel weniger auf offener Bühne vor aller versammelter Welt Augen. Das mag für andere das Leichteste sein, für dich aber ist es schwer, glaube mir das. Mach du lieber Gedichte.«

Wenzel erwidert: »Ich weiß wohl, wie unfertig und unbeholfen ich bin. Aber ich meine, es kommt in der Kunst allein auf das freche Maul auch nicht immer an. Was sind das[S. 170] für Künstler, deine jugendlichen und ältlichen Herren Liebhaber, von denen du mir da vorredest, diese von Beck und von Müller und von Almen. Soviel wie die kann ich bald auch noch. Aber freilich, ein glänzendes Auftreten, unverfroren wie nichts in der Welt sonst, das besitzen sie. Da kann ich ihnen lange nachspringen, bis ich sie nur eingeholt, geschweige denn überflügelt habe. Das ist allerdings traurig. Aber wenn du mir zumutest, statt an den schönen Schauspielen zu hängen, Gedichte zu machen, so muß ich dir meinerseits danken.«

Der Dramatische Verein führt ein Stück von Schönthan auf. Wenzel soll einen prinzlichen Lakaien spielen, der unter anderem eine Ohrfeige hinzunehmen hat. Nein, das kann er nicht spielen, das ist zu elend. Das verletzt zu sehr. Er flüchtet am Aufführungsnachmittag in die Berge. Der wilde, kalte Wind braust, die hohen Tannen biegen und beugen sich, wie gut und natürlich ist das, im Vergleiche zum[S. 171] ohrfeigengewärtigenden Lakaien. Er bleibt der Vorstellung fern, es ist zu dumm, zu vernichtend, zu nichtswürdig, er kann nicht. »Habe ich solchermaßen Liebe zur Bühne?« denkt Wenzel, »ist das Liebe?« Die Rolle ist ihm nicht gut genug, und da fragt er sich nun, ob das der Beweis seiner Unfähigkeit sei, auf der Bühne aufzutreten. Sein Gewissen sagt ihm: »Die Liebe und die Leidenschaften vertragen alles, auch eine Ohrfeige.«

Nach Verlauf zweier Monate befindet sich Wenzel in einer entfernten größeren Stadt, er verdient sich sein Leben in einem Speditionsgeschäft, er bezieht Gehalt, er spart, er nimmt Unterricht, regelrechten, bei einem anerkannt tüchtigen Heldenspieler. Jetzt wird die Sache doch wohl endlich vorwärtsgehen. Er macht Lungen-, Zungen-, Lippen- und Atemübungen und lernt Vokale und Konsonanten richtig und deutlich aussprechen. Es imponiert ihm, wie methodisch der Unterricht sich vorwärtsbewegt, und der Schauspieler sagt ihm: »Sie machen Fortschritte«.[S. 172] In diesem Moment erhält der Lehrer und Erzieher folgenden Brief vom Vater Wenzels:


An den Schauspieler Jank.

Sie geben meinem Sohn Unterricht. Diese Neuigkeit ist mir zu meinem großen Leidwesen durch dortige Verwandte, bei denen Wenzel, dieser, wie es scheint, höchst Ungeratene, in Kost und Logis lebt, zugegangen. Sie sollen das nicht tun, Sie sollen das schleunigst aufgeben. Der leidigen Affären habe ich mit meinem Sohne nun schon genug gehabt. Traurig ist, daß Sie, an den sich der Schlingel heranzumachen verstanden hat, denselben nicht augenblicklich fortgeschickt haben, sondern ihn, wie ich erfahre, unterstützen im Glauben und in der Vorliebe für Dinge, die in meinen und anderer gesetzt lebenden Menschen Augen von jeher als unanständig gegolten haben. Das fehlt noch, daß mein Sohn, als ein Sproß braver, bürgerlicher[S. 173] Eltern, zu den Lumpenkomödianten übertreten sollte und sich zu den Gesellen zählen müßte, die die Schande, in welcher sie herumlottern und leben, gar noch für etwas Gutes und Erlaubtes halten. Ich kann mir denken, daß es Ihnen willkommen ist, einen Nebenverdienst durch Unterrichtgeben zu gewinnen, aber der Unterricht, den Sie und die Leute Ihrer Verfassung und Umgebung erteilen, schadet, er ist etwas Sündhaftes, er wirkt verderblich auf Moral und Charakter. Wer Sie sind, weiß ich nicht, es genügt, daß ich das Gefühl habe, Sie gehören zu denjenigen Menschen, deren Stellung in der Welt keine, deren Tun unvertrauenswert und deren Lebensweise eine tief zerrüttete ist. Ich habe angedeutet, zu welcher Klasse von Leuten gehörig ich Sie vermute. Wenzel ist ein Taugenichts und verdiente, bei Ihnen gelassen zu werden. Vielleicht haben Sie soviel letzte Ehre, Herr Schauspieler und Bühnenkomödiant, auf diese Worte den Bengel[S. 174] die Treppe hinunterzuwerfen, anderenfalls steht mir die Hilfe der Polizei zur raschen Verfügung.

Achtungsvoll

der Vater von Wenzel.


Der gesegnete Unterricht hat damit ein Ende. Der Heldenspieler sagt zu Wenzel: »Sehen Sie, ein solcher Mensch ist Ihr Vater. Ich kann ihn verklagen, wenn ich will, aber ich tu's nicht. Seine Beleidigungen treffen mich nicht, und damit ist es gut. Er hat von uns Künstlern die Meinung eines borniert-bürgerlich denkenden Menschen, und es fragt sich, wer von uns beiden der bessere und gutwilligere Staatsbürger ist, ich oder Ihr Herr Vater.«

Wenzel geht nach Hause und macht seinen Tanten, bei denen er wohnt, Vorwürfe. Er sagt: »Was habt ihr euch in meine Kunstzwecke und -ziele einzumischen gehabt? So! Jetzt ziehe ich von euch weg, habt ihr verstanden?[S. 175] Die guten Konfitüreomeletten, die man hier ißt, sind kein genügender Grund, sich ruhig die Verbindungen mit so vortrefflichen Leuten, wie dem guten Heldenspieler, abknüpfen und abknipsen zu lassen. Meinetwegen eßt sie selber. Ich bin alt genug, daß ich im Restaurant essen und wohnen kann, wo es mir behagt. Zum Ersten ziehe ich aus. Und in dieser Stadt bleibe ich überhaupt nicht mehr sehr lange. Sie ist mir verleidet.«

In der Tat, Wenzel reist bald ab. Er packt seine Schauspielergedanken in seinen Handkoffer, auch die Klassiker vergißt er nicht. Er fährt nach dem Schwabenland. Dort hat man ihm aber eines Tages dann ganz gehörig die Meinung gesagt, es hat einfach geheißen: »Junger Mann, von wo Sie auch abstammen, gut oder minder gut bürgerlich, Ihnen fehlen die göttlichen Funken!«


[S. 176]

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Paganini. Variation

Der Konzertsaal war dichtgedrängt voll von Menschen, da trat Paganini, die Geige in der Hand, hervor und fing ohne die mindesten Umschweife und Komplimente an zu spielen, indem er frei von der Seele weg phantasierte. Paganini wußte nie zum voraus, was und wie er spielen würde; ebensowenig musizierte er, als[S. 177] wenn er für ein geehrtes Publikum Musik machen sollte und wollte. Nein, er spielte wie für sich selber oder wie für niemanden; er spielte so wie es ihn packte, und einmal das Spiel begonnen, vergaß er, daß er spielte.

Auch diesmal war das so, auch heute, wo doch Fürsten und Fürstinnen im Saale saßen, um ihm zu lauschen, wußte er gar nicht, wo er war, spielte er, als spiele er für niemanden.

Aber gerade darum spielte er so schön. Er spielte, wie wenn er der Sklave seines Zauberspieles sei, und das Spiel der dämonische Zauberer. Nicht er selber war so sehr der Dämon als vielmehr es, das Spiel, ganz allein, und er, der Spieler, der Unterjochte, darum spielte er, als sei er der blasse silberne Mond, der sich taucht in das mitternächtliche tiefe schwarze Wasser; als sei er der blitzende Stern am dunklen stillen Himmel; als sei er das Wort im Mund des Liebenden, redend zu der Geliebten; als sei er eine Nachtigall und wisse sich nicht zu lassen[S. 178] vor Lust am Klagen und süßen Seufzen, als sei er das stolze feurige Pferd und galoppiere in die Schlacht, als sei er der verwundete Krieger in der Schlacht und müsse sterben an seinen Wunden; als sei er wieder das sechzehnjährige Mädchen und träume von Liebe; als sei er der Kuß, gegeben und empfangen von zwei schönen zuckenden, fiebernden Lippenpaaren und ziehe sich in die Länge, als müßten zwei, die sich sterblich lieben, für immer grausam voneinander Abschied nehmen, am letzten feierlichen Kuß noch recht lange lechzend.

So spielte er, und die Zuhörer hatten Tränen in den Augen. Den bösesten Wüstling und Rohling überfielen Zartheiten, deren Gewalt er sich nicht erwehren konnte, die Männer vergaßen, daß sie Männer seien und überließen sich völlig dem Genuß des Horchens und Empfindens; und die Frauen fühlten sich geküßt und geherzt von einem eingebildeten Geliebten, der sinnlich überirdisch sich auf sie niederstürzte, ganz Liebkosung.

[S. 179]

So spielte er. Gleich einem Engel spielte er, und viele Hörer deckten sich die Augen zu, um mit inneren Augen in das Reich der Seele, der Liebe und der strahlenden Schönheit zu schauen. Oftmals aber wieder wetterte und zürnte er wie das tobende, krachende, zischende und stürmende Ungewitter, der grollende, zürnende Donner rollte, und ein schwarzer, mit Zorn und Finsternis geladener Himmel sank in den Konzertsaal, und der Blitz zuckte jäh umher mit seinen schauerlich schönen, jähzornig-anmutigen Zickzacklinien. Unmittelbar darauf verlor er sich in süßen, sonnigen, goldenen Harmonien, daß die Leute meinten, sie seien in den Himmel gekommen und alles um sie her sei blau von Freude, Güte und Liebe. Dies war eine Art von allesumfassender Liebe, eine Art von Schwelgen und Schmelzen in Seligkeiten. Paganinis Musik glich oft einer hinreißend schönen Predigt, und die strenggläubigsten Leute besuchten gern sein Konzert, das einen Feuerstrom von Religion[S. 180] enthielt. Auch heute wieder spielte er wie ein Prediger des Wortes Gottes; nur waren es Töne, nicht Worte, und der Mund, mit dem er redete, war seine Geige, der er die ganze Tonwelt entlockte. Bald jammerte und bald jubelte er; bald loderte er wie das Feuer und bald zerfloß er wie weicher nasser Schnee unter dem Kuß der Sonne. Auf einmal war er das Meer; dann wieder glich er der keuschen schüchternen Blüte, aber immer war er wahr und groß und er spielte ohne alle Umstände. Die Musik war ihm wie das wogende Leben selber; wie hätte er da eitel sein können? Er litt ja unter der Kunst; sie war seine süße unerbittliche Herrin, der Felsen, den er zu erklettern, der Widerstand, den er zu besiegen, der Himmel, den er von neuem immer wieder zu erstürmen und zu erobern hatte.

Auch an diesem Abend war das wieder so: er lebte, indem er spielte und war ganz nur Mensch, wo er konzertierte. Alle, die ihm zuhörten,[S. 181] fühlten das. Wer gehässig und überdrüssig war, der fing an zu lieben und zu beten beim Anhören des wunderbaren Spieles, das in die Seelen strahlte wie Sonnenstrahlen. Die Abneigung mußte sich in Neigung, der Unmut sich in Mut, die Unlust sich in Lust und der Unsegen sich in Segen verwandeln. So bannte und bezauberte er das Publikum, sich selber bezaubernd. Erinnerungen machte er aufsteigen, und lange Zeit schon Totes und Verschüttetes erweckte er zum Leben; dafür war, wer ihm lauschte, ganz nur Aufmerksamkeit, ganz nur Ohr.

Da plötzlich, als sei er erwacht aus einem schönen Traum, endete er sein Spiel. Da war es den Leuten ums Herz, als sei die ganze Zeit über, während er gespielt hatte, der Himmel offen gewesen, und nun sei der Anblick ihnen wieder verloren gegangen. Still erhoben sie sich von den Plätzen und gingen nach Hause.


[S. 182]

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Die Schlacht bei Sempach

Eines Tages, mitten im heißen Sommer, zog sich auf der staubbedeckten Landstraße ein Heereszug in die Luzerner Gegend langsam dahin. Die helle, eigentlich mehr als helle Sonne blendete auf die tanzenden Rüstungen herab, auf Rüstungen, die Menschenkörper bedeckten, auf tanzende Rosse, auf Helme und Stücke Gesichter, auf Pferdeköpfe und Schweife, auf Zieraten und Büsche und Steigbügel, die groß waren wie Schneeschuhe. Rechts und links von dem glänzenden Heereszug breiteten sich Wiesen mit Tausenden von Obstbäumen[S. 183] aus, bis an Hügel heran, die aus der blau-duftenden, halb verschwommenen Ferne wie leise und behutsam gemalte Dekorationen winkten und wirkten. Es war eine vormittäglich drückende Hitze, eine Wiesenhitze, eine Gras-, Heu- und Staubhitze, denn Staub wurde aufgeworfen, wie dicke Wolken, die manchmal Stücke und Teile vom Heer einhüllen wollten. Schleppend, stampfend und nachlässig ging die schwere Kavalkade vorwärts; sie glich oft einer schillernden, langen Schlange, oft einer Eidechse ungeheuren Umfanges, oft einem großen Stück Tuch, reich von Figuren und farbigen Formen durchwoben und feierlich nachgezogen, wie Damen, meinetwegen ältliche und herrische, gewöhnt sind, Schleppen nachzuziehen. In der ganzen Art und Weise dieses Heergewoges, im Stampfen und Klirren, in diesem schnöden schönen Gerassel lag ein einziges »Meinetwegen« enthalten, etwas Freches, sehr Zuversichtliches, etwas Umwerfendes, träg beiseite Schiebendes. Alle diese[S. 184] Ritter unterhielten sich, so gut es durch die stählernen Mäuler gehen wollte, in fröhlichem Wortgefecht miteinander; Lachen ertönte und dieser Laut paßte vorzüglich zu dem hellen Ton, den die Waffen und Ketten und goldenen Gehänge verursachten. Die Morgensonne schien manches Blech und feinere Metall noch zu liebkosen, die Pfeifentöne flogen zu der Sonne herauf; ab und zu reichte einer der vielen zu Fuß daherstelzenden Diener seinem reitenden Herrn einen delikaten Bissen, an eine silberne Gabel gesteckt, zum schwankenden Sattel hinauf. Wein wurde flüchtig getrunken, Geflügel verzehrt und nicht Eßbares ausgespuckt, mit einer leichten, sorglosen Gemütlichkeit, denn es ging ja in keinen ernsthaften, ritterlichen Krieg, es ging zu Abstrafung, Notzucht, zu blutigen, höhnischen, schauspielerischen Dingen, so dachte jeder; und jeder erblickte schon die Masse von abgeschlagenen Köpfen, die die Wiese blutig färben sollten. Unter den Kriegsherren befand sich mancher[S. 185] wundervolle junge adelige Mensch in herrlicher Bekleidung, zu Pferd sitzend wie ein vom blauen, ungewissen Himmel niedergeflogener männlicher Engel. Mancher hatte den Helm, um es sich bequem gemacht zu haben, abgezogen und einem Troßbuben zum Tragen herabgereicht und zeigte so der freien Luft ein sonderbar von Unschuld und Übermut schön gezeichnetes Gesicht. Man erzählte die neuesten Witze und besprach die jüngsten Geschichten von galanten Frauen. Wer ernst blieb, wurde zum besten gehalten; eine nachdenkliche Miene schien man heute unanständig und unritterlich zu finden. Die Haare der Jünglinge, die ihren Helm abgenommen hatten, glänzten und dufteten von Salben und Öl und wohlriechendem Wasser, das sie sich aufgeschüttet hatten, als habe es gegolten, zu einer koketten Dame zu reiten, um ihr reizende Lieder vorzusingen. Die Hände, von denen die eisernen Handschuhe abgestreift worden, sahen nicht kriegerisch, vielmehr gepflegt und verhätschelt aus,[S. 186] schmal und weiß wie Hände von jungen Mädchen.

Einer allein in dem tollen Zug war ernst. Schon sein Äußeres, eine tiefschwarze, von zartem Gold durchbrochene Rüstung, zeigte an, wie der Mensch, den sie deckte, dachte. Es war der edle Herzog Leopold von Österreich. Dieser Mann sprach kein Wort; er schien ganz in sorgenvolle Gedanken versunken. Sein Gesicht sah aus wie das eines Menschen, der von einer frechen Fliege um das Auge herum belästigt wird. Diese Fliege wird wohl seine böse Ahnung gewesen sein, denn um seinen Mund spielte ein fortwährendes verächtlich-trauriges Lächeln; das Haupt hielt er gesenkt. Die ganze Erde, so heiter sie auch aussah, schien ihm zornig zu rollen und zu donnern. Oder war es nur der trampelnde Donner der Pferdehufe, da man jetzt eine hölzerne Reußbrücke passierte? Immerhin: etwas Unheilverkündendes wob schauerlich um des Herzogs Gestalt.

[S. 187]


In der Nähe des Städtchens Sempach machte das Heer Halt; es war jetzt so um zwei Uhr nachmittags. Vielleicht war es auch drei Uhr; es war den Rittern so gleichgültig, wieviel Uhr es sein mochte; ihretwegen hätte es zwanzig Uhr sein dürfen: sie würden es auch in der Ordnung gefunden haben. Man langweilte sich schon schrecklich und fand jede leise Spur von kriegerischer Maßregel lächerlich. Es war ein stumpfsinniger Moment, es glich einem Scheinmanöver, wie man jetzt aus den Sätteln sprang, um Stellung zu nehmen. Das Lachen wollte nicht mehr tönen, man hatte schon so viel gelacht, eine Ermattung, ein Gähnen stellte sich ein. Selbst die Rosse schienen zu begreifen, daß man jetzt nur noch gähnen könne. Das dienende Fußvolk machte sich hinter die Reste der Speisen und Weine, soff und fraß, was es noch zu fressen und zu saufen gab. Wie lächerlich dieser ganze Feldzug allen erschien! Dieses Lumpenstädtchen, das noch trotzte: wie dumm das war!

[S. 188]

Da ertönte plötzlich in die furchtbare Hitze und Langeweile hinein der Ruf eines Hornes. Eine eigentümliche Ankündigung, die ein paar aufmerksamere Ohren horchen ließ: Was kann da nun sein? Horch: schon wieder. Da tönte es schon wieder, wirklich, und man hätte allgemein glauben sollen, diesmal ertöne es in weniger weiter Entfernung. »Aller guten Dinge sind drei«, lispelte ein geckiger Witzbold; »töne doch noch einmal, Horn!« Eine Weile verging. Man war etwas nachdenklich geworden; und nun, mit einem Mal, fürchterlich, als hätte das Ding Flügel bekommen und reite auf feurigen Ungeheuern daher, flammend und schreiend, setzte es noch einmal an, ein langer Schrei: Wir kommen! Es war in der Tat, als bekomme da plötzlich eine Unterwelt Lust, durch die harte Erde durchzubrechen. Der Ton glich einem sich öffnenden dunklen Abgrund und es wollte scheinen, als ob jetzt die Sonne aus einem finsteren Himmel herableuchte, noch glühender, noch greller,[S. 189] aber wie aus einer Hölle, nicht wie aus einem Himmel herab. Man lachte auch jetzt noch; es gibt ja Momente, wo der Mensch glaubt, lächeln zu sollen, während er sich vom Entsetzen angepackt fühlt. Die Stimmung eines Heereszuges von vielen Menschen ist schließlich ja nicht viel anders als die Stimmung eines einzelnen, einsamen Menschen. Die ganze Landschaft in ihrer brütend weißlichen Hitze schien jetzt nur noch immer Tut zu machen, sie war zum Hörnerton geworden; und nun warf sich denn auch alsobald zu dem Tonraum, wie aus einer Öffnung, der Haufe von Menschen heraus, denen der Ruf vorangegangen war. Jetzt hatte die Landschaft keine Kontur mehr; Himmel und sommerliche Erde verschwammen in ein Festes; aus der Jahreszeit, die verschwand, war ein Fleck, ein Fechtboden, ein kriegerischer Spielraum, ein Schlachtfeld geworden. In einer Schlacht geht die Natur immer unter, der Würfel herrscht nur noch, das Gewebe der Waffen, der Haufe Volkes und der andere Haufe Volkes.

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Der vorwärtseilende, allem Anschein nach hitzige Volkshaufe kam näher heran. Und der ritterliche Haufe war fest, er schien auf einmal ineinandergewachsen zu sein. Kerle von Eisen hielten ihre Lanzen vor, daß man auf der Lanzenbrücke hätte per Break spazierenfahren können, so dicht waren die Ritter eingeklemmt und so stumpfsinnig stach Lanze an Lanze nach vorn, unbeweglich, unverrückbar, gerade etwas, sollte man gemeint haben, für so eine drängende, stürmende Menschenbrust, die sich daran festspießen könnte. Hier eine stupide Wand von Spitzen, dort Menschen, mit Hemden zur Hälfte bedeckt. Hier Kriegskunst, von der borniertesten Sorte, dort Menschen von ohnmächtigem Zorn ergriffen. Da stürmte nun immer einer und dann der andere, verwegen, um nur dieser ekelhaften Unlust ein Ende zu machen, in eine der Lanzenspitzen toll, verrückt, vom Zorn und von der Wut hingeworfen. Natürlich auf die Erde, ohne nur den behelmten und befiederten Lümmel aus Eisen[S. 191] noch mit der Handwaffe getroffen zu haben, erbärmlich aus der Brust blutend, sich überschlagend, das Gesicht in den staubigen Rossedreck, den hier die adeligen Rosse hinterlassen hatten. So ging's all diesen beinahe unbekleideten Menschen, während die Lanzen, schon von dem Blut gerötet, höhnisch zu lächeln schienen.


Nein: Das war nichts; man sah sich auf der Seite der »Menschen« genötigt, einen Trick anzuwenden. Der Kunst gegenübergestellt, wurde Kunst nötig oder irgendein hoher Gedanke; und dieser höhere Gedanke, in Gestalt eines Mannes von hoher Figur, trat auch alsogleich vor, merkwürdig, wie von einer überirdischen Macht vorgeschoben, und sprach zu seinen Landsleuten: »Sorget ihr für mein Weib und für meine Kinder, ich will euch eine Gasse bohren«; und warf sich blitzschnell, um nur ja nicht an seiner Lust, sich zu opfern, zu erlahmen, in vier, fünf[S. 192] Lanzen, riß auch noch mehrere, so viele, wie er sterbend packen konnte, nach unten, zu seiner Brust, als könne er gar nicht genug eiserne Spitzen umarmen und an sich drücken, um nur ja so recht aus dem Vollen untergehen zu können, und lag am Boden und war Brücke geworden für Menschen, die auf seinen Leib traten, auf den hohen Gedanken, der eben getreten sein wollte. Nichts wird je wieder einem solchen Schmettern gleichen, wie nun die leichten, von der Wut gestoßenen und gehobenen Berges- und Talmenschen hineinschmetterten, in die tolpatschige verruchte Wand hinein, und sie zerrissen und zerklopften, Tigern ähnlich, die eine wehrlose Herde von Kühen zerreißen. Die Ritter waren jetzt fast ganz wehrlos geworden, da sie sich, in ihre Enge gekeilt, kaum nach einer Seite bewegen konnten. Was auf Pferden saß, wurde wie Papier hinuntergeworfen, daß es krachte, wie mit Luft gefüllte Tüten krachen, wenn man sie zwischen zwei Händen zusammenschlägt. Die[S. 193] Waffen der Hirten erwiesen sich jetzt als furchtbar und ihre leichte Bekleidung als gerade recht; um so lästiger waren die Rüstungen für die Ritter. Köpfe wurden von Hieben gestreift, scheinbar nur gestreift und erwiesen sich schon als eingeschlagen. Es wurde immer geschlagen, Pferde wurden umgeworfen, die Wut und die Kraft nahmen immer zu, der Herzog wurde getötet; es wäre ein Wunder gewesen, wenn er nicht getötet worden wäre. Diejenigen, die schlugen, schrien dazu, als gehöre es sich so, als wäre das Töten eine noch zu geringfügige Vernichtung, etwas nur Halbes.

Hitze, Dampf, Blutgeruch, Dreck und Staub und das Geschrei und Gebrüll vermischten sich zu einem wilden, höllischen Getümmel. Sterbende empfanden kaum noch ihr Sterben, so rapid starben sie. Sie erstickten vielfach in ihren prahlerischen Eisenrüstungen, diese adeligen Dreschflegel. Was galt nun noch eine Stellungnahme? Jeder würde gern darauf gepfiffen[S. 194] haben, wenn er überhaupt noch hätte pfeifen können. An die hundert schönen Edelleute ertranken, nein: ersoffen im nahegelegenen Sempachersee; sie ersoffen, denn sie wurden wie Katzen und Hunde ins Wasser gestürzt, sie überpurzelten und überschlugen sich in ihren eleganten Schnabelschuhen, daß es eine wahre Schande war. Der herrlichste Eisenpanzer konnte nur noch Vernichtung versprechen und die Verwirklichung dieser Ahnung war eine fürchterlich korrekte. Was war es nun, daß man daheim, irgendwo im Aargau oder in Schwaben, Schloß, Land und Leute besaß, eine schöne Frau, Knechte, Mägde, Obstland, Feld und Wald und Abgaben und die feinsten Privilegien? Das machte das Sterben in diesen Pfützen, zwischen dem straffgezogenen Knie eines tollen Hirten und einem Stück Boden, nur noch bitterer und elender. Natürlich zerstampften die Prachtrosse in wilder Flucht ihre eigenen Gebieter; viele Herren auch blieben, indem sie jählings absteigen wollten, in den[S. 195] Steigbügeln mit ihren dummen Modeschuhen hängen, so daß sie mit den blutenden Hinterköpfen die Wiesen küßten, während die erschreckten Augen, bevor sie erloschen, den Himmel über sich wie eine ergrimmte Flamme brennen sahen. Freilich brachen auch Hirten zusammen, aber auf einen Nacktbrüstigen und Nacktarmigen kamen immer zehn Stahlbedeckte und Eingemummelte. Die Schlacht bei Sempach lehrt eigentlich, wie furchtbar dumm es ist, sich einzumummeln. Hätten sie sich bewegen können, diese Hampelmänner: gut, sie würden sich eben bewegt haben; einige taten es, da sie endlich sich vom Allerunerträglichsten, was sie über dem Leib hatten, befreit hatten. »Ich kämpfe mit Sklaven, o Schande!« rief ein schöner Junge mit gelblich vom Haupt niederquellenden Locken und sank, von einem grausamen Hieb ins liebe Gesicht getroffen, zu Boden, wo er, zu Tode verwundet, ins Gras biß mit dem halb zerschmetterten Munde. Ein paar Hirten, die[S. 196] ihre Mordwaffen aus den Händen verloren hatten, fielen wie Ringer auf dem Ringplatz die Gegner von unten herauf mit Nacken und Kopf an oder warfen sich, den Streichen ausweichend, auf den Hals der Ritter und würgten, bis abgewürgt war.


Inzwischen war Abend geworden, in den Bäumen und Büschen glühte das erlöschende Licht, während die Sonne zwischen den dunklen Vorbergen wie ein toter, schöner, trauriger Mann untersank. Die grimmige Schlacht hatte ein Ende. Die schneeweißen, blassen Alpen hingen im Hintergrund der Welt ihre schönen, kalten Stirnen hinunter. Man sammelte jetzt die Toten, man ging zu diesem Zweck still umher, hob auf, was an gefallenen Menschen am Boden lag, und trug es in das Massengrab, das andere gegraben hatten. Fahnen und Rüstungen wurden zusammengetan, bis es ein[S. 197] stattlicher Haufe wurde. Geld und Kostbarkeiten, alles gab man an einem bestimmten Ort ab. Die meisten dieser einfachen, starken Männer waren still und gut geworden; sie betrachteten den erbeuteten Schmuck nicht ohne wehmutvolle Verachtung, gingen auf den Wiesen umher, sahen den Erschlagenen in die Gesichter und wuschen Blut ab, wo es sie reizte, zu sehen, wie etwa noch die besudelten Gesichtszüge aussehen mochten. Zwei Jünglinge fand man zu Füßen eines Buschwerkes mit Gesichtern, so jung und hell, mit im Tode noch lächelnden Lippen, umarmt am Boden. Dem einen war die Brust eingeschlagen, dem anderen der Leib durchgehauen worden. Bis in die späte Nacht hatten sie zu tun; mit Fackeln wurde dann gesucht. Den Arnold von Winkelried fanden sie und erschauerten beim Anblick dieser Leiche. Als die Männer ihn begruben, sangen sie mit dunkeln Stimmen eins ihrer schlichten Lieder; mehr Gepränge gab es da nicht. Priester waren nicht[S. 198] da; was hätte man mit Priestern tun sollen? Beten und dem Herrgott danken für den erfochtenen Sieg: Das durfte ruhig ohne kirchliches Gefackel geschehen. Dann zogen sie heim. Und nach ein paar Tagen waren sie wieder in ihre hohen Täler zerstreut, arbeiteten, dienten, wirtschafteten, sahen nach den Geschäften, versahen das Nötige und sprachen noch manchmal ein Wort von der erlebten Schlacht; nicht viel. Sie sind nicht gefeiert worden (ja, vielleicht ein bißchen, in Luzern beim Einzug): gleichviel, die Tage gingen darüber weg, denn barsch und rauh werden die Tage mit ihren mannigfachen Sorgen schon damals, Anno 1386, gewesen sein. Eine große Tat tilgt die mühselige Folge der Tage nicht aus. Das Leben steht an einem Schlachtentag noch lange nicht still; die Geschichte nur macht eine kleine Pause, bis auch sie, vom herrischen Leben gedrängt, vorwärtseilen muß.


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Tagebuch eines Schülers

Als Progymnasiast sollte man eigentlich anfangen, ein wenig ernsthaft über das Leben nachzudenken. Nun: Das gerade will ich versuchen. Einer unserer Lehrer heißt Wächli. Ich muß immer lachen, wenn ich an Wächli denke; er ist doch zu komisch. Er gibt immer Ohrfeigen, aber diese seltsamen Ohrfeigen tun gar nicht weh. Der Mann hat es noch nicht gelernt, richtige, gutsitzende Ohrfeigen zu geben.[S. 200] Er ist der gutmütigste, drolligste Mensch der Welt; und wie ärgern wir ihn! Das ist nicht edel. Wir Schüler sind überhaupt keine vornehmen Naturen; uns fehlt vielfach das schöne abmessende Taktgefühl. Warum stürzen wir uns mit unserem Witz eigentlich gerade über einen Wächli? Wir haben wenig Mut; wir verdienten einen Inquisitor zum Vorgesetzten. Ist Wächli einmal vergnügt und heiter, dann benehmen wir uns so, daß seine muntere, zufriedene Stimmung augenblicklich davonfliegen muß. Ist das richtig? Kaum. Ist er zornig, so lachen wir ihn nur aus. Ach, es gibt Menschen, die im Zorn so komisch sind; und gerade Wächli scheint zu dieser Sorte zu gehören. Des Meerrohres bedient er sich nur ganz selten; er ist sehr selten in solcher Wut, daß er nötig hat, zu diesem widerwärtigen Mittel zu greifen. Dick und groß ist er von Gestalt und sein Gesicht ist purpurrot angelaufen. Was soll ich noch sonst von diesem Wächli sagen? Im allgemeinen,[S. 201] scheint mir, hat er seinen Beruf verpaßt. Er sollte Bienenzüchter sein oder so etwas. Er tut mir leid.


Blok (so heißt unser Französischlehrer) ist ein langer, dürrer Mensch von unsympathischem Wesen. Er hat dicke Lippen und die Augen möchte man auch dick und aufgeblasen nennen; sie ähneln den Lippen. Er spricht boshaft und geläufig. Das hasse ich. Ich bin sonst ein ganz guter Schüler, aber bei Blok habe ich meistens nur Mißerfolge zu verzeichnen. Das kommt jedenfalls daher, daß dieser Mensch mir das Lernen verleidet. Man muß ein unempfindlicher Kerl sein, um bei Blok gut und brav dazustehen. Nie kommt er aus sich heraus. Wie verletzend ist das für uns Schüler, empfinden zu müssen, daß wir ganz außerstande sind, diese lederne Briefmappe von Mensch irgendwie ärgern zu können. Er gleicht einer Wachsfigur und das hat etwas Unheimliches und Schreckliches.[S. 202] Er muß einen häßlichen Charakter haben und ein abscheuliches Familienleben führen. Gott behüte einen vor solch einem Vater. Mein Vater ist ein Juwel: Das empfinde ich besonders lebhaft, wenn ich Blok betrachte. Wie steif er immer dasteht: so, als wenn er zur Hälfte aus Holz und zur Hälfte aus Eisen wäre. Wenn man bei ihm nichts kann, so höhnt er einen aus. Andere Lehrer werden doch wenigstens wütend. Das tut einem wohl, denn man erwartet es. Ehrliche Entrüstung macht einen so guten Eindruck. Nein, kalt steht er da, dieser Blok, und konstatiert Lob oder Tadel. Sein Lob ist schmierig, denn es erwärmt einen gar nicht; und mit seinem Tadel weiß man nichts anzufangen, denn er kommt aus ganz trockenem, gleichgültigem Mund. Bei Blok verwünscht man die Schule; er ist auch gar kein rechter Lehrer. Ein Lehrer, der die Gemüter nicht zu bewegen versteht ... Aber was rede ich da? Tatsache ist, daß Blok mein[S. 203] Französischlehrer ist. Das ist traurig, aber es ist eine Tatsache.


Neumann, genannt Neumeli: wer möchte sich nicht wälzen vor Lachen, wenn von diesem Lehrer die Rede ist? Neumann ist unser Turnlehrer und zugleich unser Schönschreiblehrer; er hat rotes Haar und finstere, vergrämte, spitze Gesichtszüge. Er ist vielleicht ein sehr, sehr unglücklicher Mensch. Er ärgert sich immer so wahnsinnig. Wir haben ihn vollständig in unserer Hand, wir sind ihm vollkommen überlegen. Solche Menschen, wie er, flößen keinen Respekt ein; zuweilen Furcht, nämlich dann, wenn sie vor Zorn den gesunden Verstand zu verlieren scheinen. Er kann sich gar nicht ein bißchen beherrschen, sondern jagt scheinbar alle seine Empfindungen bei jeder kleinsten Gelegenheit in ein Loch hinab, in den Ärger. Gewiß geben wir ihm Ärgeranlaß. Aber warum hat er so lächerlich rotes Haar? So vortreffliche Pantoffelheldmanieren?[S. 204] Einer meiner Schulkameraden heißt Junge; er will Koch werden, sagt er. Dieser Junge hat einen so herrlich ausgeprägten Hintern. Muß er nun Rumpfbeuge machen, so tritt der Hintere von Junge noch toller zum Vorschein. Da lacht man eben; und Neumann haßt das Lachen furchtbar. Es ist ja auch etwas Scheußliches, solch ein ganzes, ineinandertönendes und gellendes Klassengelächter. Wenn eine ganze Klasse nur so herauslacht: zu was für Mitteln muß dann ein Lehrer greifen, um sie zu besänftigen? Zur Würde? Das nützt ihm gar nichts. Ein Neumann hat überhaupt keine richtige Würde. Ich liebe die Turnstunde sehr und den lieben Junge möchte ich küssen. Man lacht so gern unmäßig. Zu Junge bin ich artig; ich mag ihn sehr gern. Ich gehe oft mit ihm spazieren; und dann reden wir vom bevorstehenden, ernsten Leben.

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Rektor Wyß ist eine baumlange Erscheinung von soldatischer Haltung. Wir fürchten und achten ihn; diese beiden soliden Empfindungen sind ein bißchen langweilig. Ich kann mir die Rektoren von Progymnasien jetzt gar nicht mehr anders vorstellen als so, wie dieser Rektor Wyß aussieht. Übrigens: zu prügeln versteht er ausgezeichnet. Er nimmt einen aufs Knie und haut einen fürchterlich durch; nicht gerade barbarisch. Die Prügel von Wyß haben etwas Ordnungsgemäßes; man hat, während man diese Hiebe zu kosten bekommt, das angenehme Gefühl, es sei eine vernünftige, gerechte Strafe. Dadurch geschieht nichts Entsetzliches. Der Mann, der so meisterlich prügeln kann, muß gewissermaßen human sein. Ich glaube das auch.


Eine ganz sonderbare Figur und ein seltenes Lehrerexemplar, wie mir scheint, ist Herr Jakob, der Geographielehrer. Er gleicht einem Einsiedler oder einem sinnenden alten Dichter. Er[S. 206] ist über siebenzig Jahre alt und hat große, leuchtende Augen. Er ist ein schöner, prachtvoller Alter. Sein Bart reicht ihm bis auf die Brust herab. Was muß diese Brust nicht schon alles empfunden und gekämpft haben! Ich, als Schüler, muß mir unwillkürlich Mühe geben, so etwas in Gedanken mitzuerleben. Es ist grauenhaft, zu denken, wie vielen Jungen dieser Mann schon die edle Geographie eingeprägt hat. Und viele dieser Jungen sind jetzt schon erwachsene Menschen; sie stehen längst mitten im Leben und mancher von ihnen wird seine Geographiekenntnisse vielleicht haben brauchen können. An der Wand, dicht neben dem alten Jakob, den wir übrigens Kobi nennen, hängt die Landkarte, so daß man sich Jakob ohne dazugehörige Landkarte gar nicht mehr vorstellen kann. Da sieht man das zerrissene, vielfarbige und vielgestaltige Europa, das breite, große Rußland, das unheimliche, weit sich ausdehnende Asien, das zierliche, einem schöngeschwänzten[S. 207] Vogel ähnliche Japan, das in die Meere hinausgeworfene Australien; Indien und Ägypten und Afrika, das einen sogar auf der körperlosen Karte dunkel und unerforscht anmutet, dann Nord- und Südamerika und die beiden rätselhaften Pole. Ja, ich muß sagen, ich liebe die Geographiestunde leidenschaftlich; ich lerne da auch ganz mühelos. Es ist mir, als sei mein Verstand ein Schiffskapitänsverstand: so glatt geht es. Und wie weiß der alte Jakob durch Einflechten von abenteuerlichen Geschichten aus Schulung und Erfahrung diese Stunde interessant zu machen! Dann rollen seine alten, großen Augen vielsagend hin und her und es ist einem, als kenne dieser Mann alle Länder und alle Meere der Erde aus eigener Anschauung. In keiner anderen Stunde strotzen wir Schüler so von mitempfindender Phantasie. Hier erleben wir jedesmal etwas, hier horchen wir und sind still; freilich: ein alter, erfahrener Mensch redet zu uns und[S. 208] das zwingt eben zur Aufmerksamkeit ganz von selber. Gottlob, daß wir hier im Progymnasium keine ganz jungen Lehrer haben. Das wäre nicht zum aushalten. Was kann ein junger Mann, der selber kaum erst das Leben geschaut hat, mitzuteilen und anzuregen haben? Ein solcher Mensch kann einem nur kalte, oberflächliche Kenntnisse beibringen oder er muß dann eine seltene Ausnahme sein und durch sein bloßes Wesen zu bezaubern wissen. Lehrer sein: Das ist jedenfalls schwer. Gott, wir Schüler machen ja solche Ansprüche. Und wie abscheulich wir eigentlich sind! Sogar über den alten Jakob machen wir uns zuzeiten lustig. Dann wird er fürchterlich zornig; und ich kenne nichts Erhabeneres als den Zorn dieses alten Schulmeisters. Er zittert an allen seinen gebrechlichen Gliedern furchtbar und unwillkürlich schämen wir uns nachher, ihn gereizt zu haben.

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Unser Zeichenlehrer heißt Lanz. Lanz sollte eigentlich unser Tanzlehrer sein; er kann so prächtig hin und her hüpfen. Apropos: warum erhalten wir keinen Tanzunterricht? Ich finde, man tut gar nichts, uns zur Anmut und zu einem schönen Benehmen zu bewegen. Wir sind und bleiben sehr wahrscheinlich die reinen Flegel. Um auf Lehrer Lanz zurückzukommen: er ist unter den Lehrern der jüngste und zuversichtlichste. Er bildet sich ein, wir hätten Respekt vor ihm. Mag er selig werden mit diesem Gedanken. Übrigens kennt er gar keinen Humor. Er ist kein Schullehrer, sondern ein Dresseur; er gehört in den Zirkus. Das Hauen macht ihm, wie es scheint, seelisches Vergnügen. Das ist brutal: wir haben daher Ursache, ihn zu necken und zu verachten. Sein Vorgänger, der alte Herr Häuselmann, genannt Hüseler, war ein Schwein; er mußte das Unterrichtgeben eines Tages aufgeben. Dieser Hüseler erlaubte sich ganz sonderbare Dinge. Ich selbst fühle noch[S. 210] immer auf meiner Wange seine alte, knöcherne, widerwärtige Hand, mit welcher er in der Stunde uns Jungen gestreichelt und geliebkost hat. Als er sich dann herausnahm, was keine Feder beschreiben kann, wurde er seines Amtes enthoben. Nun haben wir Lanz. Jener war abscheulich, dieser aber ist eitel und grob. Kein Lehrer! Lehrer dürfen nicht so von sich selbst eingenommen sein.


Unser lustigster und kühnster Schulkamerad heißt Fritz Kocher. Dieser Kocher steht meist in der Arithmetikstunde von der Bank auf, hebt den Zeigefinger dumm in die Höhe und bittet Herrn Bur, den Rechenlehrer, ihn doch hinausgehen lassen zu wollen; er habe den Durchlauf. Bur sagt dann, er wisse schon, was Fritz Kochers Durchlauf zu bedeuten habe, und ermahnt ihn, ruhig zu sein. Wir anderen lachen dann natürlich gräßlich; und (o Wunder!) hier steht ein Lehrer, der einfach mitlacht. Und sonderbar: das flößt uns fast augenblicklich Achtung und[S. 211] Vorliebe für diesen seltenen Mann ein. Wir verstummen mit Lachen, denn Bur versteht es meisterlich, unsere Aufmerksamkeit sofort wieder für die ernsten Dinge zurückzugewinnen. Sein Lehrerernst hat etwas Bezauberndes und ich glaube, das kommt daher, daß Bur ein Mann von außerordentlicher Aufrichtigkeit und Charakterstärke ist. Wir lauschen auf seine Worte gespannt, denn er kommt uns fast rätselhaft klug vor; und dann ist er nie ärgerlich, er ist, im Gegenteil, immer lebhaft, fröhlich und munter, da dürfen wir das glückliche Gefühl haben, seine Schulpflicht sei diesem Mann angenehm. Das schmeichelt uns eben ganz gewaltig und wir glauben, ihm dankbar dafür sein zu müssen, daß er in uns keine Lebensverbitterer und Quälgeister erblickt, und führen uns brav auf. Wie komisch kann er sein, wenn es ihm darum zu tun ist! In solchen Fällen empfinden wir aber auch, daß er sich nur uns zu Liebe ein wenig verwandelt, um uns einen billigen, unschädlichen[S. 212] Spaß zu gönnen. Wir sehen, daß er fast ein Künstler ist; wir merken, daß er uns achtet. Er ist ein prächtiger Kerl. Und wie man bei ihm faßt und lernt! Er weiß den unkörperlichsten, unsinnlichsten Dingen Form, Sinn und Inhalt zu geben, daß es eine wahre Freude ist. Den Fritz Kocher, den ein anderer Lehrer verdammen und verfolgen würde, hat er gern wegen der unglaublichen Gerissenheit seiner Einfälle. Das scheint mir bedeutend, daß ein so tüchtiger, erfahrener Mann mit der spitzbübischen Lümmelhaftigkeit sympathisieren kann. Es muß eine noble, große Seele in Bur stecken. Er besitzt Güte und Heiterkeit. Daneben ist er sehr energisch. Er macht uns fast alle in verhältnismäßig kurzer Zeit zu schneidigen Rechnern. Dabei behandelt er die Dümmeren unter uns schonend. Diesen Bur zu ärgern, würde uns nie einfallen; sein Auftreten läßt gar nicht an so etwas auch nur denken.

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Herr von Bergen war früher unser Turnlehrer; jetzt ist er Versicherungsagent. Möge er gute Geschäfte machen! Er hat wohl selbst gefühlt, daß er zum Erzieher nicht taugt. Eine hochelegante Erscheinung. Was aber nützen einem Schuljungen gutsitzende Hosen und kleidsame Röcke? Er war übrigens nicht schlecht; er gab nur zu gern »Tatzen«. Der Sohn eines Schlächtermeisters mußte dem Herrn von Bergen immer die arme kleine Tatze darhalten, um einen scharfgezogenen, beißenden Meerrohrhieb darauf zu empfangen. Ich erinnere mich noch, und nur zu deutlich, wie mich das empörte. Ich hätte damals dem fein gekleideten, parfümierten Quäler den Kopf abschlagen mögen.


Ich will meine Galerie sehenswerter Lehrerbilder mit Doktor Merz abschließen. Merz ist unter sämtlichen Lehrern scheinbar der gebildetste, er schreibt sogar Bücher; aber dieser Umstand hindert seine Schüler nicht, ihn von Zeit zu Zeit[S. 214] lächerlich zu finden. Er ist Geschichts- und zugleich Deutschlehrer; er hat einen übertrieben hohen Begriff von allem, was klassisch ist. Klassisch ist aber bisweilen auch sein Betragen. Er trägt Stiefel, als wenn er in die Schlacht reiten wollte; und in der Tat: es setzt oft in der Deutschstunde wahre Schlachten ab. Er ist klein und unscheinbar von Figur; nimmt man dazu die Kanonenstiefel, so muß man lachen. »Junge, setz dich. Du hast eine Fünf!« Junge setzt sich; und Herr Merz notiert eine grimmige, das Zeugnis entstellende Fünf. Einmal hat er sogar der ganzen Klasse eine große, allgemeine Fünf gegeben und dazu geschrien: »Ihr widersetzt euch, Schurken? Ihr wagt, euch gegen mich aufzulehnen? Moser, bist du der Rädelsführer? Ja oder nein?« Moser, ein tapferer, von uns beinahe vergötterter Junge, erhebt sich vom Platz und sagt in grollendem, unsäglich komischem Ton, er lasse sich nicht Rädelsführer sagen. Wir sterben vor Lachen, wir wachen[S. 215] wieder von diesem schönen Tod auf und sterben ein zweites Mal. Merz aber scheint seinen klassischen Verstand verloren zu haben; er gebärdet sich wie unsinnig, er rennt verzweiflungsvoll mit seinem Gelehrtenkopf gegen die Wand, er fuchtelt mit den Händen, er schreit: »Ihr vergiftet mir das Leben, ihr verderbt mir das Mittagessen, ihr macht mich verrückt, ihr Halunken, die ihr seid! Gesteht es: Ihr trachtet mir nach dem Leben!« Und er wirft sich der Länge nach auf den Boden. Wie schrecklich! Man sollte es nicht für möglich halten. Und wir, die wir ihm das Mittagessen verderben und versalzen, wir erhalten von ihm die edelsten Anregungen. Wenn er von den alten Griechen erzählt, leuchten seine Augen hinter den Brillengläsern. Sicher begehen wir ein großes Unrecht, den Mann zu so wilden Auftritten zu veranlassen. In ihm vereinigt sich Schönes und Lächerliches, Hohes und Dummes, Vortreffliches und Klägliches. Was können wir dafür, daß die Zahl Fünf[S. 216] uns keinen sonderlichen Schrecken einzujagen vermag? Sind wir verpflichtet, vor heiliger Scheu zu sterben, wenn einer von uns das »Glück von Edenhall« von Ludwig Uhland rezitieren muß? »Setz dich, du hast eine Fünf!« So geht es zu in der Deutschstunde. Wie wird es im späteren Leben zugehen? Das frage ich mich.


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Ein Vormittag

Es gibt Vormittage in Schusterwerkstätten, Vormittage in Straßen und Vormittage auf den Bergen, und letztere mögen so ziemlich sicher das Schönste auf der Welt sein, aber ein Bankhausvormittag gibt entschieden noch mehr zu denken. Nehmen wir einmal an, es sei Montag vormittag, das ist nämlich von allen Vormittagen der Woche der vormittäglichste, und der Montagvormittagsduft kommt in Buchhaltereien großer Bankinstitute vortrefflich zur Verteilung.

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Da sind in so einem Saal an die zehn bis fünfzehn Pultreihen mit Gängen zum Revuepassieren, an jedem Doppelpult arbeitet ein Paar Menschen. Man pflegt von Schuhpaaren zu reden, warum sollte es nicht auch gelegentlich einmal in der Ordnung sein, wenn man von Menschenpaaren spricht? Zu oberst im Saal steht das Pult des Vorstehers. Der Abteilungschef ist ein sackdicker Mann mit ungeheuerlichem Gesicht auf dem Rücken. Das Gesicht stemmt sich unmittelbar, ohne des Halsansatzes zu bedürfen, an den Rücken, und es ist brandrot und scheint immer zu schwimmen. Es ist zehn Minuten nach acht, Chef Hasler überfliegt mit ein paar gutgezielten Blicken den Raum, um zu prüfen, ob alle da sind. Zwei fehlen, und das ist natürlich wieder der Helbling und der Senn.

In diesem wichtigen Moment schießt Buchhalter Senn, ein hagerer, spitzer Mann, hustend und pustend herein. Hasler kennt diesen Husten,[S. 219] das ist ganz einfach die Bitte um Entschuldigung. Wenn die Menschen zu stolz und zu verbohrt sind, den Mund aufzutun, um sich anstandshalber zu entschuldigen, husten sie. Senn steckt mit rasender Behendigkeit seine Nase in seine Bücher und tut, als sei er bereits stundenlang an dem Arbeitchen. Zehn Minuten sind wieder vergangen. Es ist zwanzig nach acht. »Unerhört sei doch das jetzt bald,« denkt Hasler, da tritt Helbling auf.

Ganz und gar vermontaget, bleich und verwirrt im Gesicht, und schießt wie ein Pfiff an seinen Ort und Stelle. Wirklich, entschuldigen, das hätte er sich können. In Haslers Teich oben, will sagen Gehirn, taucht folgender Gedanke wie ein Laubfrosch auf: »Das hat nun aber bald jetzt keine Art mehr.« Er geht leise zu Helbling und stellt sich hinter ihm auf und fragt ihn, warum er nicht, wie die andern, zur rechten Zeit erscheinen könne. Das nehme ihn denn doch bald jetzt einmal wunder. Helbling[S. 220] erwidert kein Wort, er hat es sich bereits seit geraumer Zeit zur Gewohnheit gemacht, die Fragen seines Vorgesetzten einfach unbeantwortet zu lassen. Hasler kehrt wieder auf seinen quasi Aussichtsturm zurück, von wo aus er die Buchhaltung dirigiert.

Halb neun. Helbling zieht seine Sackuhr hervor, um ihr Gesicht mit dem Gesicht der großen Bureauuhr zu vergleichen. Er seufzt, es sind erst zehn kleine, winzige, dünne, zarte, spitze Minuten verflossen, und vor ihm stehen dicke, behäbige Stunden. Er bemüht sich, zu versuchen, ob es ihm möglich sei, den Gedanken zu fassen, daß er jetzt arbeiten müsse. Der Versuch mißlingt, aber der Versuch hat immerhin das Gesicht der Uhr ein wenig verschoben. Es sind weitere fünf zierliche, liebe Minuten dahingeschwunden. Helbling liebt die Minuten, die gegangen sind, aber dafür haßt er die, die noch kommen, und die, die ihm den Anschein erwecken, daß sie nicht recht vorwärtsmachen wollen.[S. 221] Er möchte solchen faulen Minuten jedesmal Stöße versetzen. Er prügelt in Gedanken die Minutenzeiger tot. Den Stundenzeiger wagt er überhaupt nicht anzuschauen, er hat sonst Anlaß, zu fürchten, er werde ohnmächtig.

Ja, so ein Bankhausvormittag, so eine Welt zwischen Pulten. Sonne schimmert draußen. Jetzt aber geht Senn zum Fenster, er hat jetzt genug, wie er sich ausdrückt, und er reißt barsch und aufbegehrerisch die beiden Flügel auf, um Luft hereinzulassen. Das sei noch kein Wetter zum Fensteraufmachen, bemerkt Hasler zu Senn hinüber. Der dreht sich um und spricht Worte zu seinem Chef, wie sie eben sich nur ein langjähriger Angestellter oder Beamter erlauben darf. Aber bald wird es dem Hasler zu dick, und er verbittet sich »diesen Ton«. Das Gefecht ist damit abgebrochen, das Fenster geht zur Hälfte wieder sanft zu, Senn murmelt ein paar Worte zu sich, jetzt herrscht für einige Zeit Frieden.

Fünf Minuten vor neun. Wie entsetzlich[S. 222] langsam für Helbling die Zeit geht. Er fragt sich, warum es jetzt nicht ebensogut schon neun Uhr sein könne, das wäre wenigstens schon eine Stunde, es gäbe nachher noch mehr als genug. An diesen fünf Minuten schält er so lange herum, bis sie langsam vorüber sind; jetzt schlägt es neun. Jeder Schlag, den das Werk macht, wird von einem Seufzer aus Helblings Mund begleitet. Er rupft seine Taschenuhr hervor, sie hat ebenfalls neun, diese doppelte Bestätigung macht ihn traurig. »Ich sollte eigentlich nicht soviel auf die Uhr schauen, das kann nicht gesund sein,« denkt er und fängt an, seinen Schnurrbart zu liebkosen. Das merkt einer seiner Kollegen, Meier vom Land, dieser wendet sich zu Meier von der Stadt hinüber und sagt leise zu ihm: »Ist das nicht eine Schande, wie jetzt der Helbling wieder seine Zeit totschlägt.« Ein Rechteck von Köpfen dreht sich auf diese geflüsterte Bemerkung hin nach der Richtung um, wo Schnurrbärte gedreht werden. Diese Bewegung[S. 223] wird von Hasler beobachtet, bald weiß er Bescheid, er geht leise zu Helbling und stellt sich zur Abwechslung wieder einmal hinter ihm auf.

»Was machen Sie da, Helbling?«

Und jetzt antwortet der freche Mensch wieder nichts. »Sie können wohl so gut sein und mir antworten, wenn ich Sie etwas frage. Das ist mir jetzt bald ein Benehmen, das. Zuerst kommen Sie eine halbe Stunde zu spät (Helbling sagt: »Das ist nicht wahr« und will fortfahren: »ich bin nur zwanzig Minuten zu spät gekommen«), dann besinnen Sie sich noch, ob Sie arbeiten sollen, und schließlich wollen Sie noch aufbegehren. Das kann nicht mehr so weitergehen. Zeigen Sie, was haben Sie geleistet.« Und Hasler prüft mehr mit dem Kinn als mit den Augen, was jetzt Helbling anfangs getan hat. Er bemerkt drei Zahlen und den Versuch zu einer vierten. Ob das alles sei? Helbling sagt, er habe den guten Willen gehabt, zu arbeiten, aber wenn er keine rechten[S. 224] Federn mehr habe, so sei es schwer, vorwärts zu kommen. Dann solle er sich doch gefälligst, wenn es ihm etwa bald einmal passend erscheine, Federn anschaffen. Faule Ausrede. Und Hasler schwimmt in seine Festung zurück. Dort angelangt, zieht er einen Apfel aus dem Pult und arrangiert ein zweites Frühstück. Helbling nimmt Gelegenheit, schnell einmal »auszutreten«. Meier vom Land macht seine Kollegen auf Helblings »Austritt« aufmerksam.

Volle dreizehn Minuten, es ist ihm genau nachgerechnet worden, ist Helbling »draußen« geblieben. Während dieser Zeit haben sich an die zehn jüngere und ältere Kollegen der Reihe nach an des Ausgetretenen Pult und Leistung herangemacht, um die drei Zahlen anzuschauen. Einen Moment später weiß es die ganze Buchhaltung, daß Helbling in einer Stunde drei Zahlen fertig bringe, Meier vom Land ist von Pult zu Pult gegangen und hat die Sache zu allgemeiner Verbreitung gebracht. Einer geht[S. 225] »hinaus«, um zu sehen, was »er« mache. Später tritt dieser Er wieder ein.

Inzwischen ist es halb zehn geworden. Von draußen her tönt eine helle, schöne weibliche Stimme in den Saal hinein, es ist anscheinend eine Sängerin, die übt. Ja, in der Nähe, so vielleicht zwei Häuser weiter dem Bahnhof zu, das kann stimmen. Einige von den Bureaulisten heben die Federhalter aufrecht und überlassen sich dem Genuß des Zuhörens. Helbling scheint auch wieder einmal musikliebend zu sein. Außerdem gähnt er jetzt mehrere Male. Eine Sekunde später tätschelt er sich mit der flachen Hand auf die Backe, um Zeit verstreichen zu lassen. Das Tätscheln erstreckt sich über zirka fünf volle Minuten. »Jetzt tätschelt er sich,« tuschelt Meier vom Land in das Ohr von Meier aus der Stadt. »Herrliche Stimme das, da draußen,« meint Glauser, einer der Arbeitenden. Die frauliche Singstimme ruft ein gewisses Geräusch im Saal hervor. Der Chef der Korrespondenz,[S. 226] Steiner, hört ebenfalls zu, und das will etwas heißen. Auf Haslers Treppenabsätzen von Lippen glänzt Apfelsaft wie auf wirklichen Treppen gelbes Wachs, das wischt er sich jetzt mit seinem rotgewürfelten Schnupftuch ab. »Schöne Stimme von draußen her! Draußen ist Luft und Natur!« Der kleine Glauser denkt das, er ist dichterisch veranlagt. Helbling geht zu Glauser hinüber, in der bestimmten Absicht, durch einen kleinen Spaziergang Zeit totzumachen. Schließlich schwatzt Glauser auch gern ein bißchen, obschon er ein Streber ist, der sich beständig Mühe gibt, Haslern zu gefallen. Hasler treibt Helbling mit Blicken an seine Wirkungsstätte zurück, aber es sind immerhin wieder zwölf Minuten gestorben. Auch der Gesang ist gestorben.

Alle diese Leute im Saal wissen nicht, was sich da unten auf der Straße bewegt. Und die Wellen draußen im nahen See, was machen sie, und der Himmel, wie kann er aussehen?[S. 227] Einzig Senn, der leicht zum Aufbegehren Geneigte, der struppige, zugespitzte Revolutionär, erlaubt sich, ein Momentchen lang seinen Kopf an die frische Luft zu führen. Dafür wird er aber von der Kapitänskabine aus mit einem zischenden, langgezogenen Laut gestraft: »So etwas!« Hasler schüttelt seine Parkanlage oder Kopf mißbilligend hin und her, worauf Senn, um dem Hasler wieder einmal so recht eins zu putzen, ohne Veranlassung in seinen Büchern mit dem Radiermesser zu radieren beginnt, was der Chef auf den Tod hinein haßt.

Zehn Uhr! »Erst die Hälfte,« denkt Helbling mit dem Gefühl, eine Unsumme von Melancholie zu unterdrücken. Jetzt, jetzt möchte er brüllen. Ob er wohl gut täte, wieder ein bißchen »auszutreten«? Er wagt es nicht recht. Dafür bückt er sich jetzt an den Boden herab, gleichsam, als habe er etwas fallen lassen, wovon keine Rede ist. In der tiefgebückten Haltung verharrt er ganze vier Minuten, als hätte[S. 228] dieser Zeitraum gerade genügt, seine Schuhe zu binden oder einen Bleistift aufzulesen. Ihm ist schaurig zumute. Er fängt an, sich vorzumalen, es sei zwölf Uhr. Auf den Schlag zwölf würde er augenblicklich die Feder wie ein Erdarbeiter seine Schaufel fallen lassen und davonrennen, wie gottvoll. Indem er sich so seinen Träumereien hingibt, ist Hasler abwechslungsweise hinter ihn geschlichen, um ihn zu beobachten.

»Was machen Sie da?«

»Ich bin jetzt am ›Ausland‹-Zusammenstellen.«

»Ich glaube, Sie sind bald eher im Ausland als am ›Ausland‹-Zusammenstellen. Wenn Sie aber jetzt nicht bald arbeiten, so will ich dann einmal ganz andere Saiten aufziehen. Schämen Sie sich, und nehmen Sie sich zusammen. Wenn alles Ermahnen jetzt nichts nutzt, werde ich mit Herrn Direktor ein Wort reden, passen Sie gut auf. Lassen Sie es sich gesagt sein.«

[S. 229]

Und das Walroß wirft sich wieder auf seine Sandbank zurück. Der ganze Saal ist angenehm aufgeregt, ein Konflikt Helbling-Hasler bringt immer wieder von neuem erwünschte Luftveränderung. Helbling schrittwechselt zu Meier vom Land hinüber und bittet ihn, ihm behilflich zu sein, Zahlen abzulesen. Nach dem Zahlenablesen ist es (o, zersprängen doch jetzt die Adern der Welt!) halb elf Uhr geworden. Eine feierliche Blechmusik geht unten in der Straße vorüber, alles rennt an die Fenster, es ist der Zug, der die Leiche eines früheren Bundesrates auf den Friedhof begleitet. Selbst der für das meiste Geschehen unempfindliche Chef der Korrespondenz ist aufgesprungen, um hinunterzuschauen. Dieses Vorkommnis ist mit fünfzehn Minuten in Anrechnung zu bringen. Jetzt ist es dreiviertel elf. Helbling ist halb unvernünftig geworden, er tupft alle Augenblicke seine Stirn an den Rand des Pultes und netzt sich die Nase mit Tinte, damit er mit Abwischen Zeit[S. 230] verschlingen kann. Zehn Minuten sind verrieben worden, jetzt sind es noch vier entzückend wenige Minuten bis elf. Diese vier Minuten werden einfach eine nach der andern abgewartet. Um elf Uhr tritt Helbling »schon wieder« aus. Er sei wieder einmal ausgetreten, der Lump, heißt es in der Mitte des Saales. Viertel zwölf, zwanzig nach elf, halb zwölf.

Der kleine Glauser sagt zu Senn, jetzt sei es halb zwölf und, wie er eben bemerkt habe, habe der Helbling noch überhaupt keinen Streich getan. Meier vom Land geht zu Hasler, um ihn zu benachrichtigen, daß er heute eine halbe Stunde früher fortgehen müsse, weil er einen durchaus notwendigen Gang zu besorgen habe. Helbling hat sich umgedreht und lauscht dem Gespräch zu. Er beneidet Meier vom Land wahnsinnig. Von der Straße her tönen die Räder von schnellfahrenden Wagen herauf, gegenüber dem Saal erscheint in einer Fensteröffnung die Figur eines teppichebürstenden herrschaftlichen[S. 231] Dieners, Helbling verbringt jetzt eine gute Viertelstunde damit, dort hinüberzuschauen. Zum noch Anfangen mit Arbeiten ist es jetzt seiner Meinung nach doch wohl zu spät. Senn macht sich abdampfefertig, Helbling sieht zu, wie sich Senn abfliegefertig macht. Zwei Minuten vor zwölf setzen sich verschiedene die Hüte auf und wechseln die Röcke, Helbling ist bereits auf der Straße, Hasler ist schon fünf Minuten vorher gegangen. Der Vormittag ist überstanden.