The Project Gutenberg eBook of Fenn Kaß This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Fenn Kaß Der Roman eines Erlösten Author: Batty Weber Release date: June 15, 2025 [eBook #76309] Language: German Original publication: Frankfurt a. M: Ruetten und Loening, 1913 Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FENN KASS *** Fenn Kaß Der Roman eines Erlösten von Batty Weber 1913 Literarische Anstalt Rütten & Loening Frankfurt a. M. Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten Copyright 1913 Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M. Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig Erstes Buch Erstes Kapitel Zwischen Ulmen und Platanen geht die schöne, staubweiße Dreikantonstraße quer durch das Luxemburger Ländchen, von der Mosel nach der belgischen Grenze. Allerhand bäuerliches Fuhrwerk zieht dort seine Spuren. Straßenwärter lehnen, stets verschnaufend, am Grabenrand auf ihren Schaufeln und Hacken. Um die Osterzeit liegen vor den Kilometersteinen bunte Eierschalen, von allerhand Wandervolk nach Rast und Wegzehrung hingestreut. Es ist, als ob’s im Erdreich ringsum von erwachendem Leben knistre. Manchmal kommt aus der Ferne das leise Geklingel eines Schellenkranzes, zwei magere Gäule schleppen einen gelben Kasten auf Rädern vorbei; durch die klapprigen Fenster sieht man im Innern müde Gesichter mit geschlossenen Augen vornüber nicken: der Omnibus. Im Herbst schwelt dünner Rauch von brennendem Kartoffelkraut über die Straße, und fernher zieht über die leeren Stoppelfelder unsäglich wehmütig der Choralgesang eines Bauernbuben, der hungrig um seine Kühe kreist und überm Singen an die duftigen Knollen denkt, die er sich in der Asche des Kartoffelfeuers brät. Am schönsten ist es auf der Dreikantonstraße an sonnigen Septemberabenden. Dann dampft goldener Nebel zwischen den Bergen am Horizont. Es ist der zerfließende Rauch der Hochöfen im Süden und Westen. Da schmelzen sie das Erz, das die braunen Italiener aus den zerrissenen Eingeweiden der Erde herauswühlen, und hinter den Bergen, dort herum, wo drei Grenzen sich schneiden und das sonore Französisch des Beckens von Longwy mit den trotzigen Kehllauten altdeutscher Neulothringer und dem breitspurigen Luxemburger Platt der Escher Gegend unvermittelt zusammenklingt, da sinkt jetzt der Sonnenball langsam hinweg in den Dämmerrauch, den er sich zu leuchtenden Schleiern vergoldet hat. Wiesing ist eines der schönsten Dörfer an der Dreikantonstraße. An der Straßenkreuzung steht ein vornehmes, altes Gasthaus mit altmodischer französischer Aufschrift „_Auberge. – On loge à pied et à cheval. – Epicerie._“ Hinter einem Fenster, in einem hohen Glaspokal, dicke Lakritzstangen, in einem andern brauner und gelber Kandiszucker. Ein weißes Porzellanfäßchen trägt die Aufschrift: _Obourg_, – ein anderes die Worte: _Poudre de chasse_, bei denen alle Bubenherzen höher schlagen. Rechts von der Freitreppe, die zum Hausflur hinaufführt, steht eine hölzerne Pferdekrippe mit Ringen zum Ankoppeln. Zwischen geköpften Silberpappeln, die im Frühjahr ihre Lämmerschwänzchen und im Herbst ihre hellgelben, welken Blätter über die Straße streuen, ragt ein uraltes Steinkreuz mit bemoostem Altartisch davor. Dort hält an Fronleichnam, bei der Kirchweih und am Muttergottestag die Prozession, und alles kniet andächtig in der Runde. Der Herr Pastor hebt über die gesenkten Häupter segnend die blitzende Monstranz, während die feiertäglich duftenden Weihrauchwolken steigen, Silberschellchen bimmeln, in der Ferne dumpf die Böller knallen, die Glocken zu Hauf läuten und in der Gaststube drin ein paar Burschen, die lieber im Wirtshaus Gottesdienst feiern, stumm an ihren Sonntagszigarren saugen und hinter den weißen Tüllvorhängen verstohlen hinausäugen. Es gab eine Zeit, wo in Wiesing reiche Bauern wohnten. Damals, ehe die Eisenbahn fertig gebaut war, ging von den Escher Bergen der Strom des rotbraunen Erzes durch Wiesing nach der Mosel, wo das kostbare Gestein nach den deutschen Hüttenwerken in weitbauchige Kähne verfrachtet wurde. Karren an Karren rasselte und polterte durchs Dorf, es war ein betriebsames Leben, die Bauern verdienten, was sie wollten. Sie trugen zu ihren stahlblauen, blinkenden Sonntagskitteln schneeweiße Stehkragen, spielten Kegel und Karten zu einem blanken Taler den Einsatz, und als der rotbraune Strom plötzlich versiegte, da saßen sie auf dem Trocknen und wußten nicht wie. Ihre Ställe leerten sich, auf ihren Scheunen sahen durch die verfallenden Dächer die Sparren wie die Rippen eines faulenden Aases, das die Raben und Füchse angefressen haben, und an ihren schönen großen Häusern zerbrach von den teuren gewölbten Fensterscheiben eine nach der andern und wurde durch ganz gewöhnliches billiges Glas ersetzt. Da lernten ihre Söhne wieder das bittere Schwitzen und verbrachten schlaflose Nächte mit Grübeln, wie sie es anstellen sollten, um für den Jud und den Notar die Zinsen aufzubringen. * * * * * An einem der schönen Septemberabende stand Fräulein Gretchen, die Schwester des Herrn Pfarrers Reining, an ihrem vergitterten Küchenfenster, das auf den Hof hinausging, und sah mit verträumten Augen zu, wie ein dreizehnjähriger Junge einen Korb mit glatten, weißen Buchenholzstücken füllte, den letzten von einem großen Haufen, den er mühsam und unverdrossen auf den Speicher geschafft hatte. Der Platz war noch weiß von Sägespänen, und der bittere Geruch der frisch zersägten Buchenscheite mischte sich mit den Düften, die vom Kochherd ausgingen und in lauen, unsichtbaren Wölkchen sich an Fräulein Gretchen vorbei ins Freie stahlen. Der Junge hatte den Korb huckepack genommen und ging, vornüber gebeugt, in langsamem Takte nickend unter seiner Last um das Haus herum durch die Hintertür hinein und die Treppe zum Boden hinauf. Im Halbdunkel des sinkenden Tags schimmerte in dem schwülen Raum unterm Dach die Trockenwäsche auf den Leinen, die zwischen den Balken des Dachstuhls gespannt waren. Es roch nach Seife, nach trockener Buchenrinde, nach süßen Birnen und Äpfeln und nach vergilbtem Papier. Der Junge setzte seinen Korb ab. Mitten im Speicherraum stand wie eine plumpe Säule der Kaminschlot, der durchs Dach hinausführte, und um diesen herum war das Brennholz fein säuberlich aufgeschichtet. Bevor der Junge den Inhalt des Korbes zu dem übrigen legte, holte er aus einer Speicherecke, von einer offenen Kiste, ein aufgeschlagenes Buch und stellte sich damit unter eine Dachluke, wo das Zwielicht zum Lesen gerade noch langte. „Geschichte der Dampfmaschine“ stand auf dem Titelblatt. Das Buch dicht an den leuchtenden Augen las der Knabe Seite um Seite, und vergaß über Denis Papin und James Watt alles um sich her. Plötzlich hörte er rufen. Fräulein Gretchens weiche Altstimme tönte durchs Haus. „Fenn! Fenny! Könnscht de net bal?“ „Ob der Minut!“ rief Fenn hastig zurück, klappte das Buch zu, trug es an seinen Platz und leerte hurtig mit beiden Händen den Inhalt des Korbes auf den Holzstapel, der sich in Brusthöhe vor ihm türmte. Dann sprang er in eiligen Sätzen die Treppe hinunter. In der Küchentür stand Fräulein Gretchen. In ihren weltunkundigen, sanften Augen war lächelnde Zufriedenheit, als sie den Jungen fragte, ob er nun ganz fertig sei. Dabei wandte sie sich zurück in die Küche und nahm aus einem Körbchen eine prächtige, große Birne, die sie Fenn am Stiel entgegenhielt. Er wischte schmunzelnd die flachen Hände an den Hosenbeinen ab und nahm die Birne, in die er gierig zwei Reihen blanker Zähne schlug. Wie lecker nach all dem Staub, der so bitter und trocken am heißen Gaumen klebte! Voll mitgenießender Behäbigkeit sah Fräulein Gretchen, die Hände unter ihrer kurzen, schwarzen Pelerine übereinandergefaltet, dem Knaben zu. Sie war eine gute Haut, und alle mochten die „Zäre Joffer“ leiden. „Zären“ und „Zierden“ heißen im Luxemburgischen von uralters her in jedem Dorf zwei Häuser, das Pfarrhaus und das Hirtenhaus. In diesen Bezeichnungen hat sich noch die Genitivform erhalten, um die der Luxemburger sich sonst wie um etwas hochdeutsch Vornehmes linkisch herumdrückt. Aus „des Herren“ und „des Hirten“ ist „d’s Hären“ und „d’s Hierden“, und dann „Zären“ und „Zierden“ geworden, und „Zäre Kächen“ und „Zierden Hond“ sind in allen Dörfern stehende Ausdrücke. Wer sich in Wiesing etwas herausnehmen durfte, sprach vertraulich von „Zäre Gre’itchen“, für die andern war sie die Respektsperson, die „Zäre Joffer“. Fenn hatte seine Birne verzehrt. „Hast du denn dein Holz schön ‚getesselt‘?“ fragte Fräulein Gretchen in dem breiten Dialekt, der mit seinen weichen, liebevoll gedehnten Zischlauten, den fremdartigen, bald ans Englische, bald ans Oberbayrische anklingenden Diphthongen und einer Beimischung französischer Nasenlaute dem Ausländer so undeutsch und unverständlich klingt. Fenn nickte. Er trat von einem Fuß auf den andern und würgte sichtlich an einem Anliegen, mit dem er sich nicht hervortraute. „Nun gehst du zu Lehrers und bestellst meinem Vater, daß Essenszeit ist,“ sagte Joffer Gretchen. Da brach dem Jungen sein Geheimnis über die Lippen. „Auf dem Speicher oben liegen so schöne Bücher!“ brachte er unvermittelt hervor, und sein offenes Bubengesicht lief dabei rot an. „So, was denn für Bücher?“ fragte wohlwollend Fräulein Gretchen. Er versuchte ihr klar zu machen, was er meinte, aber mit Worten dauerte es ihm zu lang. So war er in ein paar Sätzen die Treppe hinauf und holte den Schmöker. Sie meinte, sie müsse erst „eisen Här“ fragen. „Unser Herr“ saß in seinem Studierzimmer über seinen Büchern. Der Herr Wiesinger galt in den Kreisen seiner Confratres für ein unheimlich gelehrtes Haus, aus dem noch einmal ganz was besonderes werden würde. Das Geld, das andere in Rotspohn und Zigarren anlegten, steckte er in seine Bücherei. Schön gebunden, mit schwarzbraunem Rücken und dem Goldtitel in dunkelgrünem Feld, standen die Theologen, Philosophen, Kirchenväter und Klassiker auf ihren Regalen, hinter blinkenden Kattunvorhängen. Der Herr Wiesinger sah seiner Schwester sehr ähnlich. Dasselbe gütige, weiße Gesicht, dieselben sanften Augen, nur tiefer und klüger hinter den starken Brillengläsern. Er nahm lächelnd das Buch und blätterte sinnend eine Weile darin. „Gib’s ihm, wenn es ihm Spaß macht,“ sagte er. „Ich habe es vor reichlich vierzig Jahren als Schulpreis bekommen. Da klebt noch der Zettel: Sexta, I. Preis, Karl Reining. Aber der Fenn soll darüber sein Latein nicht vernachlässigen.“ „Und ich wollte dir auch sagen, Charles, das Essen ist soweit fertig. Wenn du kommen willst, kann aufgetragen werden.“ Unter vier Augen duzte Joffer Gretchen den geistlichen Bruder, aber in der Zärtlichkeit, mit der das luxemburgisch-französische „Scharel“ herauskam, klang ein gut Teil Ehrfurcht mit. Fenn zog glücklich mit seiner Beute ab. Er hatte heute zum letzten Male im Pfarrhaus Holz getragen. Morgen sollte er nach Luxemburg aufs Gymnasium, um „auf Herr“ zu studieren. * * * * * Sein Vater war der Küster, der griesgrämige Mathias Kaß mit den buschigen Augenbrauen und den gekniffenen Lippen. Die Kaß in Wiesing gehörten zu einem alten Luxemburger Schmiedegeschlecht. Der Mathias war zufällig schwächer geraten als seine Brüder und Vettern und darum nach Wiesing gekommen, wo er in eine alte Küsterdynastie eingeheiratet hatte. Aber die Natur hatte nur ein Glied in der Kette überschlagen, beim jungen Kaß in Wiesing setzte die ganze Kraftfülle der Altvordern wieder ein. Vielleicht auch war er mehr nach der Mutter geartet, einer stillen, derben Frau, die an dem grobknochigen einzigen Sohn mit der ganzen Zärtlichkeit ihrer schlichten Seele hing. Ferdinand hatte sie ihn taufen lassen. Ferdinand war der schönste Name, den sie kannte. Irgendein vornehmer Knabe aus einer Geschichte in ihrer Lesefibel hatte Ferdinand geheißen, und so nannte sie ihren Einzigen Ferdinand. Aus jenem Bedürfnis nach Feinem, Feiertäglichem, das selbst im gröbsten Bauernweib drin steckt und ihm eingibt, ein paar Blumenscherben auf der Fensterbank zu halten, oder um Ostern herum Veilchen zwischen die Wäsche zu legen oder bei feierlichen Gelegenheiten – Begräbnis, Hochzeit, Kirmes und Kindtaufe – ihr weißes Taschentuch nebst Gebetbuch und Rosenkranz zimperlich vornehm in der Hand zu tragen. Papa Reining, den Fenn zum Essen rufen sollte, war der Vater des Pfarrers. Ein bißchen gebeugt, ein bißchen wackelig, ein bißchen schwerhörig. Unter sich nannten ihn die Wiesinger „Zäre Pätter“, offiziell hieß er der „Père Reining“. Niemand sah ihn je anders als im schwarzen Gehrock. Allabendlich ging er auf eine Partie Sechsundsechzig zum Lehrer Braun, für dessen Jüngste er stets etwas zum Naschen in den unergründlichen Taschen seiner Rockschöße mitbrachte. Und bot das Haus einmal nichts Eigenes, dann waren es Pfefferminzpastillen. Um diese stritten sich die Kinder, es war ihnen ein seltenes und seltsames Empfinden, an Gaumen und Zunge den kühlen Hauch und den süßlichen Geschmack der kleinen weißen Plätzchen zu spüren. Fenn Kaß wußte in dem bescheiden aussehenden, strohgedeckten Haus, das die Gemeinde ihrem Lehrer als Wohnung zur Verfügung stellte, von Kindesbeinen auf Bescheid. Von der Straße führte eine Treppe hinan, auf deren Steinbrüstung bald glucksende Hühner sich sonnten, bald die Töchter Brauns mit gefärbten Knöchelchen Spielstein spielten. An lauen Abenden saß dort Braun, ans Haus gelehnt, ein Bein auf der niedrigen Brüstungsmauer vor sich ausgestreckt, rauchte seine weiße, irdene Pfeife, sein „Hänschen“, und erklärte seiner Jüngsten die Sternbilder. Dann kroch Fenn manchmal schweigend von unten die Treppe herauf, bis zu den Füßen des Lehrers, und lauschte gespannt, wenn Braun am „Großen Wagen“ die drei Pferde und die vier Räder oder am „Rechen“ die Zähne und den Stiel mit seinem Pfeifenrohr der kleinen Marjänni demonstrierte. Man weiß nicht, was den Küstersbuben am meisten lockte, der „Große Bär“ oder die kleine Marjänni. Tatsache ist, daß es ihn nach dem Lehrerhause hinzog, auch wenn kein Stern am Himmel stand. Und noch lange nachher wurzelten die seligsten Erinnerungen seiner Kinderjahre in den Stunden, die er bei Lehrers zugebracht hatte. Lehrers hatten jenseits der Straße einen großen Garten, in dem eine Holzbank unter einem mächtigen Holunderstrauch stand. Dorthin brachten die Mädchen ihre Puppen und die Buben ihre Pferde und gründeten einen gemeinsamen Haushalt. In eine Mauerritze wurden nebeneinander ein paar Stöckchen getrieben, das waren die Balken des Heuspeichers. Quer darüber kam Reisig und oben darauf wurde ausgerupftes Gras getürmt. Auch Raufe und Trog fehlten nicht, und den bunten Rossen, die noch so funkelnagelneu nach Lack dufteten, gebrach es an nichts. Neben dem Stall wurde ein Brunnen gebohrt, mit einer spitzen Bohnenstange, so tief, daß alle Kinder sagten, sie könnten nicht bis auf den Grund sehen, beinahe fußtief. Und aus gegabelten Zweigen und quer darüber einem runden Stäbchen mit doppelt geknicktem Ende als Kurbel wurde der Apparat gebaut, an dem aus der Tiefe des Brunnens der Wassereimer heraufgewunden wurde. Während die Knaben so dem Viehbestand ihre Fürsorge zuwandten, bestellten die Mädchen das Haus. Unter der Bank am Holunderstrauch lag der Keller, mit Milch und Butter und Kartoffeln und allen Vorräten reich bestellt, oben drauf waren Küche, Stube und Schlafzimmer für das Puppenvolk eingerichtet. Da führte Marjänni das Zepter, in Hof und Stall war Fenn ausschlaggebend. Auch von den andern, die gewöhnlich dabei waren, ist ein Wort zu sagen. Heine Putty machte sich aus den Pferden nicht viel, er drückte sich mehr auf der Mädchenseite herum. Sein Vater war Schneider, aus der Gegend zwischen Mosel und Syr eingewandert, ein bartloser Schwächling mit dem Temperament eines Cholerikers, ein Bramarbas, der ein ruhiges Hünenweib heimgeführt und mit ihr einen schmächtigen Sohn und zwei derbe Töchter gezeugt hatte, die Leonie und die Justine, die bei den Haushaltungsnachmittagen im Lehrersgarten emsig schafften. Geriet der Schneider in Wut, so prügelte er unter gräßlichen Flüchen seine Kinder, eins nach dem andern, durch. Das ihm zunächst saß, kam zuerst an die Reihe, und dann die andern. Er erblickte in diesem unparteiischen Durchprügeln einen Hauptteil seiner väterlichen Sendung. Die Mutter sah ihm dabei ohne Aufregung zu, weil sie dachte, das könne unmöglich wehe tun. Aus seinen ledigen Jahren erzählte der Schneider erstaunliche Heldentaten, die ihm die Wiesinger lieber glaubten, als daß sie sich mit dem mundfixen, hergelaufenen „Schneiderhähnchen“ auf eine Kontroverse eingelassen hätten. So war der kleine Peter Heinen – aus Peter machten die Kameraden Putt und Putty – ein verschüchterter Knabe geworden, aber fein, begabt, phantasiereich und voll einer heimlichen Genußfreude, die sich nicht gern an die Oberfläche wagte, die jeden Genuß mißtrauisch in einen Herzenswinkel schleppte, wie ein Hund einen Knochen, und sich dort gierig an ihm sättigte. Suchte Heine Putty beim Spielen stets die Gesellschaft der Mädchen und gefiel sich Fenn in der Rolle des Hausvaters, so ging der dritte Gespiele, Fritz Lampert, davon aus, daß er dahin gehörte, wo es im Augenblick am meisten zu essen und zu trinken gab. Sein Vater, der Lampesch Fiß (Fils), so genannt nach dem Vorbilde der benachbarten Lothringer Bauernsöhne, war der reichste Bauer auf viele Stunden im Umkreis. Manche im Dorf hängten, wenn sie das sagten, augenzwinkernd das fatale Wörtchen „gewesen“ daran. Soviel war sicher, der Lampesch Fiß hatte schon in jungen Jahren das Faulenzen gelernt. Und sollte Fritz von ihm auch weiter nichts erben, die Faulheit, die Selbstsucht und das Protzentum hatte er von ihm sicher, das stak im Blut. Fenn, Putty und Fritz waren ein Kleeblatt. Und von der kleinen Marjänni hätte man sagen können, sie war an dem Blatt der Stiel, der die drei zusammenhielt. Fenn sprang bei Brauns die Treppe hinauf und stieß im Flur auf seine Freundin, die ein langes Stück massigen Zwetschenkuchens auf der flachen Hand hielt. Wenn sie beim Hineinbeißen die Lippen schürzte, sah man in dem gesunden, roten Zahnfleisch das blinkende Elfenbein ihrer Zähne stehen, und aus zwei groß aufgerissenen, dunkeln Augen funkelte der Genuß an dem saftigen Bissen. Daß damals in Wiesing weit und breit die schönsten Mädchen wuchsen, wußte in der Gegend jeder Bursch. Brauns Marjänni war nicht aus der Art geschlagen. Sie hatte die süßesten Augen, dunkelolive; ihr schmales Gesichtchen war weiß, wie ein Rosenblatt, nur um die Augen ein wenig dunkler, wie weiße Rosenblätter in des Kelches Mitte. Wenn es gegen Abend ging und sich ihr Haar unter dem Kamm gelockert hatte und einen breiten Rahmen um ihr entzückendes Kindergesicht legte, war sie fast zu schön, wie ein Bild, das man keinem Maler glauben würde. So sah sie aus, als Fenn Kaß ihr jetzt im Türrahmen entgegensprang. Er griff mutwillig nach ihrem Kuchen, sie retirierte mit einem halb belustigten, halb entrüsteten „Nein, wie frech!“ in die Küche. Der „Zäre Pätter“ war in keiner kleinen Aufregung, als Fenn ihn abberief. Er hatte drei Spiele nacheinander gegen Braun gewonnen und ihn einmal „Schneider gemacht“, und jedesmal, wenn er einen Trumpf auflegte, schwang er die Karte hoch empor, wie ein Richtbeil, und ließ sie mit einem aus tiefster Brust hervorgekeuchten Aha! auf die Karte des Gegners niedersausen, daß unter seinem feinen Greisenfäustchen die Tischplatte diskret erbebte. „Danken Sie Ihrem Schöpfer, Herr Braun, daß ich fort muß!“ sagte er mit vibrierender Stimme, indem er sein geblümtes Taschentuch und seine silberne Schnupftabakdose vom Tisch aufnahm. „Heute wäre es Ihnen um Haus und Hof gegangen!“ Braun lachte gemütlich und kraute sich hinter dem Ohr. Er gedachte der ersten Tage, wo der „Zäre Pätter“ mit ihm Sechsundsechzig gespielt und regelmäßig Schuh und Strümpfe dabei verloren hatte. Da war er aus reinem Mitleid mit dem alten Mann hingegangen und hatte heimlich die Karten gezeichnet. Nun konnte er ihm so viel Trümpfe und Stiche in die Hände spielen, wie er für gut fand, und der gute „Zäre Pätter“ hatte dank dem Lehrer Braun einen triumphverklärten Lebensabend und kam jeden Tag in der übermütigsten Stimmung zum Abendessen. Pfarrer Reining hörte von der großmütigen Mogelei des Lehrers und erstattete diesem gewaltsam jede Woche die zwölf Sous, die er an den Père Reining aus christlicher Nächstenliebe verloren hatte. * * * * * Als Fenn Kaß an jenem Abend die Betglocke läutete, war ihm durchaus nicht so weich zumut, wie es doch am Vorabend eines so folgenschweren Tages begreiflich gewesen wäre. Nein, so einer war er überhaupt nicht. Es hatte ihn noch keiner von seinen Kameraden mit nassen Augen gesehen. Nicht, daß er ein rohes Gemüt gehabt hätte. Vieles ergriff ihn seelentief. Aber war sein Inneres ein bewegliches Wasser, auf dem jede Empfindung ihre Ringe warf, sein Äußeres war festes Erdreich, ein Ufer, von dem die Wellenringe der innern Aufregung spurlos zurückzitterten. Fenn schlenkerte den großen Kirchenschlüssel an Daumen und Zeigefinger hin und her, als er langsam zwischen den Ebereschen hinging, die vom Tor des Friedhofs bis zur Kirchentür eine zierliche Allee bildeten. Einzelne rote Beeren lagen über den Pfad gestreut. Fenn fiel es ein, wie sich Marjänni mit den reifen Vogelbeeren manchmal Ohrgehänge machte, und instinktiv vermied er, auf eine der roten Korallen zu treten, als hätte er damit der kleinen Spielkameradin weh tun können. Beim Missionskreuz an der Turmmauer hielt er die Schritte an. Dort stand Sonntags nach dem Hochamt die Gemeinde und sprach ein kurzes Gebet „für die Abgestorbenen“. Warum kam dem Küsterssohn gerade hier das Bewußtsein, daß ein Abschnitt in seinem Lebensbuche nun für immer umgeblättert war? Warum dachte er nicht an dies und jenes, das er nie mehr tun würde, und warum dachte er gerade: Du wirst nun nicht mehr Sonntag für Sonntag unterm Missionskreuz stehen und für die Verstorbenen beten? ... Drüben war immer Marjännis Platz, an dem Grab mit dem schiefen grauen Kreuz, über das jetzt riesige Sonnenblumen ihre schweren Köpfe hängten. Dort sah er sie immer stehen, wenn er etwas später, als die andern, aus der Sakristei kam, wo er noch nach dem Rechten hatte sehen müssen. Wenn sich zufällig ihre Blicke kreuzten und er ihr verstohlen zunickte, winkte sie kaum merklich wieder, schloß eine Sekunde lang ihre dunkeln Augen und betete weiter, ernst und altklug, als müßte sie ganz allein alle armen Seelen aus dem Fegfeuer beten. Der Gedanke an sie ging heimlich hinter ihm her in die stille, dämmerbraune Kirche, in der seine Schritte hallten. Dort links war ihr Platz. Sie saß die erste in ihrer Bank. Während im Hochamt das Credo oder in der Vesper die Psalmen gesungen wurden, saß der Herr Pastor seitwärts vom Altar in einem Seidendamastsessel, rechts und links die beiden Meßdiener. Das sind die feierlichsten Augenblicke im Dasein eines Dorfjungen. Die Kirche ist voll von Lichterglanz und süßem Weihrauchduft, wie im Sonntagssonnenschein eine blumige Märchenwiese, durch die die Orgelklänge als tönender Bach hindurchfließen, bald sacht, bald brausend. Die Gemeinde sitzt mit frommen, schläfrigen Sonntagsgesichtern, die Choralweisen, mit denen alle aufgewachsen sind, summen laut oder leis in jeder Kehle mit, unbewußt, wie in einem der gemalten Kirchenfenster eine lockere Scheibe bei schwingungsverwandten Klängen schläfrig mitklirrt. Auf den fremdartigen Weisen, aus denen der Widerhall einer versunkenen Zeit mit seltsamen Vinetaglocken läutet, wiegen sich die Träume hin und her. Das sind die Stunden, wo die Seelen sich von der Erde und ihren Wirklichkeiten lösen, wo die Gefühle wie die blauen Weihrauchwölkchen haltlos schweben und wo die Menschen dem gehören, der ihrem Traumbedürfnis die erdenferne Umwelt schafft, nach der es sich sehnt. In solchen Augenblicken hatte Fenn stets das Gesicht der kleinen Lehrerstochter vor sich. Er saß neben dem Herrn Pastor, der von Samt und Seide starrte, die Hände in den weiten Ärmeln seines Chorhemdes wie in einem Muff geborgen. Und die ganze Pracht und Herrlichkeit, die sonndurchglühten Heiligen in den gemalten Fenstern, die künstlichen Blumensträuße, in deren goldenen Blättern sich glitzernd die Kerzenflammen spiegelten, die farbenfreudige Gewölbemalerei, in die sich die fromme Phantasie eines heimischen Anstreichers ergossen hatte, die ausgelassene Formenschwelgerei der Rokokoaltäre mit ihren theatralisch posierenden Heiligen, und die frommen Gesichter und die Sonntagsstimmung der Gemeinde, alles war für Fenn manchmal nur ein Rahmen um das schöne weiße Gesicht Marjännis. Solche Visionen umgaben den Küsterssohn jetzt wie eine weiße Wolke von Erinnerung, in die seine Gedanken wie von selbst hineingetrieben waren. Er pinkte erst dreimal leise mit der Glocke an und besorgte dann, wie jeden Tag, seit er die Kraft dazu besaß, das Abendläuten – nicht mit lautem Bimbam, wie wenn er die Wiesinger zur Kirche rief, sondern mit einseitigem, schüchternem Bimbim – Bimbim, das nur zu stillem Ave Maria mahnte. Dann schloß er das Kirchentor ab und ging. * * * * * Ein Bauernbub, der unter seine Kinderjahre einen Strich macht, hat von allerhand Abschied zu nehmen. Fenn Kaß hätte es nicht übers Herz gebracht, fortzugehen, ohne seinem alten Freund Pichert Lebewohl gesagt zu haben. Pichert war ein einfacher Schuster und Junggeselle, wie alte Schuster und Junggesellen auf dem Lande zu sein pflegen, ohne ein durchschlagendes Leibspruch-Leitmotiv, ohne jegliches besondere Kennzeichen. Fenn Kaß war dem alten Pichert in Freundschaft zugetan. Er saß ganze lange Abende in der kleinen, pech- und gerbsäureduftenden Werkstatt bei ihm und führte mit ihm unglaublich vernünftige Gespräche. Und umgekehrt stand der Pichert mit Fenn Kaß genau so, als wäre der dreizehnjährige Bub ein großer und gescheiter Freund, mit dem er über alle Dinge sprechen konnte, die seinem kritischen Schusterhirn zu denken gaben. Der Pichert wohnte in einem der letzten Häuschen des Dorfes, etwas abseits von der Straße. Eine Steinplatte führte über den Graben, und ein fußfreier Pfad über dürftigen Rasen zu der Heimstatt des alten Schusters. War er gar so alt? Er hatte kein Alter. Er war wohl auch nie jung gewesen. Es war, als ob es keine Zeit gegeben hätte, wo der Pichert nicht eilig durch die Straßen von Wiesing gelaufen wäre. Denn er hatte es immer eilig. Und immer trug er seine schwarze Tuchmütze, immer einen Kittel, eine „Schieb“ aus braunem Wollstoff, unter der an der linken Seite die mit Schnupftuch und Tabakdose beschwerte Tasche handbreit hervorbaumelte. Fenn stieß die obere Hälfte der zweiteiligen, altmodischen „Hirzel“-Tür auf und sah hinter der dunkeln Küche das Wohn-, Eß- und Arbeitszimmer des Schusters erleuchtet. Da schob er von der untern Türhälfte den Riegel zurück und ging hinein. Jacques Thielen, genannt der Pichert, saß auf seinem Schemel und hämmerte auf ein Stück Sohlleder los. Als Unterlage diente ihm ein handgroßer, schalenförmiger Bombensplitter, den er über dem Schurzfell auf den spitzen Knien festhielt. Von Zeit zu Zeit tauchte er die Sohle in einen mit Wasser gefüllten, grauen Steintopf, der zu seinen Füßen stand. Als Fenn in den Lichtkreis der kleinen Küchenlampe trat, die zwischen halbfertigem Schuhzeug, Ahlen, Pfriemen, Schachteln mit Kupferösen und Strohpapierdüten mit Schuhnägeln auf dem schmalen Werktischchen stand, schielte der Pichert über seine Brillengläser zu ihm herüber. „Setz dich, Fenn,“ sagte er mit einer rissigen Fagottstimme und griff zugleich nach der Schnupftabakdose aus Kirschbaumrinde, an deren Deckel ein Lederriemchen wie ein Rattenschwänzchen vergnügt in die Höhe stand. „Merci!“ sagte Fenn ablehnend. „Dummer Kerl!“ schalt ihn der Pichert gutmütig. „Wenn du Pastor werden willst, mußt du das Schnupfen lernen. Anders habt ihr ja doch kein Pläsier. Arme Türken! Eine gute Flasche, eine gute Prise, ein guter Bissen bei Tisch, eine Partie Karten, ein paar Bienenkörbe als Zeitvertreib, das ist euer Leben.“ Mit einem trocknen, sonoren Lachen machte er ein Punktum hinter seinen Satz. Durch jahrelange Schnupftabakorgien war seine Nase zu einem vorlauten Resonanzboden für seine Kehle geworden. „Du wirst jeden Tag dümmer, mein lieber Pichert,“ entgegnete Fenn zärtlich. „Glaubst du, ich werde so ein Bienenvater, der tagelang mit einem Korb hinter einem jungen Schwarm hergiepert? Wenn ich einmal gelehrt bin, weiß ich mir andre Sachen.“ „Ei was denn, zum Exempel?“ „Ich baue Maschinen.“ „Dann wärst du gescheiter zu deinem Onkel als Schlosser in die Lehre gegangen.“ „Wie dumm, Pichert! Was kann ein Schlosser, der nichts gelernt hat als feilen und hämmern! Maschinenbauen, das will studiert sein.“ „So studiere auf Inschenier.“ „Dazu muß man sehr viel Geld haben. Und dann, weißt du, so meine ich es nicht. Ich meine, wenn ich Pastor bin, habe ich Zeit genug, um nebenbei allerhand zu fingern. So’n Ingenieur ist heute auch nicht mehr das Richtige, der tut alles, weil er muß, ums Brot.“ „Gezwungenheit ist Gott leid!“ sagte der Schuster und zog eine Prise Schnupftabak aus der hohlen Hand geräuschvoll in sein linkes Nasloch. „Was einer tun muß, ums Brot, davon hat er keinen Genuß. Ich seh es kommen, Fenn, wenn du Pastor bist, stehst du lieber am Schraubstock, als daß du deine Predigt studierst.“ „An mir bleibt keiner hängen,“ sagte Fenn mit Ernst in den Augen und Stolz in der Stimme. „Ich sorge immer dafür, daß ich keinem was schuldig bleibe.“ „Das ist das Gescheitste,“ nickte Jacques Thielen zustimmend auf diese ehrenfeste Rede seines junges Freundes. „Werde du Pastor und bossele Maschinen nebenbei, soviel du willst, das ist besser, wie ...“ Der Schluß des Gedankenganges wurde übertönt durch die Hammerschläge, die doppelt emsig auf das klatschende Sohlleder niederfuhren. „Aber das sage ich dir“ – hub der Pichert wieder an und hämmerte dabei noch ingrimmiger auf das unschuldige Stück Rindshaut ein – „das sage ich dir, erfinde nur kein so verdammtes Teufelszeug, wie die Maschinen, auf denen sie die neuen Fabrikschuhe pfuschen. So ’ne Schweinerei! Das hält keine drei Monate und zieht Wasser wie ein Sieb!“ Von einem Haufen alten Schuhzeugs, das neben ihm in der Stubenecke aufgestapelt lag, langte er einen zerrissenen Zugstiefel herüber. „Da hat sich der Lampesch Fiß von der Schobermeß aus der Stadt ein Paar Bottinen mitgebracht, für ein Heidengeld. Und gedauert hat der Schund ausgerechnet von zwölf Uhr bis Mittag. Da soll nun der Pichert ein ordentliches Paar Schuhe daraus machen! Was? Trag sie ihm hin und sag, er soll sie dem Jud verhandeln.“ „Was ist das nun mit dem ‚Mischell‘ und mit dem Lampesch Fiß?“ fragte Fenn, plötzlich neugierig geworden. „Das solltest du nicht wissen? Seit der Lampesch Fiß in der Stadt das Billardspielen gelernt hat, verfaulenzt und verludert er ein Stück Land nach dem andern. Der ‚Mischell‘ gibt ihm Geld, soviel er haben will, und wenn einmal der Fiß mehr Schuld wie Wertschaft hat, dann kehrt ihm der andere das Wasser ab und schlachtet den Hof.“ „Glaubst du alles, was die Leute sagen?“ fragte Fenn mit einem Schimmer von Hoffnung, daß für den alten Lampert doch noch ein Kraut gewachsen sein könnte. „Fenn, ich sage dir, wenn ein Bauersmann sich solches Dreckszeug an die Füße zieht,“ – verächtlich schmiß der alte Schuster den Stiefel wieder in die Ecke – „dann merke, dann geht’s mit ihm in die Binsen.“ „Es muß wohl so sein,“ sagte Fenn entmutigt. „Ich habe vor acht Tagen den Lampesch Fiß mit dem Alten auf der Gewann gesehen. Sie standen bei dem großen Nußbaum auf Langfuhr, wo dem Lampert der ganze Berg gehört.“ „Dann wird ihm der ‚Mischell‘ jetzt auch die Äcker abgeknöpft haben. Eine Affenschande! So’n herrliches Gut! Na, der Großvater Lampert muß sich schon so oft im Grabe herumdrehen, vielleicht kommt er zuletzt doch wieder auf den Rücken zu liegen.“ Diesmal zog der Pichert die Prise in das rechte Nasloch. Fenn sagte nach einer kleinen Pause: „Morgen früh um viere fährt uns Lampesch Fiß in die Stadt, mich, den Heine Putty und den Fritz.“ „Es wäre ihm gesünder, er bliebe zu Haus.“ „Der Wöllem fährt.“ „Natürlich, sonst weiß der liebe Herrgott, in welchem Graben sie den Lump morgen abend auflesen würden.“ Wieder eine kleine Pause, dann Fenn: „Ich bin gekommen, um dir Adieu zu sagen, Pichert.“ „Das war schön von dir, mein Junge. Na, du, von dir glaube ich, daß du nicht hoffärtig wirst, du gibst dem alten Pichert die Hand auch noch, wenn sie dir die Glatze geschoren haben. Aber die zwei andern! Paß auf, der Putt wird noch mal ein hochnäsiger Pfaff, und der Fritz schnuppert schon heute um mich herum, wie seinem Vater sein Jagdhund um einen Eckstein. Denk an mich, Fenn, der zerreißt nicht bis ans Ende lauter Schuhe, die er sich selbst gekauft hat. Nun adieu, glückliche Reise, und werd mir nicht krank in der vermaledeiten Stadt.“ Mit einem kräftigen Händedruck entließ der Pichert das junge Menschenkind, dessen Weg heute von dem seinen so weit abzweigte. * * * * * Als Fenn auf dem Nachhauseweg bei Lehrers vorbeikam, standen Putty, Fritz und Marjänni im Dunkeln plaudernd auf der Straße. „Fenn, gehst du mit zu uns?“ fragte Fritz. „Nein.“ „Komm mit,“ sagte Marjänni, „wir gehen alle zusammen.“ Da nickte Fenn und schloß sich an. Der alte Lampert saß in der Stube allein an dem runden Tisch, den eine protzige Hängelampe aus Kupfer und geblümtem Porzellan beleuchtete. Vor ihm stand eine Flasche Weißwein mit einem abenteuerlichen Etikett, auf dem Tisch lag ein Haufen frischer Nüsse. Der Bauer knackte von Zeit zu Zeit zwischen den Backzähnen eine Nuß auf, pickte mit klobigen, zitternden Fingern die hellgelbe, frische Haut von den Kernen und biß zu jedem Kern in ein großes Butterbrot. In eine Ecke der Stube lag ein braun und weißgefleckter Jagdhund gekauert und knurrte ab und zu im Traum. Über ihm an der Wand hing ein Gewehrrechen mit Jagdflinten und Jagd- und Patronentaschen. Öldrucke und Photographien, eingerahmte Diplome mit Denkmünzen, Preise für einen schönen Hengst oder sonstiges Paradedevieh bildeten rings an den Wänden den gewohnten Bauernstubenschmuck. Nichts Auffallendes, nur wer genau hinsah, merkte, daß etwas in dieser deftigen Dorfeleganz brüchig, undicht war, daß da und dort breite Stücke der Tapete sich losgelöst hatten, daß in dem offenstehenden Wandschrank merkwürdig viele zerbrochene Porzellanstücke die Reputation der andern, unversehrten Familienglieder schändeten und daß der Fußboden mindestens eine Woche lang nicht mehr gekehrt worden war. Denn da lagen festgetretene Papierfetzen, alte Korkstöpsel, abgenagte Knochen und dergleichen, was einer ordentlichen Hausmutter oder Dienstmagd ein Greuel gewesen wäre. Als die Kinder hereinkamen, wischte Lampert mit der flachen Hand Brotkrumen und Nußschalen von der holzfarbenen Wachstuchdecke auf den Fußboden und sagte heiser: „Kommt, setscht ech un.“ Eine schlumpige Magd führte dem Witwer den Haushalt. Sie mußte den Butterweck und den Brotlaib bringen, einen Schoß voll frischer Nüsse auf den Tisch schütten und ein paar weitere Flaschen aus dem Keller holen. Der Bauer war inzwischen mit den Vorderarmen breit auf dem Tisch liegen geblieben und hatte stumpfsinnig an seinen Nüssen weiter geknackt und gepickt. „Eßt nur! Fritz, schenk ein!“ Putty und Marjänni langten zu. „Unserm Fritz ist das nicht fein genug,“ knurrte der Bauer, „der muß immer aus der Tasche naschen.“ Fritz sandte seinem Vater, der nicht aufgesehen hatte, einen bösen Blick hinüber. „Eßt, Kinder,“ wiederholte der Bauer mit schwerer Zunge. Und nach einer kleinen Pause: „Eßt, sonst holt sie der Jud.“ Heiser lachend goß er sich das letzte Glas aus der Flasche ein. „Fenn, warum ißt du keine Nüsse? Sie sind von dem großen Baum aus Langfuhr.“ „Ich weiß, ich eß sie nicht gern.“ „Filou! Hab ich dich damals nicht erwischt, wie du dir von demselben Baum alle Taschen voll gestohlen hattest?“ Fenn, beleidigt: „Ich hatte sie nicht gestohlen, ich hatte sie mit einem Hackenstiel heruntergeschmissen!“ „Verzeihen Sie den Irrtum, Herr Kaß! Warum willst du denn heut keine mehr davon?“ „Weil ich sie heute nicht mehr mag.“ „So laß es bleiben.“ Eine Weile hörte man nur das Geräusch brechender Nußschalen und malmender Zähne. Fenn knackte die Nüsse für Marjänni. Fritz steckte heimlich Zuckerplätzchen in den Mund, die er vorhin in der „Epicerie“ an der Kreuzstraße gekauft hatte. Allmählich kam ein Gespräch in Fluß. Marjänni fragte die Buben, was sie für die Aufnahmeprüfung am Gymnasium wissen müßten. Ihre Prüfung an der Lehrerinnen-Normalschule in einigen Jahren würde viel, viel knifflicher sein, versicherte sie. Und erzählte Schauerdinge von den halsbrechenden Schwierigkeiten der Analyse und des Participe passé, erklärte die Regel de Tri und die periodischen Dezimalbrüche für Kinderspiel und wußte alle französischen Beiwörter auf al, die in der Mehrzahl ein s annehmen, so rasch an den Fingern herzusagen, daß dem verblüfften Fritz ein angelutschtes Karamel aus dem weit geöffneten Munde herausfiel. Und dann zählte sie auf, woraus ihre Ausstattung bestehen würde. „Ich krieg ein ganz feines, schwarzes Kleid, und noch zwei andere, und zwei Uniformhüte, und furchtbar feine Wäsche. Wir müssen jedes ein ganzes Dutzend Handtücher haben ...“ Fritz übertrumpfte sie und zählte auf, woraus seine Ausstattung fürs Konvikt bestand. „Zeig auch deine goldene Uhr vom Onkel Majerus,“ protzte Vater Lampert. „Wieviel Nachthemden bekommt ihr mit,“ fragte Fritz die Kameraden, um einen Maßstab für etwaige Vergleiche zu gewinnen. Putty geriet in Verlegenheit. In seinen Kreisen hatte niemand eine Ahnung davon, daß die Spezies Hemden sich in Tag- und Nachthemden schied. Als aber Marjänni und Fritz ihn gespannt ansahen, log er aufs Geratewohl: „Ein halbes Dutzend.“ „Ich brauch keine Nachthemden,“ erklärte Fenn schlicht und verächtlich. Von da ab war er aus der Interessensphäre der andern herausgerückt, und das Gespräch ging hartnäckig an ihm vorüber. „Sind deine mit blauem oder rotem Besatz?“ inquirierte Fritz weiter. „Mit allerhand Farben,“ log Putty unverfroren. „Uni ist feiner,“ entschied Marjänni. Aber Putty fand im Flug für seinen Modestandpunkt eine Rechtfertigung. „Wenn man nur von einer Farbe hat, denken die Leute, man zieht immer dasselbe Hemd an.“ Fritz sagte naserümpfend, das wisse doch ein jeder, daß das nicht wahr ist. Jetzt mischte sich der alte Lampert hinein. „Ihr seid eine hoffärtige Bande. Ihr wißt noch gar nicht einmal, ob ihr überhaupt bei der Prüfung nicht durchsaust, mitsamt all euren Nachthemden.“ Putty wußte Rat. Sein Vater wollte mit dem Herrn Direktor reden und mit allen Professoren, er kannte sie sehr genau von der Zeit her, wo er in der Stadt Schneidergeselle gewesen war. „Kann ich mir denken,“ sagte der Bauer. „Der Direktor sitzt da und wartet, bis der Schneider aus Wiesing mit seinem Jungen kommt: Ah, guten Morgen Schneiderhinchen, bringt Ihr uns den Burschen endlich! Den können wir gerade brauchen! – Paß auf, Putt, die geben deinem Vater noch Geld auf dich heraus!“ Fritz und Marjänni lachten, Putty schämte sich; Fenn sagte: „Es ist Zeit, daß ich nach Hause gehe.“ Lampert der Vater pflichtete ihm bei. „Wer morgen früh punkt 4 Uhr nicht da ist, kann für einen dicken Sous nachlaufen,“ sagte er und schlug zum Zeichen, daß die Sitzung aufgehoben war, mit der flachen Hand auf den Tisch. Als die Kinder zum Gehen fertig dastanden, griente Fritz boshaft: „Brauns ihres hat sich die Taschen voll Nüsse gestopft.“ Marjänni erschrak und wurde krebsrot. Fenn sagte ruhig: „Sie hat meinen Teil genommen. Dein Vater sagt ja: Die wir nicht essen, holt der Jud.“ „Ins Bett mit euch!“ brummte der Bauer, plötzlich unwirsch. „Du auch!“ zu Fritz. „Was liegt dran, wenn das Kind ein paar Nüsse einsteckt!“ Und da Fritz eine ungezogene Widerrede wagte, gab ihm sein Vater kurzerhand eine Ohrfeige. „Marsch, ins Bett! Morgen gibt’s Frühbirnen!“ Der Bauer riegelte die Tür hinter den drei Kindern ab. Fritz trottete greinend in seine Schlafstube und schwor dem frechen Frauenzimmer, der Marjänni, tödliche Rache. Draußen griff Putty in die Tasche und zog eine Hand voll Nüsse heraus: „Da, nimm, Marjänni,“ sagte er zärtlich und triumphierend. „Ich habe auch eine Tasche voll für dich gemaust.“ Und auf einmal fand er seinen ganzen Mut wieder: „Wenn der Fritz, der dumme Aff, morgen in der Prüfung nichts weiß, kann er sehen wer ihm weiterhilft. Ich nicht!“ Daheim schmeichelte Putty seiner Schwester Leonie ein Stück giftgrüne Veilchenseife und ein weißseidenes Taschentuch ab, das ihr zur Kirmes ein Anbeter geschenkt hatte. Der Abschied stimmte sie weich, und sie gab es her. Putty wollte auch etwas Apartes mithaben auf den Lebensweg, auf den sein Freund Fritz so viele Kisten und Kasten mitbekam. Spät abends erwachte Fenn Kaß noch einmal in seinem Bett und hörte nebenan, wo die Eltern schliefen, Vater Kaß mit keifender Stimme gegen sein Weib ankämpfen. „Unsinn, der Junge soll sich freuen, daß wir so für ihn sorgen!“ „Du hast ja recht,“ redete die Mutter dawider, „aber wenn er doch vielleicht den Beruf nicht hätte?“ „Beruf, Beruf! Das ist auch wieder so’ne verrückte Erfindung. Wozu einer das Geld hat, dazu hat er den Beruf. Und nun laß mich schlafen!“ Fenn hörte die Bettstelle laut und energisch krachen und wußte nun, daß Vater Kaß sich herumgedreht und sein letztes Wort gesprochen hatte. Die Mutter wagte noch einige schüchterne Versuche, ihre Gedanken über die Zukunft ihres Einzigen an den Mann zu bringen. Als darauf nichts als ein kräftiges Schnarchen erfolgte, wurde sie still. Fenn dachte gar nicht weiter darüber nach, was über zehn Jahre aus ihm werden sollte. Warum nicht Pfarrer? Er sah durchaus nicht ein, warum einer nicht Pfarrer werden sollte, wenn ihm die Wahl freistand. Zweites Kapitel Der alte Wöllem kroch früh morgens um drei aus dem Strohhaufen, den er sich in einer Ecke des Pferdestalls zum Nachtlager ausersehen hatte. Er tastete sich bis an die Stelle, wo an der Mauer die viereckige Laterne hing, klaubte aus der Westentasche ein Schwefelholz und zündete die Ölfunsel an. Dann dehnte und reckte er sich in seiner ganzen Länge, streckte den rechten Arm nach oben und den linken Arm nach unten aus, kratzte sich gähnend mit beiden Händen den struppigen Kopf und stopfte sich unter allerhand Morgengeräuschen eine Pfeife. Ein paarmal noch mußte er beim Gähnen den Stummel aus dem Munde nehmen, dann war die Maschine in Schwung, Wöllem ging an seine Arbeit. Er war ein knochengewaltiger, schiefbeiniger Hüne, mit den dummen, treuen Augen eines satten Stiers. Haare und Bart waren kurz und dicht, zottig und mißfarben wie das Winterfell eines Tieres im Wald. „Hü! Charlotte!“ Wöllem ließ klatschend seine Riesenhand auf die breite Kruppe eines Apfelschimmels fallen, der mit eingeknicktem Hinterfuß in Morgenträumen versunken stand. Dumpfes Rasseln einer Kette am Holztrog gab Antwort. Wöllem hängte die Laterne an einen Pfosten und begann mit der Morgentoilette des Schimmels. Ab und zu gab er ihm einen wohlwollenden Klaps, oder sagte, mild verweisend: „Steh, Luder! – Hömm, Tockkapp!“ Wöllem war nicht der Mann der extremen Gemütsbewegungen. Der Strom aus seiner Gehirnzentrale brachte auf dem Weg durch die Nervenstränge nie die Sicherungen zum Schmelzen, und nie züngelte bei ihm die Flamme des Affektes auf. Einmal nur war Wöllem furchtbar geworden. In seiner Jugend war er, wie so viele seiner Landsleute, in Paris Kutscher gewesen und hatte sich ein Weib genommen, eine Pariser Kammerjungfer, ein leckeres kleines Ding mit warmen Sammetaugen. Eines Tages wurde er krank und lag sechs Wochen lang im Spital. Als er herauskam, war ihm das leckere kleine Ding mit einem Holzbildhauer aus dem Quartier St. Antoine und mit seinen ganzen Ersparnissen durchgegangen. Wöllem saß einen Tag und eine Nacht in der leeren Wohnung und wartete, daß sein Weib heimkäme. Bis ihm die Frau des Concierge die Wahrheit sagte. Da hatte er alle Möbel in der Wohnung kurz und klein geschlagen, war zum Mastroquet an der nächsten Straßenecke gegangen, hatte sich unmenschlich besoffen und spät abends alle Gäste einen nach dem andern durchs Fenster auf die Straße geworfen, den Wirt zuletzt. Dann hatte er sich, weinend wie ein Kind, von der Polizei abführen lassen. Seither war Wöllem ein ruhiger Sonderling und Weiberhasser. Und das einzige, was ihm an seinem Liebling, der Schimmelstute, nicht imponierte, war der dumme Weibername. Jetzt zog Wöllem den Leiterwagen, der für die Fahrt auf der Tenne bereit stand, auf den Hof hinaus. „Mhm!“ machte er verwundert, als er wahrnahm, daß der Bauer im ersten Stock auch schon Licht hatte. Er schöpfte aus dem steinernen Viehtrog neben dem Ziehbrunnen beide Hände voll Wasser, fuhr sich damit prustend ein paarmal übers Gesicht, prustete wieder, schneuzte sich in die Finger und überließ es der Morgenluft, sein nasses Gesicht zu trocknen. Während er die Charlotte in die Deichsel schirrte, kamen von fern hallende Schritte durch die Morgenstille. Das Schneiderhinchen war’s mit Putty, beide fröstelnd, die Kragen hoch, die Hände bis an die Ellenbogen in den Taschen vergraben. Der Schneider machte sich herablassend an Wöllem heran. Dabei suchte er durch heftiges Räuspern seiner Stimme einen tiefen Klang zu verleihen, um gegen den Brummbaß des Alten nicht gar zu sehr abzustechen. „Ein schönes Tier,“ sagte er und ging sachverständig um die Charlotte herum. „Ein prächtiges Tier.“ Die Charlotte widmete dem Schneider einen teilnahmlosen Blick. Er war aber auch ein zu unansehnliches Männlein, mit seinem speckweißen Nußknackergesicht. Die spärlichen gelben Schnurrbarthärchen schienen eins nach dem andern in die Haut gesteckt. Wöllem brummte etwas in den Bart und humpelte an die andere Seite des Wagens. Der Schneider ihm nach: „Ja, ja, Lampesch Fiß muß immer die schönsten und mutwilligsten Pferde im Dorf haben!“ Wöllem knurrte etwas lauter und stieß der Charlotte die Kandare ins Maul. Dann kleidete er seine Verachtung in Worte: „Wat verstäht e Schneider vun de Pärd?“ Und was ihm wohl das Hinchen herausgibt für jedes Jahr, das die Charlotte mehr als 25 ist? Und ob er meint, die wackelt auch nur mit den Ohren, wenn man ihr einen Topf voll Mostrich mit Pfeffer unter den Schwanz schmiert? Eine so lange Rede hatte Wöllem seit Jahr und Tag nicht mehr gehalten. Sein Redebedarf war damit für die nächsten Stunden gedeckt. Jetzt kam auch Fenn mit seiner Mutter. Schneiderhinchen sagte ihnen guten Morgen und fand es rücksichtslos, daß der Lampert immer noch nicht heruntergekommen war. Es dauerte übrigens nicht lange, da ging die Haustür auf, und Lampesch Fiß rief über den Hof, noch heiserer, als gewöhnlich: „Wöllem, sin se do?“ „Jo, hei si’ mer!“ antwortete eilfertig der Schneider. Und zu Frau Kaß und Fenn gewandt, halblaut: „Kommt, e’ muß eng Dröppchen zum beschte gin.“ „Nä, bleiw eweg, Fenn,“ wehrte die Frau. Sie wollte sich wohl von dem Bauer fahren lassen, weil es nicht anders ging, aber Speise und Trank von ihm annehmen oder gar aufdringlich scheinen, das widerstrebte ihrem Stolz und Feingefühl. Sie wollte ihm nicht mehr zu danken haben, als unbedingt nötig war. Der Schneider mußte mit dem Bauer tatsächlich einen furchtbar starken Schnaps und noch einen trinken, und als man schließlich aufbrach, bekam er eine halbe Stunde den Mund nicht mehr zu. Vorn, hinterm Pferd, saß Wöllem auf der Deichsel, ließ die Beine mit übereinandergelegten Füßen seitwärts herunterbaumeln und hielt die Enden der Zügelleine im Schoß. Zwischen den Wagenleitern standen die drei Koffer, die die Habseligkeiten der angehenden Pennäler bargen: vorn der des jungen Lampert, ein altes Familienstück mit Fellstreifen benagelt, hinten der Koffer Fenns, vom Schreiner neu gefertigt und schwarz lackiert, in der Mitte Puttys Bundeslade, in strahlendem Himmelblau. Auf jedem Koffer saßen die zugehörigen Passagiere. So polterte der Wagen durch die dämmerstillen Straßen, an der Auberge vorbei, wo im Dunkel die beiden weißen Porzellantöpfe vom Fenster her schimmerten und die Silberpappeln um das Altarkreuz eine gespensterhafte Schattenmasse bildeten. Alles schlief noch, nur da und dort hinter einem Fenster oder einer Stalluke bewegte sich der träge Flügelschlag eines schwachen Lichtscheins. Aus den Misthaufen dampfte es weißgrau. Und vorn rechts im Osten kündete ein bleifarbener Horizont den kommenden Tag. Schläfrig zog die Charlotte den schweren Wagen über die Straße. Wo es bergauf ging, ließ sich Wöllem von seinem Sitz heruntergleiten und trabte schwerfällig neben dem Schimmel her. Großer Ahnungen voll saßen oben die drei Knaben. Das war nun die Straße, über die sie so oft ihre Gedanken nach der Stadt geschickt hatten. Für ihre Dorfbubenphantasie war „die Stadt“ der Brennpunkt alles gesteigerten Lebens: Straßen, in denen immerfort Menschen gingen, Kutschen, Schaufenster mit tausend Dingen, deren Bestimmung sie nicht kannten. Und das „Athenäum“ mit dem großen braunen Tor und der kleinen Nebentür, der einzigen in der ganzen Stadt, an der keine Klingel, sondern noch der uralte Türklopfer hing. Als sie das letzte Mal mit der Muttergottesprozession in der Stadt waren und schon wußten, daß sie nächsten Herbst selber „Student“ werden sollten, da hatten sie mit großen Augen und offenem Mund vor dem Hoftor gestanden, bei dem das Pennälervolk lärmend hinein- und herausgeströmt war. Fenn erinnerte sich genau eines hochgeschossenen, fahlen Buben, der einen Kneifer trug mit einer dicken, schwarzen Schnur, die übers rechte Ohr gehängt war. Der war vor den drei Gaffern stehen geblieben und hatte eine fürchterliche Grimasse geschnitten. Es war zu einem Auflauf mit Indianergeheul gekommen, und Fenn biß noch jetzt, bei der Erinnerung daran, die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. „Hüh! Charlotte!“ – sagte Wöllem manchmal aus seinem Morgenhalbschlaf heraus. Der Schneider erzählte merkwürdige Ereignisse aus dem Leben seines Sohnes, Ereignisse, die Puttys Intelligenz in das hellste Licht rückten. Auch manche spaßhaften Anekdoten. Der Bub schämte sich. Nicht so sehr, weil mit seinen Gaben geprotzt wurde, wie deshalb, weil er von seiner Mutter wußte, daß das meiste erfunden war, und er auch schon ein paarmal im Dorf Erwachsene unter sich wie etwas Selbstverständliches hatte erwähnen hören, der Schneider lüge das Blaue vom Himmel herunter. Aber er wagte kein Dreinreden und war froh, als sein Vater schließlich vom ungewohnten Birnenschnaps übermannt in sich zusammensank und mit dem Kinn auf der Brust im Sitzen einschlummerte. Der alte Lampert stierte, die krumme Pfeife in den Mundwinkel gehängt, stumpfsinnig vor sich hin. Fritz unterhielt sich mit Putty über die Zukunft. Beide hatten vom Leben im bischöflichen Konvikt, in dem sie unterkommen sollten, mancherlei gehört, sie erwogen allerhand Möglichkeiten, z. B. wenn so’n Stadtfrack sie über die Achsel ansähe oder ihnen gar frech käme. Fritz sagte, er werde ihn in die Fresse hauen, Putty wußte vernichtende Antworten, mit denen er die Frechlinge zu Boden schmettern würde. Frau Kaß saß in sich geduckt mit ihrem Einzigen zu hinterst im Wagen und erwog im Morgendämmer mit ihm flüsternd, was nun in naher und ferner Zukunft werden sollte. „Laß die beiden andern ihre Wege gehen, halt dich abseits,“ sagte sie leise und stieß ihn mit schlau warnendem Augenzwinkern an. „Was hast du mit dem Bauer und mit dem Schneider zu schaffen?“ „Ich weiß was ich tue,“ sagte er zweideutig, und dachte bei sich, die Mutter kennt sich in Männerangelegenheiten nicht aus. Und dann sprachen sie über den Vater, daß seine Gesundheit nicht die beste sei, daß die Mutter zum Frühjahr jemand auf eine Zeitlang in Tagelohn würde nehmen müssen, um die paar Äcker zu bestellen, die ihnen gehörten. Und Fenn sprach von der Zeit, wo er Kaplan wäre und die Mutter, wenn sie allein geblieben wäre, zu sich nehmen würde. Dann wurde es auch zwischen ihnen eine Zeitlang still. Bis sie ihm auf den Höhen bei Alzingen die Geschichte erzählte von dem letzten Mann, der droben auf dem Galgenberg gehängt worden sein sollte. * * * * * Es ging auf halb sieben, als sie hinter Hesperingen vom Hochwald aus die Stadt erblickten. „Da seht, Jungens,“ sagte der Bauer lässig und deutete mit der Pfeife hinaus, „da liegt euer Käfig.“ Drei Bubenhälse reckten sich. Man sah die breite, fensterreiche Front und das spitze Türmchen des Konvikts weit drüben, hinter dem Qualm des Bahnhofs, aus dem Morgennebel ragen. Die Charlotte setzte sich bergab in einen schläfrigen Trab. Das Achtergeschirr hopste auf ihrem breiten Hinterteil hin und her. Wöllem hopste auf seinem unbequemen Sitz im Takte mit, und wer oben auf dem Wagen zu sprechen versuchte, dem sprangen von dem heftigen Schütteln des Wagens die Worte wie Scherben über die Lippen. In der Stadt war noch alles still, am Bahnhof, auf der schmalen, hohen Brücke, in der Maria-Theresienstraße, durch die sie fuhren, an der alten Kaserne und dem Spritzenhaus vorbei, nur ein fröstelndes Milchweib lief mit zwei Blechkrügen von Tür zu Tür, und ein Hund durchschnupperte geschäftig die Müllkasten. Der Bauer schickte Wöllem zum Konvikt voraus und lud die Gesellschaft auf eine Tasse Kaffee in den Goldenen Anker. Frau Kaß fand eine Ausrede und ging derweil nebenan in die Liebfrauenkirche, wo sie für ihren Einzigen einen Rosenkranz betete. Der Ankerwirt interessierte sich für die jungen Studiosen, da er es selber seinerzeit bis Prima gebracht hatte. Er fragte, wo sie denn wohnen sollten. Ja, ins Konvikt gingen jetzt viele. „Das bringt der Stadt noch lange keinen Vorteil, daß ihr’s wißt!“ Und er schimpfte in volkswirtschaftlichen Vokabeln über die Konkurrenz, die keine Steuern bezahle. Die drei Knaben waren durch seine Rede sehr niedergeschlagen; es fiel daraus der erste Schatten auf ihre blanke Freude an der Zukunft. Da war also schon einer, der erste, der ihnen nicht lauter Glück auf den Lebensweg wünschte, wie sie es bis jetzt gewohnt waren. Frau Kaß kam aus der Kirche, und man ging zusammen hinaus vor die Stadt, wo die letzten Häuser stehen und als allerletztes das große Haus, über dessen Toreinfahrt man einen Schutzengel aus Zementguß sieht, wie er einem Knaben mit dem Finger den Weg nach oben weist. Darunter der lateinische Spruch: _angeLVs CVstoDiat ConViCtVM_[1] als Chronogramm, eine Kunstform, die gern von der feierlichen Borniertheit gepflegt wird. Buben, die der kleinen Karawane über den Weg liefen, streckten die Zunge heraus und schrien: „Äh, äh! Bouletten! Bouletten!“ Den Spitznamen Bouletten hatten die Konviktsschüler bekommen, weil die Sage ging, daß sie öfter als ihnen lieb war, mit Fleischklößen gefüttert würden, die auf Französisch und somit auch auf Luxemburgisch Bouletten hießen. Der Schutzengel aus Zementguß über dem Tor und sein kleiner Schützling waren mit einem mächtigen violetten Tintenspritzer über und über bekleckst. Ein unentdeckt gebliebener Attentäter hatte ein Fläschchen „Tinte für die elegante Welt“ in einem unbewachten Augenblick dem Engel vor den Leib geworfen, um dem Konvikt einen Schabernack zu spielen. Vor der Einfahrt und bis weit in den Hof der Anstalt hinein hielt allerhand Fuhrwerk, fein und grob. Neben gewöhnlichen Leiterwagen stand der _char à bancs_, über dessen Holzsitz als Pfühl ein Kopfkissen mit weiß und rot kariertem Überzug gebreitet war, und dessen Deichsel ein schweres Ackerpferd mit unförmlich dickem Rumpfe ausfüllte; und der feinere Phaëton des Herrenbauern, der schon dafür sorgt, daß unter seinen Gäulen einer ist, der sich als Kutschpferd sehen lassen kann. Wöllem trottete, die Pfeife im Mundwinkel, den Kittel vorn in einen Wulst gedreht, den er durch den Brustschlitz durchgesteckt hatte, zwischen den Wagen hindurch, besah sich jedes Rad, jeden Huf und jedes Stück Geschirr mit ruhiger Genauigkeit, spuckte aus und ging weiter. Die drei Knaben sogen aus seinem Anblick unbewußte Aufmunterung. Die unwirsche Rede des Ankerwirts, das Schimpfwort der Buben vorhin und das besudelte Schutzengelbild hatten ihrer Überzeugung, daß dies eine allgemein verehrte Stätte der Jugenderziehung sei, einen argen Stoß versetzt, sie spürten etwas wie ein feindliches Regen um die Welt herum, zu der sie nun gehören sollten, und der Anblick eines stillen Kraftmenschen aus dem Kreise, in dem sie bodenständig waren, stellte ihr erschüttertes Selbstvertrauen wieder her. Nur Putty empfand beschämt den Gegensatz zwischen dem derben erdfarbenen Fuhrknecht und einem geputzten jungen Mädchen, das sich eben in der Tür an der Pförtnerloge von ihrem Bruder mit einem schallenden Kuß verabschiedete. Er hörte auch, wie der Bruder mitten in den Schmerz des Abschieds hinein flüsterte: Vergiß nicht meine Schokolade! * * * * * Durch einen langen, hallenden Korridor, an dessen fernem Ende Nonnen und Dienstmägde mit gesenkten Häuptern vorbeihuschten, gingen die sechs Wiesinger, voran das Schneiderhinchen, zum Herrn Direktor, um sich anzumelden. Sie gingen langsam und bedächtig, wie durch eine Kirche. An den Wänden hingen deckenhohe, stark nachgedunkelte Ölbilder in schwarzbraunen Eichenholzrahmen. Nur da und dort ein Fleckchen Himmel, ein verzücktes Gesicht, ein paar hellere Gewandfalten konnte man darauf unterscheiden. „Alles von Raffael!“ sagte das Schneiderhinchen obenhin mit einer allumfassenden Gebärde. „Was stellt es vor?“ fragte Lampesch Fiß. „Es ist eine Himmelfahrt,“ meinte Frau Kaß schüchtern und unsicher, mit den Fingerspitzen der Linken am Mund. Über die Galatreppe in der Mitte des Korridors stiegen sie in den ersten Stock und kamen, immer langsamer und behutsamer auftretend, über einen Teppichläufer in das Vorzimmer des „Alten“. Man kann nicht gerade sagen, „der Alte“ sei im Munde der Konviktoren ein Spitz- oder Spottname für den Direktor gewesen. Die Bezeichnung hatte für sie einen starken Beigeschmack von Angst und Ehrfurcht. Abbé Kleyer war eine kindliche Fanatikerseele in einem langen, sehnigen Athletenkörper. Er besaß gerade jene geistige Überlegenheit, die er brauchte, um kindliche Gemüter zu beherrschen. Auf sie wirkten seine Worte wie Flammen und Dolche. Die Achtung der übrigen Menschen sicherten ihm seine schrankenlose Ehrlichkeit und die aufrichtige Inbrunst, mit der er das kleinste zu adeln trachtete. Es war, als hätte er auf der Straße das Pathos gefunden, alt, abgenutzt und verachtet, und hätte sich mit solch starkem Glauben an dessen Schönheit und Göttlichkeit hineindrapiert, daß die einen ihm direkt die Schönheit glaubten und die andern seinem Wort die fadenscheinige Pracht nicht übelnehmen konnten, da er sie so ganz aufrichtig für königlichen Purpur hielt. In dem kleinen Vorzimmer mußten sie warten. Der Fußboden war sauber gebohnt, vor jedem der sechs Rohrstühle lag eine runde, farbige Strohmatte. Durch die weißen Tüllvorhänge am Fenster sah man die Rücken der steinernen Heiligenbilder, die draußen auf dem Balkongeländer standen. Fenn stieß die Kameraden an und zeigte ihnen auf dem Glacis jenseits des Tales, über dem sich die Anstalt erhebt, eine Abteilung Soldaten, die dort ihren Exerzierplatz hatten. Ab und zu klang gedämpft ein Hörnersignal herein. Nebenan hörte man Stimmen. Eine Frau redete ohne abzusetzen, ein Mann warf ab und zu in den Redefluß den Brocken eines brummenden Wortes, der gleich überschwemmt und ersäuft wurde – bis die Dolch- und Flammenstimme des Direktors einsetzte. Frau Kaß erschrak, Lampert machte voll Anerkennung: „Huitt!“ und das Schneiderhinchen sagte: „Den müßtet ihr mal predigen hören!“ „So, hast du ihn schon gehört?“ fragte der Bauer ungläubig. Das Schneiderhinchen, wegwerfend: „Ei natürlich, wie oft schon!“ Und dann winkte es ab mit einer Gebärde der Spannung: „Horcht!“ Von drinnen kam es deutlich durch die Tür: „Madame, das ist alles dummes Zeug! Glauben Sie mir, das ist Affenliebe. Es wird Ihrem Jungen hier schon nichts passieren. Lassen Sie ihn ruhig da, wir machen aus ihm einen tüchtigen frommen Menschen, alles andere ist Nebensache. Was, kleiner Mann!“ Frau Kaß nickte ihrem Fenn zu: „Siehst du, was habe ich immer gesagt!“ Der Bauer gähnte schläfrig, der Schneider rief Putty mit einem strengen Pst! vom Fenster zurück, wo der Junge den Soldaten zusah. Drinnen wurden Stühle gerückt, die Stimmen näherten sich der Tür. Frau Kaß strich ihr Kleid glatt, der Schneider zupfte an seiner Krawatte, und nur der Bauer bewahrte seine Ruhe und sah mit teilnahmlosen, übernächtigen Quellaugen nach der Tür. Die drei Knaben reihten sich hinter den Erwachsenen auf, von denen jedes instinktiv die Hand nach dem Seinigen ausstreckte, damit nicht etwa eine Verwechslung vorkäme. Wie hypnotisiert starrten alle auf die Türklinke, die sich nervös, quietschend und knarrend hin- und herdrehte, ohne daß vorläufig die Tür sich auftat. Und drinnen redete die durchdringende Stimme des Herrn Direktors immer weiter, die Türklinke quietschte und knarrte dazu im Takt die Begleitung. Fenn fiel es ein, wie manchmal beim Fischen der Schwimmkork seiner Angel wie verrückt zu zucken und zu zappeln angefangen hatte und er in unbändige Aufregung darüber geraten war, was wohl für ein ungeheuerliches Unsichtbares diese komischen Bewegungen hervorriefe. Wie damals auf den Schwimmkork, sah er jetzt auf die knarrende Klinke, und wie damals auf seine Beute, so war er jetzt auf den Mann gespannt, der von nun auf sein Leben entscheidenden Einfluß gewinnen sollte. Dennoch konnte er sich eines Gefühls der Überlegenheit nicht erwehren, des Bewußtseins, daß in dem, womit man ihm würde zu imponieren suchen, auch der Keim einer feierlichen Komik lag. Und plötzlich schien ihm das Spiel der Klinke so närrisch, daß ihm das Lachen herausplatzte, ehe er Zeit hatte, es zu verbeißen. Mutter Kaß erschrak und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Dazu machte sie einen Mund wie die Öffnung eines alten Lederbörschens, durch dessen Saum eine fest zugezogene Schnur geht. Putty und Fritz lachten prustend mit. Und dann ging die Tür auf, und in ihren Rahmen trat eine kleine rundliche Dame, elegant gekleidet, die ihr ebenso rundliches Söhnchen an den Schultern sacht vor sich herschob. Hinter ihr der Herr Gemahl, ein sichtlich wohlhabender Mann mit einer dicken goldenen Uhrkette, den das Ganze erheblich zu langweilen schien. Hinter diesen der Herr Direktor, die vier orgelpfeifenartig aufgebaut. Frau Kaß hätte in den Boden sinken mögen. Sie fühlte zwei stechende graue Augen von ganz oben herunter auf sich gerichtet und neigte das Haupt, als müsse gleich etwas Heftiges, Furchtbares über sie niedergehen. Sie hörte kaum, wie der Herr Direktor die andere Gesellschaft verabschiedete. Die kleine, runde, elegante Dame mußte die Bäuerin antippen, damit sie ihr den Weg zur Türe freigab. Und dann hörte man das verzogene Söhnchen des vornehmen Ehepaares aufschluchzen und sah es im Hinausgehen sich an seine Mutter festklammern. Frau Kaß dachte: Er ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, er ist ein Muttersöhnchen. Wie doch die Reichen ihre Kinder verziehen. Und wie affig er angezogen ist! Da puffte Schneiderhinchen sie in die Seite, und sie sah die hohe, hagere Gestalt des Herrn Direktors dicht vor sich, sah die kleinen, seidenübersponnenen Knöpfe seiner Soutane blinken, sah wie eine von den beiden großen, bei der Schlankheit der Figur merkwürdig feisten, weißen Hände, die eben noch in einer stereotypen Bewegung den seidenen Gürtel hochgezogen hatten, sich ihr zum Willkommgruß hinstreckte. Und als sie aufzublicken wagte, sah sie die stechenden grauen Augen mit freundlichem Blick in die ihren gerichtet und hörte sich liebenswürdig von dem Gefürchteten angeredet. „Madame Kaß, Ihren Mann kenne ich. Kommen Sie herein – bitte, Sie können Ihre Sachen behalten. Herr Lampert, Herr ... wie ist schon der werte Name?“ „Heinen,“ flüsterte beschämt der Schneider. „Ja so, Herr Heinen, bitte. Ei, ei, das ist ja eine ganze Stube voll Wiesinger. Nehmen Sie Platz. Der Fauteuil ist für Sie, Frau Kaß. _Honneur aux dames!_ Die kleinen Männer müssen stehen, das schadet ihnen nichts.“ „Sie stehen gern,“ beeilte sich Herr Heinen entschuldigend einzuwerfen. Herr Direktor Kleyer ließ die Augen prüfend über die neuen Zöglinge gleiten. Mit krausgezogener Stirn, die Lippen zusammengepreßt, daß alles Blut daraus zurückwich, den Unterkiefer krampfhaft vorgeschoben, ein Falzbein aus gelbem Buchsbaum an einen Stirnhöcker gedrückt, betrachtete er sie, als wollte er ihnen seine Blicke wie Pfropfenzieher ins Herz bohren. Putty und Fritz hielten es ein paar Sekunden lang aus und senkten dann errötend die Augen. Auf Fenn schien die Inquisition keinen Eindruck zu machen. Seine Augen begegneten ruhig den andern, die auf ihn zielten, und als ihm der Gedanke kam: Wenn du jetzt weiter so hinsiehst, denkt er, du bist frech – schlug er den Blick nicht nieder, sondern sah höher hinauf, an der schwarzen Gestalt vorbei, an die Wand, wo eine Kohlenzeichnung, das Porträt eines alten Mannes mit knochigem Charakterkopf seine Aufmerksamkeit fesselte. Dann betrachtete er den schönen Gummibaum, der die Fensternische ausfüllte und seine großen, glänzenden Blätter bis unter die Decke hinauf breitete. „Nun lassen Sie mich einmal raten,“ unterbrach der Herr Direktor das Schweigen, als alle Platz genommen hatten. „Also das wäre der junge Lampert. Das sieht man auf den ersten Blick. Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.“ „Meinen Sie?“ sagte der alte Lampert entgegenkommend. „Ich finde nicht. Er hat von mir keinen Zug, er ist ein Majerus. Sie hätten seine Mutter kennen müssen. Sehen Sie sich nur die Hände an!“ Und erlegte eine der milchweißen, sommersprossigen Hände seines Einzigen neben seine blaurote Alkoholikerfaust auf den Tisch des Hauses. „Die Ähnlichkeit kommt erst später heraus,“ sagte Herr Kleyer milde und sachverständig. „Und dies blasse Männchen ist Ihr Studiosus, Herr – Herr Heinen, nicht wahr?“ „Ja,“ bestätigte Schneiderhinchen kleinlaut. „Er ist ein bißchen blaß. Das kommt von der Reise. Aber sonst ist er kerngesund. Wir sind alle so. Schmächtig, aber stark. Ich habe schon mit 16 Jahren ...“ Der Schneider unterbrach seine Rede, als er sah, wie der Lampert verächtlich die Achsel zuckte. „Und wer ist nun der Dritte? Hahaha! Wer mir das rät, kriegt ein Bildchen mit Spitzen!“ lachte der Direktor. Sein Lachen sollte ansteckend wirken. Dabei zückte er sein Falzbein auf Fenn Kaß. Der Junge spürte, wie ihn die Mutter mit der Spitze des Regenschirms ermunternd anstieß und unterdrückte eine unwillige Gegenbewegung. „Du bist wohl mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden?“ meinte Herr Kleyer noch immer wohlwollend, trotzdem Fenn unter seinen Blicken durchaus nicht schmelzen wollte. „Ein kleiner Querkopf, Frau Kaß, wie?“ Frau Kaß sah den Buben an. Sein Ausdruck war lauter Offenheit und Gleichmut, kein Zug in seinem braunen, magern Gesicht, der nicht das schönste innere Gleichgewicht verriet. Höchstens, daß sie in seinen lieben braunen Augen hätte lesen können: Mutter, hier ist es langweilig; mach, daß wir hinauskommen. – Da war ihre Schüchternheit verflogen. „Ach nein, Herr Direktor,“ sagte sie ruhig lächelnd, bestimmt. „Ach nein, er ist nur still. Er ist immer so. Er ist nicht fürs viele Reden.“ „Hm hm“ – meinte Herr Kleyer und machte wieder seine prüfenden Augen und seine gekniffene Grimasse von vorhin. „Stille Wasser, Frau Kaß, das kennen wir. Aber hier laufen sie sich die Hörner ab, hier lernen sie sich in alles fügen. Jawohl, mein Junge –“, als ihm Fenn offen ins Gesicht blickte – „setz du nur deine trotzigste Miene auf, hier muß der Bruder Esel Order parieren. Gelt, Madame, da machen Sie Augen. Der Bruder Esel, sehen Sie, das ist der Leib, der infamigte Leib, der aus Kot geknetet ist, der immer danach trachtet, die Seele in den Kot zu ziehen, aus dem er hervorgegangen ist. Den nenn ich den Bruder Esel, und wenn der nicht pariert, muß er Prügel haben. Bildlich meine ich natürlich, bildlich.“ Frau Kaß sagte darauf nichts. Sie verstand zwar den Zusammenhang nicht, aber da Fenn zu den Trompetentönen der Kleyerschen Rede zufrieden lächelte, machte sie sich auch weiter keine Sorgen und sagte nichts. Sie ließ auch ruhig, die Hände im Schoß gefaltet, die Rede an sich niederrauschen, die der Herr Direktor weiter über seine Zuhörer ausgoß. Er sprach darin schwungvoll von dem begüterten Bauernstand, dessen Söhne Advokaten, Ärzte, Ingenieure werden und im Leben als furchtlose Bekenner die Fahne ihres Glaubens hochhalten sollen, von den bescheidenen Landfamilien, die ihre Söhne dem Herrn als Diener am Altare widmen, von der besondern Gnade, die der Herr an diese Familien verschwendet, die sozusagen der Wurzelstock des Priestertums seien. Hier hielt es Schneiderhinchen für angebracht, seine Ansicht über den „Beruf“ kundzugeben. Sie deckte sich einigermaßen mit der des Küsters Kaß. „Der Beruf,“ sagte er, „ist Schwindel! Da steht unser Bub. Er soll Geistlicher werden, oder ich schlage ihm alle Knochen kaputt! Er braucht bloß an Vater und Mutter zu denken, dann kriegt er den Beruf!“ „Aber Heinen,“ sagte Frau Kaß, „laßt doch den Herrn Direktor reden!“ „Und ich sage, wenn der Bub nicht Geistlicher wird, soll er meinetwegen Strohdecker werden!“ Strohdecker war das brotloseste Handwerk, das sich das Schneiderhinchen vorstellen konnte. „Der liebe Gott wird alles schon zum Besten fügen,“ beschwichtigte Herr Kleyer den aufgeregten Schneider. Und dann fuhr er in seiner Rede fort. Er sprach von der moralischen Verderbnis, die draußen in der Stadt auf die Jugend lauere, und von dem sichern Hort der Unschuld, der hier, in diesem frommen, stillen Hause ihr bereitet sei, unter der Hut des Schutzengels, dessen Bild sie ja über der Toreinfahrt als Symbol gesehen hätten. „Der mit dem blauen Tintenfleck?“ fragte Lampert arglos. Hei, da brach es aber los. Ein heiliges Donnerwetter gegen diese Lausbuben, diese Höllenhunde von draußen, die ihm seine Zöglinge verhetzten, sein Haus verleumdeten, die Früchtchen, die Unzüchtigen, die in Leib und Seele hinein Verfaulten, die Freimaurerbrut, die der Satan gegen die heilige Stätte der Tugend losgelassen hatte. Dem armen Lampert war zumut, wie einem, der aus Versehen eine kalte Dusche über sich aufgedreht hat. Er stammelte mit braunrotem Gesicht heisere Entschuldigungen, aber der andere wetterte weiter, bis er sich seinen frommen Zorn vom Leibe geredet hatte. „So,“ schloß er, „nun wissen Sie, woher der blaue Fleck an unserm heiligen Schutzengel rührt. Der Fleck wird vergehen“ – und seine Worte züngelten wieder flammengleich – „den wird der Himmel fortwaschen, jaaah! der Himmel, aber den Fleck in der Seele jenes Schandbuben, den wird in alle Ewigkeit das höllische Feuer nicht wegbrennen!“ Fenn dachte: Warum er nur auf uns so einschreit! Wir können nichts dafür! Und übrigens, wegen so ’nem dummen Fleck! Putty stand mit schlotternden Knien, der alte Lampert erhob sich schwerfällig und sagte: „Komm, Fritz.“ Aber schon glänzte wieder auf dem Antlitz des Herrn Direktors der Sonnenschein der ausgesuchtesten Liebenswürdigkeit. „Nichts für ungut, Herr Lampert. Sie haben es hoffentlich nicht für Sich genommen. Und gelt, kleiner Mann, solche schlechten Kerle werden wir nicht, nein, wir werden brave, tüchtige Konviktoren! Jawohl!“ Und dabei drückte er Fritzens Kopf zärtlich gegen seinen Magen und faßte Putty liebkosend unters Kinn. Als er aber mit derselben väterlich zutraulichen Gebärde nach Fenn Kaß griff, bog dieser den Kopf zur Seite. * * * * * Die Audienz war zu Ende. Im Vorzimmer war es schon wieder voll von neuen Ankömmlingen, die die Zornausbrüche Kleyers mit angehört hatten und nun mit neugierigen und erschrockenen Augen die Entlassenen musterten. Eine Nonne mit einem Gesichtchen wie Milch und Blut zeigte den Wiesingern ihre Plätze in den langen Reihen der Schränke und dem zugehörigen Schlafsaal. Frau Kaß half ihrem Fenn, seine Sachen in den Schrank räumen. Und dann stand sie mit ungeduldigen Händen dabei, wie eine derbe Dienstmagd das Bettzeug auf die kleine, eiserne Bettstelle auflegte. Sie, die an ihren schweren alten Hausrat, an die massiven Monumentalbetten aus Eichen und Nußbaum gewöhnt war, stand dem leichten, wackeligen Eisenstangengerüst einigermaßen mißtrauisch gegenüber. Ob man denn auch in dem Dings da richtig warm würde, fragte sie die Magd. Und dann strich sie zärtlich mit den von schwerer Arbeit verhutzelten Händen über die Steppdecke und das Federbett, das Hauptstück der Ausstattung. Sie hatte beim Einkauf lang überlegt, ob sie den weißen Stoff mit den blauen oder den gelben mit den braunen Blumen wählen sollte. Sie hatte sich für gelb mit braun entschieden, weil es weniger schmutzte und vornehmer aussah. Das Blumenmuster war ihr nachgerade so vertraut, daß es ihr schon im Traum erschien. Und sie fand, daß es das schönste war in dem ganzen großen Schlafsaal, wo fortan ihr Fenn seine Nächte zubringen sollte. Andächtig und langsam wandelte sie mit Fenn und dem Nönnchen durch die langen Korridore, die zu den Schlafsälen führten, wo an der Fensterseite in unabsehbarer Zeile die weißen Kippschalen der Waschbecken blinkten und ihnen gegenüber die lange Reihe der Schränke sich hinzog. Frau Kaß hatte ihr weißes Taschentuch in der Hand und unterhielt sich in ihren vornehmsten Ausdrücken mit dem hübschen Nönnchen, das ihr über alle möglichen Punkte der Hausordnung Bescheid sagen mußte. „Hörst du, Ferdinand?“ wandte sie sich von Zeit zu Zeit an ihren Sohn. Und zwischendurch entsetzte sie sich über die Ausgelassenheit einiger Buben, die in toller Jagd sich um die Schrankreihe herumhetzten. „Es sind auch nicht lauter Engel,“ meinte sie zu ihrer Begleiterin. „Ach,“ lächelte die nachsichtig, „die Jungens sind halt so wild, das wächst ihnen später aus.“ Sie kamen auch am Schneiderhinchen vorbei, der mit einer Hausmagd vergebens ein vertraut herablassendes Gespräch anzuknüpfen suchte: Von wo sie denn sei, und ob sie schon lange hier sei und ob es ihr gut gefalle usw. Er sei aus Wiesing, und sie solle auf den Putty ein wenig aufpassen, er sei ein Windhund, und sie solle doch einmal nach Wiesing zur Kirmes kommen. Das Mädchen, das den Mannsleuten, ihrer Pracht und ihren Werken abgeschworen hatte und sich unter der Obhut der Nonnen, die im Konvikt den Haushalt führten, auf das Kloster vorbereitete, witterte allerhand Anzüglichkeiten und antwortete kaum mit ja oder nein. Schneiderhinchen wurde an sich selber irre. So schmählich hatte seine Überredungskunst noch nie versagt. Frau Kaß kam ihm gerade recht. Nun könnten sie ja wieder zusammen gehen, der Lampert sei gewiß auch schon fertig. Die Buben brauchten erst nachmittags anzutreten. Bis dahin gab es in der Stadt Bücher zu kaufen und was an der Ausstattung sonst noch fehlte. Aber Frau Kaß richtete es so ein, daß sie die andern so bald wie möglich zufällig verlor. Auf einer Bank im Park verzehrte sie mit Fenn die Waffeln, das Stück Kalbsbraten und die hartgesottenen Eier, die sie tagsvorher als Wegzehrung in ihr Körbchen gepackt hatte. „So, das ist besser als im Wirtshaus ein teures Kotelett. Und man braucht nichts zu trinken.“ Als Dessert hatte sie ein paar der schönsten Apfel eingepackt. „Iß sie jetzt, ins Konvikt darfst du keine mitnehmen.“ „Ich weiß,“ sagte Fenn. „Aber was meinst du! Der Fritz hat in jedem Paar Strümpfe einen Apfel stecken, und zwischen seinen Hemden alles dick voll Schokolade.“ „Wenn es der Herr Direktor erfährt, ist er imstande und jagt ihn fort.“ „Denkt ja nicht dran,“ sagte Fenn achselzuckend. „Ich kann dir aber keine Schokolade kaufen, wir haben’s nicht dazu!“ „Mutter sei nicht dumm! Was glaubst du, daß ich mir aus Schokolade mache!“ Mutter Kaß stierte eine Weile sorgenvoll vor sich auf die Erde. Dann zog sie ein abgegriffenes Börschen aus der Tasche, öffnete es behutsam, nahm ein Fünfzigpfennigstück heraus und wollte es verstohlen ihrem Fenn in die Hand drücken. Es ging ihrem Mutterherzen nahe, daß sie ihn nun verlassen sollte, ohne ihn auch nur ein ganz klein bißchen verhätschelt zu haben. „Da, du kaufst dir, was du willst.“ Fenn steckte abweisend die Hände in die Taschen und wiederholte: „Mutter, sei nicht dumm. Ich hab, was ich brauche.“ „Gut,“ sagte sie und tat das Geldstück wieder ins Portemonnaie. Dann gingen sie schlendernd miteinander durch den Park und sprachen wieder von zu Haus und von der Zukunft. Aber es wurmte sie doch, daß sie ohne besondern Beweis ihrer Zärtlichkeit von ihm gehen sollte. Sie hatte heute die vielen vornehmen Mütter gesehen, die mit ihren Söhnchen richtig verliebt getan hatten. Gewiß, die hatten ihnen die Taschen mit Süßigkeiten vollgepfropft und würden sie beim Abschied weinend umarmen. Ihr Fenn würde sie wohl für verrückt halten, wenn sie ihm so käme. Und nun erst recht! Nun wollte sie ihm gerade zeigen, daß sie keine Rabenmutter war. In der Großstraße kamen sie an einen Laden, wo allerhand Zuckerzeug im Schaufenster stand. Da zog sie den Widerstrebenden hinein, kaufte eine Tüte voll farbenprächtiger Zuckerplätzchen und stopfte sie ihm in die Tasche. „Doch, ich will. Es ist gegen den Husten.“ „Na, meinetwegen!“ willigte der Bub endlich ein. Er schämte sich vor der Ladenfrau und wollte dem Auftritt ein Ende machen. Sie trafen auch Putty und seinen Vater, und bald darauf die beiden Lamperts. Lampert Vater blickte schon aus weinseligen Augen und wollte den drei Buben ein Glas zum Besten geben, aber Frau Kaß widersetzte sich, wurde am Ende grob und schimpfte die Männer Lumpen. Schließlich einigte man sich dahin, daß Lampert mit dem Schneiderhinchen zusammen einen genehmigen sollte, während Frau Kaß die Knaben ins Konvikt brächte. Am Tor nahm sie von ihnen Abschied. Sie wunderte sich und es durchrann sie mit seltsamer Freude, daß ihr Fenn, der rauhe, unumgängliche barsche Bub, so zärtlich und heiß den Druck ihres Mundes erwidert hatte, als sie ihn, wie er ganz allein noch ein paar Schritte weit mit ihr zurückgegangen war, heimlich an sich gezogen und auf den Mund geküßt hatte. * * * * * Ein älteres Semester aus der Philosophieklasse hatte sich gleich der drei kleinen Wiesinger angenommen und sie hinunter auf die Kegelbahn und an den Rundlauf geleitet. Es war ein gutmütiges Bauernblut, mit roten Wangen, einem kräftigen Gebiß hinter wulstigen Lippen und kurzsichtigen kindlichen Augen. Putty fielen die Worte Kleyers von der rotwangigen, klaräugigen Unschuld ein, die unter diesem Dache wohnen sollte. Und der improvisierte Fuchsmajor, der sie unter seinen Schutz und Schirm genommen hatte, erschien ihm mit seinen Pausbacken und seinen Kinderaugen sofort als eine lebendige Erläuterung zu jenen Worten. Seine lebhafte Phantasie malte sich auch gleich den Gegensatz dazu aus: Das blasse hohläugige Laster, das draußen in Freiheit, in den Straßen der Stadt umging. Der lange Laban, der sie damals vor dem Athenäum so angegrinst hatte, das war gewiß einer von jenen Verdorbenen, der hatte danach ausgesehen: Schlotterig, blaß, geschniegelt und pomadisiert. Durch eine Art Hohlweg, unter einer kleinen Brücke durch, gelangten sie an die Spielplätze. Die Anstalt stand auf früherm Festungsgelände, und von den alten Wällen und Gräben des geschleiften Forts, an dessen Stelle sich der langgestreckte Bau erhob, waren einzelne Überreste noch vorhanden. So lag der Kegelbahn gegenüber ein massiver, bombenfester Block, in dem von den Nonnen und ihren weiblichen Dienstboten eine kleine Stallwirtschaft betrieben wurde. Die ältern Zöglinge stießen sich an und blinzelten einander zu, wenn eine dralle Magd mit hochgeschürztem Rock dort einen Eimer vorbeitrug, und der erste dieser Blicke, den Putty auffing, gab seinem Kinderglauben, daß alle Fleischeslust von dieser Stätte hermetisch abgeschlossen sei, den ersten Stoß. Auf der Kegelbahn war ein lebhafter Betrieb, und die drei Wiesinger waren bald mitten drin. Man konnte merken, wie die soziale Chemie schon gleich hier, am ersten Tag, wo dieses junge Menschenmaterial in derselben Retorte zusammengeschüttet wurde, Gleiches zu Gleichem sonderte. Das bäuerliche Element umstand in dichtem Klumpen die Spieler und jeder wartete ungeduldig seine Reihe ab. Das feinere Porzellan fand an der gewalttätigen Leibesübung nicht mehr Spaß, als gerade nötig war. Einige der Größern hielten heimlich Wetten um ansehnliche – für ihre Verhältnisse ansehnliche – Geldbeträge und gebärdeten sich wie Verschworene; andere standen zusammen und führten Gespräche über Gegenstände, die ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprachen. Das Muttersöhnchen von vormittags war auch dabei. Es hatte offenbar seinen Schmerz vergessen. Es entwickelte eben seine Theorien über die menschliche Gesellschaft. „Die Menschheit besteht,“ so sagte es, „aus Leuten, die sich die Zähne und die Nägel putzen, und solchen, die sich die Zähne und die Nägel nicht putzen. Man erkennt jeden Menschen an seiner Zahnbürste.“ Fenn hatte es gehört und lachte. „Was hat er gesagt?“ fragten die andern. „Die Menschheit besteht aus Leuten, die sich die Nase selber putzen, und solchen, denen andere die Nasen putzen müssen,“ wiederholte Fenn ernsthaft. Es gab ein lautes Hallo um den kleinen Philosophen, besonders, da er in seiner Verlegenheit das Taschentuch zog und sich geräuschvoll schneuzte. „Geschenkt, geschenkt!“ tönte es im Kreis. Der kleine Zahnbürstentheoriker fand, daß Fenn ein dummer, grober Kerl sei. Fenn aber warf eben, ohne mit der Wimper zu zucken, alle Neune, und einen Augenblick lang bestand das ganze verworrene Gemurmel unter den Spielern nur aus der neugierigen Frage: „Wer ist das? Wie heißt er?“ Putty und Fritz erzählten stolz, daß er ein Junge aus ihrem Dorf sei. Und es solle sich nur keiner an ihm vergreifen, er sei stark „wie ein Pferd“. Fenn sah sich inzwischen, ein Liedchen pfeifend, in der Umgebung der Kegelbahn um. Der Rundlauf interessierte ihn. Eben war einer der an langen Tauen schlenkernden Griffe frei geworden. Er sprang hinzu und hatte ihn gerade fest, als über seine Schulter weg eine Hand danach griff. Als er sich umdrehte, sah er in ein Gesicht, bei dessen Anblick Scham und Zorn zugleich in ihm aufstiegen. Es war das weiße, spöttische Gesicht des Grimassenschneiders von damals. Mit einem heftigen Ruck reißt er das Tauende an sich. „Mach keine Geschichten,“ sagt der andere kaltblütig und greift wieder zu, als sei es ganz selbstverständlich, daß ihm der Vorrang gebührt. „Laß los!“ sagt Fenn in sicherm Trotz. „Das glaubst du ja selber nicht“ – gibt der andere höhnisch zurück. Über das braune Gesicht Fenns geht ein Zucken, wie über geschmolzenes Erz in dem Augenblick, wo es zu einer festen Masse erstarrt. So starr ist jetzt dies Knabengesicht. Nur in den Augen brennt jach eine trotzige Stichflamme. „Komm, gib das Seil her, halt das Spiel nicht auf“ – sagt spöttisch wieder der Blasse. Ein paar seiner Kameraden haben sich um die beiden gesammelt. „Das kann gut werden – Oi jeh, der arme Kerl – Theo, tu ihm nichts!“ hört Fenn spöttische Zurufe durcheinander. „Nun zähl’ ich bis drei – wenn du dann nicht losläßt, kannst du was erleben!“ „Das kannst du schon früher“ – gibt Fenn verbissen zurück. „Na, wenn du es so meinst, meinetwegen!“ Der Blasse tritt einen Schritt zurück und stemmt beide Arme hoch, wie um erst noch ihre Kraft zu erproben. Aber Fenn wartet das weitere nicht ab. Er packt ihn in den Achselhöhlen und hebt ihn vom Boden – im nächsten Augenblick sind die beiden Bubenkörper ein Knäuel ineinander geschlungener, gestraffter Gliedmaßen, an dem zwei rote Köpfe mit glühenden Augen abwechselnd sichtbar werden. Theos Kameraden sorgen dafür, daß niemand eingreift: „Laßt nur, er wird schon mit ihm fertig!“ Jetzt wälzt sich der Knäuel am Boden. Fenn ist der Stärkere, der andere ist geschmeidiger. Man hört sie keuchen, man sieht ihnen den Speichel aus dem offenen Mund rinnen. Fenns Beinkleider haben sich hinaufgeschoben, die Zuschauer machen sich über seine grasgrünen Wollstrümpfe lustig. Einer sagt: „Lacht nicht. Seht, was der Kerl für Muskeln hat!“ Die Aufregung wächst. Mit unbändigem Herzklopfen, leichenblaß, stehen die Buben im Kreis um die Kämpfenden – „Theo! Theo!“ springt bald dem einen bald dem andern ein keuchender Zuruf über die Lippen. Und dann rafft Fenn in einem gewaltigen Ruck seine ganze Kraft zusammen, rollt den andern wie ein Paket, wie der Holzhacker eine Faschine, unter sich und kniet ihm keuchend auf die Brust: „Hast du genug?“ „Schlag mich tot, ich ergeb mich nicht!“ Drei oder vier der umstehenden Buben überkommt ein wildes, heulendes Schluchzen. Ihre Glieder zappeln, gehorchen ihnen nicht, es wirft sie mit hysterischem Drang gegen den Feind, der auf einem der ihrigen kniet. Sie fallen über ihn her, eine blindwütige Meute, und er steht voll prächtigen Zornes plötzlich aufrecht da und versucht sie abzuschütteln. Sie fahren ihm nach der Kehle, hängen sich an ihn, ein Faustschlag trifft ihn aufs Auge, einer ins Genick, er haut um sich, schimpfend, mit geiferndem Mund, – sie reißen ihn zu Boden, – heftig ausschlagende Füße, hämmernde Fäuste, geduckte Köpfe, alles ist ein hin- und hergezerrter, zappelnder Haufe. Da geschieht etwas Unerwartetes. Theo ist aufgesprungen und brüllt auf den Haufen ein: „Feiglinge! Feige Hunde!“ und zerrt sie an Armen und Beinen zurück. Sie wissen nicht, wie ihnen geschieht, glotzen ihn verblüfft an, den sie vor Schimpf und Schande retten wollten und der sie dafür feige Hunde schilt. „Seid ihr denn verrückt?“ schreit er sie an. „Das sind doch meine Sachen! Was fällt euch denn ein! Sechs gegen einen!“ Fenn stand abseits und zupfte seine Kleider zurecht. „Du,“ sagte Theo, indem er auf ihn zuging, „du hast mich diesmal untergekriegt, aber es bleibt nicht dabei, glaubst du mir das?“ „Ich glaube dir, daß du ein andermal wieder anfängst. Es ist mir egal. Ich fürchte dich nicht. Du bist stärker, als ich gemeint hatte, aber es ist mir egal, ich fürchte dich nicht. Wenn ich gewollt hätte, ich hätte dir einen Arm oder ein Bein brechen können.“ „Das ist nicht wahr!“ „Doch. Ich hatte dich so daliegen. Wenn ich dich so herumgeworfen hätte, hätte es geknackt, und dein Arm wär kaputt.“ „Wie?“ – Theo überließ sich ihm, halb trotzig noch, halb neugierig, mit schlaffen Gliedern. Fenn machte mit ihm behutsam die Stellung, die er angedeutet hatte. Dann standen sie mitten im Kreis der übrigen Streiter. Theo betupfte mit dem Taschentuch seine blutende Lippe, Fenn zog sich den Hosenbund wieder unter die Weste hinauf und stopfte die breit herausgequollenen Hemdfalten wieder zurecht. Auch die andern besahen sich die Schäden, die sie im Handgemenge erlitten hatten und paßten unbeholfen die Lappen der Rißwunden an Röcken und Hosen zusammen. Da sagte Theo: „Es tut mir leid, daß ich mit dir Händel angefangen habe. Wie heißt du?“ „Fenn Kaß. Und du?“ „Theo Schütz.“ Sie lachten beide plötzlich auf und reichten sich die Hände. So wurden zwei junge Menschen durch grimmige Fehde zu Freunden fürs Leben. * * * * * Dies war nicht das letzte Abenteuer, das Fenn Kaß am ersten Tag eines neuen Lebensabschnittes zu bestehen hatte. Um vier Uhr wurde das Vesperbrot verteilt. Die Zöglinge standen im Refektorium um die langen, schmalen Tische, auf jedem Tisch zwei Henkelkörbe mit dicken Brotschnitten. Nach einem kurzen lateinischen Gebet durfte jeder zulangen. Dann quoll die Schar, jeder mit seinem Stück Brot in der Hand – wenn er nicht vorzog, es in der Tasche zu versorgen und es mit dem Daumen und Zeigefinger herauszubrökeln – lärmend durch die Türen – hinaus auf den großen, luftigen Vorplatz. Theo suchte Fenn auf und fragte, ob sie zusammen spazieren gehen wollten. Ja, nickte Fenn. Allmählich kam ein Gespräch in Fluß. Fenn erzählte Theo, warum er ihn vorhin gleich so energisch angefallen hatte. Theo erinnerte sich der drei verlegenen Buben und lachte: „Also du bist das gewesen! Es darf dich nicht verdrießen, aber ihr habt wirklich zu dumme Gesichter gemacht! Übrigens, damals war ich noch gar nicht im Konvikt. Ich wohnte in der Stadt in einem Hotel; einmal Donnerstags wurden wir unser sechs in einem Wirtshaus in Hesperingen abgefaßt; darauf steckte mich mein Alter hier herein.“ „Bist du nicht gern hier?“ „Eigentlich nein. Aufgehoben ist man ja hier so gut wie draußen, manchmal besser. Aber daß alles über einen Kamm geschoren wird, das ist das Verrückte, siehst du. Wenn dem Direktor einmal einer unter die Finger gerät, der sich nicht ins Dutzend fügt, dann grantet und nörgelt er an ihm herum, bis es einen Krach gibt.“ „Warum haben alle nur so unbändig Angst vor ihm?“ „Ich nicht. Ich habe keine Angst vor ihm. Aber er soll mich in Frieden lassen. Ich bin nicht schlecht.“ Sie gingen oben am Rand, wo der Spielplatz nach dem Tal zu in einem Rain abfiel, an dessen Fuß eine Einfriedigungsmauer über die schroff abschüssigen Felsen hinlief und den ganzen Platz nach dem Tal zu abschloß. Die beiden Knaben standen oben über der Mauerkrone und hatten den Blick frei über das ganze gegenüberliegende Plateau bis an die sacht ansteigenden Hügel, die den südlichen Horizont begrenzen. „Sieh, das hier ist das beste am ganzen Haus, dieser Platz mit der freien Aussicht,“ sagte Theo. „Zwischen Hofmauern hätte ich es keine acht Tage ausgehalten. So denke ich immer: da liegt die Welt, noch ein halb Dutzend Jährchen, und sie gehört dir. Was willst du werden?“ „Pfarrer.“ „Ist das sicher?“ „Ganz sicher.“ „Wirst du Pfarrer aus dir heraus, ganz aus eigenem Willen?“ „Ja, warum nicht? Es gefällt mir. Wir sind nicht reich, aber ich glaube, ich würde Pfarrer werden, auch wenn ich Geld hätte. Wie ich es meine, ist es sehr schön.“ „Ich werde Ingenieur. Das heißt, sicher weiß ich es noch nicht. Mein Vater hat in Esch ein Geschäft oder allerhand Geschäfte, ich werde nicht klug daraus. Manchmal hat er Geld, manchmal hat er keins. Als er mich ins Konvikt steckte, hatte er keins. Und er behauptete, es sei hier billiger zu leben. Ich laß es mir schon deshalb gefallen. Sonst wäre ich allerdings lieber draußen.“ „Warum ist denn nur der Direktor so sonderbar, gleich so rotglühend?“ Theo suchte seinem neuen Freund die Eigenart des „Alten“ zu erklären, so gut er konnte, so gut ihm seine Knabenpsychologie das Wesen dieses Mannes erschloß. Direktor Kleyer war freilich eine unkomplizierte Natur. Er hatte bis jetzt als Jugendbildner an einer Stelle gewirkt, wo ihm schwerere seelische Rätsel kaum aufgegeben waren. Einfaches, grobschichtiges, homogenes Menschenmaterial war ihm durch die Finger gegangen. Jetzt war das anders geworden. Die Erziehungsanstalt, zu deren Leitung er berufen war, und die als Internat zu dem staatlichen Gymnasium mit Industrieschule ein Privatunternehmen des Bistums bildete, hatte gleich aus dem Lande selbst und aus der Nachbarschaft sich großen Zulaufs zu erfreuen gehabt. Bildeten auch die unverdorbenen, biedern Bauernsöhne des Landes den Stamm der Kundschaft, so beherbergte das Haus besonders damals, in den ersten Jahren seines Bestehens, doch auch ein Sammelsurium von Früchtchen, die nirgends gut getan hatten, und deren Eltern es nun auch einmal mit der neuen Anstalt versuchen wollten. Junge Belgier und Franzosen, zum Teil Söhne von Leuten, die in der aufstrebenden Metallindustrie des Landes vorteilhafte Stellungen innehatten, zum Teil durch die Umwälzung nach dem Krieg aus Frankreich, und besonders Elsaß-Lothringen in die neutralen, zweisprachigen Luxemburger Unterrichtsanstalten verschlagen, brachten aus ihrer Heimat, aus der Sumpfluft der Internate Gepflogenheiten und Laster mit, vor deren bloßem Namen dem guten Kleyer die Haare zu Berg standen. Sein klares Bild von der Knaben- und Jünglingspsyche verwirrte sich. Bald sah er Gespenster, bald witterte er hinter jeder Eigenart, deren Wesen ihm psychologisch unklar blieb, Verstocktheit, raffiniertes Laster, moralische Fäulnis. Der Kampf dagegen nahm in seinem Erziehungssystem bald eine so breite Stelle ein, daß Naturen, die ihre Unbefangenheit gewahrt hatten, durch die Hartnäckigkeit einer falsch adressierten Seelenretterei entweder abgestoßen oder schließlich aus dem moralischen Gleichgewicht gedrängt wurden. Empfindungen und Gedankenreihen, die bei ihnen ruhig schliefen, bis die Natur sie wecken würde, wurden unter dem Vorwand des Lüftens fortwährend aufgescheucht. „Er meint, jeder ist ein Schwein, der nicht den ganzen Tag in der Kapelle hockt und die Augen verdreht“ – schloß Theo seine orientierende Auskunft. Fenn dachte bei sich: „Ich kriege mit ihm keinen Streit. Ich laß ihn reden und tu was ich muß. Im übrigen kann er mir den Buckel hinaufsteigen.“ * * * * * Die Glocke gellte und rief zum Silentium in den gemeinsamen Studiensaal, der im rechten Flügel für die obern, im linken für die untern Klassen eingerichtet war. Fenn bekam einen Platz an der Südwestseite, dicht neben einem Fenster, durch das sein Blick über welliges Gelände bis an die rauchenden Höhenzüge der Erzgegend reichte. Gleich, in der ersten Minute schon, wurde ihm der Platz lieb. Er hörte durch das Fenster das Rollen und Pfeifen der Eisenbahnzüge auf der belgischen und französischen Linie, er sah den weißgrauen Qualm der Lokomotiven über den Wagenreihen wie eine große Raupe hastig durch die Landschaft kriechen, mit spitzem Kopf und zerflatterndem Schwanz, sah abends den Himmel glühen vom Widerschein der Hochöfen, die hinter dem Horizont ihr dröhnendes Dasein führten. Sein Pultnachbar war ein schmächtiger, hoch aufgeschossener blaßbrauner Knabe mit den Augen eines gekochten Fisches, die in frommem Aufblick himmelwärts gerichtet waren. Der Knabe hieß Louis Binz und trug schwarze Pulswärmer. Nachdem Louis Binz seine sieben Sachen ins Pult geräumt hatte, klebte er an die Innenseite seines Pultdeckels ein Bild des hl. Herzens Jesu, ein Bild des hl. Herzens Mariä, ein Bild der Muttergottes von Lourdes und ein Bild seines Schutzpatrons, des hl. Aloysius von Gonzaga. So oft er den Deckel aufhob, sah er eines der Bilder mit verzücktem Augenaufschlag an und lächelte ihm schüchtern zu, wie einem hochgestellten Bekannten. Als Fenn ihn fragte, wie lange das Silentium dauern würde, fuhr Louis Binz zusammen, legte den Finger an die Lippen und in seine Augen trat starres Entsetzen und dann ein milder Vorwurf wegen dieser brutalen Versuchung, die Regel des Hauses zu übertreten. Da kam zum ersten Male über Fenn Kaß das Empfinden, daß er aus goldener Freiheit und schöner, großer, gesunder Natur in blödsinnigen Zwang und verkrüppelnde Unnatur gestoßen war. Er wurde nicht gerührt, es stieg ihm nicht würgend in die Kehle von Heimweh und dergleichen – er biß nur die Zähne zusammen und dachte: „Wenn es sein muß, in Gottes Namen. Es dauert ja nicht ewig.“ Und dann lächelte er schon wieder, denn es fiel ihm ein, daß er ja noch die Zuckerplätzchen seiner Mutter in der Tasche hatte. Das war ja eine noch viel entsetzlichere Sünde wider den Geist des Hauses! Wenn er seinem Nachbar davon anböte! Das Gesicht! Wahrhaftig, er wollte ... In diesem Augenblick flog die Tür auf und in steifleinene Majestät drapiert trat der Herr Direktor in den Saal. Seine Brillengläser funkelten, er hatte die Lippen zusammengekniffen und ließ seine Augen über die Köpfe der mäuschenstillen Zöglinge blitzen. Fast unheilverkündend stand er da. Aber nur auf das Überwältigende des ersten Eindruckes kam es ihm an. Nachdem er die Überzeugung gewonnen hatte, daß alles überwältigt war, wechselte er leise ein paar Worte mit dem die Aufsicht führenden Philosophieschüler, dem sogenannten Präfekten, und stieg in das hohe Katheder von Pitchpine hinauf. Vom Katheder herunter schlug Kleyer seinen geliebten Zöglingen eine eindringliche Rede über das Jämmerliche und Verderbliche der Menschenfurcht mit großer Heftigkeit um die Ohren. Seines Christenglaubens und seiner Eigenschaft als Zögling des Konvikts schäme sich nur eine Memme! Wie das klang! Eine Memme! Hundert Knabenherzen zitterten bei dem Gedanken, daß man sie für eine solche Memme halten könnte. Dann folgte eine vogelperspektivische Erklärung dessen, was man unter dem Geist des Hauses zu verstehen hatte. Wer den Geist des Hauses hatte, der konnte nicht verloren gehen in Zeit und Ewigkeit. Wer aber den Geist des Hauses nicht hatte, der, ja, der, geliebte Zöglinge, der war dem Dämon der sittlichen Verderbtheit verfallen! Überall die gleißende Vision dieses Dämons, auf die sich die Phantasie dieses asketischen Priesters mit geifernder Wut stürzte, auf die er mit geballten Fäusten losschlug, auf der er schäumenden Mundes herumtrampelte. Verderbt, wer sich gegen die Hausregel verging, verderbt, wer redete, wo das Reden verboten war, verderbt, wer die Hände in die Taschen steckte, verderbt, wer naschte, verderbt, wer über das Essen die Nase rümpfte, – sittliche Verderbtheit war der innerste Kern aller Auflehnung gegen den Geist des Hauses. „Und nun, geliebte Zöglinge, will ich euch zum Schluß eine Geschichte erzählen. Daraus sollt ihr lernen, wie ein echter Konviktorist der Versuchung widersteht. Einer von euch hat in herrlicher Weise heute das Böse in sich überwunden. Seine Mutter, eine schlichte Frau, die es leider nicht besser wußte, ließ sich vom Dämon der Sinnlichkeit locken, ihr eigen Kind in Versuchung zu führen!“ Fenn bemerkte, wie Louis Binz auf seinem Sitz unruhig hin- und herrutschte, um so unruhiger, je weiter die Geschichte gedieh. „Der Dämon der Sinnlichkeit, geliebte Zöglinge, hatte dieser durch eine falsche Liebe und Zärtlichkeit verblendeten Mutter eingegeben, ihrem Sohne zum Abschied eine Tüte Schokoladenplätzchen zu schenken. Eine Tüte mit Schokoladenplätzchen!“ Herr Kleyer rief es mit komischer Feierlichkeit, als hätte er mit spitzen Fingern die Tüte gefaßt und hielte sie seinen geliebten Zöglingen als einen Gegenstand des Abscheus vor die Augen, ehe er sie mit einer Gebärde unsäglichen Ekels in die Gosse schleuderte. „Eine Tüte Schokoladenplätzchen! Was tat der Sohn? Als ihm die Mutter heimlich die Tüte zuzustecken versuchte, wallte heilige Entrüstung in ihm auf und er sagte blitzenden Auges zu seiner Mutter: Mutter, schämt Ihr Euch nicht, Euer eigenes Kind in Versuchung zu führen! Da gingen der guten Frau die Augen furchtbar auf, sie sah das Verwerfliche ihres Beginnens ein, sie drehte sich weinend um und schlich hinaus, mit ihrer Tüte Schokoladenplätzchen im Korb!“ An der Stelle, wo Louis Binz mit Fenn Kaß an einem Pult zusammen saß, war gegen den Schluß dieser erbaulichen Geschichte Unruhe entstanden. Der Herr Direktor wurde aufmerksam, und als die Unruhe zunahm und immer mehr Köpfe sich den beiden Pultnachbarn zuwandten, fuhr er mit einer gellenden Frage drein: „Was gibt’s dahinten? Wer treibt da Unfug?“ Louis Binz war aufgestanden. „Binz! Was ist los?“ Der blaßbraune Knabe mit den schwarzen Pulswärmern wagte weder die Augen zu erheben noch den Mund aufzutun. Er zeigte immer nur mit entsetzten Mienen auf Fenn Kaß. „Also du, der andere, wie heißt du?“ „Kaß.“ „Nun, heraus damit! Was ist los?“ Fenn Kaß räusperte sich und erklärte in die lautlose Stille hinein: „Der Binz hat gesagt, er ist es gewesen, der zu seiner Mutter gesagt hat, sie solle sich schämen!“ „Weiter?“ „Und da habe ich zu ihm gesagt ...“ „Nun?“ „Er ist ein gemeiner Kerl!“ Ein erlösendes Gelächter brach von allen Pulten los, sofort übertönt von der Stimme des Alten. „Kaß! Heraus! In die Ecke! Schandbube!“ Fenn Kaß zuckte die Achseln. Er sah, mehr verwundert, als erschrocken, wie die hagere Gestalt des Direktors in dem Pitchpine-Katheder emporschnellte, mit Riesenschritten auf ihn zustapfte – wie hundert blasse Gesichter mit entsetzten Mienen auf ihn gerichtet waren – seine Gedanken überschlugen sich, in drei Sekunden hatte er überlegt: „Wenn er dich haut, fängst du den Schlag mit dem rechten Ellenbogen auf – bis Wiesing gehst du drei Stunden, es ist eben sechs, um neun bist du da, du schläfst beim Pichert und gehst morgen nach Haus – Brauns Marjänni wird die Hände überm Kopf zusammenschlagen – der Vater wird schimpfen, aber die Mutter ...“ Da stand der Direktor vor ihm. Er spürte seine Hand schwer auf seiner Schulter und litt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne sich zu beugen, trotzig gegen den Druck gestemmt, stolz, daß er ihn ohne nachzugeben trug. Als sich aber dieselbe Hand um seinen Oberarm krallte, machte er sich los durch einen heftigen Ruck. „Du gottverlassenes Subjekt! Hinaus!“ Die gellende Stimme kippte auf der höchsten Stufe um. „Hinaus!“ Fenn dachte, wie seine Mutter mit ihm im Park auf der Bank gesessen, wie sie ihm den Fünfziger zustecken wollte, wie er sich gegen ihre Zuckerplätzchen gesträubt hatte. Es schien ihm ungeheuerlich, daß er sie mit tugendstolzem Verweis hätte anfahren, daß sie sich weinend mit ihrem Körbchen zum Gehen hätte wenden sollen – so unausdenkbar schien ihm das, so wider die Natur, daß er nur den einen Drang verspürte: Fort! Heim! Fort von den Menschen, die so Ungeheuerliches als Tugend von dir fordern! Und im krampfhaften Selbsterhaltungstrieb seiner Seele packte er aus dem Pult seine kaum verstauten Siebensachen zusammen und ging hinaus. Der Direktor keuchte hinter ihm drein. Und schwer atmend saßen die Schüler, wie im Theater die Zuschauer, wenn nach einem guten Aktschluß der Vorhang gefallen ist. Fritz Lampert sagte zu seinem Pultnachbar, dem kleinen Zahnbürstenmann: „Der ist keine Bangbüx, was?“ „Der Alte haut ihn eklig durch, paß auf!“ sagte der Kleine, halb schaudernd, halb schadenfroh. „Wetten, daß nicht?“ erwiderte Fritz. Und im weitern Verlauf des leise geflüsterten Gesprächs vertraute der Kleine Fritz an, daß er Unmengen von Schokoladenpralinés und kandierten Nüssen und sonstigen teuren Bonbons in seiner Wäsche verborgen habe, wogegen Fritz mit seinen Äpfeln und seiner Schokolade nicht aufkam. Auf Heine Putty hatte der Vorgang gewirkt, als wäre ein Blitzschlag vor seinen Füßen in den Boden gefahren. Soviel Mut, um einem Allgewaltigen, wie dem Direktor die Zähne zu zeigen, gab es ja gar nicht! Er malte sich gräßliche Dinge aus, die nun mit Fenn Kaß geschehen würden. Er sah ihn auf den Knien, händeringend, auf dem Boden sich wälzend vor dem Donnergott Kleyer, sah ihn mit Schimpf und Schande aus dem Haus gejagt, sah ganz Wiesing wegen solchen Abenteuers in Aufruhr. Von alledem ereignete sich gar nichts. Abends erschien Fenn Kaß, als ob nichts geschehen wäre, beim gemeinschaftlichen Abendessen und wandelte nach Tisch, während die andern im Korridor sich jagten, mit Theo Schütz den langen Gang auf und ab. „Er hat gemeint, ich merke nicht, wie ihm nur daran gelegen war, daß er vor den Jungens mich unterkriegt. Nachher war er gut zu mir. Ich habe ihm gesagt, wenn ich meiner Mutter so gekommen wäre, wie der Louis Binz, dann hätte sie mir eine kräftige heruntergehauen. Er sagte: Ja, unser Herrgott hat allerlei Kostgänger. Ich müßte mich abschleifen, ich sei ein trotziger Mensch ...“ „Du mußt den Bruder Esel bändigen!“ „Natürlich. Mein Bruder Esel ist ganz besonders starrnackig, hat er gesagt, aber er will mir dabei helfen; ich habe wohl gemerkt, er hatte es drauf angelegt, daß ich gerührt würde. Aber ich habe mir das Lachen verbeißen müssen.“ „Ja, wenn er so auf einen losredet, dann wird er wirklich selber warm. Weißt du, er ist im Grunde ein guter Kerl, nur daß er manchmal zu arg daneben haut.“ Die Glocke gellte. Es war Schlafenszeit. Fenn Kaß ging an diesem Abend zu Bett mit einem großen, sichern Gefühl der Beruhigung. Er war sich in seinem Knabeninstinkt bewußt: Du bist in der richtigen Bahn, du hast zu Menschen und Dingen das Verhältnis gewonnen, das dir Lebensbedingung ist, du hast dich durchgesetzt. Drittes Kapitel Wie wenn aus stillen Wiesen- und Ackergründen sich geheimnisvolle Berge heben und die Menschen, die an die Ebene gewöhnt sind, sich in ihre Täler und Schluchten hineinwagen – so war es im Leben der drei Wiesinger Knaben gewesen, als das neue Dasein, das schon seit Jahr und Tag mit unbestimmten Umrissen am Horizont ihrer Erwartungen gestanden hatte, sie jetzt umfing. Und das Neue, das sie in ihre Entwicklung, in ihr geistiges und leibliches Werden hinein verarbeiten mußten, meisterte sie oder wurde von ihnen gemeistert, je nachdem sie über ihm standen oder es über sie hinwegging. Zu Hause waren sie vom Säuglingsalter an in ihr Verhältnis zu den Dingen und Menschen hineingewachsen und sich nie bewußt geworden, daß es anders sein könnte. Jegliches war an seinem Platz gewesen in ihrem ruhigen Hinleben, und nun geschah es auf einmal, daß wieder jeder die Ellenbogen rühren mußte, bis er da stand, wo er hingehörte. Feindschaften und Freundschaften, Zu- und Abneigungen sind zwischen Dorfkindern wie etwas, mit dem sie zur Welt gekommen sind. So ein Dorfjunge trägt den ruhigen, stetigen Haß, der zwischen ihm und einem andern ist, wie er seine Nase im Gesicht trägt und wünscht und denkt nicht, daß sie anders oder etwa gar nicht da wäre. Wem seine Gespielen besonders aufsässig sind, der nimmt es hin, wie einen Höcker oder ein krummes Bein, das ihm die Natur mit auf den Lebensweg gegeben hat. Dergleichen ist nicht, als ob es geworden, sondern als ob es immer dagewesen wäre. Soll aber so ein junges Menschenkind sich plötzlich mit Kopf und Herz in hundert andere, fremde Köpfe und Herzen schicken, neben denen es nicht herangewachsen ist, dann stößt es sich an allen Ecken und Kanten. Am heftigsten von den dreien fand sich der weichherzige Heine Putty aus seiner Bahn geschleudert. Er litt die ersten Tage unsäglich unter dem, was er bei seinen Mitschülern als Hochmut, als Roheit und als Stumpfsinn empfand, und was doch weiter nichts war, als der Hochmut, die Roheit und der Stumpfsinn, die schon in seinen Dorfgespielen als die undifferenzierten Keime späterer Entwicklungen vorhanden gewesen waren. Nur daß sie ihm jetzt als etwas Neues lebendig entgegentraten, auf das er seinen empfindlichen Seelenapparat erst einstellen mußte. Fritz Lampert fand sich rascher und schmerzloser mit seiner neuen Umwelt ab. Seine Protzennatur feite ihn gegen alle grüblerischen Zweifel an seiner Überlegenheit, und in dem kleinen Kreise, in dem er sich bald heimisch zu machen wußte, war er, gerade wie zu Hause, das reiche, verwöhnte Bauernsöhnchen, das sein Taschengeld vernaschte und dem beständig von den heimlich gelutschten Süßigkeiten eine braune Kruste in den Mundwinkeln saß. Fenn Kaß freilich hatte gleich vom ersten Tage an durch seine beiden Abenteuer sich eine Art Ausnahmestellung gesichert, die ihm das Hineinfinden in die neue Ordnung bedeutend erleichterte. Der „Alte“ hatte vor ihm Respekt bekommen, wenn er sich auch mit der felsenfesten Absicht trug, diesen trotzigen Willen doch noch einmal auf feierliche Weise vor allem Volke zu brechen und diesem verflixten klobigen Kerl von Küsterssohn den Teufel Hochmut auszutreiben. Für die Kameraden war Fenn Kaß mit dem Nimbus des Charakters umkleidet. Nichts imponierte ihnen so, als wenn es von jemand hieß, er sei ein Charakter; denn sie standen in dem Alter, wo in den Knaben das Seelenmetall sich zu härten beginnen muß, soll daraus der Stahl werden, der dem Leben auf Stich und Hieb standhält. Und darum empfanden sie instinktiv den Wert dessen, der schon jetzt auf Stich und Hieb so stählernen Klang zurückgab. Die erste Zeit freilich, da wurde es allen dreien hart. Da lernten sie zuerst die Sehnsucht kennen. Die letzten Oktoberwochen gingen ins Land. Die drei Wiesinger wußten: jetzt zieht daheim der brenzliche Geruch der Kartoffelfeuer über Stoppeln und Wiesen; jetzt haben die Kameraden ein Leben voller Freiheit. Sie brauchen nicht mehr in die Schule. Sie spielen in den weiten Weidegründen Räuber und Gendarm. Wo ein Nußbaum steht, schmeißen sie ihre Prügel nach den paar Nüssen, die der Bauer an den äußersten Zweigen hat hängen lassen. Putty dachte an die wonnigen Abende zu Hause, wenn er seine Schularbeiten geschrieben hatte und, die Ellenbogen aufgestützt, die Daumen in die Ohren gepreßt, den Inhalt des neuen Kalenders verschlang. Fritz träumte davon, wie er beim Einfahren der Kartoffeln sich auf glänzenden Pferderücken herumrekelte, auf den schönsten und feurigsten Pferden des Dorfes, und wie jetzt bald die Kirmeß in Brebach käme, wo der schlanke Fuchs in den Tilbury gespannt wurde und er zum Onkel Majerus kutschieren durfte. Ja, damals war er noch ein Kerl, zu dem die andern aufsahen. Hierin der langweiligen Stadt, da war er ein gewöhnlicher „Wiesenfresser“, dem kein Mensch ansah, daß sein Vater der dickste Bauer in der Gemeinde war und den schönsten Kutschwagen besaß. Und Fenn Kaß? Er ging den Berg seiner neuen Pflichten hinan mit dem stetigen Schritt des treuen Arbeitsgauls, nicht zu langsam und nicht zu rasch. Aber mitten hinein überkam es ihn doch manchmal mit tiefem Sehnen nach allem, was er verlassen hatte. Nach dem schlichten Dasein daheim, nach dem kleinen, ruhigen Kreis, in dem sich für ihn bisher Arbeit und Genießen abgewickelt hatten. Nach seiner Kirche, nach seinen Glocken, nach dem Friedhof mit den Ebereschen, mit Malven und Sonnenblumen über halb eingesunkenen Rasenhügeln und schiefen, grauen Steinkreuzen; nach den kleinen Besorgungen im Pfarrhaus, der freundlichen „Zäre Joffer“ und ihrem Bruder mit den gütig ernsten Augen, dem Père Reining, dem Lehrer Braun – und da wären wir ja auch bei Lehrers Marjänni. Sobald Fenn in seinen Gedanken so weit war, meinte er, jeder müsse ihm ansehen, daß er gerade an so ein dummes Mädel dachte. Er schämte sich, drückte die Fäuste fester an die Schläfen und biß die Zähne grimmiger aufeinander, und wie mit Hammerschlägen trieb er sich die Regeln und Vokabeln in den Kopf hinein. * * * * * Die ersten Ferien kamen. Am Abend vor Weihnachten gingen die drei Wiesinger zu Fuß nach Hause. Und zum ersten Male erlebte es Fenn Kaß, wie einem das Vaterhaus so klein wird, sobald man es einmal verlassen und einmal eine Zeitlang zwischen weitern Wänden und unter einem höhern Dach gewohnt hat. Er kam sich vor, als sei er vom heimatlichen Ufer abgetrieben, und alles, alles sei zurück- und in sich zusammengesunken, bis es so klein geworden war, wie die Ferne alle Dinge macht. Auf den Weihnachtstag waren die drei jungen Studiosen beim Pfarrer Reining zu Mittag geladen. Nach dem ersten Glas Wein erzählte Putty mit glänzenden Augen von ihrem Leben im Konvikt; wie sie schon für nächstens eine Theateraufführung vorbereiteten, wie er darin einen vornehmen Pagen und Fritz einen Reitersmann mit Stiefeln und Sporen darzustellen habe. Ob denn der Fenn nicht auch dabei sei? fragte Fräulein Gretchen. Nein, der Fenn hatte wohl daran keinen Spaß, es war auch niemandem eingefallen, ihn zu fragen. Über Pfarrer Reinings weißes Gelehrtengesicht ging ein feines Lächeln. Er nickte und meinte: „Ja, der Fenn lernt das Komödienspielen nicht. Der ist von einer andern Sorte.“ Am Nachmittag machten alle drei zusammen einen Besuch bei Lehrers. Herr Braun interessierte sich für die Methoden seiner Oberkollegen aus der Stadt, und Marjänni hörte altklug zu, wie es die Jungens jeder in seiner Art zu erklären suchten und wie doch immer Fenn mit ein paar Worten das Wesentliche zu treffen schien. Putty war einigermaßen enttäuscht, daß die Gespielin nicht stärker von der Rückkehr der drei überwältigt war. Sie tat, als stünde sie etwas durchaus Selbstverständlichem gegenüber. Fritz brachte eine Schachtel Schokoladenpralinés mit, die er selbst schon halb ausgenascht hatte. Er schickte beim Überreichen seiner Gabe voraus, daß die mit brauner Füllung die besten seien, und er bestand darauf, daß Marjänni in seiner Gegenwart von jeder Sorte eines kostete, während sie in ihrer vorsorglichen Hausfrauenart am liebsten die ganze Schachtel aufgehoben hätte. Für Putty und Fritz waren die paar Ferientage voller festlichen Sonnenscheins. Der Schneider kam aus dem Stolz und der Rührung über „seinen Studenten“ nicht heraus und erzählte im Wirtshaus dramatische Geschichten über Puttys Erfolge: Wie er als einziger der ganzen Klasse einmal zu sagen wußte, wer Peru entdeckt hatte. Peru, Peru! Ihr Dickköpfe wißt nicht einmal, ob Peru eine Stadt ist oder ein Purgiermittel! Von Mutter und Schwestern wurde Putty auf Händen getragen und behandelt wie ein seltener Besuch, dem man alles zu lieb tun müsse. Er mußte sich mit ihnen in die mollig geheizte Stube setzen und von seinem Luxemburger Leben erzählen, was er in Gegenwart des Vaters nie tat. „Der erzählt noch zuviel, wenn er schon nichts weiß!“ Die Frauen saßen mit offenem Munde, die Hände in die Schürze gewickelt, und Puttys lebendige Erzählkunst war wie etwas, das lau und wohlig an ihnen herunterrann. Das waren die Stunden, nach denen ihn noch lange Jahre ein weiches Sehnen überkam, wenn er wieder in der Stadt sich durch seine Pennälerpflichten hindurchwinden mußte. Fritz Lampert verbrachte den größten Teil seiner Ferientage mit seinem Vater im Wirtshaus und auf der Kegelbahn. Und wenn es auch wieder um einen Taler den Einsatz ging, der alte Lampert legte ihn für Fritz hin und verzog das gedunsene Trinkergesicht ebensowenig, wenn einer der andern den Gewinn einheimste, wie wenn er selber oder Fritz das Spiel gewann. Die beiden Lamperts waren bekannt dafür, daß sie mit niemand, nicht einmal unter sich, halbpart spielten, und bei den Stammgästen der Kegelbahn, die das Spiel als weitverzweigtes Kompagniegeschäft betrieben, waren sie deshalb nur mäßig beliebt. Eines Abends, als der alte Lampert gerade ein paarmal nacheinander ein ziemlich fettes Spiel eingestrichen hatte, mit der nachlässigen Gebärde, mit der er vom Tisch nach dem Pfeifenstopfen die Tabakreste in den Beutel wischte, hörte Fritz, wie ein Bursche zu dem andern sagte: „Er brauchte auch nicht so zu tun, als ob ihm unser Geld Schmierkäse wäre. Er kann’s gebrauchen.“ Als Fritz abends vorm Schlafengehen dem Alten die Worte wiederholte, zuckte der die Achseln, holte aus dem Wandschrank die Flasche mit dem alten Kornschnaps und trank davon zwei Weingläser voll. Dann ging er heiser lachend die Treppe hinauf und keuchte: „Sie können mir alle den Buckel hinaufsteigen.“ Mit Fenn Kaß war es, als ob der Faden seiner alten Gewohnheiten gar nicht abgerissen wäre. Er ging seinem Vater beim Küsteramt an die Hand ganz wie vordem und tat gar nicht dergleichen, als ob er als studierender Mensch auf Ruhe in den Ferien ein verbrieftes Recht hätte. Die Teilung der Arbeit, wie sie früher bestanden hatte, war für Fenn auch in den Ferien maßgebend. Wenn Vater Kaß der erste aus den Federn war und eigenhändig in aller Früh die Betglocke läutete, so lag alles weitere Geläute tagsüber und bis zum späten Abend seinem Sohn ob. Fenn schloß die Kirche auf und zu, Fenn legte dem Herrn Pfarrer das Meßgewand zurecht, Fenn sorgte fürs Kerzenanzünden, für den richtigen Altarschmuck, wie es die Tage nach der Abstufung ihres festlichen Charakters verlangten. Er kannte alle Schmuck-Garnituren auf den Fingern auswendig. Aber am meisten Genugtuung bereitete ihm das Aufziehen der Turmuhr. Das war ein Geschäft, mit dem ihn sein Vater lange nicht hatte betrauen wollen. Es galt als geradezu halsbrechend. Man mußte auf Leitern im Innern des Turmes von einem Absatz zum andern steigen, daß einem beim Hinunterblicken ordentlich schwindelig werden konnte. Oben stand man dann auf einer schmalen Bretterbrücke und mußte mit der Kurbel die schweren Gewichte heraufwinden. Ein Fehltritt, und man stürzte den ganzen Leiterweg wieder hinunter. Das Uhraufziehen war der Frau Küsterin eine Quelle der Sorge und Angst. Immer, wenn einer von ihren Mannsleuten in den Turm steigen mußte, wartete sie mit banger Seele, bis er heil und gesund wieder vor ihr stand. Wie eine Försterfrau um ihren Mann bangt, wenn er auf Wilddiebe lauern geht. Für Fenn aber war es eine der reinsten Freuden, an diese berüchtigte Arbeit die Spannkraft seiner jungen Muskeln und die Abenteuerlust seiner dreizehn Jahre zu setzen. Und dann das Uhrwerk! Das war ihm wie ein lebendiges Tier, dem er in den Brustkasten hineingucken durfte. Er kannte jedes Rad mit Namen, er vermaß sich, den ganzen Krempel auseinanderzuschrauben und wieder einzurichten, ohne ein Rad übrig zu behalten, wie es dem Dorfschmied einst passiert war, als er in der Uhr nach dem Rechten hatte sehen wollen. Fenn Kaß war eine eigene Natur, zu deren Kern die Äußerlichkeiten des Lebens nicht leicht hineindrangen. Die Seele der andern war wie eine Wage, die mit jeder Veränderung der Umwelt aus dem Gleichgewicht kam. Zwischen Kinderstube und Stadtleben schwankte sie hin und her, Jahre lang, bis eine Seite der andern leidlich die Wage hielt. Diesmal gab es bei der Rückkehr aus den Ferien noch einen bedenklichen Ruck, und die ersten Abende konnte man in den Schlafsälen der Jüngsten manch unterdrücktes Schluchzen hören, und unter mancher Wange netzte sich das Kopfkissen von Heimwehtränen. * * * * * Dann ging das Leben im Konvikt seinen Gang, Jahr um Jahr. Fenn Kaß schlug sich redlich durch seine Klassen. Sein Wissen wuchs, wie das Holz der Eiche, Jahresring um Jahresring, dicht und fest und sicher aufeinander, aber das Wissen Puttys war wie weiches Pappelholz, hoch und rasch emporgeschossen, unzuverlässig und untüchtig. Den Lampert hatten sie schon nach dem ersten Jahre hinter sich zurückgelassen. Er geriet immer bedenklicher ins Hintertreffen, und eines Tages wurde er von dem „Alten“ endgültig abgeschüttelt. Das kam so. Fritz war eines Morgens mit den andern zum Weg in die Klasse angetreten. Man war im Anstaltshof rottenweise aufgestellt, unter der Führung eines ältern Semesters, das in der Terminologie des Hauses Präfekt hieß. Der Präfekt, ein derber Öslinger Bauernsproß mit klobigen Nagelschuhen und zu kurzen Beinkleidern, dem die roten Hände wie Hummerscheren aus den Ärmeln hingen, hatte den jungen Lampert, der wieder einmal einen Anzug nach dem neuesten Schnitt trug, ironisch beschnuppert. Fritz hielt es nämlich für fein, sich stets in eine Wolke desjenigen Parfüms zu hüllen, von dem er jeweilig gehört oder gelesen hatte, es sei das feinste. Diesmal war es Verbena. „Der Teufel weiß, wonach der Lampert wieder duftet!“ sagte der Präfekt. Fritz gab eine so unanständige Antwort, daß die ganze Rotte in ein betäubendes Irokesengeheul ausbrach. Der Herr Direktor kam wie mit Siebenmeilenstiefeln über den Platz gestelzt und fragte zornfunkelnd, was los sei. Der Präfekt wiederholte treu die Lampertsche Verbalinjurie, und das Geheul erscholl von neuem. Wie Blitze züngelten die Worte des Alten auf Fritzens Haupt. Der drehte ihm den Rücken und zuckte die Achseln. Die Stimme Kleyers überschlug sich, zischte, fauchte, sprang in spitzem, elastischem Echo von der Hausfront bis über das Tal hinüber. „Freches Individuum! Abbitte leisten! Sofort! Auf der Stelle! Oder hinaus! Hinaus!! Hinaus!!!“ „Jeß Marja!“ sagte Fritz gelassen in diesen Zornesorkan hinein. „Maacht iech net mid! Der krit jo e Schlaag!“ Und er gehe direkt, lieber heute als morgen, und er habe die Boulettenwirtschaft schon ewig satt. Zwischen jeden Satz hinein fuhr wie eine Stahlklinge ein blitzendes „Ruhig! Still! Kein Wort mehr!“ des wutschnaubenden Direktors. Fritz Lampert ging wirklich und mietete sich in der Stadt eine behagliche Bude. Er war die nächste Zeit hindurch der Held des Tages. Und die Wut, die Herr Kleyer an diesem räudigen Schaf nicht hatte auslassen können, kühlte er in kleinen Ausfällen, die er gegen Fenn Kaß richtete. Fenn Kaß, der andere Wiesinger, war ja derselbe Trotzkopf wie sein Dorfgenosse, es bestand zwischen ihnen zweifellos eine heimliche Solidarität, die Fenn büßen mußte. Bald donnerte ihn bei Tisch der Alte an, weil Fenn mit einem Nachbar ein Wort gewechselt hatte, bald gab er ihm in der Kapelle einen Stoß, wenn er beim Knien sich nicht genug zusammennahm, bald ging ein Sturzbach über das Haupt des Sünders nieder, wenn ihn Herr Kleyer mit den Händen in den Taschen erblickte. Fenn ließ alles mit ruhigem Gemüt über sich ergehen. Er wußte: muckte er auf, so gab es zwischen ihm und dem Direktor ein Ringen auf Leben und Tod. Wozu, dachte er, dies Fingerhackeln? Ich laß mich doch nicht zu Brei zermalmen, daß sie nachher aus mir eine neue Masse kneten, wie sie sie brauchen. Ich weiß selbst, was ich tue. In solchen Stunden war es ihm ein Trost, mit Theo Schütz zusammen zu sein. Der war auch einer von den Hartgesottenen, die sich nicht von dem „Alten“ in seinem Erziehungsraptus auf denselben Leisten mit hundert andern wollten schlagen lassen. „Er will einen bloß zerbrechen, damit er die Stücke nach seinem Gustus wieder zusammenleimen kann!“ sagte Theo zu Fenn. „Um mich kümmert er sich weniger, ich bin hier nur geduldet, sie wissen, daß ich später doch meine eigenen Wege gehe. Aber du, du gehörst ihnen mit Haut und Haaren, wenn du später deinen Willen hast, kannst du ihnen allerhand Striche durch allerhand Rechnungen machen. Darum mußt du hinein in die Form.“ „Wenn ich aber doch nicht will? Er kann mir doch nichts vorwerfen; ich tue in allem meine Pflicht, mehr brauche ich nicht.“ Fenn Kaß hatte auch schon mit seinem Vater über sein Verhältnis zu Herrn Kleyer Rat gepflogen. Der war geradeswegs mit ihm zum Pfarrer Reining gegangen. Herr Reining ließ sich von Fenn die Sache auseinanderlegen, nickte still vor sich hin und sagte, er werde sehen, was zu tun sei. Aber hinterher tat er gar nichts und dachte: der Fenn ist ein Goldkerl, der frißt sich durch. * * * * * Auf den Lippen der drei Wiesinger sproßte schon der Flaum der Jünglingsjahre und es war an der Zeit, da die blinde Unbefangenheit ihrer Knabenjahre sich in ahnende Neugier vor den Rätseln des Lebens zu wandeln begann. Fritz Lampert hatte in der derb zufassenden Einfachheit seiner Bauernnatur vor den Toren, die ihn in das Heiligtum neuer Erkenntnisse führen sollten, nicht lange halt gemacht, und es hatte ihn seelisch auch weiter nicht erschüttert, was er auf seinen verbotenen Streifzügen erlebt hatte. Für Putty aber, den er ohne Umschweife eines Tages in seine Eroberungen einweihte, wurde dies zu einem Erlebnis, das ihn in glühende Gedankenorgien hineinpeitschte. Andern Tags predigte Direktor Kleyer in der Kapelle. Es klang dem jungen Heinen in die Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichtes, als er begann: „Geliebte Zöglinge! Hütet euch! Das Laster geht um! Das Laster mit bleichen Hängebacken und bläulich fahlen Säcken unter den Augen. Und wen es vergiftet, und wessen Blicke vordem leuchteten wie Kohlenfeuer im Felsengemäuer, dessen Inneres wird eitel Fäulnis! Und sein Blick wird wie der Sumpf, auf dessen trübem Spiegel das Gift der Tiefe schillert!“ Putty war vernichtet. Ihm schien, als spürte er den Hauch der Fäulnis von sich ausgehen und als seien seine Augen trüb wie Sümpfe. Und während am Abend nach Tisch die Kameraden lärmend durch Hof und Gänge tobten, saß er zerknirscht, in weinender Inbrunst vor dem Altar in der Kapelle und reinigte seine Seele durch Gebet. Aber je mehr er betete, desto grimmiger fielen ihn die Gedanken an, die heimtückischen Gedanken an die sündige Lust. Er erhob hilfeflehend den Blick und sah vor sich ein Stationsbild: die Grablegung. Hunderte Male hatte er es gesehen und betrachtet – jetzt stach ihm zum ersten Male der nackte Arm der Maria Magdalena in die Augen, der durch ihr gelöstes Haar durchschimmerte, und ihr Antlitz nahm plötzlich bekannte Züge an: die schöne Wiesinger Lehrerstochter! Langsam, wie das junge Sonnenlicht von der erwachenden Erde, ergriff das Weib von dieser keimenden Mannheit Besitz. Putty taumelte aus der Kapelle in die Spiele seiner Kameraden hinein. Aber seine Glieder gehorchten ihm nicht. Es war darin wie ein lähmendes Gift, wie man es im Traum spürt, wenn man sich bewegen will und kann nicht los aus der warmen, zähen Umarmung des Schlafes. Seine Kehle war voller Bangigkeit und sein Herz voll eines unendlichen Mitleids mit sich selbst. Wie ein Opferlamm kam er sich vor, ein Märtyrer, der sein Leben durch elterliche Unvernunft, durch stumpfsinnigen Zwang verdorben und verpfuscht sieht. Der Gedanke durchfuhr ihn plötzlich an das Kleid der Entsagung, das er nach Jahren tragen sollte, an die schwarze, geschlechtslose Soutane. Und er bäumte dagegen zähneknirschend auf, wie gegen einen brutalen Eingriff in seine Persönlichkeit. Mitten in der Nacht wachte Fenn Kaß von einem leisen Stoß gegen seine Schulter auf. Er sah dicht vor seinen Augen ein leichenblasses Gesicht, das in dem verstohlen hereindringenden Mondenschein tränennaß glänzte, und erkannte nach ein paar Sekunden Putty. „Was ist denn los?“ fragte er, noch halb schlaftrunken. „Fenn – höre mich an! Es erwürgt mich. Ich kann nicht schlafen, bis ich dir alles gesagt habe.“ „Aber leise, daß nur der Präfekt nichts hört. Kannst du nicht warten, bis morgen?“ „Nein, du siehst ja, es läßt mir keine Ruhe.“ „Was denn? Du bist ja ganz drunter und drüber!“ „Fenn, mit mir ist es aus. Morgen geh’ ich heim und werde Schneiderlehrling.“ „Ach so! Dann kann ich ja weiter schlafen.“ „Lach mich nicht aus, es ist blutiger Ernst. Ich kann nicht mehr Priester werden.“ „Na, da hast du ja noch ein paar Jährchen, bis du dich entscheiden mußt.“ „Nein, ich kann den Gedanken nicht mehr ertragen, daß ihr glaubt, ich will Geistlicher werden.“ „Dir kann es doch egal sein, was die andern glauben.“ „Nein, ich ertrag es nicht. Ich will nicht, daß sie glauben soll, ich – –“ „Sie? Wer, sie?“ „Die Marjänni.“ „Was hat die Marjänni –?“ „Höre mich an, Fenn! Es ist etwas mit mir vorgegangen innerlich ...“ „Na ja! Jetzt weiß ich schon, was kommt. Du hast Weibergeschichten im Kopf. Laß mich damit zufrieden.“ „Nein, Fenn! Du mußt es hören. Ich bitte und beschwöre dich. Es ist keine Frivolität ...“ „Putty, sei kein Frosch. Ich könnte dich ja jetzt beichten lassen, und dann hättest du morgen früh einen Moralischen und würdest dich schämen, daß du dich so vor mir ausgezogen hast! Geh schlafen, und wenn es dich morgen oder übermorgen noch drückt, na, dann kannst du meinetwegen dein Herz in meinen Busen ausschütten.“ „Meinst du, Fenn?“ fragte Putty schon merklich beschwichtigt, „Aber ich versichere dir, es ist furchtbar. Ich war nie in meinem Leben so, – so – –“ „Jawohl! Geh jetzt! Ich will nicht wegen Störung der Nachtruhe bei dem Alten unter den Schlitten kommen.“ Putty schlich lautlos zu seinem Lager zurück, und fünf Minuten später mischten sich seine ruhigen Atemzüge in die seiner Schlafsaalgenossen. Aber statt seiner lag jetzt ein anderer wach. Fenn Kaß. „Was hat denn der mit Brauns Marjänni?“ – so ungefähr gingen seine Gedanken. – „Das wäre noch schöner. Die will ja Lehrerin werden, die ist doch kein Mädchen wie die andern. Und er ist doch auch kein Bub wie die andern. Er ist ja von allen immer durchgehauen worden – selbst von den Mädels. Was gehen denn den jetzt auf einmal die Frauenzimmer an? Er bildet sich das nur ein. Wir denken doch auch an keine Mädels – das ist dummes Zeug – dummes Zeug – die Marjänni lacht ihn aus, wenn sie so was hört – das kommt von seinem dummen Geschichtenlesen – und sein Vater haut ihm die Jacke voll, wenn er nicht Order parieren will – er soll lieber seine Metamorphosen für morgen vorbereiten – das letztemal hat er nichts gewußt – er ist ein Bähschaf – manchmal – ein guter Kerl, aber – ein Bäh – ein Bähschaf. Und die Marjänni, die lacht – die lacht ihn aus – die Marjänni – die Marj – –“ Und dann nahm er ihr Bild mit hinüber in seine Träume. * * * * * Puttys Weltschmerz hielt indes länger vor, als Fenn vorausgesetzt hatte. Am nächsten Tag verkniff er sich noch sein Herzensgeheimnis, aber am zweitnächsten mußte Fenn die ganze Beichte hören: Wie es in seinem Innern plötzlich klar geworden sei, wie er mit einem Male sein ganzes zukünftiges Leben vor sich habe liegen sehen als eine Wüste, die in den Abgrund führte, wie ihm Marjänni gleich einem verklärten Rettungsengel erschienen sei und wie er nun ganz bestimmt wisse, was er zu tun habe. „Na, du kannst es ja mal probieren,“ meinte Fenn Kaß sehr sachlich. „Aber sage vorläufig deinem Vater nichts, das hat immer noch Zeit, wenn du vor der Entscheidung stehst. Bis dahin läuft noch viel Wasser die Mosel hinunter und es gehen dir noch viele Gedanken durch den Kopf. Lern jetzt deinen Ovid, das ist viel gescheiter.“ Putty war nach diesem Gespräch stark ernüchtert. Aber sein früheres Gleichgewicht war ein- für allemal dahin. Zwar das Bild Marjännis wurde blaß und blässer, aber statt dieser einen behielt das Weib schlechthin seine Macht über ihn, und die ganze sehnsüchtige Liebesqual schlug bei ihm in eine butterweiche Sorte von Weltschmerz um. So saß er denn an den Sonntagnachmittagen im Studiensaal und las immer wieder im „Taugenichts“ von Eichendorff. Aus der Ferne knallten und widerhallten die Büchsen der Schützengesellschaft, die in einem alten Festungsgraben ihre Scheiben stehen hatte. Manchmal trug der Wind eine verwehte Wolke von Blechmusik herüber, wenn ein Verein in der Stadt einen Umzug hielt. Alle Geräusche kamen so fernher, so gedämpft, klangen so unsäglich traurig in Puttys Käfig herein, daß er sich vor Unglück und Elend nicht zu lassen wußte. Nebenan, im Garten einer herrschaftlichen Villa, sah er modisch gekleidete Altersgenossen mit schlanken jungen Mädchen Ball spielen, und er bildete sich ein, in die eine davon, die die schlankste war und die schönsten und längsten braunen Zöpfe hatte, sterbensverliebt zu sein. Las er dann von dem armen Taugenichts den Kapitelschluß, wo jener die schöne Frau mit ihrer Begleitung übers Wasser gerudert hat: „Und da warf er sich ins Gras und weinte bitterlich“ – dann legte Putty seinen Kopf auf die Arme und dachte an das weiße schlanke Mädchen von drüben, das von dem Dasein eines gewissen Peter Heinen, genannt Putty, aus Wiesing keine Ahnung hatte, da doch dieser selbe junge Mann sich in Liebe zu ihr verzehrte – und wenn er dann meinte, jetzt hätten vor unsäglichem Elend seine Augen endlich ein wenig Salzwasser gepumpt, dann hatte er noch ein viel größeres Mitleid mit sich selber als mit dem armen Taugenichts. Zu Puttys großem Leidwesen wirkte die Liebe auf ihn jedoch auch stark appetiterregend. Er hatte die Sache einmal ganz und gar romantisch bis ans Ende durchführen wollen, ganz ätherisch, ganz transzendent, und hatte sich mit hungrigem Magen, aber hehren Gefühlen in der Brust am Nachtessen vorbeigefastet. Einmal und nicht wieder. Seinem Freund Fenn durfte er mit solchen erotischen Gewissensqualen nicht mehr kommen, der hatte dafür nicht das leiseste Verständnis. War er dann von einer Predigt des Herrn Direktors bis ins Innerste aufgewühlt und verängstigt, flüchtete er in die Kapelle. Dort sah ihn der fromme Jüngling Louis Binz, der schon einmal dem ganzen Hause als Musterknabe vorgeführt worden war, und dessen Streben seither nach nichts geringerm, als dem Heiligenschein des hl. Aloysius von Gonzaga ging, von dem geschrieben steht, er habe nicht einmal seine Mutter anzusehen gewagt, aus Furcht vor fleischlichen Anfechtungen. Als eines Abends Putty die Kapelle verließ, streckte sich ihm die wächserne Hand dieses Louis Binz mit zwei gereckten Fingern entgegen, die sich eben in das Weihwasserbecken getaucht hatten. Putty näßte seine Fingerspitzen an denen seines Mitschülers und sah dabei in zwei vor innerer Verzückung schwimmende Augen. Im Korridor, wo die andern plaudernd auf und ab gingen, gesellte sich Louis Binz zu Putty. Nach einigen gleichgültigen Redensarten brachte er das Gespräch auf die Wonnen der heimlichen Andachtsstunden in der Kapelle, vor dem Altar, wo in einem roten Glas das Flämmchen der ewigen Ampel glühte. Von dieser Ampel kam seine Phantasie nicht los. Sie war ihm das billige Sinnbild seiner Seele. Und allmählich steckte er Putty mit diesem glutrot und inbrünstig flackernden Mystizismus an. Aber der Schneiderssohn brannte nicht im eigenen Feuer von innen heraus, er war nur von den innern Flammen des andern angeheizt, und seine Seelentemperatur sank, sobald ihn Louis Binz aus seinem Bannkreis entließ. Dann kamen wieder Zeiten, wo er ganz gottverlassen und verzeihungsbedürftig in die Schwüle desselben Umgangs zurück flüchtete. Fenn Kaß schüttelte den Kopf über den neuen Freundschaftsbund. Er selbst empfand gegen Binz den instinktiven Ekel des gesunden Menschen gegen alle Hysterie, zumal seit er gehört hatte, Binz habe einmal insgeheim eine neuntägige Andacht zum heiligen Herzen Jesu gehalten, um seine, Fenns Seele, zu retten. Er lachte darüber, aber es ärgerte ihn doch, daß dieser Flagellant und Fanatiker sich mit ihm in eine gewisse Gedanken- und Gefühlsgemeinschaft hineindrängte. Sein Leben lag vor ihm so klar, wie ein heller Tag, mit Morgen, Mittag und Abend. Jetzt begann er zu empfinden, daß fremde Einflüsse ihm seinen Sonnentag mit ungesunden Nebeln zu trüben suchten. „Sag deinem Binz, er soll mich gefälligst mit seinen Fürbitten beim Himmel verschonen, sonst, wenn ich wieder dergleichen höre, hau ich ihn so gottsjämmerlich durch, daß er genug zu tun hat, wenn er für sich selbst betet!“ Putty empfand erst eine widerstrebende Bewunderung für Fenn, eine Bewunderung, in die sich ein leiser Neid darüber mischte, daß er nicht auch die Kraftnatur war, die dem Leben so frisch-fromm-fröhlich mit geballter Faust gegenüber stand. Sobald aber Fenns Gegenwart nicht mehr auf ihn wirkte, und er wieder dem sanften Zauber des Binzschen Heiligenscheins verfiel, schlug er über die Brutalität seines Freundes ein Kreuz und vereinbarte mit dem andern, daß sie beide einen ganzen Abend lang für die Erleuchtung Fenns in der Kapelle beten wollten. * * * * * Fenn Kaß war bei seinen Mitschülern, von denen es im vorhinein feststand, daß sie den geistlichen Beruf ergreifen wollten, allmählich in den Ruf eines Freidenkers und unsichern Kantonisten gekommen. So zwar, daß ihn eines Tages der Herr Direktor zu sich beschied, um ihn über seine Zukunftspläne gründlich auszuholen. „Du bist ja soweit ein guter Zögling, Kaß, es ist dir im großen ganzen nicht viel vorzuwerfen, aber man wird aus dir nicht klug. Sieh mal die andern, die sich auf das Priesterseminar vorbereiten, denen sieht man die Begeisterung für ihren Beruf förmlich an den Augen an. Fenn Kaß, warum bist du nicht begeistert?“ Es war an derselben Stelle, wo der junge Kaß schon einmal dem Ansturm Kleyers standgehalten hatte, damals am Tage seiner Aufnahme. Auch jetzt schlug er die Blicke nicht nieder, sondern ließ sie emporschweifen, an den Wänden entlang, wo neben Heiligenbildern der knochige Charakterkopf des alten Mannes hing, durch die Zweige des Gummibaumes hindurch, zum Fenster hinaus in den leuchtenden Wolkenhimmel. Das waren ja dieselben weißen Sonnenwolken, die über seine Kindertage hingezogen waren, damals, als noch nichts und niemand seine Seele in starre Formen zu pressen suchte. Gerade zog drüben am südlichen Himmel ein großes, leuchtendes Wolkengebilde vorüber, ein phantastisches Schneegebirge mit blendend weißen Firnen, mit schwindelnden Abgründen und weiten, seligen, jungfräulichen Wüsteneien, ein in klaren Umrissen und schwellender Plastik in den hellen Tag hineingestelltes Traumgesicht. Und Fenn Kaß war davon ganz erfüllt. Der gute Dämon seiner Kinderjahre schlug seine Flügel um ihn, und er fühlte sich so stark wie daheim, wo er wurzelte, daheim, wo er zum Atmen alle Luft der Täler und Hügel und Wälder und Acker hatte, wo er jauchzend das Wachsen seiner Kraft gespürt, überschäumend vom Gefühl des Seins seinen Kameraden vorangestürmt war in Spiel und Streit. Und er tauchte mit stumm inbrünstiger Leidenschaft seine Blicke in all dies Licht und all dies leuchtende Erinnern. Da stand er hoch über der Stubenluft, die ihn jetzt umwitterte, und über den Händen, die nach seinen Flügeln griffen. „Herr Direktor,“ sagte Fenn Kaß ruhig, „was wollen Sie mit mir? Ich gehe meinen Weg und tue meine Pflicht. Was haben Sie mir vorzuwerfen?“ Er sagte es so ernst, so schwer, so selbstsicher, daß das schöne Pathos des Herrn Direktors davon durchlöchert und zerfetzt ward. „Fenn Kaß! Du bist eine verstockte und verbissene Natur, und wenn das nicht anders wird mit dir, so wirst du“ – hier kam der Redner wieder in Schwung, hier lagen ihm wieder seine pädagogischen Donnerkeile zur Hand – „so wirst du untergehen, fallen von Stufe zu Stufe! _Abyssus abyssum invocat! Et finis interitus!_“ Fenn Kaß schüttelte den Kopf und lächelte dazu. „Ach nein, Herr Direktor, lassen Sie mich nur machen. Sie werden sehen, es geht auch ohne Begeisterung.“ „Ich will’s hoffen, Kaß, ich will’s hoffen für dich und für deine armen Eltern, die ihr Letztes dransetzen, um ihren Sohn eines Tages am Altare zu sehen ...“ „Herr Direktor, ich weiß, was ich meinen Eltern schuldig bin,“ versetzte Fenn mit zornigem Unwillen, wandte sich zur Tür und ging hinaus. Er hörte hinter sich die Stimme des „Alten“ gellen: „Kaß! Komm her! Sofort!“ Aber er zuckte die Achseln und ging hinaus. Der Herr Direktor fand schließlich, daß es das klügste sei, ihn laufen zu lassen. Dieser Duckmäuser, dieser hinterhältige Bursche! Der war ihm am Ende wirklich über! Da sollte doch ein heiliges Kreuzgewitter ... Und der Herr Direktor ertappte sich auf der Sünde des Jähzorns, ging in sein Kämmerlein und kniete lange, mit den Händen vorm Gesicht, auf seinem Betschemel und erbetete sich in heißem Flüstern Vergebung für seine Sünde. Viertes Kapitel Draußen suchte Fenn Kaß seinen Freund Theo auf und erzählte ihm, was er wieder einmal mit Kleyer erlebt hatte. „Es ist ja immer die alte Geschichte,“ sagte Theo. „Ich will dir weiter nicht zureden, aber soviel ist sicher: der ‚Alte‘ ist nur deshalb so hinter dir her, weil er in dir den künftigen Priester und Streiter für die heilige Kirche sieht. Sag ihm, daß du Ingenieur werden willst, und er frißt dich auf vor Liebenswürdigkeit.“ Fenn lachte laut auf. „Als ob das so einfach wäre.“ „Wirf es nicht so weit von dir. Du bist ein vortrefflicher Mathematiker, der Professor hält große Stücke auf dich, er wird sicher befürworten, daß du ein Stipendium bekommst. Ich hab schon mit meinem Alten gesprochen – zur Not könnte er ...“ „Geschenkt, geschenkt,“ fiel Fenn energisch ein. „Ich sagte dir schon, mein Lebensplan ist fertig, ich werde Geistlicher. Ich hab es mir reiflich überlegt. Ich gehe nicht in den Beruf hinein, um nur überhaupt unterzukommen, sondern weil ich überzeugt bin, daß einer an dieser Stelle unendlich viel Gutes wirken kann. Gerade für das Materielle. Ich will aus meinem Haus nicht ein schweigendes Heiligtum machen, in dem nur raunende Betschwestern ab- und zugehen. Ich will zu den Leuten hinausgehen mit einem Schatz von Wissen, damit ich ihnen helfen kann, sich das Leben leichter zu machen. Wir sind ja nicht da, um uns wie Blei an sie zu hängen mit Predigten und Ermahnungen, wir sollen sie lehren, wie man ein guter Kerl sein kann und lustig dabei von morgens bis abends. Paß auf, Theo, in meiner Pfarrei sollen sie noch einmal tanzen, und ich stelle ihnen die Musik dazu!“ „Da wirst du schön ankommen!“ „Ich muß und muß Recht behalten! Was sind wir denn heute den Leuten da draußen?“ Fenn redete sich in Eifer und tat, als gehörte er schon zum Bau. „Ein Fremdling! Der Herr! Wenn so eine schwarze Gestalt, ihr Brevier betend, über die Fluren wandelt, wird den Bauern unheimlich, als sei die ganze Gewann in eine Kirche verwandelt, und für sie ist die Kirche ein Ort, in dem man bloß stille sein muß und im Winter sich die Füße abfriert, im Sommer vor Schlaf die Augen nicht offen behält. Der Herr kommt! Ist das nicht ein Schreckensruf, den die Burschen und Mädels draußen bei der Arbeit, die Kinder beim Viehhüten, beim Spielen, beim Baden einander zurufen, als Warnung vor dem Störenfried, von dem man sich keines freundlichen Wortes versieht? Wir haben zu Haus einen Pfarrer, der die Güte selber ist, er hat uns, wo er uns draußen traf, immer die Hand gegeben und freundlich unsern Gruß erwidert. Aber er war uns doch immer der Herr! Der gestrenge Stellvertreter Christi auf Erden, der Vogt Geßler unseres lieben Herrgotts. Ich vergesse es nie, wie einmal ein alter Bauer hinter ihm her knurrte: ‚Der hat gut in den Himmel kommen, er hat weiter nichts zu tun!‘ Da liegt es: Weiter nichts zu tun! Doch, wir haben weiter zu tun, viel weiter zu tun! Das mit dem Latein und mit den Predigten und der Beichte und den Sakramenten, ja, das gehört ja alles dazu; aber wir sind den Leuten mehr schuldig, wahrhaftig!“ Theo sah seinen Freund verwundert und beunruhigt von der Seite an. „Fenn, das sind böse Worte. Wie kannst du mit solchen Anschauungen Priester werden?“ „Wieso?“ fragte Fenn erstaunt zurück. „Nun, ich dächte, wenn man so gleichgültig über den Inhalt eines Glaubens denkt, sollte man nicht sein Leben daran setzen, ihm zu dienen.“ „Ich meine, man kann sehr gläubig sein, ohne beständig den Glauben im Munde zu führen.“ „Und glaubst du denn alles, was sie dich glauben heißen?“ „Theo, jetzt will ich dir mal was sagen. Über glauben und nicht glauben, da zerbrech ich mir nicht den Kopf. Das Richtige tun, darauf kommt es an. Das Glauben, na ja, es gehört ja nun mal in den Bau hinein, und weil ich davon überzeugt bin, daß dieser Bau so wunderbar gefügt ist, wie sonst nichts mehr, was Menschengeist ausgesonnen hat, so bleibe ich eben drin und arbeite an meiner Arbeitsstelle.“ „Also doch Menschengeist, Fenn?“ „Das ist doch durchaus nebensächlich. Grase nicht so nörglerisch an den Rändern des Themas herum. Die Hauptsache ist: da ist ein Ganzes, das sich der Menschheit aufdrängt geradezu. Ich finde, daß man in seinem Rahmen an einer bestimmten Stelle viel mehr Gutes wirken kann, als da bis heute gewirkt wurde, ich will an dieser Stelle stehen und meine Kräfte gebrauchen – also!“ „Also brauchst du noch lange nicht Priester zu werden.“ „Wenn ich aber doch in den Gedanken hineingewachsen bin! Glaubst du, ich sattle auf einen Windstoß hin um? Ein Birnbaum wird doch nicht über Nacht zum Holunderstrauch. Seit ich denken kann, habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, daß ich einmal das geistliche Kleid tragen werde. Kein anderer Stand lockt mich, keiner verheißt mir eine Stätte, an der ich so tief und so weit um mich wirken kann.“ „Doch! Geh mit mir nach Aachen, oder nach Lüttich.“ „Nein, Theo, das ist wieder nichts. Ich weiß, was unsere Ingenieure zu tun haben. Ihr Wirken ist auf Schienen gestellt und geht ewig im Kreise herum.“ „Das hoffe ich nicht. Ich will einmal in Freiheit schaffen und zeigen, was ich kann.“ „Ja, und dann bist du froh, wenn du eine Vertretung für Schmieröle oder Heizungsanlagen findest. Da hinein münden ja schließlich eure Träume von der Eroberung der Welt.“ Theo lachte. „Glaubst du denn, dir wird es einmal anders und besser gehen, und du wirst nicht inmitten deiner Bauern verknöchern und verfilzen?“ „Dafür laß mich sorgen. Ich habe Pläne, sage ich dir, Pläne!“ Und Fenn reckte die Arme gen Himmel, als wollte er die Leitern seiner Hoffnung am Firmament aufhängen. „Und dann, siehst du, dann möchte ich auch den Lebenstraum meiner Mutter erfüllen.“ „Deines Vaters doch auch?“ „Das ist schon was anders. Einem Vater tut man dergleichen nicht zulieb. Man wittert Zwang und geht dagegen an. Aber von der Mutter ist es kein Druck, kein Zwingenwollen, nur ein sehnsüchtiges Wünschen – da fühlt man sich als den Schenker und tut sich was drauf zugut.“ „Siehst du, im Grunde bist du also doch geschoben worden und meintest zu schieben.“ „Nun hör aber auf. Ich habe mit dir schon viel zu lang darüber geredet.“ * * * * * Bei derselben Gelegenheit zog Theo den Freund ins Vertrauen: Er wollte in der Nacht ausbrechen. Im Lokal der Schützengesellschaft war abends ein belgischer Ingenieurverein zu Gast. Bankett, Feuerwerk, bengalische Beleuchtung, Konzert und Ball standen auf dem Programm. Theo hatte von dem Sohn eines Vorstandsmitgliedes eine Einladung bekommen. „Es sind feine Kerle, Hütten- und Bergbauingenieure von Seraing und Lüttich und Charleroi, Direktoren, Betriebsleiter, die Generale des belgischen Arbeitsheeres,“ begeisterte sich Theo. Er war fest entschlossen, hinzugehen. Er wußte schon, wie es anzustellen war. Ins Freie kam er leicht durch irgendein Fenster, eine Leiter hatte er schon ausgekundschaftet; um drei Uhr, wenn noch alles schlief, wollte er auf demselben Wege zurückkommen. „Du riskierst, daß dich der Alte wegjagt,“ warnte Fenn. „Und was hast du davon? Du siehst ein paar Stunden zu, wie sie tanzen und trinken. Was hast du davon?“ „Das lockt mich nicht. Ich will nur die Leute sehen. Ich bin einmal mit meinem Vater nach Lüttich gefahren. Junge, das ging dir stundenlang in einem fort durch Hochöfen und Bergwerke, das sauste und polterte und schwang voller Räder und Hebel, es war wie mitten in einer Schlacht, Feuer, rote nackte Leiber, immer wie im Kampf, immer zugehauen. Darin befehlen dürfen, Junge, das alles im Kopf haben, und dann eines Tages vielleicht sagen können: das und das machen wir jetzt viel einfacher und leichter und besser! Und dann fragen sie dich, wieso denn? Und du sagst, daß du die Sache erfunden hast, eine Maschine, oder etwas in der chemischen Zusammensetzung, was das ganze Verfahren umkrempelt. Darum möchte ich heut abend hin, weil ich die Männer sehen möchte, die das alles machen.“ „Meinetwegen geh. Aber sieh zu, daß du nicht ertappt wirst.“ Fenn stand abends im Schlafsaal heimlich auf, stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank, legte das Gesicht in die Hände und träumte ins Dunkel. Das Fenster ging ins Tal, und er sah von fern den Festsaal der Schützen erleuchtet. Jetzt war Theo dort. Die Grundakkorde der Musik kamen gedämpft durch die Nacht, das helle Ding dort hinten war wie ein Rieseninsekt, das da im Grünen lag und summte. Ab und zu stieg noch eine Rakete zischend auf und ließ in der Höhe ihre heftig leuchtenden Kügelchen in die Nacht fallen. Vom Bahnhof her dröhnte es von manövrierenden Wagenreihen, die Dampfpfeifen klangen wie empörte Schmerzensschreie oder wie leidenschaftliche Jauchzer, oder zogen sich wie lange Klangserpentinen durch das ferne Dunkel. Dann rollten am Horizont die Abendzüge, und leuchtende Rauchmähnen, straff hintenüber geweht, wurden sichtbar und verschwanden, und ihr Aufleuchten war wie ein Flügelschlagen durch das Dunkel. Fenn träumte in die Nacht. Seiner Phantasie drängte sich mählich die Vorstellung einer Welt auf, die bis jetzt nie als Ganzes in seinen innern Gesichtskreis getreten war: Dort drüben die Menschen, von denen Theo so begeistert gesprochen hatte, deren Lebensjahre doppelt zählten gleich Kriegsjahren; die da wirkten, wo alle Kraft und Bewegung ins Riesenhafte gesteigert sein mußte. Und weiter hinaus, rechts, unter dem Widerschein der tausend Lichter, die den Nachthimmel sanft anglühten, der Bahnhof, der Puls eines weit über die Lande kreisenden Stroms von Leben. Fenn fühlte sich eingeschaltet in den kreisenden Strom, der ihn hinaustrug in die Welt, in die schöne, weite Welt, wo die hohen Berge sind und die weiten Seen, wo sich die ewigen Dome in gleitenden Strömen spiegeln, wo die Marmorpaläste versunkener Geschlechter stehen, wo die stolzen Schiffe über die Meere ziehen, wo das Leben uferlos ist. Eine Rakete stieg, ein Walzer begann, und die laue Luft war wieder wie gefärbt von einem leisen, süßen Klingen. Fenn dachte daran, was seine Zukunft sein würde: Eine freudige Pflichterfüllung in der Enge. Tief auf dem Grunde eines Schachtes, in den von oben das Licht und das Geräusch der freien Weiten dringen würde. Aber unwillig schüttelte er die herben Vorstellungen ab, die ihn manchmal anfielen. Er stemmte sich gegen sie mit dem Trotz seiner Bauernseele, die sich aus der Enge ihres Erlebens heraus dennoch mit dem Weltganzen eins fühlte und wußte, daß sie darin an der richtigen Stelle zu wirken berufen war. In der Frühe gab es eine Katastrophe. Louis Binz hatte den heimschleichenden Theo überrascht und angezeigt. Beim Morgengebet in der Kapelle teilte Herr Kleyer den versammelten Zöglingen schaudernd das Furchtbare mit: Daß einer von ihnen heimlich in finsterer Nacht entwichen war, um sich an die Stätte der Ausschweifung und des Lasters zu schleichen. Er mußte hinaus! Hinaus! Hinaus!!! Keine Stunde länger hatte er das Haus mit seiner Gegenwart verpesten dürfen, im Morgengrauen hatte er sein Bündel schnüren müssen! Als es kund wurde, daß Louis Binz der Verräter war, suchte Fenn seinen Landsmann Putty auf und sagte zu ihm: „Wenn du jetzt mit dem Lauskerl noch ein Wort redest, kündige ich dir die Freundschaft!“ Und in seinem Gemüt blieb als Stachel der Gedanke zurück, daß er seinen Lebensweg gemeinsam mit „diesem Lauskerl“ werde wandern müssen. * * * * * Fenns Berufswahl erfuhr gerade um diese Zeit mancherlei Anfechtung. Seine kühle und starke Natur wurde aus sich selbst heraus durch die Frühlingsstürme des Lebens nicht aus dem Gleichgewicht gehoben, aber von außen trat allerlei an ihn heran, was sich fremdkörperartig in sein Denken und Empfinden hineinzwängte. Wenn er später über sich nachdachte und nach den Wurzeln seines stärksten innern Erlebens grub, dann machten wohl seine Gedanken bei jenem Septembertage halt, an dem der erste Stein aus dem hartnäckigen Bau seines Lebensplanes herausgeschlagen wurde. Die schönsten Tage im Jahr brachte für unsere Wiesinger immer der goldene Erntemond. Wenn schimmerndes Spinnweb die Hängematten der Elfen von Grashalm zu Grashalm wob und die kleinen grauen Netze morgens von Tauperlen funkelten, wenn von den Wiesen her das eintönige Singen der Kuhbuben kam, die die Vesperpsalmen langgezogen und schläfrig über die leere Gewann gröhlten, wenn nach all dem ernsten Einscheuern der Feldfrüchte, an denen der Begriff des Notwendigen, des Pflichtmäßigen haftet – wenn nach Heu und Grummet, Hafer und Weizen, Erbsen und Bohnen es jetzt an das angenehmere Ernten des süßen Obstes ging, wenn der straffe Bogen der Arbeit allmählich sich abzuspannen begann und die Menschen langsam sich bewußt wurden, daß sie auch wieder einmal ausruhen und genießen durften, – in diesen Tagen war es für die Wiesinger „Studenten“ eine Wonne, die Felder und die Wälder zu durchstreifen und zu fühlen, wie sie sich auflösten im Zauber ihrer Heimat, wie ihr Wesen in dieser Umwelt restlos aufging gleich einem Körper, der sich in einer Flüssigkeit auflöst, da er in einer andern hart und undurchdringlich bleibt. So waren sie eines Sonntags nachmittags in den Wald gezogen zum Haselnußpflücken, Fenn, Putty, Fritz, Marjänni mit ihren jüngern Geschwistern, die beiden Schneidertöchter, die Leonie und die Justine, die sich, nach ihrer Mutter geartet, schon zu stattlichen Dirnen ausgewachsen hatten und die das Schneiderhinchen nicht mehr durchzuprügeln wagte, seit ihn die älteste einmal wie mit einer unwillkürlichen Bewegung hinterrücks über Stuhl und Tisch geschleudert hatte, als er zu einer Ohrfeige ausholen wollte. Sie hatte ihm liebevoll wieder auf die Beine geholfen und harmlos gefragt, ob er sich nicht wehgetan habe und wie das nur so schnell gekommen sei. Der Schneider hatte sie ein wenig mißtrauisch von der Seite angeblickt, sich den Buckel gerieben und geknurrt, er sei über den Stuhl gestolpert. Von der Stunde an wußte er, daß es mit dem Hauen als Erziehungsmittel bei seinen Mädels endgültig vorbei war. Daß die Leonie ein handfestes Mädchen war, konnte man an selbigem Sonntagnachmittag im Walde bemerken, wenn ihr Herr Fritz Lampert beim Haselnußpflücken in einer Weise behilflich sein wollte, mit der sie nicht einverstanden war. Fritz hatte sich in einen Witz verbissen, der aus einer volkswirtschaftlichen Redensart herübergeholt war und den er großartig fand. Er wollte anhaltend „dem Ackerbau unter die Arme greifen“, aber der Ackerbau ließ sich das nicht gefallen. Eine Zeitlang kam aus der Gegend des Waldes, wo Leonie und Fritz in den Haselhecken streiften, ausgelassenes Gekicher, dann plötzlich ein zorniger Aufschrei des Mädchens – ein klatschender Schall, wie er entsteht, wenn eine hohle Hand mit einer weichen Fläche heftig zusammentrifft – eine Weile Totenstille, und dann begann wieder ein regelrechter und gedeihlicher Betrieb des Nußpflückens, so zwar, daß Fritz und Leonie am Ende die reichste Ernte gehalten hatten. Von der Backpfeife, die zu dieser nutzbringenden Tätigkeit übergeleitet hatte, verlautete kein Wort. Auf der andern Seite hatten sich Putty und Marjänni in die Hände gearbeitet, während Fenn sich der jüngern Justine zugesellt hatte. Er war ganz bei der Sache und machte mit Lachen und Schreien einen Heidenlärm, als er einmal bemerkte, wie Putty zerstreut einen Buchenstrauch nach Nüssen absuchte, während Marjänni erwartungsvoll dabei stand und ihre Schürze aufhielt. Putty schämte sich, Marjänni verhehlte ihm nicht ihren Unwillen darüber, daß er sie vor den andern mitblamiert hatte. So’n Trottel! Eine Buchenstaude für einen Haselnußstrauch zu halten! Putty war zerknirscht, um so zerknirschter, als ihm gerade seine Liebe zu Marjänni den dummen Streich gespielt hatte. Denn wie er so im Wald hinter der jungen Freundin herging, war die schöne, vornehme junge Dame aus der Villa in Luxemburg, war die ganze Taugenichtsstimmung vergessen und weggeweht, und es überkam ihn beim Anblick Marjännis mit aller unheimlichen Kraft der Urtriebe, die um so wacher werden, je näher sich der Mensch der Natur fühlt. Es war wieder die süße Bangigkeit von damals, wo er sich zum ersten Male seiner Mannheit inne geworden war, nur stärker, begehrender, ohne das Sündenbewußtsein, das sein erstes Verlangen nach dem Weib begleitet hatte. So ging er vor sich hin, als blickte und träte er in die Leere eines Abgrunds und als stünde jenseits die Erfüllung aller seiner Sehnsüchte. Darum hatte der arme Kerl nach Haselnüssen an einem Buchenstrauche gesucht. Auf dem Heimweg gab sein Versehen zu allerhand Neckereien Anlaß, derart, daß sich bei Marjänni der Unwille in Mitleid kehrte und sie zuletzt mit blitzenden Augen für ihn Partei ergriff. Das regte Fenn zu noch grausamern Sticheleien an und er brachte das Mädchen damit derart in Harnisch, daß sie auf ihn zulief und ihn mit der linkisch ausholenden Bewegung, die den Frauen eigentümlich ist, zornig auf den Rücken schlug. Er drehte sich blitzschnell um und haschte nach ihrer Hand, sie riß sich los und stürmte davon, im Kreise um die Gruppe der andern und zwischen den einzelnen hindurch, kreischend beflissen, den Griffen des sie auf dem Fuß verfolgenden Fenn sich zu entwinden. Und so entstand ein Knäuel jauchzender, quietschender, schreiender und durcheinander schießender Gestalten, wobei bald ein jedes Partei nahm und sich am Haschen oder Entwinden nach Kräften beteiligte. Da geschah es, daß ein paar erwachsene Burschen, denen die Weinlaune die Grenze zwischen Wohlanstand und Flegelei verrückt hatte, vorbeigingen und dem Spiel eine Weile zusahen. Und dann rief einer, gerade als Fenn die aufkreischende Marjänni am Handgelenk zu fassen bekam, in den Trubel hinein: „Willst du das Mädel loslassen! Was gehen dich Pfaffenlehrling die Mädel an!“ Und ein zweiter warf eine Unflätigkeit dazwischen, bei der Fenn das Blut in die Stirn schoß. Jeder andere Anwurf hätte ihn sofort zur Entgegnung gereizt und ihm die Fäuste geballt. So war er wie vor den Kopf geschlagen. Das rohe Gelächter der Burschen, die sich unter dem gellenden Geschimpf der beiden Schneiderstöchter ihres Weges trollten, ohrfeigte ihn förmlich, und es war in ihm keine einzige Zorneswallung, er kam sich vor wie ein Ausgestoßener, aus dem Kreis der Vollmenschen verbannt, ein freiwilliger Krüppel. Er brauchte seinen ganzen Trotz, sein ganzes geradliniges, klares Empfinden, seine ganze kühlgesunde Natur, um über diesen Augenblick, der auf ihn wie eine häßliche Offenbarung gewirkt hatte, hinwegzukommen. Fester als je klammerte er sich an das Bild, das er sich von seiner Zukunft zurecht gemacht hatte, und als er sich wieder ganz beruhigt hatte, als er über seinen Kleinmut und seine Verstimmung wieder zu lächeln vermochte, da ging er zu seinem Freund Pichert und erzählte ihm das Geschehnis. Der alte Pichert hieb auf sein Sohlleder los, daß ihm die Brille von der Nase kutschte, und brummte etwas von Schweinehunden und dreckigen Lümmeln vor sich hin. Dann sah er Fenn forschend über die frischgeputzten Brillengläser an und fragte: „Was hast du denn darauf gesagt?“ Gar nichts hatte Fenn geantwortet. Er hatte dagestanden, wie eine Bildsäule, und als er wieder so weit war, daß er ihnen an die Gurgel wollte, da waren sie schon nicht mehr zu sehen. „Hm! hm!“ Der Schuster räusperte sich, tat ein paar Schläge, räusperte sich wieder – er hatte etwas auf dem Rohr. Er setzte Fenn seine Theorie vom Weib auseinander. „Das, siehst du, mein Junge – du bist ja nun so alt, daß man mit dir offen reden kann. Es ist ja alles menschlich! Das, siehst du, das mit den Frauensleuten, das ist Schwindel. Es gibt ja Kerls, denen wässern gleich alle Zähne, wenn sie einen Unterrock auf hundert Meter wittern. Aber die sind sicher nicht ganz gesund, bei denen ist sicher eine Schraube los. Ein kerngesunder Mensch, für den ist das mit den Frauensleuten Schwindel, eine Hundekrankheit. Natürlich, gerade wie eine Hundekrankheit!“ „Wo willst du hinaus, Pichert?“ fragte Fenn belustigt. „Na ja, dir brauch ich ja das nicht zu sagen. Aber es ist gut, daß du es weißt. Wenn du so deinen Weg für dich gehst, und es will dir einmal so’n Frauensmensch den Kopf warm machen – glaub mir, es ist Schwindel, man kommt ganz gut ohne sie zuwege!“ Und Pichert pfiff das Lied vom „Comper Ku’eb“[2] und hieb dazu den Takt mit seinem Hammer in die glatte Höhlung des Bombensplitters. Schon lange hatte es ihm Sorgen gemacht, wie wohl sein junger Freund sich mit dem Opfer der Entsagung abfinden würde. Denn der alte Pichert wußte aus seinen jungen Jahren von einer Zeit, wo ihm die Gedanken an das Weib zu schaffen gemacht hatten, und er wünschte mit seiner Erfahrung Fenn Kaß möglichst unangefochten durch diesen Entwicklungshohlweg hindurchzubringen. Nun, Fenn nahm die Sache ja erfreulicherweise leicht, also konnte man von was anderm reden. „Hast du gehört, daß der Lampesch Fiß auf dem letzten Loche pfeift?“ „Wieso? Ich habe ihn vorhin noch auf der Kreuzstraße gesehen.“ „So meine ich es nicht. Aber der ‚Mischell‘ hat ihm – – gicks!“ Und Pichert machte dabei die Bewegung des Halsumdrehens. „Davon war ja schon lang das Gerede. Ist es denn jetzt wirklich Matthäi am Letzten?“ „Am Sonntag wird die Versteigerung ausgerufen.“ „Und was wird denn da aus dem Fritz?“ Pichert zuckte die Achseln und blies ein geringschätziges pöh! durch die Lippen. Der Fritz? Was lag ihm am Fritz, an dem Affen mit dem fertig gekauften Fabrikschuhzeug! „Übrigens, der erbt von seinem Onkel Majerus in Brebach die schöne Mühle, für den ist gesorgt.“ „Jawohl, Müller werden, das stünde ihm besser an als studieren.“ „Gelt, er bringt nicht viel vor sich?“ „Nu ja, er tut aber doch, was er kann.“ „Paß auf, aus dem wird seiner Lebtag nichts Rechtes.“ * * * * * Als am nächsten Sonntag vor dem Hochamt die Bauern auf der Straßenkreuzung zusammenstanden – sie hatten vorne die Kittel heraufgeschürzt und beide Hände in den Hosentaschen, weshalb sie beim Ausspucken die Pfeife nicht aus dem Munde nehmen konnten – da kam unten um die Ecke ein städtisch gekleideter Mann, der eine große, blinkende Messingschelle mit einem mächtigen Handgriff verkehrt, den Klöppel nach oben, im gebogenen Arm trug. Er hatte einen wohlgepflegten braunen Vollbart und trug sein Hütchen keck auf dem Ohr. Sie kannten ihn alle und hatten ihn wohl auch erwartet. Ihr Kreis öffnete sich, so daß jetzt alle den Blick auf den Ankommenden gerichtet hatten. Er machte vor der Gruppe halt, fuhr grüßend flüchtig mit der Linken an den Hutrand, stellte sich in Positur, die rechte Stiefelspitze weit nach vorne, die linke Hand in die Hüfte gestemmt. Und dann begann er seine Glocke zu schwenken, mit wunderbarem Geschick. Rein mit einer eleganten Bewegung aus dem Handgelenk brachte er einen tadellosen Dreitakt heraus: Klinglingling Klinglingling! Aus den vier Richtungen kamen schreiend die Buben in ihren Sonntagskleidern herbeigeschossen, drängten sich durch und umstanden in froher Neugier den Mann mit der Schelle. Klinglingling Klinglingling! gellte es in strengem Rhythmus durch die Straßen. Hinter den Buben kamen deren Väter, gemessenen Schritts, ohne Eile, damit man nicht denken könnte, sie überschlügen sich vor Neugier. Und, wie gesagt, sie wußten schon, was kam. Aber sie wollten doch dabei sein, wenn das Unerhörte geschah, wenn das ganze große Gut der Lamperts, das seit über einem Jahrhundert in der Familie war, zur Versteigerung ausgerufen wurde. Jetzt schwang der Bärtige zum letzten Male seine Schelle in weiterm Bogen durch die Luft und bugsierte sie zurück in die Biegung seines rechten Armes. Dann legte er den Kopf ein wenig nach rechts hintenüber und begann seine Kundmachung. In kurzen, heftigen Absätzen stieß er die Worte heraus. Es klang wie Gebell: „Am Montag – den 20. Oktober – vormittags 9 Uhr – läßt Herr Lampert – von allhier – seine auf hiesigem Banne – gelegenen Güter – und sein Wohnhaus mit Stallung – und sein Vieh – und seine Fouragen – und seine Ackergeräte – öffentlich auf Borg versteigern. – Wer Liebhaber ist – kann sich um 9 Uhr – in der Gastwirtschaft Jaans – und später im Hause Lampert selbst einfinden.“ Dann ließ der Schellengewaltige noch einen gleichgültigen Siegerblick über die Umstehenden schweifen und setzte seine blanken Stiefelspitzen weiter nach dem andern Ende des Dorfes, wo er dieselbe Verkündigung wiederholte. Während die Bauern an der Kreuzstraße und an den übrigen Sammelpunkten, wo sie Sonntags ihr Ting zu halten pflegten, die Äcker und Wiesen des Lampesch Fiß besprachen und jeder nach Kräften das schlecht machte, auf das er sein Auge geworfen hatte, humpelte der alte Wöllem in einer Eile, die an ihm noch niemand wahrgenommen hatte, auf einem Richtweg der Kirche zu, keuchte an der Rückseite die steile Treppe zum Friedhof hinauf und klopfte unbeholfen an die Tür der Sakristei, wo er wußte, daß um diese Zeit Fenn Kaß mit den Vorbereitungen zum Hochamt beschäftigt war. Fenn Kaß tat ihm auf und war verblüfft, als er den alten Mann mit verstörtem Gesicht in der Tür stehen sah. Man wußte nicht, waren die Tropfen, die ihm über die felsfarbigen Wangen herunter in den Bart liefen, wirkliche Tränen oder kamen sie nur auf Rechnung der scharfen Herbstluft. „Was ist denn los, Wöllem?“ fragte Fenn, ein wenig barsch in seiner Neugier und Verblüffung. Da verzog der alte Mann sein runzliges Armeleutsgesicht zu einer unsäglich kläglichen Grimasse, einer jener Grimassen, in denen die Ungewohntheit großer Affekte durch eine rührende Hilflosigkeit des Ausdrucks sich verrät. Niemals seit einem Menschenalter hatte der arme Wöllem sein Gesicht in starkem Leid oder Glück verzogen, es war wie ausgetrocknet, es hatte für dergleichen keine Falten, und er sah in seinem Schmerz wirklich so komisch aus, daß Fenn schon das Lachen ankam, als plötzlich ein Laut voll unerhörten hilflosen Entsetzens dem alten Mann aus dem Munde brach. Und dabei führte er zitternd die flache Hand unter seinem Kinn vorbei. „Um Gottes willen!“ Fenn hatte begriffen. „Der Lampert!“ Ja, der Lampert hatte sich mit dem Rasiermesser die Gurgel abgeschnitten, genau in derselben Minute, als drunten an der Straßenkreuzung, vor dem Altar zwischen den beiden Silberpappeln sein Hab und Gut ausgeschellt wurde. Fenn ging zum Pfarrer und mit diesem zu dem Toten. Der saß aufrecht, nur in Hemd und Hosen, in seinem Lehnstuhl, in derselben Stube, in der vor Jahren die Kinder mit ihm die Nüsse gegessen hatten aus dem verpfändeten Acker. Fenn erinnerte sich, wie er keine davon anrühren wollte und wie der Bauer darauf heiser gelacht hatte: Eßt sie, sonst holt sie der Jud! Der Lampert, der das Erbe seiner Väter vertan hatte, – da saß er, die Augen fest geschlossen in dem fahl violetten, furchtbar eingefallenen Gesicht. Aus den durchschnittenen Halsschlagadern war das Blut wie eine rote Quelle ausgeströmt und das Hemd des Toten hatte über der Brust keinen weißen Fleck mehr. „Warum,“ dachte Fenn, „entsetzen wir uns beim Anblick des Blutes? Warum zuckt uns die Hand vor der Berührung des roten Lebenssaftes? Ist es denn nicht die Farbe der Freude?“ Wöllem stand daneben, und von Zeit zu Zeit schütterte seine Hünengestalt unter einem Schluchzen, das sich gewaltsam aus seiner breiten Brust losrang. Fenn hatte sich nach Fritz Lampert umgesehen. Der Sohn des Selbstmörders zeigte sich nicht. Fenn wußte, wo er im ersten Stock sein Zimmer hatte. Er ging hinauf und klopfte an die Tür, erhielt aber keine Antwort. Er sah, daß der Schlüssel von innen stak. Als er auf die Klinke drückte, fand er die Tür verschlossen. Da rief er gedämpft den Namen des Kameraden. „Fritz! Ich bin’s, der Fenn!“ „Laß mich in Ruh!“ kam es trotzig zurück. „Fritz, mach auf! du mußt aufmachen, hörst du!“ Ohne daß Fenn drinnen Schritte gehört hatte, flog plötzlich die Tür auf und Fritz stand vor ihm. „Was willst du denn hier?“ fuhr Fritz Lampert den Küstersohn an. „Dir sagen, daß dein Platz drunten ist, bei der Leiche!“ „Kümmere dich um das, was dich angeht!“ „Das geht mich an, das geht einen jeden an. Du gehörst hinunter, zu der Leiche, jetzt wenigstens!“ „Wer mir so was antut, der verdient nicht, daß ich mich um ihn kümmere!“ stieß Fritz haßgeschwollen hervor. „Tu es der Leute wegen, Fritz,“ redete ihm Fenn zu. „Mir kann’s ja gleich sein. Aber wir sind doch immer Kameraden gewesen, ich möchte nicht, daß sie später von dir sagen, du hättest von deinem leiblichen Vater nichts mehr wissen wollen.“ „Meinetwegen! Ich ziehe fort, keine vierundzwanzig Stunden bleibe ich länger hier. Ich gehe zu meinem Onkel nach Brebach!“ „Komm jetzt hinunter. Wir müssen die Neugierigen hinausweisen.“ „Das fehlte noch!“ brauste Fritz auf. „Daß sie uns jetzt Maulaffen halber das Haus auslaufen und sich womöglich die Taschen voll stehlen!“ Und was die Kindesliebe nicht vermocht hatte, das brachte in dem starrnackigen Bauernsproß der Eigentumssinn fertig. Fritz Lampert ging hinunter zu der Leiche seines Vaters und wies mit rüden Worten alles hinaus, was über die Schwelle drängte und den toten Lampesch Fiß sehen wollte. Nur Putty durfte herein und Marjänni. Sie räumte beherzt ein wenig in der Stube und im Hause auf, damit alles sauber aussähe, wenn das Gericht käme, und sie sagte ernst und leise zu Fritz, er solle doch nachher bei ihnen zu Mittag essen – nein, durchaus keine Umstände, es werde einfach ein Teller mehr aufgesetzt. Da fiel es Fenn ein, daß auch der alte Wöllem an dem Tag und den folgenden keinen Tisch hätte, an den er sich ohne Grauen setzen würde, und er sagte ihm, daß er nach dem Hochamt mit ihm zu seinen Eltern gehen sollte. Fünftes Kapitel Acht Tage nach dem Begräbnis des alten Lampert waren die Ferien um. An einem Morgen, ähnlich jenem andern, an dem die drei Wiesinger Buben mit Sack und Pack in die Stadt gezogen waren, fuhren früh um vier der alte Braun, Marjänni, Fenn und Putty über dieselbe Straße stadtwärts. Wöllem kutschierte. Aber die Charlotte war längst den Weg alles Pferdefleisches gegangen, in der Deichsel trollte ein Fuchs, ein geduldiges Tier, mit dem Wöllem jetzt, wie früher mit der Charlotte, im Stall und bei der Arbeit Zwiesprache pflegte. Über eine Woche war die Versteigerung, wer weiß, in wessen Hände der Fuchs dann kommen würde. Wöllem tat ihm bis dahin alles zulieb. Armdicke Brotschnitten stahl er für ihn in der Küche, den Hafer gab er ihm angemessen, es ging jetzt doch alles drunter und drüber. Fritz war am Tag nach dem Begräbnis mit allem, worauf er Wert legte, nach Brebach zu seinem Onkel Majerus ausgewandert und ließ die Magd wirtschaften. Daß Wöllem zu der Fahrt nach Luxemburg anspannen sollte, hatte Fritz aus Dankbarkeit für die paar Tage Gastfreundschaft im Hause Braun eigens angeordnet. Heute sollte Marjänni in der Lehrerinnen-Normalschule untergebracht werden. Es war merkwürdig, wie all die fremden Dinge, die ihrer warteten, so klar vor ihr ausgebreitet lagen. Wie die Wäsche hübsch gefalten und abgezählt daheim in den Schränken lag, da die Bettwäsche, da die Handtücher, da die Hemden, da die Taschentücher, immer hübsch dutzend- oder halbdutzendweise – was sich nicht ins Dutzend dividieren ließ, galt als Landstreichervolk – so hatte das fünfzehnjährige Mädchen mit pflichtbewußter Nüchternheit sich die Menschen und Verhältnisse für die nächste Zukunft zurecht gelegt. Ihr Wissen war sauber, wie gebügelt, in den verschiedenen Fächern aufgestapelt, sie konnte ihre Grammatikregeln so sicher und gedankenlos hersagen wie das Vaterunser, im Rechnen war sie, wenn ein Exempel keine besonders große Kombinationsgabe erforderte, so fix wie eine. Am liebsten freilich hatte sie die Arbeitswege, die sich glatt und deutlich hinausbreiteten, auf denen sie still und emsig ihr Pensum herunterschaffen konnte, ohne sich den Kopf mit der Lösung labyrinthischer Schwierigkeiten zu plagen. Ich werde nicht die erste, sagte sie schlicht und bestimmt, aber ich komme sicher unter die fünf ersten. Der Leiterwagen polterte durch den nebligen Herbstmorgen. Von seinen Stößen geschüttert sahen die Insassen den Sternenhimmel über sich hüpfend mitrennen, und Marjänni rief verwundert: „Vater, sieh, die Sterne springen uns nach.“ Der alte Braun klopfte die Asche aus seiner irdenen Pfeife und sagte: „Das will ich euch erklären. Daß die Sterne uns zu begleiten scheinen, rührt daher, daß sie nicht, wie andere Gegenstände, die wir hinter uns zurücklassen, immer kleiner werden. Die Entfernung zwischen den Sternen und uns ist so ungeheuer groß, daß das Endchen von Wiesing nach Luxemburg keinen Unterschied macht.“ Marjänni dachte angestrengt nach, aber sie erfaßte den Zusammenhang nicht gleich. „Dummes Ding,“ half Putty nach, „wenn man im Finstern eine Laterne z. B. von dir wegträgt, wird sie immer kleiner und kleiner. Daran merkst du überhaupt, daß sie sich entfernt. Bliebe sie immer gleich groß, so würdest du sagen, sie bleibt stehen.“ „Aber die Sterne?“ fragte Marjänni. „Nun, die Sterne sind Laternen, die nicht kleiner werden, wenn wir von ihnen weggehen, weil die Entfernung schon so groß ist, daß die paar Kilometer mehr oder weniger nichts ausmachen. Und darum hast du den Eindruck, daß die Entfernung dieselbe bleibt, das heißt, daß die Sterne mit uns gehen.“ „Das haben wir noch nicht gehabt,“ sagte Marjänni schlicht und sachlich. „Du schreibst es mir auf, gelt, ich will es lernen.“ „So was schreibt man doch nicht auf,“ sagte Putty spöttisch. „Laß sie,“ warf Fenn ein. „Ich werd’s dir aufschreiben, Marjänni.“ Herr Braun nannte alle Sternbilder, die er kannte. Und dann warf Fenn in die Unterhaltung die Worte „Kant-Laplace“. Der alte Lehrer horchte mit offenem Munde und schüttelte den Kopf über die kühnen Hypothesen, die Fenn da vortrug. Zum erstenmal in seinem Leben hörte er von einem Urnebel, der sich durch Umdrehung zur Kugel geballt, andere Kugeln durch Zentrifugalkraft abgeschleudert haben soll, die wieder die Mütter zahlloser weiterer Welten geworden seien. Er wagte es kaum auszudenken, daß der junge Mann, der das so selbstverständlich vortrug, einer war, der später aus der Bibel die Menschen lehren sollte, die Welt sei auf ein Schöpferwort Gottes entstanden, in sechs Tagewerken, in denen sich der Ewige die Arbeit hübsch eingeteilt hatte, just wie in der Grammatik jede Regelngruppe in ihrem eigenen Kapitel steht, und man immer mit der einen fertig sein muß, ehe man mit der andern anfängt. „Wo lernt ihr das alles?“ fragte Lehrer Braun mißtrauisch. „In der Schule nicht,“ sagte Fenn. „Man muß ein bißchen um sich herum lesen.“ „Wenn sie es erfahren, können sie dir Schwierigkeiten machen.“ „Sie“ war in der Einbildung des alten Lehrers ein Sammelbegriff, der für ihn alles einschloß, was in der Stadt über die Menschen Macht hat, was die Köpfe zusammensteckt, um einen glücklich oder unglücklich zu machen, was einen mit allen Wohltaten, die für brave Christenmenschen da sind, überrieseln oder aber einen völlig trocken setzen kann; was mit strengen Blicken und womöglich goldenen Brillen hinter allerhand grünen Tischen sitzt und salbungsvoll seine Sätze mit tja tja anfängt; was jeden Sonntag morgen den Wochenvorrat an Zucht und Ordnung, an Freiheit des Denkens und Glaubens behutsam heraustut, nicht zu wenig und nicht zu viel, für alle, die nach ihm etwas zu fragen haben. „Sie“, das waren für den alten Braun alle die Hochmögenden, die eines Tages seinen jungen Freund Fenn vor ihren Gerichtsstuhl zitieren und ihm sagen konnten: du hast durch Vortragen verwegener Theorien über den Ursprung der Welt Ärgernis gegeben, du mußt alles abschwören, oder wir machen dich unglücklich! „Sie werden mir schon nichts tun,“ sagte Fenn lächelnd. „Ich sage schon nicht mehr, als ich sagen darf und als was sie selbst alle glauben, wenn sie keine Stiesel sind.“ Putty aber erwog bei sich, ob es nicht trotzdem vorsichtiger sei, das System Kant-Laplace den Kindern der Welt zu überlassen und sich schlichten Sinnes an die bewährte biblische Schöpfungsgeschichte zu halten. Die ließ sich gutmütig alle möglichen Auslegungen gefallen. * * * * * Nach dem Morgenkaffee im Goldenen Anker ging die ganze Gesellschaft mit Marjänni zur Mädchen-Normalschule. Die Oberin war geschmeichelt, daß die beiden Studenten, die schon in den obern Klassen waren, ihrer Anstalt die Ehre schenkten, und sie ließ eines der jüngsten Nönnchen antreten, um den Wiesingern das Haus zu zeigen. Die lautlose schwarze Gestalt mit den in den weiten Ärmeln versteckten Händen und der steifen ovalen Musselintüte, aus deren Tiefe ein frisches Gesicht herausguckte, war ein munteres Ding mit großen Rehaugen, das jeden Anlaß benützte, einer unbändigen Lachlust, die sich in ihm angesammelt hatte, ein Sicherheitsventil zu öffnen. Die zwei Wiesinger waren für diese Nonne ein Gegenstand erstaunter Hochachtung. Das würden also über drei Jahre richtige „Herren“ sein, mit langer Soutane und geschorenem Scheitel! Und sie erzählte von „ihrem“ Studenten, einem armen Teufel von Gymnasiasten, der jeden Morgen in der Anstaltskapelle die Messe diente und dafür von den Küchenschwestern mit andächtiger Mütterlichkeit überernährt wurde. Marjänni freute sich, daß ihre zwei Jugendgespielen so liebenswürdig in „ihrer“ Normalschule behandelt wurden, und sie hätte gar zu gern auch das Konvikt besichtigt, aber keiner von den beiden mochte es übernehmen, eine so junge Frauensperson in die Mauern ihrer weiberfremden Anstalt hineinzuschmuggeln. Das hätte allerhand Verdacht bei dem „Alten“ wachrufen können, und so mußten alle darauf verzichten, daß Marjänni von Angesicht zu Angesicht die Stätten sah, an denen das Leben Fenns und Puttys hinfloß, und daß das Gemeinsame, das ihre Gedanken und Erinnerungen aus dem heimischen Milieu sogen, auch jetzt noch Nahrung gefunden hätte darin, daß jedes wenigstens eine flüchtige Vorstellung von den Daseinsäußerlichkeiten des andern gehabt hätte. * * * * * Es war für Marjänni wie für die beiden Lateinschüler ein Ereignis, als wenige Wochen später, an einem freien Nachmittag, sich die Zöglinge beider Anstalten auf einem Spaziergang begegneten. Die Schwester, die die Führung der schwarzen Mädchenkolonie hatte, begann sich ihrer ganzen Verantwortlichkeit bewußt zu werden, als sie um die nächste Ecke die ersten Reihen der Konviktoristen auftauchen sah und es im selben Augenblick durch die helle Eintönigkeit des Geschnatters ihrer Pflegebefohlenen einen kurzen Riß gab. In der nächsten Sekunde lief das aus Dutzenden von grellen, aber sittsam gedämpften Mädchenstimmen gewobene Band wieder ungestört weiter. Die Nonne schritt eifrig aus, bis sie an die Spitze ihres Zuges gelangte und ließ dann die ganze Reihe unter ihrem strengen Blick defilieren. Ein Ausweichen gab es nicht, es tat sich nirgends eine Seitenstraße auf. So mußte man denn sehen, wie man die Geschlechter so unangefochten wie möglich aneinander vorbeibrachte. Der geistliche Koadjutor, der die Konviktschüler begleitete, führte instinktiv dasselbe Feldherrnmanöver aus, wie seine Kollegin, und nun, Gott befohlen: Der Vorbeimarsch begann. Puttys Herz klopfte. Er dachte: Werde ich einen Blick von ihr erhaschen? Aber der Koadjutor stand in seiner Nähe und paßte scharf auf, wer die Augen aufschlug und einen Blick nach der Mädchenreihe hinübersandte. Der Koadjutor sah übrigens nur gleichgültige Gesichter. Bis auf eins. Es gehörte wieder mal diesem aufsässigen Fenn Kaß. – Was? Der Mensch hatte die Dreistigkeit, sogar hinüber zu grüßen! – Der Koadjutor drehte sich um, er wollte sehen, wem dieser Gruß gegolten hatte. Er sah ein hübsches Mädchengesicht, das ein unbefangenes Lächeln herüberstrahlte, sah dies Lächeln plötzlich von einem Ausdruck des Entsetzens wie fortgeblasen und hörte die Nonne zischen: „Braun Marianne! Du bist unverschämt!“ Jawohl! Unverschämt! Das war ja auch dieser Fenn Kaß gewesen. Der junge Geistliche und die Nonne standen unbeweglich, bis die Reihen aneinander vorbei waren – dann zog der Herr Koadjutor verlegen seinen Hut, die Nonne neigte das Haupt und beide folgten ihren Zöglingen in dem Bewußtsein, die ihnen anvertrauten Seelen, bis auf zwei, vor Anfechtung glücklich bewahrt zu haben. Diese zwei hatten an dem Abend wahrscheinlich keine Ahnung davon, wie sie für einander leiden mußten. „Fenn Kaß!“ sagte Herr Kleyer, „was habe ich gesagt! Wenn ein braver Konviktorist an Personen des andern Geschlechts vorbeigeht, was tut er da? – Nun? – Du schweigst in deinem Trotz? – Er schlägt die Augen nieder! Er schickt keine frechen Blicke nach dem Antlitz des Weibes! Fenn Kaß! Was habe ich gesagt! _Tota mulier_ ... das ganze Weib ist ein Köder!“ Fenn mußte wieder die Achsel zucken. „Fenn Kaß! Du gehst verloren für Zeit und Ewigkeit, wenn es nicht anders wird mit dir!“ „Was habe ich denn getan?“ „Was du getan hast! Herr Bormann hat mir berichtet, daß du freche Blicke nach einer jungen Person, einer Normalschülerin, geworfen hast. Du hast versucht, mit ihr Zeichen des Einverständnisses zu wechseln. Fenn Kaß! Es gibt mehr Ketten als rasende Hunde!“ „Wenn ich einem Mädchen aus meinem Dorf guten Tag sage, so bin ich noch kein rasender Hund.“ „Und ich sage dir, du ahnst es nicht, wie in jenem Augenblick der Teufel nach dir und jenem bedauernswerten Geschöpf seine Netze ausgeworfen hat!“ „Davon habe ich nichts gespürt.“ „Fenn Kaß! Ich bin es müde, mit dir um dein Seelenheil zu streiten. Das beste, was du jetzt tun kannst: geh in die Kapelle und bete, bis du der Versuchung Herr geworden bist.“ „Ich weiß nichts von –“ „Geh in die Kapelle, sag ich dir!“ Ungefähr um dieselbe Stunde rang die Braun Marianne vor der Oberin der Normalschule die Hände und beteuerte, daß sie sich wirklich nichts dabei gedacht hätte, als sie dem Küsterssohn ihres Heimatsdorfes einen guten Tag hinübergewinkt hatte. In den nächsten Weihnachtsferien erzählte Fenn der Lehrerstochter, was er ihretwegen zu bestehen gehabt hatte, aber sie sagte ihm nicht, daß sie mit demselben Abenteuer aufwarten konnte. Warum hütete sie ihr Geheimnis? Scheute sie instinktiv davor zurück, daß sich zwischen ihr und ihm die Gemeinschaft des ertragenen Leids bildete? Fürchtete sie, er, der Starke, Rücksichtslose, werde etwas Gewalttätiges gegen die unternehmen, die ihr zu nahe getreten waren? Oder war es einfach werktägliche Mädchenschläue, die da denkt: die Männer brauchen nicht alles zu wissen? – Wer kennt sich aus in einem sechzehnjährigen Mädchenherzen? Eine zweite Begegnung der beiden Anstalten fand in dem Jahre nicht mehr statt. Und auch in Wiesing, während der Ferien, war es selten, daß Marjänni mit ihren beiden Studiengenossen zusammentraf. Die besondere Art von Erziehung, die sie erlitt, übte ihre Wirkung. Sie war von schulwegen auch zu Hause an allerhand Regelkram gebunden, in dem für Umgang mit jungen Männern kein Spielraum blieb, und mit der Intimität der Kinderjahre war es jetzt ein für allemal vorbei. * * * * * In den Herbstferien verunglückte der alte Kaß im Kirchturm, beim Aufziehen der Uhr, wie es seine Frau immer vorhergesagt hatte. Es klang fast, als suchte sie darin einigen Trost für ihr Leid, wenn sie den Nachbarn, die ihr zuredeten, immer wiederholte: ich habe es kommen sehen, ich habe es immer gesagt! Fenn hatte den Verunglückten selbst im Turm gefunden. Als er den noch warmen Körper, der ihm bleischwer in den Armen hing, aus dem Dunkel des Turms heraustrug in die hellere Kirche und ihm aus dem Weihwasserkessel die Schläfe kühlte, weil er glaubte, er sei nur ohnmächtig, da war es vielleicht das erstemal, daß er seinem Vater innerlich ganz nahe kam, dem Toten viel, viel näher als dem Lebenden. Vater Kaß hatte durch einen Sturz auf den Hinterkopf das Genick gebrochen. Er lag jetzt auf den Steinfliesen im Mittelgang der Kirche, das ruhige Antlitz mit den Augen, die der Stürzende im Aufprallen fest geschlossen hatte, dem Gewölbe zugekehrt, an dessen naiven Malereien die gelben Strahlen der untergehenden Sonne leise hinglitten. „Vater,“ sagte Fenn angstvoll und schlug dem Toten immer fester und eindringlicher in die hohle Hand. „Vater, hörst du mich?“ Er schob sanft eines der geschlossenen Augenlider zurück und es blieb über dem glanzlosen Blick bewegungslos stehen. Da ging dem armen Burschen die Wahrheit auf, und mit einem Schluchzen, das den ganzen starken Körper erschütterte, warf er sich über den Toten. Er tat es mit dem innern Vorwurf, sein ganzes Leben neben diesem Manne hingegangen zu sein und ihm nie so recht aus Herzensgrund gesagt zu haben, wie er an ihm hing. Der stille, verschlossene Küster hatte seinen Sohn nie an Gefühlsausbrüche gewöhnt, er war nie, weder in Zorn noch in Zärtlichkeit aus sich herausgegangen, aber der heranwachsende Knabe und Jüngling hatte an manchem Blick, an manchem Wort und manchem kaum sichtbaren Lächeln gemerkt, was er dem Vater war. Die sich vertiefende Einsicht ins Leben, die geistige Überlegenheit, die ihm sein Wissen über das schlichte Menschtum seines Vaters gab, vermochten bei Fenn nichts über sein reines Sohnesempfinden, das ihm den Vater immer als den Stärkern und Weisern zeigte. Manchmal freilich war in diesem Empfinden auch die Hefe des Trotzes aufgegangen, wenn der Alte mit dem hartnäckigen Gleichschritt seiner Gewohnheit über allerhand Neuerungsversuche des Jungen in Kleinigkeiten des Tagewerks hinwegschritt. Dann regte sich der Trotz des Mannes gegen den Mann, die Herzen drohten sich zu verhärten, wie sie sich oft zwischen Vater und Sohn verhärten, wenn jener das Werden seines Ebenbildes, die Wiedergeburt seiner selbst, zu ausschließlich nach seinem Willen lenken will. Dann bäumt sich in beiden der Genius der Persönlichkeit, und die Flammen des Hasses lodern. Soweit war es zwischen Fenn Kaß und seinem Vater nie gekommen, aber leise hatten doch ab und zu die Stahlpanzer ihrer Seelen widereinander geklungen. Daran dachte Fenn, während er über dem Toten kniete. Jeder Widerstand, der dem Aufrechten gegenüber stets sprungbereit im Hintergrund gelauert hatte, war gebrochen. „Armer Vater!“ schluchzte Fenn. In diesem mitleidigen Klageruf drückte er am klarsten aus, was ihn bewegte. Ein Leben lang hatte sich ein guter, treuer Mensch gerackert um die Erfüllung seines Herzenswunsches noch vier, fünf Jahre, und er konnte auf der sonnigen Höhe Rast machen, nach der seine stille Sehnsucht stand – und tückisch tut das Schicksal vor ihm einen dunkeln Spalt auf, in dem er klanglos verschwindet. So sah Fenn den Vater vor sich: einen heimtückisch Gefällten. Er küßte die schwieligen Hände, aus denen die Lebenswärme allmählich entfloh, er küßte das starre Gesicht und die Stirn, die ihm nie so klar erschienen war wie jetzt. Dann ging er zu seiner Mutter. Frau Kaß stand in der Küche, um für ihre Mannsleute das Abendessen zu kochen. Wöllem, der seit der Versteigerung des Lampertschen Gutes bei Küsters das Gnadenbrot aß und dafür im Felde half, sog in einer Ecke an seinem Pfeifenstummel. Aus dem Herd kam leichter Rauch von dem knisternden Reisig, das Frau Kaß gerade entzündet hatte. Als sie Fenn, der eine Weile kein Wort über die Lippen brachte, ansah, meinte sie, der beizende Rauch hätte ihm die Augen mit Wasser gefüllt, und sie sagte, er solle das Fenster aufmachen. Da brach es aus ihm heraus, zu gewaltig, als daß er an schonende Lügen denken konnte. „Oh Mutter! Er ist tot!“ Frau Kaß verstand gleich. Aber wie man im Stürzen nach einem Halt greift, griff sie in die Luft mit der dumpfen Frage: „Wer ist tot?“ Dann wischte sie sich die Hände an der Schürze ab, zog die Schleife des Schürzenbandes auf und drängte an Fenn und dem in die Höhe taumelnden Wöllem vorbei durch die Tür, ging in großen Schritten, mit versteinertem Gesicht und fest zusammengepreßten Lippen durch das Dorf zu ihrem toten Mann. Sie wußte ja, wo er liegen mußte, sie hatte es ja immer gesagt, daß es so kommen würde. * * * * * Der Gesangverein, dem der Küster so oft mit seiner Stimmgabel den Ton angegeben und den Takt geschlagen hatte, stand am offenen Grab und sang mühsam, mit zögernden Einsätzen, ein Abschiedslied: Ruhe in Frieden, Selig geschieden ... Es klang so dürftig unterm freien Himmel, eine führende Tenorstimme stach unter den andern, die sich willenlos leiten ließen, mit so naiver und dienstbeflissener Dreistigkeit hervor, daß Fenn in seinem Schmerz unwillig den Kopf schüttelte. Gleich tat es ihm leid um die treuen Sänger, Freunde und zum Teil Altersgenossen seines Vaters, die von ihren Pflügen herbeigekommen waren und ihre Sonntagskleider angelegt hatten, um dem Toten ihr Lied zu singen, das er mit ihnen eingeübt und unzählige Male an andern Gräbern gesungen hatte. Ein neuer Tränenschwall brach ihm aus den Augen. Er sah die Gemeinde in weitem Kreise das Grab umstehen, sah drei Schritte von sich seinen Freund Putty, sah auch drüben den Lehrer Braun mit seinen Schulkindern, sah auf der Frauenseite Marjännis Schwestern mit ihren großen, braunen Kinderaugen herüberstarren – Marjänni fehlte. Als er mit seiner Mutter und den Verwandten nach Hause ging, gesellte sich ihm Putty Heinen zu und sagte, daß er von Marjänni einen Brief bekommen habe: Er möge sie bei Fenn und seiner Mutter entschuldigen, sie habe mit einer Verwandten des Fritz Lampert diesem gerade für heute in Brebach einen Besuch versprochen gehabt, sonst hätte sie sicher bei dem Begräbnis nicht gefehlt. „Sie braucht sich doch nicht zu entschuldigen,“ sagte Fenn. „Es wäre aber doch anständig gewesen, daß sie bei der Beerdigung gewesen wäre,“ meinte Putty. „Warum denn?“ schnitt Fenn mit einer abweisenden Frage jede fernere Erörterung ab. Als er abends mit seiner Mutter ganz allein in der Stube saß, in jener lauen Niedergeschlagenheit, die einen nach großem Kummer und nach schwerem Fieber überfällt, sagte die alte Frau plötzlich über den Tisch zu ihm herüber: „Elo brauch’s de net me’ih Paschtouer ze gin, wann et dein Idi net aß.“ (Jetzt brauchst du nicht mehr Pastor zu werden, wenn es deine Idee nicht ist.) Fenn schrak unter der Schwere ihrer Worte zusammen. „Wie meinst du das, Mutter?“ „Ich meine, daß dein Vater immer so arg viel darauf gehalten hat, daß du ins Seminar gehst.“ „Und du doch auch, Mutter?“ „Ich auch, aber wenn es deine Sache nicht ist –“ „Warum soll es jetzt auf einmal meine Sache nicht mehr sein?“ „Ich meine nur so.“ Fenn wollte sagen, daß er sich durch Rücksichten auf seinen Vater nie hätte in einen Beruf zwingen lassen. Aber es schien ihm hart und feige, das jetzt zu sagen. Er suchte sich anders verständlich zu machen. „Mach dir keine Gedanken, Mutter, was ich werde, werde ich aus freien Stücken.“ Da versuchte sie noch einmal, ihm insgeheim das Opfer ihres Lebenswunsches zu bringen. „Meinetwegen, weißt du, sollst du es nicht tun, ich halte gar nicht so sehr darauf.“ Sie sagte es ein wenig rauh und wegwerfend und zitterte dabei, daß er das Opfer annehmen möchte. „Wir wollen davon nicht mehr reden, Mutter. Ich bin kein Kind, ich weiß schon lange, was ich tue. Es ist mein fester Wille, Priester zu werden. Dazu habe ich Talent; zum einfachen Dorfpastor. Ich verstehe die Leute, und ich hoffe, sie werden mich verstehen. Ich brauche viele um mich herum, denen ich Gutes erweisen kann und die auf mein Wort hören. Ich verstehe es so, weißt du, Mutter, daß das ganze Dorf meine Familie sein soll.“ „Wären sie alle so,“ sagte Mutter Kaß mit einem fast zornigen Blick auf ihren Einzigen. Und Wöllem, der in der Ofenecke seine Pfeife rauchte, räusperte sich, zum Zeichen, daß er gehört hatte und daß er einverstanden war. Fenn hatte seine großen, schöngeformten Hände, durch deren frische Haut das Blut rosigbraun durchschien, vor sich wie in Andacht auf dem Tisch verschränkt und seine Augen hatten einen tiefen Glanz. Ein leidenschaftliches Liebesbedürfnis gab seinem Gesicht einen fast verklärten Ausdruck. „Sie sollen mich lieb haben, Mutter, und ich will sie mit Liebe zu mir zwingen,“ sagte er halblaut. Seine Mutter war beruhigt. Sie verstand ihn nur halb. Seine Worte rührten sie, wie an hohen Festtagen in der Kirche das Latein, das sie auch nicht verstand, aber das so feierlich klang. Ja, es mußte doch wohl so sein, daß ihr Ferdinand den Beruf hatte. Auch ohne den väterlichen Zwang. Denn bisher hatte sie wirklich gemeint, das Machtwort des Vaters sei sozusagen allein für Fenns Berufswahl ausschlaggebend gewesen. Jetzt war sie darüber beruhigt. * * * * * Fenn lag an jenem Abend lange wach. Es war mit ihm so ganz anders geworden. Bisher hatte er in seiner ernsten Lebensführung und in dem geradlinigen Lossteuern auf eine fest umrissene Zukunft an seinem Vater unbewußt einen sichern Rückhalt gehabt. Etwas wie das Gefühl, das selbst der sicherste Bergsteiger hat, wenn er sich an einen zuverlässigen Führer angeseilt weiß. Und nun war er plötzlich ohne diese Rückversicherung hinaus ins Leben gestellt. Er gab sich seelisch einen Ruck, prüfte seine Kräfte, prüfte den Boden unter seinen Füßen und war fest entschlossen, aufrecht und unbeirrt weiterzugehen. Eine Zeitlang war seinen Gedanken ein leidiges Unbehagen beigemischt gewesen. Denn er kam eine Weile nicht los von jenem Augenblick, wo er am Grab heute vormittag ein gewisses Gesicht nicht erblickt hatte und wo ihm Putty gesagt hatte, ... Ach was, – die dummen Gedanken lagen jetzt Jahre weit hinter ihm. Jetzt mußte seine Jugend begraben sein, begraben mit dem Toten, der im Leben über ihm gestanden hatte. Jetzt war er, Fenn Kaß, der älteste Mann im Haus, und er wollte von heute ab reif sein, ganz reif, und ganz der, der er zu sein sich vorgenommen hatte. Sechstes Kapitel Lieber Pichert! Als ich das letztemal in den Ferien bei Dir war, batest Du, ich möchte Dir doch einmal schreiben. Ich tue es gern. Ich stelle mir vor, ich sitze bei Dir in Deinem Stübchen und erzähle Dir von meinem Leben, während Du Deine Nähte ziehst. Von meiner ganzen Studienzeit ist dies letzte Jahr das langweiligste. Es ist einem zumute wie auf der Eisenbahn, kurz ehe man umsteigt. Man packt seine Siebensachen zusammen und kann keine Minute stillsitzen und hat kein Interesse an den Dingen und Menschen, die um einen sind. Im Herbst steigen wir um, ins Seminar. Ich werde mich freuen, wenn wir soweit sind. Jetzt ist es ein Durcheinander von Leuten, von denen jeder andere Ziele und andere Wünsche hat. Der eine will Arzt werden, der andere Advokat, andere warten, bis sie eine Beamtenstelle bekommen können, und wir Seminaristen sind mitten zwischen diesem weltlichen Volk sozusagen die, die nicht mitzählen. Darum freue ich mich, wenn ich wieder an einen Ort komme, wo alles an einem Strang zieht. Es war hier zum Aushalten, solange man ein Kind war. Aber die Studien fangen an, mir auf die Nerven zu fallen, und noch mehr die Studenten. Die meisten scheinen zu glauben, das Studium an und für sich sei schon ein Lebenszweck. Sie nehmen sich furchtbar ernst, wenn sie die Daumen in die Ohren drücken und über ihren Büchern ochsen. Keiner von ihnen denkt über die nächsten Jahre hinaus ans Leben, keiner hat Interesse für die Dinge daheim. Wenn wir so Donnerstags über Land spazieren und das Herz geht mir auf, wenn ich sehe, wie die Äcker stehen, das Korn und der Klee und die Kartoffeln und alles, dann ärgere ich mich, wie diese Bauernsöhne kein Auge haben für das, womit sie doch aufgewachsen sind. Ich langweile mich zu Tode an der Spielerei meiner Studien und sehne mich inbrünstig nach dem Tage, wo ich einmal mit all diesen Vorbereitungen fertig bin. Man muß ja den Schwindel gelernt haben, sagen sie, um den Leuten zu imponieren, aber ich meine, man könnte das alles in viel kürzerer Zeit. Ich finde, was ich hier gelernt habe, hätte ich zu Hause mit unserm Pfarrer lernen können und daneben mit meiner Mutter unsere ganzen Felder bestellen. Wie gut ist es, daß sie jetzt den alten Wöllem hat, der ihr an die Hand geht und ihr in unserm Häuschen Gesellschaft leistet. Wenn ich über drei Jahre Kaplan werde, hoffe ich, eine Stelle draußen zu bekommen, wo ich die beiden zu mir nehmen kann. Man wird mich doch um Gottes willen nicht irgendwo in der Stadt gefangen setzen. Das wäre gut für Heine Putty, der paßt in die Stadt. Rede nicht darüber, Pichert, aber der arme Junge tut mir leid. Der hat so viel den Beruf zum Priester wie der große Türke, aber er wird daran glauben müssen. Er hat nicht die moralische Kraft, vor seinen Vater hinzutreten und zu sagen: Ich kann’s nicht. Ich sehe es ihm an, wie er darunter leidet. Und so gibt es noch andere. Sie wissen, daß ihre Eltern zu Hause sich seit Jahren das Blut unter den Nägeln herausgearbeitet haben, daß ihre Geschwister alles entbehren mußten, nur damit ein Geistlicher in die Familie kommt. Sie haben von Kindesbeinen auf immer sagen hören, daß sie einmal Priester werden, sie wissen, wenn sie jetzt abseits gehen, ist es eine Katastrophe. Sie haben keine Kraft, dies Hoffnungsgebäude über den Haufen zu werfen, das so viele über ihnen errichtet haben, und da lassen sie sich eben einmauern. Wenn ich denke, daß mich einer in diesen Beruf wider meinen Willen zwingen möchte, – lieber sollte die Welt zugrunde gehen. Aber wie käme der arme Heine Putty dazu, jetzt auf einmal den Seinen die Zähne zu zeigen? Vater, Mutter und Geschwister können den Tag nicht erwarten, wo sie ihn „unsern Herrn“ nennen, und das soll er alles jetzt gewaltsam abschütteln! Wie gern würde ich ihm helfen, aber solchen Menschen ist nicht zu helfen. Wenn einer nicht selbst gegen den Strom schwimmen kann, darf man ihn auch nicht gegen den Strom schleppen, sonst schluckt er Wasser und ertrinkt am Ende. Mit Herrn Kleyer stehe ich mich jetzt so gut wie nie zuvor. Seit Vaters Tod ist es rührend, wie er so treu und betulich um mich herum ist. Er faßt mich jetzt von einer ganz andern Seite auf. Er glaubt jetzt nicht mehr, daß ich es faustdick hinter den Ohren habe. Ich bin im Handumdrehen sein bester Freund geworden. Er nimmt mich stundenlang mit sich auf sein Zimmer und spricht mit mir über die intimsten Dinge, über Bücher, die er eben liest, über dies und jenes Schöne, das er darin gefunden hat, und woran er sich begeistern kann wie einer von zwanzig Jahren. Er schüttet mir sein Herz aus und klagt mir, was ihm Unangenehmes mit Schülern oder sonstwie zugestoßen ist. Ich merke, wie wohl es ihm tut, daß er jemand hat, dem er sich rückhaltlos mitteilen kann. Es ist ja auch kein Vergnügen, so von früh bis spät vor einer Rotte Korah, wie die Buben es manchmal sind, in Stiefeln und Sporen und wie in einem moralischen Panzer herumzugehen, und sich keine Sekunde lang das Mindeste vergeben zu dürfen, immer den Gestrengen herauszukehren, immer sich stramm am Zügel zu haben und sich selber zu schulmeistern, um die Herrschaft über die andern zu behalten. Ich denke mir zwar, daß es auch anders gehen müßte, daß man den Buben auch ohne beständiges Augenfunkeln und Stirnrunzeln imponieren könnte, aber er ist eben von der andern Schule. Sonst hat er das beste Herz von der Welt. Neulich hat er mich gar auf eine Flasche Wein und eine Zigarre eingeladen, ich traute meinen Augen nicht. Ich glaube, er hat jetzt keinen hier, mit dem er so ganz und so einfach Mensch zu sein wagt, wie mit mir, und ich bin nicht wenig stolz darauf. Aber warum richten sich manche Menschen ihr Leben so ein, daß sie nur im Verborgenen und in gestohlenen Stunden das zu sein wagen, was sie innerlich sind? Lieber Pichert, ich sehe Dich, wie Du an Deiner Brille rückst und denkst: Was schreibt mir der Fenn da für ein Zeug? Das interessiert mich doch nicht. Es ist wahr. Dir liegt wahrscheinlich nicht sehr viel an der Erziehungsmethode unseres Alten, aber es lief mir eben so mit aus der Feder. In sechs Wochen kommen wir nach Haus. Dann machen wir ein Kreuz übers Konviktstor. Es waren im ganzen langweilige Jahre, Jahre der Unnatur, des Zwangs, des Massendrills. Von unsern Lehrern keiner, der uns aus dem trockenen Brotstudium hinaus den Weg in die Freiheit gewiesen hätte, wo in der Sonne die Blumen wachsen, die sie uns getrocknet zwischen Löschpapier zeigten. Jahre, die nach Bücherstaub und Schweiß riechen, in denen nichts an einen herantrat, was man fürs Dasein lieben lernte. Ich sehe es kommen: Wenn wir später unsere Erinnerungen aus dieser Zeit auskramen werden, kommt nichts zum Vorschein als die öden Professorenanekdoten. Wir sind da hindurch getrieben worden, wie durch einen Tunnel, und wenn man seine Wiesinger Kinderjahre nicht hätte, die hinter einem liegen, wie eine blumige Wiese im Sonnenschein, was wäre man für ein armer, armer Kerl! Das verstehst Du vielleicht wieder nicht, mein lieber Pichert, aber das werde ich Dir erklären, wenn wir einmal abends zusammen in Deinem Stübchen sitzen, oder wenn wir Sonntags nach der Vesper über die Gewann gehen. Um eins nur tut es mir leid: Ich muß mich jetzt von meinem besten Freunde trennen, von dem Theo Schütz, den Du ja schon kennst. Ich ziehe im Herbst die Soutane an und gehe ins Seminar, er geht nach Aachen aufs Polytechnikum und wird Maschineningenieur. Das war ein lieber Mensch, Pichert, und ich glaube wohl, daß er mir so lieb war wie Du. Gib acht, von dem hören wir noch reden, das ist einer von denen, die sich ihre Äste nicht verschneiden lassen. Er denkt über vieles anders als ich und ist ja auch in anderen Verhältnissen groß geworden, aber im Grunde sind wir, glaube ich, von einem Holz, und es müßte sonderbar zugehen, wenn wir nicht für immer Freunde blieben. Nun Gott befohlen, lieber Pichert, meine freie Zeit ist um. Laß mal von Dir hören. Dein treuer Fenn Kaß. Lieber Fenn! Dein Brief hat mir viel Freude gemacht, besonders daß Du jetzt so mit Eurem Alten stehst, wie Ihr ihn nennt. Ich bin froh, daß Du jetzt bald wieder nach Hause kommst. Es kommt mir drollig vor, daß ich Dich in der langen Soutane sehen soll. Sie muß Dir aber gut stehen, mit Deinen breiten Schultern. Der Heine-Schneider hat schon für seinen Putty den Stoff gekauft. Das Feinste und Teuerste, was sie in der Stadt im Laden hatten. Er bekommt, mit Verlaub zu reden, das Maul über den Jungen nicht mehr zu. Es muß keine Freude sein, so einen Vater zu haben, der einen so in allen Wirtshäusern herumträgt. Ich meine, Du hast recht, Fenn, das Pastorwerden ist dem Putty seine Sache nicht. Wenn nur alles gerade reißt mit dem! Deiner Mutter geht es gut. Ich sehe sie als hier und da mit der Hacke vorbeigehen, sie sieht gut aus. Der Wöllem kann froh sein, daß er so ein warmes Nest gefunden hat. Er ist ein guter Kerl. Er sagt auch, er hätte es bei Euch besser, wie bei dem Lampert. Der Fritz ist jetzt Herr und Meister in Brebach, sein Onkel Majerus läßt ihn so ziemlich in allem gewähren. Mit Brauns ist er jetzt eins und alles, seit sie ihn die paar Tage in Kost hatten, als das mit seinem Vater ... Du weißt ja. Der Père Reining wird jeden Tag wackliger. Es ist auch kein Wunder, der Mann hat seine dreiundachtzig auf dem Buckel. Ich hatte auch wieder meinen steifen Arm ein paar Wochen lang, aber jetzt ist es wieder gut. Wenn Du kommst, lieber Fenn, bring mir vom Cary, Du weißt ja, wieder ein halbes Pfund Schnupftabak mit, wie immer. Ich gebe Dir das Geld wieder. Sei vielmal gegrüßt von Deinem alten Pichert, und auf baldiges Wiedersehen. Jakob Thielen, genannt Pichert. Als Fenn Kaß an dem klaren Augustmorgen, an dem die Ferien begannen, durch das Konviktstor herausschritt, war sein Herz leicht wie lange nicht mehr. Die Kameraden, die um ihn wimmelten, fuchtelten mit ihren Stöcken und beredeten sich, wie sie die nächsten Stunden in der Stadt vertun sollten, ehe ihre Züge in die Heimat fuhren. Fenn hatte in sich nur einen Drang: Fort, hinaus, heim! Er gedachte, Putty zu fragen, ob er den Weg mit ihm zu Fuß machen wollte, aber da hieß es, Putty sei von dem Fritz Lampert schon abgeholt worden, der werde ihn später mit seinem Wagen nach Hause bringen. „Auch gut,“ dachte Fenn. Daß ihn die beiden ausgeschlossen hatten, war ihm eigentlich recht. Er kaufte für den Pichert ein halbes Pfund Schnupftabak, für Wöllem ein Päckchen Varinas und ein paar irdene Pfeifen, „rheinisch Bietchen“ genannt, und für seine Mutter ein Gebäck, von dem er wußte, daß es ihr ein Leckerbissen war. Das band er alles in eins, hängte es am Stock über die Schulter, steckte die linke Hand in die Hosentasche, und wanderte „zum Städtle“ hinaus. Und er pfiff sich dazu eine Reisenote, daß die Mädchen stehen blieben, sich lachend anstießen und hinter ihm her sagten: „Kuck den, der hat’s gut vor!“ Auf der Landstraße draußen ging er neben dem Graben im kurzen Gras, schlenkerte sein Paket in der Linken und köpfte lustig die Dolden der Schafgarben und die pludderigen grauen Flaumköpfe des Löwenzahn. Sobald er weit draußen war, wo die Straße ganz einsam wurde, sang er sich ein Marschlied, daß es weit über die Felder schallte. Er war froh, wie einer, der etwas klebrig Unangenehmes von sich abgewaschen hat und im frischen Wasser einem willkommenen Ufer entgegenschwimmt. Die längste Etappe auf seinem Weg ins Leben hatte er hinter sich, die drei Jahre strammen Studiums im Priesterseminar schreckten ihn nicht. Da lebte man schon sein eigenes Zellenleben, konnte ruhig seine Wurzeln in das geistige Erdreich senken, in dem man sich wohl fühlte, wurde nicht mehr als halbes Kind, sondern als ganzer, verantwortlicher Mensch behandelt, kurzum, da stand man schon auf der Bahn, die gerade hinaus in die Wirklichkeiten des Daseins führte. Die innige Gestalterfreude des Starken war in Fenn, wie er einsam über die staubweiße Landstraße wanderte, das Bewußtsein, daß er viele würde glücklich machen können, wenn sie an ihn glaubten. Und sie würden an ihn glauben, sie würden an ihn glauben. Herr, du meines Lebens! jauchzte er und hieb mit seinem Stock allerhand Figuren in die Luft. Er war zu Haus, ehe er es sich versah. Der Pichert trompetete ihm ein schmetterndes Willkomm entgegen, als er ihm seinen Schnupftabak brachte, die Mutter lachte still übers ganze Gesicht, als er ihr Lieblingsgebäck aus der Papierhülle wickelte und Wöllem knurrte, während er seinen Tabak und seine Pfeifen einsteckte: „Hm, meng Sach aß gudd gaangen!“ Dann gab es zu Mittag natürlich Fenns Lieblingsgericht: Eierkuchen mit Kartoffeln und Endiviensalat, und dazu holte Wöllem ein Liter Bier aus der „Auberge“ an der Kreuzstraße. * * * * * Am Nachmittag kam eines von den Heinens Mädchen, um zu fragen, wo Putty geblieben sei. Und dann kam auch der Schneider und ärgerte sich blau, daß dieser Windhund, dieser Ausreißer, sich solche Seitensprünge erlaubte. Der Fritz Lampert, von dem schon allerhand Weibergeschichten die Runde machten, war doch kein Kamerad für einen, der Geistlicher werden wollte, Himmelkreuzsakra! Und er würde dem Putty den Kopf waschen, daß er alle Glocken der Nachbarschaft sollte zuhauf läuten hören. Die Lampe des Schneiders Heinen war die einzige, die noch im Dorf brannte, als Fritz Lampert seinem Freund Putty vor dessen Vaterhaus vom Wagen herunterhalf und ihm gute Nacht wünschte, um sich sofort mit seinem Gefährt schleunigst aus dem Staube zu machen. Er überhörte es geflissentlich, daß ihm Putty zuraunte, er möchte doch noch auf einen Augenblick mit hereinkommen, um eine Kleinigkeit zu genießen. Und er vernahm durch das Rollen der Räder und das Hufgeklapper seines Braunen hindurch, wie auf Puttys Klopfen die Tür aufflog und Worte gewechselt wurden, die auf keinen liebreichen Empfang deuteten. „Hierher kommst du!“ herrschte der Schneider seinen Sohn an, als der nach dem Treppengeländer tastete, um sein Schlafzimmer aufzusuchen. Und als Putty nicht gleich Order parierte, fühlte er sich derb am rechten Oberarm gefaßt und in die Stube gezerrt. „Da setz dich hin!“ Inzwischen kam auch Frau Heinen im Unterrock fröstelnd herbei, stellte sich am Tisch auf und rieb sich gähnend die Hüfte. „Wo warst du so spät?“ – wollte sie das Verhör beginnen. „Wo wird er gewesen sein!“ fuhr ihr Mann zornbebend dazwischen, „gesoffen haben sie, bei den Weibern sind sie gewesen.“ Putty schlug ein paar schwimmende Augen mit einem leeren Blick zu seinem Vater auf und zuckte stumm und verächtlich die Achseln. „Ich will wissen, wo du warst!“ brüllte der Schneider und schlug mit dem geballten Fäustchen auf den Tisch, daß Frau Heinen ängstlich nach der Lampe griff. Putty hob wieder die Achseln und skizzierte mit der Linken eine müde Gebärde in die Runde. „Der Kerl ist ja besoffen wie ein Schwein!“ sagte der Schneider mit dem Ausdruck unsäglichen Abscheus. „Laß ihn schlafen gehen,“ schlug die Mutter vor, worauf sie Putty streng anfuhr: „Soll ich dir vielleicht eine Tasse schwarzen Kaffee kochen?“ „Ich gehe lieber schlafen,“ lallte Putty. „Vor mir die Treppe hinauf!“ befahl der Schneider. In der Tür drehte sich Putty um. Er hatte in seiner Betrunkenheit das Empfinden, daß ihm von seinem Vater ein tätlicher Schimpf drohte. Der Schneider hatte schon den Fuß gezückt. Putty sah die Bewegung, auf Sekunden war sein Rausch verflogen und aus seinen Augen brach eine so irre Flamme des Hasses und der Wut, daß seine Mutter sich ihm schreiend entgegenwarf. Auch der Schneider hatte den Blick aufgefangen und es war ihm dabei kalt übers Herz gekrochen. Er war froh, daß seine Frau alles weitere abgeschnitten hatte. So sagte er, noch bebend vor Aufregung und plötzlicher Angst, mit künstlich zurechtgemachter Verachtung: „Mach, daß mir der Kerl aus den Augen kommt!“ * * * * * Gegen Ende September sagte eines Tages Putty Heinen zu seinem Freund Fenn: „Morgen sind unsere Soutanen fertig. Mein Vater läßt dir sagen, morgen werden sie anprobiert.“ Dann gingen die beiden querfeldein. Putty lenkte in Wege ein, die immer weiter vom Dorf abführten. Jetzt waren sie am „Hau“ hinauf zur Höhe gelangt, von der man weit in der Runde die Berge mattgrau in der Herbstluft stehen sah. Putty schaute lange träumerisch in die Weite in der Richtung, wo die Stadt lag, und dann umschlang er plötzlich krampfhaft und leidenschaftlich schluchzend einen dicken Baum am Weg und rief in einem fort, in tränender Verzweiflung den Namen seines Freundes. „Komm zu dir,“ redete ihm Fenn begütigend zu. Er dachte sich schon, wie dem armen Kerl zumute war. „Fenn, was soll das werden mit mir, was soll das werden!“ und sein heulendes Leid quoll heraus wie ein heißer Strahl, wie Blut aus offenen Adern. „Ja Putty, da kann ich dir nicht helfen, wenn du glaubst, du kannst deinen Leuten nicht sagen, daß du nicht hinein willst, dann mußt du dich eben bezwingen. So schlimm wird es schließlich ja nicht sein. Es sind ja viele vor dir denselben Weg gegangen und haben es schließlich doch verwunden.“ „Ich kann es nicht. Wenn man dir was einstopfen will, was dich ekelt, kannst du es doch nicht schlucken. Du erbrichst es, sobald es dir auf die Zunge kommt. Ich kann nicht, ich kann nicht!“ „Was ist denn daran, das dir so unüberwindlich scheint?“ „Alles. Ich will leben. Ich will mich anziehen wie jedermann! Ich will nicht ein Gezeichneter sein, dem jeder schon am Kleid ansieht, daß er nicht darf, was alle dürfen!“ „Ist das nicht ein bißchen Eitelkeit, Putty?“ „Nein, es ist die Wut dagegen, daß man mich zum Krüppel machen will, alle zu Haus, mein Vater und meine Mutter und meine Schwestern! Sie sagen, sie haben um mich gedarbt. Gelogen ist es! Was haben sie sich denn meinetwegen versagt? Das wenige, das sie mir vielleicht geopfert haben, gibt ihnen doch kein Recht, so über mich zu verfügen!“ „Bist du dir ganz klar darüber, daß du nicht wegen einer dummen Weibergeschichte –?“ „Ach, Fenn, glaube mir, es gibt keine dummen Weibergeschichten für den, der zur Entsagung nicht geboren ist. Für den ist jede Weibergeschichte ein schlimmer Aufruhr, in dem er sein Bestes lassen kann.“ „Was heißt das: Zur Entsagung nicht geboren! Also wenn du zum Entsagen keine Lust hast, sagst du einfach, du bist zur Entsagung nicht geboren?“ „Ach tu doch nicht so, als ließe sich das alles glatt nach dem Einmaleins aufs Papier hinrechnen. Und überhaupt, es ist nicht das Weib allein, es ist alles! Das ganze Leben! Ich kann mir nicht, wie du, meinen Lebensweg so schnurgrad zwischen zwei Pappelreihen denken, mit der ewigen Seligkeit als Abendrot in der Perspektive. Was mir alles bevorstehen kann, siehst du, ist mir noch wie ein süßbanges Geheimnis, eine Fülle von Schönem oder Schrecklichem oder beidem zusammen. Aber frei will ich sein, nach allem zu greifen und allem zu entfliehen.“ Fenn zuckte die Achseln: „Ja, dann weiß ich dir keinen andern Rat. Dann mußt du eben den Mut haben, daß du es deinen Leuten sagst, wie es um dich steht.“ Putty hatte sich in dem leidenschaftlichen Ausbruch Luft gemacht, seine Energie war schon erschöpft. „Ich kann nicht,“ sagte er traurig. „Zehnmal schon dachte ich mir ein Herz zu fassen, aber es war mir immer, als müßte ich mit meinem Geständnis etwas ganz Furchtbares entfesseln, etwas, in dem alles zugrunde gehen würde. Jetzt mag es sich wenden, wie es will. Ich komme mir vor, wie einer, der Spießruten läuft und die Augen zudrückt, bis er hindurch ist. Mir ist, als zeigten die Leute mit Fingern auf mich und drängten sich dazu, wie ich nackt ausgezogen und angeprangert und gestäupt werde. Das muß doch ein jeder sehen, daß ich in das Kleid und den Beruf nicht hineingehöre.“ Fenn konnte dem Freund nicht mehr zureden. Und er dachte, was man in solchen Fällen immer denkt, um von einer häßlichen Vorstellung loszukommen: „Wer weiß, vielleicht ist es am Ende gar nicht so schlimm.“ * * * * * Am folgenden Tage holte Putty den Freund ab. Fenn war in dem kleinen Garten des Küsterhauses beim Zwetschenpflücken. Putty nahm eine der dunkelblauen Früchte, zerdrückte sie, daß das goldgelbe Fleisch sich spaltete und in der spitzen Kernhöhlung süßer Saft zusammenlief. Aber der Genuß daran wurde ihm durch den Gedanken an die seelische Hinrichtung vergällt, die ihm bevorstand. Fenn sprang lustig vom Baum. „Also gehen wir,“ sagte er heiter. Er schraubte absichtlich seine gute Laune um ein paar Grad höher, als Abwehr gegen Puttys Herzensangst, von der er einen neuen Ausbruch befürchtete. In der Schneiderstube lagen die beiden Soutanen fertig zum Anprobieren über einer Stuhllehne. Schneiderhinchen saß mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch, die Brille auf der Nase, das Band des Zentimetermaßes über die Schultern gehängt. Er hüpfte herunter, reckte die Glieder und sagte: „Also wollen wir mal sehen, wie ihr als Herren ausschaut.“ Es roch unangenehm scharf nach Fleckwasser, ein Geruch, den Putty von klein auf nicht hatte ausstehen können, und den er zuletzt haßte, weil er ihn stets an seinen Vater erinnerte. „Wer will zuerst dran kommen?“ Fenn wollte Putty den Vortritt lassen, aber der schob den Freund vor: „Allez hopp, mir ist es immer noch früh genug.“ Schneiderhinchen wollte auffahren. Was fiel denn dem Buben ein! Er sollte doch seinem Schöpfer danken. Und nun: Mir ist es immer noch früh genug! Na wart! Dir werde ich! – Aber das streitbare Männlein fraß seinen Jähzorn hinein und begnügte sich damit, einen funkelnden Blick nach Putty hinüberzuwerfen. Fenns magerer, knochiger Körper trug das lange schwarze Gewand leicht und selbstverständlich. Man sah, es belästigte ihn nicht, es floß gehorsam um seine Bewegungen, es beeinträchtigte in nichts das wohltuend Bildhafte seiner kräftigen Männlichkeit. Der Schneider war stolz auf sein Werk. „Besser hätte sie dir keiner in der Stadt gemacht,“ sagte er mit einem leisen Anflug von Vorwurf, aber auch von Genugtuung. Als ob doch vielleicht bei Fenn der Plan hätte bestehen können, seinem alten Schneider bei dieser festlichen und besondern Gelegenheit abtrünnig zu werden. Dann kam Putty an die Reihe. Als ihm die langen Ärmel feierlich weit bis über die halben Hände hingen, als sein Vater dicht vor ihm kniete und mit wächsernen, ärmlichen Fingern emsig die lange Knopfreihe von unten herauf zu schließen begann und dabei Putty aufforderte, dasselbe Geschäft von oben her zu besorgen, als dieser dann das schwarze, schwere Tuch mit seinem kirchlich ernsten Glanz an sich hinabhängen sah, war ihm wirklich nicht anders, als ob er lebendigen Leibes eingemauert werden und selber Stein auf Stein zu seinem Hungerkerker fügen sollte. Sein Körper krampfte sich zusammen, der Krampf löste sich in einer explodierenden Bewegung des Abscheus und der Abwehr, und die Bewegung zitterte hysterisch nach durch alle seine Glieder. „Was ist los?“ fragte der Schneider unwillig erstaunt. „Ich komme mir vor, wie ein Frauenzimmer!“ sagte Putty und erkannte seine eigene Stimme nicht. So hatte der Aufruhr seines Innern die Muskulatur seiner Kehle umgeknetet. „Du bist wohl verrückt,“ sagte sein Vater und richtete sich mühsam zornig auf. „Es ist ja wahr,“ gab Putty, schon dem Weinen nah, zurück, und zeigte mit verächtlicher Gebärde an sich herunter. „Ich meine gar, du Aff ...“ eiferte das Schneiderhinchen und schlug seinem unbotmäßigen Buben jähzornig die Hand ins Gesicht. Dann geschah etwas Plötzliches, züngelnd Gewalttätiges, wie ein Sprengschuß. „Es war seine Schuld“ – war Puttys erster Gedanke, als er wieder zu sich kam. Er hatte wirklich nichts dafür gekonnt. Es war, als wäre er ein Spielzeug aus Hausenblase gewesen, in das jemand heftig hineingepustet hätte. So plötzlich, mit einem Ruck, hatten sich seine Arme gespannt, waren seine Fäuste wütenden Hunden gleich dem Schneider an die Kehle und ins Gesicht gesprungen. Mitten aus einem Gerümpel von Tisch und Stühlen sah das angstverzerrte Gesicht des kleinen, blassen Mannes hervor. Aus einer schmalen Wunde über dem linken Auge floß ein spärliches Blutgerinsel, wurde durch die Braue abgelenkt, fand den Weg hinunter über die Wange. Als der Schneider das warme Rieseln spürte, griff er mit der Hand hin. Der Anblick des roten Saftes erfüllte ihn mit Entsetzen. „O Gott, o Gott!“ stöhnte er und zeigte Fenn schaudernd die beiden blutgefärbten Finger. Und er sah so ärmlich, so mitleidheischend, so gottergeben aus, so ganz zerknirscht im Opferlamm-Gefühl eines, von dem man verlangt, er soll einem Vatermörder verzeihen, daß Fenn ein Lächeln unterdrücken mußte. Die Schneiderin und die beiden Mädchen hatten von draußen einen heisern Schrei und heftiges Poltern gehört und stürzten herein. Als sie des Blutes ansichtig wurden, stießen sie gellende Hilferufe aus und drängten Fenn, der beschwichtigen wollte, beiseite. Sie hoben den hilflosen Schneider auf die Beine und bestürmten ihn mit Fragen, was geschehen sei. Er deutete nur stumm, mit einer herzbrechend betrübten Duldermiene auf seinen ungeratenen Sohn, der zitternd, zu Tode erschrocken, leichenfahl dastand und nun auf einmal aufheulend in die Knie brach. Wären jetzt alle mit bissigen Vorwürfen über ihn hergefallen, so hätte sich Putty vielleicht gewaltsam einen Weg in die Freiheit gebrochen. Als aber die Weiber hörten, was geschehen war, sahen sie ihn entsetzt an, wie einen Ausgestoßenen, und führten den Vater sanft hinaus in die Küche, an den Wasserstein, wo sie ihm unter der Pumpe umständlich die Wunde auswuschen. Es war ein kaum halbfingerlanger Riß, den sich der Schneider beim Aufschlagen auf die Tischkante zugefügt hatte. „Daß einem sein eigen Herzblut nach dem Leben trachten muß!“ stöhnte er, während ihm seine Älteste ein nasses Tuch auf die Stirn drückte. „Sagen Sie doch das nicht!“ fiel Fenn, fast ärgerlich, ein. „Putty hat sich gegen die Ohrfeige gewehrt, und dabei sind Sie zu Fall gekommen.“ „Wollte Gott, daß du recht hättest, Fenn,“ hauchte das Schneiderhinchen. Im Zimmer drinnen hörte man Putty schluchzen und von Zeit zu Zeit leidenschaftlich aufheulen. „Ich tu ja alles, was ihr wollt! Der Vater soll nur das nicht sagen, nur das nicht!“ Der Schneider wurde allmählich gerührt. „Führt mich zu ihm hinein,“ sagte er matt. Er war sich nie so groß, so edel, so erhaben vorgekommen wie jetzt, wo er dem schluchzenden Opfer seiner Beschränktheit die Hände auflegte und ihm versicherte, er wolle ihm denn also noch einmal verzeihen, und er hoffe, er werde die Lehre beherzigen, mit der ihn der liebe Herrgott hart am Abgrund des Vatermordes vorbeigeführt habe. Vierzehn Tage später bezogen Fenn Kaß und Putty Heinen ihre Zellen im Luxemburger Priesterseminar. Zweites Buch Erstes Kapitel Um die Menschen ist es manchmal wie um Schachfiguren. Ein Spiel ist vorbei, und das Leben stellt die Figuren zu einem neuen Spiele auf. Jahrelang ist es vielleicht, als erlebten sie Großes, aber ihre Schicksale waren nur Schein, Ereignisse ohne Beziehungen, und darum ohne Bedeutung, Erlebnisse ohne Ausstrahlung, Schicksale ohne Widerhall an andern Menschenschicksalen. Dann eines Tages beginnt das neue Spiel, und die Fäden neuer Glücks- und Unglücksgewebe spinnen sich zwischen den Menschen. Was seit den letzten Jahren mit den Menschen vorgegangen ist, die uns in dieser Erzählung nähergetreten sind, war die Aufstellung zu einem neuen Spiel auf dem Schachbrett des Lebens. Fenn Kaß und Putty Heinen hatten ihre drei Jahre im Seminar in der unheimlichen Ruhe verbracht, in der geistliche Seminaristen diese dunkle Durchgangszeit vom Triebleben der Jugend zum pflichtbeherrschten Berufsdasein zu verbringen scheinen – denn nach außen wird von den Kämpfen, deren Zeuginnen die Zellenwände jener Anstalt sind, nichts laut. Fritz Lampert hatte in Brebach die Mühle seines Onkels übernommen, nachdem ein ungebärdiges Pferd dem alten Hagestolz, der es eigensinnig zähmen wollte, den Schädel eingetreten hatte. In dem neuen Lampertshaus in Brebach aber, das sich über den Trümmern des alten aufzubauen versuchte, waltete als Hausfrau die frühere Lehrerin „Brauns Marjänni“. Es war keine erfreuliche Sache, wieso das gekommen war. Schon als Lehramtskandidatin und dann als angehende Lehrerin in Brebach, wo Fritz durch seinen Einfluß ihr die Stelle hatte verschaffen helfen, war Marjänni im Hause des Jugendgespielen häufig zu Gaste gewesen. Erst besuchte sie Fritz in Begleitung einer Verwandten, dann geschah es immer öfter, daß sie in Brebach spät abends weit um die Gärten herumschlich und bei Fritz zur Ucht ging, oder daß er auf ein Stündchen in ihre Stube im ersten Stock der Mädchenschule kam. Dann spielten sie „Mühlchen“ oder Sechsundsechzig, tranken einen mit Nußschalen angesetzten süßen Schnaps und redeten von den Tagen ihrer Kindheit. Sie hatten einander nicht eigentlich lieb. Es war die süße Angewöhnung, die sie einander in die Arme führte. Marjänni machte gerade die leidige Prüfungszeit der jungen Lehrerinnen durch, in der die armen Dinger zwischen Pfarrer und Bürgermeister, diesem und jenem einflußreichen Bauern und seiner Bäuerin, der Pfarrersköchin und sonst einer gottesfürchtigen Seele nicht mehr wissen, wie der rechte Pfad geht und ganze Abende voll Herzeleid verlassen daheim sitzen. Da war Fritz Lampert derjenige gewesen, der in solchen Augenblicken der Hilflosen Stärke und Stütze vortäuschte, und sie war ihm in Erlösungsfreude und Vergeltungsbedürfnis anheimgefallen. Acht Tage lang hatten sie sich gemieden nach jener Nacht. Dann trieben ihn die hungrigen Sinne wieder ihr zu. In ihr aber hatte der Ordnungssinn und Haushaltungstrieb der Frau, die in ihrem Leben wie in ihrem Wäscheschrank Ordnung halten will, wieder die Oberhand gewonnen, und sie hatte Fritz mit Fasten und Milde dahin gebracht, daß er ihrem Verhältnis rechtzeitig die standesamtliche Sanktion gab. Und so war sie zu Ostern in der Lampertsmühle die schöne Müllerin geworden, und schon um Mariä Himmelfahrt war der Hochzeit die Taufe gefolgt. Ungefähr um dieselbe Zeit, da in Brebach der kleine Stammhalter des Hauses Lampert über die Taufe gehoben wurde, zog der Jugendfreund seiner Mutter, Fenn Kaß, als wohlbestallter Kaplan mit seiner Mutter und dem alten Wöllem ins Dorf und wurde von Feuerwehr und Gesangverein, von männlicher und weiblicher Jugend festlich empfangen und nach Gebühr und Überlieferung geehrt. Sein Pfarrer, Herr Brendel, hatte die dünnen, geschlossenen Lippen in die Breite gezogen und ihm eine magere, blutleere Hand mit schwarzgeränderten Fingernägeln zum Gruße gereicht. Er hatte dabei die Hoffnung ausgesprochen, daß sie in segensreichem Wirken mit Gottes Hilfe einander in die Hände arbeiten würden. Pfarrer Brendel, der auf die hübsche Lehrerin nie gut zu sprechen gewesen war, hatte es sich nicht verkneifen können, einige Zeit nach Fenns Installation die Geburt des jungen Lampert in einer Predigt zu feiern, die mit feinen und groben Anspielungen auf den Fall gespickt war. Am selben Sonntag Abend hatte er seinen neuen Kaplan zu Tisch, und es entspann sich zwischen beiden folgendes Gespräch, bei welchem Fräulein Brendel, gierig aufhorchend, mit den Händen den Nickelaufsatz des kalten Stubenofens streichelnd, daneben stand, bis es heikel wurde und der Herr Bruder sie hinauswinkte. Den Rest hörte sie dann durch das Schlüsselloch. „Ich habe diesem Frauenzimmer überhaupt nie über den Weg getraut!“ sagte Pfarrer Brendel mit zusammengekniffenen Brauen. „Warum?“ fragte Fenn kurz und abweisend. „Sie sah schon danach aus. Eine Lehrerin zieht sich doch so nicht an.“ Fräulein Brendel räusperte sich zum Zeichen ihres Einverständnisses. „Mir ist nie aufgefallen, daß Fräulein Braun sich extravagant angezogen hätte,“ sagte Fenn Kaß. „Nun ja, nicht gerade extravagant. Aber es gibt im Äußern der Frau denn doch gewisse – wie soll ich sagen? – Besonderheiten, gewisse Linien, deren Betonung auf eine eitle und leichtfertige, vielleicht gar unkeusche Sinnesart deutet.“ „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ „Nun, ich will mich aus Schicklichkeitsgründen nicht deutlicher ausdrücken!“ Und Pfarrer Brendel schnaufte vor nachträglicher Entrüstung. „Ich habe mich nie auf dergleichen verlegt.“ „Sie weichen mir aus.“ „Das tue ich manchmal, wenn ich merke, daß anders das Gespräch auf keinen grünen Zweig kommt.“ Pfarrer Brendel dachte eine Weile darüber nach, ob sein Kaplan ihm mit diesen Worten wohl eine Zurechtweisung habe erteilen wollen. Aber im Bewußtsein seines guten Rechts setzte er sich darüber hinweg und suchte zuvörderst, das angeschnittene Gesprächsthema in seinem Sinne zu erschöpfen. „Und dann: Die Sache mit Fräulein Braun und diesem hergelaufenen Lampert sah ich lange kommen.“ „Wieso?“ klang in feindseliger Zurückhaltung die Frage des Kaplans. Pfarrer Brendel winkte seine Schwester hinaus und fuhr fort: „Herr Kaplan, Sie sind erst seit ein paar Wochen im Dorf. Sie scheinen nicht zu wissen, was vorher die Spatzen von den Dächern pfiffen.“ „Was denn?“ „Daß unser tugendhaftes Fräulein Lehrerin Abend für Abend ihren Freund Lampert besuchte und stundenlang mutterseelenallein bei ihm zubrachte.“ „Das ist nicht wahr.“ „Wieso, Herr Kaplan, das ist nicht wahr?“ „Das glaube ich nicht.“ „Ob Sie es glauben oder nicht, es ist so.“ „Ich kenne Fräulein Braun von Kindheit auf, ich halte sie nicht für fähig ...“ „Lernen Sie die Menschen kennen, Herr Kaplan. Frau, sage mir, wie du dich anziehst, und ich sage dir, wer du bist.“ „Na ja, das ist ja auch eine Psychologie,“ sagte Fenn obenhin. Er hatte wirklich keine Lust, mit dem verbauerten Menschen sich auf einen längern Wortstreit über einen so explosionsgefährlichen Gegenstand einzulassen. Die Gerüchte über das Verhältnis Marjännis zu Fritz waren früher tatsächlich nicht bis zu Fenn gedrungen. Um so brutaler hatte sich ihm jetzt die Wahrheit enthüllt. Auf dem Nachhauseweg suchte er sich über seine Betroffenheit klar zu werden. Es war ein milder Herbstabend. Fenn ging vom Pfarrhaus die Straße bergauf, an den letzten Häusern vorbei, durch einen mit niedrigem Gebüsch eingefaßten Hohlweg bis zur Höhe, wo der Wald anfängt und man die Nähe und Ferne mit dem weitgeschlängelten Fluß, dem in großen Schlingen ausbiegenden Tal, dem Dorf und seinen Äckern und Wiesen beherrscht. Hier hinauf war er gleich am ersten Tag nach seinem Einzug in Brebach gestiegen, seinem innersten Bedürfnis nach Klarheit und nach Überblick über die Dinge folgend. Er kannte aus seinem Seminarleben die Wohltaten der „Retraite“, der tagelangen, gewollten Einsamkeit, in der sich alles Vergängliche wie ein Niederschlag auf den Boden der Seele senkt und diese mit ihrem Wesen geklärt und still darüber steht. Fenn Kaß stand da, in allen Weiten der einzig wache Mensch. Die Nacht mit ihren leisen Geräuschen, eine Frucht, die leise in die Stoppeln fiel, ein kurzer Lufthauch, der auf eine Sekunde das Rauschen des Flusses herübertrug – die Nacht war um ihn, wie ein dunkler, stiller Weiher, der sich mit unsichtbaren Ufern um einen breitet und auf dessen Spiegel ab und zu eine Blase mit geheimnisvollem Klang zerspringt. Dann wuchs aus der Stille das Grollen eines nahenden Schnellzuges, der bald weit unten vorbeiglitt. Feuerschein hauchte die dem Schlot entqualmenden Wolken an, die Wagenreihe glimmerte mit ihren hellen Scheiben durch die Landschaft, wie nachts auf einer schwarzen Wand ein Phosphorstrich. Jetzt war es wieder totenstill. Fenns Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel. Er lehnte an dem Stamm eines hoch ausgeästeten Kirschbaums, von dem er mit dem Blick den ganzen Umkreis des Horizonts umfaßte. Das Band des Flusses leuchtete matt vom Widerschein des Nachthimmels, die steigende Masse der Ferne mit den dunklern Flecken der Wälder lastete schwer wie in unsichtbare Unendlichkeiten hinaus, die hellen Häuser des Dorfes unten in der Talsenkung drängten sich aneinander, wie schlafende Tiere im Pferch. Fenn Kaß dachte mit wehem Zorn an die Freundin seiner Kindheit und Jugend. Auf dem Grunde seiner Gedanken stand schmerzhaft, mit den Augen eines wunden Tieres, die Frage: Warum hat sie mir das getan? Bis sich die Antwort durchrang, erst zag, dann herrisch: daß er zu solch einer Frage kein Recht hatte. Was war jenes Weib denn ihm schuldig, ihm, der dem Weibe entsagt hatte? Wieder einmal, wie damals bei dem Schimpf der betrunkenen Burschen, dämmerte diesem Leidenschaftslosen auf, was seine Entsagung letzten Endes bedeutete. Solange die Frau, die allein er unbewußt zu seinem Leben je in Beziehung gebracht hatte, gleichsam geschlechtslos, ein Wesen an und für sich, in seinem innern Gesichtskreis stand, solange die Besitzfrage nicht gestellt war, solange hatte in ihm auch der Besitzerinstinkt geschlummert. Nun war er brutal vor die Tatsache gestellt, daß diese Frau ihre Weibheit, das Besondere, an das er nie mit wachen Sinnen gedacht hatte, an einen anderen weggeworfen hatte, weil sie bei diesem zu finden wußte, was ihr Freund ihr nicht geben durfte. Das war die Stunde, in der Fenn Kaß die Zähne zusammenbiß, heißen Herzens und grimmigen Gemüts erst das Opfer brachte, das er längst schon gebracht zu haben wähnte. Aber er brachte es, er wurde mit sich fertig. Wie einen unbändigen Falken schmiedete er seinen Willen fest an den Gedanken, daß alle, die drunten in den dämmerhellen Häusern schliefen, ein Recht hatten auf seine Liebe, daß er ihnen Gutes tun mußte, und daß er sie mit Liebe zu sich zwingen wollte. Er wanderte ziellos querfeldein, die ganze Nacht, und als der Morgen kam, weitete sich seine Seele zumal mit der Welt, die um ihn war. Eine Flur nach der andern, ein Hügel um den andern, drang das Land leise und unwiderstehlich ringsum aus dem Dunkel, wurde scharf und klar, und so hellte sich in Fenn Kaß die dunkle Welt seines Wollens auf, bis seine Zukunft in kühnen, deutlichen Umrissen vor ihm stand. * * * * * Mutter Kaß und der alte Wöllem waren um ihren Herrn Kaplan sehr in Sorge gewesen und freuten sich, die eine mit lautem Gruß, der andere mit zufriedenem Grunzen, seiner Heimkehr. Frau Kaß saß in der Küche am Herd und drehte energisch die Kurbel der Kaffeemühle, die sie zwischen den blaubeschürzten Knien hielt, Wöllem ging zwischen Küche und Schuppen wackelbeinig hin und her und schaffte Reisig für das Morgenfeuer. „Denkst du daran,“ fragte Frau Kaß, „daß du heute abend den Burschen zum Besten geben wolltest?“ Fenn hatte bei seiner Installation in Brebach von der männlichen Dorfjugend ein grasgrünes Plüschsofa geschenkt bekommen und wollte heute abend dafür ein Fäßchen Bier auflegen. Er sah nach den Zigarren, fragte, ob die Mutter für die nötigen Schinkenbrote gesorgt und ob Wöllem die erforderlichen Vorkehrungen für einen ungestörten Zapfbetrieb getroffen habe. – Alles war bereit, sie konnten kommen. Und sie kamen. Sie wußten, was sich schickte, denn sie rieben klirrend alle, Mann für Mann, umständlich ihre genagelten Sohlen an dem Kratzeisen ab, fuhren sich beim Hutabziehen gleich mit der Hand, die die Krempe hielt, glättend über den Scheitel bis in den Nacken, und jeder war bestrebt, sobald er dem Herrn Kaplan die Hand gedrückt hatte, durch die Reihe der Kameraden hindurch rücklings mit tastenden Ellenbogen in den Hintergrund unterzutauchen. Es waren Menschen von ungeschlachter Kraft, die zuerst in der beständigen Angst lebten, sie könnten in der Stube des Herrn Kaplans irgend etwas versehentlich umschmeißen oder Löcher in den Fußboden treten. Erst allmählich wurden sie sicherer, da sie merkten, daß Frau Kaß und ihr Sohn sie gar nicht mißtrauisch beobachteten, wie sie es wohl von ihrem Pfarrer und seiner Köchin gewöhnt waren. Der alte Wöllem gar, der so vergnügt herumhumpelte und ungestraft nach seinem sauern Rolltabak duftete, flößte ihnen vollends Zutrauen ein, und sie wurden bald zutunlich. Der Herr Kaplan war ja auch gar nicht so unnahbar würdevoll, so lateinisch, wie die andern geistlichen Herren, die sie kannten. Erstens war er gerade so ein starkknochiger Enakssohn wie sie selber. Zwar seine Hände waren nicht schwielig und erdfarben, wie ihre, aber er wußte sie zu gebrauchen. Das hatten sie gesehen, als Wöllem das Bierfäßchen hereingerollt und Fenn Kaß es freihändig auf den Tisch gehoben hatte, wo es jetzt zwischen zwei Holzscheiten festgeklemmt lag. Und als der Herr Kaplan den Hahn ins Faß schlug, dachten alle, was er für einen geschickten Hammerschwung hatte und wie er sich so ganz sachgemäß und gar nicht linkisch dabei anließ. Und dann: Alles gefiel ihnen an dem neuen: daß er so kameradschaftlich mit ihnen anstieß, daß beim Lachen seine kräftigen Zähne blitzten, daß er bei der gemütlichen Unterhaltung weltlich ungezwungene Redensarten gebrauchte, daß seine Mutter ihn nicht „Ihr“ und „Herr“, sondern du und Fenn nannte. Und es war trotzdem – das fühlten sie, wenn auch ohne Scheu, so doch deutlich heraus – es war doch eine Kluft zwischen ihm und ihnen. Nicht nur seine Gelehrsamkeit: sein ganzes Wesen, die Reife und Sicherheit, die in ihm waren, die ruhige Überlegenheit, der sie sich gern beugten. Sie mißbilligten es denn auch, als ihr Hauptspaßmacher, der Schmiede-Anton, mit dem Herrn Kaplan gleich vertraulicher tat, als er es ihrem Empfinden nach gedurft hätte. Aber Fenn nahm nichts krumm und ging gemütlich auf die Scherze ein. „Man merkt, daß Sie Schmied sind. Drei meiner Onkel waren Schmiede, und sie machten alle drei gern ein Späßchen.“ „Ja, Herr Kaplan, wenn man so bei der Esse steht und den Blasebalg zieht, dann fällt einem allerlei ein.“ Und Fenn Kaß erzählte, wie es ihm immer einen Mordsspaß gemacht hatte, den Blasebalg zu ziehen, wie stolz er gewesen war, als er es schon mit einer Hand zuwege brachte, gerade wie der Onkel und seine Gesellen. Wie immer in der Schmiede sich die Burschen zusammenfanden, ein Eisen in der Esse anglühten, um ihre Pfeife damit in Brand zu setzen und wie sie dann ein halbes Stündchen blieben und Scherze machten und Geschichten erzählten, daß bei ihrem Lachen die Nachbarschaft aufhorchte. * * * * * Allmählich wurde die Gesellschaft warm, und Fenn Kaß sah sich einen nach dem andern an und horchte auf den Widerhall ihres Innern. Das waren ja jetzt seine Kameraden sozusagen, die Gesellen, mit denen zusammen er allerlei Lebendiges im Dorfe wirken wollte. Und er wollte sie kennen, um sicher zu sein, wessen er sich von jedem zu versehen hatte. Da waren zunächst die drei Brüder Kamp, der Johann, der Thedi und der Viktor, blonde, rotbäckige Burschen mit lustigen, blauen Augen, gutmütig, gescheit und zu jeder Arbeit anstellig. Das hatte er bald weg. Wenn von Maschinen die Rede ging, standen die drei gleich im Mittelpunkt des Gesprächs und alle andern bezogen sich auf sie, als auf die offiziösen Dorfsachverständigen. Sie lachten bei jedem Wort, das sie sagten, nicht als ob ein besonders lustiger Anlaß vorläge, sondern aus innerm Bedürfnis, aus Freude am Dasein, weil bei ihnen die Heiterkeit jede Lebensäußerung begleitete, wie das Geräusch die Bewegung. Dann waren noch zwei Brüder Masseler, der Emil und der Nikolas oder „Neckel“. Emil war von einer bäuerlich zimperlichen Erbtante in den Manieren eines sanften Knaben erzogen und hatte in einem Jesuitenpensionat des Auslandes, durch das nach alter Überlieferung alle bessern Bauernsöhne des Landes hindurchgehen mußten, eine Erziehung genossen, die ihn für alle Zeit außerhalb der andern stellte. Er war von allen der einzige, der glatt rasiert ging. Er spitzte sehr oft den Mund, wie zum Küssen, zum Zeichen, daß er reden wollte, aber er redete selten und wenig, das Mundspitzen ging dann in ein mild ironisches Lächeln über, bei dem sich jeder denken konnte: Aha, er weiß es besser, der Emil, er ist nur zu diskret. So hatte sich Masseler der Ältere, mit dem vornehmen Namen Emil, zur Freude seiner Erbtante in den Ruf eines klugen und sanften Jünglings gebracht, im Gegensatz zu seinem Bruder Neckel, der zwar auch nicht viel, aber deftig sprach und sein bißchen gesunden Bauernverstand in robusten Redensarten ausmünzte. Eben noch ging über ihn die Geschichte um von der Antwort, die er dem Herrn Pfarrer gegeben hatte, als ihm der zumutete, einen Knecht zu entlassen, der nicht in die Kirche ging. „Na ja!“ hatte Neckel gemeint, „Da’ se’t den: ‚Laaft mer de Bockel eran,‘ an dann hun ech en Dreck, Här Paschto’uer.“ Der Längsten und Stillsten einer unter der ganzen Schar war „der Ruß“. Eine Hüne mit einem Kalmückenschädel, der in der ganzen Gegend als unverbesserlicher Wild- und Fischdieb bekannt und dem trotzdem nichts anzuhaben war. Dutzende Male hatten ihn die Gendarmen auslauern wollen, und er hatte ihnen jedesmal eine Nase gedreht. Niemand wußte, in welchem hohlen Baum jeweils sein rostiges Schießeisen versteckt war, aber so viel war sicher, daß der Ruß in der Nähe desselben hohlen Baumes gerade einen Wildwechsel ausgespürt hatte. Die Fische im Fluß kannte er mit Namen, er fing sie, bis unter die Arme und oft bis über den Kopf im Wasser, mit den Händen, füllte sie beim Gurt in die weiten Hosenbeine, die unten in den Strümpfen staken, und ließ sie, wenn ihn die Gendarmen überrumpelten, gemächlich nach unten wieder herauszappeln. Mit dem Ausdruck der beleidigten Unschuld erklärte er dann, er habe doch nur „Ried gerupft“, um seine Fässer zu kalfaktern, und hatten die Gendarmen den Rücken gedreht, so suchte er sich unter dem Uferrain und aus den Schilfbüscheln seine entronnene Beute wieder zusammen. In einem gewissen drolligen Gegensatz zu all diesem schwergliedrigen Menschtum stand der „Fritt“. Der Fritt war ein kleiner beweglicher Kerl, an dem alles Nerv und Neugier war. Sowie eine Erscheinung in den Umkreis seiner Wahrnehmungen trat, nahm er sie an, wie ein Hund das Wild, und seine hohe, verschleierte Stimme kläffte in unablässigen Fragen nach dem Wie, Warum, Woher und Wohin der Dinge. Er hielt mit seinem Scharfsinn die Andern, Stärkern in Schach, und es wagte sich nicht leicht einer an ihn. „Er beißt,“ sagten sie von ihm, und tatsächlich hatte er einmal bei einer Rauferei sich in die Wade eines Gegners festgebissen. „Na ja,“ krähte er heiser, als einer auf diese Art der Verteidigung anspielte, „jeder hilft sich, wie er kann. Meinen Sie nicht auch Herr Kaplan?“ Und der Fritt gab sich nicht zufrieden, bis er die Meinung des Herrn Kaplan über den Fall ergründet hatte. Wer da glaubt, daß sich auf dem Dorf die persönlichen Besonderheiten im Einerlei des Werktags verwischen, begeht einen schweren Irrtum. Nirgends sind die Typen so scharf und eckig herausgearbeitet, nur daß sie sich oberflächlicher Wahrnehmung nicht offenbaren. Fast jeder ist dort ein abgeschlossenes Original mit fester anerkannter Eigenart, und die Leichtgebackenen sondern sich bald heraus und gelten nicht für voll. Die Zuchtwahl hat sie längst aus den Reihen der eigentlich Besitzenden verbannt, sie wohnen in den Taglöhnerhütten, wo die letzten Häuser stehen, aber auch sie werden in der eigenartigen Umwelt jeder zu einem menschlichen Sonderfall. Je nach der Blutmischung geht ihr Geschlecht zugrunde oder arbeitet sich langsam, durch zwei, drei Generationen – langsamer als in den Kreisen, wo der Besitz leichtflüssiger ist – bis in die Front der Vollgültigen hinauf. Auch von dieser Menschensorte waren bei Fenn Kaß an jenem Abend mehrere zu Gast: der Jänni, ein gutmütiger Landstreicher, von dem die Sage ging, er übe manchmal das Sattlerhandwerk aus und dem „die Rede nicht wich“. Man verstand nicht alles, was er sagte, aber meist kugelten sich Jännis Kameraden – wenn bei ihm von Kameraden die Rede sein konnte – über das wenige, was sie verstanden, weil es entweder blödsinnig dumm oder verblüffend gescheit war. Ein anderer „Leichtgebackener“ war da, dessen Vater es schon zu nichts gebracht hatte, und von dem es wahrscheinlich war, daß sich unter ihm die Geschicke seines Hauses auch nicht zum Bessern wenden würden. Sein Vorname war eine onomatopoetische Anpassung des nicht ganz seltenen „Nikelas“ an die träge, nachgiebige und langstielige Behäbigkeit des Mannes: er hieß nämlich „Niegela“. Alles, wozu er angestellt wurde, besorgte er mit einer stumpfsinnigen Gewissenhaftigkeit, aber es dauerte unheimlich lang. Niegela war eigentlich nur dazu da, daß man sich über ihn lustig machte. Es hatte nicht den Anschein, als ob ihm irgend etwas zustoßen könnte, worüber man nicht lachen würde. Niegela war einmal auf dem Grund eines neuen Brunnens verschüttet und mit knapper Not, mehr tot als lebendig, heraufgeschafft worden. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte er den Umstehenden eine Grimasse geschnitten, weil er es für seine Pflicht gehalten hatte, zu verhindern, daß sich die Leute um ihn noch weiter Sorge machten. Heute abend betrank er sich sinnlos, nicht weil es ihm, sondern weil es den andern Vergnügen machte, wenn sie ihn mit seinen langen Beinen über die Straße torkeln sahen. Alle mit Namen nennen, die an jenem Abend dem Herrn Kaplan die Ehre schenkten, wäre nicht möglich. Es war auch viel menschliches Mittelgut da, wackeres Bauernblut, mit kräftigen Kinnladen, hellen Augen und ungeschlachten Fäusten, denen alles, was nicht Stall und Scheune und Acker war, wie bloßer Zeitvertreib ohne irgendwelche Wichtigkeit vorkam. Ihr Ehrgeiz reicht nicht über die Nasen ihrer Gäule und die Grenzen ihrer Gemarkung, und ihre Seelen sind wie Söldner, die der lautesten Werbetrommel folgen. * * * * * Dergestalt war die Gesellschaft, die Fenn Kaß zu einem Glas Bier, einem Schinkenbrot und einer Zigarre um sich versammelt hatte. Es dauerte nicht lang, so war er mit den drei Kamps Burschen in einem angeregten Gespräch über die geplante Feldbereinigung. Alles ginge am Schnürchen, sagten sie, nur Emil Masseler und seine Erbtante wären störrisch. Der sanfte Emil spitzte den Mund und lächelte, zuckte langsam die Achseln und meinte zuletzt, es sei ja alles gut, wie es sei. Da mischte sich der Fritt ins Gespräch und steckte dem hochmütigen Großbauernsohn energisch Bescheid. Ob er denn glaube, das Dorf werde sich durch seinen Starrkopf im Fortschritt hindern lassen. „Fortschritt?“ sagte Emil Masseler mit lächelnder Skepsis. „Jawohl, Fortschritt!“ begehrte das Frittchen auf. Und erklärte heiser krähend, mit vielen hochdeutschen Ausdrücken, das Wesen und den Vorteil der Feldbereinigung im Interesse der rationellen Ackerwirtschaft. „Was meinen Sie dazu, Herr Kaplan?“ schloß er seine Ausführungen. „Ich wollte, ich hätte dem Emil sein Geld und er wüßte mein Französisch,“ lallte der Jänni, und ein wieherndes Gelächter machte dem sachlichen Redefluß des Kleinen ein Ende. Aber das Frittchen gab noch nicht klein bei. Es verzieh dem Glattrasierten nicht sein Hohnlächeln über den Fortschritt und begann, trotz dem Herrn Kaplan, auf Emil wegen dessen Reise nach Lourdes zu sticheln. Denn Masseler der Ältere war in Lourdes gewesen. „Und wenn du zehnmal hingehst,“ krähte der Fritt giftig, „deinen Dickschädel kann dir die Muttergottes doch nicht wegkurieren!“ Emil schaute auf den geistlichen Herrn, von dem jetzt sicher ein scharfer Verweis gegen den respektlosen Fritt ergehen würde. Indes, Fenn Kaß tat nichts dergleichen. „Kommt Kinder, wir wollen uns wieder vertragen,“ sagte er beschwichtigend. Emil war schmerzlich erstaunt und nahm sich vor, der Erbtante über den uneifrigen Herrn Kaplan klaren Wein einzuschenken, damit auf diesem Umweg der Herr Pfarrer erfahren sollte, wie sein Untergebener die Muttergottes und ihren treuen Verehrer Emil Masseler ungerochen verunglimpfen ließ. Von der Feldbereinigung glitt das Gespräch auf andere Gegenstände über, die auch die Allgemeinheit betrafen. Fenn stellte seinen Zuhörern, die ihn nur teilweise verstanden, eindringlich vor, wie sie sich hier draußen unverzeihlich das Leben schwer machten. An tausend Ecken und Enden könnten sie sich die Arbeit erleichtern und Zeit behalten für andere Beschäftigung, die sie vorwärts brachte. Warum, zum Beispiel, verhielten sie sich gegen Ackerbaumaschinen noch so ablehnend? Warum hatten sie keine Wasserleitung und mußten eine Menge Zeit damit verlieren, daß sie ihr Vieh zur Schwemme trieben, oder aus dem Brunnen Wasser herzutrugen? Warum hatten sie kein elektrisches Licht und hantierten jahraus jahrein mit ihren feuergefährlichen, trüben Ölfunseln in Stall und Scheune? „Elektrisches Licht!“ sagte wieder mit seinem ironischen Lächeln Emil Masseler. „Warum nicht?“ fragte der Kaplan dawider. Sie hatten in der Nähe des Dorfes die schönste Wasserkraft. Oder gar im Dorfe selbst, die Majerusmühle. „Der Lampert läuft uns nach mit seiner Mühle,“ sagte Emil Masseler. Fenn meinte, was einer auf solcher Mühle heutzutage noch verdiente, das könnte ihm die Gemeinde gern für die Wasserkraft ersetzen. Und der Lampert hätte sicher nichts dagegen, wenn ihm seine weiße Kohle allein, ohne Arbeit und Kopfzerbrechen, so viel eintrüge, wie sie es heute mitsamt der Mühle tat. Er machte seinen Zuhörern von ungefähr die Rechnung auf. Alle schenkten ihm nachdenkliche Aufmerksamkeit. Nur der sanfte Emil äußerte: „Ja, wenn das ginge!“ „Es ginge schon, wenn alle wollten,“ sagte Fenn. Die drei Kamps ereiferten sich für den Plan. Man würde natürlich das alte Rad durch eine Turbine ersetzen. „Und man könnte durch eine kleine Umleitung des Bachs das fünffache Gefälle herausbekommen,“ warf der Kaplan ein. Es war ja so einfach. Da ging eine Schlucht, der sogenannte Höhlenweg, sichelförmig um das Dorf. Fast niemand benutzte ihn, weil er vor Schmutz die meiste Zeit unwegsam war. Der Niveauunterschied vom Einfluß des Baches ins Dorf bis zur Mühle, nahe am untern Ende der Schlucht, war ziemlich beträchtlich und bildete ein Gefälle, das jetzt unausgenützt blieb. Wurde der Bach in den Höhlenweg geleitet, was oben mit einem kurzen Durchstich leicht und billig zu machen war, so hatte man einen natürlichen Mühlendeich, eine fertige Talsperre im kleinen, die Kraft für eine elektrische Anlage reichlich hergab. Niemand wurde geschädigt, Erdmassen waren kaum zu bewegen, die Kosten konnten ein paar Tausende nicht überschreiten. Es war so einfach, daß man sich wundern mußte, wie noch niemand auf die Idee gekommen war. Die drei Kamps und der Fritt waren gleich Feuer und Flamme für den Plan. Emil Masseler verhielt sich ablehnend. Die Sache gefiel ihm schon deshalb nicht, weil sie ihm keine Handhabe bot, auf seine Scholle pochend ein Machtwort dagegen zu sprechen. Denn der Höhlenweg war Gemeindebesitz, und außer Lampert war eigentlich niemand da, dessen Grund und Boden in Mitleidenschaft gezogen wurde. „Laßt euch die Sache durch den Kopf gehen,“ redete Fenn seinen Gästen zu. „Es wäre eine Sünd’ und eine Schand’, wenn es ginge und wir wollten’s nicht schaffen. Wir betrögen uns selbst um eine der schönsten Kulturwohltaten“ – er sagte wahrhaftig „Kulturwohltaten“, und den jungen Brebachern weitete sich dabei die Brust – „und dazu haben wir als Menschen doch schließlich unsern Verstand, daß wir ihn gebrauchen, um uns Gottes Erde immer schöner und wohnlicher einzurichten.“ Da kam von der Tür her eine schmalzig salbungsvolle Stimme, die sagte: „Gott hat dem Menschen seine unsterbliche Seele gegeben und seinen Verstand, auf daß er damit sein Heil wirke und seinem Schöpfer immer wohlgefälliger werde. Das dürfen Sie nicht vergessen, Herr Kaplan.“ Alle Köpfe reckten sich nach der Tür, in deren Rahmen Herr Pfarrer Brendel stand und mit zwei ausgestreckten Fingern die Gebärde des Segnens skizzierte, mit der er durch die Reihen der knienden Dorfkinder zu schreiten pflegte. „Übrigens, gelobt sei Jesus Christus,“ fügte er hinzu, und Emil Masseler sekundierte: „In Ewigkeit Amen.“ Pfarrer Brendel sah auf die Uhr. „O, so spät schon,“ tat er erstaunt. „Ich komme von einer Kranken gerade hier vorüber und wollte eben nur auf eine Sekunde hereinsehen.“ „Ich hatte Sie eingeladen, Herr Pfarrer,“ sagte Fenn. „Ich weiß, ich weiß, aber ich wollte nicht indiskret sein. Jung zu jung gesellt sich gern. Ich gehe schon wieder. Gelobt sei Jesus Christus.“ „In Ewigkeit Amen. Ich wollte auch gerade gehen, Herr Pastor. Wenn Sie erlauben –“ „Aber nein doch, Masseler, bleiben Sie, ich will dem Herrn Kaplan seine Gäste nicht entführen.“ „O, es bleiben ja noch genug. Sie entschuldigen mich, Herr Kaplan, aber ich habe meiner Tante versprochen –“ „Bitte, Herr Masseler, nichts zu entschuldigen. Gute Nacht, und lassen Sie sich den Abend gut bekommen.“ * * * * * Als die beiden draußen waren, sagte der Niegela zu den Umstehenden: „Die Kranke, die der besucht hat, die hat lange Hosen an und trinkt Schnaps.“ „Und spielt mit ihm Sechsundsechzig,“ sagte der Fritt. Es kam kein rechter Zug mehr in die Unterhaltung. Auf dem Heimweg tauschten die Burschen ihre Eindrücke aus. „Er ist ein feiner Kerl,“ sagten die Kamps. „Man kann mit ihm disputieren,“ pflichtete ihnen der Fritt bei. „Und er hat seine Zigarren nicht abgezählt,“ lobte ihn der Jänni. „Freundlich hat er nicht drein geschaut, wie der Pastor auf einmal da stand,“ stellte der Ruß fest. Und da waren sie alle darin einig, daß dieser Pfarrer und dieser Kaplan schlecht zusammen in der Deichsel gingen. „Aber da könnt ihr euch darauf verlassen,“ meinte der Fritt, „der wird ihm die Zähne zeigen, der alte Brendel steckt den nicht in die Tasche.“ * * * * * Am nächsten Morgen nach der Messe bat Pfarrer Brendel seinen Kaplan, ihn vor der Kirche zu erwarten, er habe mit ihm zu reden. „Sie haben sich da gestern abend mit den jungen Leuten eingelassen. Ich finde, man darf in dieser Beziehung nicht zu weit gehen.“ „Sie haben recht, Herr Pastor. Und ich glaube, nicht zu weit gegangen zu sein.“ „Sie haben allerhand Fragen aus dem profanen, materiellen Gebiet mit ihnen besprochen. Man muß da sehr vorsichtig sein, Herr Kaplan.“ „Ich weiß, Herr Pastor. Wir sind ja gelehrt worden, daß ein unverlöschliches Siegel uns von der Laienwelt ausscheidet und zum besondern Anteil und Eigentum Gottes macht, daß unser Amt noch über dem der Engel steht. Da klingt es freilich befremdlich, wenn wir von künstlichem Dünger und Turbinen und elektrischen Beleuchtungsanlagen zu unsern Pfarrkindern reden.“ Pfarrer Brendel hatte bei dieser Rede seines Kaplans sichtlich zum mindesten einen Steigbügel verloren, und er schuf durch Räuspern und Schnäuzen eine Pause, um wieder Herr der Lage zu werden. „Ich weiß, daß unter euch Modernen die Tendenz herrscht, zum Volk hinabzusteigen, wie ihr das nennt. Nehmen Sie sich in acht. Wer sich unter die Kleie mischt, wird von den Säuen gefressen.“ Fenn dachte: „Dagegen läßt sich jetzt nichts mehr einwenden, was diesem Mann gegenüber die Mühe lohnte.“ „Ich habe Sie beobachtet, Herr Kaplan, seit Sie in Ihren hiesigen Wirkungskreis eingetreten sind. Es wäre ja schließlich nicht so viel dagegen zu sagen, daß Sie die Leute wirtschaftlich zu beraten suchen. Das ist ja manchmal ein brauchbares Mittel, ihnen auch sonst beizukommen. Aber Sie scheinen ein sogenannter Wissenschaftler zu sein. Wie ich höre, geben Sie sich Mühe, unsern Bauernburschen allerhand astronomische, physikalische, geologische Probleme zu erklären. Sie rütteln sogar an der biblischen Schöpfungsgeschichte.“ Fenn mußte lächeln. Und Pfarrer Brendel machte eine weitere Anstrengung, sich in seiner überlegenen Stellung zu behaupten: „Glauben Sie mir, Herr Kaplan, die Wissenschaft hat schon manchen in die Wüste geführt. Wir Ältern, die wir die Erfahrung haben, wir sagen mit Christus dem Herrn: Eines nur ist notwendig.“ „Ich kann Ihnen aber Roscher zitieren. Sie kennen doch Roscher?“ sagte Fenn und dachte: „Vielleicht fragt er am Ende wenigstens, welcher?“ Aber Pfarrer Brendel brummte kaum hörbar: „Natürlich kenne ich Roscher! Was sagt denn der?“ „Roscher sagt: Sobald die Kulturüberlegenheit des Priesters aufhört, ist sein Ansehen gefährdet.“ „So? Und ich sage Ihnen: Haben Sie Kulturüberlegenheit, soviel Sie wollen, wenn Ihnen die Frömmigkeit fehlt, ist alles umsonst. _Nisi Dominus aedificaverit domum, in vanum laboraverunt qui aedificant eam!_“ „Darauf kann ich Ihnen wiederum dienen. Der Aquinate sagt –“ „Ich muß Sie bitten, mir mit Ihren profanen Zitaten vom Leibe zu bleiben. Der Aquinate! Wer ist nun das wieder?“ „Ach so, ich dachte, Sie kennten – Also sagen wir, der heilige Thomas von Aquin.“ „Den lasse ich mir gefallen.“ „Der sagt: _Inutilis pietas, quae scientiae discretione caret._“ „Hat das der heilige Thomas wirklich gesagt?“ „Jawohl, es steht in der _Summa theologiae_.“ „Na, ich glaub’s Ihnen. Aber ich muß nochmals bitten: untergraben Sie nicht mutwillig Ihr Ansehen dadurch, daß Sie sich mit den Leuten allzu gemein machen und daß Sie ihnen Dinge entschleiern, die ihnen ewig Geheimnis bleiben müßten. Sie kennen diese Sorte noch nicht genügend.“ „Haben Sie von gestern abend den Eindruck gewonnen, daß ich mich mit dieser Sorte, wie Sie sagen, zu weit eingelassen habe?“ „Das nicht gerade. In gewissem Sinne vielleicht sogar zu wenig.“ „Wie meinen Sie das?“ „Nun, ich will durchaus offen sein. Ich habe erfahren, daß in Ihrer Gegenwart über die Muttergottes von Lourdes respektlos geredet wurde, sehr respektlos, und daß Sie nicht, wie es wohl Ihre Pflicht gewesen wäre, Einspruch erhoben.“ „Eigentlich freue ich mich, daß Sie mir diese Gelegenheit zur Aussprache geben. Ich kenne zunächst nur eine Muttergottes, und die ist weder von Lourdes noch von Marpingen, noch läßt sich ihr Wohnsitz sonstwie geographisch bestimmen. Was nun speziell den Wunderglauben an Lourdes betrifft, so vermag ich nicht, ihn zu teilen. Wenn dieser Wunderglaube Bedingung für meinen geistlichen Beruf gewesen wäre, trüge ich heute nicht dies Kleid.“ „Wie, Sie glauben nicht an Lourdes?“ Fenn sagte schonungslos, was er über die Geschichte von Lourdes alles gelesen hatte. „Es ist furchtbar!“ murmelte Pfarrer Brendel vor sich hin. „Was finden Sie Furchtbares daran? Wenn Sie wüßten, wie in die Geschichte von Lourdes die Politik und die Habsucht hineingespielt haben, fänden Sie es sehr angebracht, daß die Wahrheit über den Ursprung jener Wunderhistorie nicht verschüttet wird. Die daran glauben wollen, mögen in ihrem Glauben Trost suchen und finden, ich werde ihnen eine Überzeugung nicht stehlen, die ihre Leiden lindern kann. Aber zwingen lasse ich mich nicht, daß ich etwas unterstütze, was ich für – sagen wir einmal, für künstlich aufgebaut halte.“ „Und weiß man im Bistum, wie Ihr Standpunkt ist?“ „Ich habe seinerzeit da, wo es darauf ankam, kein Hehl daraus gemacht.“ Pfarrer Brendel war niedergeschmettert. Die Persönlichkeit seines Kaplans war ihm in den paar Minuten unheimlich geworden. Er fand einen Ausweg: „Herr Kaplan,“ sagte er, „ich schlage Ihnen vor, wir gehen zusammen in die Kirche und beten, daß wir über diese schlimme Anfechtung hinwegkommen.“ Fenn ging nachdenklich mit. Und während neben ihm sein Pfarrer, das Gesicht in den Händen, nach Sammlung rang, dachte der junge Kaplan, wie merkwürdig es sei, daß man in seinem Beruf so oft auf die ärgsten Hindernisse dort stößt, wo man die größte Hilfe zu finden berechtigt wäre. Zweites Kapitel Frau Marjänni Lampert stand mit geschürztem Rock am Herd und kochte ein Milchsüppchen für ihr Kind, als Fenn Kaß mit gebücktem Kopf durch die Türe trat. „Gelobt sei Jesus Christus. Wie geht’s, Frau Marjänni?“ Sie ließ vor Schreck den Löffel in den Topf fallen, streifte den Rock herunter und wischte hastig in seinen Falten die Hände ab. „O Mamm, wat sin ech elo erschreckt!“ „Nun, einen guten Abend werd’ ich doch wohl noch geboten kriegen,“ lachte er. „Guten Abend auch. Und wo kommst du ... wo kommen Sie denn so auf einmal her?“ Marjänni stand schamübergossen. Hatte denn der, der so plötzlich ihr da gegenübergetreten war, nicht ein Recht auf sie gehabt? War ihr nicht immer gewesen, als gehörte sie zu ihm, seit den fernsten Tagen ihrer Kindheit? Kam er jetzt, Rechenschaft von ihr zu fordern? Dagegen bäumte sich etwas in ihr, etwas, das wie Trotz aussah und auch ein wenig Stolz war, von dem Bauernstolz, der von ihrem Mann auf sie abgefärbt hatte. Schließlich hatte sie doch eingeheiratet in die reiche Lampertsfamilie, die in Wiesing seit hundert Jahren immer die reichste gewesen war und zu der immer das ganze Dorf emporgeblickt hatte. Und sie war in Brebach die reiche und schöne Müllerin und hatte nach niemand zu fragen. Was wollte er denn von ihr, der arme Küstersfenn, der bei ihrem Schwiegervater die Kühe gehütet hatte für ein Butterbrot oder ein Stück Zwetschenkuchen Jawohl, sie hatte sich mit ihrem Fritz vergangen, aber das brauchte ja jetzt niemand mehr zu wissen. Was wollte er also von ihr? „Ei ei,“ dachte Fenn Kaß, „das ist nicht mehr die alte Marjänni, das ist wirklich und wahrhaftig die Frau Lampert. Na, um so besser.“ Er besah sie sich eine Weile, und es fiel ihm auf, welche Veränderung mit ihr vorgegangen war. Es war ja noch dasselbe Gesicht, so ziemlich auch noch dieselbe Gestalt. Aber etwas fehlte gegen früher, etwas, das wie eine Hemmung über dem ganzen Menschen gelegen hatte und jetzt verschwunden war. Und etwas war auch in dem Ausdruck dieses Gesichts und in allen Bewegungen, was früher nicht darin gewesen war. Etwas, was Fenn an Fritz Lampert erinnerte. Aber das war wohl nur Einbildung. Einerlei, es hatte sich bei ihm festgesetzt. Es kam über ihn, wie damals, als ihm der Pfarrer von den heimlichen Zusammenkünften der beiden erzählt hatte. Fenn war zumut wie einem, der ein liebgewordenes Haus von weitem wiedersieht und weiß, es steht noch und schaut ungefähr noch aus wie früher, aber ein anderer wohnt drin, und für dich hat es keine Stätte mehr. „Wo ich herkomme?“ ging er auf Marjännis Frage ein. „Um die Wahrheit zu sagen: Geradewegs aus der Kirche.“ „Das hätte ich mir denken können. Da gehört Ihr ja eigentlich auch hin,“ sagte sie und suchte gleich, sich Vergebung für ihre plumpe Rede zu erlächeln. „Freilich, die Kirche ist ja unsere Werkstatt.“ Er wollte fragen, ob Fritz zu Hause sei, und wußte plötzlich nicht, ob er noch „dein Mann“ sagen dürfte, da sie vorhin über das „du“ gestolpert war. „Ist Fritz zu Hause?“ fragte er schließlich. „Nein, mein Mann ist auf der Jagd,“ beeilte sie sich zu entgegnen. „Aber meinen Sohn kann ich dir vorstellen. Komm doch herein in die Stube.“ Nein, er dankte. Er hätte mit Lampert reden wollen, er werde ein andermal wiederkommen. Und er empfand auch, daß sie mit ihm den rechten Ton nicht finden würde, daß es ihr lieb wäre, wenn er ginge. Er schlug den Weg in die Äcker ein und kam in die Nähe des Höhlenwegs. Am Rande der Schlucht stand Fritz Lampert, die Jagdflinte schußbereit, während unten im Gestrüpp seine Bracken läuteten. Fenn blieb stehen und wartete ab. Ein Häschen brach oben aus dem Gestrüpp, tat ein paar Sätze über einen Sturzacker und überschlug sich im Feuer, daß seine weiße Bauchwolle schimmerte. „Bravo!“ rief Fenn, und Fritz antwortete geschmeichelt: „Ah, du bist das! Den hab ich mir prompt geholt, was!“ Er nahm dem apportierenden Hund den Hasen ab und tat ihn nach den üblichen Manipulationen in die Jagdtasche. „So, jetzt kann ich heimgehen, jetzt lacht mich die Frau nicht aus.“ Fenn dachte: „Gute Laune ist die beste Maklerin“ und fing mit Fritz gleich von dem Geschäft zu reden an, das er mit ihm plante. Er erklärte ihm an Ort und Stelle das Technische und sagte, was man von ihm beanspruchte: daß er sich wegen seiner Wasserkraft abfinden ließe und die Mühle, die dem Wohnhaus gegenüberlag, als Betriebsgebäude für die elektrische Anlage billig hergäbe. Fritz wollte sich die Sache mal überschlafen. Daß ihm seine Mühle nicht viel einbrachte, gab er zwar nicht zu, indes, er wollte mit sich reden lassen. „Und nun laß ich dich nicht los, nun mußt du mit mir zu Nacht essen.“ „Nein, Fritz, ich danke wirklich. Ich war vorhin bei euch zu Haus, ich habe deine Frau begrüßt ...“ „Um so besser. Du mußt mir den Gefallen tun.“ Er faßte Fenn am Ärmel und zog ihn mit fort. * * * * * Ja, gemütlich sah es aus bei Lamperts. Die Frau wußte ein Haus zu führen. Anfangs sei es ihr ja schwer gefallen, scherzte Fritz, da habe manchmal noch das Fräulein Lehrerin überwogen, aber sie habe sich als Hausmutter gemacht, sie koche leidlich, und es lasse sich mit ihr leben. Nur mit der Butter gehe sie zu sparsam um, wohl noch von zuhause her. Er müsse an allem reichlich Butter haben, und wenn sie zwei Mark das Pfund koste. Er begann sehr viele Sätze mit „ich“, um zu sagen, wie er, Fritz Lampert, dies oder jenes am liebsten habe. „Ich trinke keinen Viez, der ist mir zu läpsch.“ Oder: „Ich esse vom Hasen nur das Contrefilet, das hier, unterm Rückgrat sitzt.“ Und Frau Marjänni tat es ihm schon nach: „Mein Mann mag Fische nur, wenn sie direkt aus dem Wasser kommen,“ und: „Mein Mann könnte längst Feuerwehrkommandant sein, wenn er wollte.“ Fritz und Marjänni konnten es nicht fassen, daß Fenn Kaß sich in den Kopf gesetzt hatte, den Brebachern eine elektrische Kraftanlage zu bauen. „Glaubst du denn, daß du dabei etwas aufsteckst?“ fragte Fritz. „Ich will doch nichts aufstecken, ich bin schon zufrieden, wenn die Leute ihr Licht für Stall und Scheune und die Kraft für ihre Dreschmaschinen und dergleichen billig bekommen.“ „Was hast denn du davon?“ meinte Marjänni. „Die Freude, daß ich ihnen einen Dienst geleistet habe.“ Fritz prustete los, und Marjänni sagte: „Doch, Fritz, ich glaube ihm das. Laß ihn doch, wenn es ihm Spaß macht.“ „Na ja, es gibt also doch noch Idealisten. Frau, hol uns noch eine Flasche, und bring dir ein Glas mit.“ Es wurde gemütlich. Marjänni brachte noch eine Flasche und schüttete zum Nachtisch eine Schürze voll frischer Nüsse auf das Tischtuch. Fenn hemmte seine Zunge rechtzeitig. Er wollte sagen: „Ei, das ist ja wie am Vorabend unserer ersten Fahrt nach Luxemburg“ – da trat die blutende Gestalt des alten Lampert dazwischen und schnitt ihm das Wort ab. Marjänni trank mit und wurde gesprächig. Fenn fiel es auf, wie der junge Lampert anfing, seinem Vater ähnlich zu sehen. Er hatte schon dasselbe gedunsene Gesicht, nur blasser, dieselben Quellaugen, dieselben groben Hände, die sich schwer auf alles legten, aber aus denen die Energie des Zufassens, wie sie in den Händen der Lampertschen Vorfahren gewohnt hatte, verflüchtigt war. Und sie? „Sie sieht ihm doch ähnlich!“ dachte Fenn, während er sie verstohlen betrachtete, wie sie, eine Wange in der hohlen Hand und den Ellenbogen aufgestützt, ihm schräg gegenübersaß, neben ihrem Mann. In den Augen lag die Ähnlichkeit nicht. Das waren willfährige Gehorcherinnenaugen, die nach den Wünschen eines Gebieters spähten, nicht immer froh, manchmal mißmutig, aber immer untertan. Es waren die Augen eines Wesens, das in sich allein keine Erfüllung findet, das Ergänzung sucht und sich da gehorsam einlebt, wo sein Schicksal es am Strande absetzt. Sie war mit ihrem ganzen Wollen und Denken dem Wollen und Denken ihres Mannes magdlich untergeben, und einige Sekunden lang schnürte es Fenn wieder die Kehle, daß sie außerhalb seines Lebens ihre Erfüllung gefunden hatte. Jetzt sah er auch die Ähnlichkeit. Sie lag im Zug des Mundes. Ihre Lippen, die ehedem wie feine, rote Striche waren, glichen jetzt runden Wülsten und standen fortwährend gerade soweit geöffnet, daß man in ihrem Schatten die Zähne blitzen sah. Genießerisch breit waren ihre Lippen geworden, schlapp und satt, wie die ihres Mannes. Tiefes Mitleid mit ihr gewann allmählich bei Fenn die Oberhand. Man sprach weiter von dem Plan, die Mühle der Gemeinde abzutreten. Fritz nahm ein Blatt Papier und rechnete aus, wie sich für ihn das Ergebnis stellen würde. Er operierte mit Ziffern, in denen er seinen derzeitigen Verdienst stark übertrieb, aber dennoch fand sich, daß er kein schlechtes Geschäft machen würde. Marjänni zog das Blatt an sich und suchte zu begreifen. Die Ziffern verwirrten sich ihr vor den Augen, aber ihr Instinkt redete. Wenn Fritz die Mühle aufgab, hatte er gar keine Beschäftigung mehr. Was dann würde, wußte sie genau. Schon jetzt betrank er sich jeden Tag, machte in den paar Wirtshäusern des Dorfes die Runde und blieb halbe Tage lang draußen, wenn er wo in eine Partie Karten oder Kegel geriet. Marjänni meinte also, mit dem elektrischen Projekte sei es nichts. Fritz begehrte auf, Fenn vermittelte, und als Lampert mit groben Worten dreinfuhr, kamen seiner Frau die Tränen. Da legte er erst recht los gegen diese verfluchte Flennerei der Weiberbande. Wenn sie von drei Glas Wein das heulende Elend bekam, sollte sie doch lieber Milch trinken. Sie sollte ihre Kartoffeln kochen und ihre Kinderwindeln waschen und sich nicht dreinmischen, wenn die Männer zu reden hätten. Fenn suchte Frieden zu stiften, Fritz wurde noch gröber, und dann verteidigte sich Marjänni. Da sie mundfertiger war, als ihr Mann, kam dieser schließlich ins Hintertreffen. Er benutzte die Pausen, um mit seinem gröbsten Geschütz dazwischenzufeuern, schrie, bleich vor Zorn mit seltsam verwandelter, knödelnder Halsstimme, sie wisse ja, was sie zu tun habe, wenn es ihr nicht mehr passe, und er hätte klüger getan, sie in ihrem Schulmeisterheim zu lassen und sich eine Frau zu nehmen, die an ein Regiment gewöhnt sei, wie es in deftigen Häusern herrsche. Ein Wort gab das andere, bis Fritz rasend dastand und seinen Stuhl fluchend mit beiden Händen bis an die Decke hob, als wolle er ihn seiner Frau auf dem Scheitel zerschmettern. Aber er begnügte sich, ihn auf den Tisch zu hauen, daß Flaschen und Gläser in Splittern herumflogen. Marjänni kannte das. Sie wußte: nun wird er ruhiger. Und sie rettete sich rasch auf die Seite der gekränkten Unschuld. „Das ist ja recht nett,“ sagte sie mit kalt verweisendem Ton. „Du bringst unserm Gast ja eine merkwürdige Vorstellung bei von unserm Familienleben.“ „Ach was,“ brummte er im Verschnaufen, „du sollst mich nicht so in Wut bringen. Geh, Fenn, setz dich her, sie holt noch eine Flasche.“ Fenn mußte wohl oder übel noch eine Flasche mittrinken. Marjänni saß dabei, und es brachte ihn in tödliche Verlegenheit, daß sie ihm manchmal, wenn Fritz sie gerade nicht bemerkte, einen Blick zuwarf, der zwischen ihr und ihm eine Art geheimen Einverständnisses herstellen, einen Blick, der ihm sagen sollte: „Ja, so ist er! Was bin ich doch für eine todunglückliche Frau!“ Und im nächsten Augenblick sagte sie mit fast zärtlicher Vorsorglichkeit: „Fritz, trink nicht so schnell, du weißt ja, es bekommt dir nicht!“ Als Fenn von den beiden Abschied nahm, standen sie im Rahmen der Haustür eng umschlungen, und es kam ihm vor, als legten sie bewußt in ihren Gute-Nachtgruß ein klein wenig von der Ironie des Reichen gegen den Bettler. Ein Gefühl physischen Ekels war in ihm gegen den Lebensausschnitt, dessen Zeuge er gewesen war. Irgend etwas göttlich Reines meinte er beschmutzt und zertreten gesehen zu haben, und am trostlosesten schien es ihm, daß die, die er in solche Tiefen gestoßen sah, nicht mehr mit der starken Sehnsucht, die erlösen kann, ans Licht zu streben vermochte. * * * * * Fenns Verhältnis zu seinem Pfarrer gestaltete sich immer unerfreulicher. Brendel war aus kleinen Verhältnissen an die Spitze der wohlhabenden Pfarrei in Brebach gekommen. Er war fromm, von jener Frömmigkeit, die in Worten verdampft, dabei von robustem Erwerbssinn. Und so wickelte sich sein Leben ab zwischen dem Bestreben, „auf den Haufen zu schaffen“, wie die Leute sagten, und dem andern, seine Pfarrei nach seinem Begriff der Gottesfurcht zu stilisieren. Ein frömmelnder Bauer war ihm der Inbegriff alles Erstrebenswerten, was ein Seelsorger aus einem Pfarrkind machen kann. Und daß ihn sein Kaplan in dieser Richtung nicht unterstützte, nahm er ihm natürlich äußerst übel. Auf Schritt und Tritt sah er sein Wirken von dem frischen, weltlichen Draufgängertum dieses „Schmiedegesellen“, wie er ihn heimlich nannte, durchkreuzt. Pfarrer Brendel hatte seine Pfarrei mit einem frommen Vereinswesen wie mit Kaninchenbauen durchzogen. Er hatte einen Jünglings- und einen Jungfrauenverein, einen Paramentenverein, einen Verein des Heiligen Herzens Jesu und einen Verein des Heiligen Herzens Mariä, einen Verein vom Kindlein Jesu für Loskaufung von armen Heidenkindern und eine Bruderschaft von diesem und eine Schwesterschaft von jener Heiligen. Jeder Mensch in Brebach hatte für jeden Tag in der Woche einen andern Verein, als dessen Mitglied er sich jeweils fühlen konnte, wenn er Lust hatte. Und außerdem durchdrang der Herr Pfarrer den Gesangverein und die Feuerwehr vollständig mit seinem Einfluß, alle mehr oder weniger öffentlichen Kundgebungen des profanen Lebens suchte er mit Pietismus zu durchsäuern, allerdings nicht immer mit dem gewünschten Erfolg. Denn wenn die Brebacher aus angeborener Gutmütigkeit und innerlicher Glaubenstreue sich manches gefallen ließen, so schüttelten sie sich doch zuweilen, wenn ihr Pfarrer sie zu stark für seine Frömmlerzwecke in Anspruch nahm. Die Buchführung über seine heilige Vereinsmeierei war eine der Hauptbeschäftigungen des Pfarrers Brendel, und er ging denn auch schon mit dem Gedanken um, sie auf seinen Kaplan abzuladen, als er wahrnahm, daß er damit den Bock zum Gärtner machen würde. Durch seine Vereinssaat wehte ein verdächtiger Wind. Und eines schönen Tages stand er vor der unerfreulichen Tatsache, daß aus den Kerntruppen seines Jünglingsvereins und seiner andern männlichen Vereine und Bruderschaften sich auf Betreiben des „Schmiedegesellen“ ein Ackerbau-Lokalverein gebildet hatte mit dem schnöden Zweck, Kunstdünger gemeinsam zu beziehen, Ackerbaugeräte und Maschinen zu gemeinsamem Gebrauch anzuschaffen und sich durch Vorträge und Lektüre allgemein zu bilden. Dazu kam, daß der Kaplan durch diesen Verein auf die Gemeinde zugunsten seiner elektrischen Kraftanlage zu drücken gedachte. Emil Masseler hatte das alles dem Herrn Pfarrer brühwarm hinterbracht, als dieser eines Abends mit seiner Schwester auf ein Schwätzchen zur Erbtante gekommen war. Bei der Erbtante gab es immer eine gute Flasche, und da konnte der Herr Pastor seinem bedrängten Herzen zwanglos Luft machen. Die Erbtante wollte mit den Behörden, deren Vertreter ebenfalls ihren Keller zu schätzen wußten, ein Wörtchen reden. Diesem ungefügigen Herrn würde man schon das Handwerk legen. Da wirkte es wie ein kaltes Sturzbad, als eines Tages in Brebach bekannt wurde, Kaplan Kaß sei in der Stadt lange beim Ackerbauminister gewesen, der ihn gar bei sich zu Tisch gehabt und ihn wegen seiner gemeinnützigen Initiative in Gegenwart verschiedener hoher Beamten sehr gelobt habe. Verbohrter als je kroch Pfarrer Brendel in das Schneckenhaus seiner frommen Selbstgerechtigkeit zurück und brütete Vergeltung. Am nächsten Sonntag predigte er im Hochamt. Kaplan Kaß saß im Chorgestühl. Was Pfarrer Brendel in der Regel predigte, war ein lauwarmer Wortbrei mit Mohn, bei dessen Genuß seine Zuhörer eine unwiderstehliche Schlafsucht überfiel. Eine Weile wehrten sie sich dagegen, zwangen die Augenlider krampfhaft hinauf, bis ihnen war, als stiege der Altar mit seinen blinkenden Blumen und seinen gelben Kerzenflammen langsam gen Himmel und als senkte sich ein dunkler Sammetvorhang zwischen sie und die sichtbare Welt. Diesmal schmeckten sie alle den Essig durch, der zwischen den Worten ihres frommen Pfarrers sickerte, und sie horchten auf. Was war denn das? Das klang ja gar nicht so erdenfern und schläfrig wie sonst, das schien ja, als ob ihnen „der Herr“ diesmal wirklich etwas zu sagen hätte. „Geliebte Christen!“ Sonst war die Anrede über sie hinweggegangen wie ein leerer Schall. Heute klang daraus ein Aufruf, eine Aufforderung, zu hören. „Geliebte Christen!“ Und Pfarrer Brendel begann eine anspielungsreiche Predigt über die Erhabenheit und Heiligkeit des Priesterstandes. Er sagte in umfangreichen Ausführungen, was und wie seiner Auffassung nach der Priester sein müsse und was und wie er nicht sein dürfe. Mit Frömmigkeit und Gebet müsse er die Welt bezwingen, – „alles übrige wird Euch zugegeben werden. Hat unser Herr und Heiland nicht zu seinen Jüngern gesagt: Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, Moses hat Euch nicht das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt Euch das rechte Brot vom Himmel. Geliebte Christen, seht Euch vor, daß Euch nicht ein moderner Moses das falsche Brot vom Himmel breche, denn: ich bin das Brot des Lebens, sagt der Herr. Was frommt es Euch, wenn Ihr Eure Kornäcker mit künstlichem Dünger besät, und Eure unsterblichen Seelen leiden Schaden und müssen dürsten nach Wahrheit und Frömmigkeit wie die Wiese nach dem Tau, und es ist niemand, der sie tränket. Sorget nicht, sprach Jesus zu seinen Jüngern, für Euer Leben, was Ihr essen sollt und wie Ihr Euch kleiden sollt, denn das Leben ist mehr als die Speise und der Leib mehr denn die Kleidung. Wichtiger ist es, geliebte Christen, daß Ihr Eure Seelen mit dem Geiste Gottes, als daß Ihr Eure Häuser mit dem Lichte dieser Welt erleuchtet. Der Herr erhält alle, die da fallen, und richtet alle auf, die da niedergeschlagen sind. Aller Augen warten auf ihn und er gibt ihnen Speise zur rechten Zeit.“ Fenn Kaß hatte schon seit einigen Tagen wahrgenommen, daß der Pfarrer etwas gegen ihn im Schilde führen mußte. Eine Frage fiel ihm ein, die Herr Brendel ihm kürzlich mit seltsamer Betonung gestellt hatte: ob er sich denn wirklich in seinem Beruf glücklich fühle. „Bis jetzt wohl,“ hatte ihm Fenn geantwortet. „Und ich denke, wenn es mir gelingt, mein Wirken nach meiner Auffassung auszugestalten, so werde ich wohl auch ferner glücklich bleiben, soweit das dem Menschen überhaupt beschieden ist.“ Pfarrer Brendel hatte sauersüß dazu gelächelt und entgegnet, der Herr Kaplan sei noch sehr jung und unerfahren, und die Hauptsache sei eben die Auffassung. „Wo will er hinaus?“ dachte Fenn Kaß, als er jetzt den Pfarrer in seinem weißen Chorhemd auf der Kanzel stehen und mit merkwürdig rotem Kopf auf seine Gemeinde losreden sah. Die erste Anspielung auf seine Tätigkeit als Gründer des Lokalvereins hatte bewirkt, daß alle Gesichter in der Kirche sich nach dem Chor wandten, wo der Herr Kaplan saß. Und alle hatten gesehen, wie Fenn das Blut in die Stirn gestiegen war und wie sich die Falte zwischen seinen Brauen tiefer gegraben hatte. Pfarrer Brendel sprach weiter: „Geliebte Christen! Wie steht geschrieben? Es war ein Weib mit Namen Martha, die nahm Jesum auf in ihr Haus. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria. Die setzte sich Jesu zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragest du nicht danach, daß mich meine Schwester läßt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfe. Jesus aber antwortete und sprach: Martha, Martha, du machst dir viel Sorge und Mühe. Eins aber nur ist notwendig. Maria hat das beste Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden. Geliebte Christen! Was lehrt uns diese Erzählung aus dem Evangelium des heiligen Apostels Lukas? Daß wir sollen unsern Sinn nicht richten auf das Weltliche und Sinnliche, nicht auf Geld und Gut noch auf Speise und Trank, denn sehet die Lilien auf dem Feld: sie säen nicht und ernten nicht, und sie haben keinen Lokalverein und keine elektrische Beleuchtung, und sind doch schöner gekleidet als Salomon in all seiner Pracht und Herrlichkeit.“ Wieder fuhren alle Köpfe nach dem Chorgestühl, wo der Kaplan saß und mit harten verschlossenen Mienen den predigenden Pfarrer ansah. „Und im Evangelium Johannis lesen wir, geliebte Christen, daß auch Judas Ischariot zugegen war, als Maria dem Herrn die Füße salbete mit Salbe aus köstlicher Narde, und der Verräter sagte: Warum ist die Salbe nicht um dreihundert Silberlinge verkauft und das Geld den Armen gegeben worden? Er sorgte sich aber nicht um die Armen, sondern um seinen Geldbeutel. Und Christus der Herr durchschaute ihn und sagte zu denen, die um ihn standen: Arme werdet ihr allezeit bei Euch haben, mich aber habt Ihr nicht allezeit bei Euch. Und so, geliebte Christen, gibt es auch heute noch unter denen, die sich die Jünger Jesu nennen, viele, die mehr auf das Wohl des Geldbeutels, als auf die Gegenwart des Herrn bedacht sind.“ Fenn Kaß schüttelte den Kopf und dachte: „Wie kann in einem Menschenhirn soviel Torheit und Gottesliebe beieinander wohnen!“ Und der Herr Pfarrer sprach salbungsvoll und boshaft weiter von denen, die den wahren Priesterberuf haben und denen, die die räudigen Schafe in Gottes Herde sind: „Es sind die unruhigen, verbohrten Köpfe, für die die Glaubenstreue besonders schwer ist, es sind die unlenkbaren Charaktere, die sich nie an den priesterlichen Gehorsam gewöhnen, Temperamente, die sich vielleicht insgeheim auch gegen die priesterliche Keuschheit aufbäumen, Seelen endlich, die niemals oder in höchst unvollkommener Weise den dem Priestertum nötigen religiösen Geist, Geschmack an göttlichen Dingen und Seeleneifer sich aneignen. Beten wir, geliebte Christen, daß unsere Pfarrei immerdar vor solchen falschen Seelenhirten bewahrt bleibe, beten wir, daß der Geist der Frömmigkeit und Gottesfurcht, daß der Geist Marias niemals verdrängt werde durch die irdischen, himmelabgewandten Sorgen einer Martha oder gar eines Judas Ischariot in Priestergestalt. Amen!“ Die Zuhörer atmeten auf in der gelösten Spannung ihrer Gemüter, und sie wußten nicht, sollten sie dem Pfarrer recht geben, der als frommer Gottesmann sicher eine dem Himmel gefällige und im Grunde ja auch sehr interessante Predigt gehalten hatte, oder sollten sie sich auf die Seite des Kaplans schlagen, der doch ein so umgänglicher Mensch war und sie so geschickt zu nehmen verstand? Sie wollten abwarten. Denn wie sie den Kaplan kannten, würde er den Schimpf nicht stillschweigend einstecken. Das Hochamt war vorbei. Die Kinder konnten es kaum erwarten, bis sie ins Freie kamen. Zwei und zwei traten sie aus ihren niedrigen Bänken, knixten lustig vor der Kommunionbank und gingen den Gang hinunter zwischen den Sitzen der Großen, die Mützen und Hüte an den Mund gedrückt, auf das offene Kirchentor zu, reichten sich kichernd Weihwasser und traten mit einem innerlichen Juchzer über die Schwelle, denn noch zehn, zwanzig Schritt, und sie durften in langen Sätzen die Treppe hinunter auf die Straße stürmen. Aber sie schraken zusammen, und die vordern stockten. Vor ihnen stand plötzlich der Kaplan, der aus der Sakristei um die Kirche herum gekommen war. Er winkte stumm, daß sie vorbei gehen sollten, und erst als die Erwachsenen kamen, stellte er sich ihnen mitten in den Weg und hob die Hände in die Höhe. Verdutzt blieb alles stehen und sammelte sich auf dem Vorplatz. Als die letzten heraus waren, ging Fenn Kaß durch die stummen Reihen hindurch, zog die Kirchentür in die Klinke und trat auf die breite erhöhte Schwelle. „Meine lieben Freunde!“ hub er an. Die guten Brebacher betrachteten ihn wie eine Erscheinung. Das war ja unerhört. Der hatte ja den Teufel im Leib. „Meine lieben Freunde! Ich möchte euch nicht nach Hause gehen lassen, ohne ein Mißverständnis zu zerstreuen, das vielleicht nach der heutigen Predigt unseres – eures Herrn Pfarrers bei einigen von euch entstanden sein könnte.“ Emil Masseler räusperte sich, zum Zeichen, daß er ganz bei der Sache sei und bereit, sich zu merken, was der Redner Falsches oder Ungehöriges etwa vorbringen würde. Seine Erbtante schüttelte leise und mißbilligend den Kopf, und die Frauen, die um sie standen, fanden infolgedessen auch, daß Kaplan Kaß im Begriffe war, daneben zu greifen. „Aus den Worten eures Herrn Pfarrers möchte vielleicht der eine oder der andere von euch schließen, es mißfalle unserm lieben Herrgott, wenn sich ein Priester dazu herbeiläßt, seinen Pfarrkindern mehr von der Wahrheit zu sagen, als sie davon sonst erfahren, und auch in Dingen des Erwerbs mit Rat und Tat ihnen an die Hand zu gehen. Ich halte diese Auffassung für falsch. Ich bin nach wie vor entschlossen, euch die Geheimnisse der Natur aufzuhellen, die ihr verstehen könnt und, soviel an mir liegt, werktätig zu eurem zeitlichen Wohlergehen beizutragen. Derjenige, der euch euren Verstand und eure Kräfte gegeben hat, der will auch, daß ihr sie reget und gebraucht, daß ihr auch mit diesem Talente wuchert und damit das wirkt, wozu es seiner Natur nach bestimmt ist. Nicht die Wahrheit ist verderblich, sondern die Lüge. Und keine Arbeit, die in der natürlichen Ordnung der Dinge liegt, kann dem Schöpfer mißfällig sein. Nur Schwächlinge und Kranke können das Gegenteil behaupten. Wenn ich euch helfe, eure Kräfte nach Möglichkeit anzuspannen und auszunützen, so habe ich bei der Ausführung von Naturgesetzen geholfen, die von Gott geschaffen sind. Am klarsten lernt ihr den Schöpfer erkennen in der Gesetzmäßigkeit, mit der alle Kräfte des Weltalls ineinander wirken. Am aufrichtigsten verehrt man den Meister, in dessen Werk man sich selber als ein Teil des Ganzen fühlt und betätigt. Lernen und arbeiten sind das gottgefälligste Gebet, ihr Lohn und ihr Segen sind von Gott gewollt. Ich könnte noch lange über denselben Gegenstand zu euch reden und euch viele Bibelsprüche anführen, die für mich zeugen, indes euer Mittagsmahl wartet auf euch, und ich will nicht schuld sein, daß eure Suppe überkocht.“ Dieser Schluß, den Fenn Kaß lächelnden Mundes vorbrachte, glättete die Stirnen, die überm Zuhören sich kraus gezogen hatten, und dehnte die Münder zu einem beifälligen und befreiten Lächeln in die Breite. Fenn Kaß trat von der Schwelle der Kirchentür herunter. Bereitwillig öffnete die Menge ihm eine Gasse, und er schritt weit ausholend zwischen ihren ehrerbietigen und zutunlichen Grüßen hindurch. Die Leute verliefen sich mit Gesumme, nur der sanfte Emil blieb zurück und wartete auf den Pfarrer, dem er, so gut er es vermochte, den Inhalt der eben gehörten Standrede wiederholte. Pfarrer Brendel machte dazu ein ganz verdonnertes Gesicht und sagte am Schluß mit einem Ausdruck, als sei ihm der Gottseibeiuns erschienen: „Das klingt ja genau wie materialistische Weltanschauung.“ „Ganz genau,“ bestätigte voll innerer Freude und äußerer Betrübnis der sanfte Emil. „Ich will nicht _ab irato_ handeln,“ sagte Pfarrer Brendel, „aber der Fall ist ernst, sehr ernst. Grüße deine Tante, lieber Emil, und ich ließe guten Appetit wünschen. Vorderhand will ich nichts beschließen, ich muß vor allen Dingen den Herrn Kaplan zur Rede stellen, wie es gemeint war.“ Es kam zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen dem Pfarrer und Fenn Kaß. Aus dem Ton väterlich ernster Zurechtweisung fiel Herr Brendel sehr bald in eine nervöse Unsicherheit, denn sein Kaplan setzte ihm mit überlegenen Worten zu, und er freute sich wirklich, daß er zu der Unterredung nicht, wie es zuerst seine Absicht gewesen war, mehrere zuverlässige Älteste der Gemeinde zugezogen hatte, damit sie Zeugen wären, wie der vorlaute junge Herr klein beigeben würde. „Und schließlich, Herr Pfarrer, ich tue meine Pflicht, wie ich sie verstehe und wie manche im Lande sie gleich mir tun möchten. Sollte das mich nicht davor schützen, daß Sie mich öffentlich vor der versammelten Gemeinde in den schmählichsten Verdacht bringen, so muß ich alle Mittel anwenden, die mir gegen solche Verunglimpfung zu Gebote stehen.“ „Tun Sie, was Ihnen beliebt,“ sagte Pfarrer Brendel. Und er ließ von Stund an seinen Kaplan ausspionieren, ob er etwa Anstalten träfe, sich bei seinen geistlichen Vorgesetzten zu beschweren. Sein Plan für diesen Fall war fertig. Fenn ließ es dabei bewenden. Wenn er die Sache vor das Bistum brachte, war es so gut wie sicher, daß er samt seinem Pfarrer versetzt wurde, und dann würden für ihn anderswo möglicherweise dieselben Schwierigkeiten des Einlebens sich wiederholen. Er wollte die Geschichte einschlafen lassen und im übrigen die Wege weitergehen, die er eingeschlagen hatte. * * * * * Mutter Kaß war an dem Sonntag, wo der eben erzählte Zwischenfall sich ereignet hatte, nicht in der Kirche gewesen. Aber Marjänni hatte alles mit angehört und der alten Frau am selben Nachmittag noch vor der Vesper in der Küche, während Fenn in seiner Studierstube saß, haarklein und dramatisch mit groß aufgerissenen Augen und leidenschaftlich geflüsterten Sätzen alles erzählt. „Man muß ihn gewähren lassen,“ hatte Frau Kaß ruhig versetzt, als die junge Frau fertig war und hatte sie auf später zu einer Tasse Kaffee geladen. Marjänni war geschmeichelt gewesen. Schon hieß es im Dorfe, mit dem Kaplanshause ließen sich schlechterdings keine Beziehungen anknüpfen, sowohl die Mutter Kaß wie der alte Wöllem seien unzugänglich und gleich festverriegelten Türen. Frau Lampert wußte also die Ehre zu schätzen, und sie kam in die Küche zu den beiden Alten bald häufig zu Gast, ohne daß die meiste Zeit Fenn darum wußte. Er wunderte sich nur, wie seine Mutter jetzt so genau in der kleinen Dorfchronik Bescheid wußte und ihm oft aus verborgenen Geschehnissen heraus Dinge erklären konnte, auf die er sonst sich keinen Vers zu machen wußte. Allmählich bekam er einen Einblick in das verworrene Gespinst der ärmlichsten und kleinlichsten Dorfintrigen, bei denen in der Regel unbefriedigte Weiblichkeit die unausrottbare Triebkraft abgibt: Weiber, die ihren Tatendrang und ihre abgestandene Liebesbedürftigkeit durch das Sicherheitsventil eines so orgiastisch wie systematisch betriebenen Klatsches ausströmen lassen, und Männer, die ihnen dabei helfen. An der Zurückhaltung der einen, den Verlegenheiten der andern und der klebrigen Unterwürfigkeit dritter merkte Fenn Kaß bald, daß er den passiven Mittelpunkt mancher Klatschgewebe abgeben mußte, und er lachte darüber und zuckte die Achseln, wie ein Gulliver, den die Liliputaner in einen Käfig mit Zwirnfadengittern einsperren möchten. Drittes Kapitel Das Kaplanshaus lag am Flußufer und hatte einen hübschen Garten, in dem jetzt, Ende September, die Sonnenblumen ihre breiten Samentorten reifen ließen, die Äpfel die warme Farbe des gelb glühenden Abendhimmels bekamen und Astern und Chrysanthemen zu knospen begannen. Fenn saß in der Spätnachmittagssonne und freute sich der reifen Schönheit, die um ihn war. Die Uferhügel standen fern in leichtem Dunst, und der Fluß spiegelte den wolkenlosen Himmel, die schrägen Sonnenstrahlen machten die Wiesen leuchten und schienen auf die Schornsteine eines weit talauf liegenden Dorfes, daß der Rauch nicht entweichen konnte und als silbriger, bewegungsloser Schleier über den Dächern hing. Ganz aus der Ferne kam der breite Ton einer Automobilhuppe wie das kurze Muh eines Rindes. Das laute, schnurrige Singen des Motors schwoll an und wieder ab, jetzt ratterte die Maschine heran, schien langsamer zu fahren und stoppte. Fenn hörte von seinem Platz aus, daß seine Mutter an der Haustür mit jemand redete, dann wurde es still, und jetzt kam ein Herr durch den Garten auf Fenn zu. Dieser ging ihm zögernd entgegen, im Gesicht den angespannten, fragenden Ausdruck, der in die Züge tritt, wenn man etwas Fremdartiges rasch und angestrengt enträtseln soll. Der Unbekannte strich sich lachend den glänzendschwarzen Vollbart und sagte: „Ja, lieber Fenn, wenn du mich mit solcher Bullenbeißermiene empfängst, kehre ich lieber gleich wieder um.“ „Jeß Marja!“ klang es freudig erregt dawider, „der Theo!“ Na ja, der Bart, und der unvermutete Überfall, das Automobil, das Fremdartige überhaupt, da konnte man schon einen Augenblick mit der Stange im Nebel fahren. „Akkurat so hast du ausgesehen. Nun sag, kannst du mich bis morgen oder übermorgen brauchen? Ich bin solange frei, seit Gott weiß wann mein erster freier Augenblick – der soll dir gehören. Das heißt, wenn du mich haben willst.“ „Mach keine lange Vorrede. Dein Bett ist gedeckt. Deine Karre laß drüben in den Schuppen fahren, und so du einen Chauffeur hast, ist auch für ihn gesorgt. Mit meinem alten Wöllem wird er sich ja hoffentlich vertragen.“ Als die beiden Freunde, nachdem alles besorgt war, zusammen im Garten saßen und Mutter Kaß ihnen eine Flasche Mosel und Zigarren hingestellt hatte, sagte Theo Schütz: „Es gibt doch noch reine Freuden im Leben, Fenn. Solche Freude war unser Wiedersehen vorhin.“ „Ja,“ bestätigte mit leisem Lächeln Fenn Kaß. „Es muß wohl so sein. Ich besinne mich eben, worüber ich mich in diesem Augenblick noch ebenso stark hätte freuen können wie über dein Kommen. Und ich finde nichts.“ „Aber schön hast du’s hier. Ich glaube, ich begreife jetzt deine Berufswahl.“ Fenn lachte. „Läßt du dich so leicht bestechen?“ „Ich meine jetzt nur das Äußerliche. Das Innerliche steht ja freilich auf einem andern Blatt.“ „Jawohl, das Innerliche, das steht auf einem andern Blatt.“ Hatte das nicht wie eine leise Enttäuschung geklungen? Theo sah besorgt dem Freund ins Gesicht. Nein, er mußte sich geirrt haben. Es verriet nichts, was danach ausgesehen hätte. Man erzählte sich seine Lebensschicksale der letzten Zeit. Theo hatte seit seinem letzten Zusammensein mit Fenn in einer großen französischen Maschinenfabrik eine schöne Anstellung gefunden. „Und Junge,“ sagte er voll froher Erregtheit, „es ist ganz anders gekommen, als du es mir prophezeit hattest. Ich habe keine Vertretung für Schmieröle, ich habe einen Wirkungskreis, der mir die tiefste Genugtuung gibt.“ „Dann hast du recht, dich zu freuen. Was ist schließlich das Glück? Einen Lebensberuf haben, der einem das zur Pflicht macht, was man am liebsten und am besten tut.“ „Seine besten Kräfte regen dürfen und dafür belohnt werden, jawohl. Hör mich an, Fenn. Dir sag ich es. Aber es ist vorläufig noch tiefes Geheimnis. Meine Fabrik will aus Frankreich auswandern, die politische Lage ist zu unsicher. Die Oberleitung hat ihr Auge auf Luxemburg geworfen. Aber sie sucht eine ausgiebige Wasserkraft. Ich hab ihr vorgeschlagen, im Ösling den nötigen Grund und Boden an der Sauer entlang zu kaufen und eine Talsperre zu bauen. So ungefähr weiß ich schon, wo und wie es ginge. Der Vorschlag hat den Leuten eingeleuchtet, und ich bin hier, um unter der Hand die Sache einzufädeln, eventuell Kompromisse zu schließen, Aufnahmen machen und was alles dazu gehört. Was sagst du dazu?“ „Ich kann mir denken, wie du dich darüber freust. Da hast du wirklich etwas Großes eingeleitet. Große Verantwortungen warten auf dich und vielleicht ein großer Erfolg.“ „Ja, die Verantwortung, siehst du, das ist mir der beste Maßstab. Ich messe den Mann an den Verantwortungen, die er nach reiflicher Überlegung übernimmt.“ „Und wie weit bist du mit deinem Projekt?“ „So in großen Umrissen sind meine Berechnungen fertig. Wir bekämen für unsere Fabrik die Pferdekräfte, die wir brauchten, und darüber hinaus soviel, daß wir durch Fernleitung einen ganzen Umkreis noch mit Kraft und Licht versorgen könnten.“ „Du kommst mir wie gerufen,“ sagte Fenn lachend. Und er teilte dem Freund seine eigenen Pläne mit. „Machen wir,“ ging Theo Schütz darauf ein. „Wir können ja das gleich morgen an Ort und Stelle näher besprechen.“ Bei Tisch und während des Abends wurden Erinnerungen, Erlebnisse, Pläne ausgetauscht. Fenn erfuhr, daß Theo Schütz, wenn sich seine Idee zu einem festen Vorhaben verdichtete, vorläufig als Vertreter seiner Fabrik nach seiner Heimat übersiedeln und das Projekt in zweckmäßiger Weise vorbereiten sollte, während die Firma drüben langsam sich aus den alten Verhältnissen lösen würde. Fenns Miniaturtalsperre fand des sachkundigen Freundes vollste Billigung. Wenn Theo einmal im Lande wäre, würde man der Sache ganz ernsthaft näher treten. Dann sprach man von den frühern Schulgenossen. Fenn erzählte von Fritz Lampert, von Marjänni, die Theo von früher kannte, und von Putty Heinen, der weit oben im Norden eine Kaplanei verwaltete. Von sich sagte er nichts, die ganzen zwei Tage, die Theo bei ihm blieb. Als dieser Abschied nahm, begleitete ihn eine heimliche Sorge um den zurückbleibenden Freund. Er hatte ihn öfters fragen wollen, ob er spüre, daß er im Leben wirklich an dem Platz stehe, an den er gehörte. Aber er unterließ seine Frage, denn er konnte sich im voraus die Antwort denken. Beide standen vor dem Kaplanshaus und reichten sich nochmals die Hände. Theo behielt die Hand des Freundes lange in der seinen. Und noch einmal wollte die Frage über seine Lippen. Aber wie er ihn so dastehen sah, mußte er denken: „Wenn Fenn Kaß spürt, daß er hier nicht hingehört, dann wird er seiner Wege gehen.“ Und er ließ ankurbeln. * * * * * Die Beete im Gemüsegarten der Mutter Kaß leerten sich, die Astern und Chrysanthemen verblühten, die Blätter wurden gelb, und in einer Novembernacht kam ein Frost und räumte brutal mit all den zitternden, greisenhaften Überbleibseln des Sommers auf. Durch Fenns Fenster, vor dem ein Kirschbaum bis ganz zuletzt seine schlanken Blätter im Winde geregt hatte, schien jetzt nüchtern das kalte, weiße Tageslicht, und über dem Antlitz der Erde war nicht mehr das Geschleier schwankender Schatten, das ihm so schön steht, wie wirkliche Schleier einem Frauengesicht. In der Seelsorge bekam Kaplan Kaß angestrengter zu tun. Während des Sommers und Herbstes hatten die Bauern keine Zeit, krank zu werden. Jetzt lag bald hier, bald da einer oder eine darnieder, hatte sich vertrunken oder verhitzt oder auf dem nassen Erdreich einen Schlaf getan, der das Leben kosten konnte. Fenn kam in viele Krankenzimmer und sah, wie hilflos diese Menschen waren, sobald sie nicht mehr aufrechtstanden. Er begriff ihre Scheu davor, sich „zu legen“. Sie hatten den Instinkt gewisser Vögel, die nicht auf flachem Boden einfallen wollen, weil sie wissen, daß sie dann nur mit Mühe wieder auffliegen können. Es ging gut, er brachte seine Kranken mit Gottes und des alten Landdoktors Hilfe durch. Bis auf zwei, einen Goldkerl von altem Bauer und das lahme Lieschen. * * * * * Der Alte trug im Dorfe den knorrigen Namen Schente’ Storrek. Er war schon seit einem Jahr im Mark getroffen. Wenn er, im langen blauen Kittel, das Dorf heraufkam, die Hacke geschultert, die kalte Pfeife mit dem Kopf verkehrt im Mundwinkel, dann sah man gleich: den hat’s. Die krummen Beine schlenkerten kraftlos, der Kittel hing schlaff auf dem Gestell eines Körpers, der in der Hitze eines immerwährenden Fiebers langsam bis auf die Knochen zusammenschmolz. Zuletzt saß der Storrek, der ein alter Junggeselle war und seine Ländereien bis auf einen Lieblingsacker verpachtet hatte, nur noch im Sonnenschein vor seinem Häuschen mit den hellblau getünchten Fenstersteinen auf einem alten Eichen-„Kill“ und hatte hinter sich auf der Fensterbank ein weißes Porzellanpöttchen mit „Altem“ aus dem halben Fuder, das er vom letzten guten Jahrgang her für sich aufgespart hatte. Aber der „Alte“ schmeckte ihm nicht mehr, die Pfeife brannte er schon gar nicht mehr an. Er konnte seine richtige Sorte Tabak nicht mehr finden, behauptete er, und der Neue kratzte ihn im Hals. Die Nachbarkinder setzten sich manchmal auf ein Weilchen zu ihm auf den „Kill“ und betrachteten neugierig seine schweren Hände, an denen besonders ein paar abnorm große Daumen saßen. Wenn er aber zu husten anfing, machten sie neugierig erschrockene Gesichter, schoben sich verstohlen vom Sitz und gingen wieder um die Ecke ihren Spielen nach. So hatte der Storrek draußen gesessen, bis ihn die Sonne nicht mehr wärmen wollte. Dann hatte er sich hinter den Ofen und zuletzt in sein Bett zurückgezogen. Fenn Kaß hatte ihm zugeredet, und der Alte hatte sich denn auch „gelegt“. Als er das magere Knie auf den Bettrand setzte, sagte er mühsam lächelnd: „Einsteigen nach Kirchhofshausen!“ Fenn war bei ihm bis zum letzten Atemzug, der alte Storrek starb als Philosoph. Fenn machte bei ihm einen schüchternen Trostversuch und gab es dann auf. Er merkte, das war einer, der hatte zu altern gewußt und würde zu sterben wissen, weil er zu reifen gewußt hatte: „Wann et engem seng Zeit aß, da muß än dru’ gle’wen!“ sagte Schente’ Storrek resigniert, und der Herr Kaplan sollte sich weiter keine Mühe geben. Aber wenn er ihm eine Freude machen wolle, so solle er ihm manchmal aus der Bibel etwas vorlesen. Der Storrek hatte eine alte Allioli-Bibel, die er vor langen Jahren einem Hausierer aus Einsiedeln abgekauft hatte, und Fenn Kaß las ihm daraus die Stellen vor, an denen die Blätter am stärksten abgegriffen waren. „Versteht ihr denn auch alles, Storrek?“ fragte er einmal. „Alles nicht,“ sagte der Schente’ Storrek, „aber es lautet alles so schön.“ Eines Nachmittags, als der erste Schneesturm durch die Gassen blies, drehte der Storrek das Gesicht gegen die Mauer und entschlief, um nicht mehr aufzuwachen. Mit dem lahmen Lieschen hatte der Herr Kaplan es weniger bequem. Es war noch im September mit dem großen Pilgerzug in Lourdes gewesen, und als es wieder kam, hatte es vielen Leuten geschienen, als ginge es an seinen Krücken wirklich leichter und lebhafter herum. „Noch ein paarmal,“ sagte es, „dann kann ich zu Fuß zurückkommen.“ Es hatte ein fixes Mundwerk. Seine dünnen Lippen streckten sich schmollend vor und hatten etwas von einem Entenschnabel. Aber sein Mundwerk lag an der Kette seines Gebrechens, und wenn das Lieschen gerade gut im Zug war, spannte sich die Kette und es kroch mit einem vorwurfsvollen Au! für ein Weilchen in stille Betrachtung zurück. Das Lieschen wollte fortwährend getröstet sein. Es dachte noch nicht ans Sterben. Es glaubte steif und fest daran, daß die Muttergottes von Lourdes seine Beine ganz gerade und stark machen würde. Aber wenn es einmal stürbe, und es käme in den Himmel – für diesen Fall wollte das Lieschen genau wissen, wie es ihm droben ergehen würde, worin die Pracht und Herrlichkeit bestand, die seiner dort wartete. Fenn Kaß konnte ihm darüber nun nicht viel sinnlich Greifbares mitteilen, und Lieschen kam seiner Phantasie zuhilfe. Sie schilderte lebhaft und mit viel Vergleichen aus dem Kreis ihrer Umwelt, wie es aussehen würde. Gott der Vater saß auf einem goldenen Thron und glänzte wie die Sonne, noch heller, viel heller, aber man konnte ihn anschauen, ohne daß einem die Augen weh taten. Über dies „Anschauen“ machte sich Lieschen viele Gedanken, und es erwartete davon eigentlich die Hauptsache. Dabei war es sicher, daß man es da droben wie eine alte, liebe Bekannte empfangen würde, wie eine Kusine etwa, oder eine Tante, für die das ganze Haus zum Empfang an den Bahnhof geht, und die das beste Zimmer im Haus bekommt. Als es mit Lieschen zum Sterben kam, verlangte sie, so lange ihr Bewußtsein und ihre Kräfte reichten, nur nach ihrer Arznei. Zwischen diesen beiden Krankenstuben lernte Fenn manche andere kennen, und er hatte dabei viel mehr die Gesunden für das Leben, als die Kranken für das Sterben zu trösten. Im allgemeinen kam er sich angesichts des Todes unsäglich überflüssig und ohnmächtig vor, und diesen Eindruck hatte er am stärksten da, wo er es mit den wertvollsten Menschen zu tun hatte. Er lernte einsehen: damit man einem andern auf dem Weg zum Tod oder auf dem Weg durchs Leben wirklich etwas Besonderes sein kann, muß man ihm näher gekommen sein, als er den Menschen in seinem Wirkungskreis kommen konnte. * * * * * Theo Schütz wohnte seit November in Luxemburg. Er hatte seine alten Beziehungen wieder angeknüpft und war bald mitten im Getriebe der kleinen Hauptstadt. Er besuchte seinen Freund in Brebach häufig und blieb oft tagelang bei ihm, um so öfter, je mehr er merkte, daß Fenn Kaß seine Gegenwart brauchte. Er überzeugte sich mehr und mehr, daß Fenn einem Scheideweg entgegenging. Eines Winterabends saßen sie in Fenns Studierzimmer. Der Ofen brannte, der Raum war voll der molligen Wärme, die nicht allein die Luft, sondern alle Möbel und Mauern durchdringt. „Ich kann mir nichts Gemütlicheres denken als so ein Kaplanszimmer,“ sagte Theo. „Das ist ein Fabrikgeheimnis meiner Mutter,“ meinte Fenn. „Ich dächte doch, es liegt in der Sache selbst. Ein Landpfarrer und ein Landkaplan, die waren mir von jeher die berufensten Träger des Begriffs Gemütlichkeit.“ „Man muß dafür geschaffen sein,“ sagte Fenn Kaß nachdenklich. Theo überlegte eine Weile und fiel dann mit der Türe ins Haus. „Und bist du dafür geschaffen?“ Diesmal ging Fenn einer ernsten Aussprache nicht aus dem Weg. „Ich habe den Priesterberuf immer für etwas so Großes und Ernstes angesehen, daß ich nicht schon jetzt, nach einem halben Jahr, innerlich umsatteln kann.“ „Was fällt dir daran am schwersten?“ „Da muß ich mich prüfen, ehe ich dir eine richtige Antwort geben kann. Ich glaube, ich kann so sagen: das Schwerste daran ist mir, daß mich meine Tätigkeit nicht ausfüllt. Aber das kann noch kommen. Was ich dir vorausgesagt hatte, daß du deinen Flug zu hoch nehmen und später am Boden schleichen würdest, trifft jetzt umgekehrt auf mich zu. Die Verhältnisse sind mir in allem zu klein, und ich spüre zudem, sie sind mir feindlich. Ich denke immer: was ich hier im höchsten Falle wirken kann, ist das wirklich wert, daß ich dafür auf die volle Entfaltung meiner Kräfte verzichte? Jeder Mensch ist dem Ganzen gegenüber eine Verheißung. Das Schwerste ist mir, daß ich oft denke, ich muß, was mich angeht, der vollen Erfüllung entsagen.“ Theo wollte antworten, als ihm Fenn ins Wort fiel. „Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Ich suche mir darüber klar zu werden, was ich mir unter der vollen Erfüllung denke, und ich bin nicht sicher, daß mein Widerwille gegen die Entsagung frei ist von unreinem Eigennutz.“ Theo sagte langsam und nachdenklich: „Glaubst du nicht, Fenn, daß die Fähigkeit oder der Trieb zur Entsagung eine Besonderheit niedergehender Geschlechter ist? Daß eine menschliche Entwicklungsreihe im Aufstieg nur positive Tugenden pflegt, nicht die gewissermaßen negative Tugend der Entsagung?“ „Du tust mir die Ehre, zu glauben, ich gehöre einer aufsteigenden Entwicklungsreihe an?“ „Ich habe manchmal über euch vier Wiesinger nachgedacht: dich, den Putty Heinen, den Fritz Lampert und die Marjänni. Ihr seid sozusagen Menschen des ersten Stadiums, wie sie die Kultur dem großen Menschenrohmaterial der Dörfer entnimmt, um damit Veredlungsversuche anzustellen. Manchmal greift sie fehl, das Rohmaterial ist nicht veredlungsfähig, oder es ist schon selber ein Produkt des Verfalls – gelöschter Kalk. Dein Freund Lampert ist solch ein keimunfähiges Individuum. Putty Heinen – ja, der ist ein Fall für sich. Bei dem hat die Natur nicht weit genug ausgeholt, es langt nicht für eine Geschlechterreihe. Du wirst sehen, das Auf und Ab seiner Entwicklungsparabel vollzieht sich ganz in ihm allein und dann ist Schluß. Und die Marjänni – wie soll ich das ausdrücken? Eigentlich kenne ich sie nicht genug –“ „Mir macht es den Eindruck, daß da die Parabel trostlos flach ausfallen wird,“ sagte Fenn gedrückt. „Bleibst also noch du. – Nein, laß mich. Ich meine es bitter ernst. Du sagtest eben, dein Beruf fülle dich nicht aus. Das wußte ich längst. Jetzt heißt es –“ „Die Konsequenzen ziehen. Gut. Ich bin nicht der Mann, der dem aus dem Wege geht, wenn es sich aufdrängt.“ „Ich weiß, Fenn Kaß, mit wem ich zu tun habe. Ich weiß, daß du schwerer Entschlüsse fähig bist, aber auch schwerer Opfer. Ich betrachte die Dinge von außen her und sehe sie übersichtlicher als du, der mitten drin steckt. Ich habe gegen dich die Pflicht, dich vor einem Opfer zu warnen, das ein Verbrechen wäre gegen dich und gegen das, was das Leben mit dir vorhat.“ „Schweig jetzt still und laß mir Zeit. Ich gebe dir mein Wort: An dem Tage, wo ich die Überzeugung gewinne, daß ich hier nicht hingehöre – ich meine es so: daß ich außerhalb des Priestertums Stärkeres und Größeres leisten und mit Segen für mich und andere weiter um mich wirken kann – an dem Tage ziehe ich die Soutane aus.“ * * * * * Eine erste Folge dieses Gespräches war, daß Fenn Kaß sich eifriger als je in seinen Pflichtenkreis einspann, mit gesenktem Kopf und mit geistigen Scheuklappen gegen jede Ablenkung den Wagen seines Tagewerkes dahinzog. „Du mußt den Hochmut in dir abtöten,“ redete er sich zu, „du mußt dich in die Denkart der Leute versenken, mußt sie begreifen lernen; und sie verstehen, heißt sie lieben lernen.“ Und immer wieder, wenn er seinen Entschluß zur Entsagung, zur Aufopferung eines Teiles seiner selbst aufs neue faßte, fiel ihm das Wort Theos ein: „Entsagung ist das Erbteil des Verfalls.“ Hatte er ein Recht, das Beste in sich, seine tragfähigsten Triebe verdorren zu lassen? Und wem zulieb? Je besser er die Menschen um sich kennen lernte, desto weniger schienen sie ihm das Opfer zu verdienen, das er ihnen bringen wollte. Die ihn liebten – das spürte er heraus – würden ihm treu bleiben, auch wenn er von ihnen ginge. Die drei Kamps zum Beispiel. Für die war er nicht der Seelsorger, für die war er der gute Kamerad, der sie verstand und ihnen half. Und der „Niegela“. Er war ein Trottel, aber doch eine Seele von Mensch. Und manch ein stiller Bauer, mit dem er selten ein Wort wechselte, aber aus dessen Augen wirkliche Verehrung und Treue ihn anblickte. Dagegen die andern, von Pfarrer Brendel angefangen bis zum sanften Emil und seiner Erbtante – Beschränktheit, Boshaftigkeit, und dazwischen die schwere, interesselose Masse der Gleichgültigen, die um Hirn und Herz die dicke Kruste ihres Habsuchtsinstinktes trugen. Frau Kaß fing an, sich um ihren Sohn zu sorgen. Er war die letzte Zeit so in sich gekehrt, die Schatten in seinen Augenhöhlen wurden immer dunkler und sie hörte ihn oft bis spät in die Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen. Eines Tages, kaum daß es dunkelte, kam Marjänni zu ihr in die Küche geschlichen. Sie hatte rotgeweinte Augen und ihre Lippen zitterten, als sie sagte: „Ich komme, euch Lebewohl sagen. Ich bin heute zum letzten Male hier.“ Frau Kaß machte große Augen und fragte: „Wie, Marjänni, zieht ihr fort?“ Marjänni schüttelte den Kopf, und ihre Tränen begannen wieder zu strömen. „Nein,“ stieß sie schluchzend hervor, „ich darf nicht mehr kommen, mein Mann hat es verboten.“ „Oh! verboten! Und warum das?“ Marjänni fing noch heftiger an zu schluchzen. „Es ist so schlecht, ich kann es nicht sagen!“ „Nun, so gar arg kann es doch nicht sein,“ redete Frau Kaß ihr zu. „Doch, doch Mutter Kaß! Sie sagen –“ „Nun?“ „Sie sagen, ich halte es mit euerm Herrn!“, und ein Sturzbach von Tränen entquoll ihren verschwollenen Augen. Frau Kaß streckte den Kopf vor, kniff die Augen zu, blähte die Nüstern und fragte mit geschürzter Oberlippe, als hätte sie nicht richtig verstanden: „Was? Mit unserm Herrn? Mit unserm Fenn? Du sollst es mit unserm Fenn ... Wer sagt das?“ Jetzt vergaß Marjänni ihr Herzeleid, das Interesse an der Sache überwog. Sie trocknete rasch ihre Tränen und begann heftig flüsternd ihre Erzählung. Ihr Mann war übellaunig nach Haus gekommen und hatte erst nicht mit der Farbe herausgewollt. Ach, weiter nichts von Belang, ein Krawall mit dem Ruß. Aber was denn, warum denn? Na ja, der Ruß war frech geworden beim Kegeln, und da hatten die beiden gerauft. Aber um was es denn gegangen war? Diese Mannsleute, um eine Pfeife Tabak ... Was, um eine Pfeife Tabak? ..., hatte Fritz ganz bleich vor Zorn gesagt. Wenn mir einer unter die Nase reibt, meine Frau sei eine ... und dann hatte er ihr alles ins Gesicht geschrien, was ihm der Ruß hämisch aufgetischt hatte. Er glaubte es ja nicht, das wäre noch schöner, aber er wollte nicht mehr, daß Marjänni im Kaplanshause verkehrte. Frau Kaß hörte ruhig zu und stierte eine Weile vor sich hin. „Es ist gut, Marjänni,“ sagte sie dann. „Geh nach Haus und sag deinem Mann, er soll gegen niemand von der Sache ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Unser Fenn darf davon nichts erfahren. Komm nicht mehr in unser Haus, wir bleiben ja doch gute Freunde. Aber tu nicht, als ob du etwas wüßtest. Ich kann mir ja denken, von wo das Geschwätz ausgeht. Wenn wir den Ruß fassen, ist uns nicht geholfen, wir müssen warten, bis einer von denen sich verplappert, die die Geschichte aufgebracht haben. Aber die Freude sollen sie jetzt nicht haben, daß sie merken, wir wissen alles und grämen uns darüber.“ Marjänni riet noch, brennend vor Neugierde, hin und her, wen Frau Kaß wohl im Verdacht hatte, aber sie brachte aus der alten Frau nichts mehr heraus. Die sagte nur starren Blickes: „Nein, Marjänni, geh jetzt. Und tu, wie ich dir gesagt habe.“ Dann kniff sie die Lippen zusammen und schüttelte auf alle Fragen Marjännis nur noch den Kopf. Erst als Frau Lampert draußen war, zog Fenns Mutter ihr großes Taschentuch und weinte hinein, daß es sie an den Schultern schüttelte. „Also dafür habe ich ihn groß gezogen, daß so ein Pack ihn mir jetzt verunglimpft!“ Aber sie faßte sich rasch. Beim Abendessen wagte sie ein paar leise Anspielungen, konnte sich aber überzeugen, daß Fenn dem bösen Gerücht gegenüber völlig ahnungslos war. Da lag also nicht der Grund zu seinem in sich gekehrten Wesen. Frau Kaß hoffte zuversichtlich, daß der üble Klatsch, wenn er keine Nahrung erhielte, mit der Zeit wieder einschlafen und an ihrem Einzigen spurlos vorübergehen würde. * * * * * Dem Kaplan fiel es auf, daß sein Pfarrer seit einiger Zeit für den Lokalverein, den Fenn gegründet hatte, ein regeres Interesse an den Tag legte. Er hörte ab und zu davon, daß Herr Brendel abends in einer Vereinssitzung erschienen sei und mit den Mitgliedern äußerst leutselig getan habe. Fenn machte sich selbstquälerische Vorwürfe, weil ihm diese Tatsache, statt ihn zu freuen und ihm als eine friedfertige Annäherung des Pfarrers zu erscheinen, verdächtig vorkam. „Ich fange an, an Verfolgungswahn zu leiden,“ dachte er, und nahm sich noch peinlicher vor ungerechten Beurteilungen anderer in acht. Um dieselbe Zeit brachte ihm der Briefträger eines Tages ein wohlriechendes Kuvert mit einer Bristolkarte, auf der er las: „Herr und Frau Peppinger geben sich die Ehre, Seine Hochwürden Herrn Kaplan Kaß auf Mittwoch, elften Februar, zwölf ein halb Uhr, zum Mittagessen einzuladen. U. A. w. g.“ Peppinger? Er kannte niemand dieses Namens. Waren das die reichen Peppingers aus dem nahen Kantonalhauptort? Andern Morgens fragte ihn der Herr Pastor, ob er auch schon seine Einladung zu Peppingers erhalten habe. Fenn erfuhr, daß die junge Frau den Wunsch geäußert habe, bei der nächsten Firmung in ihrem Marktflecken Patin zu stehen. Sie wollte deshalb nun die Bekanntschaft aller Herren Geistlichen ihres Kantons machen. Und daher die Einladung. Er gehe doch mit? Man könne unbesorgt annehmen, die Leute hätten’s dazu. Fenns Mutter redete ihm zu, daß er sich nicht ausschlösse, und er ging mit zu Peppingers. Es wurde sehr gemütlich. Die Peppingers machten für die Verhältnisse des Ortes ein großes Haus. Er, der Herr Peppinger, hatte im Hauptamt einen lässig betriebenen Lederhandel, dem ein im Hause ergrauter Kommis vorstand, und im Nebenamt ein privates Geldverleihinstitut, bei dem sozusagen alle Bauern des Kantons in der Kreide gestanden hatten, standen oder zuversichtlich eines Tages stehen würden. Des Herrn Peppinger Intelligenz war ganz in Erwerbssinn aufgegangen, und er wußte wie kein anderer die Wurst nach der Speckseite zu werfen. Seine Bekannten machten ihn zum Helden sämtlicher Dümmlingsanekdoten, die sie kannten, aber von seinem Kassenschrank und seinem Keller sprachen sie mit unbegrenzter Hochachtung. Mit der Geistlichkeit seines Kantons stand er immer auf dem besten Fuß und viele Herren Pastöre und Kapläne der Umgegend wußten den Weg zum und vom Hause Peppinger in der stichdunkelsten Nacht zu finden. Der Herr des Hauses empfing seine Gäste mit einer linkischen Liebenswürdigkeit. Er war nicht der Mann vieler und lauter Worte. Das verriet schon sein Äußeres. Sein dünnes, blondes Haar, war _à la_ frommer Heinrich über dem spitzen Scheitel glatt gestrichen, seine wasserblauen Augen glotzten ewig erstaunt durch den goldenen Kneifer, der ihm lässig und schief auf der Nase saß, und sein Gesicht war wie aus einem unzulänglich gebackenen Milchteig. Frau Peppinger dagegen, die gern Firmpatin werden wollte, war eine dunkelfarbige, resolute Person, die jedem Ankommenden mit ausgestreckten Händen entgegenrauschte und mit „das ist recht!“ – „das freut mich, daß Sie auch gekommen sind!“ jeden einzelnen willkommen hieß. Als Fenn Kaß den geräumigen Flur des Hauses Peppinger betrat, vom Kutscher Dominik in Livree an der Türe empfangen, fand er schon eine ganze Gesellschaft dort versammelt. An den Kleiderhaken hingen Mäntel und Hüte der geistlichen Herren. Die hellfarbigen, glattpolierten Wanderstöcke aus Eichenholz gehörten den Jüngeren, die Herren Pastöre der älteren Generation hatten ihre Regenschirme oder spanischen Rohre mit Elfenbein- oder Hornknauf mitgebracht. Fenn hörte den behäbigen Pfarrer Schock, einen Studiengenossen und Busenfreund Peppingers sagen: „Brebacher, da ist ja auch dein Kaplan.“ Pfarrer Brendel nahm davon keine Notiz. Ein paar von den Herren saßen im Flur auf einer alten geschnitzten Herdbank, einer Siedel, andere standen umher, lehnten am Treppengeländer und baten Frau Peppinger, die sie in den Salon nötigen wollte, sie doch lieber draußen ihre Zigarren fertig rauchen zu lassen. Frau Peppinger tat ihrem Hausfrauenherzen Gewalt an und sagte bittersüß, die Zigarren könnten sie ja auch mit hineinnehmen, aber ein Herr Kaplan Schramm, mit einem pfiffigen Schuljungengesicht, meinte, das gehe nicht, er wisse von seiner Tante, was sich schickt. Frau Peppinger rauschte auf Fenn Kaß zu und hieß ihn mit einem liebenswürdigen Wortschwall willkommen. Dazwischen rief sie nach dem Salon hinüber ihrem Manne zu, daß Herr Kaplan Kaß aus Brebach gekommen sei. Und sie zeigte dem neuen Gast ihre schöne „Siedel“, ein echtes altes Stück, das sie samt einer stilvollen eichenen Stockuhr für ein Spottgeld – raten Sie mal – in einem Nachbardorf bei einem Kunden ihres Mannes gekauft hatte. Ob er sich für dergleichen interessiere? – Ja, meinte Fenn Kaß, wenn es an Ort und Stelle stehe. Er liebe die alten Sammlerstücke nicht, die, aus ihrer Umgebung herausgelöst, inmitten modernen Hausrats altväterische Biederkeit vorstellen sollten. „Da haben Sie recht,“ sagte Frau Peppinger verbindlich. „Wir haben auch schöne neue Sachen.“ Sie führte ihn in den Salon, wo ihr Mann zwischen Tischen und Tischchen, Stühlen und Stühlchen hin und her lavierte, um den Gästen über den Gegenstand, den sie gerade ins Auge gefaßt hatten, geflissentlich Erklärungen zu geben. „Ich finde, Louis XV ist doch noch immer das schönste, was man von Stil hat,“ begann die Hausfrau wieder das durch die Vorstellung zwischen Fenn und ihrem Mann unterbrochene Gespräch. Herr August Peppinger winkte seinem Busenfreund Schock, und die beiden hatten ein geheimes Konsilium. Es lief in folgende Zwiesprache aus: „Also erst den 1908er Caseler, dann den 1904er Wiltinger Kupp,“ rekapitulierte Pfarrer Schock. „Die Vierer machen sich wieder.“ „Wundervoll. Dann zu dem warmen Schinken ...“ „Da dachte ich an ein Glas Bier.“ „Ganz recht, das erfrischt. Und dann gibst du von deinem alten Volnay, dem 84er.“ „Soviel ist davon gar nicht mehr da.“ „Er muß getrunken werden, er verliert.“ „Meinetwegen. Wenn du meinst, daß sie ihn zu schätzen wissen? Und zu den Krebsen?“ „Grade zu den Krebsen. Es ist nichts verkehrter, als zu den Krebsen Weißwein zu trinken.“ „Schön. Und dann?“ „Dann gibst du von deinem alten Mercier Splendide, von dem, wo die Pfropfen nach dem Entkorken ganz dünn bleiben.“ „Ich weiß nicht, ob davon ...“ „Doch, ich weiß bestimmt, es liegt davon noch ein ganzer Korb, zwei Dutzend Flaschen.“ „Du, wollen wir die nicht für uns zwei aufsparen?“ Pfarrer Schock sah seinem hellblonden Busenfreund mißtrauisch in die Augen. „Sicher ist sicher, dachte ich, aber ich nehme dich beim Wort. Also dann von der letzten Sendung.“ Sie stiegen in den Keller und suchten aus den Gestellen die Kreszenzen zusammen, auf die sie sich geeinigt hatten. Jeder trug vorsichtig unter beiden Armen und in beiden Händen je zwei Flaschen. Oben wurden sie mit lautem Halloh von den jungen Semestern empfangen. Und dann sah man die großen weißen Baumwollhandschuhe des Kutschers Dominik an der Flügeltür zwischen Salon und Speisezimmer die Messingriegel von oben und unten zurückziehen und die knarrende Tür öffnen. Frau Peppinger bat mit einem zutunlich hausmütterlichem „So, meine Herren!“ zu Tisch. Um die von weißem Linnen schimmernde, von Kristall und Silber blitzende und gleißende Festtafel suchte jeder seinen Platz. Als dann Herr Peppinger mit einer einladenden Handbewegung sich schon halb niedergelassen hatte, wurde er durch ein vorwurfsvolles „Aber Peppinger!“ seiner Gattin wieder emporgescheucht. „Herr Seimich,“ flüsterte die Frau ihrem Nachbar zur Rechten zu. Und der alte Herr Seimich, ein spindeldürrer Pfarrer mit eingefallenen Wangen und erloschenen Asketenaugen schlug mit zittriger Hand ein großes Kreuz und hub das Tischgebet an. August Peppinger fingerte verlegen an seinem Kneifer herum und seine Frau zuckte noch einmal mit einem raschen Blick nach oben und einem leisen Kopfschütteln über dem Gebet die Achseln. Dann zog sich jeder der geistlichen Herren mit gewohnter Gebärde die Soutane in Sitzhöhe glatt, es gab ein geräuschvolles Stuhlrücken, ein weitausholendes Entfalten der Servietten, und auf einen Wink der Hausfrau begann das Auftragen. Fenn Kaß hatte im Verhältnis zu seinem Rang und Alter einen der besten Plätze bekommen. Er saß der Hausfrau, die in der Mitte der Tafel den Ehrenplatz einnahm, schräg gegenüber, zwischen Abbé Rommelfangen, dem Chefredakteur der „Luxemburger Abendglocke“ rechts und dem pfiffigen Kaplan Schramm links. Abbé Rommelfangen hatte ein blühend rotes Kinderantlitz, zu dem zweierlei nicht paßte: seine Nase, die lang und spitz heraussprang, wie der Zeiger einer Sonnenuhr, und seine unsteten Augen, deren Blicke wie verflatterte Vögel nirgends auszuruhen vermochten und nur ab und zu sich ängstlich schielend an die Nasenspitze Rommelfangens hefteten. Fenn gegenüber, etwas weiter von der Mitte ab, saß Dr. Feller, ein blutjunger Vikar mit einem gescheiten Gesicht und sehr starken Brillengläsern. Er war der Sohn eines höheren Staatsbeamten aus der Hauptstadt und galt unter seinen Konfratres als ein Kenner der feinen Lebensart. Eben studierte er das Menü, beugte sich vornüber und suchte die Blicke der Hausfrau, um ihr seine Anerkennung dadurch auszudrücken, daß er die Lippen spitzte und mit Daumen und Zeigefinger eine Bewegung andeutete, als ob er sich rasch einen Faden aus dem Mund zöge. Damit war die ganze Tafelrunde von der Tadellosigkeit der Speisenfolge überzeugt. Nach der Suppe beantragte Pfarrer Schock, einen ersten Schluck zu tun. „Um den Wurm zu töten, sagt der Franzose.“ Und Pfarrer Schlunz, ein runder, rotbackiger Biedermann, zitierte den alten Spruch, daß ein Glas Wein nach der Suppe dem Doktor zehn Dukaten aus der Tasche stehle. Er kostete den Caseler, grunzte anerkennend und sagte, er sei allerdings seit einiger Zeit zum „Viez“ übergegangen und befinde sich sehr wohl dabei. Er nannte seine Quelle und den Preis, und alle fanden es sehr billig und vorteilhaft. Nur der alte Herr Seimich konnte den Apfelwein nicht verdauen. Er habe sich bei einem französischen Weinreisenden ein Halbstück kleinen Bordeaux bestellt, daran werde er wohl genug haben bis an sein seliges Ende. Im Anschluß hieran teilte er Frau Peppinger Näheres über seine chronischen Verdauungsbeschwerden mit. Das Gespräch wollte zuerst nicht recht in Fluß kommen. Nur die Jüngsten, an den äußersten Tischenden waren bald in einer angeregten halblauten Unterhaltung begriffen. Sie sprachen, offenbar durch die Nähe Rommelfangens angeregt, über Stil, Literatur, Zeitungen, über den Unterschied zwischen deutschem und französischem Journalismus, zwischen Louis Veuillot und Erzberger. Einer wollte den Abbé Rommelfangen ins Gespräch ziehen, aber die andern winkten heftig ab. Sie hatten für ihn einen scheuen Respekt, aber wenig Sympathie. Seine Schreibweise, die populär sein wollte und nur ungeschlacht war, imponierte ihnen, weil sie im Schreiben ein wenig unbeholfen geblieben waren, und sie wußten, daß er beim Bischof einen Stein im Brett hatte, weil er stets erriet, wo er grob oder scharf oder feierlich schreiben mußte, um dem Hochwürdigsten Herrn aus der Seele zu schreiben. Und sie standen alle zur größeren Ehre Gottes in seiner Fron, sandten ihm Berichte über die Geschehnisse aus ihren Ortschaften und warben Abonnenten. Heute wußten sie alle, daß Rommelfangen nicht an Peppingers Tisch saß, weil die Frau Firmpatin werden wollte. Sie errieten, daß eine politische Aktion einzufädeln war, daß Peppinger ihr Kandidat bei den nächsten Kammerwahlen sein würde, und sie machten einander auf das sorgenvolle Gesicht Rommelfangens aufmerksam, der kaum ein Wort sprach und in Gedanken an einem Brotkügelchen herumknetete. Er litt offenbar unter der Rede, in der er der Versammlung die Kandidatur Peppingers ankündigen sollte. Der Fisch kam: Hecht mit Kapernsauce. Dr. Feller mischte sich quer über den Tisch hinüber in das lückenreicher werdende Gespräch über lesenswerte Bücher im Allgemeinen und über „Dreizehnlinden“ im Besondern und schnitt das Thema von der Rückständigkeit der Katholiken in Literatur und Kunst an. Pfarrer Brendel hatte schon seit Jahren in seiner Pfarrei die Borromäusbücher eingeführt und ließ keine Inferiorität gelten. Kaplan Schramm war so heimtückisch, den auf beiden Backen kauenden Pfarrer Schlunz ins Gespräch zu ziehen. Aber der hatte für Literatur kein Interesse. Er trieb neben seiner Seelsorge eine schwungvolle Landwirtschaft mit Molkerei, Schweine-, Hühner- und Bienenzucht. Er klopfte mit der Messerspitze auf eine neue Portion Hecht, die er auf das leise Zureden des Kutschers Dominik sich heruntergelangt hatte und sagte kauend über den Tisch hinüber zur Hausfrau: „Sehr gut! sehr gut!“ worauf er die hochbeladene Messerspitze zärtlich zum Munde führte. „Sie schicken uns nie etwas für das Blatt,“ sagte unvermittelt Abbé Rommelfangen zu seinem schweigsamen Nachbar Fenn Kaß. „Bei uns passiert nichts, was in die Zeitung gehört,“ antwortete Fenn, kurz angebunden. „Es passiert immer was, man muß nur aufpassen und Interesse dafür haben.“ „Dann fehlt mir wohl das Interesse.“ „Das wird es sein. Ich habe schon gemerkt, daß Sie nicht viel für uns übrig haben.“ Es entstand eine kleine Pause. Dann entgegnet Fenn: „Ich denke, es ist nicht meine Sache, Zeitungsreporter zu spielen.“ „Da–as ist je–edermanns Sache!“ sagte Rommelfangen, der in der Erregung stotterte. „Je–edermann, der u–unsrer heiligen Sa–ache dienen will ...“ „Über die Heiligkeit Ihrer speziellen Sache will ich mit Ihnen nicht streiten, zumal nicht in einem fremden Hause,“ erwiderte Fenn halblaut, aber entschieden. Frau Peppinger hatte das Wetterleuchten gemerkt, und im Instinkt ihrer Gastgeberinnenpflicht lenkte sie ab: „Aber Herr Kaß, Sie nehmen sich da gerade das allerschlechteste Stück.“ Der Kutscher Dominik räusperte sich aufgeregt, als hätte er einen Rüffel bekommen und dirigierte mit der Platte dem Gast das schönste Stück unter die Gabel. Fenn dankte, und Kaplan Schramm sagte, er wolle sich opfern und mit Widerstreben noch einmal zugreifen. Der Wiltinger duftete nach Riesling in der mählich wärmer werdenden Zimmerluft, und auch die blassesten Gesichter begannen an den Backenknochen und unter den Augen sich fleckig zu röten. Um den Tisch bildeten sich die Gesprächsinseln, die entstehen, wenn der Alkohol leise zu wirken beginnt. Das Bedürfnis nach Übersicht, das dem Nüchternen eigen ist, macht der Lust am Ausspinnen eines Lieblingsthemas Platz, das Mißtrauen gegen sich selbst und die Schüchternheit weichen der Freude am leichten Fluß vermeintlich geistvoller Gedanken. Die geräuschvolleren Temperamente brachten die stilleren in Schwung, und wie es so geht: bald waren die Stilleren die, die am lautesten redeten. Pfarrer Schlunz tat immer herablassender zu Dominik, Hochwürden Herr Seimich ließ sich durch die Vortrefflichkeit der Gerichte verlocken, seine blasse Stirnhaut rötete sich unregelmäßig, in Landkartenmanier, und seine Asketenaugen glühten. Die Jüngeren stritten sich jetzt darüber, ob der Ministerpräsident, der allgemein als Freidenker galt, im Grunde noch ein gläubiger Christ sei oder nicht. Und Pfarrer Brendel sagte wegwerfend: „Laßt ihn einmal auf der Flanke liegen, _in articulo mortis_, dann wird er sich schon wieder auf seinen Kinderglauben besinnen.“ „Ach ja,“ pflichtete Hochwürden Seimich bei, „wenn ihr letztes Stündlein schlägt, dann kriegen sie es auf einmal mit der Angst.“ „Siehe Voltaire!“ griff Herr Schlunz in seinen Zitatenschatz. Fenn Kaß hatte bis dahin ruhig zugehört und sagte jetzt: „Warum soll jemand, der sein Leben lang als aufrechter Mann nicht geglaubt hat, auf dem Totenbett aus Angst auf einmal gläubig werden? ... Bitte, meine Herren, ich meine nicht jemand, der rein aus Bequemlichkeit das Praktizieren und Kirchengehen aufgegeben hat, sondern einen Mann, der sich aufrichtig mit sich auseinandergesetzt hat, der in seinem Innern die aufrichtige Überzeugung gewonnen hat, daß es sich mit den Glaubenswahrheiten unsrer Religion nicht so verhält, wie wir lehren ...“ Weiter kam er nicht. Die einen lachten höhnisch auf, die andern redeten mit roten Gesichtern auf ihn ein. Nein! So verliere man den Glauben nicht! Aus heiterm Himmel werde keiner zum Gottesleugner, das Laster sei die Artillerie des Unglaubens, die ihm erst das Terrain frei mache. „Das ist echt Kaß,“ flüsterte Pfarrer Brendel seinem Nachbarn zu. „Sie ha–aben ja me–erkwürdige Ansichten, Herr Kaß!“ sagte Rommelfangen sarkastisch, die Arme kreuzend und jedes Wort mit einem Kopfnicken unterstreichend. „Prosit, Herr Konfrater!“ rief Dr. Feller über den Tisch Kaß zu und hielt ihm das schäumende Bierglas hin, denn gerade begann Dominik, den safttriefenden Schinken herumzureichen. „Wir wollen diesen hochinteressanten Streit zu gelegnerer Zeit austragen. Es kommt alles auf die Nuancen an.“ „Das sind A–ansichten,“ grollte Rommelfangen, mußte sich aber doch den beschwichtigenden Worten des jungen Vikars fügen. Denn Dr. Feller hatte Einfluß. Er würde nach der Ansicht aller eine schöne Karriere machen. Er hatte in Rom im _Collegium germanicum_ studiert, unterhielt wertvolle Beziehungen in der besseren Gesellschaft, galt trotz seiner Jugend als ein überlegener Geist, der häufig in Vermittlerrollen wohltätig zu wirken wußte. Seine Kameraden prophezeiten ihm mit Sicherheit die Mitra. Jetzt mischte sich Herr Peppinger ins Gespräch. „Herr Feller, ich habe gehört, Sie können gerade so gut beweisen, daß es einen Gott gibt, wie daß es keinen gibt.“ „Aha,“ sagte Kaplan Schramm erwartungsvoll, „endlich einmal ein vernünftiges Wort!“ Dr. Feller lachte. „Was wir nicht alles beweisen können, Herr Peppinger! Nehmen Sie sich in acht, sonst beweise ich Ihnen, daß Sie überhaupt gar nicht da sind.“ Rommelfangen zuckte die Achseln. Warmer Schinken und Gottesbeweis waren für ihn Dinge, die nur ein frivoler Geist im Zusammenhang behandeln konnte. Und je näher der Augenblick rückte, wo er den Zweck des heutigen Gastmahls bekannt machen sollte, desto strenger wurden seine Grundsätze. Er hörte kaum noch hin, wie die Jungen über Kunst in der Schule sprachen, wie einer erklärte, an die Schulwände gehörten Heiligenbilder, das sei was fürs kindliche Gemüt, der schönste Gipsabguß eines profanen Kunstwerks sei für das kindliche Begriffsvermögen Kaviar, eine unangenehme hügelige Unterbrechung der glatten Wandfläche. Da schlug Abbé Rommelfangen, der mit Peppinger einen raschen Blick gewechselt hatte, mit dem Messerrücken an seinen leeren Champagnerkelch und stand auf. „Pst, Silentium!“ ging es um den Tisch. Peppinger schluckte vor Aufregung und rückte mit beiden Händen den Kneifer zurecht. Abbé Rommelfangen blieb nach den ersten Worten stecken und zog aus der Tasche einen Zettel, von dem er seine Rede ablas. Es hieß darin, daß bald wieder der Kampf entbrennen werde, der Kampf um die Macht, „der auch schon bei uns ein Kampf um den Glauben unsrer Väter geworden ist“. Da müßten glaubensstarke Männer her, die für die heilige Kirche und ihre Lehren allezeit Farbe bekennen. Und da sei Herr Peppinger der Mann, den sie brauchten. Auf den könnten sie vertrauen, daß er mit ihnen Schulter an Schulter usw. „Gläubige Männer heraus!“ Das sei die Losung. „Und Herr Kandidat – was sage ich! – Herr Abgeordneter Peppinger lebe hoch!“ Ein dreifaches donnerndes Hoch brach sich an Wänden und Decke des Speisezimmers. Dominik hatte in aller Eile den Champagner eingeschenkt und alle Gläser streckten sich Peppinger entgegen. Auch seine Gattin ging strahlend auf ihn zu und sagte: „Siehst du, August!“ August war blaß geworden bis in die Lippen. Als wieder Stille eingetreten war und alle sich gesetzt hatten, blickte er mit seinen wasserblauen Augen hilfesuchend über die Versammlung und griff schließlich in die linke Brusttasche, aus der auch er einen Zettel hervorzog. Mit tonloser Stimme las er, häufig sich räuspernd, daß der Vorschlag des hochwürdigen Herrn Vorredners ihn ebenso überrasche, wie er ihn ehre. Er sei sich der großen Verantwortung bewußt usw., aber er nehme trotzdem an und er gebe sein Ehrenwort, daß er nie gegen die Interessen „unserer Mutter der heiligen Kirche“ seine Stimme abgeben werde. Wieder betäubendes Hoch und Bravo! Hochwürden Herr Schock, der sich sozusagen als der Einpeitscher betrachtete, ließ immer neuen Champagner auffahren. Es war ein Druck von der Versammlung genommen. Ein Vikar, der des Harmoniumspielens kundig war, wurde ans Klavier genötigt und griff ganze Hände voll rauschende Kirchenakkorde. Er versuchte auch ein paar Volkslieder, die die Korona mitsang, bis Rommelfangen sagte, das werde in der Straße unliebsam auffallen. Aber der musikalische Vikar war nicht mehr vom Instrument wegzubringen und ließ eine fromme Weise und eine kindliche Improvisation nach der andern erschallen. Rommelfangen hatte seinen Stuhl neben den Peppingers getragen und besprach mit diesem schon Einzelheiten seines Wahlfeldzuges. Frau Peppinger horchte hin mit dem gespannten Interesse der Gattin, die ihrem Mann nicht Schneid und Grütze genug zutraut, immer auf dem Sprung, um einzugreifen, wenn er versagen sollte. Zigarrenrauch begann die Räume zu durchziehen, in die sich die lauten Gäste zerstreut hatten. Es ging jetzt hoch her. Auf der ganzen Linie war Politik Trumpf. Fenn Kaß war zu Sinn, als schallte das alles an ihm vorbei, ohne ihn zu berühren. Dr. Feller trat zu ihm und pries begeistert, was doch der Partei für eine wunderbare Organisation in der geistlichen Hierarchie geschaffen sei, was für ein unübertreffliches Offizierkorps der Klerus in der Wahlschlacht abgebe. Fenn Kaß schüttelte den Kopf und wandte ein, dazu glaube er nicht berufen zu sein. Dr. Feller tat seine Bedenken mit einem burschikosen: „Man muß eben mit den Wölfen heulen“ ab. Frau Peppinger kam hinzu und floß über von Liebenswürdigkeit für den Kaplan, dem sie schon den ganzen Mittag mit ihrem Fraueninstinkt den unsicheren Kantonisten angesehen hatte. Fenn Kaß aber benützte die willkommene Gelegenheit, sich zu empfehlen und verließ unauffällig die sehr angeregte Gesellschaft. Er ging langsam durch den Spätnachmittag am Fluß entlang, mit dem Hut in der Hand, und ließ sich die herbe Vorfrühlingsluft um den warmen Kopf wehen. Ein unüberwindliches Gefühl des Unbehagens quälte ihn. Er fühlte die Nähe der Menschen, in deren Mitte er seinen Nachmittag verbracht hatte und wußte, daß er nie so werden könnte wie sie, nie sich in der Luft heimisch fühlen, in der sie mit vollen Lungen atmeten. Er redete fast zornig auf sich ein, wiederholte sich in Gedanken, daß die meisten ja doch seelengute Menschen seien, voll des besten Willens, das Gute zu tun, wie sie es gelehrt worden waren. Und immer wieder fühlte er in sich die Empörung aufstehen gegen die Zumutung, daß er mit ihnen in innerer und äußerer Gemeinschaft leben und sterben sollte. Ihr Herdeninstinkt, ihre geistige Genügsamkeit, um deretwillen er sie oft bemitleidet hatte, erregten seinen Zorn, weil er wußte, daß sie ihn stillschweigend als Bundesgenossen beanspruchten. Ihr Biedersinn, der bäuerliche Rhythmus ihres Wesens, erschienen ihm als protzige Unkultur, die aus der Not prahlerisch eine Tugend machte und sich mit Bleigewichten an ihn zu hängen suchte. Und wie er auch sann und sann, er fand keinen Ausweg aus ihrer Gemeinschaft. Als er nach Hause kam, saß sein Freund Theo in seinem Studierzimmer und rief ihm entgegen: „Du, lies mir einmal tüchtig das Kapitel! Ich habe eine Dummheit gemacht. Ich lasse mich in deinem Kanton als demokratischer Kandidat für die nächsten Kammerwahlen aufstellen.“ Fenn lachte laut auf. „Freilich, ich hätte dir allerhand Gescheiteres gewußt. Du und Politik!“ Theo machte eine komische Armesündermiene. „Na, tröste dich,“ spottete Fenn, „du bist ja nicht der einzige. Ich war heute dabei, wie dein Nebenbuhler auf den Schild gehoben wurde.“ Er erzählte die Geburt der Kandidatur Peppinger. „Wie kommst du armer Saul unter diese Propheten?“ fragte Fenn. „Ja, es muß doch auch Leute geben, die Politik treiben.“ „Aber ausgerechnet du! Du solltest als Maschineningenieur doch wissen, daß Politik der Apparat ist, der bei größter Kraftvergeudung den geringsten Nutzeffekt hergibt.“ „Wenn dieser Nutzeffekt nun aber nicht anders zu erzielen ist?“ „Ja, so heißt es immer. Aber mir kommen die politischen Parteien vor wie die zwei Feuerwehrleute, denen ich einmal zusah, wie sie sich bei einem Brande darum prügelten, wer den Schlauch halten sollte. Mittlerweile löschten die Hausleute selbst das Feuer.“ „In gewissem Sinn hast du ja recht. Sie wollen alle das Beste, und das Dumme ist nur, daß angeblich keiner es dem andern glaubt.“ „Und darum streiten sie sich herum, und es dauert zehn Jahre, bis etwas Nützliches zustande kommt, das in zehn Monaten ebenso gut zu leisten gewesen wäre.“ „Was willst du, lieber Fenn, ich mache mir ja auch keine Illusionen. Ich weiß, ich habe von Politik keinen Dunst. Aber was soll man machen? Man sitzt ruhig daheim und denkt an nichts Böses! Plötzlich klopft es, und herein treten drei Herren mit ernsten Gesichtern, die einem auf den Kopf zusagen, man sei der Rettungsanker einer Weltanschauung, man müsse unbedingt eine Kandidatur annehmen. Die Herren holen ihre Argumente wie aus einem Rucksack. Du denkst, er ist leer, und im Handumdrehen langen sie daraus die moralischen Daumschrauben, die sie dir anlegen, während du schon glaubtest, sie wollten sich empfehlen. Sie streuen dir Pfeffer in die Augen, sie nehmen dir dein Ehrenwort ab wie ein Portemonnaie, und wenn du am nächsten Morgen aufwachst, stellst du dich vor den Spiegel und sagst: Herr, Sie sind ein Hornochse! – Aber es ist zu spät, du bist Kandidat!“ Mit dem Talisman solcher Skepsis zog Theo Schütz in den Wahlkampf. * * * * * Das halbe Ländchen war ein Hexenkessel, in dem es von Übertreibung, Lüge, Ehrabschneidung brodelte. Die Geister kochten in Siedehitze, und die Menschen gebärdeten sich, als hinge das Schicksal des Weltalls von dem Ausgang dieser Wahlen ab. In Fenns Kanton waren drei Abgeordnete zu wählen. An die zwei alten war nicht zu tippen, um den dritten Platz kämpften Theo Schütz und Herr Peppinger. In der „Abendglocke“ erschienen Artikel, unter denen das Papier dampfte. Die paar ersten Wochen ausschließlich für Peppinger: wie er einer biedern, alt-luxemburgischen Familie angehöre, wie er nach allen Seiten unabhängig sei, weder dem Kapital noch den „Sozen“ verschrieben, eine Säule des Mittelstandes, der im Volk wurzelte, kein vorlauter Redner, aber zu durchgreifender Arbeit in den Abteilungen befähigt und entschlossen. Dann gegen Schütz: ein hergelaufener Industrieritter, der in Frankreich den Haß gegen Gott und seine heilige Kirche eingesogen habe, von dem man nicht wisse, in wessen Sold er stehe und wem er sich für den Fall seiner Wahl verschrieben habe. Das waren so die Hauptleitmotive, die hinum und herum, bald ironisch, bald pathetisch durch alle Tonarten abgewandelt wurden. Fenn Kaß hatte seinem Freund von vornherein erklärt, daß er sich um die Wahlen in keiner Weise kümmern und bei niemand, auch nicht bei seinen zuverlässigsten Freunden im Dorf, ein Wort für ihn einlegen würde. Aber es geschah ihm doch, daß er in seinem Verein, wenn Pfarrer Brendel gerade vor ihm dagewesen war und die Leute bearbeitet hatte, die eine oder andere Verleumdung gegen Theo auffing und ihre Nachbeter eines Bessern belehren mußte. Ach ja, hieß es dann; aber gegen den reichen Peppinger kann er doch nicht an. Fenn kam auch auf einige Nachbardörfer, wo Schulgenossen von ihm amtierten und Vereine nach Art des seinigen ins Leben gerufen hatten oder beeinflußten. Er war Zeuge, wie alle sich begeistert in den Dienst der Peppingerschen Wahlsache stellten und um die eigentlichen Vereinsinteressen sich nur insofern kümmerten, als dadurch etwa bewiesen werden konnte, wieso die Partei Peppinger dem Kanton freund und die Partei Schütz dem Kanton feind sei. Bald hub auch von allen Kanzeln des Kantons das Anathema an gegen den freisinnigen Kandidaten, diesen notorischen Gottesleugner, der es mit seinen Gesinnungsgenossen darauf abgesehen habe, dem Volk den Glauben zu stehlen. Fenn wußte, daß dies Treiben die höchste Billigung fand, aber er meinte, es könne doch nicht möglich sein, daß er der einzige von allen sei, der davor solchen Abscheu empfand. Es sei doch nicht denkbar, daß alle, die sich zusammen mit ihm durch ihre Studienjahre hindurch vollgesogen hatten mit den idealsten Vorstellungen von der Erhabenheit des Priesteramtes, jetzt ihre ganze Tatkraft und Arbeitsfreudigkeit in ödem politischen Klatsch verzettelten. Aber so weit er um sich blickte, er sah keinen seiner geistlichen Altersgenossen, der nicht den Beflissenen spielte, der nicht so tat, als sei Herr Lederhändler August Peppinger der bravste, ehrlichste, gottesfürchtigste und gescheiteste Mann innerhalb der Landesgrenzen und Herr Ingenieur Theo Schütz der Antichrist in Person, ein Herrenknecht und Hochstapler, von dem es noch gar nicht einmal feststehe, daß er nicht seine Großmutter umgebracht und silberne Löffel gestohlen habe. Dies überhitzte, unaufrichtige Wesen widerte Fenn Kaß derart an, daß er das physische Bedürfnis empfand, sich einmal hinauszuretten. Er dachte an seinen Jugendgespielen Putty Heinen. Der saß in den Öslinger Bergen als Kaplan auf einem der kleinen Dörfer, die mit ihren weißgetünchten Häusern und blauschwarzen Schieferdächern so sauber und frischgewaschen von den Bergrücken und Hängen in die Weite schimmern. Fenn Kaß machte sich einen freien Tag und fuhr hin. Von der Haltestelle, wo er ausstieg, hatte er anderthalb Stunden zu gehen. Eine Bahnwärtersfrau zeigte ihm einen Weg, der abseits von der Landstraße über stille Buschpfade und durch entlegene Wiesentäler führte. Fenn klomm erst eine ginsterbestandene Höhe hinan und sah die weißen Häuser des Dorfes, das er eben verlassen hatte, verstreut unter sich in dem höckerigen Kessel liegen. Die Felsrücken streckten sich in das enge Wiesental vor und fielen sanft gegen das glasklare, schwarzbraune Wasser des Flüßchens ab, auf dem weiße Schaumflocken zu Tal trieben. Diese Felsgebilde sahen manchmal aus, wie riesige Tierschnauzen, die im Ausruhen platt auf die Erde gedrückt sind. Unten im Tal der Wiesengrund leuchtete im jungen Grün und war eine zarte Folie für die dunkeln Fichtengruppen, die mürrisch in all der Erneuerung des Frühlings mit ihrem ewig alten düstern Kleide standen. Die Wälder waren flaumig braun und weich, und in ihrem Braun, in dem man schon die schwellenden Knospen ahnte, schimmerte da und dort wie ein grüner Hauch der Wipfel einer Hagebuche oder das Silbergrau wolliger Pappelkätzchen. An den Eichen hing noch das tabakbraune welke Laub, das den Winterstürmen getrotzt hatte, und wo eine, kurz zusammengeschnitten und gedrungen als Markscheide in den Wiesen stand, wirkte sie wie ein rothaariger Landstreicher, der gut gelaunt sich den Wind um die Ohren sausen läßt. Fenn witterte Veilchenduft und pflückte sich an einem Hag ein Sträußchen, das er abends seiner Mutter heimbringen wollte. Er dachte an die Veilchen, die sie immer um Ostern zwischen ihr Linnen legte. Er schritt fürbaß und ließ sich in tiefen Zügen die Lenzluft durch die Lungen gehen. Sein Pfad führte über die Höhe. Aus dem Wiesengrund stiegen die braunen Hänge steil herauf, schoben und schachtelten sich ineinander, zwischen den Bergrücken flossen, wie grüne Gletscher, Wiesenstreifen nieder und mündeten in der breiten Flur der Talsohle. Fenn sah das Dorf nicht mehr. Lautlose Einsamkeit war weit um ihn her, und wie ein Bild selbstgewollter trotziger Abgeschiedenheit sah er auf einem der Berggipfel, die wie erstarrter Wellenschlag der Erde vor ihm sich ausbreiteten, ein graues, weitschichtiges Haus liegen, einen alten, befestigten Herrensitz, der halb verfallen, wie ein verwunschenes Schloß, plötzlich mit seiner starren grauen Masse da war und sagte: Hier bist du in meinem Bann, hier rede ich von Dingen und Zeiten, die nicht mehr sind und nie mehr sein werden. Fenn wanderte drauf los, durch einen andern stillen Talgrund, durch den ein Bach quirlte, dann durch dichtes Gebüsch den Burgweg hinauf. Eine Herde Kühe kam ihm entgegen. Die Tiere blieben vor ihm stehen und glotzten ihn an, bis der Bub, der mit einem riesigen Käsebrot in der Hand ihnen folgte, sie mit hüh und hoh! und einem leichten Gertenhieb übers Kreuz weiter trieb. Oben traf Fenn eine rotwangige junge Frau mit himmelblauen Augen und zwei Reihen blitzender Zähne, die Wäsche auf die Weißdornhecke aufhängte. Er unterhielt sich mit ihr und sie brachte ihm eine Tasse schäumende Milch und erzählte ihm von dem Schloßherrn, einem stillen Menschen, der das alte Schloß für ein Spottgeld gekauft und sie mit ihrem Mann zur Bewirtschaftung hineingesetzt hatte. Er hatte oft die Sehnsucht, sich abzusondern und kam mit seinen Büchern und seinem Angelgeräte heraus, wohnte in den alten weiten Räumen, deren Fenster auf die Berge hinausgehen und hängte träumend tagelang seine Angelschnur in das luftklare Bergwasser des Baches im Tal. Fenn Kaß dachte: Wer er auch sei, er will das Glück genießen, er selbst zu sein. Er hat recht. Und er ging verträumt weiter. Alles, was ihn bedrückt hatte, war in der freien Einsamkeit der Berge von ihm abgefallen. Der Schlachtruf: Hie Schütz, hie Peppinger! schien ihm herüberzudringen wie ein Geschrei raufender Kinderscharen, und er mußte darüber lächeln. Am Wegrand sah er ein zerknülltes Zeitungsblatt liegen, und es ging ihm durch die Gedanken: Das also ist hier draußen die Politik: ein zerknülltes Stück Makulatur, das wie eine Verunreinigung wirkt, ein Blatt Papier aus zerwalkten Lumpen in einer ewig wunderbaren Welt treibender Keime und schwellenden Lebens und sonnendurchzitterter Schönheit, ein beschämendes Symbol menschlicher Kraftvergeudung neben dem mühelosen, zwecksicheren Sein und Werden im All. In dieser Stimmung stieg er den Pfad hinunter, der wieder in ein neues Tal und jenseits hinauf in das Kirchdorf führte, in dem Putty Heinen zuhause war. Und da sah er ihn auch schon drüben den Pfad herkommen und schickte ihm einen lauten Juchzer zum Gruß hinüber. Die schwarze Gestalt blieb stehen, schirmte mit der Hand die Augen, und dann kam die Antwort, ein langgezogenes „Juhu! Fenn!“ Unten im Wiesengrund trafen sie zusammen. Putty sprang vor Freude auf einem Bein wie ein Kind. Sie hatten sich seit ihrer Anstellung nicht gesehen und hatten sich allerlei zu sagen. Namentlich für Putty war es ein Labsal, dem Freund sein Herz ausschütten zu können. Er hatte sich überwunden, sagte er, er war unsäglich glücklich in seinem Beruf. „Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“ zitierte er begeistert. „Du wirst hier viel arbeiten können,“ meinte Fenn. „So still, so fern von aller Ablenkung.“ „Ja, was soll man arbeiten? Es gibt in der Seelsorge schon zu tun. Aber die Hauptsache ist das andre, siehst du, was mich mit meinem Beruf aussöhnt, das Mitschaffen am großen Werk der Wiedergeburt unseres politischen Lebens ...“ „Um Gottes willen,“ unterbrach ihn Fenn, „ich reiße mich zu Haus los, um der Drangsal der Politik auf vierundzwanzig Stunden zu entfliehen, und nun kommst du mir so!“ Putty lachte auf. „Na, wir können ja auch von was anderm reden. Vorerst gehen wir nach Haus, daß wir uns bei meiner Schwester zum Mittag ansagen, und dann sehen wir weiter.“ Putty führte den Freund durch sein Haus, zeigte ihm die Dorfkirche, den Friedhof, die Umgebung, ging mit ihm zu ein paar der reichsten Bauern des Orts, um ihn als seinen Jugendfreund und Dorfkameraden vorzustellen, zu den Schulschwestern, die einen süßen Schnaps und selbstgebackene Makronen auftischten. Und sie schlenderten durch das Dorf, blieben bei den Leuten stehen, die vor den Häusern beschäftigt waren und denen Putty eine Prise anbot. „Weißt du,“ sagte er ein wenig verschämt zu Fenn, „ich habe mir den Schnupftabak angewöhnt. Eine harmlose Genußmöglichkeit. Und er wirkt zuweilen tatsächlich erfrischend.“ Ein pfiffig aussehendes Bäuerlein, dem er auch die länglich runde Dose aus Kirschrinde mit dem Lederriemchen am Deckel hinhielt, meinte, es könne in keinem Fall was schaden. „Es kennt sich nachher niemand aus, ob einer die rote Nase vom Schnupfen oder vom Trinken hat.“ Manche hielten in ihrer Arbeit inne, wenn die beiden geistlichen Herren auf sie zukamen, zogen die Mütze vom Kopf und strichen sich mit der Hand, die den Mützenschirm hielt, verlegen grinsend über den Scheitel bis in den Nacken hinunter. Andre sahen nur unter der Arbeit, wie bei etwas Unrechtem ertappt, nach den Herren herüber und rückten linkisch an der Mütze, wenn sie nicht schon vorher im Dunkel von Scheune oder Stall verschwunden waren, von wo sie ihrem Kaplan und seinem Freund mit schuldbewußter Neugier nachsahen. Schulkinder kamen in Reih und Glied, knixten und sagten schallend: „Gelobt sei Jes’ Christus!“ Die Kleinen umringten Putty und den fremden Herrn, um bei ihnen eine Patschhand anzubringen, nur ein paar größere Mädchen wurden rot, stießen sich kichernd an und drängten verlegen vorüber. Als vom Kirchturm die helle Dorfglocke Mittag läutete, setzten sich die beiden Freunde in der gemütlichen Stube des Kaplanshauses an den runden Tisch, den die Leonie dem Gast zu Ehren frisch gedeckt hatte. Die Fenster rahmte grünes Gerank ein und auf den Fensterbänken standen in blauen und grünen Gläsern die prächtigen Hyazinthen, die „Zäre Joffer“ zum Erstaunen der Bäuerinnen getrieben hatte. Während die „Herren“ die Suppe auslöffelten, stand die Leonie mit versonnenem Lächeln, die Hände unter dem Busen gefaltet, daneben und freute sich mütterlich an dem Appetit der beiden. Fenn fragte scherzend, wie sie denn mit ihrem Brüderlein zufrieden sei. „Ach, es geht,“ sagte sie. „Wenn er nur ein bißchen mehr zu Hause bliebe.“ Putty zuckte die Achseln. Das reizte sie, und sie sagte halb im Ernst, halb im Scherz, daß er die meiste Zeit auswärts sei und sie ihn manchmal tagelang nicht zu sehen bekomme, und daß er sehr oft Besuch habe und sie manchmal nicht wisse, wie sie die Enden zusammenbringen werde. „Was hast denn du für ’ne Ahnung, was mein Beruf mit sich bringt,“ wies Putty sie barsch zurecht, „ich gehe nicht aus, wenn ich nicht muß.“ „So! Heute hast du doch auch wieder fortgewollt, weil ihr eine politische Versammlung hättet, und nun konntest du doch zu Haus bleiben.“ „Red bitte nicht über Dinge, die du nicht verstehst.“ „So heißt es immer. Wenn ich auch nicht rede, ich denke doch mein Teil,“ trumpfte die große Leonie auf. „Gut, also kriegen wir jetzt was zu essen oder nicht?“ Leonie zwinkerte zu Fenn Kaß hinüber, während sie die Suppenschüssel fortnahm, und ging achselzuckend hinaus. „Bist du wirklich so viel auswärts?“ fragte Fenn. „Ach wo, ab und zu mal zur Aushilfe, oder zum Besuch bei einem Nachbarn, und dann haben wir allerdings auch unsre politischen Zusammenkünfte, oder ich bin mal hier im Dorf spät abends in einem Verein.“ „Da behältst du nicht viel Zeit für dich?“ „Für mich? Wie meinst du das?“ „Ich meine, daß es doch nicht dein Ehrgeiz sein kann, in dieser Umwelt zu versauern. Einsamkeit ist schön, aber man darf ihr nicht entfliehen, wie du es tust. Und man muß immer ein wenig an sich herummachen, finde ich, um die Fähigkeit zu behalten, sich über das Milieu emporzuheben.“ „Ja so, ich lese auch ab und zu was. Ich weiß, was du meinst.“ „Man soll immer denken, daß das Leben noch einmal mehr und besseres von einem verlangt. Ein jeder soll sich bereitzuhalten suchen, das Höchste zu leisten, wozu seine Kräfte ausreichen.“ „Na ja, das schon. Das hast du ja immer gesagt. Wenn du es so auffassen willst.“ Putty war offenbar nicht geneigt, dem Freund in diese Gedankengänge folgen. Er sorgte während des Essens für leichteren Gesprächsstoff, aber nachher, als sie bei der Tasse schwarzen Kaffee saßen und ihre Zigarren rauchten, brachte er die Rede doch wieder auf seine politische Tätigkeit. „Unsre Organisation, siehst du, ist das bewunderungswürdigste Werkzeug politischer Macht, das die Kulturwelt kennt,“ sagte er begeistert. „Na na,“ lachte Fenn Kaß. „Ich kenne Dinge, für die ich mich mehr begeistern kann, als für eure Organisation.“ „Das ist nicht unsre, das ist auch deine Organisation!“ „Bleib mir bitte damit vom Leib! Ich bin Priester, ich bin kein Wahlagent.“ Putty redete sich in Eifer. Er sprach in der Leitartikelprosa seiner Parteiblätter von der Pflicht des Seelsorgers, tätig in die Politik einzugreifen, wenn die Interessen der Kirche auf dem Spiel stehen. „Soll ich dir sagen, was ich für meine Pflicht halte? Meinen Leuten den wahren Glauben beizubringen, den Glauben, der tief innen überzeugt und wärmt. Wenn sie dann nicht von selbst, aus der Erleuchtung ihres Glaubens heraus, auch in der Politik das Richtige zu finden wissen, dann ist es schlimm genug, aber ich kann ihnen und der Kirche dann nicht helfen, weiter gehe ich nicht mit.“ Putty wußte wohl, was darauf zu antworten gewesen wäre. Aber das wichtige Wesen seines Gegenübers benahm ihm die Zuversicht, mit der er sonst wohl auf seine Argumente baute. Er versuchte, ihm von einer andern Seite beizukommen. „Ich will nicht einmal behaupten, daß wir alle die politische Betätigung streng genommen als unsre Pflicht ansehen. Aber sie ist uns unleugbar eine Genugtuung. Sieh mal, wenn der Klerus von heute sich von allem Weltlichen abschließen sollte, wie es die ganz Unentwegten und außer ihnen merkwürdigerweise auch unsre Gegner behaupten, ja, wer zum Henker möchte dann noch Priester werden! Wir wollen uns doch nicht unter eine Glasglocke aufs Kamin stellen lassen, wir wollen doch auch Menschen, Bürger sein, uns regen, dreinschlagen dürfen, wenn es sein muß.“ Fenn schüttelte den Kopf und Putty wurde wärmer. „Und da, siehst du, da ist es ein wahres Labsal, in einer Organisation drin zu stehen, von der man sich getragen fühlt, wo man hieb- und stoßsicher an seinem Platze wirkt.“ Jetzt kroch Fenn Kaß in sich zusammen und sagte mit gerunzelten Brauen: „Wem das Spaß macht, allerdings. Mein Fall wäre es nicht. Daß es dein Fall ist, kann ich dir nachfühlen. Denn nimm es mir nicht übel, da hast immer – wie soll ich sagen? – einen Halt außer dir gebraucht.“ Putty wurde rot, zog ein paarmal kräftig an seiner Zigarre, hüllte sich in eine Rauchwolke und sagte, als er den Hieb verwunden hatte: „Sei es wie es sei, ich bin mit Begeisterung bei der Sache. Und ich finde darin Genugtuung. – Und Anerkennung,“ fügte er nach einer kleinen Pause mit Beziehung hinzu. „O ja, du wirst es zu was bringen können.“ „Das braucht dich nicht zu verbittern.“ Fenn lachte lustig auf. „Nein, Putty, so dumm wollen wir wirklich nicht sein.“ Putty schämte sich schon seiner albernen Regung. „Ich weiß ja,“ sagte er, „du hast deine Auffassung vom Priesterberuf, und ich weiß auch, daß du nicht leicht davon abzubringen bist. Aber du mußt es doch verstehen, wenn ich sage, daß es schön ist, einer großen Sache in Gehorsam zu dienen.“ „So ausgedrückt, jawohl. Aber ich fürchte, euch oder vielen von euch ist die große Sache eben die Organisation. Die ist euch Selbstzweck. Ihr habt euern Spaß an der Maschine. Die Maschine aber läuft im Dienst eines Herrn, den ihr nicht kennt.“ „Ich verstehe dich nicht.“ „Ja du, ich verstehe mich vielleicht selber nur halb. Ich habe das unbestimmte Gefühl, nachdem ich das Priesterkleid angezogen habe, um Gott zum Heile der Menschen zu dienen, daß ich jetzt dunkeln, fernen Kräften dienen soll, die menschlichen Wesens sind und mit andern Menschenkräften um die Herrschaft der Welt ringen durch die Zeiten hindurch. Und siehst du, wo ich kämpfen soll, will ich genau wissen, um was und für wen.“ Jetzt lachte Putty. „Senke nieder, Adlergedank, dein Gefieder!“ „Du hast recht. Und heute kein Wort mehr von Politik.“ Sie durchstreiften Nachmittags die Wälder, standen auf den höchsten Schroffen der Umgegend, sahen weit im Süden den Rauch der Hochöfen steigen, die blauen Moselberge im Südosten verdämmern und auf den Höhen gen Norden die letzten weißen Häuser des Landes stehen. Als Fenn Kaß wieder im Zug saß, und durchs Kupeefenster seinem Jugendgenossen zum Abschied zuwinkte, löste sich in ihm ein unbehagliches Gefühl, das er den ganzen Tag mit sich herumgetragen hatte, in den betrübenden aber bestimmten Gedanken auf, daß Putty Heinen eine innerlich verlorene Existenz sei: sein fahriges Wesen, seine Begeisterung, die sich wie ängstlich an ein eingebildetes Ideal klammerte, die Nörgeleien der Schwester, die Tatsache, daß er bei einem flüchtigen Blick in Puttys Bücherei allerhand leichte, vielleicht schlüpfrige Ware hatte liegen sehen, aber nicht ein Buch, nicht eine Zeitschrift, die auf ernste geistige Interessen deuteten, – das alles reihte sich ihm zu einer traurigen Indizienkette zusammen, und er fuhr nach Haus in einer Stimmung, in der sich Zorn und Mitleid seltsam mischten. * * * * * In diesen Tagen, da Fenn Kaß mit knirschenden Zähnen und geballten Fäusten Stunden und Nächte lang gegen den Ekel ankämpfte, den ihm das Schauspiel des Wahlkampfes einflößte, geschah es, daß er folgenden Brief erhielt: „Sehr geehrter Herr Konfrater! Ich erfahre, daß Sie Sich nicht damit begnügen, in Ihrem Wirkungskreis die Kandidatur des Herrn Peppinger zu ignorieren, sondern daß Sie für den Freidenker Theo Schütz, der Ihr persönlicher Freund sein soll, Propaganda machen. Ich möchte Sie hiermit davor warnen, daß Sie die Dinge auf die Spitze treiben. Unsere Presse ist zum Äußersten entschlossen und würde sich nötigenfalls nicht scheuen, sowohl gegen genannten Schütz die Bedenken geltend zu machen, die aus seinem Vorleben und seinen Familienverhältnissen für jeden solid denkenden Bürger sich ergeben, als auch Ihre Person in den Bereich der Polemik zu ziehen. Sapienti sat! Das werden gerade Sie, Herr Konfrater, in Ihren speziellen Verhältnissen zu beherzigen wissen. Mit gebührender Hochachtung Rommelfangen, Chefredakteur der Abendglocke.“ Als hätte der Wisch, den er in Händen hielt, die Luft um Fenn verpestet, riß dieser alle Fenster auf und ließ die abendliche Kühle hereinströmen. Indes, er kam nicht zur Ruhe, er mußte ausschreiten. Er ging zum Dorf hinaus, jener Höhe am Waldessaum zu, wo er schon einmal in schwerem Harm gestanden hatte. Aus einem Wirtshaus, wo man ihn hatte vorbeigehen sehen, brüllten sie ihm ein Hoch auf Peppinger nach. Er glaubte, die heisere Stimme des Ruß und die krähende des kleinen Fritt herauszuhören. Lautes Gelächter und Gläserklirren folgte dem Geschrei. Fenn lehnte wieder an dem hohen Kirschbaum und sah wieder das Tal in weichen Umrissen hinausdämmern. Er stand, die Lippen fest zusammengepreßt, die Brauen in tiefen Falten, die Arme verschränkt. Und er prüfte sich auf Herz und Nieren, ob er in all der schweren Zeit, die er hinter sich hatte, sich einmal untreu geworden sei, ob er das Recht verwirkt habe, selbstherrlich über sich zu entscheiden. Nein, sein Weg war gerade gewesen und lag im hellen Tag. Er war keiner Mühsal ausgewichen. Aber jetzt war er am Ende seiner Kraft. Wie damals der arme Putty Heinen, so schlang er jetzt die Arme um den rauhen Baumstamm und begann zu weinen. Er weinte wirklich, der starke Fenn Kaß. Er versuchte zu beten. Er stellte sich den Gott vor, zu dem er beten wollte, und je länger er an ihn dachte, desto klarer wurde ihm, daß dieser Gott nicht das von ihm wollen konnte, was die Menschen von ihm verlangten. Dann zweifelte er wieder an sich: „Ich mache mir den Gott zurecht, den ich brauche, um mich zu rechtfertigen.“ Und er grübelte weiter auf dieser Spur: „Haben denn das nicht alle Gottsucher getan? Den Gott in ihrer Seele werden lassen, dessen ihre Seele bedurfte?“ So kam er nicht zur Ruhe. Er dachte an seine Mutter und ging nach Haus. „Mutter, ich habe dir etwas zu sagen.“ Die alte Frau erschrak bis in den Hals. Sie dachte an die häßliche Verleumdung, die ihr Marjänni hinterbracht hatte. Mit schlotternden Knien ging sie zu ihm in sein Zimmer. „Mutter, glaubst du, daß ich dir alles zulieb tue, dessen ich fähig bin?“ „Ja Fenn, warum fragst du?“ „Damit du nicht denken sollst, wenn ich dir jetzt einen Schmerz bereite, daß es mir möglich gewesen wäre, anders zu handeln.“ „Du mußt alles frei heraussagen, Fenn. Wir zwei haben uns ja doch immer gleich verstanden.“ „Erinnerst du dich, Mutter, wie ich dir damals sagte, warum ich Geistlicher werden wollte?“ „Ja, du sagtest, glaube ich, du müßtest viele haben, denen du Gutes tun kannst, und die dich lieb haben.“ „Glaubst du, Mutter, daß es so geworden ist, wie ich es mir damals dachte?“ Sie sah lange schweigend unter sich und sagte dann hart: „Nein, Fenn, es ist nicht so geworden.“ „Und glaubst du, ich habe lange und ehrlich genug versucht, ob es doch noch so werden könnte?“ Jetzt wußte sie, wo die Schatten in seinen Augenhöhlen herkamen. Und sie wußte auch, besser als er selber, daß sein Mühen vergebens war und vergebens bleiben würde. Sie wußte, wie die kleine bucklige Gehässigkeit ihn seit damals weiter und boshafter umrankte, wie jeder seiner Schritte mißdeutet wurde, und daß er nicht die Hornhaut ums Herz hatte, die ihn gegen solche Verletzungen unempfindlich gemacht hätte. Ja, wenn er sich nicht aus freien Stücken zum Diener derer gemacht hätte, die jetzt nach seinem Herzen zielten! Aber jetzt! Jetzt wollte er sich frei machen. Jetzt kam er und fragte sie, seine Mutter, ob er ihr ihren alten, heitern, klaräugigen Fenn wiederschenken dürfte! Es stieg ihr beklemmend in die Kehle und heiß in die Augen, und sie sagte: „Du dummer Bub! Meinst du denn, ich habe nicht schon lange gemerkt, daß du in die Irre gehst!“ Viertes Kapitel „Lieber Theo! Treffe ich Dich am Dienstag in Luxemburg? Unsere Pfarrei geht mit der Prozession hin. Ich hätte Dir etwas zu sagen. Komm gegen Mittag in den Goldenen Anker. – Dein Fenn Kaß.“ Am Dienstag in der Dämmerfrühe war die Pfarrei auf den Beinen und zog singend und betend zum Dorf hinaus gen Luxemburg, wo in der „Octav“ acht Tage lang das wundertätige Muttergottesbild, die „Trösterin der Betrübten“, im Kerzengeflimmer auf ihrem Votivaltar steht und von Gold und Edelsteinen glitzert. Auf ihrem Scheitel ragt eine goldene Krone, darunter wellt sich ihr blondes Haar auf die Schultern, und ein kostbarer Spitzenschleier fällt bis zum Saum ihres seidenen Kleides, über das goldgestickte Spruchbänder laufen mit den Worten: _Mater Jesu, Consolatrix Afflictorum, Patrona Patriae, ora pro nobis!_ Ihre Rechte trägt ein kostbares Zepter, und am Handgelenk hängen ihr ein goldenes Herz, eine Perlenkette und ein Schlüssel des alten Stadttores von Luxemburg. Auf ihrem linken Arm sitzt das goldgekrönte Jesuskind, in dem einen Händchen die kreuzüberragte Weltkugel, die Schwurfinger des andern segnend emporgestreckt. Und aus großen, runden, kalten Augen sieht das goldstrotzende Muttergottesbild auf die Tausende von Armen, Mühseligen und Beladenen, die sich während der Octav als dunkel verworrene Masse zu seinen Füßen drängen, ihm ihr Leid klagen und ihre Silberlinge auf den Altarstufen opfern. Die „Octav“ beginnt damit, daß an einem Frühlingsabend dumpfe, summende Glockenschläge wie dunkle Klangwolken langsam über die Stadt hinschwimmen. Die Glocke heißt der „Bourdon“. Ihre Klänge verbreiten eine feierlich aufgeregte Vorabendstimmung. Und an den nächsten Tagen, in aller Herrgottsfrüh, bis tief in den Vormittag hinein, kommt es gezogen mit Kreuz und Fahne, Gebet, Gesang und Musik, schwarze Menschenzeilen, die wie Raupen über Straßen und Brücken herankriechen und sich vor der Wallfahrtskirche stauen. Nicht alle gelangen hinein, das Gedränge ist beängstigend. Durch das geöffnete Kirchentor dringt aus dem Dunkeln ein wundersames Flimmern zugleich mit dem Brodem von tausend müden Menschenleibern, die sich da drinnen zusammenquetschen. Die Stadt gehört der „Octav“. Magere Heidemenschen ziehen mit ihren Kindern an der Hand durch die Straßen. Die Bärte der Männer sind staubig und ihre Blicke kummervoll vor Müdigkeit. Man sieht überall, zu den Schaufenstern gebückt, die häßlichen Nacken der Bauernweiber, die ihr pechfarbenes Haar am Hinterkopf gewaltsam hinaufgestrählt haben und oben drauf eine klägliche Hutparodie tragen. Eifeler und Hunsrücker, Trierer und Hochwälder Bauern kreuzen sich in der Masse der Eingeborenen mit den schwarzäugigen Lothringer Frauen, die ihr schleppendes Französisch dahersingen und langsam hinter ihrem Pfarrer und ihrem majestätischen Schweizer dreinstrudeln. Ein Bub mit großen Neugieraugen hat seinen Regenschirm mit beiden Händen unterm Griff gefaßt und hält ihn vor sich hin, als sei es eine Gans, die er erwürgen müsse. Mitten auf dem Pflaster steht ein glattrasierter Bauer mit rundem, rotem Gesicht und saugt mit hohlen Backen an einem Rest von Zigarrenstummel, bis er seine Leute von fern erspäht und aufgeregt auf sie lossteuert. Kapläne schwimmen durch die Menschenwogen geschäftig hin und her und sind wie die jungen Leutnants im Manöver, die wichtig tun und nie Bescheid wissen. Und die entwurzelten Menschen von draußen, deren Gesichter vor Hunger und Müdigkeit erdfarben und fahl sind, lassen sich durch die Straßen treiben und schrecken zusammen, wenn ein ungewohntes Geräusch sie überrascht. Sie gehen schwer und mühsam, als ob die Erdschollen der ganzen Frühjahrsfron an ihren Schuhsohlen klebten. Das Gewühl ist wie ein dickflüssiger Schlamm von Menschen. Stumpfsinnige Männer lungern herum und haben nur den einen Wunsch: sich hinter einen Tisch zu einem Humpen setzen, eine Pfeife rauchen und in das Gewühl starren. Sie erörtern, ob die Weinberge in dieser Nacht erfroren sind, während sie über die Landstraße im fahlen Morgenlicht pilgerten. Und ihre Frauen stehen vor den Läden und befühlen mit ihren schwieligen Fingern Stoffmuster, deren Billigkeit sie in Versuchung führt. Dann sammeln sie sich um die Leiterwagen und warten, bis die von ungewohntem Geräusch und von Bier und Nichtstun halbbetrunkenen Männer anspannen und ihre polternden und rasselnden Gefährte, auf denen die müden Pilgerinnen stille hocken, wie schlafende Hühner auf der Stange, über das Pflaster der Stadt und die staubweißen Straßen entlang heimwärts kutschieren. In der Dämmerfrühe am Dienstag waren die Brebacher Pilger aufgebrochen. Eine Strecke vor dem Dorf lösten sich die Reihen, das Gebet verstummte und man ging in plaudernden Gruppen, setzte sich auch einmal im Wald an den Wegrand und frühstückte aus den Körben, die mit Wurst und harten Eiern, Butterbrot und Waffeln vollgestopft waren. Fenn ging seltsam bewegten Gemütes mit den andern durch den Aprilmorgen. Die erwachende Welt bis an den Horizont und bis wohin immer seine Gedanken reichten, rief ihm zu: Ich gehöre dir! Zum ersten Male, seit er seiner selbst bewußt geworden, durfte sein Sehnen und Hoffen schrankenlos sein. Seine Seele atmete jauchzend in vollen Zügen. Zwei von den Kamps Burschen gingen ihm zur Seite, und er faßte im Überschwang seines Glücks jeden mit einer Hand und ging, weit die Arme schlenkernd, mit ihnen fürbaß, wie er wohl als Kind mit seinen Gespielen gegangen war. Seine Mutter, die hinten im Nachtrab der Alten schritt, beobachtete ihn glückselig und betete mit versonnenem Lächeln für ihn heimlich einen Rosenkranz nach dem andern. An der letzten Etappe vor der Stadt wurde halt gemacht. Die Fahnen wurden aus ihren Futteralen gezogen, den „Engelchen“ wurden die Haarwickel gelöst und die Schleier angesteckt, die Sänger taten ihre Pfeifen in die Brusttaschen, spuckten ergiebig aus und strichen sich die Schnurrbärte. Sie räusperten ihre Kehlen sauber und stellten sich in Reih und Glied. Auch die Feuerwehr faßte Posto. Und dann setzte sich der Pilgerzug von der Anhöhe her gegen die Stadt in Bewegung. Nie hatte sich Fenn so innig und unbewußt wie heute über die weißen Blütendolden des Hagedorns gefreut, die im kräftigen Braun der Hecken standen, über das erste Laub, das in den Zweigen hing wie grüner Rauch, der sich dort verfangen hat und das so zarten Anblicks war, daß man es wie eine weiche Liebkosung in den Handflächen und an der Wange zu spüren meinte. Einzelne kurzgeschnittene Hecken am Weg waren wie breite Tierrücken mit grünem, dichtem Fell, und zwischen den Häuserwürfeln, über die blinkenden Dächer quoll das junge Grün der runden, treibenden Baumwipfel empor, und die schiefen Strahlen der aufgehenden Sonne durchdrangen die höchsten Spitzen mit ihrem blassen Gold. Der Morgenwind grüßte die Sonne, und eine leuchtende Staubwolke fegte vor ihm her über die Straße, wie ein stolzer Schiffsbug über die Wellen gleitet, oder wie gespenstige Schlittenkufen, die aus dem Boden wachsen, einer Schwanenbrust gleichen, lautlos dahinfahren und versinken. Das mutwillig laute Gebet der Buben, die in der Stadt ihre Müdigkeit vergaßen, hallte durch die morgenstillen Straßen, und die Prozession zerfloß bald in dem kribbelnden Sammelbecken, das sich vor der Kirche anstaute. Fenn sah einen fremden Küster, der das silberne Kreuz von der Tragstange schraubte, um es in seinem Futteral zu bergen: „So schraube ich von mir mein Priestertum ab,“ dachte er. „Wollen sehen, zu was die Stange zu gebrauchen ist.“ Ein paar Ordensschwestern gingen vorbei, vor sich eine Doppelreihe idiotisch aussehender, zum Teil verkrüppelter junger Mädchen. Und Fenn verweilte bei dem Gedanken, wie die Kirche, der er nicht mehr dienen wollte, im Lebenshaushalt ihresgleichen nicht hat, da sie die menschlichen Abfälle so wirtschaftlich zu verwenden weiß. Eine Sekunde überkam es ihn beim Anblick der beiden Nonnen, die solche verlorenen Existenzen ins Schlepptau ihres eigenen Lebens nahmen, wie Scham und Reue. Aber die verkrüppelten, idiotischen Mädchen mit ihren Begleiterinnen verschwanden in der Menge, um Fenn Kaß flutete wieder warmes, gesundes Leben, und die bittere Regung war verflogen. Er frühstückte mit den Kamps und mit Niegela im Goldenen Anker und gedachte dann beim Bischof vorzusprechen und diesem seinen Entschluß mitzuteilen. * * * * * Draußen, mitten im Gewühl, zupfte jemand Fenn am Ärmel. Er wandte sich um und erblickte Herrn Jakob Thielen aus Wiesing, genannt Pichert. Aber der Pichert machte nicht das konzentriert glückliche Gesicht, das er immer machte, wenn er seinen jungen Freund Fenn wiedersah. Unwille und Betrübnis hielten sich in dem Ausdruck seines treuen Schusterantlitzes die Wage, und Fenn fragte erstaunt: „Pichert, was ist denn mit dir los?“ Der Pichert drückte ihm die Hand, als gelte es einen Rütlischwur und fragte mit seltsam bewegter Stimme, ob er mit Fenn einen Augenblick sprechen könne. „Ei natürlich! Sag mal, Pichert, du siehst ja drein wie ein Verschwörer. Sollen wir uns in eine verborgene Höhle zurückziehen?“ Aber dem Pichert war es nicht ums Lachen. „Komm zwischen den Leuten heraus,“ sagte er ernst. „Ich habe dir etwas Wichtiges mitzuteilen. Es war nämlich einer aus eurem Dorf kürzlich in Wiesing.“ So? Und wer das denn gewesen sei, und was er gewollt habe. „Er heißt Emil Masseler, und er wollte wissen, wie du in der Zeit, wo du noch in Wiesing warst, mit Brauns Marjänni gestanden hast.“ „Ich? Mit Brauns Marjänni? Wie kommt denn der dazu?“ Pichert konnte nicht mehr an sich halten. Sein Geheimnis brach über alle Dämme. „Ich sehe, Fenn, du weißt von nichts. Dieser Masseler saß in den Wirtshäusern herum, fing mit den Leuten ein Gespräch über dich und Marjänni an und fragte, ob ihr denn auch in Wiesing früher schon so gut Freund gewesen seid, wie jetzt in Brebach. Er zwinkerte mit den Augen und machte die ganze Wirtsstube neugierig, aber wenn dann einer fragte, was er damit meine, dann drückte er sich: Er wolle nichts gesagt haben, aber sie sollten nach Brebach kommen und das erste beste Kind auf der Straße fragen ...“ „Komm, Pichert,“ sagte Fenn, „gib dir weiter keine Mühe, ich kann mir den Rest denken. Habt ihr denn in Wiesing das geglaubt?“ „Wo denkst du hin, Fenn! Aber ich mußte es dir doch sagen!“ „Nun ja, Pichert, es ist ja auch gut, daß du mich gewarnt hast, aber so schlimm wird die Sache nicht sein, sonst hätte ich in Brebach schon davon gehört. Denn sieh, welchen Zweck hätte es, erlogene Schlechtigkeiten über mich zu erzählen, wenn ich es nicht erfahre und mich nicht darüber ärgere?“ Der Pichert war wieder einmal froh, daß etwas, was ihm so schwer auf dem Herzen gelegen hatte, seinen jungen Freund nicht aus dem Gleichgewicht warf. „Der Fenn ist doch ein anderer Mensch, wie wir,“ dachte er bei sich. „Und jetzt, mein lieber Pichert, muß ich dich verlassen, ich habe einen notwendigen und wichtigen Gang vor. Vielleicht hörst du noch heute Näheres darüber. Von der andern Sache rede mit niemanden. Wenn was dahintersteckt, weiß ich, was ich zu tun habe.“ Daß man ihm Beziehungen zu Frau Lampert andichtete, fand er grenzenlos dumm. Die Leute konnten doch unmöglich wissen, wie er innerlich zu ihr gestanden hatte. Jetzt war, seit seinem Besuch im Hause Lampert und jenem wüsten Auftritt, jedes geheime Band zerrissen, das vielleicht einmal von ihm zu ihr hinübergeführt hatte. * * * * * Fenn zog auf der Treppe zum Bistum die Klingel. Die Tür ging auf und er stand dem „Peter“ des Hochwürdigsten Herrn gegenüber. Peter war nicht der Vor-, sondern der Gattungsname des jeweiligen bischöflichen Leibdieners. Er war von dem ersten Träger dieser Würde, der unter dem Namen „Bischofs Peter“ im Land populär geworden war, auf alle Nachfolger übergegangen. Der jetzige Peter war ein bleicher Leisetreter, mit einem salbungsvoll verschmitzten Bedientengesicht. In seinem engen Kreise besaß er eine zuverlässige Menschenkenntnis, die auf viele heimlichen Beobachtungen aus dem Augenwinkel gestützt war. Es war, als hätte er lange, unsichtbare Fühler, die er ausstreckte und einzog und nach denen er sein Verhalten einrichtete. Was jetzt da vor ihm stand, war ein gewöhnlicher Landkaplan. Da gab man sich nicht viele Mühe. Dem imponierte man schon mit dem gewöhnlichen Werktagsgesicht. „Ich möchte den Hochwürdigsten Herrn sprechen.“ Peter setzte zu seiner Abfertigung an: „Der Hochwürdigste Herr ist sehr müd, noch von der letzten Reise, wünscht sich noch auszuruhen ... wenn nicht unbedingt notwendig ...“ Er unterbrach sich. Mit diesem Kaplan mußte es etwas ganz Besonderes sein, der hatte einen ganz andern Ton als die übrigen. Der sah ja gar nicht aus, als ob er das Vorzimmerfieber hätte. Der war ja nicht unterwürfig, der schien ja wirklich etwas zu wollen und nicht nur etwas in Demut zu erbitten. „Es ist notwendig, sonst wäre ich nicht gekommen,“ versetzte Fenn und faßte sich den Peter scharf ins Auge. Die Tür nebenan ging auf und die beiden Sekretäre steckten neugierig ihre Gesichter heraus, in die die Anpassungsnotwendigkeiten ihres Berufs auch schon ihre deutlichen Spuren gegraben hatten. Es waren Schulkameraden Fenns. Sie begrüßten ihn burschikos und waren erstaunt, wie ernst und abweisend er ihren Gruß erwiderte. „Ich will dann also sehen, ob der Hochwürdigste Herr Sie empfangen will,“ sagte Peter, noch unsicher, ob er sich diesem merkwürdigen Menschen tatsächlich zu fügen habe. „Melden Sie Herrn Ferdinand Kaß aus Brebach.“ Dem Peter kam diese profane Titulatur ungewohnt vor und er ließ sie sich wiederholen. Jetzt stand Fenn im ersten Empfangszimmer des Bischofs. Eine große „Fußwaschung“, die im Klerus geheimnisvoll mit dem Namen Rubens in Verbindung gebracht wurde, bedeckte eine ganze Wand. Auf dem Kamin stand zwischen Kandelabern, die wie ein Willkommgeschenk an den Hochwürdigsten Herrn aus seiner Kaplanszeit aussahen, ein kupfernes Kruzifix, der „Fußwaschung“ gegenüber hingen einzelne Bilder von Mitgliedern des Herrscherhauses. Während Fenn noch unaufmerksam in einem Band architektonischer Zeichnungen blätterte, der neben einem Prachtwerk über Lourdes auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag, ging eine Innentür auf und der Bischof trat schweren Schrittes herein. Fenn sah durch die halbgeöffnete Tür in ein Zimmer mit roten Plüschmöbeln, in dem bläulicher Zigarrenrauch in Wolken und Ringen schwamm. Gedämpfte Stimmen, die er gehört hatte, verstummten ganz. Er schlug das Buch zu und trat dem Hochwürdigsten einen Schritt entgegen. Der legte sein wohlgenährtes Gesicht in ernste Falten, wobei er das Haupt etwas zur Seite neigte und dem jungen Geistlichen seine Rechte, nachdem er ihn zuerst mit einem summarischen Kreuzeszeichen gesegnet hatte, zum Ringkuß hinstreckte. Fenn ergriff die Hand und drückte sie, wie bei einer Begrüßung unter Bekannten, und es tat ihm leid, dem ältern Mann diese verletzende Überraschung bereiten zu müssen. Der Hochwürdigste Herr machte eine Sekunde lang ein Gesicht wie einer, der beim Treppabsteigen eine Stufe zu kurz zählt und von der vorletzten ins Leere, statt auf festen Boden tritt. Fenn beeilte sich, eine Erklärung dafür zu geben, daß er nicht, wie üblich, niedergekniet war und den bischöflichen Amethyst geküßt hatte. „Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich aus dem Priesterstande austrete.“ „So, so,“ grollte der Bischof und suchte sich zu sammeln. Denn das alles war ihm zu elementar plötzlich gekommen. „Und warum wollen Sie austreten?“ „Aus innern Gründen, deren Darlegung mich wahrscheinlich zu weit führen würde.“ „So! Also dann will ich Ihnen sagen, warum Sie austreten wollen!“ In vollen Brusttönen kamen die Worte heraus und die entrüstet aufgeworfenen Lippen nahmen sie von der Zunge in Empfang und wälzten sich breiig und ungeschlacht daher. „Ich hab’ es schon lange gewußt, daß Sie es nicht aushalten würden. Sie waren schon im Konvikt ein unsicherer Kantonist. Sie sind auch einer von denen, die auf das ‚Hochland‘ und auf die ‚Kölnische Volkszeitung‘ abonniert sind.“ „Ei ei,“ dachte Fenn, „lassen wir ihn sich einmal losknöpfen.“ „Sie?“ fuhr der Bischof fort, „Sie haben den Geist der Frömmigkeit in sich ertötet und Sie treiben Allotria! Und von wem der Geist der Frömmigkeit gewichen ist, der fällt dem Bösen leicht zur Beute. Sie? Aus Brebach sind mir über Sie Geschichten zugetragen worden. Ja ja! wenn man solchen Sinnes ist.“ Fenn dachte bei sich: „Wem will er imponieren?“ und er fiel dem Hochwürdigsten Herrn ruhig, aber bestimmt ins Wort: „Sie fassen die Lage verkehrt auf. Ich sagte Ihnen, ich wolle austreten. Das heißt so viel, wie daß ich virtuell schon ausgetreten bin. In diesem Augenblick bin ich nicht mehr ein Mann, der von Ihnen irgendwelche Richtlinien empfangen will. Das bitte ich zu bedenken. Und damit werden Ihre Erörterungen über meine Beweggründe, zumal wenn sie in diesem Ton gehalten sind, überflüssig.“ Der Bischof schnaufte vor Erregung. Das hob ihn ganz und gar aus den Angeln. „So! was wollen Sie denn hier?“ „Ich komme als anständiger Mensch zu Ihnen, und sage Ihnen, daß ich ein freiwillig eingegangenes Verhältnis aus persönlichen Gründen und eigener Machtvollkommenheit löse. Das war mein Recht. Es wäre nicht höflich meinerseits gewesen, wenn ich gewartet hätte, bis Ihnen das von anderen Seite hinterbracht worden wäre.“ „Sie haben schon zu lange gewartet. Ich wußte über Sie genau Bescheid.“ „Nein, Herr Bischof, das konnten Sie nicht. Ich habe vor einer halben Stunde erfahren, was Sie wahrscheinlich über mich wissen werden. Es ist ein abgefeimter Klatsch, der an mich nicht heranreicht, und der nur die beschmutzt, die ihn ausgeheckt haben. Sie werden ja wissen, wen ich meine. Die Gründe, die mich aus dem Priesterstand heraustreiben – das lassen Sie Sich bitte gesagt sein –, sind ehrenhafter als die, die viele darin zurückhalten.“ „Jetzt haben Sie an die Ehre meines Klerus gerührt, jetzt müssen Sie ...“ „Meine Ehre ist mir so viel wert, wie Ihnen die Ehre Ihres Klerus. Sie unterschoben mir niedere Motive, ohne dafür einen andern Anhaltspunkt zu haben, als den schmutzigsten Dorfklatsch. Ich habe den Ehrgeiz, daß ich nur durch die beurteilt werden will, die mich kennen.“ „Das sind stolze Worte. Und der Teufel Hochmut ...“ „Bitte, ich war noch nicht fertig. Sie kannten mich jedenfalls nicht hinlänglich. Was Sie Hochmut nennen, empfinde ich als ethisches Sauberkeitsbedürfnis.“ „Ich kannte Sie allerdings nicht hinlänglich. Das sehe ich ein. Sie können gehen, Sie gehören nicht zu uns.“ „Sehen Sie,“ lachte Fenn gutmütig, „nun sind wir doch so weit, daß wir uns verstehen.“ „Es hat mir weh getan, Herr Kaß. Ich habe Sie lieb gehabt!“ Der Bischof sagte es mit seiner fettesten Bruststimme und belegte seine Gerührtheit mit seinem väterlichsten Blick. „Und was gedenken Sie nun anzufangen?“ „Darüber bin ich mir im einzelnen noch nicht ganz klar.“ „Sie werden es schwer haben, Herr Kaß! Der apostasierte Priester trägt doch überall das unauslöschliche Merkmal seiner göttlichen Weihe auf der Stirn.“ „Glauben Sie? Ich habe das Empfinden, daß es mir nicht schwer fallen wird, mich in der profanen Welt heimisch zu machen.“ „Täuschen Sie Sich nicht, wir haben Beispiele in Masse. Die Welt betrachtet den ausgetretenen Priester mit Scheu und Mißtrauen.“ „Das werde ich also überwinden müssen. Und ich bin sicher, ich _werde_ es überwinden.“ „Ich wünsche es von ganzem Herzen, Herr Kaß.“ „Dann also, Adieu, Herr Bischof.“ „Gehen Sie mit Gott, Herr Kaß. Und bleiben Sie trotz alledem ein frommer, gläubiger Mensch.“ „Mein Glaube hat mit meinem Austritt nichts zu schaffen. Leben Sie wohl!“ Nun stand er draußen. Wie war ihm doch zumut? Wie damals, als er nach dem Abitur singend zur Stadt hinausgezogen war und Disteln und Löwenzahn an seinem Weg vor fröhlichem Übermut und überschäumender Kraft geköpft hatte. Damals hatte er gemeint, ihm gehöre ein Stück der Welt. Jetzt stand ihm die ganze Welt offen. Er sah den Leuten, die vorbeigingen, so fröhlich ins Gesicht, daß sie dachten: „Ei, dem gehts gut, der hat in der ‚Lese‘ einen guten Tropfen gekostet.“ Wo wollte er nur gleich hin? Ja so, im Goldenen Anker erwartete ihn Theo Schütz. * * * * * Unter dem Torbogen des Gasthofs zum „Goldenen Anker“ ging der zähflüssige Menschenstrom langsam aus und ein. Bald schiebend, bald geschoben, gelangte Fenn in die Gaststube. Im Flur schwammen die dunstigen Gerüche von Speisen, Wein, Bier und Tabak, die weißbeschürzten „Änny“, „Kätty“, „Marry“ trugen mit heißen Gesichtern ihre dampfenden Lasten treppauf treppab, vor dem Stoß ihrer Füße flogen die Türen auf, und wo sie erschienen, streckten sich ihnen winkende Hände und leere Gläser und Flaschen entgegen ... In einer Ecke des Eßzimmers saß eine Gruppe Wiesinger, und etwas abseits von ihnen Frau Marjänni Lampert. Sie hatte eine volle Bratenschüssel vor sich, und eine Flasche Mosel mit einem farbigen Etikett, aus der sie einer Nachbarin, einer Wiesinger Tagelöhnersfrau, gönnerhaft ein Glas mit ausgoß: „Doch doch, Sie müssen das annehmen, das schmeckt gut zu Ihrem Stück Brot mit Speck.“ „Sei dach net esu domm, Mrai!“ redete eine entfernter sitzende Frau der Nachbarin Marjännis zu. „Vun e’m Glas Wei’ werdsch de net baschten!“ Marjänni hatte die schwere goldene Halskette ihrer verstorbenen Schwiegermutter um. Es war ein Familienerbstück. Zweimal ging sie in weiter Schlinge um den Hals und vorne hing daran ein altmodisches goldenes Kreuzchen. „Die alten Sachen kommen wieder in Mode,“ erklärte Marjänni der Tagelöhnersfrau, die von dem Glas Wein gesprächig geworden war und den Schmuck bewunderte. „Oh ja, das glaube ich auch,“ sagte sie, im Kauen einhaltend. Der Herr Lampert war nicht mitgekommen. „Ihm liegt nicht viel an der Octav. Er kommt ja das Jahr hindurch so oft in die Stadt, ihm ist das nichts Neues.“ „Ja, das glaube ich,“ sagte wieder beifällig die Nachbarin. Drüben saß ja auch Herr Schütz, der so oft zum Herrn Kaplan nach Brebach kam. Den kannte Madame Lampert sehr gut, oh ja, früher. Heute sahen sie sich nicht mehr so oft. Ihr Mann war nicht für die vielerlei Freundschaften aus der Stadt. Man hatte nichts davon. „Oh ja, das glaube ich auch.“ Die Tür ging auf und Fenn Kaß trat herein. „Der Herr Kaplan!“ flüsterte die Tagelöhnersfrau ehrerbietig. „De’ kuckt haut emol monter dran!“ – „dem seng Sach aß go’ut gaang“ – und ähnliche Bemerkungen begrüßten laut und leise seinen Eintritt. Er bemerkte zuerst die Gruppe der Wiesinger und ging mit freudigem Willkomm auf sie zu. Mit einem leisen Lachen, in dem alle seine Zähne blitzten, streckte er Frau Lampert die Hand über den Tisch hinüber: „We’i gäht et, Marjänni, schmaacht et alt?“[3] Ein paar der Wiesinger stießen sich unter dem Tisch an und warfen sich verständnisinnige Blicke zu. Marjänni hatte rot vor Verlegenheit den Gruß erwidert und rasch eine Ablenkung darin gefunden, daß sie Fenn auf die Anwesenheit seines Freundes aufmerksam machte. Und nun sahen die Wiesinger, wie sich ihr Kaplan und Herr Theo Schütz drüben in die Ecke dicht zueinander setzten, wie der Herr Kaplan dem Freund leise etwas ins Ohr erzählte, wie der immer aufmerksamer und erstaunter aufhorchte, wie sich sein Gesicht zusehends verklärte und er endlich in heller Freude mit der flachen Hand auf den Tisch schlug und laut nach der Bedienung rief. Der Herr Kaplan suchte ihm lachend zu wehren, aber das half nichts, Herr Schütz winkte die „Änny“ heran und bestellte eine Flasche Champagner. Und rasch! Vom besten, den sie im Keller hatten. Die beiden tranken die Flasche bei angeregt geflüsterter Unterhaltung aus, und dann nötigte Herr Schütz den Freund mit zu sich nach Haus. Das alles sahen die Wiesinger voll siedender Neugier, einzelne auch voll gerechter Entrüstung mit an. Denn war es nicht geradezu anstößig, daß sich ein geistlicher Herr in einem öffentlichen Lokal mit einem notorischen Gottesleugner und kirchenfeindlichen Kammerkandidaten so auffällig machte? Aber die guten Wiesinger waren noch nicht am Ende ihres Staunens. Denn wenig später kam Pfarrer Brendel mit Emil Masseler und der Erbtante in sichtlicher Erregung herein. Sie nahmen bei den andern Platz und Emil Masseler fragte: „Man darf es ja sagen, Herr Pastor?“ „Warum nicht?“ meinte Herr Brendel kummervoll, „einmal muß der Skandal ja doch losbrechen.“ „Was denn?“ fragten die zunächst Sitzenden. Emil Masseler legte sich weit über den Tisch und alle Köpfe bogen sich zu ihm. „Unser Kaplan zieht den schwarzen Rock aus!“ Die einen stießen aus tiefster Brust ein fast erschrockenes Oh! heraus, die andern machten Pst! und wollten gleich mehr hören. Jawohl, der Herr Pastor war beim Bischof gewesen, wie der Kaplan gerade fort war. Es war ganz sicher. Übrigens, man konnte sich das schon lange denken. Der hatte keine geistlichen „Naupen“. Die Tagelöhnerin neben Marjänni, die näher an Masseler saß, gab die Meldung an Frau Lampert weiter. Sie tat es mit einer Betonung, als ob sie gerade von ihrer Nachbarin eine besondere Teilnahme erwartete. „Was liegt mir daran?“ sagte Marjänni wegwerfend, und die Tagelöhnerin pflichtete ihr bei: „Ja, das glaube ich auch. Was braucht Ihnen daran zu liegen!“ Und während vom Tisch der Wiesinger die Neuigkeit, daß der Brebacher Kaplan den schwarzen Rock auszog, sich in der ganzen Gaststube verbreitete und überall mit erstauntem: „Oh! Kuck hei! Aß dat elo miglech?“ aufgenommen wurde, saß Fenn Kaß mit seinem Freund Theo beim Mittagessen und besprach mit ihm seine nächste Zukunft. „In Brebach wirst du wohl nicht bleiben können,“ meinte Theo. „Warum nicht?“ „Nja! Du weißt, wie das Volk ausgetretenen Priestern gegenübersteht.“ „Dasselbe hat mir schon vorhin der Bischof gesagt. Aber ich bin nicht gesonnen, diesem Volksempfinden aus dem Wege zu gehen. Ich bin fest entschlossen, es zu meistern und mich ihm gegenüber als voll durchzusetzen.“ „Wie willst du das tun?“ „Das hängt von den Umständen ab. Ich gehe nach Brebach zurück und gehe dort nicht fort, bis ich weiß: die Leute lassen dich gelten, als das, was du sein willst.“ „Dir kann es doch völlig gleichgültig sein, was die Brebacher Bauern von dir denken.“ „Durchaus nicht. Ich habe wirkliche Freunde dort. Es liegt mir viel daran, daß sie selbst wissen, was sie an mir haben, und daß sie sich von andern wegen ihrer Freundschaft für mich keine Anzapfungen brauchen gefallen zu lassen.“ „Dann wäre es also aussichtlos, dich davon abbringen zu wollen. Reden wir von was anderm. Was willst du in Brebach anfangen?“ „Ich dachte, ich könnte die Sache mit der elektrischen Anlage auf eigene Rechnung übernehmen.“ „Das wäre eine Lösung. Seide wirst du dabei keine spinnen, aber die Anlage läßt sich wirtschaftlich machen, vielleicht kannst du davon leben.“ „Mehr brauche ich vorläufig nicht. Meine Mutter hat in Wiesing ihre paar Äcker und Wiesen gut verpachtet, und wir brauchen nicht viel. Du wirst sehen, es geht. Später suche ich, weiter zu kommen. Ich kann es jetzt, ich habe die Ellenbogen frei.“ Fenn Kaß blieb, nachdem er seine Mutter von dem Geschehenen verständigt hatte, ein paar Tage bei seinem Freund in der Stadt. Er hatte in der Regierung wegen seiner Anlage in Brebach zu verhandeln, da für derartige gemeinnützige Unternehmungen Staatszuschüsse bewilligt wurden. Von da aus wurde auch bei der Gemeinde dahin gewirkt, daß sie sich zu einem eventuellen Vertrag bereit erklärte. Mit Fritz Lampert war Fenn schon vorher im Prinzip einig gewesen und die technische Seite des Projekts wurde eingehend mit Theo besprochen. Es wurde offenbar, daß Fenn sich eine erstaunliche Fülle theoretischer Kenntnisse auf dem Gebiete der Elektrizität, der Mechanik und des Hoch- und Tiefbaues angeeignet und ausgesprochene natürliche Anlagen durch gründliches Studium entfaltet und vertieft hatte. Theo war erstaunt. „Junge,“ sagte er, „du bist für Brebach zu schade. Ich habe Pläne. Na, du wirst ja sehen.“ Fünftes Kapitel In Brebach war es einfach ein Aufruhr, als Fenn Kaß in bürgerlicher Kleidung am hellen Tage eintraf. Er merkte in der Hauptstraße, die er bis zu seiner Wohnung zu passieren hatte, wie Kinder und Erwachsene, die von fern den Fremden kommen sahen und nach längerm Anglotzen als ihren frühern Kaplan erkannten, Hals über Kopf in den Hausgängen verschwanden und alle Familienmitglieder zu dem aufregenden Ereignis auf die Türschwelle riefen. Man überschlug sich vor Neugier. Sein Gruß fand nur ein seltenes Echo. Die Männer rückten schweigend und unfreundlich an den Mützen, die Frauen blickten ihn an, wie einen Fremden, und einmal rief ihm eine Gruppe Kinder, offenbar auf Anstiften der Eltern, nach: „Hei, do’u dein Ho’ut ä’s of! Hu’esch de d’Kopp nach geschu’er?“ Zu Hause wartete seiner die Mitteilung, der Hausbesitzer habe die Wohnung gekündigt. Die sei eigens für den Ortskaplan und müsse für den Nachfolger frei werden. „Auch gut,“ meinte Fenn, der doch einen leisen Ärger in sich aufsteigen fühlte. „Wir ziehen ja so wie so in die Mühle. Eigentlich sollte ich dem Kerl die Zähne zeigen und ihn lehren, was ein regelrechter Mietvertrag heißt. Aber sei’s drum.“ An einem der nächsten Abende saß Fenn Kaß in seiner Studierstube und las in der alten Allioli-Bibel, die er vom Schente Storrek geerbt hatte. Seit er den Priesterrock ausgezogen hatte, tat er das mit wachsendem Genuß. Es war, als hätte sich mit ihm und für ihn das Buch der Bücher verweltlicht. Psalmen und Evangelien, Sprüche und Briefe, Chroniken und Prophezeiungen gewannen für ihn erst jetzt einen tiefen menschlichen Reiz, nachdem sie ihm bislang fast nur als Hilfsmittel seines priesterlichen Lehramtes erschienen waren. Und er dachte mit Rührung an den alten Bauer, von dessen Fingern die Seiten abgegriffen und angegilbt waren und dessen schlichter Geist aus dem Geist und Klang dieses Jahrtausende alten Schrifttums Genuß und Trost geschöpft hatte, mehr als er, der studierte Kulturmensch, zu dessen Beruf doch das Eindringen in die Bibel gehört hatte. In dieser Stimmung wurde Fenn durch einen Besuch überrascht, dessen Klingeln und kurze hastige Frage im Hausflur er mit dem Eindruck vernahm, daß es jemand war, der es sehr eilig haben müsse. Im nächsten Augenblick öffnete seine Mutter die Tür und sagte: „Hier, Fenn, bringe ich Besuch.“ Er sah im Dunkel ein blasses Gesicht und ein paar funkelnde Brillengläser und erkannte sofort Putty Heinen, den er mit freudiger Lebhaftigkeit begrüßte. „Putty, du! Das nenn’ ich eine Überraschung!“ „An Sie hätte ich jetzt wahrhaftig auch nicht gedacht!“ bestätigte Frau Kaß. Putty schien durch das Licht im Zimmer geblendet. Fahrig und unsicher antwortete er auf die Begrüßung mit gezwungener Heiterkeit. Als ihn Frau Kaß fragte, ob er schon zu Nacht gegessen habe, verneinte er zuerst und versicherte dann, er habe doch gegessen, ganz sicher, er werde unter keinen Umständen etwas anrühren. Frau Kaß ging, und Fenn nötigte den Freund auf einen Stuhl, im Lichtkreis seiner Studierlampe. Erst jetzt sah er, wie blaß Putty aussah und wie verfallen vor Angst und Erschöpfung seine Züge waren. Sofort begann dieser zu reden, stoßweise, schwer Atem holend. „Fenn, ich bin am Ende. Es ist aus mit mir.“ „Wieso! Was ist denn geschehen?“ Fenn Kaß kannte seinen Jugendfreund dafür, daß er sich rasch entmutigen ließ und auf Anhieb alles sehr tragisch zu nehmen geneigt war. Aber diesmal mußte es ihm doch wirklich unter die Haut gegangen sein. „Wenn du mich nicht rettest, schlafe ich morgen Nacht im Gefängnis!“ Und er erzählte seine Geschichte, die ewige alte: Versuchung, Einsamkeit, keine Ablenkung, Tag für Tag die Gelegenheit zur sträflichen Sünde, endlich das Straucheln, der Fall, das vermeintliche Geheimnis und eines Morgens der Skandal, der im hellen Tage schwillt und im Dorf, im Land sein hämisches und empörtes Echo weckt. „Morgen früh steh ich in den Zeitungen! In diesem Augenblick vielleicht ist das Gericht schon da, um mich zu verhaften.“ „Und was soll ich für dich tun?“ „Mich über die Grenze schaffen.“ Fenn Kaß erinnerte sich der begeisterten Worte, mit denen ihm sein Freund vor wenigen Monaten die Schönheiten seines Berufs gepriesen hatte. Und der Augenblick des Abschieds von damals stieg wieder vor ihm auf. Es war mit dem armen Menschen rascher zu Ende gegangen, als er gefürchtet hatte, und Fenn war zu gütig und arglos, um ihn mit der leisesten Anspielung auf jenen Tag demütigen zu wollen. Auch der andere machte keinen Versuch, von jener Höhe nach der Tiefe, in der er nunmehr irrte, einen Weg zu zeigen. Hinter ihm lag alles derart hoffnungslos in Trümmern, daß er nicht einmal den Schein zu retten versuchte. Putty wußte nicht, was weiter werden sollte. Er hatte keinen Pfennig Geld, war den halben Weg nach Brebach zu Fuß gegangen, hatte keinen Bissen Nahrung und keinen Tropfen Wasser über die Lippen gebracht. Er war willenlos und gehorchte nur dem Instinkt, der ihn forttrieb, fort aus dem Bereich der Gendarmen und Gerichte. „Vor allen Dingen mußt du jetzt zu dir kommen. In einer Stunde ist alles im Dorf zur Ruhe, dann bring ich dich übers Wasser an die preußische Station. Ich gebe dir einen Anzug von mir. Um zehn Uhr hast du einen Zug, mit dem du morgen mittag in Berlin bist. Von da fährst du nach Bremen oder Hamburg und mit dem nächsten Schiff über See.“ „Und das Geld?“ „Soviel habe ich immer liegen. Du mußt freilich Zwischendeck fahren.“ „Als Kohlentrimmer, wenn es sein muß. Nur fort.“ „Gut. Und dann?“ Ja, daran hatte Putty nicht gedacht. Ihm schwebte nebelhaft eine Zukunft vor, in der er vielleicht Kellner, Schuhputzer, Sprachlehrer oder Goldgräber sein würde. Fenn Kaß hörte ihm zu und sagte bedächtig: „Nein, mein Junge, wie ich dich kenne, gingest du dann vor die Hunde. Laß dir drüben irgendwo die Adresse eines Klosters angeben, geh hin und tu, was sie dir sagen. Du bist nicht der erste. Übers Jahr, oder früher, oder später hast du dich wiedergefunden. – Du kommst drüben als Pfarrer unter, in andern Verhältnissen als hier, wirst vielleicht tagelang im Sattel hängen, um die Farmen deiner Pfarrei abzureiten, wirst deine verbotenen Gedanken an der freien Luft verrauchen lassen und die Hauptsache: du wirst dich wieder selbst achten lernen.“ Putty schwieg eine Weile und kaute an der Unterlippe. „Du meinst also,“ begann er dann zögernd und in sichtlich tiefer Bewegung, – „du meinst, ich soll Priester bleiben?“ „Ich halte es für das beste. Du brauchst Verhältnisse, in denen dir dein Pflichtenpensum zugemessen wird, in denen du gerade an den strengen Normen deines Berufs einen Halt findest.“ „Aber an meinem Beruf bin ich zugrund gegangen.“ „Das bezweifle ich. Ich glaube vielmehr, daß du in jedem Beruf gestrauchelt wärest, der dich in ähnliche äußere Verhältnisse gebracht hätte.“ „Und warum bist du ausgetreten, Fenn?“ Auflehnung und Vorwurf klangen aus der Frage. „Gut, daß du mich fragst. Ich will dir mit rückhaltloser Offenheit antworten. Sieh, Putty, daß zwischen uns beiden ein großer Unterschied besteht, wirst du nicht leugnen wollen. Daß ich bisher im Leben immer tat, was ich tun zu müssen glaubte, einerlei ob es mich leicht oder schwer ankam, wirst du mir ebenfalls zugeben. Und mein Tun und Lassen richtete sich einzig und allein danach, ob ich das erfüllte, was ich als meine Bestimmung erkannte, nicht danach, ob es mir augenblicklich ein Genuß war oder eine Fron. Ich glaubte eine Zeitlang, als Geistlicher soviel Gutes und Schönes und Nützliches wirken zu können, daß es mich mit Genugtuung erfüllen würde. Darin wurde ich enttäuscht, durch die Dinge und durch die Menschen enttäuscht. Und darum gab ich es auf.“ „Du drehst also der Kirche nicht den Rücken, weil du aufgehört hast, an die Göttlichkeit ihres Ursprunges zu glauben –“ „Ach so, und an den göttlichen Ursprung ihrer Rechte, die Menschen in souveräner Weise zu ihrem übernatürlichen Geschick zu führen? So oder ähnlich heißt ja wohl eine bekannte Formel. Ach nein, mit der Kirche habe ich mich nicht auseinandergesetzt. Es war wirklich nur mein Bedürfnis, mich nach meinen innersten Anlagen auszuwachsen. Und nun noch eins, die Hauptsache. Ich trete ungestraft aus dem Priesterstande aus, weil ich nie hineingehört habe. Mein Fall ist selten. Viel seltener, als man glauben sollte, wenn man die zahlreichen Geschichten von Priestern hört und liest, die die Soutane auszogen oder gern ausgezogen hätten. An den besondern Pflichten des Standes habe ich mich wohl nie ernstlich gestoßen, nie so, daß mir von daher der Wunsch nach einem Berufswechsel gekommen wäre. Aber ich habe nie in mir das gespürt, was man religiöses Empfinden nennt. Meine Ethik und Moral waren immer ohne religiöse Färbung und Grundlage. Ich habe als Küsterskind von klein auf mit dem lieben Herrgott auf dem Duzfuß sozusagen verkehrt, alle Äußerlichkeiten der Glaubensübung, die euch im Kindes- und Jugendalter die Phantasie anregen und die Herzen warm machen und die euch später zum mindesten ein Schatz farbiger und poetischer Erinnerungen sind, die waren mir nüchterne Teile eines nüchternen Tagewerks. Sagen wir es einmal so: Ich habe die Kulissen der Religion beständig von der ungemalten Seite gesehen. Darum war ich immun gegen das Psychologische des Berufs, das, was euch allen im Blut sitzt, was recht eigentlich das unauslöschliche Merkmal der Priesterweihe ist. Das werdet ihr nicht los, das ist eine Umbiegung eures ganzen innern und äußern Wesens, die sich nie zurecht richten läßt. Und davon weiß ich mich frei. In diesem Sinne habe ich wohl nie die Berufung zum Priesterstand gehabt, und darum durfte ich ihm den Rücken kehren, ohne eine Schuld hinter mir zu lassen, ohne Schlinge am Fuß. Wer das von sich nicht sagen kann und trotzdem das geistliche Kleid auszieht, der geht durchs Leben mit einem unheilbaren Zwiespalt. Siehst du, lieber Putty, darum rate ich dir, meinem Beispiel nicht zu folgen. Denn du hast ein wachsweiches Gemüt, und das haben sie dir derart zurechtgeknetet, daß es sich nie in die böse Welt wird schicken können und daß deine Goldgräberkollegen im hintersten Alaska dir auf hundert Meter den entlaufenen Kaplan ansehen würden.“ „Das Religiöse?“ fragte Putty versonnen. „Ich nenne es so. Es ist, allgemeiner genommen, die ganz besondere Geistes- und Herzensverfassung, die in euch das Gefühl erzeugt, daß ihr seelisch gebückt gehen müßt, daß ihr euch nicht aufrichten dürft, ohne mit dem Kopf an die Decke zu stoßen, daß ihr eure Pflicht gegen euch und alle Menschen bis zum letzten Blutstropfen getan und doch die Strafe ewiger Verdammnis verdient haben könnt. Suche du es besser zu definieren.“ „Ja,“ meinte Putty ohne großen Nachdruck, „du sprichst schließlich nur von dem, was wir gemeinhin Glauben und Unglauben nennen.“ „Nicht ganz. Es gibt ausgetretene Geistliche, die auch im Unglauben das Priesterhafte behalten, und das sind die unleidlichsten.“ „Was mich angeht, ich habe ja unterwegs Zeit genug, darüber nachzudenken, was ich mit meinem verpfuschten Leben noch anfangen soll,“ meinte Putty mutlos. Nachdem er gegessen und getrunken hatte, ruderte ihn Fenn über den Fluß und brachte ihn an den Zug. „Bringe es meinen Leuten daheim bei. Um meine Mutter tuts mir leid, der andere – meinem Vater ... dem kann ichs gönnen!“ waren seine letzten Worte. * * * * * Für Fenn begann eine schwere Zeit. Die Verleumdung sickerte in alle Häuser und fand überall willige Ohren. Man achtet da draußen an dem Geistlichen hauptsächlich das Kleid und das Amt, nicht die Person. Das ist eine instinktiv erfundene Formel, mit der man sich hilft, wenn einmal die Gemeinde oder eine Partei zwischen sich und dem Pfarrer das Tischtuch entzwei schneidet. Da kann man sich dann mit der Person ruhig herumbalgen, ohne dem Priester zu nahe zu treten. Sobald Kaplan Kaß sein geistliches Kleid abgelegt hatte, war er vogelfrei und es galten keine Rücksichten mehr. Er spürte die Feindseligkeit der Bevölkerung, wie man eine Zugluft spürt, die einem heimtückisch und unangenehm in den Nacken weht. Sein Lokalverein war aus den Fugen gegangen und hatte sich wieder in die Bruderschaften des Herrn Pastors verkrümelt. Das hing übrigens mit den Wahlen und mit dem Geldverleih-Institut des Herrn August Peppinger zusammen. Fenn hatte seinem Freund Theo raten müssen, sich nicht mehr im Dorf zu zeigen, weil die politische Feindschaft gegen ihn unter der Führung des „Ruß“ in Tätlichkeiten auszuarten drohte. Von den frühern Freunden waren ihm nur die drei Kamps Burschen, außerdem der Niegela und der jüngere Masseler treu geblieben, dieser besonders deshalb, weil er damit seinen vornehmen Bruder zu ärgern wußte. „Ditt en nemme baschten!“[4] meinte er gutmütig. Den „Ruß“ hatte Fenn einmal dadurch gekränkt, daß er ihm das Verwerfliche seiner Wilddieberei vorgehalten und einen Hasen zurückgeschickt hatte, den der „Ruß“ zu verbotener Zeit in der Kaplansküche abgeladen hatte. „Ah, de’ mecht de spatze Möndchen! Da’ woart ä’s!“ hatte der Ruß gedroht.[5] Anonyme Briefe hielten Fenn über die Stimmung im Dorf auf dem Laufenden. „Herr Tesärteur,“ schrieb ihm einer, „ich teht mich ja schehmen, wie ein Kellichdiep, wen ich daas gemacht hätte. Das nennt man ein Cujong. An nemt eich inacht, wir wolen euch nicht im Dorf haben, wen ihr nicht freiwihlich ghet machen wir euch beine wir wollen kein entlaufener Paaf im Dorf haben past auf wir schlahgen euch noch der Scharrivarri, ist es den keine schant mit einer verheiraten Frau halten. Fier euer scheinheilig Fiesemin ist schohn der Klöppel ferdich womit ihr si kreuzweis ersolt kricht. Dan habt ihr euer wollverdienter Lon ales im Dorf sacht warum misse wir der entlaufene Paaf hir erhalten zum leßten Mal es ist die hekste Zeit daß ihr euch durch die Reiser maacht den ein entlaufener Paaf ist der Rest von nix.“ Ende Mai zog Fenn mit seiner Haushaltung in die Mühle, die Lampert geräumt hatte, um nach Wiesing überzusiedeln. Die Stundenfrau, die Mutter Kaß immer zur Aushilfe hatte, ließ sagen, sie könne nicht beim Umzug helfen, und sie könne überhaupt nicht mehr kommen. Drei, vier andere, die Fenn fragen ließ, gaben dem alten Wöllem denselben Bescheid. Die Nachbarn gebrauchten faule Ausreden, um ihre Wagen nicht herleihen zu müssen, und schließlich mußte Fenn mitten in der Nacht mit Hilfe seiner fünf Getreuen den Umzug bewerkstelligen, und er hörte andern Tags, daß sie auf dem Heimweg vom Ruß mit einer Bande seiner Spießgesellen angefallen worden waren. Abends zog eine Rotte mit Feuerwehrhörnern und Trommeln, mit alten Eimern und Gießkannen und sonstigen Lärmwerkzeugen vor die Mühle und schlug Charivari, daß das Dorf zusammenlief. Aus dem Gebrüll heraus verstand Fenn Rufe, wie: „Eraus mat der Millesch!“ – „Hopp Marjännchen, loß dei Kaplänchen danzen!“ – „Werf es eng Zoutan erof!“ – „an en önneschte Rack!“[6] Er knirschte vor kalter Wut und dachte einen Augenblick, ob er ihnen ein paar Revolverschüsse über die Köpfe feuern sollte. Frau Kaß ließ ihn nicht aus den Augen. Sie wollte ihm nicht dreinreden. Aber bald sah sie ihn ruhiger werden und wußte, daß er nichts tun würde, was er später bereuen müßte. Auch der alte Wöllem kam herein und fragte mit seiner heiseren Stimme: „Was wollen die?“ „Eigentlich Kopfnüsse,“ sagte Fenn. Wöllem murrte etwas von „Cujongen“ und „Hondsfotten“ und entwickelte einen Plan: Er wollte ihnen ein paar Eimer Wasser über die Köpfe gießen, und nicht vom klarsten. Und wenn es gewesen wäre, ehe er nach Paris gegangen war, da wollte er ihnen mit blanken Fäusten schon gezeigt haben, „wat gelifft!“[7] Aber seit Paris! ... Nondidjeh! „Jetzt paß auf, Wöllem, wie ich denen komme,“ lachte Fenn. Er ging durch eine Hintertür ins Freie und kam auf einem Umweg den Lärmmachern in den Rücken. Da stand er denn eine Weile und hörte sichtlich mit gutem Humor den Spektakel einmal von der andern Seite an. Als ihn die in den hintersten Reihen, die untätig dabei standen, erblickten, ging es bald durch die ganze Schar: „Elei stäht en!“ Die Trommler und Trompeter erschraken und der Lärm verstummte auf einen Augenblick plötzlich wie auf Kommando. Fenn machte Miene, auf das Haus zuzugehen, und verlegen öffneten ihm die Burschen einen Weg: „Ihr hättet warten sollen, bis ich zu Haus war,“ sagte Fenn ruhig. „Was trinkt ihr lieber, Wein oder Bier?“ „Mir peifen op ärt Gedränks,“ sagte der Ruß trotzig. Fenn meinte, das sei für ihn erheblich billiger, und in den hintersten Reihen lachten sie den Ruß aus. „Dat spillt keng Roll!“ sagte dieser hartnäckig und machte Miene, Fenn den Weg zu versperren. Der behielt vorsichtshalber die Hände in den Taschen und zwängte sich an dem langen Kalmücken vorüber. „Ich weiß ja jetzt, wer dabei war,“ sagte er, als er auf seiner Türschwelle stand. „Wenn ich euch bei der Gendarmerie anzeige, werdet ihr alle verknaxt. Also geht jetzt ruhig heim in eure Betten, ihr habt entschieden mehr davon.“ Es entstand ein Geraune und Gesumme, der Ruß fluchte dazwischen und wollte jedem, der vom Platze wich, mit seiner Gießkanne die Hirnschale spalten. Aber der Respekt vor dem Gericht behielt die Oberhand, und lärmend und tutend, aus der Entfernung zurückschimpfend, zog die Schar ab. Tags darauf stand in der „Abendglocke“ ein Bericht über das Ereignis: „Wenn wir solche Ausschreitungen auch beileibe nicht billigen können, so wollen wir uns doch nicht die Nutzanwendung versagen, die sich daraus ergibt. Sie zeigen wieder einmal in nicht mißzuverstehender Weise, wie tief bei unserm biedern Landvolk der Glaube und die Anhänglichkeit an seine Priester wurzeln, und wie es sich mit elementarer Wucht empört, wenn irgendwo etwas geschieht, was gegen seine frommen und glaubenstreuen Überlieferungen verstößt. In diesem Sinn ist ihm jeder apostasierte Geistliche ein Gegenstand des Abscheus, und diesem Abscheu lediglich hat es in vorliegendem Falle Luft gemacht.“ „So ein Gemütsmensch!“ dachte Fenn. Aber das mit dem Sichdurchsetzen ließ sich doch schwerer an, als er zuerst gemeint hatte. Je nun, mit Ruhe und Geduld würde es doch noch gehen. Die sogenannte Volksseele läßt sich nicht mit dem Wurfnetz einfangen. * * * * * Fenn suchte die Unbill der Menschen über seiner Arbeit zu vergessen. In der Mühle gab es vielerlei umzubauen, um für die Turbinenanlage einen geeigneten Raum zu schaffen. Der Niegela und die Kamps halfen, wo er sie brauchte, der jüngere Masseler besorgte die nötigen Fuhren, es fleckte nach Wunsch. Die Turbinen, Dynamos und Akkumulatoren wurden rechtzeitig angeliefert, und nach Fenns Berechnung konnte bis Mitte Juni die Anlage fertig sein. „Mutter,“ sagte er eines Tages, „du kannst dir nicht denken, mit welch inniger Freude ich meine Arbeit tue. Hätte ich, wie es früher war, die Anlage für den Verein oder sonstwie bauen dürfen, das hätte mich ja auch gefreut, aber so, weißt du, ist das doch eine ganz andere Sache. So beruht alles auf mir, ich fühle den ganzen Bau auf meinen Schultern. Das ganze Unternehmen, das bin ich selbst, ... ich glaube wirklich, Theo hat recht: was den Mann macht, das ist die Verantwortung.“ „Nun ja, mein Junge, du wirst ja wohl recht haben, ich verstehe nichts davon.“ Und sie sah ihm mit glücklich behäbigem Lächeln nach, wie er in der Küche sich ein Glas Wasser pumpte, es mit Genuß austrank und wieder zu seinen Arbeitern hinausging. „Du wirst sehen,“ sagte er im Fortgehen, „ich baue diesen Dickköpfen am Ende auch noch eine Wasserleitung.“ Und eines Abends im Juni war richtig das Turbinenhaus fertig, Dynamos und Akkumulatoren montiert, die Leitungen für die Beleuchtung der Straßen und eine Anzahl Privatanschlüsse gelegt. Die Kamps freuten sich wie die Kinder darauf, daß sie in ihrer Werkstatt die Holzbearbeitungsmaschinen mit elektrischem Antrieb würden laufen lassen, Masseler der Jüngere hatte seine Dreschmaschine anschließen lassen, es war allerseits freudige Spannung und Zuversicht. Nur daß der Schöpfer der Anlage gerade Fenn Kaß war, das wollte den Brebachern nicht gefallen. Der Niegela hatte den ganzen Tag oberhalb des Dorfes an dem Durchstich gearbeitet, der den Bach in den Höhlenweg überleiten sollte. Andern Tags sollten die beiden Schleusen am Durchstich und oben am Turbinenhaus in Angriff genommen und unten die Abflußröhren gelegt werden. „Wenn alles klappt,“ meinte Fenn, „können wir am Samstag das Ganze einmal Probe laufen lassen.“ Der Niegela mußte vor der Zeit Feierabend machen, weil ein furchtbares Gewitter ihn von der Arbeit scheuchte. Nun, so weit, daß die Schleuse eingebaut werden konnte, hatte er ja den Durchstich fertig, der Rest mußte stehen bleiben, bis unten alles in Ordnung war und der Bach in das neue Bett geleitet werden konnte. Fenn war noch vor Dunkelwerden oben gewesen mit den Kamps und hatte nachgesehen, ob die stehengebliebenen Erdmassen widerstandsfähig genug wären, um dem seitlichen Anprall des vom Gewitterregen anschwellenden Baches Widerstand zu leisten. Denn wenn ihm jetzt seine Talsperre unvermutet voll lief, wurde seine ganze Anlage unter Wasser gesetzt. Indes, jede Gefahr schien ausgeschlossen, und beruhigt gingen die vier nach Haus. * * * * * Am selben Tag hatten im Kantonshauptort die Wahlen stattgefunden. Fast die ganze männliche Bevölkerung, auch die jüngern, die noch nicht wählten, waren hingezogen, denn man wußte, siegt der Peppinger, so fließen Wein und Bier in Strömen, und an fester Atzung dazu wird es auch nicht fehlen. Und daß der Peppinger gewählt würde, daran zweifelte niemand. Theo Schütz hatte aus Pflichtgefühl bis zum Schluß des Wahlgeschäfts ausgehalten und war dann in seinem Automobil zum Städtchen hinausgefahren: Die Stimmen mochten sie zählen, ohne daß er dabei war. Eins hatte ihm sein Wahlfeldzug jedenfalls eingebracht: Den unbeugsamen Entschluß, sich niemals wieder auf die Galeere Politik einsperren zu lassen. Von zwölfhundertdreiundachtzig abgegebenen gültigen Stimmen – so meldeten in den ersten Nachmittagsstunden die Blätter – waren elfhundertzweiundvierzig auf Herrn August Peppinger und hunderteinundvierzig auf Herrn Theo Schütz entfallen. Die Brebacher taten sich bei den Jubelkundgebungen vor dem Hause des Gewählten unter allen andern hervor. Sie feierten nicht nur den Sieg Peppingers, sie feierten auch besonders die Niederlage des andern, in dem ihr entlaufener Kaplan mitgetroffen war. Allen voran lärmte der Ruß und schlug mit der Faust auf den Wirtshaustisch, daß es hoch aus den Gläsern spritzte, und seine Kraftausdrücke über Fenn Kaß entfesselten das wiehernde Gelächter seiner Dorfgenossen, die ihn immer tiefer in sein wütiges Pathos hineinhetzten. Bei Peppingers ging es von Glückwünschenden mit und ohne Blumensträuße aus und ein, alle Augenblicke brachte der Bote von der Post ein Telegramm und bekam von der gnädigen Frau ein Trinkgeld, das mit jedem weitern Telegramm knapper wurde und zuletzt nur noch aus einem Glas Champagner und einer Wahlzigarre bestand. Herr Rommelfangen war persönlich erschienen, um den heißen Dank seines Schützlings von Hand zu Hand entgegenzunehmen. Abordnungen von Vereinen kamen, halb und ganz betrunkene Vereinswürdenträger standen mit riesigen Blumensträußen vor dem Helden des Tages und stammelten bald laut, bald leise die Ansprachen, in denen sie ihrer Freude darüber Ausdruck gaben, daß ihr langjähriges Mitglied usw., und ihrer Hoffnung, daß Herr Peppinger usw., und Herr Peppinger und Frau Peppinger sollen leben hoch! hoch! hoch! Pfarrer und Kapläne standen in Gruppen umher und ihr Anblick trug glücklicherweise dazu bei, die durstigen und lärmfrohen Gratulanten im Flur und in der Zimmerflucht des Erdgeschosses im Zaume zu halten. Wenn man die Festräume, die mit sonnendurchschienenem Zigarrendunst und dem süßsäuerlichen Duft des billigen Champagners erfüllt waren, bis zu einem Ende durchschritt, kam man in einen kleinen Salon, das Boudoir der Dame des Hauses. Dahin hatte sich die Elite der Glückwünschenden abgesondert, und dort wurden hochpolitische Gespräche geführt. Herr Chefredakteur Rommelfangen stellte von Zeit zu Zeit stotternd und krebsrot im Gesicht eine Thesis auf, um die dann die andern wie um einen Fußball mit kühler Berechnung oder mit sprudelndem Draufgängertum sich tummelten. Es war keine einheitlich zusammengesetzte Gesellschaft. Zwar in dem einen waren alle einig: daß man sich im Interesse der guten Sache über den Sieg Peppingers freuen müsse. Aber da war die Gruppe der biedern alten Pfarrherren und kirchentreuen Eingesessenen, die ohne Falsch und aufrichtig sich ganz der frohen Überzeugung hingaben, daß mit dem Wahlsieg Peppingers der Herr der Heerscharen sich auf ihre Seite geschlagen hatte. Da war aber auch die Bank der heimlichen Spötter, der Lebemänner der Geistlichkeit, vorurteilslose junge Pastöre und Kapläne, die auf dem Standpunkt standen, daß sie die Entsagung, die sie auf der einen Seite übten, auf der andern durch Wohlleben in den Grenzen der Kasuistik wett machen dürften. Bei ihnen saßen die paar jugendlichen Advokaten, die nach der Mahnung ihres alten Direktors Kleyer die Fahne des Glaubens inmitten der Kinder dieser Welt unentwegt hochhielten und sich gut dabei befanden. Unter ihnen war mehr als einer, der insgeheim die Hoffnung nährte, Herrn Peppinger dermaleinst die politischen Fersen auszutreten, und der jetzt fleißig auf des Gastgebers Gesundheit anstieß, indem er mit seinem Nachbar einen verständnisinnigen Blick wechselte und dabei in ein unbändiges Lachen ausbrach. Kaplan Schramm mit dem kindlich-lustigen Genießergesicht flüsterte nämlich in einem fort über Peppinger Kraftausdrücke, die er wie eine Kette aneinander reihte, und jedesmal, wenn er, wie er sagte, den Nagel auf den Hohlkopf getroffen hatte, lachten die andern laut und ausgelassen hinterdrein. Aus der Gruppe der Altern schollen dann neugierige Fragen herüber, die der Spaßmacher in übermütiger Laune mit einem neuen Witz beantwortete. Und er wettete die beste Flasche aus Peppingers Keller, daß er den Pfarrer Schlunz innerhalb fünf Minuten dazu bringen würde, seine Leib- und Magengeschichte zum fünfzehnten Male an jenem Nachmittag zu erzählen. Das war die Geschichte, in der Hochwürden Schlunz auftrat, wie er zwei Amtsbrüdern weismachte, sie hätten bei ihm an der Kirmes Pferdefleisch statt Beefsteak gegessen. Er schilderte die Wirkung immer sehr anschaulich, und der Schlußeffekt war ein vorzüglich nachgeahmtes Pferdegewieher. In einer dritten spitzen Ecke wurde von einer anders gearteten Schar von jüngern Geistlichen der Einzelfall Peppinger-Schütz ernsthaft erörtert. Man besprach die Kampfmittel, die in Anwendung gekommen waren, und die man noch vervollkommnen würde, die sittliche und politische Berechtigung des Klerus, in die Wahlkämpfe aktiv einzugreifen. Da gab Rommelfangen den Ton an. Die milde Verachtung, die er für die politischen Widersacher zur Schau trug, stärkte die andern in ihrem Empfinden, daß sie auf der Sonnenseite der Volksgunst saßen. „Was wollen sie uns anhaben? Wir haben erst angefangen, die Reserve an Kraft, die für uns im Volke aufgespeichert liegt, mobil zu machen. Daran müssen wir festhalten, meine Herren! Es ist für unser Volk sittliche Pflicht, der politischen Weisheit der Kirchengewalt Folge zu leisten.“ „_Vivant sequentes!_“ sagte der lustige Kaplan darauf augenblinzelnd und stieß mit einem der jungen Advokaten an. Und er lachte dazu breit und behäbig, daß sich ihm der Mund bis an die Ohrläppchen spaltete. Plötzlich machte er ein tiefernstes Gesicht, das freilich von seinen weinseligen Äuglein auffällig dementiert wurde. „Von heute ab steht auch der liebe Herrgott bei unserm Freund Peppinger in der Kreide,“ medisierte er halblaut weiter. „Wieso?“ „Heute hat ihm der liebe Herrgott nämlich ein Amt gegeben, aber den Verstand dazu bleibt er ihm bis auf weiteres schuldig.“ „Sie sind wieder losgelassen, Herr Kaplan,“ sagte Peppinger, der gerade hinzutrat und den Herren sein volles Glas entgegenhielt. „Hoch sollen Sie leben, Herr Peppinger!“ sagte der Kaplan, und seine Augen sprühten Ausgelassenheit. „Und jede Woche einmal sollen Sie in die Kammer gewählt werden, und der Segen des Herrn sei über Ihnen, über Ihrer Familie, über Ihrem Kassenschrank, Ihren Wiesen, Wäldern und Feldern – und über Ihren Kartoffeln,“ setzte er weniger laut inmitten des Gläserklingens hinzu. Die Gruppe Rommelfangen billigte dieses geräuschvolle Gehabe nur halb und wartete, bis der Lärm sich gelegt hatte, um in ihren ernsten Erörterungen der Sachlage fortzufahren. Aber der Herr Chefredakteur kam herüber und suchte Anschluß an die angeregte Unterhaltung. „Wa–as sagen de– denn Sie zu unserm Wa–ahlsieg?“ begann er leutselig und seine Blicke befingerten erregt seine Nasenspitze. Kaplan Schramm meinte, mit solchen Trümpfen in der Hand sei ein Spiel nicht zu verlieren gewesen. „Allerdings,“ sagte Rommelfangen, „und die Geschichte mit Kaß hat den Gegnern vollends den Rest gegeben.“ Der andere meinte, die sei doch reichlich durch die Geschichte mit Heinen aufgewogen. Rommelfangen hatte das Gefühl, daß er in eine Gesellschaft geraten sei, die seine Überlegenheit nur bedingt anerkannte. Ja, leider Gottes, die Geschichte mit diesem unseligen Heinen! Aber zum Glück sei das Volk noch nicht so, daß es einen unwürdigen Priester gleich dem ganzen Stand an die Rockschöße hänge. Die Jüngern waren herüber gekommen, und Dr. Feller sagte, man könne Fenn Kaß doch wirklich nicht mit einem Menschen wie diesem Heinen gleichstellen. „Ich kenne Kaß genau. Wenn er austrat, so konnte er sicher nicht anders. Dafür lasse ich mir die Hand abhacken.“ „Ach was, es ist die alte Geschichte: Die Weiber, die Weiber und wieder die Weiber!“ Fenns Sachwalter wurde warm, und man merkte, er hatte die andern hinter sich. „Bei Kaß waren es nicht die Weiber und nicht das Weib. Die Geschichte, die über ihn herumgetragen wird, ist sicher erlogen. Ich habe Anhaltspunkte. Kaß ist ein ernster Mensch, der nur aus ernsten Motiven handelt, und in meiner Gegenwart“ – der junge Kaplan erhob die Stimme – „lasse ich nichts auf ihn kommen.“ Rommelfangen geriet ins Stottern. Auf geredeten Widerspruch war er nicht eingeübt, und er drehte diesem Kreis junger Besserwisser den Rücken. Pfarrer Schlunz, eine schwere Zigarre im Mundwinkel, trat zu dem Kreis heran. „Sprecht ihr von dem Kaß? Dem fehlte weiter nichts, als daß ihm zu wohl war. Ich wollte, ich wäre nur einen Tag lang der liebe Herrgott, ich würde euch den Kaß schon mürbe kriegen. Der sollte mir schon lernen, was es heißt: _Manus domini tetigit me!_“ Pfarrer Schlunz stellte sich den lieben Gott mit einem strengen Gesicht auf dem Kutschbock des Weltalls vor, wie er seine störrischen Pferde mit Zügel und Peitsche bändigt und den braven doppelte Haferportionen in die Krippe schüttet. Er hielt für seine Person darauf, sich jeden Tag seine doppelte Portion zu verdienen. „Wenn ich an Pfarrer Brendels Stelle wäre,“ redete der junge Kaplan an seinem fidelen Oberkollegen vorbei, „so würde ich es nicht dulden, daß in Brebach in dieser abscheulichen Weise gegen Kaß agitiert wird.“ Die andern lächelten. Sie wußten, wo Pfarrer Brendel in diesem Fall mit seinem Einspruch anfangen müßte. „Es könnte uns nichts schaden, wenn wir unter uns viele von der Sorte Kaß hätten. Ich will ihm ja nicht recht geben, aber mit seinesgleichen kämen wir sicher weiter.“ „Du, paß auf,“ sagte warnend ein Konfrater. „Du hast vielleicht recht, aber der Wind von oben geht gegen diese Richtung. Brendelsche Observanz – da liegt heute das Heil.“ Es entstand Schweigen in dem kleinen Kreis der Jüngsten, und sie gingen bald auseinander, seelisch gebückt, wie Fenn gesagt hatte, mit dem Gefühl, daß sie an die Decke stießen, wenn sie sich aufrichten wollten. * * * * * Der Spätnachmittag hatte sich gewittrig angelassen, um Sonnenuntergang war es mit Blitz und Donner und Regendrusch losgebrochen und bis spät in die Nacht hinein war es am Himmel von Nachhut-Scharmützeln der zersprengten Wolkenheere nicht stille geworden. Fenn Kaß schlief unruhig. Sein Zimmer ging nach dem Mühlenbau. Von fern hörte er manchmal in das Rauschen des angeschwollenen Baches hinein, der unweit noch in seinem alten Bette vorbeifloß, das Gegröhle der heimkehrenden Brebacher. Er merkte die Absicht, mit der sie gerade vor seinem Haus ihre Hochrufe auf Peppinger ausbrachten. Allmählich wurde das Gejohle seltener und gegen Mitternacht verstummte es ganz. Im Morgendämmer erwachte Fenn und richtete sich erschrocken in seinem Bett auf. Er hatte geträumt, man hätte ihn bei lebendigem Leibe in den Sarg gelegt und begraben. Er hatte die Erdschollen auf dem Sargdeckel poltern gehört, das Geräusch war immer dumpfer geworden und dann war auf einmal alles totenstill um ihn gewesen. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Last über seiner Brust und saß plötzlich wach, schweißgebadet in seinem Bett. Der Druck über seiner Brust hatte aufgehört, aber das unheimliche Gefühl der Totenstille um ihn her war nicht gewichen. Der Bach war verstummt. Statt des verstärkten Rauschens, das Fenn noch vor wenigen Stunden vernommen hatte, war unheimliche Stille vor seinen Fenstern. Er hatte die Empfindung eines, der zu spät an die Bahn kommt und statt des aufgeregten Getriebes einer Zugabfahrt leere Hallen findet, oder der bei der Heimkehr entdeckt, daß seine Zimmer ausgeraubt sind. Dann wurde ihm langsam der Zusammenhang klar: Der Bach war in den Höhlenweg durchgebrochen. Aufgeregt fuhr er in die Kleider und stürzte hinaus. Da kam ihm auch schon Wöllem entgegen. Der treue Alte kraute sich hinterm Ohr und sagte: „Et aß eppes net an der Reih’.“ Fenn erklärte ihm, daß der Bach ausgebrochen sei. Aber Wöllem schüttelte den Kopf. Von selber sei das nicht passiert. Da müßten ein paar gute Leute nachgeholfen haben. „Jetzt heißt es vor allen Dingen, dem Wasser einen Abfluß schaffen,“ sagte Fenn mit ruhiger Bestimmtheit. Er ging mit Wöllem an die Stelle, wo durch die Grundmauer des Turbinenhauses heraus die Öffnung für die Ableitung schon gebrochen war und heute die Röhren gelegt werden sollten. „Hier muß dicht von der Mauer an ein Graben nach dem alten Bach ausgeworfen werden. Ich laufe zu den Kamps und zum Niegela, daß sie dir helfen, vielleicht schafft ihr es noch weit genug, ehe oben der Höhlenweg voll läuft, sonst ersäuft uns am Ende die ganze Anlage.“ Wöllem holte seine Spitzhacke und machte sich an die Arbeit. Fenn alarmierte die andern und lief dann hinauf zu dem Durchstich. Er sah im Morgenzwielicht auf den ersten Blick, daß es nicht möglich war, hier den ungestümen Wasserdruck abzudämmen. Und er sah auch, daß der Bach nicht von selbst durchgebrochen war. Von der Schlucht her war das Erdreich kunstgerecht mit Hacken und Schaufeln ausgeworfen, bis die Erdmauer so dünn gewesen war, daß sie von dem Wasserdruck niedergeschwemmt werden mußte. Im Umkreis war der Boden von vielen Tritten zerstampft, Zigarrenstummel lagen umher und auf einem Zaun hing eine Sonntagsjacke und ein Hut, die Fenn leicht als Eigentum des Ruß erkannte. Am Wasserstand sah er, daß unten am Turbinenhaus die Katastrophe in drohende Nähe gerückt, wenn nicht schon eingetreten war, und er lief Trab bis zur Mühle. Leute kamen ihm aus dem Hoftor entgegen, die verlegen auswichen. Weiter hinab, am Turbinenhaus, stand eine Gruppe bewegungslos im Kreis, und jetzt sah er auch, daß die Mauer, unter der die Ableitung durchführen sollte, in einer Breite von mehrern Metern bis unters Dach hinauf eingestürzt war. Durch den Spalt und über die Trümmer ergoß sich schäumend und quirlend das vom Gewitterregen gelbe Bachwasser und suchte in breitem Gerinsel einen Weg in sein altes Bett. Als Fenn keuchend die Gruppe anlief, teilte sich der Kreis und er sah den alten Wöllem leblos an der Erde liegen. Haare, Gesicht und Kleider waren mit trockenem Mörtel überpudert, wo das Wasser nicht darüber gewaschen hatte, auf der Brust sah man den Abdruck eines schweren Mauerklumpens und aus einem Mundwinkel sickerte dem alten Mann eine dünne, hellrote Blutrinne an der Kinnlade herunter. Da gab es nicht viel zu fragen. Die breit unterspülte Mauer war heruntergerutscht, ihre obern Teile im Bogen herausschleudernd. Die Kamps hatten gerade noch gesehen, wie Wöllem, seine Spitzhacke nachschleppend, aus dem Bereich der stürzenden Trümmer schwerfällig enteilen wollte, hinfiel, sich herumwarf und eines der Mauerstücke, die mit krummem Staubschweif durch die Luft flogen, voll auf die Brust bekam. Fenn kniete nieder und suchte Wöllems rechte Hand. Er drückte sie erst bewegt an die Lippen, dann suchte er nach dem Puls, legte sich flach auf die Erde und preßte das Ohr an die linke Seite des Verunglückten. Dann stand er auf und sagte: „Es muß jemand zum Arzt.“ Mehrere junge Bauern meldeten sich linkisch, die sogleich fahren wollten. Sie sahen aus wie Leute, die ein schlechtes Gewissen haben. „Geht,“ sagte Fenn, „macht es unter euch aus, wer am schnellsten zurück sein kann.“ Sie liefen aus dem Tor. Der Leblose wurde ins Haus getragen, wo Mutter Kaß in der Stube schon eine Matratze und Kissen für ihn hergerichtet hatte. Jetzt sah Fenn erst, daß er Hut und Rock des Ruß mitgebracht hatte. Er verwahrte sie in seinem Zimmer. Nachdem Wöllem in der Wohnstube gebettet war, ging Fenn ins Turbinenhaus. Der Schaden war nicht so groß, wie es auf den ersten Augenblick geschienen hatte. An den Maschinen war nichts verdorben, in der Hauptsache war wohl nur die Mauer aufzubauen. Draußen standen sie schon wenigstens ein Dutzend mit Schaufeln und Hacken, um dem Wasser seinen Weg nach dem alten Bett zu bahnen, wohin die Ableitung gehen sollte. Der Arzt konnte dem alten Wöllem nicht mehr helfen. Der ganze Brustkasten war platt gequetscht. Fenn saß bei der Leiche seines alten Freundes und seine Gedanken durchmaßen eine Welt, darin der Weg in weitem Umkreis von Rache und Vergeltung zu Verzeihung führte. Lange sann er nach, wie ihm all die rohen Gesellen, die ihm den Untergang geschworen hatten, für das Leben des armen Alten büßen sollten. Er starrte in das stille Antlitz, in dem die Oberlippe an der einen Seite ein wenig heraufgezogen war, mit einem Ausdruck des plötzlichen Schrecks und der Reflexbewegung der Abwehr. Und er legte sich in Gedanken zurecht, wie er die Mörder überführen würde, wie sie angstschlotternd vor Gericht stünden und im Gefängniswagen abgeführt würden. Der Tote, der so viel kleiner, ärmlicher schien, als da er noch aufrecht im Hause herumging, kam Fenn vor wie eine handgreifliche Schmach, die ihm seine Widersacher angetan hatten, wie eine Blutschuld, die er einfordern müsse. Die Nacht wurde stiller, und in Fenns Seele legten sich die schmerzhaften Rachegedanken. Seine Feinde? Was waren sie denn letzten Endes anders als arme Menschenbestien, die auf der Stufe ihres Erkennens und Empfindens kaum etwas Strafbares zu vollbringen gedacht hatten? Und er? War er nicht der ganz Freie, der über seinem Tun und Lassen nur die höchsten ethischen Gesetze wollte walten lassen? Sollte er das kostbare Gefühl der Rache, dem das Beste gerade gut genug sein muß, an diese Ärmsten verschwenden, deren Feindseligkeit ihm gegenüber kaum bewußter war, als die Feindseligkeit des Elementes, das sie entfesselt hatten? Aber auch bei dieser Etappe der milden Verachtung blieben Fenns Gedanken nicht stehen, und als der bleiche Morgen in die Leichenkammer schien, hatte sich in ihm alles in schönes, starkes Mitleid aufgelöst, und die Tränen, die er seinem alten Wöllem nachweinte, flossen aus dem Quell geläuterter Menschlichkeit. * * * * * Als der Ruß am Abend des Wahltags mit seinen Kumpanen gröhlend nach Hause gekommen war, hatte die ganze Schar im Wirtshaus neben der Kirche noch Licht gesehen. Sie fanden dort andere betrunkene Wähler und ganz allein an einem Tisch den Niegela, der heute seinen durstigen Tag gehabt hatte und gesprächig war. Ihre derben Neckereien beantwortete er mit gutmütiger Abwehr, und als man auf die Arbeiten am Bach zu reden kam, tat er damit dick, daß er heute den Durchstich angefangen hätte, und wettete, daß er bis Samstag damit fertig wäre. Der Ruß hatte die Wette gehalten und mit der Hartnäckigkeit des Betrunkenen immer wieder gelallt: „Niegela, ich wette eine Runde, daß du bis Samstag den Durchstich nicht fertig machst.“ „Ich wette sechs.“ „Niegela, hörst du, du machst bis Samstag den Durchstich nicht fertig, – eng Tourni gewa’t!“ „Sechs Tourni’en!“ So war mit schwerfälligen Zungen die Rede hin und her gegangen, bis Niegela sich empfahl. Auch der Ruß hatte mit seinem Anhang das Wirtshaus verlassen. Draußen erklärte er den andern, wie er die Wette meinte. „Wir kehren den Bach gleich selbst in den Höhlenweg.“ Nondidjeß! was der „gefehlte Paaf“ dann morgen früh für ein Gesicht schneiden würde! Und: jo! jo! waren alle einverstanden. Sie holten Werkzeug und machten sich alle an die Arbeit. Sie gruben und schaufelten, daß ihnen der Alkoholschweiß aus allen Poren perlte. Ab und zu ein kurzer Fluch, ein ersticktes Lachen: bis das Wasser zischend durch eine schmale Öffnung schoß und im Nu den letzten Wall mitwegriß. „_Sauve qui peut!_“ lachte der Ruß und nahm zuerst Reißaus. Ruß und seine Kumpane schliefen in den hellen Morgen hinein und als sie mit dumpfen Schädeln erwachten, war das erste, was sie hörten, die Nachricht von der eingestürzten Mauer, die Kaplans Wöllem totgeschlagen hatte. Das fuhr ihnen in die Glieder. Voller Angst und Katzenjammer suchte der erste den zweiten auf, zu den zwei ersten kam der dritte, und einem psychologischen Naturgesetz folgend waren sie bald ziemlich vollzählig mit andern Dörflern oben an dem fatalen Durchstich. So im hellen Tageslicht und aus nüchternen Augen sah sich die Geschichte doch verflucht unheimlich an. Sie hatten bald weg, daß es gut sei, wenn um den Graben herum möglichst viele Leute das Erdreich zerstampften, damit ihre Spuren verwischt würden. Freilich, die ausgeworfenen Erdhaufen auf beiden Seiten, die konnten nicht von selbst entstanden sein. Aber man schien anzunehmen, daß die von der Arbeit des Niegela herrührten. Nirgends wurde die Vermutung laut, daß da etwas nicht mit natürlichen Dingen zugegangen sein könnte. Auch Fenn Kaß war dagewesen, hatte die Schuldigen mit seltsamem Blick gemessen, besonders den Ruß, aber auch mit keinem Sterbenswörtchen auf ihren Schurkenstreich angespielt. * * * * * Im Laufe des Vormittags kam zu Fenn Kaß einer von den Brüdern Kamp, der ihm etwas sagen wollte. Erst konnte der Bursche nicht mit der Farbe heraus. Schließlich brachte er sein Anliegen vor: Der alte Wöllem hatte seit Menschengedenken seine Ostern nicht gehalten und würde ohne Geistlichkeit begraben. Da war ja nun mal nicht dran zu tippen. Aber daß ihm die Totenglocke nicht geläutet worden war, das war nicht in Ordnung, da hätte Fenn sich drein legen müssen. Fenn besann sich. Ja, das war ihm entgangen, daran hatte er nicht gedacht. Der junge Kamp sagte, daß sich die Leute im Dorf darüber aufhielten. Die meisten sagten, ein jeder Tote verdiene, daß für ihn die Glocke geläutet werde. „Wir haben beim Bürgermeister angefragt, er hat uns erlaubt, noch nachträglich die Sterbeglocke zu läuten.“ „Nun, und?“ „Der Küster gibt den Schlüssel nicht her und an der Tür zum Glockenturm steht der Ruß mit ihrer einem halben Dutzend und läßt niemand heran.“ „Komm,“ sagte Fenn Kaß. Er ging zum Schmiedeanton und lieh sich den dicksten Zuschlaghammer aus. „Den trägst du, Tedi.“ Dann schritt er mit Bedacht durch die Dorfstraße, die Kirchentreppe hinauf unter den Kastanienbäumen her, bog links in den Kirchhof ein und ging auf die Männer zu, die sich vor der Tür zum Glockenturm angesammelt hatten. „Hat einer von euch den Turmschlüssel?“ „Ja, aber du kriegst ihn nicht!“ sagte trotzig der Ruß. „Das habe ich euch nicht gefragt. Wer hat den Schlüssel?“ „Der Küster.“ „Will der Küster die Tür aufschließen?“ „Wozu?“ „Ich will für unsern Wöllem die Sterbeglocke läuten.“ „Der braucht keine Sterbeglocke,“ sagte der Ruß. „Freilich brauchte er heute keine, wenn es keine Schurken in Brebach gäbe. Wollt ihr Platz machen?“ Keiner rührte sich. Sie sahen einander mit verlegenem Hohn von unten herauf an, behielten die Hände in den Taschen, und die am weitesten abstanden, rückten näher zur Mitte, um die lebende Wehr vor der Tür zu verstärken. Was Fenn Kaß jetzt tat, tat er mit kaltem Blut. Er war seiner Sache ganz sicher, so sicher, daß er Wort für Wort im voraus hätte aufschreiben können, was jetzt kam. Er war sich bewußt, daß ihm das Geschick einen Augenblick geschenkt hatte, in dem er vollenden konnte, was ihm sonst in Jahr und Tag nicht gelungen wäre, und es stand auch ganz klar in seinem Bewußtsein, daß der alte Wöllem ihm diesen günstigen Augenblick um den Preis seines Lebens erkauft hatte. Fenn Kaß hatte das Gefühl, daß es von der Ausnutzung des Momentes abhing, ob er als Sieger oder als Besiegter aus dem Kampf mit der rohen Einfalt dieser Menschen hervorging. „Gut!“ sagte er. „Es geht um den Kopf. Ich weiß, vor mir stehen die, die den alten Wöllem auf dem Gewissen haben.“ Einzelne suchten durch Ausspucken ihrer Erregung Herr zu werden. „Ich war heute morgen früh oben am Eingang zum Höhlenweg. Ich weiß, wer den Bach abgeleitet hat.“ „Einen Dreck weiß er!“ sagte ingrimmig der Ruß. „Ich habe die Spuren von euren Tritten und eure Zigarrenstummel gefunden.“ „Damit lauf dich warm.“ „Und einer von euch – ich kenne ihn – hat seinen Rock und Hut an einem Zaun hängen lassen. Ich habe sie zu Haus und brauche sie nur den Gendarmen auszuhändigen, so wißt ihr, was euch blüht.“ Dem Ruß hatte es einen Ruck versetzt, er war fluchend mit der Hand an die Mütze gefahren. „Wollt ihr mich durchlassen?“ Noch immer rührte sich keiner. Da griff Fenn nach dem Zuschlaghammer und schwang ihn mit einem Griff hoch über den Kopf, wie ihn seine Vorfahren über den Amboß geschwungen hatten. „Die Sterbeglocke wird geläutet,“ schrie er ihnen ins Gesicht, „und ist es nicht für den alten Wöllem, dann ist es für den, der ihn auf dem Gewissen hat!“ Sie sahen seine Augen funkeln, der Hammer stand hoch über ihren Köpfen, sie bückten sich und schlichen zur Seite, und dann sauste der eiserne Würfel gegen die Tür, daß sie splitternd und krachend aus dem Schloß fuhr. „Ja, da war nichts zu machen,“ sagte der Ruß, „der hätte mir wahrhaftig den Schädel eingeschlagen.“ Sie blieben stehen, während Fenn und der junge Kamp die Totenglocke läuteten. Ein eigentümlich lastendes Gefühl bannte sie zur Stelle. Es war ihnen, als käme ein unheimliches Geschick auf sie zu, dessen sie sich nicht erwehren könnten, das sie gar nicht fragte, ob es ihnen paßte oder nicht, daß es ihnen an den Kragen wollte. Sie wußten ja, der Tote dort unten in der Mühle, das war ihr Toter, den hatten sie auf dem Gewissen. Ja, wenn das nicht gewesen wäre, dann hätte es für den Kaß vorhin kein Mittel gegeben. Aber wie er so dastand – Donnerwetter ja, da hatte es sie wirklich geschüttelt. Das hatte von der Erinnerung an den geistlichen Herrn den Rest, aber auch den letzten Rest weggewischt. Die Gebärde hatte ihn mit einem Ruck an einen andern Platz gestellt. Der war Geist von ihrem Geist, Fleisch von ihrem Fleisch, der brauchte auch seine Fäuste, der war ein „Weltlicher“. Und doch, um wieviel anders als sie! „Jungens,“ sagte der Fritt, „wir liegen im Dreck, der kann uns am Ende alle ins Gefängnis bringen.“ „So ist er nicht,“ meinte kleinlaut ein anderer. Der Fritt besann sich noch eine Weile. Dann löste er sich schweigend von der Gruppe, trat in den dunkeln Turm und sagte: „Herr Kaß, lassen Sie mich ein wenig helfen.“ Fenn war es zufrieden. Er ging zu den andern hinaus und sagte: „Ruß, Ihr könnt heute abend kommen und Euern Hut und Rock abholen.“ Der Ruß sah eine Weile beharrlich auf den Boden, dann mit unsicherm Blick Fenn in die Augen. Er fand darin keine Rachsucht und keine Schadenfreude, nur ruhige, gütige Überlegenheit. Da bekam der Ruß ein merkwürdiges Zittern in die Lippen und in die Hand und sagte grimmig: „Jongen, ech sin en niderträchtegen Hond!“ – – „An dihr seid net vill besser,“ fügte er nach einer Weile hinzu. Pfarrer Brendel hatte das Läuten vernommen und kam aufgeregt mit rauschender Soutane gegangen: Was denn das heiße, für wen denn die Sterbeglocke geläutet werde? Gerade hatte der Ruß sich eines Seiles bemächtigt, und zog daran, als müsse er sich Verzeihung für seine Missetat vom Himmel herunterreißen. „Heraus aus dem Turm!“ herrschte Pfarrer Brendel ihn an. „Geben Sie acht, Herr Pastor,“ warnte der Ruß gutmütig, „das Seilende schlenkert so arg, sehen Sie, das könnte Sie treffen.“ Und er zog, daß die Glockenschläge mit seltsam hellem Klang übers Dorf flogen. Und bei jedem Zug tat er einen Schluchzer und sagte: „O ech niderträchtigen Hond!“ und die hellen Tränen kullerten ihm über sein Kalmückengesicht. Abends holte er seinen Rock und Hut ab. Und er hatte mit Fenn Kaß ein langes Gespräch, in dem er nicht müde wurde, ihm zu versichern, sie hätten ihn nicht gekannt, sie hätten gemeint, er sei so ein gewöhnlicher entlaufener Pfaff, der den schwarzen Rock aus liederlicher Gesinnung ausgezogen habe und nirgend gut tue. Aber jetzt hätten sie ihn kennen gelernt. Wieso sie ihn denn kennen gelernt hätten, fragte Fenn. Ei, wie er so dagestanden sei mit dem Hammer. „Da habe ich gesehen, Sie sind einer, der den Biß hält. Mit den Menschen ist es so: die einen tun Arges aus Mut, und die andern aus Feigheit. Den einen, denen kann man immer wieder gut sein, aber die andern, die sollen mir zehn Schritt vom Leibe bleiben.“ „So,“ sagte Fenn, „und wie war das mit eurem Schurkenstreich von gestern nacht? War das Mut oder Feigheit?“ Der Ruß machte ein klägliches Gesicht und sagte: „Das war der Suff, Herr Kaß.“ Und dann ging er hinunter in die Stube und betete zehn Vaterunser an der Bahre des alten Wöllem und schlug mit dem Buchsbaumzweig aus dem Weihwasserglas ein großes Kreuz über das weiße Laken, auf dem die bleichen, schwieligen Hände des alten Tagelöhners mit dem hindurchgeschlungenen Rosenkranz ineinandergefaltet ruhten. * * * * * Der alte Wöllem hatte das schönste Begräbnis, das Brebach je gesehen hatte. Die männliche Jugend schlug sich um die Ehre, seinen Sarg zu tragen, die Frauen plünderten ihre Blumengärten und wetteiferten im Binden der prächtigsten Totenkränze, die Feuerwehr erwies ihm in Gala die letzte Ehre, der Gesangverein sang am offenen Grabe „Wie sie so sanft ruh’n“, und der Ruß ließ es sich nicht nehmen, dem Pfarrer zum Trotz mit seinen Kameraden während des ganzen Leichenzuges die Glocken zu läuten, so schwungvoll und taktfest, wie sie in Brebach noch nie geläutet worden waren. Theo, der im Automobil zur Beerdigung gekommen war, wußte sich vor Staunen nicht zu fassen. „Deine Brebacher sind umgewendet, wie ein Handschuh,“ sagte er, als er nachher mit Fenn und Frau Kaß bei Tisch saß. Fenn erzählte ihm, wie er mit den Rädelsführern va banque gespielt hatte. „Es konnte aber doch schief gehen,“ meinte Theo. „Nein, das war ausgeschlossen. Dafür kenne ich die Leute. Salbungsvoller Zuspruch hätte es nicht getan, selbst dann nicht, wenn ich ihnen völlige Verzeihung in Aussicht gestellt hätte. Dann war ich der Schwächling, der sich des Schutzes der Soutane nicht hätte begeben dürfen. Es brauchte eine starke Zornesgebärde. Meine war freilich ein bißchen von des Gedankens Blässe angekränkelt, aber das merkten sie nicht.“ Und dann sagte Fenn weiter: „Ohne meinen guten alten Wöllem hätte ich noch Gott weiß wie lang auf den Granit der bäuerlichen Starrnackigkeit gebissen. Er hat mir recht wie ein Winkelried die harten Spieße gebrochen, die sie mir entgegenreckten, um mir ihre Herzen zu verschließen.“ * * * * * Die Freunde saßen noch lange auf. „Du mußt an deine Zukunft denken,“ sagte Theo. „Sie braucht nicht schöner zu werden, als meine Gegenwart.“ „Doch, Fenn. Erinnerst du dich, wie ich dir sagte, ihr seid zu vier von Wiesing ausgezogen, um in einer höhern Kulturwelt heimisch zu werden, und du seist der einzige, der nicht am Wege verkommt. Ich dachte an dich für meine Talsperre im Ösling, aber das wäre auch nur halbe Arbeit. Ich habe in Aachen Polytechniker gekannt, die älter waren, als du jetzt bist. Du mußt Ingenieur werden.“ Fenn saß eine Weile, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn in beide Hände gestützt. „Nein, nach Aachen möchte ich nicht.“ „Warum?“ „Ich kenne Aachen nur vom Hörensagen. Aber in dem Namen klingt mir etwas mit, wobei mir unbehaglich wird. Ein Widerhall aus der Umwelt, der ich entronnen bin. Der Name riecht nach Weihrauch, und davon habe ich für eine Weile grade genug.“ Nach einer Pause sagte Theo: „So geh nach München. Ich glaube, da gehörst du hin. Da haben sie schließlich noch am stärksten den Willen bewahrt, sich nicht mit der einheitlich mitteleuropäischen Sauce begießen zu lassen. Da findest du noch die Hülle und Fülle von Menschen ohne geistige und seelische Bügelfalten.“ „Und die Berge sind so nahe, habe ich oft gelesen.“ „Ach ja, geh nach München, vorerst wenigstens.“ „Was sagst du dazu, Mutter?“ „Mir ist alles recht,“ sagte Frau Kaß versonnen lächelnd. „Ich war eben dabei, über deine Ausstattung nachzudenken. Es ist mir um den Sinn just wie vor vierzehn Jahren, als du zuerst in die Stadt kamst. Ja, man hat seine Last mit euch Buben.“ * * * * * An einem kühlen Oktobermorgen desselben Jahres fuhr Fenn Kaß gen München. Als er in der Frühe in seinem Abteil dritter Klasse erwachte, wälzten sich Nebelschwaden über der Ebene, durch die der Zug rasselte. Er sah durch das linke Fenster hinter dem Nebel eine wunderbare Erscheinung: Den Sonnenball, der riesengroß auf der verschleierten Horizontlinie lag, strahlenlos glühend, wie eine rote Kohle. Er hing nicht in der Luft, er lag auf der Erde und rollte durch den Nebel langsam auf Fenn Kaß zu. Und so ungeahnt wie jenes neue Sonnenwunder dünkte es diesen, daß sein Leben eine so unerhörte Wendung genommen, daß eine Zukunft, die er niemals zu erträumen gewagt hatte, jetzt mit rotglühenden Hoffnungen und Verheißungen vor ihm lag, als könne er sie mit Händen greifen. Während die Stadt zu ihrem Tagewerk erwachte, trat er aus dem Bahnhof hinaus in ein fremdes Leben, das vor ihm mit verwirrenden und nie gehörten Geräuschen seine Weberschifflein durcheinander warf. Fenn Kaß war niemals zuvor in einer Großstadt gewesen. Er brauchte Zeit, sich zu fassen, und kam nur langsam vorwärts. Alles war ihm neu, für alles hatte er Interesse. Nicht das Interesse der Neugier. Aber jede Wahrnehmung setzte sich wie ein neues Teilchen an die starke Überzeugung fest, zu der sich sein Denken an jenem Morgen kristallisierte: die Überzeugung, daß er jetzt erst in das Leben eingetreten war, in dem das reiche Rohmaterial zu seinem Glück lag. Und er faßte sein Glück als die Fähigkeit, dies Leben zu meistern, in ihm bis an die Stelle sich durchzusetzen, wo er mit seiner besten, eigensten Kraft das Größte würde schaffen können. Er sah gespannt in die Gesichter der Menschen, die an ihm vorbeigingen. Es waren nicht, wie sonst, die Augen der Menschen, die ihm auffielen, es waren ihre Münder. In diesen lag der Ausdruck, der ihm das Rätsel einer jeden Individualität aufgab. Genießerisch, roh, brutal, entschlossen, fein, ironisch, herrisch. Es fiel Fenn Kaß zum erstenmal auf, wie all das sich in den Mündern der Menschen ausprägte. Und er las weiter in allen Gesichtern die Bestimmtheit, mit der ein jeder wußte, was ihm oblag. Er las in dem einen die Gewohnheit des Befehlens, in dem andern die Gewohnheit des Gehorchens. Die Herrschenden und die Dienenden, alle trugen ihre Bestimmung zur Schau, und wieder ward er sich glücklich bewußt, daß er einer Welt entgegenging, in der sich sein Inneres heimisch fühlen würde. Er dachte an sein Gespräch mit Putty Heinen. Organisation! Ja! Hier war sie, fein gegliedert und kompliziert, aber nicht willkürlich zu willkürlichem Zweck geschaffen, sondern vom Leben selbst als Notwendigkeit gewollt, ein wundervolles Ineinandergreifen freier Kräfte, die jede naturnotwendig an der Aufgabe wirkten, der sie gewachsen und für die sie geschaffen waren. In solchem Ganzen wollte er sich nicht beengt und begrenzt, sondern gehoben und getragen fühlen, da würde die Wucht des ganzen Organismus ihn mit Schöpferwollust durchzittern, weil seine Kraft als Teil der Allkraft an der richtigen Stelle mitzeugend wirken würde. So kam er ans Isarufer. Und wie das Phänomen der Kraft im ganzen Verkehr der Straße um ihn sang und klang als sein Wesenston, den ihm die Dinge wiedertönten, so nahmen am Wehrsteg die stürzenden Wassermassen seine aufgeregte Einbildungskraft gefangen. Von einigen Regengüssen und dem Neuschnee, den die letzten ungewöhnlich lauen Tage geschmolzen hatten, war der Fluß angeschwollen und seine schwere, ungestüme Masse drängte leidenschaftlich zu Tal. Fenn Kaß stand auf dem leise zitternden Steg und schaute hingenommen auf das seidenglatte Gleiten der Wassermauer, an der das Schaumgekräusel vergeblich emporzuklettern suchte, in das Fliehen der Wogen, die nach dem rauschenden Erlebnis des Sturzes eilig weiterschossen. Traumhaft und massig stand im Morgennebel der werdende Neubau des Deutschen Museums mitten im Fluß. Fenn Kaß bestimmte den ragenden Schatten nach seinem Plan. Er dachte daran, daß jener Bau die Stätte sein solle, von der aus in die Massen das Bewußtsein von der wunderbaren Gesetzmäßigkeit aller das All bewegenden Kraft dringe. Tausend glückliche Fäden spannen sich zwischen der Welt und ihm, ein wonnevoller Stolz sprang in ihm auf und schnürte ihm die Kehle, daß es fast wie Schluchzen klang, als er mit einem wilden Laut seinem übervollen Herzen Luft machte. „Bahn frei!“ schrie er jubelnd und trotzig in das Brausen der Isar. Und in seinem Schrei klangen Sehnsucht und Erfüllungssicherheit. Fußnoten [1] Die großen lateinischen Buchstaben ergeben – als römische Ziffern gelesen – in der Addition die Jahreszahl 1870. [2] Altes luxemburgisches Volkslied. Comper Ku’eb = Gevatter Rabe. [3] Schmeckt es als? [4] Tät er nur bersten. [5] Wörtlich: So, der macht das spitze Mündchen! Dann wart einmal. [6] Unterrock. [7] Was beliebt. Anmerkungen zur Transkription Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): [S. 21]: ... Augen gesehen. Nicht, daß er er ein rohes Gemüt gehabt ... ... Augen gesehen. Nicht, daß er ein rohes Gemüt gehabt ... [S. 68]: ... war kaputt.“ ... ... wär kaputt.“ ... [S. 74]: ... Sachen ins Puls geräumt hatte, klebte er an die Innenseite ... ... Sachen ins Pult geräumt hatte, klebte er an die Innenseite ... [S. 275]: (mehrfache Fälle) ... Er frühstückte mit den Kamps und mit Niegla im Goldenen ... ... Er frühstückte mit den Kamps und mit Niegela im Goldenen ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FENN KASS *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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