The Project Gutenberg eBook of Mutter!.. This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Mutter!.. Roman Author: Heinz Tovote Release date: June 14, 2025 [eBook #76290] Language: German Original publication: Berlin und Wien: Ullstein & Co, 1911 Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MUTTER!.. *** ====================================================================== Anmerkungen zur Transkription. Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ ======================================================================= Mutter!.. [Illustration:] Ullstein-Bücher Eine Sammlung zeitgenössischer Romane [Illustration:] Mutter!.. Roman von Heinz Tovote [Illustration] Ullstein & Co Berlin-Wien 1. In sonniger Morgenfrühe, zu dreien, waren sie vom Schwedischen Pavillon aus auf den Wannsee hinausgerudert, hatten sich nach halbstündiger Fahrt durch eine enge Schilfgasse und dann unter der schmalen Brücke des Schwanenwerders hindurchgezwängt, wo das Boot scharf über den flachen Kies knirschte. Nun ließen sie sich mit eingezogenen Riemen auf der breiten Havel treiben, bis sie an dem steilen Wiesenhange des Fichtenwaldes eine Stelle entdeckten, die zum Landen günstig schien. Zwischen den knisternden scharfen Schilfschwertern und den brechenden, dunkelgrünen Binsen hindurch lief der Kahn auf das Land, und sie sprangen alle drei aus, trieben einen Stock in den weichen Sumpfboden, aus dem bei jedem Schritte das Wasser quoll, und befestigten den Kahn daran. Dann keuchten sie die steile, fast ungangbare Böschung hinauf, die mit langwehenden Gräsern, dürr und breit wie Schilfgras, bewachsen war, bis sie in den Wald gelangten, von wo man weit über die Bucht des Großen Fensters hinausblicken konnte, deren Wasser im Sonnenlichte wie im Schmelzkessel zitterndes Silber vibrierte. Unter ein paar schlanken, weißstämmigen Birken suchten sie sich einen schattigeren Platz zum Lagern und warfen sich ermattet vom Rudern auf den Boden, dicht am Hange, so daß sie zugleich die breite Havel und den Wannsee überblicken konnten. Es war mittagsstill im Walde. Nur zuweilen klang aus weiter Ferne der schwache, eintönige Ruf eines Kuckucks. Sonst regte sich nichts. Die Sonne flitterte durch die hochschlanken Stämme der Fichten, rötete die braune abblätternde Rinde, daß die Bäume bis zu ihren dunklen Nadelwipfeln zu erglühen schienen, und warf breite, verschwimmende Flecke von Goldschein auf den dürren sandigen Boden, den nur hie und da ein kümmerliches Grasfleckchen mit schmutzigem Grün unterbrach. Der scharfe Duft der trocknen, den Boden bedeckenden Nadeln umzitterte sie, ein prickelnder Harzgeruch, der einlud zum Schlafen und zum Träumen. -- Fritz Lautner lag auf dem Rücken und hatte sich mit einem großen gelbseidenen Taschentuche das Gesicht gegen die tanzenden Mücken bedeckt. Willy Braun lag auf dem Bauche und schlug regelmäßig mit den Absätzen aneinander, während er an einem abgerissenen Grashalme sog und dabei aufmerksam einer kleinen schwarzen Ameise zusah, die sich abmühte, ein Krümchen fortzuschaffen. Die Last war vierfach so groß als das Tierchen, dennoch bewältigte es jedes Hindernis und gelangte bald zu der mächtigen Fichte, wo ein ganzes Heer in überhastiger Geschäftigkeit auf und ab lief. Der junge Mann stützte die Ellenbogen lässig auf die Erde und sah vor sich hin, regungslos, nur mit den gen Himmel starrenden Füßen machte er zuweilen eine halbausgeführte Bewegung. »Sie .. Lautner!« rief Adolf Wurm mit seiner krähenden Stimme und fuhr sich hastig aufgeregt durch seine wilde Künstlermähne. »'is denn los? -- Laßt einen doch mal in Ruh. Ich möchte wirklich gern ein bißchen schlafen.« Dabei blieb er ruhig auf dem Rücken liegen, und seine Stimme klang durch das sein Gesicht bedeckende Tuch hohler, wie von weither. »Sie sollten sich nur mal das Bild ansehn. Das wäre so was für Sie. Der Philosoph -- oder der Träumer, oder sonst was ... Sehn Sie doch mal, wie Braun daliegt.« »Ach was!« »Sie sind ein undankbarer Mensch. Wenn man Ihnen die schönsten Stoffe zu 'nem realistischen Bilde geben will ... o Undank ... o Jugend!« »Ach was, Unsinn!« Wurm seufzte pathetisch und pfiff dann leise vor sich hin. Da Lautner sich nicht regte, betrachtete er seinerseits Willy Braun, wie er, die Augen forschend auf den Boden geheftet, im Grase lag. Mit seinem grauen, modischen Anzuge war Braun für einen Philosophen eigentlich zu elegant. Es lag ein Widerspruch zwischen der Natur und diesem jungen Manne mit seinem etwas blassen Gesichte und den frauenhaft weißen Händen, die jetzt achtlos einen Grashalm nach dem anderen abrupften. Wurm kam sich ihm gegenüber beständig so verlegen linkisch vor mit seiner zum Vagabondieren neigenden Natur, mit seiner unausrottbaren Vorliebe für den langflatternden Schlips und den großen breitkrämpigen Hut, der in ihm den Künstler zeigen sollte; wenn man auch wohl nicht leicht auf einen Musiker raten konnte. Und auch dieser Lautner ging immer so scheußlich elegant, so ohne jede Spur von Romantik. Alles an ihm war prosaisch, von den kurzgeschorenen Haaren bis zu seinen widerborstigen Gedanken, mit denen er sie zu entsetzen pflegte, obgleich sie sich im Laufe der Zeit schon daran gewöhnt hatten. Er hatte heute ein Wort von einem ersten großen Bilde fallen lassen, das er beginnen wollte, nachdem er sich bis jetzt nicht über Studien hinausgewagt hatte, -- allein gegen seine Gewohnheit hüllte er sich ihren neugierigen Fragen gegenüber noch in tiefes Stillschweigen. Das mochte was Rechtes werden, dachte Wurm bei sich und fuhr sich langsam selbstgefällig mit kühner Geste durch sein langes blondes Haar. Dann zog er seine langen Beine, die ihm stets im Wege waren, an sich und rutschte bedächtig ruckweise zurück, bis er mit dem Rücken an einen Baumstamm lehnen und nun über den See blicken konnte, auf dem kleine weiße Segelboote eilfertig hin- und herschossen, während die mächtigen grauen Leinwandflächen der schweren Lastkähne sich breit im Winde blähten -- und ganz in der Ferne, fast am anderen Ufer, ein Schleppdampfer mit drei Sandzillen seine schwarze Rauchfahne flattern ließ. Die tiefe Stille ringsum ärgerte den Musiker, -- die anderen beiden taten auch den Mund nicht auf, und so summte er vor sich hin, eigne und fremde Melodien, wie sie ihm in den Sinn kamen. Dann hob sich eine Weise voller heraus, eine Melodie, die ihm neulich gekommen war, wie das zu geschehen pflegte, und die ihm gefiel mit ihrer Eintönigkeit. Und indem er seinen Stock wie eine Gitarre in den linken Arm legte, begleitete er sich mit karikiert tragischen Bewegungen und summte dazu mit seiner spröden, ungelenken Stimme eine monoton schwermütige Melodie, klagend, wie die eines Volksliedes, mehr gesprochen als gesungen: Es hatte mal ein Knabe ein Mädchen lieb, tralla lan lan lar .. tralla lan lan la! .. Es hatte mal ein Knabe ein Mädchen lieb. Das Mädchen nur sein Spiel mit ihm trieb. Sie bat und sprach: Bring' mir zur Stund', tralla lan lan lar .. tralla lan lan la! .. Sie bat und sprach: Bring' mir zur Stund' Deiner Mutter Herz für meinen Hund! Er lief und erschlug sein lieb Mütterlein, tralla lan lan lar .. tralla lan lan la! .. Er lief und erschlug sein lieb Mütterlein, Und brachte ihr Herz der Liebsten sein. Doch er fiel, weil er so eilen wollt' -- tralla lan lan lar .. tralla lan lan la! .. Doch er fiel, weil er so eilen wollt' -- Und das zuckende Herz auf die Erde rollt. Und als das arme Herze im Staube lag -- tralla lan lan lar .. tralla lan lan la! .. Und als das arme Herze im Staube lag -- Da hörte er, wie es zu ihm sprach: Und das Mutterherz fragte unter Tränen lind: tralla lan lan lar ... tralla lan lan la! ... Und das Mutterherz fragte unter Tränen lind: Hast du dir auch nicht weh getan, mein Kind? ... Es war wieder still geworden. Die Luft hing dunstschwer, reglos zwischen den Fichten, Lautner hatte sich halb aufgerichtet und auf die Hand gestützt. Willy Braun hatte die schwarze Ameise längst aus dem Gesicht verloren, sah aber noch immer vor sich hin, nach einer blaßroten Kuckucksnelke, während Wurm langsam, klagend wiederholte: »Hast du dir auch nicht weh getan, mein Kind?« Dann verklang die Melodie, deren Refrain Braun zuletzt leise mitgesummt hatte, und alle drei schwiegen wieder. »Sentimentaler Quatsch!« störte Lautner mit seiner härter als gewöhnlich klingenden Stimme die tiefe Stille. In demselben Augenblicke schwang sich von einer der nächststehenden Fichten eine große Krähe und klatschte unter heiserem Krächzen schwer nach dem See hin, wo sie über die helle Wasserfläche hintaumelte. »Ein Kollege von Ihnen, Lautner!« »Es brüllt um Rache das Gekrächz der Raben!« fügte Braun lachend hinzu. »Kannst Du denn gar nicht anders sein, Fritz! -- Nicht einmal draußen in der freien Natur?« ... »'ne nette Natur das hier; nichts als Sand und Fichtennadeln -- und Bäume wie Schwefelhölzer, die ein Kind in die Erde gesteckt hat. Und das nennen diese Menschen Natur! -- Heiliger Brahma! -- Höchstens der See, der könnte vielleicht ein Bild geben.« Braun überhörte, was jener sagte, und wandte sich zu Wurm, der der Krähe nachsah: »Woher haben Sie das wieder, Würmchen? Ich meine natürlich den Text, denn daß Sie selbst dazu die Musik verbrochen haben, rieche ich dem Dinge ohne weiteres an.« »Ich weiß nicht mehr. Irgendwoher gestohlen, in irgendeinem französischen Schmöker gefunden.« »Natürlich ein sentimentaler Franzose, das konnte man sich denken,« knurrte der Maler. »Da verfängt so was immer. Was geht uns das nun an? -- Es braucht nur ein Schauspieler ›+Oh, ma mère!+‹ zu schluchzen, und ein ganzes Theater voll auf der Höhe der Zivilisation stehen wollender Menschen ist zu Tränen gerührt.« »Ist das Lied vielleicht nicht gut?« »Gut! ach was, gut,« grollte Lautner. »Und ist nicht die Mutterliebe eines der alleredelsten und menschlichsten Gefühle?« »Gott ja, das ist alles ganz schön und erbaulich mit der Mutterliebe ... aber zum Teufel noch mal, zum Beispiel das Mädchen, von dem in diesem Liede die Rede ist, das wird doch auch mal Mutter, dieses herzlose, gemeine Frauenzimmer, das für ihren Hund das Herz ihrer Schwiegermutter verlangt, und dann? -- Na, wie ist die Geschichte dann ... he? -- Ihr ganz Gescheiten?« Einen Augenblick waren die beiden verblüfft. Dann antwortete Braun: »Du, das ist schrecklich einfach: dann ist sie ja eben eine Mutter! -- Das Mädchen ist gegen ihren Geliebten herzlos, gewiß; .. sie spielt mit ihm, sie treibt ihn sogar zu einem Verbrechen. Für ihre Kinder aber würde auch sie ohne Zaudern ihr Leben hingeben. Sie steht da eben in einem ganz anderen Verhältnisse. Das hat nichts miteinander zu tun.« »So? -- Hat es das nicht? -- Das hat nichts miteinander zu tun? -- Das ist ja riesig nett. Und wenn nun einmal eins der Kinder erfährt, was früher geschehen ist, was dann? .. Ihr Weisen aus dem Morgenlande? -- Nun, wie steht es dann?« »Aber, Lautner, Du bist heute unbezahlbar. Das hat doch gar nichts damit zu tun. Es ist auch so leicht nicht denkbar, daß ...« »Also Vertuschung, nichts weiter! -- Es ist so leicht nicht denkbar! -- Na ja, es ist mal gewesen; und nun wird nicht mehr davon gesprochen, es erfährt niemand etwas. Die Vergangenheit ist begraben -- und die holde Gegenwart baut sich auf einer Lüge auf. -- Nur immer zu! -- Und wenn eines Tages das luftige Kartenhaus zusammenbricht -- he? -- Dann haben wir die Bescherung, Prostemahlzeit!« Er brach ab und richtete sich auf, als ob er erwarte, daß einer von ihnen das Thema aufnehmen würde, allein die beiden schwiegen, weil sie wußten, es war das beste. Das ärgerte ihn nun wieder. Weshalb widersprachen sie ihm nicht? Sie schienen sich das fast zum Prinzip gemacht zu haben, ihn reden zu lassen, ohne ihn zu widerlegen, als seien seine Worte es nicht wert. -- Er sprach doch nicht in den Wind, so wie der Kuckuck, der ihnen jetzt näher gekommen war, in den leeren Wald hineinrief. »Mutterliebe! -- Das lasse ich mir noch gefallen, meinetwegen ... es ist so was Instinktives. Die Tiere haben sie ja auch. Aber die Liebe des Kindes zu den Eltern -- das ist mehr oder weniger etwas rein Konventionelles. -- Weshalb denn? -- Die Natur kennt sie nicht, da gibt es keine Aufopferung der Jungen für die Alten. Das ist uns nur anerzogen -- nichts als elende Sentimentalität. Und selbst die Mutterliebe findet sich schließlich immer seltener in der Welt, und nächstens ist sie ganz ausgestorben. Sie paßt auch gar nicht mehr in unsere geschäftsmäßig praktische Zeit.« »Na warten Sie, Lautner, wenn das wirklich geschieht, dann kommen Sie nach Ihrem Tode gewiß ins Museum. Dafür sorge ich dann schon.« »Und weshalb, liebes Würmchen?« »Als letzter der Mohikaner, als eines der schönsten Beispiele der Aufopferungsfähigkeit eines Sohnes für seine Mutter. Nun machen Sie bitte nicht so ein Gesicht, oder ich erzähle Braun einfach alles. Und jetzt reden Sie nicht länger Unsinn, sonst machen Sie mir Braun noch wild. Sie wissen recht gut, Spötteleien auf diesem Gebiete gehen ihm über den Spaß.« »Na ja, schließlich ... es ist nicht jeder so glücklich, eine Mutter zu haben, wie er.« »Oder wie Sie, Lautner.« »Ja, meinetwegen, oder wie ich.« * * * * * Willy Braun regte sich nicht, er spielte mit seinem Grashalme weiter, den er zwischen den Fingern quirlen ließ. Eine Wolke schob sich über die Sonne. Die Landschaft bekam dadurch ein ganz anderes Aussehen. Weit aus der Ferne klang das Rollen und Stampfen eines Eisenbahnzuges. Wurm hatte sich zu Lautner gewandt und fragte leise, so daß er nur allein es hören konnte: »Was sollte das denn alles nur wieder?« »Ach was! .. Laß mich!« Damit stand er auf, nahm seinen im Grase liegenden Hut und ließ die beiden Freunde allein. »Was ist denn mit ihm?« fragte Willy, als er außer Hörweite war. »Was er hat? 'ne verrückte Stimmung. Das kommt so zuweilen wie ein aufsteigendes Gewitter über ihn. Nachher ist alles wieder gut.« »Sonst weiß er doch seine eigne Mutter nicht genug zu loben.« »Na gewiß.« »Nicht wahr, er erhält sie völlig?« »Gewiß, das tut er. Es gibt ja keinen Menschen, der unbedenklicher sein letztes opfern würde. Er ist von einer Selbstlosigkeit, wie ich sie nicht wieder kenne. Das alles sind alberne Schrullen. Was ihn nur wieder auf diese dummen Gedanken gebracht hat?« »Wieso, -- was ist denn mit ihm, Wurm?« »Was ist? -- Ja so, wissen Sie denn nicht?« »Ich wüßte nicht ...« »Aber Sie stehen ihm doch hundertmal näher als ich. Sie duzen sich ja.« »Allerdings; aber deshalb ...« »Das ist doch kein Geheimnis. Ich glaubte sicherlich, er hätte schon mit Ihnen darüber gesprochen, daß er ... na ja, daß seine Mutter nicht verheiratet war.« »Aber kein Wort!« »Sehen Sie, -- und das nagt nun oft an ihm. Vielleicht am meisten, weil er nicht weiß, wer sein Vater ist. Das hat sie ihm trotz all seiner Bitten nicht gestehen wollen. Nun begreifen Sie auch wohl, weshalb er zuweilen so schroff in seinem Urteil ist. Er kommt noch immer nicht über den Zwiespalt hinweg, gerade weil er mit einer fast schwärmerischen Liebe an seiner Mutter hängt, was man ihm bei seinem scheinbar so kalten Wesen nicht zutrauen sollte. -- Er glaubt kein Wort von dem, was er eben gesagt hat.« Wurm schwieg, und sie sahen zu dem jungen Maler hinüber, der, den Hut in der Hand, zwischen den geradlinig schlanken Fichtenstämmen hinschlenderte, den Blick zu Boden gesenkt, als ob er etwas suche. Willy Braun, den Lautners Redeweise eben noch auf das tiefste verletzt und empört hatte, wäre jetzt am liebsten zu ihm geeilt, um ihm mit einem Händedruck Abbitte zu leisten. Wie hatte er das auch wissen können. Jetzt wurde ihm vieles verständlich, was er bis dahin mit dem eigentlichen Wesen Lautners nicht hatte in Einklang bringen können, und er fühlte, daß er ihm in diesem Augenblicke näher gekommen war als jemals. »Verkrümeln Sie sich nur nicht, Lautner,« rief Wurm dem im Walde Verschwindenden nach, der auf den Ruf hin umkehrte und sich langsam wieder zu ihnen gesellte. Eine Weile blieben sie noch im Grase liegen, bis von dem Wasser her eine erste frische Brise wehte, so daß sich alle Segel mit einem Schlage stärker blähten und das Schilf ineinander rauschte und sie aus ihren Träumereien erweckte. »Wollen wir nicht endlich weiter?« ... Die anderen nickten, und sie eilten halb laufend die grasbewachsene Böschung hinunter, um zurückzufahren, dieses Mal mit Zuhilfenahme des Segels. Auf der ganzen Fahrt konnte Willy Braun, der am Steuer saß, es nicht lassen, Lautner heimlich zu beobachten. Es war, als habe er eine ganz neue Seite an dem Freunde entdeckt, als sei ihm zum ersten Male der Blick in sein Innerstes eröffnet. Das Segeln ward ihnen auf die Dauer zu langweilig, und sie holten ein, um zu rudern. Während das Boot durch die Wellen schoß, und die Ruder mit gleichmäßigem Schlage in das ziehende Wasser tauchten, stimmten sie einen munteren Gesang an, und die eigentümlich schwermütige Stimmung, die sich Brauns bemächtigt hatte, wich allmählich dem Wohlgefühle, so leicht, fast wie im Fluge, über den hohe Wellen werfenden See hinzugleiten. 2. Die Morgensonne lag breit und ruhig auf dem Pariser Platze, auf dem ein roter Sprengwagen langsam schläfrig seine nassen Kreise zog. Vereinzelt zwängte sich eine Equipage oder eine Droschke durch die grauen Riesenpfeiler des Brandenburger Tores. Auf der schattigen Südseite der Linden einige spärliche Fußgänger. -- Fritz Lautner war mit Wurm, der sich für alles, was bildende Kunst hieß, in helle Begeisterung redete, im Neubau des Reichstagsgebäudes gewesen, wo einer ihrer Bekannten arbeitete. Sie schlenderten jetzt langsam der Friedrichstraße zu. Vor den Schaufenstern einer Kunsthandlung blieben sie stehen, um sich die neuausgestellten Gemälde zu betrachten. Lautner warf einige seiner boshaften Bemerkungen hin, als ihn Wurm anstieß und sie sich beide umwandten, um Willy Braun zu grüßen, der mit einer Dame aus der Wilhelmstraße kam. Die Dame trug ein schlichtes graues Kleid von tadellosem Sitz. Sie war schlank, fast zu zart gewachsen und reichte ihrem Begleiter kaum bis zur Schulter. Als sie die beiden jungen Leute bemerkte, nickte sie ihnen freundlich zu, wobei Wurm ein schmales, etwas bleiches Gesicht zu sehen bekam, in dem zwei große dunkle Kinderaugen zu brennen schienen. Alles an ihr war zierlich, dennoch aber Haltung und Gang stolz und kraftvoll. In der jugendlichen Toilette, dem enganschließenden Kleide hatte sie etwas durchaus Mädchenhaftes, erst wenn man genauer aufachtete, war es nicht schwer zu erkennen, daß sie älter sein mußte, als sie aussah. Wurm sah ihr unauffällig nach, wie sie leicht und sicher elegant dahinschritt und jetzt am Ende der Häuserreihe den hellen Sonnenschirm aufspannte. »War das die Schwester von Braun?« »Seine Schwester?« fragte Lautner erstaunt. »Ach so -- es ist zu merkwürdig ... aber kein Mensch hält die Dame je für das, was sie wirklich ist.« »Für was denn?« »Für Willys Mutter.« »Seine ~Mutter~? ... Seine ~Stief~mutter?« »Gott bewahre! Seine richtige Mutter. Sie sehen sich doch ähnlich wie ein Ei dem andern.« »Seine richtige Mutter? ...« »Natürlich! -- Frau Doktor Braun ist jetzt -- warten Sie mal -- ja, sieben- oder achtunddreißig. Jawohl, mein Verehrtester, sehen Sie mich nur so an. Man sieht ihr das gewiß nicht an, aber es muß wohl so sein.« »Das hätte ich nicht geglaubt.« »Und hätten diesen Unglauben mit vielen geteilt. Willy beträgt sich ihr gegenüber auch kaum wie zu einer Mutter, fast wie verliebt. Ich habe selten ein herzlicheres Verhältnis gesehen als zwischen den beiden. Die machen meine neulich aufgestellten pessimistischen Paradoxe völlig zuschanden.« »Das kann ich mir denken.« »Er vergöttert sie fast, und das ist gefährlich. Er wird mir allzusehr zum Muttersöhnchen, immer an der Schürze, und vergibt seiner Individualität zu viel. Er tut ja keinen Schritt, ehe sie ihm nicht ihren Rat erteilt hat, -- und das gefällt mir nicht. Es wäre gut, wenn er mal von Berlin fort käme, in andere Verhältnisse, und ihr nicht immer auf dem Schoße hocken könnte.« »Er ist doch noch so jung.« »Ach was, jung! Man kann gar nicht früh genug flügge werden. Nehmen Sie ~mich~ mal an: Ich habe solch eine Verzärtelung und Verpäppelung nie gekannt, und ich denke, es ist mir vorzüglich bekommen.« »Sie sind gut bekannt bei Brauns, Lautner -- nicht?« »O ja! -- Sie haben draußen in Charlottenburg 'ne riesig nette Villa. Ich kenne die Familie eigentlich durch Professor Reinhold Petri. -- Das Haus liegt schräg gegenüber, und er geht bei ihnen ein und aus, -- ich lasse mich dreimal hängen, wenn sich nicht in all seinen Arbeiten irgendein Zug findet, der an die schöne Frau Braun erinnert. Das scheint ihm ganz in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.« Sie waren bis zur Friedrichstraße gekommen und mußten wegen einer Wagenstockung ein paar Augenblicke vor Kranzler stehen bleiben. Nach einer Weile fragte der Musiker: »Brauns haben eine chemische Fabrik, nicht?« »Ja! Das heißt: gehabt! Vor kurzem wurde der ganze Krempel verkauft. Mich wundert eigentlich, daß Willy Jurist geworden ist, statt die Fabrik zu übernehmen. Er interessiert sich doch für solche Sachen sehr. -- Ich würde mich keinen Augenblick bedenken, wenn ich vor der Wahl stände. Ich glaube, die Frau Mama hat da mal wieder die zarte Hand im Spiele gehabt. Er soll was werden, darauf gibt sie kolossal. Und dann ist es auch verzeihlich, seit der Doktor das Unglück mit 'nem Experimente gehabt hat, das beinah ganz schief ausgegangen wäre. Das ist sicher nicht ohne Einfluß geblieben. Uebrigens, wenn Sie das so interessiert, können wir dieser Tage mal hinausgehen, wenn Braun draußen ist, an irgend 'nem Sonn- oder Feiertage. Er hat Sie doch schon lange eingeladen. Meinetwegen nächsten Sonntag, wenn es Ihnen recht ist.« »Aber gewiß, mit Vergnügen.« »Sie gehen jetzt zur Bibliothek?« »Ja, ich habe mir ein paar Sachen in den Lesesaal bestellt. Die verfallen sonst heute.« »Na, dann auf Wiedersehen! -- Also es bleibt dabei, nächsten Sonntag.« »Schön! ... Auf Wiedersehen!« * * * * * Inzwischen war Willy mit seiner Mutter langsam die Ahornallee entlang gegangen, um sie zur Tiergartenstraße zu begleiten, wo sie einer Freundin einen Besuch machen wollte. Die Begegnung mit den beiden Freunden hatte in ihm die Erinnerung an ihre Fahrt auf dem Wannsee wachgerufen, und er grübelte aufs neue über die fast beleidigend gleichgültigen Worte nach, die Lautner damals hingeworfen hatte. Schon am folgenden Tage, als er seiner Mutter gegenübertrat, hatte er lächeln müssen -- das war nicht möglich, daß eine Frau zugleich eine grausame Geliebte und eine zärtliche Mutter sein konnte. Und wenn es auch solche Wesen geben mochte, was brauchte ~er~ sich darüber den Kopf zu zerbrechen? -- Und über jene Bemerkung Lautners, die ihm Wurm voller Entrüstung nachher mitgeteilt hatte: jede Mutter sei doch schließlich das Weib ihres Mannes, ging er hinweg, weil er kein Verständnis dafür besaß. Und so schritt er neben der Mutter hin, unter den Laubgängen des Tiergartens, in dieser ruhigen Vormittagsstimmung, die hier träumte. Wie zärtlich er auf sie niederblickte, -- während sie neben ihm hinschritt und manch ein Blick ihnen folgte. Sie mußte zu ihm aufsehen, denn er war um mehr als einen Kopf größer als sie, und sie wunderte sich zuweilen, daß dieser große breitschultrige Junge, dieser sehr ansehnliche Herr, vor dem alle Welt einen ziemlichen Respekt hatte, ihr Kind sei, ... ihr Kind! Wenn sie sich dagegen hielt mit ihrem zarten, schlanken Körper, den feinen, gebrechlichen Gliedern, die sich trotz ihres Alters wie ein Kind vorkam, -- dann mußte sie lächeln; aber es war ein Gefühl von Stolz und unnennbarem Glücke, das sie erfüllte. Er hatte nie vor ihr den gehörigen Respekt gehabt, vor seiner kleinen Mama, die er schon als fünfzehnjähriger Junge durch den ganzen Garten trug, und die er mit einer scherzenden Naivität, die er einmal, er wußte selbst nicht, wie er dazu kam, mit ihrem Vornamen nannte: mein kleines Annerl, oder auch Frau Doktorchen. Sie hatten fast immer wie zwei Kinder miteinander gespielt, und als er älter wurde, wurden sie wie zwei gute Freunde und Kameraden. Sie hatte jung geheiratet, als sie kaum das Spielzeug aus der Hand gelegt, und deshalb alberte sie mit dem kleinen Willy genau so wie kurz zuvor noch mit ihren Puppen. Was sollte sie auch sonst beginnen? -- Sie hatte so gar nichts zu tun. Vom Hauswesen verstand sie nicht das geringste. Sie sollte sich auch nicht darum kümmern, das wollte Braun nicht. Dazu hatte man seine Leute. Und sie fühlte auch keine Neigung, sich in der Küche aufzuhalten oder frische Wäsche einzuzählen. Der Geruch schon verursachte ihr Kopfschmerzen. Wenn sie nicht Besuche machte, was in den ersten Jahren ihrer Ehe geradezu eine Leidenschaft von ihr war, so ging sie oft den ganzen Vormittag langsam, ganz langsam im Garten spazieren, oder sie ließ sich zwischen den Bäumen, ganz hinten, an einer recht schattigen Stelle ihre englische Hängematte befestigen, und dort sich leise wiegend verträumte sie die Stunden. Meist war sie so träge, daß selbst der neueste und spannendste Roman tagelang sich unaufgeschnitten umhertrieb, und das gelbe Buch, denn meist war es ein Franzose, wiederholt draußen im langen Grase gefunden wurde, manchmal von einem plötzlichen Regenschauer völlig wie in eine Schmutzmasse verwandelt. -- Willy kannte seine Mutter nicht anders, als daß sie ihre Zeit verträumte, und als er noch kleiner war, erzählte sie ihm ihre Träume; aber sie waren immer so seltsam phantastisch, daß er sie nie recht verstand, und immer, wenn sie eine Geschichte anfing, ward stets eine ganz andere daraus, mit ganz anderen, fremden Personen. Wenn er sie dann erstaunt ansah, nahm sie ihn in die Arme, und lachend über sich selbst und seine fragenden Augen herzte und küßte sie ihn, bis auch er anfing zu jubeln, und dann wirbelte sie ihn übermütig durch das Zimmer, bis sie wieder müde geworden war. Hie und da hatte sie wohl eine leichte Stickerei zur Hand genommen, aber niemals hatte er gesehen, daß eine dieser Arbeiten fertig geworden war. Das dauerte oft Wochen und Monate, während deren sie sich in allen Ecken und Winkeln umhertrieben, bis sie zu schmutzig waren, als daß sie weiter daran arbeiten konnte. Dann wurden sie fortgelegt oder beiseitegeworfen, und nach langer, langer Zeit ward eine neue angefangen, der es nach geraumer Weile nicht besser erging. Willy hatte sich dermaßen daran gewöhnt, sie unbeschäftigt zu sehen, daß, wenn sie anfing zu arbeiten, er ihr lachend die Stickerei aus den Händen wand: sie sollte mit ihm plaudern und sich nicht ihre schönen, weißen Finger zerstechen. -- Als er auf die Universität und damit in neue, ihnen beiden ganz fremde Verhältnisse kam, fing er an, ihr alles zu erzählen, was sie nur irgend interessieren konnte; und alles interessierte sie, selbst die geringfügigste Kleinigkeit. Er bemühte sich, ihr seine Bekannten, seine Lehrer zu schildern, und gewöhnte sich dabei, ihre Schwächen stets etwas zu karikieren, bis sie zu lachen anfing; dann erst war er zufrieden. Er hörte sie so gern lachen; es klang so rein und hell, so kindlich vergnügt, daß es ihm die schönste Aufgabe schien, sie zum Lachen zu bringen. Wo er ihr eine Freude bereiten konnte, tat er es. Wenn er in diese lieben guten Augen sah, begriff er nicht, wie jemand ein böses Wort über die Frauen sagen konnte. Jedenfalls war sein Mütterchen die edelste, liebste und beste Frau, die es auf der weiten Welt gab. So leicht würde er Lautner nicht verzeihen, was er an jenem Tage gesagt hatte. Bei Gelegenheit wollte er ihm seine Meinung gründlichst sagen. -- Er war mit der Mutter in die Siegesallee eingebogen, und sie schritten jetzt der Tiergartenstraße zu. Dann ging er noch eine kleine Strecke mit den Tiergarten entlang und verließ sie vor der Gartentür einer der kleinen, in dichtem Grün versteckten Villen. Und während er zurückging, wandte er sich noch ein paarmal, bis daß sie durch den Vorgarten schreitend in dem Häuschen verschwunden war. Dann ging er schneller, aber mit ihm gingen die Gedanken an sein Mütterchen, deren Bild ihn keinen Augenblick verließ; sein ganzes Leben, das bis jetzt noch immer keinen rechten Zweck hatte, ging auf in der Liebe zu diesem, für ihn edelsten und reinsten Wesen, das seine Mutter war. 3. Lautner hatte sich von Wurm verabschiedet, und da er mit seiner Zeit heute nichts anzufangen wußte, ging er langsam schlendernd und sinnend wieder die Linden zurück dem Brandenburger Tore zu. Sein angefangenes Bild beschäftigte ihn vollauf. Ob er die Kraft hatte, es zu vollenden, -- ob er es annähernd so ausführen konnte, wie er es lebendig vor sich sah? Wenn es ihm gelang, dann war alles gewonnen. Dann brauchte er sich nicht mehr mit dem Jahrmarktströdel der auf Bestellung gelieferten Salonbilderchen abzugeben. Am meisten jedoch dachte er daran, welch eine Freude er seiner alten Mutter machen würde, und nur das eine wieder stimmte ihn trübe, daß ihre Augen mit jedem Tage schwächer wurden, so daß sie kaum mehr arbeiten konnte und ihr Sticken hatte ganz aufgeben müssen. Das und vieles Weinen hatte ihre Augen verdorben. Es war so arg geworden, daß er ihr am Morgen die Zeitung vorlesen mußte, weil ihr die Zeilen ineinander liefen. War es nicht eine bittere Ironie, daß, während er sich bemühte, die leuchtendste Farbenpracht auf seine Leinewand zu bannen, die Mutter immer weniger imstande war, seine Kunst zu genießen? Das fraß an ihm, und er war doch machtlos. Der Arzt hatte ihm erklärt, daß es Altersschwäche sei, gegen die es kein Mittel gäbe. Er mußte sich also in das Unvermeidliche fügen. -- Die Hände in die Taschen des Jacketts versenkt, weil er niemals Stock oder Schirm trug, ging er gemächlich dahin, aufmerksam rings beobachtend. So bemerkte er nicht, wie jemand eine Weile hinter ihm herging und ihn dann endlich auf die Schulter klopfte. Er drehte sich rasch um. Es war Professor Petri, der lachend vor ihm stand und nun seinen Arm nahm. »Kommen Sie mit, Lautner. Ich habe mich mit Willy verabredet zu Gurlitt. Sie gehen doch mit? Wir essen nachher zusammen, wo Sie wollen, wenn Sie sonst nichts vorhaben.« »Nein! Das paßt mir ganz gut. Ich bin eine ziemliche Weile nicht dagewesen.« »Also gehen wir langsam hin.« Reinhold Petri mochte etwa in den vierziger Jahren sein. Das dunkle, kurzgelockte Haar war stark in Grau übergegangen, allein es sah aus, als ob dies von Anfang an die Naturfarbe gewesen sei. Ein starker Bart mit links und rechts tief herabhängendem Schnurrbart bedeckte das Kinn und ließ nur manchmal die etwas zu breiten Lippen sehen. Die Augen waren stahlgrau und scharf durchdringend. Gewöhnlich etwas kalt, fast stechend, von starken, fast borstigen Wimpern überschattet und mit breiten energischen Brauen. Das ganze Gesicht war durch Alter etwas hängend und leicht gedunsen, allein die scharfe energische Nase verwischte diesen Eindruck wieder. Der Kopf mit der hohen, beinah viereckigen Stirn wirkte beim ersten Blick sympathisch gewinnend, und in den scharfen Zügen lag viel Geist. Es war eins jener Gesichter, die so frappant sind, daß man sie nicht wieder vergißt, deren Ausdruck sich voll mit der Persönlichkeit deckt; aus denen man schwer etwas erraten kann, aber stets geneigt ist, in ihnen alles zu finden, was man über den Betreffenden erfahren hat. Es lag Zielbewußtsein in seinem Auftreten, in der straffen Haltung seines mächtigen, breitschultrigen Körpers. Das Seltsame dabei war, daß seine Arbeiten, so groß sie angelegt sein mochten, stets an einem Zuge zur Zierlichkeit krankten und seine kleineren Statuetten mehr Boudoirnippes glichen als selbständigen Schöpfungen eines großen Bildhauers. Es lag ein französisch leichtfertiger Zug in seinen Figuren, der nur zu oft die einheitliche Wirkung störte. -- Lautner hatte eine Zeitlang unter ihm gearbeitet. Allein, nachdem er in die Geheimnisse des Modellierens einigermaßen eingedrungen war, ließ er davon ab und griff wieder zu Pinsel und Palette. Die Farbe interessierte ihn doch mehr als die Form. * * * * * Als sie bei Gurlitt eintraten, fanden sie Willy Braun schon anwesend, der vor einer norwegischen Landschaft stand, deren üppiger Goldton ihn begeisterte. Lautner zuckte nur die Achseln und suchte nach irgendeinem Bilde, das seiner Geschmacksrichtung besser entsprach, aber er fand nichts Gescheites. Er war nicht einmal dazu aufgelegt, seine gewohnheitsmäßigen ironischen Bemerkungen zu machen, zumal er wußte, daß Reinhold Petri sie ihm oft genug verargte. Nur im großen Saale versetzten ihn ein paar originell sein sollende +Plein-air+-Bilder in wilden Zorn, weil sie so gar keinen Inhalt hatten. »Ich glaube, allmählich könnten wir gehen,« sagte er endlich, müde von dem nutzlosen Herumstehen. »Einen Augenblick noch. Dieser Bronzekopf interessiert mich zu sehr.« »Kommst Du nachher mit zu mir, Lautner?« fragte Willy. »Gewiß, gern. Ich habe nichts vor.« »So, jetzt wäre ich fertig. Wenn ihr also mit zum Pschorr wollt, so können wir dort essen.« * * * * * Nach Tisch ließ der Professor die beiden jungen Leute allein, die zu Braun gingen, der seit einiger Zeit in der Mauerstraße seine Wohnung hatte, um nicht beständig den Weg nach Charlottenburg machen zu müssen. Sie sprachen über Reinhold Petri, der eben ein neues Werk vollendet hatte, das sich noch im Atelier befand, aber in den nächsten Tagen ausgestellt werden sollte. Willy stand, trotzdem er über das Sie und das Herr nie hinausgekommen war, mit ihm auf vertrautem Fuße. Oft, wenn ihn irgend etwas bedrückte, wenn er in irgendeiner Angelegenheit einen Rat haben wollte, wandte er sich, ehe er der Mutter die letzte Entscheidung überließ, an Petri, zu dem er viel Vertrauen besaß. Sie ließen es sich beide nach außen hin nicht anmerken, wie vertraut sie im Grunde waren. Wenn Willy in Charlottenburg war, in den Ferien, so machten sie gemeinsam die ausgedehntesten Spaziergänge. In den letzten Tagen war der Professor nervös erregt gewesen, wie jedesmal, wenn er mit einem neuen Werke an die Oeffentlichkeit trat. Eine Ruhelosigkeit ohnegleichen marterte ihn; er konnte vor allem keinen Augenblick allein sein. Jetzt hatte er die beiden jungen Leute nur verlassen, weil er selbst den Transport seiner Gruppe anordnen und überwachen wollte. -- Sie waren vor dem Hause der Mauerstraße angelangt und stiegen die helle Treppe zu Brauns in der ersten Etage gelegenen, aus drei Zimmern bestehenden Wohnung hinauf, über die sich Lautner jedesmal aufs neue ärgerte, weil sie, wie er behauptete, mit geradezu geschmackloser Protzigkeit eingerichtet war. »Natürlich, die Martha!« sagte Lautner, als sie auf den Korridor traten und in demselben Augenblicke eine Tür geöffnet wurde und ein blonder Mädchenkopf sich zeigte. »Du, das Mädel ist, glaub' ich, in Dich verliebt, Will. Sie muß immer herausgucken. Na, deshalb brauchst Du nicht gleich rot zu werden.« »Ich bitte Dich, Fritz.« »Na laß doch. Du kannst ja nichts dazu, das weiß ich. Ich glaube, ehe Du mal ein nettes Wort zu einem hübschen Kinde sagst, muß die Welt untergehen. In der Beziehung bin ich nun gerade kein Unmensch.« Er hatte es sich in einem Ledersessel bequem gemacht und betrachtete eifrig die Titel der in den Repositorien stehenden Bücher. Es war so behaglich in den hübsch ausgestatteten Räumen, daß er gern ein Stündchen hier mit Braun verplauderte. »Uebrigens, Will, Du hast mir immer mal versprochen, zu uns heraufzukommen. Ich habe meiner Mutter so viel von Dir erzählt, daß sie ganz neugierig geworden ist. Dafür mache ich Dir dann mit Würmchen am nächsten Sonntag in Eurer Villa Gegenbesuch, wenn Dir die Zeit paßt.« »Aber sehr gern.« »Weißt Du, so nett wie bei Dir findest Du es nun nicht bei uns. Hinterhaus drei Treppen, wegen des Ateliers. Und das ist auch danach, klein und scheußlich einfach, vier kahle Wände, das ist alles.« Dann fuhr er mit wohltuender Wärme fort: »Aber dafür ist eins darin, und das weißt Du ja zu würdigen: Du mußt meine Mutter mal kennen lernen, 'ne einfache, alte Frau natürlich, recht alt sogar, aber darauf siehst Du hoffentlich nicht so sehr.« »Ich habe nichts mehr zu tun, wenn wir also ...« »Aber mit dem größten Vergnügen, lieber Junge. Je unerwarteter, desto besser.« Sie brachen wieder auf und gingen nach Moabit hinaus. -- * * * * * Ein großes graues Vorderhaus, dann ein völlig verwahrloster Garten und hinten ein kleines, aber hohes Hintergebäude. Die Treppen waren schmal und ausgetreten. An den Wänden blätterte der Kalk ab, und Braun war froh, als sie endlich die Treppen hinauf waren und nun in ein paar Stübchen kamen, mit gescheuerten schneeweißen Fußböden. Alles so peinlich sauber. Der einfachste Hausrat von der Welt; aber diese Einfachheit atmete eine wohltuende Gemütlichkeit, die auch den verwöhnten Willy Braun bestach. Die alte Frau Lautner kam aus der Küche herbei. Sie hatte sich schnell eine saubere Schürze umgebunden. Es war alles an ihr so sicher und ruhig; sie kam dem jungen Manne höflich, aber doch mit einer gewissen überlegenen Herzlichkeit entgegen, daß er fast zwei Stunden mit dieser einfachen Frau verplauderte, nachdem er anfangs nur mitgekommen war, um dem Freunde gegenüber einer Anstandspflicht zu genügen. Zum ersten Male erkannte er, wie weich Lautners Stimme klingen konnte, wenn er »Mütterchen!« sagte; wie verändert er schien, der ihn sonst mit seinen kalten Urteilen so oft erbittert hatte. Er schien hier ein ganz anderer Mensch zu sein, und erst, als er ihn dann in sein Atelier führte, eine Art Bodenkammer, abgeschrägt, aber fast blendend hell, und als er ihm einige Farbenskizzen zeigte, hastig hingeworfen, gleichsam dem Leben entrissen, da war er wieder der alte Skeptiker, der sich selbst mit der schärfsten Ironie beurteilte, so daß Braun fast drängte, fortzukommen, nur um sich den guten Eindruck zu bewahren, den er heute von ihm durch sein Verhalten der Mutter gegenüber empfangen hatte. 4. Ein schweres Abendgewitter war über Berlin niedergegangen. Die Blitze hatten den dichten grauen Dunstschleier, der ewig drückend schwer über der gewaltigen Häusermasse lagerte, zerrissen, bis die stürzende Regenflut ihn völlig durchschlagen hatte. Endlose Ströme stürzten prasselnd vom eintönig grauen Himmel und überschwemmten alle Straßen, Plätze und Trottoirs. Im Augenblicke waren die Fassaden der Häuser von dem feinen grauen Staube reingewaschen, der sich in den letzten, übermäßig heißen und ganz windstillen Tagen darauf gelagert hatte. Der Schmutz von den Steinen, dem Asphalt und den Holzblöcken des Pflasters wurde in die Straßenrinnen geschwemmt, wo er wie eine tintenartige Masse langsam den gurgelnden und schluckenden Kanalöffnungen zutrieb, um in der Erde zu verschwinden. Als sei eine Wolkenmauer geborsten, so rauschten die Regengüsse nieder. Der Wind trieb die dicken Tropfen gegen die Scheiben der Fenster und jagte breite Wolken von Sprühregen wie Wellen über das glatte Pflaster der menschenleeren Straßen. Ueberfüllte Straßenbahnwagen fuhren in gleichmäßigen Pausen die unter Wasser stehenden Schienen hin; einzelne hastende Droschken jagten in eiligem Trabe unter dem Regen durch, der Kutscher mit vorgebeugtem Nacken, den Wachstuchzylinder tief in die Stirn gedrückt und den weiten Mantel fest um die Schultern ziehend. Unter allen Torwegen und in jedem offenen Hausflur standen Spaziergänger und unruhige Geschäftsleute, eng zusammengepfercht, mit ihren tropfenden Schirmen und dampfenden Kleidern, -- und zogen sich tiefer in den Hausflur zurück, wenn der heimtückische Wind plötzlich seinen feinen durchdringenden Sprühregen in den Torbogen warf. Die dicken klatschenden Tropfen, die fast silbern, wie zerplatzende Hagelschlossen aussahen, fielen nicht mehr. Allmählich ging der Wolkenbruch in einen gleichmäßig feinen Landregen über, der alles mit seinen dunstigen Nebelschleiern umhüllte. -- Willy Braun hatte den dicken Band, in dem er geblättert, niedergelegt, weil die Dunkelheit immer stärker ward, und blickte jetzt in den Regen hinaus in die einsame Mauerstraße, wo kein menschliches Wesen zu erblicken war. Vor den beiden Fenstern des Wohnzimmers befand sich ein Balkon, und von dem kleineren der zweiten Etage stürzte hier der Regen herab, daß die Wasserfluten in das Zimmer einzudringen drohten, dies große, elegant eingerichtete Gemach, das so gar keine Aehnlichkeit hatte mit den bescheidenen Studentenbuden seiner Kommilitonen hoch im Norden oder Nordwesten der Stadt, jenen bescheidenen, engen und meist kahlen vier Wänden, in denen sie zu seinem Entsetzen hausen mußten. Seit dem ersten Semester, das er an der Universität Jura studierte, hatte er diese aus drei Zimmern bestehende Wohnung inne. -- Es klopfte an der Tür. Er drehte sich um, und seine Wirtstochter fragte fast scheu, als ob sie sich nicht traue, hereinzukommen: »Soll ich auch die Lampe bringen, Herr Braun?« Er warf einen Blick auf die Straße und dann einen auf die zierliche Bouleuhr auf dem Kaminsims, die dreiviertel sieben zeigte -- dann erst sagte er: »Bringen Sie nur, Fräulein Martha, -- aber anzünden brauchen Sie sie nicht gleich.« Sie huschte hinaus, kam nach einer Weile mit der Lampe wieder und sah sich ratlos im Zimmer um, denn der Tisch war ganz mit Büchern bedeckt. »Nur auf den Schreibtisch, bitte.« Er hatte sich wieder an das Fenster gestellt und sah, wie zuweilen ein ferner Blitz über den jenseitigen Häusern aufzuckte und das Zimmer leicht erhellte, dann herrschte wieder eintönige, farblose Dämmerung. Am Himmel trieben einzelne Wolkenfetzen, und der Regen ließ sichtbar nach; nur zuweilen verschlimmerte sich stoßweise dieser prickelnde Sprühregen, der so fein rieselte, daß man glauben konnte, er habe ganz aufgehört. Willy bemerkte bei seinen Beobachtungen gar nicht, wie sich Martha noch immer im Zimmer zu schaffen machte. Er hatte in all der Zeit, daß er bei dem Registrator Kuhlemann wohnte, kaum ein Auge gehabt für die hübsche achtzehnjährige Martha, mit ihren reichen blonden Haaren und diesem bescheidenen Wesen, das so gar nicht zu dem der anderen Mädchen paßte. Er hatte es nie bemerkt, daß sie alles tat, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, daß sie stets alles selbst besorgte, wenn er irgend etwas wünschte, so daß er das Dienstmädchen, das die Familie hatte, kaum zu Gesicht bekam. Er war freundlich gegen sie, aber nie sagte er ein Wort mehr als nötig; nie machte er auch nur den Versuch, mit ihr, die so gern schwatzte, zu plaudern. Ein paarmal hatte sie ihn um ein Buch zum Lesen bitten wollen, das ihr beim Aufräumen aufgefallen war, allein wenn sie den Entschluß noch so fest vorhatte, traute sie sich im entscheidenden Augenblicke doch nicht mehr, weil er immer so ernst und schweigsam war. All das diente nur dazu, ihre Neigung mehr und mehr zu vertiefen, sie aber auch im gleichen Maße geheim zu halten. Sie rückte jetzt an einer Vase und ordnete das Bukett darin, dann wischte sie über den Deckel des Pianos, warf noch einen Blick auf den am Fenster stehenden jungen Mann, der ihr achtlos den Rücken kehrte, und entschloß sich endlich, mit einem leisen »Guten Abend!« das Zimmer zu verlassen. Er hatte kaum mehr daran gedacht, daß sie noch da war, denn seine Gedanken waren schon draußen in Charlottenburg, in der kleinen Villa der Sophienstraße, wo heute seine Mama ihren achtunddreißigsten Geburtstag feierte, seine junge, schöne Mama, wie er sie liebkosend so gern nannte, die er fast vergötterte, und auf die er so stolz war, wenn er an ihrer Seite ging oder mit ihr ausfuhr, und alle Welt sich nach ihnen umsah. Denn sie fiel auf mit ihrer Schönheit, die etwas mädchenhaft Eigenartiges hatte. Diese Feinheit ihres Profils hatte sich auch auf ihn übertragen; er hatte dasselbe hellbraune Haar, dieselben dunklen Augen, und trotz seines kräftigen Körperbaus etwas Weiches, fast Zartes, daß man sofort erkannte, wie er von einer Frau, und ~nur~ von einer Frau großgezogen war und von der Welt nichts wußte, nicht viel mehr als ein verzärteltes Haustöchterchen. Das zeigte sich auch in seinem Anzuge, eine Sauberkeit und Nettigkeit wie die eines Pensionsfräuleins, das nicht das kleinste Fleckchen oder Stäubchen an sich duldet. -- Er kannte nur seine Mutter. Eine seltsame Neigung zog ihn zu dem spöttischen Maler und dem so überschwänglichen Wurm. Sonst hatte er keinen Freund. Und auch Frauen kannte er nicht. Seine Mutter war die einzige, die Bedeutung für ihn hatte, auf die er all seine Liebe übertrug, eine blinde, rückhaltlose Verehrung wie für eine Heilige. Heute in aller Frühe schon war er draußen gewesen, um ihr seine Glückwünsche zu überbringen. Er hatte sie in dem großen, immer so sorgfältig gepflegten Garten getroffen, wo sie ihn erwartete; denn sie wußte, daß er kommen würde. Im vorigen Jahre war er noch ganz zu Haus gewesen. Zum ersten Male war er jetzt fern. Er wollte arbeiten, und dazu kam er daheim nicht. Denn immer gab es etwas für die Mutter zu tun; gleich war er mit einer Frage bei der Hand, ob er ihr nicht irgendwie behilflich sein konnte oder auch nur ihr Gesellschaft leisten sollte, wenn der Vater wieder einen seiner Schmerzensanfälle hatte und der sie nicht um sich duldete, weil er wußte, wie peinlich es ihr war, weil sie dann wieder für einige Tage an ihrer Nervosität zu leiden hatte. -- In ihrem lichten Morgenkleide hatte sie auf der kleinen, dicht an der Gartenmauer gelegenen Anhöhe gestanden, von wo aus man die Straße ganz hinuntersehen konnte. Er war auf sie zugeeilt und hatte sie in seine starken Arme genommen, als wollte er sie zerdrücken, daß sie ihm lachend wehren mußte. Sie hatte die weißen Kamelien leidenschaftlich gern, und so hatte er ihr auch schon heute früh ein großes Bukett gebracht, und für heute abend war ein gleiches, noch schöneres bei Schmidt bestellt. Er sah in Gedanken ihr liebes, freudiges Gesicht, und wie sie ihn schelten würde, daß er ein Verschwender sei; und doch würde sie ihm für seine Verschwendung so gut sein, daß er schon jetzt die Freude durchkostete, ihr einen Wunsch erfüllen zu können. -- Es regnete noch immer, aber jetzt ganz fein. Das Gewitter hatte sich verzogen, und er entschloß sich, fortzugehen. Rasch vertauschte er die braune Joppe mit dem Gesellschaftsrocke, warf den hellen Ueberzieher um die Schultern, steckte noch einen Brief an einen auswärtigen Freund in die Brusttasche und verließ das jetzt ganz dunkle Zimmer. Als er die Korridortür öffnete, rief ihn Martha an, ob er heute heimkommen oder draußen bleiben würde. Nein, -- er kam nach Hause. Regelmäßig hatte sie eine derartige Frage, wenn er fortging, und er sah darin nichts anderes als eine liebenswürdige Vorsorglichkeit, während es doch von ihr nichts war als das Bestreben, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er achtete nicht darauf; er dachte nicht im entferntesten an sie, die ihm vom Fenster aus nachsah, bis er in dem Torbogen der kleinen Mauerstraße verschwand, die er, ohne sich zu beeilen, durchschritt und dann langsam in die Linden einbog. Ein feiner Dämmerungsschleier lag über den schon herbstlich gelb gefärbten Bäumen. Der Fahrdamm war von Fuhrwerken aller Art belebt. Auf dem Trottoir nur wenige Menschen, die mit aufgespannten Schirmen sich eilends an den Häusern hindrückten. Willy trat in den Blumenladen von Schmidt ein. Der bittere, sinnverwirrende, schwüle Blütenduft, der hier hing, betäubte ihn fast, während draußen die Luft vom Gewitter gereinigt war. Er lächelte dem bleichsüchtigen Ladenmädchen zu, das ihm die Blumen fürsorglich in buntgestreiftes Seidenpapier einschlug. Dann nahm er das Bukett vorsichtig unter den Schirm und trat wieder hinaus in den Regen, der mehr und mehr nachließ. -- Gleichmäßig plätscherten auf dem Pariser Platze im Regen die beiden Fontänen. Vor der Wache des Brandenburger Tores standen zwischen den Säulen einige Soldaten und sahen gelangweilt vor sich hin. Unbeweglich stand der Posten da, unbekümmert um den Regen, trotzdem seine weiße Hose naß und grau geworden war und anklebte. Er wartete stoisch auf die Ablösungsstunde. Von den Bäumen des Tiergartens klatschten dichte Tropfen; zuweilen schüttelten sich die nassen Zweige und ein Regenschauer prasselte nieder, der heftig auf seinen aufgespannten Schirm trommelte, während er, die Bahn erwartend, am Waldsaume auf und ab ging. Der Wagen war ziemlich leer, und er setzte sich gegen alle Gewohnheit in das Innere, wo eine drückende, dumpfe Luft herrschte, daß er das Fenster hinter sich öffnen mußte. Ein feuchtschwerer Duft wogte aus dem Walde her. Nebelhaft schien er dem feuchten Boden zu entquillen. Zuweilen hörte man, wie das Wasser unter den Rädern aufrauschte. Oder der Nachregen stürzte von den Bäumen. Manchmal flammte es in der Ferne auf, schwach und ersterbend. Der Wagen schwankte und stieß, und Willy war froh, als er endlich aus dem Tiergarten heraus war, unter dem Eisenbogen der Stadtbahn durchfuhr, über den schmutzigen Spreekanal, -- dann links der breite Sandsteinbau der Technischen Hochschule, und endlich war er am Ziele. Er mußte mit seinem großen, ihn hindernden Bukett über ein paar breite Pfützen springen, dann überschritt er die Allee und bog in die enge Sophienstraße ein. Die Fenster der kleinen Villa waren weit geöffnet; aus der ersten Etage, durch die hin- und herflatternden Vorhänge strömte eine drängende Lichtfülle. An dem einen Fenster waren die Vorhänge weit zurückgeschlagen, und als die Gittertür ins Schloß fiel, sah er, daß dort oben sich jemand bewegte. Er erkannte die Gestalt. Es war seine Mutter, seine geliebte, angebetete Mutter. Sie grüßte und winkte, und er lächelte und winkte hinauf, und dann stürmte er fast über den Kiesweg und die breite Steintreppe hinauf, zu ihr ... seiner Mutter. -- 5. Will hatte kaum den Fuß auf die unterste Stufe der hellerleuchteten Treppe gesetzt, als sich droben eine Tür öffnete und die Mutter ihm entgegenkam, lächelnd und freudestrahlend, und ihn in das kleine Vorzimmer zum Salon zog. Ein schmaler, einfenstriger Raum, der zu einer Art Toilettenzimmer umgewandelt war. In der Mitte ein niederer Diwan mit buntgemustertem Teppich -- ein großer Toilettenspiegel an der einen Wand, an der andern Garderobeständer, an denen schon einige Sachen hingen, zu denen auch Will Hut und Mantel hing, ehe er das Bukett sorgsam aus seiner bunten Seidenpapierhülle schälte. Keine Blume war gebrochen, keine Spitze zerknittert. Frau Anna hatte sich auf den Rand des Diwans gesetzt und ihm zugeschaut, bis er ihr jetzt die weißen Blüten überreichte, in die sie tief aufatmend ihr Gesicht versenkte. »Du Verschwender!« schalt sie ihn voller Glück. »Wie schön die Blumen sind, wie wunderbar schön!« Er stand vor ihr und sah auf sie nieder, wie sie dasaß und jetzt nach seiner Hand griff und ihn zu sich zog. Er beugte sich nieder, und voll überströmender Zärtlichkeit griff sie nach seinem Kopfe und küßte ihn auf die Stirn. »Du leichtsinniger Verschwender! Ich glaube, Du wärest imstande, alles hinzugeben, selbst Dein letztes, nur um ~mir~ eine Freude zu bereiten, und wenn sie auch nur einen Augenblick währte.« Er nickte beistimmend und sah sie lachend an. »Dir käme es nicht darauf an, mir die ganze Welt zu Füßen zu legen, wenn die andern dann auch gar nichts behielten.« »Gewiß,« sagte er scherzend. »Die Welt und den Himmel, mit all seinen Sternen auch.« »O, Du Himmelsstürmer! Es ist nur gut, daß Du nicht so groß bist, um bis zu den Wolken zu reichen. Die armen Sterne sonst!« »Es wäre ja für Dich, meine liebe, kleine Mama.« »Ich glaube, Du könntest alles für mich tun. Wenn ich wollte, am Ende gar Mord und Totschlag.« »Für ~Dich~ alles!« Er sagte es halb lachend, aber seine Stimme klang fest und ruhig, und in seinen dunklen Augen lag eine Entschlossenheit, die verriet, daß er zu allem bereit sein konnte für sie. »Du Närrchen,« sagte sie und fuhr liebkosend über sein leichtgelocktes dunkles Haar. Er schmiegte sich an sie, so daß er halb vor ihr kniete. »Du Närrchen,« wiederholte sie, und ein unnennbares Gefühl des Glückes, wie eine verhaltene Tränenflut durchbebte sie, während ihre schlanken Finger mit seinen Haaren spielten. »Wie schön Du heute wieder bist,« sagte er plötzlich und griff nach ihren Händen. »Ich glaube, Du wirst immer jünger und schöner.« Eine leichte Röte flog über ihre blassen Wangen, daß er sich diese kindischen Schmeicheleien nicht abgewöhnte, und doch war sie darüber so glücklich. »Mußt Du denn immer schmeicheln? -- Du willst mich nur ausspotten. Ich bin längst eine alte Frau.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Du bist viel jünger als all die andern.« »Und habe dabei einen großen Herrn Sohn, der wie ein kleines Kind schmeichelt und wie ein rechtes Baby süß tut.« »Bist Du böse darüber, Ma?« »Nein Will, nicht böse! Nur glücklich ... überglücklich.« »Ma!« »Wenn ich ~Dich~ nicht hätte, Will ...« Sie seufzte leicht auf und umfaßte ihn. »Aber Mütterchen, bist Du denn nicht glücklich? Fehlt Dir etwas? Was redest Du nur so.« »Du guter Junge! ...« Sie blieben noch immer in diesem traulichen, engen Zimmer, ohne rechte Lust, in den Salon zu gehen, von wo die Laute einer harten aufdringlichen Stimme bis zu ihnen herübertönten. Es war traumhaft still hier, und es lag etwas so geheimnisvoll Berauschendes darin, eine Zeitlang noch schweigend ihr Beisammensein voll zu genießen, so nahe beieinander sein zu können in dieser behaglichen Stille, diesem unausgesprochenen Glücke. Will sah sie an. Sie war heute schöner als je. Die dunklen feinen Augen schimmerten in feuchtem Glanze, wie in Sonnentränen, die schmalen Lippen waren wie von innerer Erregung blutrot, und auch auf den sonst mattgelben blassen Wangen lag ein frischer Hauch, ein weiches, schwaches Rot. Das schwere dunkle Haar hatte sie einfach aufgenommen und wie eine Krone um den Kopf gelegt, wie ein Diadem. Nur in die Stirn kräuselte es sich leicht natürlich. Sie litt keine künstliche Frisur, und sie wußte, wie gut bei dem vollen Haar ihr diese einfache Tracht stand, die ihr durch das Ungekünstelte den Reiz des Besonderen verlieh. Eine breite, feingliedrige Silberkette war durch das dunkelbraune Haar geschlungen. Eine gleiche Kette lag um den schlanken Hals, und ein dazu passendes Armband umschloß das feine Gelenk der linken Hand. Sie trug ein mattgraues Kleid mit breiten Cremespitzen. Sie wußte, wie gut ihr das stand und wie gern Will diese Farben hatte. Weshalb sollte sie sich aus gesellschaftlicher Rücksicht dunkel kleiden? -- Sie liebte alles Helle und Frische, die leis abgetönten Farben, die weich ineinander überflossen. Das halb Farblose war ihre Passion. Eine süße, schwermütige Träumerei lag jetzt in ihren Augen, fast etwas Schwärmerisches, als ob sie nichts von der Außenwelt um sich herum sah, sondern andere Bilder, die einst an ihr vorübergezogen waren, fröhliche und trübe; denn das Licht in ihren Augen wechselte, als ob Wolkenschatten darüber hinglitten. Die Stimmen im Nebenzimmer wurden lauter. Es wurde dröhnend und wuchtig gelacht, ein Lachen, das sich allmählich abstufte -- und dann ging plötzlich, ohne daß geklopft war, die Tür auf; und eine blendende Flut von Licht prallte hervor, daß sie sich wie erschreckt losließen; und im Rahmen der Tür zeigte sich ein etwa sechzigjähriger Mann, breitschultrig, hünenhaft von Gestalt, mit dichtem, grauem Haar, das tief in den Nacken fiel, und mit einem verzottelt aussehenden grauen Barte, der breit die ganze Brust bedeckte. Und aus dieser Brust tönte ein sonores Lachen, tief und schütternd, etwas aufdringlich, fast selbstbewußt. »+Damn't!+ Da haben wir ja wieder das Liebespaar.« Er rief es mit seinem dröhnenden Lachen, und auf der Schwelle stehen bleibend, redete er in das Zimmer zurück. »Wahrhaftig, Bruder, ich ließe mir das nicht gefallen. Ich an Deiner Stelle wäre schon längst eifersüchtig geworden. Sieh Dir nur mal diese Szene an. O Romeo, o Julia! Sieh nur ... ach so, Du kannst ja nicht. Ja, ja, es ist ein angenehmes Gefühl, seine Knochen heil und gesund beisammen zu haben.« Und wieder brach er in sein übermütiges Lachen aus. »Na, mein Sohn +filius+! Machen wir denn? -- +Hope, ye do well, my boy!+ Er streckte Will gutmütig die Hand hin, die im Gegensatze zu diesem robusten Körper schmal und sehnig war, mit langen, feinen Fingern, die wie nervös aussahen. Willy war bei seinen ersten Worten aufgesprungen, und auch Frau Anna hatte sich langsam, unwillig über die Störung, erhoben. »Aber Onkel, was soll denn ...« »+Never mind, my dear+, ich weiß schon ... weiß schon. Ich tappe nun einmal wie ein Bär in alles. Meine schöne Frau Schwägerin wird es mir schon verzeihen, wenn sie auch jetzt die Stirn runzelt. Es ist ja nichts weiter als blinde Eifersucht von Onkel Jack. Aber nun kommt herein, damit wir auch was von Euch haben.« Johannes Braun oder, wie er sich drüben geschrieben hatte, Jack Brown, war sieben Jahre älter als Wills Vater Hermann. Voller Abenteuerlust war er als junger Bursche nach den Staaten ausgewandert, weil es ihm daheim nicht behagte, und hatte den Yankees was vorgedudelt, wie er seine Kapellmeistertätigkeit benannte. Er hatte sich jenseits des großen Sumpfes bald eine tüchtige Stellung errungen; vom einfachen Geiger brachte er es binnen kurzem zum Dirigenten; und als er so viel beisammen hatte, um ruhig leben zu können, kehrte er in das geeinigte Deutsche Reich zurück, gerade zur Zeit, als Hermann in seiner chemischen Fabrik mit einem Experimente jenes Unglück gehabt hatte, das ihn derart zurichtete, daß er monatelang liegen mußte und seitdem infolge einer Lähmung der rechten Seite wie ein Kind gepflegt wurde. Er saß hilflos und verlassen im Sessel und freute sich fast kindlich über Will, der ihn begrüßte und ihm die Hand schüttelte, die linke, weil er in der anderen kein rechtes Gefühl hatte. Da saß er in sich zusammengefallen, mit dem grauen Krankengesichte, dem spärlichen hellen Haar, über das er beständig mit zitternder Hand fuhr, und dabei versuchte er, ein recht fröhliches Gesicht zu machen, sobald Besuch da war. Nur zwei Damen waren noch anwesend, denn seitdem Doktor Braun gelähmt war, hatten sie allen gesellschaftlichen Verkehr abgebrochen, und jene großen Feste, die früher ein Ereignis bildeten, hatten aufgehört. Frau Anna selbst hatte es so gewollt. -- Will hatte kaum ein paar Worte mit seinem Vater gewechselt, als ihr Gespräch durch Frau Emmy Dempwolf unterbrochen wurde, die sich für einige Zeit bei ihrer Schwester Agnes von Ruschwedel aufhielt. Emmy war die verkörperte Lebensfreude, hellblond, schlank und schmiegsam, mit hellen, fast wasserblauen Augen, die munter in die Welt schauten. Sie kokettierte für ihr Leben gern, allein auf dem einsamen Gute Rintlach bot sich ihr keine Gelegenheit, und ihr Wolf oder, wie sie ihren Gatten auch zu benennen pflegte, ihr Brummbär hatte kein Verständnis dafür. Ganz anders ihre Schwester, die Frau Hauptmann; hoch aufgeschossen, ernst und streng bewahrte sie in allen Lebenslagen ihre Würde und Hoheit. Beständig ging sie in Schwarz und trieb mit ihrem toten Gatten einen überschwänglichen Kultus, so daß sie keine zehn Worte sprechen konnte, ohne nicht dabei ihres seligen Franz zu gedenken. Emmy Dempwolf nahm wenig Rücksicht auf den zur Schau getragenen Ernst ihrer Schwester. Wie ein Wirbelwind tobte sie durchs Leben, und ihr erstes war der Versuch gewesen, Willy in ihre Netze zu ziehen. Gerade, weil dieser große, hübsche Junge so spröde und kalt tat, wollte sie ihn aus seiner Fassung bringen. Allein bis jetzt hatte sie noch keinerlei Erfolg aufzuweisen, und sie griff daher zu immer stärkeren Mitteln. Jetzt hatte sie wieder einen Gedanken. »Liebster, bester Herr Doktor,« schmeichelte sie, »Sie müssen mir einen großen, großen Gefallen tun.« »Verzeih, Papa! .. Gnädige Frau wünschen?« »Verschaffen Sie mir ein Pferd. Ein Königreich für ein Pferd. Ich muß einmal wieder einen Gaul unter mir haben, oder ich komme um.« »Ich werde versuchen, gnädige Frau ...« »Ach, das ist himmlisch ... Das wird reizend. Natürlich begleiten Sie mich. Sie können doch reiten?« »Allerdings, aber ...« »Ach was, ... kein Aber! Nein, wie ich mich freue! Wozu gibt es denn den Tiergarten. Eigentlich hatte ich Wolf gebeten, -- aber mein Brummbär grommelte: er habe seine Pferde nicht zum Eisenbahnfahren. Was sagen Sie dazu? -- Also abgemacht: Sie sorgen für Pferde, aber für mich ein recht wildes; Sie sollen sehen, wie gut ich damit fertig werde. In aller Frühe natürlich, wenn die anderen noch in den Federn liegen.« Da Will lächelte, fuhr sie eifrig fort: »Sie brauchen gar nicht so zu lächeln. Wann glauben Sie, daß ich sonst aufstehe? -- Um vier oder um fünf Uhr, mein Herr ... Hier allerdings müßte man ja sterben, wenn man vor acht Uhr herauskriecht. Aber dann heißt es: mit den Hühnern auf! Wahrhaftig, ich glaube, ich komme hier um, oder wenigstens auf die unsinnigsten Gedanken, wenn ich nichts zu tun habe. -- Ich hatte mir das alles ganz anders gedacht, als ich meinen Wolf allein sitzen ließ. Ich wollte mit Agnes nach Warnemünde oder Heringsdorf, ganz gleich, wenn es auch schon ein wenig spät ist; und nun sitze ich hier schon über vierzehn Tage in diesem Neste, weil meine Frau Schwester mir den Willen nicht tun will. Amüsieren wir uns also auf unsere Weise, hoch zu Roß. Ich freue mich schon jetzt wie ein Kind. Also, abgemacht! ..« Sie reichte ihm ihre kleine Hand, auf deren Zierlichkeit sie sich sehr viel einbildete, und sie reichte sie ihm gleich so hoch hin, daß er sie küssen sollte. Der junge Mann jedoch machte keine Miene. Er schüttelte ihr ganz ruhig die Hand. Das herausfordernde Wesen der jungen hübschen Frau verletzte ihn, und sie erreichte damit bei ihm genau das Gegenteil ihrer Absicht. Wenn er seine Mama dagegen hielt, die jetzt neben Frau Hauptmann von Ruschwedel saß, mit ihrem feinen Lächeln, diesen ruhigen, zierlichen Bewegungen, während Frau Dempwolf mit ihrem hastigen Wesen oft geradezu ungraziös wurde. Sie hatte Willy am ersten Tage mit »Herr Doktor« angeredet, so daß er ihr einmal bescheiden bemerkte, daß er das noch nicht sei. In ihrer koketten Weise erwiderte sie ihm, wie verwundert: »Ich kann Sie doch aber nicht wie die anderen kurzweg Will nennen! Das geht doch nicht gut.« Unmutig hatte er geschwiegen, worauf sie triumphierend sagte: »Dann müssen wir es doch wohl vorläufig bei dem Doktor belassen. Es tut hoffentlich nicht weh.« Er hatte auch jetzt keine Antwort, aber jedesmal bei dieser Anrede empfand er es unangenehm. Ihr ganzes Wesen drängte ihn, beinah ungezogen gegen sie zu werden, er, der sonst Frauen gegenüber von zurückhaltender Liebenswürdigkeit war. Es war ihm peinlich, daß er so sein mußte, und dieses Bewußtsein machte ihn noch steifer. Weshalb kokettierte sie so und verkehrte nicht lieber mit ihm auf kameradschaftlichem Fuße, wie er es von der Mutter her gewöhnt war, in jenem unbefangen sicheren Tone, den er jeder andern Frau gegenüber besaß. Er verstand diese junge Frau nicht, die ohne beständige Schmeicheleien nicht leben konnte, die auch ihn zwingen wollte, ihr dergleichen zu sagen. Was konnte ihr zum Beispiel daran liegen, ob er ihr die Hand küßte oder nicht? -- Sie bat ihn um eine Gefälligkeit, die er ihr gern erfüllte. Das genügte doch. Frau Anna ging an ihm vorüber und flüsterte ihm leise zu: »Du mußt Frau Dempwolf zu Tisch führen.« Er bot ihr ohne besondere Freude den Arm, und nun hatte er wieder das unangenehme Gefühl, daß sie sich fester an ihn hing und anschmiegte, als nötig war. »Wo ist denn Herr Lautner?« fragte sie. »Er war am Nachmittage hier und läßt sich vielmals entschuldigen. Es ist ihm nicht möglich gewesen, heute abend zu kommen.« »Ach wie schade, er ist so furchtbar interessant!« Lautner behandelte sie immer mit einer gewissen Ueberlegenheit, die ihr imponierte. Er gestattete sich die schärfsten Urteile und Ansichten, über die ~sie~ sogar sich entsetzte. Allein er gefiel ihr, mit seinem sicheren Gleichmute und seinem ironischen Spotte, den er an allem übte. Wenn sie beisammen waren, so gab es stets ein endloses Wortgefecht, mit Spitzfindigkeiten, denen so leicht kein anderer folgen konnte. Ihr Ausruf: Wie schade! war deshalb aufrichtig gemeint, und auch Willy stimmte ihm bei. Dann hätte er doch für den Abend Ruhe gehabt. -- Frau Anna hatte so lange gezögert, weil noch ein Gast fehlte. Allein Doktor Braun war ungeduldig geworden. Er war leicht erregt und nervös, wie es Kranke zu sein pflegen, die durch ihre Schwäche zu eignem Handeln unfähig sind. Sie sah es, denn er fing an, unruhig mit den Fingern zu trommeln, und ihm zuliebe wartete man nicht länger. Vorher aber blickte Frau Anna nochmals aus dem Fenster, in die kühlfeuchte Nacht hinaus; dann erst nahm sie ihren Platz an der Spitze der Tafel ein. An der linken Seite saß ihr Gatte, der jetzt ganz still geworden war, und neben ihm Frau von Ruschwedel mit Onkel Jack. An der rechten Seite der Hausfrau blieb ein Stuhl frei, dann kam Emmy mit Will. »Liebste Freundin,« wandte sich Anna zu Frau Dempwolf, »ich muß Ihre Nachsicht in Anspruch nehmen. Ich hatte bestimmt erwartet, daß der Professor zur rechten Zeit erscheinen würde. Es war ihm die Ehre zugedacht, Sie zu Tisch zu führen. Ich glaube, wir lassen den Platz zwischen uns noch ein wenig frei, ich hoffe bestimmt, daß Sie bald zu Ihrem Rechte kommen werden.« »Aber ich bitte sehr. Ich bin mit der Gesellschaft von Herrn Willy vollkommen zufrieden. Eigentlich fürchte ich mich nämlich etwas vor Professor Petri, wenn er einen so durchdringend mit seinen scharfen Augen ansieht. Ich denke dann immer, er hat was an mir auszusetzen, als wolle er wie am Werke eines seiner Schüler kritisieren. Mich sollte es gar nicht wundern, wenn er eines Tages mal sagte: Aber die Nase ist ja viel zu stumpf! Was ist denn das für eine Arbeit, es regnet ja hinein, -- und dann der Kopf, der reinste Puppenkopf. Das ist nichts -- gar nichts -- elende Pfuscherei!« Sie karikierte Petri ungemein drollig. »Eigentlich habe ich mir gedacht, er sollte nur Giganten und Titanen aus mächtigen Felsblöcken hauen. -- Neulich, als ich den Pergamonfries gesehen habe, mußte ich immer an ihn denken. Das wäre so was für ihn. Was Niedliches und Zierliches kann er doch nicht machen. Oder doch? ..« »Ei gewiß, gerade. Dort drüben der Mädchenkopf ist von ihm.« Sie war aufgesprungen, um sich das Werk in der Nähe zu betrachten, ohne Rücksicht darauf, daß schon serviert ward. »Ich habe nämlich eigentlich noch nie was von ihm gesehen. Er ist mir zu groß, viel zu groß. Es ist, als ob er und Onkel Jack ein paar Riesenbrüder sind. Sie sehen so schrecklich verwandt aus.« »Was ist schon wieder mit mir,« fragte Onkel Jack, ungeniert lachend. »He! was habe ich wieder getan? -- Natürlich, immer Onkel Jack.« »Getan! -- getan haben Sie nichts,« rief Emmy mutwillig. »Ich habe nur gesagt: Sie und der Professor müßten von Enak abstammen.« »Enak? -- Ach so, die ollen Riesen, weiß schon. Na ja -- aber ganz stimmt das doch nicht. Es könnte höchstens ein jüngerer Bruder sein. Ja, ja, das Fiedelbogenstreichen ist 'ne gesunde Arbeit. Das gibt noch bessere Muskeln, als an 'nem Marmorblock ein bißchen herumkloppen.« Er lachte wieder, bis er sich fast verschluckte. Dann wandte er sich an den Bruder, der in sich versunken im Sessel saß und sich von Anna vorlegen ließ: »Ja, Bruder, siehst Du, Du bist ein bißchen aus der Art geschlagen. Warst schon als Junge ein Grübler. Immer Gedanken -- und wieder Gedanken. Und wer viel denkt, wird nicht lang.« Der Kranke lächelte resigniert und fuhr sich mit unsicherer, abgezehrter Hand durch den spärlichen Vollbart, der sein blasses eingefallenes Gesicht umrahmte. Die wenigen Haare lagen ganz schlicht auf dem etwas länglichen Kopfe, nur die Augen blickten klug träumerisch in die Welt, als ob hinter ihren Spiegeln ein weites, seltsames Traumland liege, von dem die anderen nichts wissen noch ahnen konnten. So still war er immer. Selten nur klagte er. Allein so scheinbar zufrieden war er erst im Laufe der letzten Jahre geworden. Mehrmals hatten ihn die Aerzte völlig aufgegeben gehabt. Aber jedesmal hatte die dem schwächlichen Körper innewohnende Energie ihn gerettet. Er hatte die Fabrik verkauft, weil es nicht möglich war, sie vom Krankenbette aus zu leiten, und seitdem lebten sie in der kleinen Villa, in der er einst Anna hatte kennen und lieben gelernt. Es war von seiner Seite keine blind leidenschaftliche Liebe gewesen; und er wußte, daß auch Anna ihm nur eine liebevoll innige Freundschaft entgegenbrachte. Es war eine musterhafte Ehe, anfangs ohne sonderliche Leidenschaft und daher ohne Unruhe. Allmählich aber fing Hermann an, sich in seine Frau zu verlieben; er war im Begriff, sich gehen zu lassen, als er herausfühlte, wie er sie damit erschreckte, und nun sich langsam wieder vor ihr zurückzog. Sie hatte kein Verständnis für ihn, und er hatte nicht den rechten Mut, ihr dies Verständnis für sein Wesen zu eröffnen. Und so lernte er sich beherrschen, er blieb so gleichmäßig ruhig wie zuvor, um sie nicht zu verwirren. Er hoffte, daß es eines Tages auch bei ihr durchbrechen würde. -- Aber der Tag kam nicht. -- Sie blieb sich immer gleich, leidenschaftslos kühl. Es lag in ihr etwas stolz Abwehrendes, eine so sichere Unnahbarkeit, die er nicht zu durchbrechen wagte, und sie schien nichts zu merken von seiner Unruhe, von der nervösen Hast, die ihn manchmal überkam. Und weil er ihr seine Liebe nicht mit Worten gestehen konnte, weil er dieses feine Lächeln fürchtete, das zuweilen um ihre Lippen zittern konnte, weil er im Banne vor dieser Ueberlegenheit stand, tat er ihr jeden Wunsch, erfüllte er all ihre Launen, ohne Bedenken, und in seiner Liebe zu ihr, vor der sie zurückbebte, verschloß er sein Herz, damit sie ihn nicht ganz zurückstieß. -- Dann wurde das Kind geboren. Er hatte gehofft, nun werde es anders. Aber er täuschte sich. Denn nun galt er ihr ~gar nichts~ mehr. Jetzt lebte sie nur für das Kind, hatte nur mehr Augen und Sinne für ihren kleinen Willy, und so verlor er sie vollkommen. Das Kind stand zwischen ihnen. Sie verließ es nicht einen Augenblick. Es diente ihr als Schild. Da gab er alle Hoffnung auf, denn er zweifelte daran, ob es überhaupt in der Welt irgend etwas geben könnte, das imstande war, ihr Blut auch nur um einen Pulsschlag zu beschleunigen. Dieser apathische Gleichmut, diese vollkommene Leidenschaftslosigkeit tröstete ihn andererseits wieder. Es gab so wenigstens keine Möglichkeit, daß er je irgendwelchen eifersüchtigen Anwandlungen unterlag. Sie hatte freie Hand gehabt in all ihrem Tun und Lassen, vom ersten Augenblicke ihrer Ehe an. Er hatte ein unerschütterlich festes Vertrauen zu ihr. Nie war auch nur das geringste Wort eines Vorwurfs gefallen. Ihr Verhalten zueinander war tadellos. Wie sie sich vor der Welt betrugen, er liebevoll, aufmerksam auf jede ihrer Bewegungen, so war er auch daheim, kein Unterschied, keine Nüance mehr oder weniger. Zuweilen hatten sie beide das Gefühl, als ob sie sich wie zwei Gegner mit gekreuzten Klingen gegenüberständen; allein es mischte sich zugleich ein Gefühl gegenseitiger Hochachtung ein, die es nie zu einem Ausfall kommen ließ. Wie ernst sie ihre Pflichten nahm, bewies sie zu jener Zeit, als man ihn halbverbrannt aus der Fabrik heimtrug. Sie hatte nicht aufgeschrien, kein unnützer Laut des Jammers war in seiner Gegenwart über ihre Lippen gekommen. Mit hingebendster Sorgfalt und unerschütterlicher Geduld hatte sie ihn gepflegt. Sie tat ihre Pflicht, peinlich genau, jedes Wort befolgend, das der Arzt ihr sagte; sie tat ihr Aeußerstes, ruhig und still, ohne Murren, aber auch ohne in ihrer Hingebung ganz aufzugehen, so wie eine barmherzige Schwester, die ihr Leben für nichts achtet, die aber doch keine innere Beziehung zu dem Kranken hat. Alle ihre Gewohnheiten legte sie ab. Es wurden keine Besuche mehr gemacht, ihre Freundinnen wies sie ab, und die allerneuesten Vorgänge der Gesellschaft ließen sie so völlig kalt, daß ihre Bekannten nicht wiederkamen, daß sie die Hoffnung eines ferneren Verkehrs aufgaben und von ihr fast wie von einer Weltfremden sprachen. So wurden sie vergessen, und als ihr Gatte wieder anfing, Hoffnung auf Genesung zu geben, da hatte sie die Fühlung verloren, hatte auch das Bedürfnis nicht mehr nach jenen lärmenden, rauschenden Festlichkeiten, die ihr jetzt weniger zusagten als früher, wo sie ihr auch nur dazu gedient hatten, sich zu betäuben. In den einsamen Stunden am Krankenbette, wenn das Nachtlichtchen seinen ersterbenden Schimmer hauchte, hatte sie Zeit gefunden nachzudenken, ihr ganzes inhaltsloses Leben an sich vorüberziehen zu lassen und Einkehr in sich selbst zu halten. -- Sie war aufgewachsen in der strengen Zucht ihrer Mutter, selbst ganz das Gegenteil, ein lebenslustiges, übermütiges Geschöpf, das gedankenlos in den Tag hineinlebte, dessen Sehnsucht darauf ausging, sich recht bald und möglichst reich zu verheiraten, um frei zu werden, um eine Rolle zu spielen. Und dann hatte sie eines Tages in kindischem Trotz, eigentlich nur um jemand anderem wehe zu tun, den ersten besten geheiratet. Und dieser erste beste war zufällig Hermann Braun gewesen, der in all der Zeit in ihrem Hause verkehrte, bis er eines Tages um ihre Hand anhielt, die sie im ersten Augenblicke ausschlug, um ein paar Tage später doch Ja zu sagen. Sie hatte sich das eigentlich alles ganz anders vorgestellt, damals noch ganz befangen in romantischer Mädchenschwärmerei, -- und dieses Mißverhältnis zwischen ihrer Empfindung, ihren heimlichen Wünschen und der prosaischen Wirklichkeit brachte sie aus aller Fassung, stumpfte sie vollkommen ab, bis sie jedes Gefühl verlor. So war sie sein Weib geworden, mit der redlichen Absicht, ihre Pflicht wie jede andere zu erfüllen. Wenn der Kranke erregt wurde, wenn er mit seiner Nervosität sich und andern lästig fiel, so nahm sie das geduldig, ohne ein Wort der Klage hin. Sie behandelte ihn wie ein krankes Kind, das er war, und darüber konnte er sich innerlich so empören, daß er zuweilen in Tränen ausbrach. Aber er ließ es sie niemals ahnen; nur wenn er seine Schmerzensanfälle hatte, duldete er nicht, daß sie um ihn war, und so gewöhnte sie sich wieder mehr und mehr daran, ihn fremden Händen zu überlassen. Sie hatte ihren Gleichmut wieder gefunden und suchte jetzt wieder nach Zerstreuung. Dann saß er allein und las. Im Hause lagen überall eine Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften umher, englische, französische und deutsche. Wenn er aber lesen wollte, so mußte er meist jemand haben, der ihm behilflich war, die großen Blätter umzuschlagen, weil es Tage gab, wo er fast unfähig war, ein Glied zu rühren. Und dann machte ihn die Gegenwart eines Dieners wieder nervös. Allein er mußte sich hineinfügen. Jede naturwissenschaftliche Entdeckung, jeder Bericht einer Reise, vor allem die Vorgänge in Afrika, besonders aber alle Neuerungen auf dem Gebiete der Chemie studierte er mit einem nie ermüdenden Eifer. Wenn er allein war, grübelte er über neue Probleme nach. So glaubte er einmal eine Lösung gefunden zu haben, um das Schwefeleisen völlig vom Schwefel zu befreien, so daß es zu allen Arbeiten verwendbar war, ohne die Gefahr, brüchig und spröde zu werden. Aber er war an seinen Krankenstuhl gefesselt und konnte nichts beginnen. Es handelte sich um ein paar komplizierte Experimente, und die wollte er keinen andern für sich machen lassen. Ein anderer konnte das auch gar nicht. In derartigen Stimmungsaugenblicken war er unerträglich. Am meisten ließ er dann an Willy seine Launen aus. -- Weshalb hatte er Jura und nicht, wie er es wollte, Chemie studiert? -- Dann hätte er die Fabrik übernehmen, dann hätte er sich leicht einen Namen machen können. So wurde ihm nun kein Wunsch erfüllt. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen. Keiner kümmerte sich um ihn. Am meisten gab sich noch Onkel Jack mit ihm ab, Jack, mit dem er früher auf gespanntem Fuße gelebt, von dem er lange Jahre hindurch nie ein Wort gehört hatte, bis er eines Tages unvermutet zurückkehrte und ihn nun mit seinen drolligen Erzählungen unterhielt. -- Und auch heute abend unterhielt er die ganze Gesellschaft, bei der es anfangs ziemlich still hergegangen war, weil Frau Anna alle Augenblicke nach der Tür sah und bei jedem Geräusche aufmerkte, nervöser als je. Er erzählte von seinen Reiseabenteuern in Chili, wohin er unter Leitung eines spitzbübischen Impresario einst mit seiner Kapelle eine Tournee gewagt hatte. Er spickte seine Erzählung mit so mancher Kraftäußerung, so mancher echt amerikanischen Wendung und erzählte so humoristisch, daß ihm alle aufmerksam zuhörten und er mit seinen Aufschneidereien immer mehr in Fluß kam, bis der Diener ihn mit der Meldung unterbrach, daß Herr Professor Petri soeben gekommen sei. -- 6. Frau Anna hatte sich erhoben, um dem Eintretenden entgegenzugehen. »Bitte tausendmal um Entschuldigung,« stieß er etwas hastig hervor. »Ich sehe, daß ich gestört habe. Gestatten Sie, gnädige Frau, daß dies Bukett, die teilweise Ursache meiner unangenehmen Verspätung, meine Bitte um Verzeihung unterstützt.« Ein sanft vorwurfsvoller Blick aus ihren Augen traf ihn, dann nickte sie ihm zu, während er ihre Hand ergriff und sie fast zärtlich an die Lippen führte. »Um dieser herrlichen Blumen willen soll Ihnen diesmal noch verziehen werden,« sagte sie lächelnd, während sie den feinen Duft der blassen Rosen einsog und den Strauß dann in eine Vase auf die Tafel stellen ließ, in der bis jetzt ein bescheidenes Veilchenbukett sich befunden hatte. Der Professor begrüßte die Damen und schüttelte den Herren der Reihe nach die Hand, worauf er seinen Platz zwischen der Hausherrin und Emmy Dempwolf einnahm, die sein Kommen mit ihrem süßesten Lächeln begrüßt hatte. »Denken Sie nur, gnädigste Frau,« wandte er sich zu Anna, »als ich das Bukett abholen will, haben die Menschen die dunkelsten Rosen von der Welt genommen. Sie werden einsehen, daß das unmöglich war. Alle Tradition wäre damit vernichtet worden.« Er beugte sich zu ihr hinüber, und sie sprachen leise weiter, während die übrigen sich wieder Onkel Jack zuwandten, der seine Geschichte zu Ende bringen sollte, indes Emmy Dempwolf schon auf den Moment wartete, um den Professor für sich zu gewinnen. Allein vorläufig schien er sie gar nicht zu beachten, so sehr war er mit Frau Anna im Gespräch. -- Um acht Jahre älter, hatte er sie von frühester Kindheit an gekannt; wohnte er doch nur wenige Häuser tiefer in der Straße, in einem niederen, schlicht grau gestrichenen Hause, hinter dem, von dichten Büschen ganz versteckt, tiefer im Garten das Bildhaueratelier sich befand. Damals schon hatte Anna mit ihrer Mutter hier gewohnt, und sein Vater, der Geheimrat von Petri, verkehrte intim in dem Hause, dessen Besitzerin weitläufig mit ihm verwandt war und die er deshalb beständig Frau Cousine nannte. Reinhold Petri war dann nach Italien gegangen, hatte drei Jahre in München und zwei in Paris gearbeitet, war inzwischen einige Male in der Heimat gewesen und hatte sich jedesmal mit der wilden kleinen Anna gezankt, wobei es ihm viel Spaß machte, sie zu ärgern, genau wie in den Briefen, die sie hie und da wechselten; als er endlich ganz heimkam, hatte sich seine Spielgefährtin, die er bis dahin geduzt hatte, mit dem Doktor Braun verlobt. Dann war sein Vater gestorben, und er stand ganz allein da. Anna hatte sich bald verheiratet, und ihre kränkelnde Mutter war zu einem Bruder, der im südlichen Oesterreich ein Landgut hatte, übergesiedelt, wo sie nach ein paar Jahren auch dahingerafft wurde. Zu jener Zeit, als er heimkam und Anna als die Braut eines andern wiederfand, hatten sie sich fremd und kalt gegenüber gestanden. Es war kein Wort gefallen. Er hatte ihr seinen offiziellen Gratulationsbesuch gemacht, und so waren sie sich völlig entfremdet. Allein Hermann Braun hatte zu dem Künstler eine freundschaftliche Zuneigung gefaßt, wodurch er ihn zwang, ihnen allmählich wieder näher zu treten. Bei jeder Gelegenheit suchte er Petri an sich zu fesseln, und es dauerte nicht lange, so war das vertrauliche Du zwischen ihnen eingeführt. Seitdem verkehrte Reinhold Petri, der Junggeselle geblieben war, ständig in der kleinen Villa. Seit Brauns Unfall kam er täglich, meist am Nachmittag, um mit Hermann ein halbes Stündchen zu verplaudern. Zur Winterszeit stellte er sich mit Einbruch der Dämmerung ein, und dann saßen sie zu dreien um den großen schwarzen Marmorkamin, in dem die Holzscheite so lustig knatterten und prasselten; sie plauderten und riefen alte gemeinsame Erinnerungen wach oder saßen im Schweigen träumend beieinander. Auch heute plauderten sie von alten Erinnerungen, von einer Reise, die sie vor vielen Jahren durch die Schweiz gemacht hatten. Frau Anna war noch jetzt entzückt von Lausanne, wo sie sich fast vierzehn Tage aufgehalten hatten, und sie konnte nicht Worte genug finden, um die Schönheit des Sees zu preisen. »Ja ja, Lausanne,« sagte der Professor. »Mir ist es nicht mehr unbekannt. Es ist ja kein Jahr hingegangen, daß ich nicht dort war.« Frau Anna beugte sich etwas tiefer über ihren Teller, ganz unwillkürlich, und zerschnitt dann langsam ihrem Gatten das Stück Wildpret. Niemand hatte die Bewegung gesehen, außer Petri, der ihr jetzt einen fast bittenden Blick zuwarf, als ob er sie um Verzeihung bitten müsse, daß er jetzt entschlossen fortfuhr: »Und demnächst erhalte ich von dort längeren Besuch.« »Ach!« sagte Frau Dempwolf und sah ihn an, als ob er ihr die erstaunlichste Mitteilung von der Welt gemacht habe, ohne daß sie ahnen konnte, um was es sich handelte. »Jawohl, mein Mündel kehrt aus der Pension zurück.« »Wie? -- Ihr Mündel?« »Jawohl, gnädige Frau, mein Mündel. Es scheint Sie das in Erstaunen zu setzen, daß ich im glücklichen Besitze eines Mündels bin. Vielleicht bin ich Ihnen noch nicht alt genug dazu, um Vormund spielen zu dürfen?« Emmy wurde auf diese lachend vorgebrachte Frage etwas verlegen, fuhr aber gleich wieder fort: »O, durchaus nicht! -- Darf man vielleicht etwas Näheres darüber erfahren.« »Aber gewiß, gnädige Frau. -- Die junge Dame also, denn das ist sie jetzt -- zählt siebzehn Lenze und ist auf den schönen Namen Marie getauft, wird aber nie anders als Mignon genannt. Es ist das Kind eines meiner Freunde in Paris, und da ich selbst nicht die geringste Neigung habe, mich zu verheiraten, finde ich wenigstens auf diese Weise Gelegenheit, Vaterpflichten zu erfüllen.« »Und weshalb wollen Sie nicht heiraten? .. Das verstehe ich nicht, das müssen Sie mir erklären.« »Ich könnte Ihnen hundert Gründe dafür oder vielmehr dagegen anführen. Vielleicht genügt Ihnen der eine: Ich fühle keinen Beruf dazu.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich bedaure unendlich, gnädige Frau, aber es ist eine erweisliche Tatsache. Keine Spur von Talent.« »Das wäre sehr bedauerlich. Sie sollten unbedingt heiraten, Herr Professor. Ich bitte Sie, in Ihrem Alter kann man das sehr gut, es ist die beste Zeit. Glauben Sie zum Beispiel, daß, wenn ich nicht schon meinen Wolf hätte, ich Nein sagen würde?« »Sie sind zu gütig, gnädige Frau.« »Durchaus nicht, aber mir scheint, Sie sind mit Ihrem Spotte abscheulich.« »Abscheulich? -- Und dann soll ich heiraten? --« »Das ist doch kein Hinderungsgrund.« »Ich glaube beinah doch.« »Also, um wieder in andere Bahnen zu lenken,« sagte Emmy und kniff die Augen etwas zu, »Fräulein Mignon wird zurückkehren, und wir werden sie zu sehen bekommen?« »Ich hoffe es, -- schon in den nächsten Tagen.« »Sie wird ganz bei Ihnen bleiben?« »Gewiß, sie ist lang' genug fort gewesen, und ich denke, sie wird nun gescheit genug sein. Wer kann wissen, wie bald das Vögelchen flügge sein wird und mich alten Knaben völlig sitzen läßt. Und ich bin so unbescheiden, etwas für meine Erziehungssorgen zu verlangen. Sie soll mir in mein Junggesellenheim ein bißchen Freude und Lebenslust bringen, und ich freue mich sehr darauf.« »Ist sie hübsch?« fragte die junge Frau diskret. »Wenn Sie sich überzeugen wollen!« erwiderte der Professor, und Messer und Gabel niederlegend, griff er in die Brusttasche und nahm aus einer schwarzen Ledermappe ein kleines Bild, das er seiner Nachbarin mit verhaltenem Stolze überreichte. Die Photographie stellte ein junges Mädchen dar, mit dunklem, bis auf die Schulter fallendem leichtgelockten Haar. Die Stirn war völlig verdeckt, so daß die Haarspitzen die schmalen und fein ausgezogenen schwarzen Augenbrauen berührten. Das ovale Gesichtchen mit dem ungemein kleinen Munde und den scharfgeschwungenen vollen Lippen trug den Ausdruck seltsamer Träumerei, einen fast schwärmerischen, aber doch energischen Zug. Die Schultern waren voll und rund, nach dem Bilde zu urteilen; dabei aber eine feine, fast zierliche Taille. Emmy Dempwolf betrachtete das Bild lange sinnend, ehe sie sagte: »Sie ist sehr schön, eigenartig schön. Eigentlich eine etwas wilde, fast gefährliche Schönheit. Ich glaube, sie kann leicht sentimental werden.« Petri lachte: »Ich weiß nicht; aber ich glaube, Sentimentalität besitzt Mignon so gut wie gar nicht. ~Das~ aber weiß ich: daß es kein prächtigeres Mädel gibt, so herzensgut und edel veranlagt.« Damit reichte er das Bild Frau Anna hinüber, zögernd vorsichtig, während er ihre Augen suchte. Allein sie schlug sie nur einen Augenblick auf, dann vertiefte sie sich in die Betrachtung des Bildes. Er sah, wie ihre Finger leise zitterten, nur einen Moment, als sie die Photographie nahm, -- dann beherrschte sie sich wieder vollkommen. Nun gab sie das Bild ihrem Gatten, der es weiter reichte, so daß es die Runde am Tisch machte. »Sie hat sich wenig verändert,« bemerkte Doktor Braun. »Sie sieht noch ebenso aus wie vor sechs Jahren, als sie hier war. Entsinnst Du Dich nicht mehr, Willy? Es waren nur ein paar Tage -- allein ihr gerietet gleich am ersten in den heftigsten Streit.« »Aufrichtig gesagt, ich weiß kaum noch etwas davon. Nur ganz dunkel kann ich mich erinnern.« »Ist sie noch immer so leidenschaftlich wild und, ich möchte fast sagen, jähzornig?« fragte Frau Anna leise. »Durchaus nicht mehr. Sie ist jetzt ganz Dame, ehrlich gesagt, sie ist mir sogar zu vornehm steif geworden, zu sehr Pensionsdämchen. Aber ich hoffe, daß ihr diese kleinen Mucken hier bald vergehen. Ich möchte sie gern allmählich in die Gesellschaft einführen. Es muß ja doch einmal sein.« »Die sieht ja beinah aus wie eine kleine mexikanische Wilde,« rief Onkel Jack. »Nehmen Sie's mir nicht übel, bester Professor, es soll nämlich ein Kompliment sein. Das Mädel gefällt mir. Es ist Rasse drin ... Hoffe, wir werden gute Freunde werden.« Er reichte das Bild Willy hinüber, der es anfangs nach einem flüchtigen Blicke, als geniere er sich, das hübsche Mädchengesicht genauer zu betrachten, weitergeben wollte. Allein Frau Dempwolf hatte sich ganz dem Professor zugewandt, und so legte er es neben den Dessertteller und betrachtete es genauer. Mignon trug ein dunkles, ausgeschnittenes Kleid mit einem Schifferkragen, so daß der Hals frei war, um den sich ein schmales, dunkles Band mit einem kleinen Medaillon schloß. Je genauer er das Bild ansah, um so mehr Leben schien es zu gewinnen. Es übte einen eigentümlichen, fast geheimnisvollen Reiz auf ihn aus. Eigentlich schön fand er sie nicht, nur äußerst originell und interessant. Als Emmy Dempwolf sich zu ihm wandte und nochmals mit ihm gemeinsam das Bild betrachtete, behielt er es noch eine ganze Weile in der Hand, ehe er es dem Professor zurückgab. Es war ein merkwürdiges Gesicht, am seltsamsten die Augen; eine eigentümliche Mischung von Kind und Weib lag in ihrem Ausdrucke. Es wirkte auf ihn wie ein scheinbar leicht faßliches Rätsel, dessen Lösung man jeden Augenblick zu finden meint, ohne daß es einem gelingen will. Den ganzen Abend über verließ ihn die Erinnerung nicht. Er sah es vor sich, fast greifbar, und vermochte es nicht aus seinen Gedanken zu bannen. -- Die Tafel war aufgehoben und man hatte sich zwanglos drüben im Salon, dessen Balkontüren trotz der frischen, feuchten Abendluft weit aufstanden, den Kaffee erwartend, niedergelassen. Willy trat auf den nassen Balkon und blickte in die Nacht hinaus. In dem weit gegenüberliegenden Hause schimmerte, wie allabendlich, in einem Fenster des ersten Stockes Licht, meist bis tief in die Mitternacht hinein. Der Schein zitterte durch die Blätterlücken der sich zuweilen leise bewegenden Bäume. -- Wer mochte dort wohnen, hatte er sich schon oft gefragt, und bis in die Nacht hinein arbeiten? Während er sich diese Frage stellte, sah er schon wieder das Mädchenantlitz, so daß er in den Salon zurücktrat und mit Frau Dempwolf ein Gespräch anknüpfte, die in einem Sessel saß und mit ihren langen schwedischen Handschuhen spielte, einsam und gelangweilt. Die Herren zündeten sich ihre Zigarren an, mit Ausnahme von Willy, der daheim nie rauchte. Er wußte, daß es der Mutter, trotzdem sie das Gegenteil behauptete, nicht recht angenehm war. Emmy erklärte Willy, daß es eine Leidenschaft von ihr sei, sich im geheimen eine Zigarette zu gestatten; Onkel Jack machte an dem Likörkörbchen eingehendere Studien und hörte dabei zu, wie die Frau Hauptmann von ihrem guten Ruschwedel erzählte, nachdem Onkel Jack sie durch die Wiedergabe seiner Heldentaten als Offizier in den Staaten auf dies Thema gebracht hatte. Der Professor hatte sich zu Frau Anna gesetzt und sprach leise auf sie ein, angelegentlich und fast erregt flüsternd, indem er den übrigen halb den Rücken kehrte. Es wurde Frau Dempwolf im Zimmer zu langweilig, und sie schlug Willy vor, in den Garten hinabzugehen. So wenig angenehm es ihm war, mußte er ihr doch Folge leisten. Sie warf ein leichtes seidenes Tuch um die Schultern und hing sich plaudernd an seinen Arm. Von den dunklen Bäumen fielen noch einzelne Tropfen hie und da, wenn der leichte Nachtwind die Zweige schüttelte. Ein feuchter, erdfrischer Dunst lag über den Blumenbeeten und den kurzgeschorenen Grasflächen. Die Wege waren noch feucht, mit kleinen Seen am Rande, so daß sie Mühe hatten, trockenen Fußes durchzukommen. Allein Emmy ließ sich nicht abschrecken. Sie fand das furchtbar romantisch. -- Willy wollte gleich anfangs umkehren, allein sie gab es nicht zu. Es machte zu großen Spaß. Wenn die Tropfen von den Bäumen raschelten, zog sie ihren Begleiter eilends davon. Sie hätte ihn so gern aus seiner Ruhe gebracht, aber es gelang ihr nicht. So gab sie es endlich auf. Und als sie hörte, daß man droben zu musizieren anfing, sagte sie: »Ach Gott, Agnes phantasiert. Da müssen wir schon wieder hinauf, sonst wird sie böse.« -- Mitternacht war längst vorüber. Doktor Braun nickte alle Augenblick ein, und man entschloß sich zum Aufbruch. Der Professor sprach noch eine Weile mit der Hausfrau, intimer als gewöhnlich, dann brachte Onkel Jack die beiden Damen fort, während Will den Professor bis hinüber zu seinem Häuschen geleitete. Am Gittertore blieben sie stehen. Petri faßte die Hand seines Begleiters, und mit einer Stimme, die weicher und inniger klang als gewöhnlich, bat er ihn: »Nicht wahr, Will, wenn Mignon kommt, wirst Du mir helfen, daß es ihr bei uns gefällt, willst Du? -- Ihr beide müßt gute Freunde werden. Ich hoffe, daß es geschehen wird. Und nun: gute Nacht, mein Junge, und komm gut heim ...« Sie schüttelten sich die Hände, und während der Professor die Gartentür öffnete, schritt Willy der Charlottenburger Chaussee zu. Er wollte noch durch den Tiergarten zur Stadt zurück. Der Wind war lebhafter geworden. Das Flackerlicht der Laternen tanzte über die Pfützen auf den Wegen und warf seinen rötlichen Schimmer über den feuchten, breiten Fahrdamm. Der Sturm rauschte in den Zweigen und schüttelte mit dem Nachregen ganze Schauer welkwerdender Blätter in den Schmutz. Es sauste und brauste in den Wipfeln, anschwellend zu wildem Rauschen, um dann langsam wieder zu verrascheln. Die Aeste ächzten und knackten, und kleine Zweige stürzten brechend zu Boden. Und während Willy unter den zusammenschlagenden Bäumen dahinschritt und einzelne kalte Tropfen ihm in das heiße Gesicht schlugen, war ihm, als sähe er zwischen den breiten Stämmen ein liebliches Mädchengesicht, ganz umrahmt von dunklen Haaren, bleich und märchenhaft, das ihm gar eigen zulächelte. Es schien zwischen den Büschen hinzuhuschen, plötzlich an irgendeiner dunklen Stelle aufzutauchen und wieder zu verschwinden, wenn er schärfer hinsah. Erst als er an der Siegesallee die gewaltigen, grauen Quadern des Tores und dann den einsamen, lichterfüllten Platz vor sich sah, verschwand ihm das Bild des seltsamen Mädchenangesichtes, um in seinen Träumen wiederzukehren, als wolle es ihn nicht mehr lassen. 7. Es war ein herbstlich sonnenheller Sonntagmorgen, als Willy Braun und Adolf Wurm durch den Tiergarten nach Charlottenburg hinausgingen. Sie schlenderten langsam, die Menschen beobachtend, die ihnen entgegenkamen oder sie überholten, verloren sich in einen Seitenweg, und sahen dem Spiel zweier Drosseln zu, die in den welk werdenden Gebüschen sich jagten und umherflatterten. Der Himmel war wolkenrein, die Luft weich, aber klar, wie bei herannahendem Herbstfroste, so daß sich alle Gegenstände in der Vormittagssonne scharf und farbenrein voneinander abhoben, als sei die ganze Natur einer Wochenreinigung unterzogen. Von den absterbenden Bäumen raschelten kreisend die gelben und hellbraunen Blätter nieder und knitterten, wenn sie in das trockene Laub fielen, das überall den Boden dicht bedeckte. Willy trieb zuweilen mit seinem Stocke ein paar Blätter vor sich her, und der Ton, den diese breiten, tiefgelben Ahorn- oder schmutzig-roten Eichen- und Buchenblätter beim Aufeinanderfallen erzeugten, ein fröstelnder, harter Laut, berührte ihn nicht unangenehm. Als sie die Bellevue-Allee überschritten, mußte er an eine Szene denken, die er vor kurzem hier mit Emmy Dempwolf gehabt hatte. Er hatte ihr den Gefallen getan und war mit ihr ausgeritten, nachdem ein Bekannter ihm mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit Pferde zur Verfügung gestellt hatte. Der Gaul war lammfromm, allein die übermütige junge Frau hatte ihn durch fortwährende unsinnige Manöver derart verstört, daß er zu bocken anfing und Willy alle Mühe hatte, ihn zu beruhigen und einen Unfall zu verhüten. Es schien, als wollte sie es darauf anlegen, ein Abenteuer herbeizuführen; ihr ganzes Benehmen war so herausfordernd, daß er alle Lust verlor, noch einmal mit ihr auszureiten. Je höflicher und zurückhaltender er sich betrug, um so koketter wurde sie gegen ihn, und so war er froh, als sie endlich abreiste; zumal es ihm unangenehm war, daß er nicht mehr hinauskommen konnte, ohne sie bei seiner Mutter zu treffen. Es berührte ihn peinlich, seine Mama in dieser Gesellschaft zu sehen, und eines Tages hatte er es ihr offen gesagt, aber sie hatte ihn ausgelacht und ihn ein eifersüchtiges Närrchen geheißen. Was wollte er denn? -- Es war eine junge, lebenslustige Frau, halb noch ein Kind, die das ganze Jahr auf ihrem einsamen Gute saß und sich jetzt ein bißchen austollte, trotz ihrer grämlichen Schwester, die von nichts anderem reden konnte als von ihrem seligen Hauptmann. Und hier hatte sie niemand als Onkel Jack, der ihr vielleicht ein wenig den Hof machte, aber der war in seinen Beteuerungen nicht immer so ganz salonfähig. Professor Petri war nach Paris gereist, um dann auf dem Rückwege Mignon abzuholen. * * * * * Drei Wochen waren seit Frau Annas Geburtstage verflossen. In den letzten Tagen war dann auch Emmy Dempwolf zu ihrem Brummbär zurückgekehrt, und es war wieder still geworden in der kleinen Villa. Wenn Willy hinauskam, fuhren sie zu dreien spazieren, oder wenn der Vater gut aufgelegt war, diskutierten sie miteinander. Allein Will hatte dabei einen schweren Stand, weil Doktor Braun so gar kein Verständnis für Schulphilosophie hatte. Alles, was über die Grenze exakter Forschung hinausging, hatte für ihn weder Wert noch Zweck, und immer hatte er bei derartigen Gesprächen bald einen Angriffspunkt gefunden, den Willy nicht verteidigen konnte, weil es sich meist um eine aus dem System herausgerissene Einzelheit handelte, die nur im Zusammenhange Wert und Bedeutung hatte. Willy hatte eine unbegrenzte Achtung vor dem Vater, vor dem Umfange seines zwar mehr dilettantischen, aber im Laufe der Zeit wohlgeordneten Wissens. Deshalb diskutierte er gern mit ihm, aber er respektierte den Kranken zu sehr und wagte es nicht, ihn mit gleichen Waffen zu bekämpfen. Er war niemals zu ihm in ein wirklich herzliches Verhältnis getreten, sie blieben sich fremd, und wenn es sich um eine wichtige Angelegenheit handelte, so gab die Mutter den Ausschlag. Auf sie hatte er all seine Liebe übertragen, während der Vater dagegen zu kurz kam, der, an seinen Krankenstuhl gefesselt, zur Untätigkeit verdammt war. Willy unterhielt sich jetzt mit Wurm über den Vater. Der Musiker war ein paarmal bei ihnen gewesen und hatte ihnen einige seiner Sachen vorgespielt. Aus all seinen Melodien klang eine versteckte Resignation, ein schwermütiger, fast tragischer Zug, etwas wie gebrochener Wille. Er arbeitete an einer großen Oper, von der er gern sprach, und zu der er sich selbst den Text schrieb. Er wollte heute zu Jack Braun hinaus, um ihm den ersten Akt vorzuspielen; deshalb war er etwas erregt, denn bis dahin hatte noch kein Mensch weder ein Wort noch eine Note davon zu Gehör bekommen. Sie hatten sich wieder tiefer in den Tiergarten verloren, schlugen aber jetzt die Richtung nach der Chaussee ein, wo leicht gebaute Equipagen mit fröhlichen Insassen dahinjagten: Damen lässig in die Kissen zurückgelehnt, jubelnde Kinder, wegen des graudrohenden Herbstes in mehr winterliche Gewänder gekleidet, herumtollten. Noch lag mit wärmenden Strahlen die Sonne auf dem dörrenden Geblatt und färbte die noch grünen Blätter am Rande gelb, warf immer größer werdende braune Tupfen und Flecke darauf und sog den Lebenssaft langsam aus den schwachen Stengeln, bis ein Lüftchen kam und das Blatt knickte, mit jenem leisen, sterbenden Laute, der wie ein kleiner Sterbeseufzer klingt, oder bis es altersschwach von selbst träge vom Aste brach. Die Gärten an der Berliner Straße, in die sie inzwischen gelangt waren, fingen an, zu veröden; die Blumen waren verschwunden, nur spätblühende Geranien und dürre, hochstämmige Astern verliehen mit ihren bunten Blütenköpfen der Einförmigkeit Farbe. Das Gras hatte seine lebenssatte Färbung eingebüßt und ward schmutzig graugrün. In den Wegen faulte das erste welke Laub, und die Rosenstöcke streckten ihre blütenleeren Dornenzweige zum Himmel. Der Herbst zog früher als gewöhnlich ins Land, nur am Tage konnte er vor der Kraft der Sonne noch nicht aufkommen. Dafür setzte er dann in der Nacht sein Zerstörungswerk um so eifriger fort. Auch im Garten der Villa in der Sophienstraße sah es trübe aus. Der Gärtner bemühte sich vergeblich, farbige Blumenrabatten zusammenzustellen. Der Nachtfrost verdarb ihm alles, und mit den eigentlichen Herbstblumen machte es sich gar so kahl. -- Wurm ging weiter zur Knesebeckstraße, wo Jack Braun wohnte, während Willy die Mutter suchte, die er trotz des kühlen Morgens auf der Terrasse sitzen fand. Das fahlgelbe Weinlaub kletterte über die Brüstung und versuchte, an den schlanken jonischen Säulen, die den Balkon trugen, sich emporzuranken. Eine breite Treppe von wenigen Stufen führte in den Garten hinab. Auf den seitlichen Absätzen standen einige Oleanderkübel, die jetzt zur Nachtzeit schon in das Gewächshaus gebracht werden mußten. Frau Anna saß in einem niedrigen Gartenstuhle, über den ein graues Elenfell gebreitet war. Ein aufgeschlagenes Buch, zur Hälfte noch unaufgeschnitten, lag gähnend auf dem kleinen Tische. Es mußte schon lange dort liegen, denn die aufgeblätterten Seiten waren schmutzig geworden von dem feinen Staube, der von den nahen Tonfabriken, der Chaussee und den Abladeplätzen des Spreekanales in der Luft umherirrte ... Ihre Gedanken mußten weit fort sein, denn sie hörte nicht, als Willy die Terrasse betrat. Er blieb in der Tür stehen und beobachtete sie. Ein feiner, aber scharfer Zug von innerlichem Leid lag um die Mundwinkel und zog sich von den Augen wie ein matter Strich die blasse Wange herab. Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und blickte in den Garten hinaus, wo die Morgensonne mit vollem Scheine friedlich auf den saubergeharkten, mit gelbem Sand bestreuten Wegen lag und in den feinen Silberstrahlen des plätschernden Springbrunnens glitzerte. Willy betrachtete die Träumende lange. Wie schön sie noch immer war. Weshalb war er nicht Maler, um sie malen zu können, wie sie dalag, in dem mattgelben Morgenkleide, von dem die roten Bänder und Schleifen sich lebhaft abhoben, mit ihrem durchsichtigen Elfenbeinteint und den dunkelbraunen, etwas wirren Haaren, in denen wie versunken eine Teerose schwamm. Er trat einen Schritt vor, auf die bunten Fliesen. Sie hob den Kopf, und er sah deutlich, wie plötzlich in den wehmutstrunkenen Augen eine lachende Freude aufleuchtete, -- wie in dem Gesichte, über dem eben noch ein Schleier von Melancholie lag, eine Veränderung vorging, wie mit einer Landschaft, über der die Wolkenschatten zerflattern. Sie streckte ihm die Hand hin, und er küßte diese schlanken Finger mit fast andächtiger Scheu, daß sie ihn zu sich herabzog und ihre Lippen auf seine Augen preßte. Und nun holte er einen kleinen Strauß von Dijonrosen hervor, mit ihren weißen, zarten Knospen, die er ihr mitgebracht hatte. Gleich einem Verliebten war es ihm zur Gewohnheit geworden, niemals mit leeren Händen zu kommen. Wenigstens eine Blume mußte er ihr mitbringen, um ihr zu zeigen, daß er inzwischen an sie gedacht hatte. Er verbarg dergleichen, vor allem vor dem zum Spott nur zu sehr veranlagten Lautner, weil er sich sehr wohl bewußt war, daß er einen übertriebenen Kultus mit seiner Mutter trieb. Sie wußten ja nicht, ~was~ sie ihm alles war. -- Er sah, wie sich seine Bekannten gedankenlos an das erste beste Mädchen wegwarfen; er kannte jene alltäglichen Beziehungen, die oft Wochen und Monate dauerten und sich dann ebenso gleichgültig wieder lösten, ohne alle Romantik, ohne Liebe. Er sah, wie oft die Liebe rings um ihn als Ware aufgefaßt wurde oder, was schlimmer schien, eine Lüge war. Er hatte das drängende Bedürfnis nach Liebe, er mußte jemanden haben, dem er sein Herz ausschütten konnte. Er hielt es nicht aus, lange allein zu sein; es trieb ihn stets zu anderen hin. So fühlte er sich zu Lautner hingezogen, allein er fürchtete sich vor dessen klarer Lebensauffassung, die keine Spur von Romantik aufkommen ließ, die immer gleich prosaisch gesund und nüchtern aburteilte. Mit Bangen sah er die Zeit kommen, da er fern von Haus sein mußte, daß auch er, gleich den anderen, sich vielleicht endlich einen Ersatz suchen würde, den er vor sich selbst nicht verteidigen konnte. Er mußte jemand sein ganzes Innere offenbaren können, der ihn mit Geduld anhörte, denn er war oft unruhig, unzufrieden mit sich und seiner Arbeit. Er war nervös geworden, von jener Nervosität, wie sie dem Großstädter eigen ist, der sich in geistiger Arbeit aufreibt. Eine Unbefriedigtheit, ein Hasten und Drängen nach immer Neuem beseelte ihn; er wollte das, was noch dunkel vor ihm lag, möglichst bald erreichen, um nicht im bangen Zweifel verharren zu müssen. In solchen Augenblicken ließ er seine Bücher im Stich und kam unerwartet zur Mutter, denn er wußte, daß er bei ihr seine Ruhe wiederfand und alles mit einem Schlage wieder gut war. Er war sentimental veranlagt, aber er konnte sich nicht ausgeben. Das Gefühl schlummerte in ihm und häufte sich mehr und mehr, je größer die Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit um ihn her zunahm. Es schauderte ihn vor diesem Mangel an Seele, vor dem Bewußtsein, daß auch ~er~ einmal so werden konnte wie die andern, die doch gewesen sein mußten wie er; denn er sah es an seinen Freunden, wie sie in dieser Atmosphäre der Apathie langsam untergingen. Deshalb klammerte er sich an seine Liebe zur Mutter. So lange er ~sie~ hatte, konnte er sich nicht selbst verlieren; wenn er nur ihre Stimme hörte, wich das Angstgefühl von ihm, wie Schatten und Nebel vor der Sonne. Er kam sich vor wie ein törichtes Kind, das hinter dem Mutterrocke Schutz sucht vor eingebildeten Spukgestalten, und trotzdem hatte er nicht den Mut, sich auf sich selbst zu besinnen. -- Er streichelte ihr die Hand, während sie den feinen Hauch der Dijonrosen einsog. Dann legte sie das Bukett auf den Tisch und sagte: »Geh einmal hinauf zu Papa. Er hat schon den ganzen Morgen nach Dir verlangt.« »Du schickst mich schon wieder von Dir fort?« -- »Ja, und wenn Du wiederkommst, werde ich Dich noch einmal fortschicken.« »Ich soll Dich heute wohl gar nicht sehen,« lachte er, während er ihre beiden Hände umschlossen hielt. »Du mußt Dich heute den ~andern~ opfern, nicht mir. Nun geh hinauf, und wenn Du wiederkommst, erfährst Du mehr ...« Frau Anna blieb allein und tändelte mit den Rosen. Sie nahm ihre Gedanken wieder auf, aber jetzt verwirrte sich alles, und sie fand die Ruhe von vorhin nicht wieder. Sie blickte hinaus, wie die Sonne auf die gerade abgestochenen Gartenwege schien, sie hörte das leise, melodische Plätschern des Springbrunnens, und dann glaubte sie die Stimme ihres Gatten und Wills zu hören, hie und da ein abgerissener Laut. -- Zwei Sperlinge flatterten auf die Terrasse, jagten sich im Weinlaube, balgten und zausten sich dann auf dem bunten Fliesenboden, bis sie erschreckt plötzlich auseinanderflogen, als Frau Anna sich bewegte. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen, sie wollte an etwas nicht denken, aber es war ihr nicht möglich. Sie besaß sonst die beneidenswerte Fähigkeit der Frauen, rasch zu vergessen, im vollsten Maße. Alles, was hinter ihr lag, nahm für sie eine fast traumhafte Gestalt an. Was hinderte sie, die Dinge anders zu denken, als sie gewesen waren? ... Zwei Verse Calderons hatten einmal Eindruck auf sie gemacht und waren ihr im Gedächtnis geblieben: Denn nur ein Traum ist alles Leben, Und selbst die Träume sind ein Traum. -- Sie murmelte es leise vor sich hin: Und selbst die Träume sind ein Traum ... Die Vergangenheit kann nur Schatten beschwören. Aber wenn die Vergangenheit Gestalt annahm, Fleisch und Blut gewann? Sie schüttelte den Kopf. Sie sorgte sich da um Dinge, die sie im Grunde nichts angingen. Was war ihr das jetzt noch? .. Nichts! -- gar nichts. Sie hörte die Stimme ihres Mannes jetzt deutlicher. Er sprach laut und lachte. Und die Stimme klang kalt und klar, daß es sie fröstelte, mitten im Sonnenschein. Sie ärgerte sich darüber. Wenn das so fortging, machte es sie noch ganz nervös. Und all das um das Kind, das Reinhold Petri aus Lausanne mitbrachte, und dessen Mutter sie einmal gehaßt hatte. Die Mutter lag schon lange im Grabe, und das Kind trug keinerlei Schuld. Wie lang' das her war? -- Und wie die Zeit verging, eilends; aber die Zeit hinterließ ihre Spuren. Sie verheimlichte es sich nicht mehr; sie wurde zusehends alt, vielleicht weil sie so lange jung geschienen. Das Alter kam über Nacht. Wenn sie genauer hinsah, so mehrten sich in den Augenecken die Krähenfüße, und zwischen ihren Haaren fand sie immer mehr graue. Sie kämpfte nicht mehr dagegen an, sie hatte ein Recht, alt zu werden; wenn Willy es auch nicht zugeben wollte. Er kam jetzt wieder herab, nachdem er ein halbes Stündchen mit dem Vater geplaudert hatte. »Schenkst Du mir nun noch ein Viertelstündchen? Nicht für mich.« »Gewiß Mama!« »Dann geh' hinüber zum Professor -- er ist gestern zurückgekommen -- und sag', er solle ja nicht versäumen, um zwei zu Tisch zu kommen.« »Das ist alles?« »Ja, doch halt. Darf man ein paar Rosen aus dem Bukett nehmen?« »Soll ich die dem Professor bringen?« Sie sah plötzlich auf, dann lächelte sie: »Gewiß, wem denn sonst?« »Ah, ich weiß, Fräulein Mignon ist angekommen.« »Das weiß ich nicht, ob Fräulein Mignon angekommen ist, mein hoher Herr.« »Wem soll ich dann aber die Rosen geben?« »Du hast es ja selbst gesagt, dem Professor. Geh' nur hinüber und richte Deine Botschaft aus, und wenn Du jemand triffst, der Dir dieser Rosen würdig scheint, so gib sie ihm. Das wird dann wohl der Professor sein.« »Nein, ich glaube, ich werde sie wieder mit heimbringen, um sie ~Dir~ zu geben.« »So? Und deshalb schickt man Dich also fort? Nun mach' aber hurtig.« »Du wirfst mich ja beinah hinaus. -- Aber das hilft Dir nichts, die Rosen bekommst Du doch wieder.« »Wir werden ja sehen ...« 8. Nach wenigen Schritten stand Willy vor dem Hause Petris. Vor dem langgestreckten einfachen Gebäude zog sich ein schmaler, wohlgepflegter Blumengarten hin, der durch ein hohes schmiedeeisernes Gitter von der Straße getrennt war. Willy trat in das Haus ein. Auf dem breiten, fliesenbelegten Hausflur traf er die alte Haushälterin Petris, Fräulein Minna, eine stattliche Dame, trotz ihrer fünfzig Jahre. Sie hatte noch ein Mädchen zur Verfügung, mit dem gemeinsam sie den kleinen Hausstand versorgte. Mit der großen, weißen Schürze und der weißen Rüschenhaube auf dem grauen Haare sah man es ihr an, daß sie einmal hübsch gewesen sein mußte, nur in den Augen lag etwas von Heimtücke und Bosheit. Willy mochte sie nicht leiden, obgleich sie ihm stets aufs höflichste entgegenkam. Der Professor stand ganz unter ihrer Herrschaft und mußte sich ihr in allen häuslichen Angelegenheiten unbedingt fügen. Nur im Atelier hatte sie nichts zu sagen. Auch betrat sie es aus dem Grunde nicht, weil ihr all die Figuren dort ein Greuel waren. Hatte doch der Professor seine Not gehabt, bis er es durchsetzte, daß eine ausgezeichnete Kopie der Mediceerin im Salon aufgestellt wurde. In blindem Eifer wütete sie gegen die Heidengötter mit den verrückten Namen, bei denen sich kein ehrlicher Christenmensch etwas denken konnte, und da sie katholisch war, gab sie sich erst zufrieden, als die Sixtina gleichfalls im Salon aufgehängt ward, obgleich ihr diese Nachbarschaft viel Kopfweh bereitete. Mit dem Federwisch in der Hand lief sie eifrig im Hause umher, jedem kleinsten Stäubchen den Krieg erklärend. Heute war sie ganz aus ihrer Ruhe gebracht. Es ging heute alles drunter und drüber. Wo der Professor war, wußte sie nicht, vielleicht im Garten oder sonstwo; sie wußte rein gar nichts. Sie fing an, mit dem Mädchen zu schelten, so daß es Willy noch bis in den Garten hinein hören konnte. Durch den Hinterflur, in dessen Nischen ein paar wunderliche Allegorien, krause Einfälle einer barocken Künstlerlaune, standen, trat er in den parkähnlichen Hintergarten mit den dichten Gebüschen, in denen das Atelier versteckt lag, mit seinem hohen Glasdache, das durch die Wipfel der erst jung angepflanzten Bäume hindurch schimmerte. Tiefe Stille herrschte in dem weiten Garten, und frischer Morgenduft lag über den in erster Frühe reichlich besprengten Grasflächen. Ein Laubgang führte zum Atelier. Die Tür stand auf, und der den inneren Eingang bedeckende Vorhang war halb zur Seite geschlagen. Im Glauben, daß Petri anwesend sei, trat Willy vorsichtig die beiden Stufen hinauf. Allein er hatte sich getäuscht, niemand war da, und nun trat er völlig in den großen, von milchweißem Lichte durchfluteten Raum. Schlichte, weißgetünchte Wände, gegen die die Skulpturen eines unvollendeten Frieses lehnten, ein paar Konsolen mit Gipsabgüssen, Bossierschemel, ein paar niedere Modelltische und drüben die große Drehscheibe eines neuen Werkes, eines mit nassen Tüchern verhängten Tongefüges, das noch niemand zu sehen bekam. An der Hinterwand ein paar Oleander und Palmen. Die Blätter grau gepudert, darunter ein Diwan und zwei Fauteuils um einen runden Tisch, wenn Besuch kam. Etwas seitwärts ein niedriger, orientalisch buntgemusterter Diwan, auf dem sich ein rotseidener Schlummerpuff herumtrieb. Daneben ein Rauchtischchen mit losen ägyptischen Zigaretten, mit deren feinem grauen Rauch der Künstler in träumerischen Stunden das hohe, lichte Atelier mit seinem breitspannenden Glasdache erfüllen konnte, von der Arbeit ermattet, faulbehaglich ausgestreckt. In einer Nische auf einem Ebenholzsockel die Büste von Frau Anna, deren Original sich im Arbeitszimmer Dr. Brauns befand. Um die Büste, eine Arbeit aus der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, schlang sich noch ein verwelkter Kranz, dessen Blüten entblättert am Fuß der Säule lagen. Seit Wochen hing der Kranz hier, seit dem Geburtstage Frau Annas. Eine ganze Weile betrachtete Willy diesen jugendschönen Kopf, und schon war er im Begriff, die Blumen, die er in der Hand hielt, hier niederzulegen, als er wieder zauderte, sie dem toten Kranze beizufügen. Er warf noch einen Blick durch diesen einfachen, weiten Raum, wo auf allen Gegenständen, auf jeder Fläche, in jeder Falte jener feine weißgraue Staub lagerte, ein Staub, der sich ungestört tagelang hier ansammelte, bis Fräulein Minna in einer Ruhepause einmal die Erlaubnis erhielt, mit Besen und Staubtuch den Kampf gegen den Schmutz aufzunehmen, wobei sie mit einem wahren Vergnügen rücksichtslos mit dem Federwisch über die nackten Glieder der Statuen fuhr, einer schönen Frauenbüste oder einem grinsenden Faun in gleicher Weise das Gesicht bearbeitete und den Boden von den steinhart gewordenen grauen Tonklümpchen wieder reinigte. Jetzt war es hier still, wie in einem Tempel, ein weihevolles Heiligtum des schöpferischen Menschengeistes. Willy riß sich endlich los. -- Wie wohl das welkende Grün den Augen tat, nach diesem blendenden aufdringlichen Lichte im Atelier. Vielleicht war der Professor im Garten, in dem halbdunklen, weinlaubumrankten Gange, der sich an der einen Seite der Grenzmauer hinzog, wie geschaffen, hier nachdenklich auf und ab zu wandeln. Aber auch dort fand er ihn nicht, und so wandte er sich dem kleinen Pavillon zu, der etwas erhöht an der andern Seite lag; ein leichter, aus gebrechlichem Holz errichteter chinesischer Turm, in den von allen Seiten das Licht einfluten konnte, nur daß es die anwachsenden Bäume mit jedem Jahre mehr wehrten. Schon von fern sah Willy durch die Büsche ein helles Kleid schimmern. Er beschleunigte seine Schritte und stand jetzt vor den drei Stufen, die zum Pavillon hinaufführten. Unter dem breiten schirmartigen Dache saß eine junge Dame, die sein Kommen überhört haben mußte, denn sie las ruhig in einem Buche weiter, das ihr im Schoße lag, und das sie nur leicht mit der linken Hand hielt, während die rechte lässig herabhing. Sie trug trotz der späten Jahreszeit ein leichtes helles Kleid, mit weiten Aermeln, die nur bis zur Hälfte des Unterarmes reichten. An der linken Seite floß von der Taille eine breite schwarze Schärpe herab, und ein hellroter Sonnenschirm lag an dem Stuhle, so daß er scharf von dem Kleide abstach. Zu ihren Füßen, wie achtlos fallen gelassen, ein breitrandiger Hut mit langen Bändern, neben dem sich ein kleiner Fuß im schwarzen Promenadenschuh wie ungeduldig nervös hin und her bewegte. Willys Blick glitt von den zierlichen Füßen hinauf bis zu dem Gesichte, das sie noch immer abgewandt hielt. Wenn er es auch nicht gewußt hätte, so mußte er sie sofort an den auf die Schultern fallenden dunklen Haaren erkennen. Die Mutter hatte ihn also nur necken wollen. -- Jetzt hob das junge Mädchen das Gesicht. Sie trug das Haar nicht mehr so tief in die Stirn, dennoch war das leichtgebräunte Antlitz von den dichten Haaren völlig umrahmt. Als sie ihn erblickte, glitt ihr das Buch beinah aus der Hand, allein sie ergriff es noch rechtzeitig, während sie sich langsam erhob. Dann sahen sie sich beide an. -- Sie hatte nicht jene krankhafte Farbe der Städterinnen. Ein leichtes Goldbraun lag auf ihren Wangen, die Lippen waren sehr rot, und die Augen schienen ihm schwarz zu sein. Sie war groß und schlank, und alles an ihr atmete Gesundheit und Lebensfreude. Er hatte bei ihrem Aufstehen den Hut abgenommen und gegrüßt, blieb aber unten stehen, so daß er die drei Stufen zu ihr aufblicken mußte, während sie sich leicht auf die Krücke ihres Sonnenschirmes stützte und ihn erwartungsvoll ansah, bis er endlich mit einem etwas verlegenen Lächeln sagte: »Wenn ich nicht irre, Fräulein Mignon ...« Sie verbeugte sich leicht, sehr kühl, sehr vornehm, eben nur den Kopf neigend, und sah ihn ruhig dabei an. Er stand noch immer und hielt den Hut in der Hand. »Der Herr Professor ist nicht hier?« »Nein, mein Vormund ist nicht hier.« Es zuckte leise um ihre Mundwinkel, allein sie beherrschte sich sofort wieder und machte das ernsthafteste Gesicht; ganz Dame. Weshalb er nur da unten stehen blieb und sie so anstarrte? ... Sie wiegte sich ganz leise in den Hüften. »Wollen Sie nicht Ihren Hut aufsetzen,« sagte sie endlich sehr langsam. »Die Sonne brennt etwas.« Was für eine weiche, wohlklingende Stimme sie hatte, die sich in das Ohr einschmeichelte. Er lauschte noch immer auf den Nachhall, ehe er erwiderte: »Jawohl, es ist sehr drückend.« Eben hatte er noch gefunden, daß es ziemlich kühl war; für ein leichtes Sommerkleid, wie sie es trug, gewiß zu kühl. Er setzte den Hut auf, und dabei fielen ihm die Dijonröschen ein, die er in der Hand hatte. Er sah auf die Blumen nieder, und auch sie folgte seinem Blicke. »Wollen Sie sich mir nicht bitte vorstellen? ...« sagte sie nach einer Weile, sehr leise und bescheiden, mit einem Neigen des Kopfes, als müsse sie ihm diskret zu Hilfe kommen. Jetzt fing er an zu lachen. »Ach ja -- ganz recht! Ich bitte um Verzeihung: Willy Braun!« Sie lachte mit ihm und streckte ihm rasch die Hand entgegen, während er endlich die Stufen heraufkam und ihre Hand ergriff, eine zierliche Hand, die aber die seine fest umschloß, kameradschaftlich fest, daß er einen ganz energischen Ruck verspürte. »Ich wußte gleich, daß Sie Will seien, aber weil Sie so dastanden ...« Sie lachte übermütig, und indem sie mit der linken Hand ihr Haar zurückwarf, setzte sie sich wieder und wies ihm den andern Stuhl zu. »Weshalb blieben Sie denn nur da unten stehen? Fürchteten Sie sich vor mir?« »O durchaus nicht,« versicherte er lebhaft. »Es sah aber beinah so aus. Sie wollten zu +père+ ... ah so, ich sage so schon immer; denn Vormund, das geht doch nicht, -- und Onkel klingt auch so dumm. Vater oder Papa geht erst recht nicht ... +père!+ -- gefällt Ihnen das?« »Ungeheuer!« »Das verstehe ich nicht.« »Ach so,« sagte er. »Ich meine, es gefällt mir sehr gut. Ungeheuer -- das ist ein Studentenausdruck.« Sie lachte. »Ich habe immer gedacht, Ungeheuer sei ein großes Untier im Märchen, mit dem man kleinen Kindern bange macht. Haben Sie noch mehr solch drolliger Ausdrücke?« »Wenn Sie wollen, einen ganzen alten Hut voll.« Sie lachten beide, und der Bann der Verlegenheit war gebrochen. »Wissen Sie, wie Sie dagestanden haben?« fragte sie und sah ihn schelmisch an. »Nun, wie denn?« »Sehen Sie ... so!« Sie ergriff ihren Hut, sprang die drei Stufen hinunter, stellte sich dort, den Hut in der Hand haltend, hin und sah zu ihm auf, indem sie die Augen verdrehte, bis daß sie genug gelacht hatten. »Ich habe Sie gleich erkannt, im ersten Augenblicke,« sagte Mignon. »+Père+ hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ich kenne alle Bilder von Ihnen ... eins, da sind Sie erst ein Jahr alt, im kurzen Kinderkleidchen, mit solchen Pausbacken. Ich finde, das ist ganz reizend.« »So?« fragte er, sehr verlegen im Gedanken an das Bild. Sie errötete leicht und fuhr fort: »Eigentlich weiß ich ~alles~ über Sie, und +père+ hat mich ordentlich neugierig gemacht. Heute früh sind wir schon drüben bei Ihnen gewesen. Ich habe Ihre schöne Mama schon ~sehr~ lieb. Ich weiß ja gar nicht, was es heißt, eine Mutter haben, aber ich denke mir, daß es sehr schön sein muß ... Sie haben Ihre Mama sehr lieb ...« Er nickte nur -- und dann fielen ihm die Rosen ein. »Sehen Sie, Mama hat auch gleich an Sie gedacht. Als ich fortging, gab sie mir diese Rosen: ich sollte sie dem geben, der mir der Würdigste scheine. -- Darf ich sie Ihnen geben? ...« Sie schlug ihre großen, geheimnisvoll dunklen Augen zu ihm auf und nahm die Blumen ohne Ziererei. »Aber ich will sie Ihnen nicht alle nehmen. Warten Sie ... so! ..« Sie nahm die schönste und gab sie ihm zurück. »Die müssen Sie selbst behalten.« Er versuchte die Rose im Knopfloch zu befestigen, allein es ging nicht gut. »Wollen Sie eine Stecknadel? ..« Sie war im Begriff, ihm eine Nadel zu geben, als sie sich plötzlich besann und sie mit rascher Bewegung hinter sich warf. »Nein!« sagte sie zur Erklärung, als er sie erstaunt ansah, »ich gebe Ihnen lieber keine. Ich glaube nicht daran, aber man sagt, es zersteche die Freundschaft. Und wir wollen gute Freunde werden, nicht wahr?« Sie reichten sich fast gleichzeitig die Hände. Und indem er so vor ihr stand und ihr treuherzig in die Augen blickte, sagte er: »Ja, das wollen wir: gute Freunde werden!« »Na, Kinder?« ließ sich eine frische, kräftige Stimme hören: »Ihr scheint ja schon gute Bekanntschaft gemacht zu haben. Das ist recht ... Da brauche ich nicht erst viel dreinzureden.« Der Professor stand vor ihnen und reichte ihnen die Hände hin, während sich Mignon an ihn schmiegte und er ihr einen Kuß auf die Stirn hauchte. »Ja!« sagte Mignon. »Herr Braun hat mir gleich als erstes Freundschaftszeichen diese Rosen mitgebracht.« »Das ist recht. Aber hört mal, Kinder, eines gefällt mir nicht. Ich bitte mir aus: nichts von Herr und Fräulein. Ich nenne Euch beide Du, und da will ich von Förmlichkeiten nichts wissen. Also >Willy< und >Mignon< und nicht: >mein Herr< und >gnädiges Fräulein