The Project Gutenberg eBook of Piraths Insel

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Piraths Insel

Roman

Author: Norbert Jacques

Release date: June 25, 2025 [eBook #76376]

Language: German

Original publication: Berlin: S. Fischer, 1917

Credits: Richard Scheibel and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK PIRATHS INSEL ***

Anmerkungen

Das Original ist in Fraktur gesetzt.

Einige unbedeutende Satzfehler wurden stillschweigend berichtigt.

Die Seitenzählung des Originals ist im html-Code als Kommentar eingefügt.

Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter geschaffen. Ein Urheberrecht wird nicht geltend gemacht. Das Bild darf von jedermann unbeschränkt genutzt werden.

Piraths Insel

Roman

von

Norbert Jacques


1917


S. Fischer · Verlag
Berlin

Erste bis zehnte Auflage

Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1917 S. Fischer, Verlag, Berlin

Meiner Frau gewidmet

Erster Teil
Der Schicksalsschlag


Erstes Kapitel

Nach einer kräftigen Unterhaltung mit seinem ältern Bruder Hermann, mit dem zusammen Peter Pirath Besitzer der Fettwarenfabrik Jens Peter Pirath Nachfolger war, entschloß er sich, mit seiner Frau die Auseinandersetzung herbeizuführen. Er entschloß sich schwerblütig, so wie er war, und malte sich den Verlauf dann heftig und gewalttätig aus. Die Finanzen seines Haushalts und die allgemeine Moral forderten aber diese Tat. Davon hatte Hermann ihn überzeugt.

Peter Pirath fuhr aus der Fabrik gleich nach Haus und begab sich ins Wohnzimmer seiner Frau. Er hatte sich alles aufnotiert in zwei Reihen sauberer kleiner Zahlen. Er fürchtete die hitzige und sprunghafte Dialektik seiner Frau, die ihn schon öfter übertölpelt hatte, und wollte die beiden Reihen der Zahlen an der Hand haben wie ein festes Geländer. Ja, die Zahlen waren ein ganzes Gebälk, und sie konnte ihn nicht so nebensächlich drüber wegstürzen, wie es ihre Art war, Schwierigkeiten zu lösen.

Dann kam er ins Zimmer. Sie saß an einem riesenhaften Tisch und las. Sie blieb sitzen und hob den Kopf schief von unten herauf zu ihm hoch. Er war ein Riese. Er überwuchtete mit seinem ungeheuren Körper ihre geduckte Zartheit. Auf der linken Lehne ihres Sessels hatte ein Airedaleterrier den buschigen Kopf fest und ernst aufliegen, und auf der rechten Lehne flossen die Lefzen einer schwerfälligen und dummäugigen Bordelaiser Dogge.

Peter Pirath machte keine Einleitung. Er fühlte sich trotz des Gebälks der Zahlen auf seinem Blättchen nicht mehr ganz fest vor ihr. Sie saß da wie eine Katze, wild, sehnig gebogen, und in der Ruhe hatte ihr Leib seine Sprungkraft behalten. Die krausen schwarzen Härchen ringelten sich über ihre Stirn bis auf die großen grünen Augen herab. Peter Pirath sprang sie an mit seinen Zahlen. Er errichtete heftig das Plus und stürzte es gleich um mit dem Minus, und die Worte kollerten, schossen atemlos auf sie ein. Sie saß beobachtend da. Ihr Gesicht bewahrte den Ausdruck ruhender Spannung. Die Hunde witterten, daß etwas vorging, das ihrer Herrin nicht gut war. Der Terrier, der ein Tier von Gemüt war, fühlte sich geniert und drückte den Kopf weg von den beiden. Er schaute halb über die Tischplatte hinweg und lauerte halb zu dem sprechenden Mann hinüber, und während die Augen des Hundes unruhig und bekümmert wurden, sprang die Spannung in die dünnen eisernen Muskeln seiner Beine. Die Dogge hob heißblütig den Kopf und ging jähzornig davon, um in der Mitte des Zimmers — aus der Entfernung — den schweren Sprung sicherer zielen zu können, wenn ihre Hilfe notwendig werden sollte. Sie stand da, groß und dick, wie Pirath selber war. Ihre Lefzen flogen erregt hin und her und flossen aus. Sie wartete.

Aber die Teilnahme der Hunde an der Auseinandersetzung verstand Peter nicht. Seine Frau sah sie jedoch, und sie lachte, und als sie so lachte, da überfiel Peters Herz auf einmal die jämmerliche Nichtigkeit seiner Zifferchen gegenüber dieser Frau. Er brach ab. Er schaute sie an. Sie hatte eine Hand so ganz, ganz ruhig und schön auf den Kopf des Terriers gelegt und blickte mit glänzenden Augen aus ihrer Tiefe zu Peter in die Höhe.

Was ist alle Ordnung gegen dich, du ... Tiger! Du Tiger mit grünen Augen! Und eine ganze Fabrik voll Kopra und Fettpanscherei, Kessel und Bilanzen ... was für eine dumme Schweinerei gegen dich! Leg doch deine Hand so auf meinen Kopf wie auf den Kopf des Hundes! ... So etwa brannte es sie aus Peters Augen an. Aber seine schwerfällige Zunge fand nur ein paar stammelnde Worte, und sie sagte auf einmal ihn unterbrechend: „Ich versteh. Du willst mir zeigen, wie elend das Plus vom Minus zu Brei zerschlagen wird. Und es ist doch das Plus, dem wir so Schönes verdanken!“

Ihre Worte, die endlich kamen, hatten die Hunde in ihren Stellungen aufzucken gemacht. Sie spannten die Muskeln um einen Zug straffer ein. Sie standen da in ihrem unruhigen Hin und Her, wie ein angekurbelter Motor, der eingeschaltet werden will. Im Nu kann der Augenblick da sein, können die Zylinder losrasen.

Peter antwortete ihr, obschon sich in seinem Innern Herz und Kopf an den Haaren hatten, mit einer scherzhaften Wendung: „Ja, es ist eigentlich eine Ironie, wenn wir in einer Fettfabrik so wenig im Fett sitzen, daß du dir keinen englischen Stallmeister und keinen von Behrens gebauten Stall leisten kannst! Aber du hast gerade die elende Niederlage des Plus erlebt!“

Die Frau stand straff auf. Die Hunde wiederholten rasch die aufzuckende Bewegung. Die Frau sagte: „Du hast recht, lieber Peter!“ Sie sagte das ganz ernst. Aber dieses milde Eingehen auf seine Vorstellungen war so wenig Gewohnheit, daß Pirath sich sagte: Schau, was für ein Märchen! Lieber Peter!? Sonst heiß’ ich bei solchen Gelegenheiten stets nur P. P. Was liest sie für ein Buch? ... Er schaute hin. Aber er sah das Titelblatt nicht. Eine wütende Stimmung erfaßte ihn auf einmal. Es begehrte etwas in ihm auf. Er kam sich vor, als läge er unterdrückt von dieser Frau zu ihren Füßen, er verglich sich mit der fetten fleischigen Dogge, die ihr so ergeben war und nichts für ihre Ergebenheit haben wollte. Aber er wollte etwas haben. Liebe und Zweifel tauchten in ihm wild durcheinander. Er wollte sie mehr haben. Er wollte sie ganz in sich tragen. Er war groß, breitbrüstig, und sein Herz war stark. Weshalb entzog sie sich ihm? Sollte er das jetzt einmal alles sagen? Sollte er fordern? Er stellte sich vor, wie lächerlich das Bild sei, wenn er seine breitknochige Riesenhaftigkeit vor dieses sehnige, krause kleine Weib niederwürfe. So wie die ekelhafte Dogge, die sich jetzt um ihre Füße zusammenkugelte!

Da entschied sich die andre Richtung seiner innern Erregung, und er sagte ihr mit fast harten und jähzornigen Worten: „Und ich bin auch etwas, liebe Ree! Ich bin nun einmal nicht so, daß ich à la Zigeuner ins Blaue bauen kann. Ich muß Fundament haben. Ich bin schwer. Die Arbeit gedeiht mir nicht in all den Sorgen, und mein Gemüt hat die endliche Vollendung der begonnenen Maschine nötig. Ich seh nicht ein, weshalb zwei englische Hengste und ein englischer Stallmeister, der aussieht wie eine in Oxford erzogene Reitgerte, und ein Stall, der durchaus von Behrens gebaut und von Rodin ausgeschmückt sein muß, mich ewig aus meinem Gleichgewicht halten sollen. Meine Nerven sind auch nicht aus Pferdezügeln. Ich will kein Geld sammeln. Aber ich will mich haben auf dieser Welt, in diesem Leben, in diesem Haus, ... und dich!“

Das fügte er aufflammend rasch hinein, und es war, als ob er hastig die zwei Worte, kaum daß sie gesprochen waren, wieder zurückschluckte.

„Und das hab ich nicht, wenn nicht unser Haushalt auf der ehrlichen Wirklichkeit unseres Einkommens steht.“

Er schwieg. Sie sagte heftig: „Die Hengste sollen heut mittag verkauft werden. Ich telephonier’ gleich dem Roßhändler!“

Peter sagte nichts mehr. Er küßte ihr die Hand, und das war für ihn in seiner schweren Erregung fast so viel, als ob er sie nächtlich umfange. Und er ging hinaus. Er wollte sich noch einmal umdrehen und Dank sagen. Aber er ließ es bleiben. Es war besser, den Festen ganz auszuspielen.

Die Dogge entschloß sich plötzlich ihn zu begleiten. Sie trat feindselig hinter ihm her und setzte sich, kaum daß er die Tür geschlossen hatte, auf die Türschwelle nieder zwischen ihn und das Zimmer der Herrin. Sie wollte sich überzeugen, ob er auch ginge. „Du sabberndes Aas!“ zischte Peter sie an und spuckte nach ihrem breiten Maul. Die Dogge schüttelte den beleidigten dicken Kopf, ließ hinter den Lefzen das Gebiß sehen und schaute ihm nach. Dann stand sie auf, schlug das Maul auf die Klinke und öffnete sich die Tür zur Herrin. Die hatte mit der Hand das blitzende scharfe Gebiß des Terriers umfaßt und zog seinen Unterkiefer herab. Dann ließ sie das Gebiß los. Dem Hund standen die harten Schnauzhaare erregt ab, und er schlug verliebt mit dem Schweifstumpen. Die Frau schaute in seine hellbraunen Augen. „Du hast Augen wie eine Dotterblume im Schatten!“ sagte sie.

Peter telephonierte seinem Bruder Hermann. Der fragte: „Ah, Peter?! Schlacht geschlagen?“

Peter: „Und glänzend gewonnen!“

Hermann: „Du warst stets ein Optimist.“

Peter: „Du bist eingeladen auf vier Uhr. Verkauf der Hengste. Kündigung der von der Oxford-Universität erzognen Reitgerte. Behrens baut keinen Stall. Rodin wird sich einer höheren Aufgabe zuwenden können, als Pferdeköppe auf einen Freßtrog zu setzen.“

Hermann brummte zurück, daß er’s nicht glaube, und bei Peter schwoll zugleich das Bewußtsein seines Sieges wie auch die dunkle Erkenntnis, daß er nicht die Mauer hinter diesen grünen Augen ganz eingerammt, sondern daß sie nur wie in einer Magie, die er nicht erfaßte, sich vor ihm von selber geöffnet hatte. Er schämte sich drum ein wenig seiner großen Worte am Telephon, die ihm als der Sachlage unangemessen vorkamen, und er lenkte das Gespräch ab. Er sagte: „Jetzt mach’ ich mich dann an die Zentrifuge, und im November schwör’ ich dir, können Zeylon, die Südsee und Afrika ihre Kopra etwas rascher wachsen lassen.“

Hermann erwiderte: „Sag, laufen die dann so gewiß, wie heut mittag die Hengste verkauft werden?“

Peter lachte zurück: „Zweifler! Wichtigtuer! Nur du leistest etwas. Kamel! Götz von Berlichingen! Adieu! Schluß!“

Er hängte an, und in einer steigenden Laune nahm er die Zeichnungen aus dem Schrank. Mit Feuer wollte er sich an die Arbeit machen. „Ich umbaue mein Leben mit ihr!“ sagte er sich, blieb an diesem Wort hängen und dachte sich unter dem „ihr“ nicht mehr die Erfindung, sondern die grünäugige schwarze Ree, den Tiger. Er ließ sein Gedächtnis im Ohr den Klang ihrer Worte wiederholen. Waren sie ernst? Ihre Augen brannten ihn an. Lag kein andrer Sinn hinter diesen Blicken? Wirklich Einsicht und Verzicht? Er schob die Erinnerungen an alte Auftritte mit Ree ungeduldig zurück. Er wollte sich nicht gewiß drüber werden, daß ihr Blut ihm fremd war und er niemals gehört hatte, wie es klopfte. Die Stimmungen hingen in ihm wie die Fäden des Altweibersommers in der Luft, zart und fliegend. Die Energie seines Gemüts lenkte ihn aus Unmut und Zweifel allmählich hinaus. Er brannte sich über den kühlen geraden Strichen seiner Zeichnungen eine der Zigarren an, die sein Bruder „die Säulen“ nannte. Er genoß die fremdartige, am Gaumen schwebende Bitterkeit ihres Dufts weich und bewußt und dachte an ferne Sonne und ferne Inseln, an Ree und an seine Zentrifuge.

Das Haus Peter Piraths lag am Stadtwald und war in ein Gartenstück hineingestellt, das nach hinten auf eine enge Nebenstraße stieß. Dort waren Stall und Schuppen, durch Garten, Sträucher, Bäume und ein umgittertes Höfchen vom Haus getrennt. Peter Pirath ging über den Gartenweg, und der gelbe Sand knirschte samtig unter seinen Schuhen. Er sah durchs Strauchwerk allerlei Bewegung im Hof des Stalls und ging etwas rascher. Er erkannte dann bald, daß dort seine Frau stand. Sie stand zwischen den beiden schwarzen Hengsten, die verkauft werden sollten. Peter blieb stehen, ein peinliches Gefühl ergriff ihn, und er wollte unbemerkt zurückgehen. Er stand an der Schwelle einer Laube, die hier den Weg am Gitter endigte. Das Gitter war mit spärlichem wilden Wein bezogen, und Peter sah das Bild seiner Frau und der Pferde durch ein Loch im grünen Teppich. Seine Frau hatte ihn nicht gesehen. Sie drehte ihm den Rücken. Der eine Hengst schaute durch das Gitter zu Peter herüber. Ree drückte ihren Kopf von unten an die rosa Schnauze des Tiers, und die großen Kugeln des Tierauges leuchteten auf einmal aus ihrem Haar heraus. Obgleich sie Peter so nah waren, daß er hätte hineinfahren können, wenn er mit dem Arm durchs Gitter gefaßt hätte, so lag doch etwas auf diesen beflorten Wölbungen, das so fremd und fern vom Menschen war ... Die Frau richtete ganz nah vor Peter und ohne ihn zu ahnen, ihren katzenhaften Leib an den Beinen des Hengstes entlang hinauf, und sich rückwärts dehnend, folgte die Biegung ihrer Glieder Hals und Kopf des Tieres. Ihr Gesicht heftete sich auf die hellen Nüstern, und in zärtlichen Strömen bog sie ihre Glieder immer fester zu dem Leib des Tieres hin, an dem es überall unruhig zuckte.

Peter ging nicht. Er wollte schauen. Das war schön und schmerzhaft. Er ballte in trotziger Eifersucht die Fäuste und knirschte: „Nein, sie sollen verkauft ...“ Auf einmal hatte sich der dünne Frauenleib vom Tierkörper gelöst. Ein schwarzbekleideter Arm war mit einer weißen Hand in die Luft gefahren. Ein Knall und ein Blitz waren aus der Hand geflogen. Peter sah das leuchtende Gewölbe des Pferdeauges plötzlich zertrümmert. Der schwarze große Leib kam in Zuckungen. Die Beine wollten ihn entsetzt hochstemmen. Sie knickten zusammen, rutschten, das ganze Tier machte einen armseligen halben Sprung zur Seite, bei dem alle Glieder unregelmäßig durcheinanderflogen. Dann stürzte es jäh hin und streckte langsam die Beine starr in die Luft aus.

Die Frau hatte das Tier durchs Auge ins Gehirn geschossen.

Peter sprang wild aus der Laube auf die Gittertür zu. Sie war verschlossen, der Schlüssel weg. Er riß an ihr. Er sah zugleich, daß seine Frau auf das andre Pferd lossprang, nach dessen Kopf faßte. Wieder flog die weiße Hand hoch und der Knall und der Blitz und der Tierleib, der sich entsetzt gegen das Fallen wehrte und plötzlich willenlos umschlug und sich langsam auf den Rücken wälzte. Der englische Stallmeister lief aus dem Stall heraus und blieb plötzlich stehen. Ein andrer Mann lag wie ohnmächtig an der besonnten Mauer.

Peter schüttelte die Eisenstäbe der Gittertür. Seine Adern flogen vor Wut. Drinnen stand die dunkle Frau und rief ihm bleich zu:

„Es soll keiner mehr auf ihrem Rücken sitzen!“

Und Peter konnte sich von dem Rasen nicht befreien, in das ihn die furchtbare dumme Grausamkeit gestürzt hatte. Die Tat kam ihm so unerlaubt, so entwürdigend und menschenunmöglich vor, daß er nichts von dem verstand, was geschehn war. Er brüllte seiner Frau unverständliche und unzusammenhängende Worte zu und schließlich, er wußte selber nicht, was und nicht, weshalb gerade dieses Wort als letztes und lautestes: „Dirne!“

Dann drehte er sich weg. Der englische Stallmeister sprach auf die Frau ein. Der Pferdehändler stand verständnislos und betäubt an der Mauer. Peter eilte ins Haus, nahm seinen Hut und ging auf die Straße. Er durchlief einige Alleen des Parks und dachte an seinen Bruder. Er ging rasch auf dessen Haus zu, das auf der andern Seite an den Stadtwald stieß. Hermann war zu Haus. Peter erzählte. Der andre erbleichte. Er konnte nicht sprechen. Er lief auf und ab. Er schleuderte seine Zigarre an eine Wand, und die Funken stoben wild auseinander. Er heftete sich auf einmal an einen Stuhl an und schrie:

„So ein Rabenaas! So ein Schlächter! Was hast du ihr denn gesagt?“

„Dirne!“ antwortete Peter, und erst jetzt kam ihm das Wort wieder ins Bewußtsein.

„Was?“ fragte Hermann erschrocken und ungläubig.

„Ja, ich hab’s gesagt! Ich weiß nicht, wie und warum!“

Hermann sauste wieder hin und her. Er war gegen Peter klein und rund, und sein Körper hob sich wie eine federnde Kugel unter den lautlosen Schritten auf dem Filzboden. Schließlich sagte er heftig: „Es ist wurscht! Sie hat es verdient! Bedaure nur nicht, daß du es gesagt hast!“ Er raste wieder los, hin und her, hielt sich unvermittelt an einem Stuhl an und schrie Peter ins Gesicht: „So macht sie es auch einmal mit dir! In die Augen! Bums! Sie ist meschugge.“

Peter, der jetzt das Wort, das er seiner Frau zugerufen, in sich brennen spürte, fragte kleinlaut: „Was soll ich tun?“

„Scheiden!“ brüllte der kleine Dicke und fiel in den tiefen Stuhl hinein, als ob der Donner dieses Wortes ihn aus der Luft gefegt hätte. Aber dies schwere donnernde Wort hatte auch seine Aufregung gebrochen. Mit fast sanfter Stimme fuhr er nach einer Weile fort: „Es ist nie in unsrer Familie vorgekommen. Aber die Menschen, Begriffe, Zeiten wechseln ja. Und wer weiß, in welcher Form unsre Altvordern diesem scheinbar sittlichen Gesetz gefolgt sind? Was meinst du?“

Aber er wagte nicht, zu Peter hinzuschauen. Er war sich ganz ungewiß, was für eine Wirkung der Donnerschlag bei ihm vollbracht hatte. Er wollte vermitteln: „Was dreihundert Jahre als sittlich galt, braucht es heut nicht mehr zu tun. Wir beginnen ja menschlicher zu leben jetzt! Sozusagen!“

Er brannte sich eine Zigarre an und begann fast schon gemütlich seinen Faden weiter zu spinnen: „Man irrt, oder das Herz ist energischer als der Kopf. So heiratet man. Und soll man dann ein Leben lang unter dem einen Versagen aus der Jugendzeit leiden? Und die Leute verrenken sich die Mundwinkel. Das ist wichtig. Laß sie, Peter. Wir Pirath-Söhne stehen auf uns. Auf unsern kleinen und großen Beinen! Und so eine Scheidung ...“

Aber da fuhr Peter ihm in die Worte. Er sagte kühl und fest, als ob er einen ruhigen Entschluß ausspräche: „Ich liebe Ree doch!“

Hermann hörte erstaunt, wie diese klaren selbstverständlichen Worte die zuversichtliche Malerei, an der gerade sein gutes Bruderherz arbeitete, mit einem Krach zerriß. Er sah zum erstenmal Peter an und sah ein Gesicht, das zugleich trotzig und niedergeschlagen war. Er war fast zehn Jahre älter als der Bruder und schon in den Vierzigern. Er war neben Peters Leben mit verliebten Augen einhergegangen. Seine Kümmernisse hatte er so stark gefühlt wie Peter selber, seine Erfolge mit Stolz begleitet. Aber er hatte in allen Vorstellungen etwas Kindliches um den Bruder gelassen, das ihm den Ernst, mit dem er seinen Teil des Geschäfts verwaltete, er war der Kaufmann, der Bruder war der Ingenieur, idyllisch umflorte. Für diese Äußerungen seines Temperaments fehlte ihm ja, da er unverheiratet war, sonst die Luft.

Nun sah er dies gequälte, zwiespältige Gesicht, und er erschrak, daß er so unachtsam schon für sich und laut die Schwierigkeiten überwunden hatte. Aber das war ja wieder das eine, in dem er sich von Peter so stark verschieden spürte und das er an ihm nicht verstand: einer schweren Lage unterliegen und doch verliebt an ihr festhalten, ihr sozusagen treu bleiben!

Er sagte leise, den Zusammenhang dieser zwiespältigen Veranlagung ahnend: „In deiner frühen Jugend hast du ja heimlich Gedichte gemacht und mir immer Eichendorff vorlesen wollen.“

Da lächelte Peter ein wenig und antwortete: „Ja. Ich hab das wirklich vergessen gehabt. Wie hat sich das Ziel meines Berufs und meines Lebens von dem Ziel verschoben, dem man damals nachging! Es hing eigentlich überall an der Luft. Man las Dichter und schwelgte nur im Herzen ihre Zartheit aus, und zugleich ritten durch die Wünsche die tollsten und grausamsten Abenteuer. Ach, Hermann, und ist Eichendorff nicht mehr als Kopra, trotzdem die Kopra den Schein, das heißt den Erfolg für sich hat?“

Er schwieg einen Augenblick und sagte plötzlich wie erstaunt: „Jetzt kommt mir’s auf einmal so vor, als ob ich damals mehr so war, wie Ree ist. Sag, vielleicht ist sie nur so ein Kind, das auf Abenteuer aus ist, und in unserm Leben heut gibt es keine Abenteuer mehr. Nur noch Kokosfett und Bilanzen! ... Sie hat recht!“ fügte er heftig hinzu.

Hermann war ein wenig beleidigt. Er kämpfte die Lust nieder, zu sagen, daß solche Ansichten die Ketten bilden, die einen Mann unwürdig an solchen Geschöpfen festhalten, wie diese tolle schwarze Hexe mit den grünen Augen eins war, die fortwährend die Gesellschaft, in der sie lebten, in Atem und Schrecken hielt und seinen Bruder quälte. Aber er fühlte, wenn auch nur verwundert und widerstrebend, die Macht dieses Außergewöhnlichen, das Außerhalb-der-Gesellschaft dieser Frau, das seinen Peter wie ein verführerisches Irrlicht umgab. Es war ihm selber maßlos fremd. Er sagte in seinem Herzen gequält und gerührt, in zärtlichster Bruderliebe: „Du dummer Dichter!“ Heimlich fand er, daß eine solche Veranlagung etwas ein wenig Wunderbares und Ewiges war, und er dachte dabei, er wußte nicht weshalb, an die Bibel, an Don Quichotte, an Wilhelm Meister, in dessen Schicksalen er öfter erstaunt und staunend las.

Er streichelte Peter über den Arm, und Peter wiederholte, wie in einem dumpfen Traum jetzt, gehetzt und weh: „Ich liebe sie ja!“

„Ja, ja!“ streichelte ihn Hermann.

„Sie ist so fremd, so sonderbar! Sie ist so eine dunkle Wolke aus einer andern Welt, und ihr Schatten kann nur wie ein Wunsch mich streifen. Und man kommt nie hinein. Und ich bin ihr zu schwerfällig. Ich reite nicht frei genug. Ich versteh ihre Bücher nicht genug. Ich finde Bilder und Kunstwerke schön, aber ich kann mich nicht in sie verlieben, wie Ree ... Ich kann nicht auf den Launen und Einfällen reiten und hab nur eine große breite Straße vor mir. Es ist furchtbar. Und es soll doch nicht anders sein. Es ist so, als ob sie mein Blut verwunschen macht.“

Hermann zerschmolz fast. Er hatte keine Frau gefunden, nicht weil er keine gesucht hätte. Aber weil er keine ehrlich und sicher hätte zu sich nehmen können. Er mißtraute allen, weil er an ihnen so stark den Zweck sah. Peter hatte ihm einmal im Scherz gesagt: „Bei deiner wählerischen Art wirst du einmal auf die Dümmste und Gefährlichste hineinfallen!“ Daran erinnerte sich Hermann jetzt. „Ich schwöre dreimal,“ sagte er rasch zu sich selber, „bei allen Palmen Zeylons und Afrikas, ich heirat’ nie, nie, nie! Und vor allem nie eine Schwarze. Wir sind zu blond für die!“ Ree war auch ihm etwas Außergewöhnliches. Aber er entsetzte sich vor ihrer Heftigkeit und Unstetigkeit. Er sagte, sie hat ein falsches Temperament. Es muß Zigeunerblut in ihr sein.

Da flüsterte Peter schmerzvoll verloren: „Du Grünäugige! Du Tigerin!“

Hermann rang mit seiner heißen Rührung, die wie ein Fluß in ihm anstieg. Es tat ihm so weh, wie er seinen Bruder, der sonst so gescheit und stark war, gegen diese hexenhafte winzige Weiblichkeit ankämpfen sah. Bruder, Bruder! flüsterte sein Herz. Sei doch lieb! Sei vernünftig! „Das Leben ist doch kein Träumen. Die Wirklichkeit muß erkämpft werden, Peter!“ sagte er laut. „Ich versteh, daß du sie nicht lassen kannst. Aber du mußt dich doch mit ihr einrichten. Anders als jetzt! Solche Sachen wie das Schießen heut, das ist Wahnsinn! Ich weiß: Fäuste nutzen nichts. Deine breiten Schultern und deine ein Meter neunzig imponieren ihr nicht. Mein Peterchen, sei lieb und denk nach. Vielleicht wollen wir zwei zusammen noch viel mehr mit aller Kraft und Zeit an unserm Unternehmen arbeiten. So eine Fabrik ist doch etwas, was sicher auf dem Erdboden steht. Da weiß man, daß diese Arbeit jenen Erfolg hat, daß sie wächst, wenn man hier im Kopf eine Anstrengung macht. Anders wie bei Menschen! Die schweben. Die sind Engel oder Teufel oder beides zumeist, und dann ist’s am ärgsten. Peterchen, nicht, wir wollen ganz fest zusammen arbeiten, und vielleicht kannst du sie dann so mehr, wie soll ich’s sagen, sei nicht bös, so mehr nebensächlich neben dir haben und sie trotzdem anschauen immerdar, wie es beim Dichter heißt. Du arbeitest deine Zentrifuge mit aller Energie fertig, und wir wollen sie gleich einführen. Ich versprech’ dem Geschäft so viel davon, daß auch mein Arbeitsteil bedeutend wächst. Aus der Zentrifuge wird wieder etwas Neues und Größeres herausgeschleudert. Und dann werden wir allmählich so etwas wie Kokoskönige, Fettkönige, Pirathenkönige ...“

Auf einmal änderte er den Ton: „Es ist uns beiden etwas von dem überkommen, der der Familie den Namen gab. Weißt du, ich meine eine gewisse Sturmsicherheit, die in uns mehr oder weniger automatisch wirkt, wie bei Piraten, die gewöhnt sind, gegen den Sturm zu kämpfen. Hast du nie das Gefühl davon gehabt?“

Da antwortete Peter plötzlich ergriffen: „Um es zu sagen, es begleitet mich immer. Nur Ree ... Ich bin ihr nicht gewachsen und“ — er lachte — „das Familienoberhaupt der Piraths schneidet die Segel ab vor diesem Sturm.“

„Ich bin zwar kein Segler, aber ich glaub’, das rettet doch das Schiff?“

„Nicht immer.“

Die Brüder schieden voneinander. Die Unterredung konnte keine praktische Lösung ergeben. Aber der Atem zärtlichster Bruderfreundschaft, den Peter bei ihr empfangen, wärmte und sicherte ihn. Er ging nach Haus, und er dachte an nichts, was er dort unternehmen könnte. Er wollte den Zufall wirken lassen. Als er in sein Haus kam, fragte er nach niemandem, und niemand kümmerte sich um ihn. Er blieb allein am Tisch, auf dem das Nachtessen aufgetragen wurde. „Kommt meine Frau nicht zum Nachtessen?“ fragte er das Mädchen. Das Mädchen antwortete erst nicht. Es war ein ältliches dunkelhaariges Frauenzimmer mit einem von zahllosen Fältchen kalt gefurchten Gesicht. Peter wußte, daß es seiner Frau sehr anhing. Als sie nicht antwortete, drehte er sich zu ihr hin und schaute sie an. Dann fragte er noch einmal.

Sie schaute über den Teppich, zog die Mundwinkel hoch, und alle Fältchen bildeten nun häßliche Winkelchen in dem frühalten Gesicht. Sie sagte schadenfroh und eingeweiht: „Die Gnädigste hat vorgezogen abzureisen!“

Peters Herz bekam einen Stich. Eine schmerzende Unsicherheit bemächtigte sich seiner. Er kämpfte sie im Zorn zurück. Er fragte heftig: „In was für einem Ton sprechen Sie mit mir, Hanne?“

Die Ältliche antwortete rasch und bissig: „So wie ich kann!“

Peter stand auf und trat auf sie zu. Er schrie sie an: „Und so, wie ich nicht will, Sie Gans! Sie haben bis morgen mittag das Haus zu verlassen. Der Johann wird Ihnen den Lohn ausbezahlen. Dort ist die Tür.“

„Sie haben Gans zu mir gesagt. Das ist eine Beleidigung!“

Aber Pirath rückte auf sie zu. „Dort ist die Tür!“ rief er noch einmal. Als die Jungfer draußen war, setzte Peter sich ins Sofa hinein, grub den Kopf in die Hände, wie zum Schutz gegen das, was um ihn war. Er sagte halblaut: „Sogar die Dienstboten bietet sie jetzt gegen mich auf.“

Die Ältliche verließ das Haus. Der englische Stallmeister kam mit seinen gefrorenen Manieren zu Peter und setzte ihm ein wenig von oben herab auseinander, daß es ihn inaktiv mache und in seinem Beruf schädige, wenn er drei Pferden, wie den noch vorhandenen, seine Dienste erweise. Er halte seinerseits nicht auf Erfüllung des Vertrags, den er mit Frau Pirath abgeschlossen habe, und er beabsichtige nach Empfang des fälligen Gehalts abzureisen.

Peter kam ihm entgegen und bot ihm den Gehalt bis zum Ende des Vertrags an. Aber die Reitgerte lächelte geringschätzend und sagte: „Oh no!“ Er ging. Nach einer ökonomischen Verbeugung.

Diese zwei unangenehmen Persönlichkeiten waren nun entfernt. Aber in ihrem Weggehen blieb, wie ein sonderbares Kielwasser, eine peinigende Vereinsamung um Peter Pirath. Er richtete es dann ein, daß er die Mahlzeiten bei seinem Bruder nahm, weil er über das leere, von Verlassenheit tönende Haus nicht recht Meister wurde. Er arbeitete stets in der Fabrik, immer an seiner Zentrifuge. Er hätte diese Arbeit schon abschließen können. Was er erreicht hatte, war ein neuer Wert. Aber einerseits fürchtete er, diese Arbeit zu beendigen und ganz allein zu sein, und andererseits, aber das hätte er ja nach Vollendung des ersten Modells selbständig und neu weitersuchen können, schwebte ihm etwas durch die Gedanken, das an der Maschine noch zu vollenden war. Er hatte einmal im Frühjahr in einer jungen Wiese gelegen, während Ree auf einem Schimmel plötzlich aus dem Wald sprengte und auf ihn zu galoppierte. Er dachte gerade in sonnenschläferigen Vorstellungen an seine Maschine. Ree tat so, als sähe sie ihn nicht und wollte ihn überrennen. Er blieb liegen, und wie sie da im letzten Augenblick das Pferd zurückbäumen machte und mit einer energischen, verwunderten und wilden Bewegung im Sattel dem Pferd half, da war in die von der Gefahr heftig aufgerüttelten Sinne Piraths, aus einem Teil von Rees Bewegung heraus, der Einfall eines Maschinendetails gefallen. Das war eine Schraube, ein Flügel, ein Quirl, ein Zylinder ... ja was? — aber ein letzter genialer Schluß, der seiner Zentrifuge die Vollkommenheit gegeben hätte.

Aber nachdem das Erstaunen, Erschrecken, Erwachen vorbei waren, überfiel ihn Ree mit einem wilden Gewoge von Zorn und Zärtlichkeit, Gutmütigkeit und Bosheit, und sein Gedächtnis verlor den Einfall vollkommen. Er grübelte jetzt ununterbrochen hinter ihm her. Ach, es war so weich und schmerzvoll genießerisch wie ein Dichten aus der Jugend, denn Ree kam mit den heißen schönen Augenblicken jener raschen und heftigen Bewegung von damals wieder in seine Vorstellungen, überstieg die Zentrifuge, wie eine Diana dunkel leuchtend, und führte ihn durch Gefilde, die mehr waren als diese Welt und Kopra.

Nachdem Ree etwa eine Woche fort war, kam eines Tages ein Brief, auf dessen Adresse Peter erschrocken Rees Schrift erkannte. Birgst du Gutes? Birgst du Böses? fragte er und zögerte, das Kuwert aufzuschneiden. Er fühlte, als ob etwas wie eine primitive Fatalität aus dem milchig blauen großen Kuwert aufsteigen wollte.

Er schnitt auf, zuerst zurückhaltend, dann riß er hastig und mit schwachem Herzen den Brief hervor.

Paris, Juni.
Hotel Royal.
P. P.

Ich kann nicht weiter in Paris leben. Es scheint jetzt im Juni die Heizanlage fürs Rote Meer zu sein. Es ist eine riesenhafte Rôtisserie. Gestern bin ich auf einem Eisensessel angebacken, denk Dir. Aber nur mit einer Hälfte. Gott sei Dank! Deshalb muß ich aber mich nach San Sebastian erholen gehen. Dort soll es so kühl, im Schatten der Pyrenäen so leidenschaftlich, ergrübelnd warmkühl sein, wie ein Block von Rodin. Ich werde ins Meer hineinreiten, und die Brandung schlägt an die Brust des Hengstes und weicht aus. Wie ein Wunder! Wie das Meer vor den alten heiligen Juden! Denn ein Hengst ist ein Heiliger. Es wird mir einer hier gezeigt. Der hat Augen wie die Küste Palästinas, die wir ja einst zusammen sahen, blau wie Enzian, das ich angehaucht hätte. Und Beine wie ein Schwalbenflug. Er kostet nur 10000 Franken. Eigentlich für solch ein Geschöpf ein Hauch, ein Nichts, wenn man bedenkt, daß in Eurem Kessel jedesmal, für wieviel sagtest Du mir doch? Fett gepanscht wird. Die doppelte Summe, man muß ja von Geld leben, erbittet drum an den Lyonnais

Deine Dich verehrende Ree.

Peters Herz war erleichtert. Er dachte allerlei hin und her. Aber er war von Anfang an entschlossen, das Geld zu schicken. Schließlich schrieb er:

Liebe Ree!

Reite auf dem Hengst mit den palästina-blauen Augen wie eine Schwalbe fliegt. Das kannst Du ja. Das Gewünschte erwartet Dich an der genannten Stelle.

Dein Dich verehrender Peter Pirath.

Er war zufrieden mit dem kurzen Satz und zufrieden mit sich. Die Tat! Eine Tat, so klein wie diese, so anrüchig wie diese, hatte ihn losgespannt.

Der Dankbrief für die Sendung begann mit: Blonder Bär, schöner Tollpatsch! ... Eine Woche nach diesem kam wieder ein Brief. Der war ganz farblos. Das vierte Briefchen war kühl und endigte plump: Ree steigt an den Rändern der Pyrenäen. Die Sonne neigt sich auf sie nieder. Andern Leuten genügt es, in ihrem Fett zu sitzen und Dukaten zu legen. A chacun son mauvais goût!

Darauf kam drei Wochen lang überhaupt kein Lebenszeichen von Ree.

Zweites Kapitel

Am Ende dieser drei Wochen fuhr Hermann Pirath nach der „Teufelsheide“. Die Teufelsheide war eine weite Hochebene, die ringsum von Wald und von einsamen Waldgehöften eingefaßt war. Sie war sonst ganz verlassen. Der Geist des Volkes ließ allerlei überirdische Heimlichkeiten auf ihrer rauhen Fläche spielen, über die im Sommer niedrige Gewitter sich heftig entluden. Hin und her lagen Moore und Teiche, und auf sandigem Boden wuchsen niedrige Föhren, Eibensäulen und Wacholder, und Heidekraut kämpfte mit dem Moor.

Mitten in ihr lag ein sonderbarer kleiner Gasthof, der bei den Bauern in den Waldgehöften in einem zweifelhaften Ruf stand. Wovon mochte solch ein Gasthof wohl auch anders leben? Die Gegend war verwunschen, und außer Jagdgesellschaften schien niemand in der Welt die Heide zu kennen. Sie lag im Land wie ein Leberfleck. Ein Teufel hatte einst hier die Erde gesegnet, und die grüne Fruchtbarkeit war gewichen und das verdorrte Mal geblieben.

Hermann Pirath hatte auf ihr ein Stück Jagd gepachtet und ging zum erstenmal hin, weniger um zu schießen, als um zu schauen, was eigentlich droben los wäre. Er ließ sich von der Bahnstation die zwei Stunden Wegs bis zum ersten Bauerngehöft fahren. Der Wagen sollte dann auf ihn warten. Hermann besprach mit dem Bauern die Lage der Jagd, die das große Gebiet dieses und zweier Nachbarhöfe umfaßte, und ging allein weiter. Der Bauer rief ihm noch nach: „Passen Sie auf, es könnte Ihnen eine merkwürdige Schweinesache unter die Augen kommen.“ „Wieso? Was denn?“ rief Hermann zurück. — „No, es spukt wieder einmal. Das läßt der Gasthalter in der Heide nicht ausgehen.“

Hermann stieg in die pralle Sonne hinein und kümmerte sich nicht mehr um die Worte des Bauern. Das Heidekraut knisterte um seine Stiefel. Aus dem niederen spröden Wachstum um den Ausschreitenden stieg die Hitze hoch wie aus einer Kachel. Aber es war, als ob der Duft zerriebener und süß schwelender Wurzeln hinein geräuchert sei. Es war ein Weihrauch im Julitag. Hermann schritt schwitzend rasch aus. Manchmal raschelte ein Häschen davon. Vögel warfen sich in die Luft und in die Hitze und fielen nieder ins Bad der heißduftenden, knisternden Sträucher. Die dunkeln Wacholdersäulen standen wie eingeschlafene steile Mädchen einsam hin und her.

Hermann gefiel dies alles. Sein Kopf erholte sich. Sein Herz wurde weit und warm. Er wischte sich den Schweiß aus dem dicken Nacken, blieb bald stehen, um einem Vogel nachzuschauen, der schwarz aus der Luft herniederglitzerte, und kaum daß ihn die Nähe der Heideerde empfangen hatte, schon in dem Geflecht und dem braunen, olivenen und heideroten starren Schaum des Bodens verschwunden war. Dann hielt er die Schritte an vor einer kleinen heftigen Gruppe im Sand. Eine Ameise massakrierte eine Wespe. Sie hatte das große Tier auf dem Rücken liegen. Sie hackte ihre kleinen Krampen von Beinchen in den gelbschwarz geringelten Leib und versuchte zugleich mit ihren Zangen um den dünnen Wirbel zu kommen, mit dem der Wespenkopf am Rumpf saß. Die Wespe bog ihren Leib krampfhaft auf, und ihr Stachel flog unglücklich aus und ein und aus, aber immer in die Luft. Die Ameise wirbelte auf dem Wespenleib herum, den Kopf tief unter den Kopf des Feindes gebohrt, langsam die Wespe enthauptend. Und auf einmal waren beide still. Auch die Ameise rührte sich nicht mehr.

So erlebte Hermann, wie der kleine Jäger den geflügelten und gefürchteten Tiger erlegte. Weshalb verallgemeinerte er dann und übertrug das mikroskopische Begebnis auf die große Erde und auf Menschen? Nun dachte er, wie in einem Blitz, an die verrückte Hexe und an Peter.

Seine Sonnenfreude war gestört. Er wollte jetzt schießen. Er deckte sich in einer kleinen Gruppe von Föhren, stieß den Stock mit dem kleinen Sesselgriff in den Boden und schaute aus. Er hatte die Flinte aber noch nicht entsichert.

Da sah er in der Ferne etwas sich rasch über die Heide bewegen. Erst dachte er: ein Auto! Was konnte so schnell zwischen dem niederen Strauchwerk voran? Aber es gingen keine Wege in der Heide. Es kam auf ihn zu. Es war etwas Schwarzes und etwas Weißes, und das Weiße flatterte wie eine Flamme. Es waren Reiter. Sie kamen nun hinter kleine Föhrengruppen, verschwanden immer auf drei, vier Augenblicke, kamen von Baum- zu Baumgruppe immer wieder auf kurze Sekunden zum Vorschein. Hermann verlor ihr Bild nicht aus den Blicken. Er sah auf einmal, da ein größerer Zwischenraum zwischen den Bäumen und die Kavalkade schon näher gekommen war, daß auf dem einen Pferd eine Gestalt saß, die im Galoppieren ein großes helles Tuch von sich löste und auf einmal nackt und weiß auf dem schwarzen Pferd dahinflog. Schwarze Haare flatterten lang und wagrecht hinter ihr.

Hermann lachte sonderlich berührt. Die Sonne warf ihr Licht auf die nackte Reiterin, und die Hitze der Heide stieg wellend zwischen seinen Augen und ihr auf. Es war ihm komisch und doch märchenhaft. Er suchte, betroffen, wie er war, nach dem Namen jener alten legendären Nacktreiterin und fand ihn nicht gleich. Aber als er auf einmal laut sagte: „Lady Godiva! Ach ja, Lady Godiva!“ da waren die Reiter verschwunden. Hatten sie abgeschwenkt? Waren sie von den Pferden gestiegen? Hermann spähte aus seiner Föhrengruppe heraus rundum, sah nichts, trat hinaus, und im selben Augenblick hörte er die Pferdehufe dumpf trommeln, und noch wußte er nicht, in welcher Richtung, als die zwei Reiter durch ein Boskett von Föhren brachen, das keine zwanzig Schritte von ihm entfernt war. Voran stieg ein Reiter in einer hellen Hose und blauer Jacke heraus und dann die Lady Godiva, und sie rasten auf den erschrockenen Hermann zu. Der kam sich vor, als ob er heftig an einem Schlüsselloch ertappt worden wäre. Aber dann fuhr sein Herz wie ein Luftballon an die Decke, zu seinem Hals hinauf, denn die nackte Reiterin, die jetzt an ihm vorbeisauste, war Ree, und den andern kannte er auch.

Er rannte wie besessen, von rascher Wut gestoßen, hinter den Reitern her und rief: „Dirne! Dirne!“ Und hob mit zitternden Armen seine Flinte. Die Reiter waren ihn erst im letzten Augenblick gewahr worden. Die Frau trieb den Hengst an. Ein kleiner Schrei stieß schrill auf. Der Mann in der hellen Hose fuhr in die Tasche, drehte sich zurück und schlug mit der Hand von oben herab einen Knall durch die Luft, der rasch und dumpf verscholl, wie von der Sonnenbrut der Heide erstickt.

Dann waren die Reiter verschwunden.

Hermann stand allein mitten in der Sonne. Es fror ihn. Er schaute die Läufe seines Gewehrs entlang, die auf den Boden gesunken waren. „Jetzt liegt wohl einer dort unter Wacholder und Heidekraut!“ sagte er und fühlte, wie bleich er war. Es konnten nur Sekunden gewesen sein, daß er die Überlegung verloren hatte. Er zog den Kolben untern Arm und ließ die Läufe aufknacken. Da sah er, daß die beiden Patronenscheiben jungfräulich waren. Wie er das feststellte, war er zuerst verwundert. Hatte er denn nicht abgedrückt? Und mit einemmal stieg eine neue Wut in ihm hoch. Er ballte die Fäuste über die Heide und schrie: „So, du hast auf mich geschossen! Zuhälterart! Auf mich geschossen?! Du Flibustier! ...“

Hermann ging geradeaus rasch zum Bauernhof zurück und trug nur einen Gedanken in sich, den Wut und Rachegefühl, Bruderliebe und Empörung in Flammen einhüllten und fest schmiedeten. Mit diesem Gedanken wollte er vor seinen Bruder hintreten und ihm sagen: „Das hat sie gemacht! Das hab ich gesehen! Jetzt ist dir das Handeln leicht.“ Und während er sich das sagte, dachte er an das Erbteil, das ihnen vom Namengeber der Familie überkommen war. Er fühlte sich des Bruders sicher, so wie von ihm der mit Staunen gemischte feindselige Bann, den jenes Frauenzimmer auf ihn ausübte, gewichen war. Er war schadenfroh, der kleine dicke Hermann. Auch für sich selber nahm er klare Erleichterung aus dem furchtbaren Begebnis. Während der Fahrt zur Stadt wuchs in ihm das repräsentative Bewußtsein des Familienältesten. Jetzt wollte er befehlen.

Dann trat er in Peters Haus, wo er den Bruder vorfand, mit Unmut, Sicherheit und diesem Bewußtsein gewappnet auf. Er machte Peter schonungsvoll darauf aufmerksam, daß er ihm etwas ganz Unerwartetes und Schreckliches zu berichten habe und daß er aber hoffe, es bringe ihm wenigstens die Leichtigkeit einer klaren Tat. Darauf erzählte er kurz, was er in der Heide erlebt hatte.

Als er geendigt hatte, merkte man Peter kaum einen Eindruck an. Er schwieg noch eine Weile und fragte dann kühl: „Ein Irrtum ist natürlich ausgeschlossen?“

„Natürlich,“ antwortete Hermann hitzig, „sonst wär ich nicht hergekommen.“

„Tja,“ machte Peter nach einer kleinen Weile, „dann muß ich als Erstes den Betreffenden fordern. Du sagst, du hast ihn erkannt?“

„Du wirst ihn nicht fordern!“ entgegnete Hermann.

„So? Weshalb nicht?“

„Weil er ein Lumpenkerl, ein weltbekannter Landstreicher ist. Du findest kein Ehrengericht, das diese Forderung behandelt, und keinen Menschen, der dir Zeuge sein will.“

„Wer ist es denn?“ fragte Peter hitzig lauernd.

„Der Friseur Larisch!“

Peter legte den Kopf in die Hände, um nachzudenken, wer der Friseur Larisch war. Auf einmal richtete er sich auf. Er war blaß und sagte, von Abscheu geschüttelt: „Pfui!“

Er erinnerte sich nun, daß dieser Larisch einmal Lakai am Hof der nahen Residenz war. Gerüchte brachten ihn in Zusammenhang mit einer Prinzessin, die aus der Residenz verschwand, zur gleichen Zeit, da Larisch den Dienst im Schloß verließ. Dann wurde Larisch Friseur in der Heimatstadt der Piraths und lockte sich Kunden an mit den Erzählungen seiner galanten Abenteuer am Hof. Plötzlich verschwand er. Es wurde verbreitet, der Fürst habe ihn erschießen wollen, es sei ihm dann vom Hof eine große Summe gegeben worden, damit er das Land ganz verlasse. Seitdem tauchte Larisch nur mehr von Weile zu Weile in der Stadt auf, und Reisende erzählten, daß sie ihn als Kavalier bald im Osten, bald im Westen, in Kopenhagen oder Kairo sahen, einem Dasein ergeben, das niemand recht erkannte. Besonders Pferderennen und Spielsäle solle er pflegen, und einmal war er auch in einen Falschspielerprozeß verwickelt.

Diese Gestalt war Peter nun auf einmal lebendig, mager, gepflegt und doch wie beschleimt. Er sagte erschüttert zu Hermann: „Das ist Ree?“ und schüttelte den Kopf. Dann fügte er hinzu: „Jetzt ist der Entschluß natürlich nicht schwer!“

Hermann drängte ihn, die Angelegenheit gleich durchzubesprechen, und wollte so viel davon auf sich nehmen, als es die Lage erlaubte. Hermann begab sich dann gleich zum Rechtsanwalt.

Peter war allein und stand mitten im Zimmer, als der Bruder gegangen war. Es war ihm, als stünde er in einem zusammengebrochenen Haus und als ob alles in seinem Kopf und an seinem Körper dumpf von den Schlägen der über ihn gestürzten Balken sei. Er hatte nur die eine klare Erkenntnis, daß er gern niederfiele und sich auf dem Boden winden und schreien und weinen möchte. Aber er hielt sich mühsam aufrecht. „Komm ich so aufrecht stehend über die nächsten Stunden hinweg,“ sagte es in ihm, „dann bin ich gerettet. Aber sink’ ich nun hinein, dann bin ich verloren.“ Sein Leben öffnete einen dunkeln und moorigen Teich. Von Augenblick zu Augenblick erschrak er vor dem schwarzen Schillern, das sich in seinem Bewußtsein finster hob. Es klang ihn an: Ehebruch! Ehebruch! Hopf! Treulosigkeit! Schmutz und Schweinerei! Friseur Larisch, der Zuhälter! Ehebruch! Betrogenes Gattentum! Beschmutztes Nest! Sumpf und Hure! Straßenpflaster, Pferdeknecht und Freudenhaus! Hopf! Ehebruch! Ein Tanz und Gebrause von höhnischen aufstachelnden Scharen zielte nach ihm. Und er machte sich so kalt, daß sein Herz ihn schmerzte, wie ein Bad im Schmelzwasser im Mai den Körper. Er stand so da und hielt sich an seinem Schreibtisch an, und es war ganz närrisch sicher in ihm, daß er es überdauerte, wenn er so stehenbleiben könnte.

So fand ihn sein Bruder, der sich zurückbeeilt hatte. Er nahm ihn mit. Sie fuhren in einem Auto durch den Stadtwald und wollten im Parkgasthaus essen. Aber wie Peter die vielen Menschen dort sah, bat er: „Fahren wir doch lieber zu dir! Die Menschen tun mir nichts. Aber ich kann nicht freundlich grüßen, wenn Bekannte vorübergehen, und mich nicht mit fremden Leuten in höfliche Gespräche einlassen. Es ist mir, als wenn heut so etwas wie ein fataler Familientag sei und als ob einige Ahnen und einige zukünftige Piraths dabei seien. Die Familie Pirath setzt sich in großer Versammlung mit der Entsetzlichkeit: Leben auseinander.“

Die beiden Brüder saßen dann rauchend den Abend über beisammen. Sie tranken und sprachen, und wie eine graue steinerne Säule stand das Ereignis des Tages mitten zwischen ihnen, sah stumpf schweigend ihrem Tun zu und drohte auf sie niederzustürzen. Dieses Beisammensein bestand aus vielen Anläufen zu einer intimen und sicheren Gemütlichkeit, die bei beiden aber wie ein Fluß in einer Grotte stets erschrocken verliefen, sobald sie die graue Säule gewahr wurden. Sie sprachen fast nur über Familie, erzählten sich von den einzelnen toten und lebendigen Mitgliedern, und Hermann brachte den Stammbaum und die Aufzeichnungen, an denen er seit jungen Jahren arbeitete. Sie verfolgten die Zweige zurück zu den Ästlein, die Ästlein zu den Ästen, die Äste in den Stamm, in dem in einer Doppelscheibe der Name jenes Jens Pirath stand, der noch an der Küste gewohnt und von Schiffahrt gelebt hatte.

„Da hast du den Piraten!“ sagte Hermann. „Ein Glück, daß die Familie ins Mittelland kam und dieser Ursprung sich verwischt hat. Mit dem Namen in einer Hafenstadt hätten wir ein feines Ansehen.“

In der späten Nacht gingen die Brüder auseinander. Das dumpfe unsichere Gefühl hatte sich bei Peter in diesem harmlosen und gesprächigen Beisammensein heimlich verlaufen. Er wunderte sich, daß es so leicht in ihm war, nur kalt. „Eis! Eis!“ sagte er laut in sein einsames Zimmer hinein, aus dem er ohne Zorn das Bild Rees entfernte. Die Eiszeit naht wieder. Seinen Schicksalsschlag in dieser Form auszudenken schien ihm primitiv groß und grausam. Er dachte an alte vorgermanische Urwälder, über die die Gletscher brutal hernieder wanderten.

Aber in den Tagen, die kamen, schlichen sich die Erinnerungen an die schillernde, kostbare, vielgestaltige Ree an ihn heran ... Das Eis konnte schmelzen, und in schwelgendem Schmerz dachte er sich allerlei Möglichkeiten aus, wie sein Leben mit Ree anders hätte laufen können. Ich war zu tölpelhaft für sie, zu einseitig auf die beiden Beine gestellt. Sie war ein erotisches Tier. Es konnte graziös und leicht wie eine Libelle zwischen den Porzellanfigürchen tänzeln, und auf einmal packte es eine Laune und warf das ganze Porzellan durcheinander ... Denn das Tier war so schön und kostbar, daß die Sorge, die man um das schundige Porzellan hatte, bestraft werden mußte.

Niemals kam aber auch nur der Schatten eines Gedankens, das Leben mit ihr wieder aufzunehmen, zu verzeihen und noch einmal zu versuchen. Es kamen Briefe von ihr. Er gab sie ungeöffnet Hermann, und Hermann gab sie dem Rechtsanwalt weiter, ohne sie zu lesen. Der Anwalt sagte Hermann, die Briefe seien alle sehr persönlich und enthielten keine Tatsachen außer der Bitte um Geld. Sie seien im übrigen so gehalten, als ob die Dame nie einen Friseur Larisch gekannt hätte und nie mit ihm im Heidegasthof gewohnt und nackt über die Heide geritten sei. Der Anwalt besprach auch nur mit Hermann die Form, in der der Prozeß geführt werden sollte. Peter erfuhr nur das Wichtigste. Er überließ den beiden alles. Er bat nicht einmal um Schonung für den andern Teil. Er sagte darüber zu Hermann: „Jeder mag seine Suppe so heiß essen, wie er sich sie gekocht hat. Ich blase die meinige selber und kümmere mich nicht um die eines andern.“

Ree blieb in ihm. Sie blieb in ihm nicht wie ein Erlebnis. Seit jenem Tag, an dem ihm Hermann die Begegnung in der Heide erzählt hatte, war alles Körperliche seines Zusammenhangs mit Ree aus ihm gewichen. Sie durchschwebte ihn wie eine Stimmung. Es gibt Träume, aus denen man erwacht, ohne lange Zeit sich von ihnen befreien zu können. Sie wehen mit in die ersten Stunden unsres Tags hinein, vergiften die Wirklichkeit dieser Stunden mit einem süßen Nachduft des träumend Erlebten. Einen Hauch von einer unmöglichen, von Schwere und Hemmung befreiten Welt schicken sie über uns, einen Hauch nur, einen verwünschenden Odem. Den Fluch einer unwirklichen Stimmung werfen sie über den Beginn unsrer Tagesarbeit.

So wie etwas schwül und süß Erträumtes, dessen Atem vor dem lichten körperlichen Tag nicht weichen wollte, lebte Ree weiter neben und in Peter.

Hermann und der Rechtsanwalt betrieben den Prozeß. Ree widerstrebte. Der Anwalt versuchte, die Scheidung auf eine für Ree schonende Weise durchzuführen. Aber Ree biß um sich wie ein toller Köter, wenn man ihr davon sprach. Sie wollte auf alle Weise nichts von Scheidung wissen. Sie sagte bei einem Besuch in der Anwaltsstube:

„Weshalb stellen Sie sich zwischen diesen gutmütigen Tollpatsch und mich? Der Mann war doch froh an mir. Er wollte mich doch so, wie ich bin.“

Der Anwalt entgegnete: „Es liegt mir fern, mich auf irgendeine Art in Ihre und Ihres Manns Gefühle einzumischen. Was ich von Ihnen verlange, verlange ich nur im Auftrag von Herrn Peter Pirath.“

„Von Herrn Hermann Pirath!“ rief Ree aufgeregt hinein.

„Bitte, Gnädigste, hier ist das von Herrn Peter Pirath gezeichnete Schriftstück, das mir Vollmacht gibt.“

„Das ist ein Wisch. Man bläst drüber.“

„Ihre Gegenpartei tut das jedoch nicht. Darf ich höflichst ersuchen, daß mir die Gnädigste ihren Rechtsvertreter bezeichnet. Es dürfte Ihnen doch angenehmer sein, und allerlei Peinliches bliebe Ihnen erspart, wenn Gnädigste nur mittelbar mit dem Gegner verkehrte.“

„Ich brauche keinen Rechtsvertreter. Wozu?“

„Den Grund nannte ich Ihnen schon.“

„Er ist nicht stichhaltig.“

„Er dürfte es aber bald werden.“

„Wann?“

„Wenn wir gezwungen werden, zum Äußersten zu greifen, um unsern Zweck zu erreichen.“

„Was ist das?“

„Die Wahrheit, gnädige Frau!“

„Welche Wahrheit? So was gibt’s nicht. Wahrheit ist, daß ich mit meinem Mann zusammen leben will. Welche Wahrheit?“

„Die Gründe, weshalb Herr Peter Pirath diesen Willen der Gnädigsten nicht teilt — das ist diese Wahrheit.“

„Sie ist schäbig.“

„Aber ein Gesetzesparagraph.“

„Also mit dem Gesetz will man auf mich schießen.“

„Nur wenn die Gnädigste sich nicht anders ergibt. Herr Peter Pirath sieht sich dann in der Tat dazu gezwungen. Sonst möchten wir das Prinzip in die Angelegenheit bringen: Je menschlicher, desto lieber.“

„Wie heißt Ihr Gesetz?“

Der Anwalt ergriff einen dicken Band, schlug ihn an einer mit einem Kuwert bezeichneten Stelle auf und reichte ihn Ree hin.

„Die Gnädigste ziehen vielleicht vor, sich mit eignen Augen von der Stärke unsrer Position zu überzeugen.“

Ree nahm das Buch. Ein Duft strömte auf einmal in ihre Nase, der ihr vertraut erschien. Er peinigte sie. Sie untersuchte rasch ihre Umgebung, hob das Kuwert aus dem Buch und schnellte zurück. Das war der Brief, den sie gestern abend ihrem Mann geschrieben hatte. Er war ungeöffnet. Sie schlug ihre erzürnten grünen Augen gegen den Anwalt. Der alte gepflegte Herr saß ruhig in seinem Stuhl und empfing die zornigen Blicke mit einem Gesicht, das nur aufmerksam wartete.

„Was ist das? Wie kommt mein Brief hierhin? Ungeöffnet? Man unterschlägt meinem Mann meine Briefe.“

„Nicht im geringsten!“ entgegnete der Rechtsanwalt kühl.

Das war ein Schlag für Ree. Sie fand den Zusammenhang nicht gleich und fragte: „Liest mein Mann denn meine Briefe nicht?“

„Er übergibt sie seinem Anwalt in dem Zustand, in dem Sie diesen Brief sehen. Der Anwalt liest sie und vergißt sie sofort. Den Anwalt, Gnädigste, müssen Sie sich vorstellen, als die vermittelnde Anstrengung zwischen Mensch und Gesellschaft sozusagen oder von Mensch zu Mensch. Er ordnet die Dinge, die sich die Menschen durch die Gesellschaft aufoktroyieren lassen, wenn die Menschen von selber nicht mehr damit fertig werden können. So liest Herr Peter Pirath die Briefe der Gnädigsten nur mittelbar ...“

Aber Ree stieg empor. Sie schnellte wie ein Puma aus dem Sessel. Sie schrie mit einer spitzen Stimme: „Das nennen Sie je menschlicher, um so lieber? Sie unterschlagen meine Briefe. Sie zerschneiden die Möglichkeiten eines versöhnlichen Ausgangs. Sie mittelbarer Scherge! Sie unmittelbare Perücke! ...“

Der Anwalt stand auf, verbeugte sich und ging elegant zur Tür. Er öffnete sie mit einer gemessenen Gebärde, die in seiner Art, sich zu benehmen, nur ein ganz klein wenig auffällig war, nur ganz diskret eine Andeutung gab, und schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen, hindurch. Er ließ die Tür hinter sich offen und verschwand im Flur. Ree stand beschämt, enttäuscht und zornig mitten im Zimmer und schaute ihm nach. Dann lachte sie wild auf. Sie riß Handschuhe und Tasche an sich und verließ das Haus. Draußen kreuzte eine Bekannte ihren Weg, die Frau eines Bankdirektors, die viel bei Piraths verkehrt hatte. Die Frau Direktor verzog ihr Gesicht zu einem wie fünf Kilometer entfernten Lächeln, nickte mit dem Kopf an Ree vorbei und grüßte, wohin? wen? zu einem Fenster hinauf oder in die Elektrische hinein, die gerade vorbeisauste, oder den Milchmann oder den Pudel, der an einem Tor ein Bein hob? ... Ree erkannte sofort, wes Sinnes dieser gegenstandslose Gruß war. Sie antwortete nicht und sagte halblaut: „Gans!“ Die Frau Direktor aber, die glaubte, weiß Gott, wie unvoreingenommen gehandelt zu haben, war empört, daß ihr nicht geantwortet wurde, und murmelte unter dem wippenden Rand ihres Panamas: „Diese Person! Diese ... Person ...!“ Denn Rees Lady Godiva-Ritt begann allmählich bekannt zu werden, ohne daß man etwas Bestätigendes darüber hörte.

Ree rief ein Auto. Sie fuhr davon und sagte sich: „Grünäugige Ree, du bist auch eine Gans! Dieser alte Herr an dem mit Eichenlaub umschnitzten Schreibtisch ist ein Genießer. Ein Eleganter. Ree, du Gänslein, du hättest erst schmeicheln sollen und dann die Krallen herauslassen ... Das hast du ungeschickt gemacht. Eine schlechte Note. Elende Menschenkennerin. Ist man dazu eine Frau?“

Den peinlichen Schluß, daß sie sozusagen vor die Tür gesetzt wurde, vergaß sie aber bald. Ree lebte in die Luft hinein. Aber da bekam sie einen Einfall. Den pflegte sie nun wie ein Kind seine liebste Puppe. Sie flog den ganzen Tag darüber nieder und badete sich drin wie eine Biene im Blumenstaub, sog seinen Honig ein und konnte kaum die Dunkelheit erwarten.

Peter hatte den Abend bei seinem Bruder verbracht. Sie waren zuvor beim Anwalt gewesen und hatten dort von Rees Besuch gehört. Der Anwalt hatte um Verhaltungsmaßregeln gebeten. Peter antwortete: „Ich überlass’ Ihnen vollkommen die Entscheidung. Ich sagte meinem Bruder schon: Ich blas’ niemandes Suppe kalt.“

Der Anwalt meinte: „Dann müssen wir den Gasthalter und die Bauern aus der Heide kommen lassen.“

Peter zuckte nur mit den Schultern. Aber eine heimliche Raserei stieg in ihm auf. Als sie gingen, sagte er seinem Bruder: „Wenn das doch nicht wäre! Man sollte meinen, es ist genug, wenn man so etwas erlebt und überlebt.“

Hermann antwortete ihm: „Du kommst nicht dran vorbei, armer Peter. Das ist die Anwendung der Welt auf deine Privatangelegenheiten. Das nennt sich Gesellschaft und Staat.“

Peter fühlte sich von einem sonderbaren Zustand niedergedrückt. Sein Dasein wurde ihm wie unwirklich. Schein war Wirklichkeit, Wirklichkeit war Schein. Es war ihm, als ob nun sein Leben auf zwei weiße Scheiben geschrieben wäre. Auf der einen stand wie ein Träumen die Möglichkeit eingeschrieben, wie sich sein Leben weiter entwickelt hätte, wenn der Friseur Larisch nicht gekommen wäre, wenn Ree nicht Ree wäre. Die andre Scheibe umzirkelte die qualvolle Gewißheit des Raubes, den jener Tag in der Heide an ihm begangen, und das schmerzhaft reduzierte Gebiet der Zukunft, die vor ihm stand. Und bald fuhr eine Scheibe hoch und verdeckte die andre. Und bald rasselte sie wieder ab, und die andre stand steil und allein hoch. So tänzelten die beiden Scheiben auf und ab. Daß Peter Ree ganz aufgab, stand unverrückbar klar und kalt in seinem Blut, so kalt und scharf wie die Firsten von Eisbergen in blauem Himmel. Aber doch flog es hinten am Horizont fortwährend trübend und bewegt auf. Die sonst so abgemessenen Bewegungen seines schweren Körpers bekamen etwas Zackiges, und auch seine Launen folgten diesem unsteten Hin und Her. Der Boden unter ihm erdbebte stets ein wenig.

Er kam an diesem Abend zwiespältig gehetzt um neun Uhr nach Hause. Die Dunkelheit hatte schon eingesetzt. Er sah keinen der Hausangestellten im Flur und ging gleich zu seinem Zimmer. Der Gewohnheit nach griff er, kaum daß er die Tür geöffnet hatte, nach dem elektrischen Knopf. Aber da sah er, daß die Lampe überm Schreibtisch schon brannte. Er trat erstaunt ins Zimmer. In einer Ecke erhob sich etwas und kam auf ihn zu. Es kam heran, dunkel und mit immer wieder aufgehobenen Bewegungen, fast lautlos und nur von einem weichen Knistern begleitet. Ein Wohlgeruch, der ihn erschreckt an etwas erinnerte, umzog ihn rasch. Er griff sich ans Herz. Ree stand im Schein der Lampe ohne Hut. Die schwarzen Löckchen kringelten sich wie Moos über die Stirn hernieder, und die großen grünen Augen leuchteten.

Sie sagte: „Du bist ein Bär!“ und lächelte und wartete.

Er trank einen süßen verfluchten Augenblick, als ob alles verwischt und versunken sei. Aber gleich durchfror ihn wieder die Wirklichkeit. Er drehte sich um und ging rasch davon. Er stürzte auf die Straße hinaus. Ein Auto kam. Er stieg hinein und fuhr davon, stöhnte und grollte. Er murmelte ein über das andere Mal: „Friseur Larisch! Friseur Larisch!“

Schließlich ließ er das Auto zu Hermann fahren. Hermann hatte das dicke schöne Mädchen bei sich, mit dem er gesundheits- und freudenhalber einen außerordentlich geregelten Umgang pflegte. Diese Frau war weich und schlicht, vertrauenerweckend unpersönlich, so daß die Brüder sich nicht scheuten, vor ihr die Angelegenheit zu besprechen. Peter saß da zwischen den beiden, sie tranken Champagner, und er war schweigsam und niedergedrückt. Das Frauenherz erglühte unter der üppigen Brust in zärtlichstem Mitleiden mit dem schönen, starken, unglücklichen Mann, und als Peter sich einmal entfernte, fragte sie Hermann, ob sie nicht ihre Freundin Alma für ihn holen sollte. Die Alma sei zu Hause und sei so lustig. Hermann sagte lachend: „Nein, Frauen braucht er wohl nicht!“ Da schämte sich die dicke Olga und beschwor ihn, Peter nichts von ihrem Vorschlag zu sagen.

Am nächsten Morgen wurde ins Haus Peters telephoniert. Das Dienstmädchen antwortete, die Frau sei über Nacht geblieben und habe scheinbar angekleidet auf dem Sofa geschlafen. Sie sei jetzt im Zimmer des Herrn und warte auf ihn. Das Mädchen richtete den Auftrag aus. Ree befahl ihr: „Telephonieren Sie mir um ein Auto!“ Sie schrieb auf einen Zettel: „Ich wartete hier nicht auf Deinen Bruder. Mit dem bin ich nicht verheiratet. Sondern auf Dich! Dein Rechtsanwalt ist mir ‚mittelbar‘ genug. Es bedarf nicht noch Deines Bruders, und wenn Du Dich fürchtest, allein mit mir zusammenzukommen, so gibt das mir die sichersten Versprechen. Du bist ein Bär. Ich bin Dir nicht bös. Ich wohne im ‚Schwanen‘ in H. Ree.“

Diesen Zettel fand Hermann, der kurzatmig vor Aufregung und Empörung angekommen war. Peter wurde herbeitelephoniert. Das Mädchen erhielt den Auftrag, alles, was von der Frau im Haus zu finden sei, in Koffer zu packen. Die Koffer wurden dann nach H. in den „Schwanen“ geschickt.

Das Begebnis stachelte Peter aus seiner zwiespältigen Dumpfheit auf. Er schrieb dem Anwalt, er bitte ihn, mit aller Energie seine Sache durchzusetzen und das Unvermeidliche zu tun.

Nun hatte eine Frau Regierungsrat Ree am Morgen das Haus verlassen sehen. Die Frau Regierungsrat war erstaunt und bekam einen heftigen Stoß, als ob ein bewährtes Axiom wieder einmal hinfällig geworden wäre. Am ganz frühen Morgen, wohlverstanden! Sie grüßte infolgedessen Ree außerordentlich freundlich. Ree antwortete kaum und sagte nur für sich zu der andern hinüber: „Keine Aufregung, meine Liebe. Es ist nur ein Irrtum!“ Aber die Regierungsrätin lief sofort zu ihrer Freundin, der Bankiersfrau von gestern, um zu erzählen. Die fand sich wie vor den Kopf gestoßen. Geht denn plötzlich die hochbürgerliche Ordnung kopfunten! fragte es dunkel in ihr. Sie wurde sich selber unsicher und unterdrückte die Worte, die ihr auf der Zungenspitze brannten und die also beginnen sollten: „Ja, denk dir, was mir gestern widerfuhr mit dieser Person, dieser ... Person ...“ Aber die Bankiersfrau hatte ein gutes Herz, dessen weitsichtige Unvoreingenommenheit sie gern preisen hörte. Sie sagte: „Weißt du, liebe Karoline, wer weiß, was das böse Maul unserer Stadt da wieder angerichtet hat?“

Die andre meinte erfahren: „Man kann nie vorsichtig genug sein.“

Und das war festgefügte Bürgermoral. O, edle Regierungsrätin! Stütze der Zeitläufte!

Drittes Kapitel

In den Kreisen, die Piraths nahe gestanden hatten, sprach sich zwischen dem Stelldichein um zwölf Uhr im Cafépavillon am Ring und den Vier-Uhr-Besuchen die neue Wendung in den nächsten Tagen herum. Hatten die Piraths sich wirklich wiedergefunden? Aber die Bankiersfrau, die auch ein wenig intellektuell war und gern Schauspieler und Sänger des Stadttheaters einlud, warf eine neue Ansicht über das Unklare der Lage in die Gesellschaft. Zwischen den Piraths sei etwas Unsauberes, sagte sie, und sie prägte dafür ein Wort, an dem sich alle aufregten: „etwas Perverses!“ Darüber ging nun die Unterhaltung. Die Damen hatten Ree ja einiges heimzuzahlen. Sie war das wilde Tier ihrer Gesellschaft gewesen, unzuverlässig wie eine Katze, man hatte nie auf sie zählen können. Sie verdarb oft in verschlagenster Weise die schönsten Pläne. Bei ihr konnte man über den Nächsten sich überhaupt nicht erleichtern, denn sie war imstande und antwortete sofort: „Das sag ich der Betreffenden zurück,“ ging zu ihr und tat es. So unzuverlässig war sie. Aber Ree hatte diese Gesellschaft doch durch ihre ungebändigte Eigenart zu einem gruselnden und angstvollen Staunen gezwungen, und für dies Gefühl, das ihrer saftlosen Alltäglichkeit gegen den Strich ging und dem sie stets nur widerwillig und ausspuckend folgten, mußten Bürger und Bürgerinnen sich rächen.

Da kamen die ersten Zeugen aus der Heide.

Der Schreiber des Rechtsanwalts las die Notizen seines Herrn. Er zeigte seinem Kollegen vom Justizrat das Protokoll. Der Schreiber erzählte dem Justizrat. Den Justizrat verknüpften heimlich bemunkelte Bande mit der Bankiersfrau. Die Regierungsrätin, der Cafépavillon, die Vier-Uhr-Tees ... die Stadt! Die ganze Stadt nahm nun die Angelegenheit des Ehepaars Pirath ins Maul. Es war ein Schmaus. Sie schmatzte damit. Der Saft rann wie an den Lefzen der widerwärtigen Dogge. Man kaute familien-, berufsweise. Die Männer gingen öfter ins Wirtshaus. Die Frauen trafen sich jetzt dreimal täglich und schickten gleich die Kinder hinaus. Dazwischen telephonierten sie sich ununterbrochen an. Der Plebejer deutete mit verächtlichen Mundwinkeln hinauf. Die Freunde des Hauses grunzten sich an vor Neid auf den Friseur Larisch. Das Revolverblättchen arbeitete, und Schenkwirt, Kontorist, Arzt und Kaufmann, Fabrikant und Richter schoben es sich vieldeutig aufschmunzelnd hin und gruben die Bärte gleich in den Bierkrug. Denn das Blättchen lasen sie nur am Stammtisch.

Peter bekam Schmähbriefe. Sie waren geifernd unflätig. Die Phantasie verborgner Schmutzkerle fing Feuer am Schicksal eines Nächsten und dem Ehebruch seiner Frau mit dem unsauberen Abenteurer. Um den Prozeß stieg eine schleimende, brodelnde Geilheit in der alten, mittelgroßen Stadt auf, in der jeder sich bis ins zehnte Glied zurück kannte und alle doch so taten, als ob sie erst von der neuen Zeit in die Stadt gebracht worden seien.

Zufälle, böser Sinn und der geschärfte Argwohn des Verfolgten trugen Peter rasch diese Entwicklung zu. Er fühlte sich immer unsicherer werden, und als er einmal den Beweis von der Einmischung eines Angestellten der Fabrik herausfand, wurde er rasend wie ein Riese. Er stürmte zwischen den Schreibtischen auf den Betreffenden zu, hob ihn von seinem Stuhl und rief: „Ist dieser Prozeß denn wie eine schmutzige Dirne abends im Stadtwald? Kann denn jeder da unter die Röcke greifen?“ Er machte sich über den Dreckskerl her, als ob er ihn zu Quetschfleisch verarbeiten wollte. Hermann kam herangekugelt, und ihm und den älteren Herren gelang es, den Rasenden zu entfernen.

Von Männern, denen er zugetan war, weil er sie für Rechtschaffene und Bedeutsame hielt, hörte er, daß sie sein Unglück zu gesellschaftlichem Spiel ausmünzten. Er wollte sie fordern, wollte schlagen, schießen, töten — sich mit den Muskeln wehren. Hermann hatte die Erledigung solcher Angelegenheiten auf sein Teil genommen. Er saß auf der Ehre seines Bruders wie ein hitziger Wachhund. Aber sprang er jemandem an die Kehle, so aalte sich der beleidigt davon, tat diskret mitfühlend, und Hermann hatte umsonst gebellt. Die Brüder wurden allmählich zu lächerlichen Persönlichkeiten. Alle feste Form schien sich um diese Angelegenheit und um Peter aufzulösen. Er sah, wie die Auflehnung seines Rechtlichkeitsgefühls und wie alle gerechte Raserei seiner Persönlichkeit gegen den bösen Bann um ihn in lächerliche, vergebene Gebärden auseinanderglitten. Die Zeit wurde ihm fratzenhaft.

„Die Stadt ist mir unerträglich geworden!“ sagte er zu Hermann. „Sie haßt mich und ich hasse sie.“

Hermann stak in seiner Stadt wie ein alter Wurzelstock, dickköpfig verknorrt und dumm-selbstverständlich. Er verstand das nicht. Er lachte und antwortete: „Du wirst überschwenglich wie die Frau Pastor von Sankt Nikodemus, alter Peter. Laß nur mal alles vorbei sein! Dann werden die Nerven wieder ruhig. Wer soll dich denn hassen? Einige verzerren sich die Mundwinkel! Nicht deinetwegen, sondern wegen deiner Gegenpartei. Man will heimzahlen, da der Löwe ins Krepieren gekommen ist. Das ist lächerlich und gemein. Gewiß! Man kann auch später da mal revidieren ...“

„Nein, nicht einzelne Menschen,“ warf Peter dazwischen, „die Stadt mein ich, die Straßen, die Plätze, die Häuser, die Gasthöfe, die Elektrischen, die Menschenmassen ... die ganze Stadt. Ich trau mich nicht mehr hinein. Sie hat ein Fastnachtsmaul auf gegen mich.“

Hermann schaute ihn erschrocken an.

„Und ich bin hier unfruchtbar geworden!“ fuhr Peter heftig fort.

„No, no,“ besänftigte Hermann. „Alter Peter ... in einer solchen Lage nicht arbeiten können! Wer könnte es!? Aber das geht vorbei.“

„Es ist mir, wenn ich mich zur Arbeit niedersetzen will, als kniffe ich feig aus, als desertierte ich vor ... vor den Gedanken ... vor Ree ... vor unserm ... vor dem Prozeß, vor dem Friseur Larisch!“ schrie er auf.

„Auskneifen! Halt, Peter!“ schnaufte Hermann hinein, auf einmal wie eine Kröte aufhopsend, „eine Reise, eine kleine Erholungsreise ...“ Er lachte glücklich.

„Ach nein,“ machte Peter unlustig.

Die Brüder schieden voneinander. Peter, da jetzt die Dämmerung begann, erging sich ein wenig im Stadtwald. Das war ihm zur Gewohnheit geworden. Tagsüber zeigte er sich nicht draußen. Er dachte an den Vorschlag Hermanns und fragte sich, mehr wie im Spiel: „Und wohin ginge eine solche Reise? Wenn ich eine Reise machen wollte?“ Der Reihe nach erschien: Norderney, Heyst, das Berner Oberland, Tirol, der Engadin ... und er sagte sich: „An einem dieser Orte treffe ich gewiß Ree ... und den Friseur Larisch.“

Da lachte es vor ihm im dämmernden Weg, und eine wohlbekannte Stimme sagte: „Der fliehende Bär! Er fürchtet das Leopardenkätzchen!“ Zugleich fühlte Peter einen kleinen Arm heftig in den seinen schlüpfen und wie ein lebendiges Tier drin hüpfen, und die Stimme fuhr fort: „Jetzt entkommst du mir nicht. Ich muß dich doch haben! Wenn du meine Briefe nicht liest, so zwingst du mich, dir aufzulauern. Du mußt doch wissen, daß ich nicht ohne dich sein will! Du bist ein riesenhaftes Bärenfell. Ich muß es haben! Drauf spielen. Lieb’ es ja!“

Das sprudelte Ree heraus, und Peter, dem das Herz aus dem Leib gesprungen war, fing an eiliger zu gehen, wollte sich von dem Arm befreien und stotterte verwirrt und erschrocken: „Nein! Nein!“ Er fand kein andres Wort, und als sie ihn nicht ließ, sagte er noch einmal bös und zornig: „Gehen Sie!“ Er schob sie von sich und begann den schmalen dunkeln Laubweg entlang zu laufen.

„Tollpatsch!“ lachte sie ihm wütend nach.

„Ich will reisen!“ sagte Peter noch im Laufen. „Ich muß reisen.“ Und der Schatten in den Sträuchern stak voll von der drohenden, kleinen, spitzen Stimme. Er eilte sich, in die große beleuchtete Allee zu kommen. Ein leerer Einspänner kam. Er fuhr in ihm nach Hause. „Ich will reisen!“ flüsterte er sich ununterbrochen zu. Er telephonierte an Hermann:

„Ich hab’s mir überlegt mit der Reise.“

Hermann antwortete beglückt: „Ich komm’ gleich zu dir. Das müssen wir zusammen besprechen. Auf gleich!“

Hermann fragte und kam: „Also wohin?“

Peter antwortete aufs Geratewohl: „Ach, so zwei Wochen an den Traunsee! ...“

Da erboste sich Hermann: „Na, denn doch gleich an den Tümpel im Stadtpark. Peter! Nach Sizilien! Nach Norwegen! Nach Spanien!“

Peter zögerte. Seine Phantasie war aufs Verzichten eingerichtet in dieser Zeit. Doch schwerfällig folgten seine Wünsche den Lockungen. Komm ich so weit herum, so entferne ich mich denselben Weg von meiner Bürde, sagte er sich. Er ging auf Hermanns Einreden ein. Aber es war schwer, so rasch ein Ziel zu finden. Er verschob es auf morgen.

Am nächsten Tag in der Frühe ließ er sich Prospekte vom Norddeutschen Lloyd und von der Hapag kommen. Dasselbe tat Hermann auch für sich. Peter suchte Spanien, Sizilien auf und reiste heimlich weiter übers blaue Meer nach Algier, nach Kairo.

Hermann blätterte hitzig in dem Büchlein und sah, wie alles zusammenlag, so nach Neapel, Sizilien ... Algier ... nur ein Sprung Kairo ... dort die Pyramiden! An den Pyramiden blieb Hermann hängen. Das war weit, groß, fremd. Das war etwas für Peter.

Er klingelte ihn an: „Weißt du, wohin du reisen sollst, Peter? Zu den Pyramiden mußt du!“

„Gerade bin ich dort angekommen!“ lachte Peter zurück.

„Bitte was? Wie?“

„Im Prospekt des Norddeutschen Lloyd.“

„Ja, ich auch dort,“ sagte Hermann.

Also vorläufig reiste Peter zu den Pyramiden.

Die Brüder aßen zusammen, und nach Tisch schauten sie sich den kleinen illustrierten Prospekt noch weiter an. Sie reisten drin bis Kairo. Aber auf der Seite, wo Kairo stand, war ein Bildchen, auf dem Palmen sich elegant über einen Strand neigten. Die Palmen hatten Zusammenhang mit J. P. Pirath Söhne und mit der Zentrifuge. Hermann las heimlich rasch die Verbindungen ab.

„Schau mal, Peter, da auf Zeylon wachsen Palmen. Auf ihnen ruhen Pirath Söhne. Du müßtest doch eigentlich ... Wir haben ja einen Vertrauensmann dort, den Konsul Janssen ...!“ Und während er so sprach, wuchs ein Einfall heißblütig in Hermann auf. „Janssen ist Pflanzungsverwalter im Innern Zeylons, und ha! siehst du! das ist was! Du würzest die Erholungsreise durch die anregende Pikanterie eines kleinen Stippbesuchs. Du überzeugst dich, wie die Kokosnüsse wachsen, die wir hier der Menschheit zugänglich machen.“

Hermann war auf einmal wild erregt. Sein Kopf glühte. Er goß sich einen Kognak ein und stülpte die Schale mit einem Zug in den Mund. Er hüpfte zwischen den Sesseln herum. „Weißt du, was ich jetzt mache?“ rief er. „Ich spiele das Milchmädchen in der Fabel ...“ Er ging herum und tat so, als balancierte er einen Topf voll Milch auf seinem borstigen Schädel. „Aber sieh, der Topf fällt nicht, wie beim Dichter. Wir Kaufleute sind eben die Wirklichkeit, mein Lieber! Peter, du kontrollierst, wie wir uns stehen, wenn wir auf den Zwischenhändler verzichten können ... Wenn wir dann eigne Pflanzungen anlegen. Verdammt! Auf den Einfall kam ich nie, weil ich dachte, weiter als bis in die Schweiz führe kein Zug. Es ist uns Großes verloren gegangen in all den Jahren.“

Die zwei Köpfe arbeiteten über dem Prospektbuch ineinander hinein. Der aufgepeitschte Geschäftsgeist Hermanns trieb erregt die Phantasie Peters. Der Geist strebte ins Wachsende, ins Größere, die Phantasie tobte nun auf einmal wild in der Welt herum und jappte nach einer andern Luft. In der Südsee machten die ungleichen Brüder halt.

„Man weiß zu wenig von dieser Gegend, als daß dort nichts zu machen wäre!“ rief Hermann.

Peter scherzte: „Und wenn das Blut unsres von dir so gefürchteten Ahns Jens aus Emden drunten wieder ausschlüge ...“

„Ach was!“ versicherte Hermann, der diese Rede in seiner Hitzigkeit für ernst nahm, „unsre Zeit hat keine Luft mehr für diesen Beruf. Jens ist vermodert, und wir halten den Familienschrank mit seinem Skelett gut vor jedermann verschlossen. Und dann bitte um eins: Scherz’ nicht, Peter! Jetzt bist du mehr als Peter Pirath, der vor seinem Kummer nach Gmunden fliehen wollte. Jetzt schiebst du mit an der Zeit. Wenn das zu machen geht und uns durch eigne Pflanzungen auch der Rohstoff ganz zu Willen ist, dann wachsen wir so, daß die ganze Stadt mitwächst. Es ist wie ein Stein, der ins Wasser fällt und, so weit es Wasser gibt, seine Ringe von dem Stoß auswirft. Das wird ein berühmtes Datum in der Geschichte von Jens Pirath Söhne und in der Geschichte der Heimatstadt. Pflanzer und Fabrikant! Ferne Inseln und Vaterland in einem Kreis. Kolonialpolitik einer deutschen Firma!“

Peters Weltreise war also beschlossen. Peter band sich an keine Zeit. Eilig beförderte er die Vorbereitungen. Es kam ein Skandal mitten hinein. Der Friseur Larisch erhängte sich im Garten des „Schwanen“ in H. vor Rees Fenster. Sie hatte nichts mehr von ihm wissen wollen. Aber diese furchtbare Wendung konnte den Stein nicht mehr aufhalten, der so mächtig im Rollen war. Denn auch bei Peter, der das große, vom Bruder ausgedachte Werk zuerst nur egoistisch zur eignen Befreiung dienstbar machen wollte, hatte der Gedanke gezündet.

So warf jener Schicksalsschlag das ewige Rad einen Schwung fester bei den Piraths herum. Der Geist der Entwicklung hienieden gab einen guten Faustschlag hinein und knirschte vor Genugtuung mit seinen grimmigen Zähnen. Pirath Söhne schnappten einen Sprung höher ein, damit eine Reihe andrer Menschen und Verhältnisse, kurzum ein ganzes Zeitläuftchen.

Aus verflossenem Herzblut schossen Triebe einer neuen Energie. Alte Weltweisheit!

Der Räuber und Friseur Larisch blieb zeitlich: eine taube Ähre, deren Wertlosigkeit bei der Ernte herauskam und vernichtet wurde. Und Ree! Ach ja, und das heftige, schöne, ehebrecherische Tigerlein Ree? Verabschieden wir sie. Sie hat ihre göttliche Mission erfüllt: einen Flibustier aus der Gesellschaft gemerzt und einen wertvollen Mannescharakter auf einen neuen und fruchtbaren Acker gebracht.

Zweiter Teil
Reisen


Zur ersten Station

Drei Stationen kamen an Peter Piraths Reisen. Drei Stationen, an denen er sozusagen den Zug verließ, verweilte, rückwärts schaute und die Fahrpläne neuer Richtungen studierte.

Bis zur ersten Station wurde er gepflügt. Bis zur zweiten Station kam er in Saft, und vor der dritten, da er ernteschwer geworden war, da ...

In Genua ging Peter Pirath an Bord des „Fürst Bülow“. Der Hotelwagen brachte ihn zum Kai, er stieg den Holzsteg aufs Zwischendeck hinauf und von dort die Eisenstiegen weiter aufs Promenadendeck. Schiffsoffiziere standen halb höflich bereit, halb militärisch wichtig und barsch umher. Der Kapitän grüßte Pirath mit einem väterlichen und zugleich weltmännischen Lächeln und einem verweilenden Anschlag an die vierfach bebänderte Mütze. Der Obersteward bemächtigte sich Piraths im Handumdrehen mit einer nur halb ausgeführten, aber doch formvollendeten Verbeugung.

Pirath ging hinter diesem Mann her das Promenadendeck entlang. Mit dem linken Auge sah er den Kai, in buntem Gewimmel von fremdem Volk bedeckt, mit ungewohnten Gebärden belebt, und mit dem rechten Auge sah er auf einmal, er mußte unwillkürlich den Schritt anhalten, einen jungen Menschen in einem Stuhl an der weißlackierten Wand tief rückwärts liegen und lesen. Peter begann seine Reisen wie eine religiöse Tat. Er folgte nur ungern dem Obersteward, um sich seine Kabine zeigen zu lassen. Er wollte sich über die Reling legen und schauen. Die steile Stadt schickte aus den üppigen Klötzen ihrer Paläste, die wie Felsenblöcke über Schluchten die Straßen bildeten, dieses farbige fremde Gewimmel von Volk herab. Das bewegte sich am Kai, mitten im Geruch der fernen Küsten, der an den Dampfern und Seglern abfloß, wie eine unbekannte Seele, die unbewußt den Schleier von sich lüpfen will und heischte, geschaut zu werden. Und dieser junge Mann lag tief rückwärts und las. Das war Pirath außerordentlich merkwürdig.

Er eilte hinter dem Obersteward her, warf einen Blick in seine Kabine und flüchtete wieder an Deck. Der junge Mann lag noch immer und las. Es war ein junger Mann, der unter einer blauen Seglermütze sachlich kurz geschorene rote Haare hatte und gepflegt pedantisch gekleidet war. Er war von stämmiger kurzer Gestalt, hatte ein Gesicht mit einer zu kleinen Nase, fest gerundeten Backenknochen, eine breite Stirn, einen scharfen Mund und einen mädchenhaften rosazarten Teint. Seine Augen ertranken in den spiegelnden Scheiben seines Kneifers. Seine roten Brauen hoben sich leicht, als Pirath vorbeiging, und senkten sich fast im selben Augenblick wieder in das Buch. Er war etwas weitsichtig und hielt das Buch steifarmig vor sich hoch. Das Buch hatte einen klatschigen Deckel, dessen Titel Pirath schon von fern lesen konnte: Die Welt und der deutsche Gedanke.

Der erste Gedanke Piraths war, als er diesen Titel gelesen hatte: Dies Buch könnte dir auch vielleicht nützen. Aber er wunderte sich, daß ein junger Mensch so untätig einem Buch hingegeben sein konnte, wo vor seiner Nase die lieblichste, ein wenig märchenhafte Lust eines fremden Volkes auf dem Kai tanzte. Denn es war ein strahlender, windgekühlter Augusttag. Peter empfand eine leise Enttäuschung in der inneren Erhebung, mit der er den ersten Schritt auf dem Schiff getan hatte. „Ich wollte, dieser junge Mann wäre nicht an Bord!“ sagte er sich. Er dachte, wie störend solch ein trockenes Pflänzchen in dem engen Lebensraum sei, in dem auf drei, vier Wochen ein lebendiger Haufen Menschen fremdem Klima entgegenfuhren und eng aneinander die Welt erlebten. Pirath stellte sich an einer solchen Bordgesellschaft von vornherein alles harmonisch vor.

Der Kapitän stand auf einmal vor ihm, führte die Hand an die Mütze und sagte mit einer kleinen lächelnden Verbeugung: „Kapitän Schnell.“ Peter nannte seinen Namen, und der Kapitän sprach gleich diesen Namen nach, so als ob er ihn seit längerem kannte. Das kam Peter Pirath vertraut vor, und er begann den Kapitän zu lieben. Der Kapitän war der gute Geist der Fahrt in die Welt, die Pirath begann, ein modernisierter wiedergekehrter Mentor, und ohne Hemmungen erzählte Pirath in dieser ersten Stunde auf dem Dampfer, da dieser zur Abreise rüstete, von seinen Zwecken und fragte den Kapitän nach einzelnen Persönlichkeiten, an die er Empfehlungen besaß. Doch es schien ihm, da er diese Namen nannte, als ob der Kapitän etwas spöttisch täte und sich zurückzöge. Aber dann sah er, wie die blauen Augen des Kapitäns auf den lesenden Jüngling fielen und zugleich der kurze ergraute Bocksbart seines großen gesunden Gesichtes sich vorn etwas hob. Da sagte er sich, daß der Rothaarige wohl die Ursache der plötzlichen Änderung sei.

Am Kai landeten drei Droschken. Der ersten entstieg eine schlanke straffe Frau in einfachem weißen Kleid. Sofort begann ihre Blondheit sonderlich in der Sonne zu leuchten. Ihr folgte ein großer Mann, der seinen Bauch steil vor sich hintrug und mit seinem Panama seinen riesenhaften Kopf halb verbarg. Die anderen Droschken luden noch einige Herren und Damen aus, an denen nichts Besonderes zu sehen war. Der Dickbäuchige grüßte herauf. Die straffe Frau ebenfalls. „Wir sind da, Käpten! Sie können fahren!“ rief der Dickbäuchige. Dann stellte er sich an die Spitze der Gesellschaft, hielt die Hände wie eine Trompete an den Mund, und während er den wippenden Holzsteg heraufkam, blies er den Wilhelmusmarsch hinein. Die Damen und Herren folgten lachend. Der Kapitän sagte zu Peter: „Entschuldigen Sie!“ und war unversehens verschwunden. Der Dickbäuchige tauchte die Eisentreppe herauf und rief: „Käpten! Wo ist der Käpten?“ Er grüßte Pirath. Er lächelte ihn von ganz nah mit seinem großen geröteten Gesicht an. Aus diesem Gesicht sprang die Nase in einem scharfen Winkel heraus, wie eine geometrische Figur an einem krausen Gewächs. Dann stellte er sich, einen Augenblick erstarrt tuend, vor dem rothaarigen Leser auf. Der schaute flüchtig zu ihm hin, grüßte sanft errötend. Der Dickbauch drehte sich zu der straffen Frau um und sagte, indem er mit dem Daumen rückwärts auf den Jüngling zeigte: „Heut abend weiß er ihn auswendig.“ Sie fragte: „Wen?“ — „Den deutsche Gedankche in der Wällt!“ antwortete der Dickbäuchige in einem fremden gutturalen Deutsch. Er war ein Holländer.

Der Rote errötete wiederum und lächelte kühl. Er versank tiefer in sein Buch. Pirath legte sich mit dem Rücken an die Reling und schaute die schöne Frau an. Ob sie die Frau des Dickbäuchigen war?

„Soll ik Ihnen wat seggen, Herr Backhaus?“ wandte der Holländer sich wieder an den Lesenden. Dann bückte er sich nieder und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Jüngling lächelte kühl abwehrend und selbstbewußt. Der Holländer richtete sich laut gröhlend wieder auf. Er schaute Pirath an und tippte mit dem Daumen auf die Stirn. Der Jüngling erhob sich und ging, das Buch in der Hand, davon.

„Mrs., so sehen die jungen Manen aus, die sich heutzutage die Welt ankuken gehen. Dat is Chebrauch in die deutschen Kolohnjen,“ sagte der Holländer.

Da wußte Pirath, daß sie nicht seine Frau war.

Als das Schiff schon fuhr, kam der Obersteward zu Pirath und sagte: „Der Herr Kapitän bittet um die Ehre, Herrn Pirath bei den Mahlzeiten am Kapitänstisch zu sehen.“ Peter sagte: „Danke.“

Als er abends im Smoking in den Speisesaal kam, fand er, daß er zwischen dem Holländer und der straffen Frau saß. Der Holländer führte das Gespräch. Der Kapitän blieb diesen ersten Abend auf der Brücke. Der Holländer fragte Pirath nach seinem Reiseziel. Peter erzählte in Andeutungen. Nachher war es ihm, als ob der Holländer sich ein wenig um ihn bemühte. Aber er ging nicht ein auf Piraths Antwort, sondern trieb gleich das Gespräch auf die Erlebnisse des Tages in Genua zurück. Pirath erkannte in den andern Tischgenossen die Insassen der Droschken, die zugleich mit dem Holländer und der Frau am Kai angekommen waren. Er nahm sich vor, mit dem Holländer, der nach Sumatra zu reisen schien, bei erster Gelegenheit über seine Zwecke zu sprechen.

Pirath überlegte sich, was er seiner Nachbarin sagen könnte. Er fand nichts, und er genierte sich seiner Unbeholfenheit vor ihr. Er spürte, daß sie ihn öfter anschaute. Ihre merkwürdige Sprechweise fiel ihm auf. Sie sprach fließend Deutsch, aber mit einer fremden Aussprache. Er schnappte nach dieser Eigenart, um das anknüpfende Gespräch zu finden, legte sich einen schönen und gescheiten Satz zurecht. Aber als er ihn sagen wollte, fand er ihre Blicke wie wartend auf sich gerichtet, und das verwirrte ihn. Aus dem schönen und gescheiten Satz wurde die unbeholfene Frage: „Von wo sind die gnädige Frau? Darf man sich erkundigen?“

Sie antwortete mit einem, wie Peter schien, übertrieben höflichen und entgegenkommenden Lächeln: „Aus Tschikaügoü!“

Peter verstand nicht, aber er genierte sich vor der Schwierigkeit, sich den Namen deutlicher vorsprechen zu lassen, und er sagte: „So!“ Aber die Fremde nahm dann unversehens das Gespräch in die Hand und spielte wie mit einem Ball damit. Peter unterhielt sich unerwartet leicht, und er begann diese Gewandtheit, den klug ausnutzenden Verstand der Dame zu bewundern. Die Nachbarin verstand es, die Unterhaltung wechseln zu lassen, und Peter fand, daß sie gleichermaßen mit Humor wie mit der Fähigkeit ernster Rede ausgestattet sei. Aus ihren Gesprächen ging ihre Weltgereistheit hervor, und Berlin, Hongkong, Sydney, Neuyork waren ihr geläufig wie Hannover und Hildesheim dem Pirath. Da fühlte er, der so ganz seinen begonnenen Reisen angehörte, wie sie, die Vielgereiste, ihm überlegen war. Er sah jetzt in ihr etwas wie eine Führerin.

Das war, was Peter Pirath während des ersten halben Tages an Bord des „Bülow“ erlebte. Er gab sich wohl Rechenschaft darüber ab: Drei Menschen hatten sich ihm heut genähert, die straffe kluge Frau, der dickbäuchige Holländer und der Kapitän, und allen dreien ordnete er sich unter. Da tat er bei sich als der Schlaue. „Man muß aus allen Blüten Honig saugen!“ sagte er. Aber ganz im Innern gefiel es ihm nicht, daß er der war, der geführt werden sollte. Er war zu anderm ausgereist.

Nach Tisch saß Pirath mit dem Holländer in der Bar. Sie tranken schwarzen Kaffee, und Pirath bot dem Holländer eine seiner großen Zigarren an. Der Holländer schien sich auszukennen und sagte: „Oh!“ sehr erstaunt, diese Zigarre hier zu finden. Er brannte die Zigarre umständlich an. Dann versuchte er diskret Pirath zum Erzählen zu bringen. Peter aber dachte immer an die Klugheit seiner Tischnachbarin. Er fragte den Holländer: „Von wo ist meine Tischnachbarin?“

„O, die Mrs. Tschikaügoü? Aus Tschikaügoü!“

„Wo ist das?“

„Ich schreib Ihnen das Wort. Dann wissen Sie es!“ Er schrieb auf einen Zeitungsrand: Chicago. „Sie ist eine Deutsch-Amerikanerin, Mrs. Haug.“

„Sie ist sehr gescheit!“ sagte Peter.

„Sie ist eine reiche Witwe!“ warf der Holländer hin. „Ha, wenn man nicht verheiratet und so häßlich wäre ...“ Nach einer Weile sagte er noch und lächelte halb spöttisch dazu, halb anzüglich: „Aber Sie!“

Pirath erschrak. Er stotterte: „O, ich! ...?“

Auf einmal erschien ihm Ree. Er hatte nicht vermocht, diese Katze in seinem Bett zu halten. Wie sollte er jetzt die Welt erobern? Eine Stimmung von Niedergeschlagenheit und Zweifel verbreitete sich kleinmütig über ihn.

Der Holländer ging wieder dazu über, von der Reise zu sprechen. Er nannte als sein Ziel Sumatra und pries den Aufschwung, den diese Insel genommen hatte. Peter aber glitten die Gedanken fortwährend von Ree auf die blonde Amerikanerin über.

Als sie sich am nächsten Tag zum Essen begaben, fanden sie einen Unbekannten am Tisch. Der Fremde stand sofort auf, sobald jemand kam, verbeugte sich und sagte: „Hartmuth Hei, Schriftsteller und Tigerjäger.“ Er tat das auch beim Kapitän, der als letzter kam. Der Kapitän schaute ihn eine Sekunde verwundert an. Dann sah er durch den Saal. Unversehens stand der Obersteward an seiner Seite, bückte sich zu ihm nieder und flüsterte: „Der Herr hat sich einfach hingesetzt. Als ich ihm einen andern Platz anwies, sagte er, dieser Stuhl ist doch frei. Ich kann ja gleich da sitzenbleiben. Weshalb mich derangieren?“

Während des Essens erzählte Herr Hartmuth Hei ununterbrochen Abenteuer von Jagden, bei denen er sich heldenhaft benommen hatte. Bald war es einem Tiger in Indien schlecht bekommen, daß er Hei zu stark auf die Pelle rückte, bald mußte ein afrikanischer Löwe dran glauben. Hei sagte: „Vor einigen Jahren war ich im Innern Sumatras. Ich hatte Tigerspuren verfolgt, war an einen moorigen Fluß im Urwald gekommen und ein steiles Ufer hinabgeglitten. Ich sah am Ufer einen Stein aus dem Wasser ragen, wollte grad mit einem Satz darauf. Da hob sich der große Stein aus dem Wasser, hob sich immer ... immer ... ein rosarotes Loch erschien darunter und gelbe Stumpen, wie Kinderköppe so dick, und ich sah auf einmal, daß ich im Begriff gewesen war, in das Maul eines Hippopotamus zu springen. Ich ...“

„Seggen Sie, wie alt sind Sie?“ fragte grob der Holländer.

Hei blieb der Mund offen. Allmählich sagte er: „Achtunddreißig! Welche Frage!“

„Dann waren Sie acht Jahre alt, wie Sie das ... wie seggt man? ... Abentuur mit die Hippopotamus gehabt!“

„Wieso?“

„Weil ich dreißig Jahr in Sumatra leb und in dieser Teid ein Hippopotamus dort nicht gesehen wurde.“

Aber Hei entgegnete belebt: „Ha, gesehen wurde! Merken Sie sich, meine Herrschaften, gesehen wurde! Die Flußpferde sind allerdings rar auf Sumatra geworden, und ich dürfte der einzige europäische Jäger sein, der eins vor die Flinte bekam. Ich fahr fort mit meiner Erzählung ...“

„Dat is unnodig!“ sagte der Holländer.

„Weshalb, wenn ich fragen darf?“

Den andern wurde die Sache peinlich. Die Amerikanerin wandte sich auffällig an Pirath und begann ein Gespräch mit ihm über deutsche Frauen. Der Kapitän rief den Kellner herbei und studierte ausgiebig in der Speisenkarte. Der Holländer aber sagte ruhig: „Weil ick Ihnen dat segge!“

Hei zuckte mit den Schultern und wandte sich an seinen Nachbarn, einen deutschen Beamten, der als Richter in die Südsee reiste. Dem erzählte er das Abenteuer zu Ende. Der Richter hörte zu, als ob er zehn Kilometer vom Erzähler weg sich hinter seinen hohen Kragen verschanzte. Der Holländer verspeiste mit gutem Appetit, als ob er Hei nichts gesagt hätte, ein Tournedos. Er rief laut lachend einem Landsmann an einem Nachbartisch etwas auf holländisch zu, das niemand verstand. Hei horchte auf.

Man erwartete ein peinliches Nachspiel nachher an Deck. Der Kapitän heftete sich an den Holländer, um für alle Fälle bereit zu sein. Mrs. Haug sagte zu Pirath: „Seien Sie lieb, und laden Sie uns alle in die Bar ein. Den Jäger lassen Sie ruhig beiseit liegen. So was ist häufig auf Schiffen. Man muß sie immer zehn Meter vom Leib und natürlich einige tausend Kilometer von der Seele halten. Aber Mynheer Goed wollen wir von ihm entfernen. Kommen Sie, wir trinken Champagner.“

Diese kameradschaftliche Vertraulichkeit berührte Peter innig. Er wollte der Amerikanerin die Hand küssen. Aber dann sagte er nur: „Furchtbar gern!“

Als der Champagner eingegossen wurde, sah Hei von draußen zu dem Fenster herein, an dem der Tisch stand. Er streckte plötzlich seinen mageren Kopf weit vor wie ein Hahn durchs Fenster, so daß alle erschraken. Er rief: „Sieh da! Unser Tisch versammelt sich zu fröhlichem Tun!“ Dann kam er herein, schob einen Sessel zwischen Pirath und die Amerikanerin und bemerkte leichthin: „Sie gestatten!“ Nach hinten rief er: „Steward, einen Sektlutscher!“

Die Gesellschaft schaute sich betroffen an. Die Amerikanerin begann laut zu lachen. Der Kapitän rückte unruhig und peinlich berührt hin und her und warf lange Blicke auf den Schriftsteller. Der Holländer tat so, als ob niemand an den Tisch gekommen wäre. Der Richter versteifte den Kopf in den hohen Kragen hinein und sah den Kapitän an. Der Kapitän blickte wie nach Hilfe rund um sich. Hei neigte sich zur Amerikanerin: „Befleißigen sich die Gnädigste auch der hohen Jagd?“ Sie antwortete lachend und nebenbei: „Ja, auf sonderbare Menschen!“ — „Auch sehr interessant!“ machte Hei. Aber er war schon zu Peter hinübergeglitten: „Und in dem Herrn hab ich wohl einen Kollegen vor mir?“ — „Wieso?“ fragte Pirath, sich zurückziehend. — „Nun, die ganze Gestalt, das Exterieur, so wie die Muskeln übern Rücken gehen und die Brust herausgeweitet zwischen den Schultern sich wölbt. Sie könnten, parbleu! einem Nilpferd mit einem Ruck den Hals umdrehen.“

Pirath wurde ganz verlegen, als der andre seine Gestalt so beschrieb, und er errötete über und über. Er war nicht so kühn, zu Mrs. Haug aufzuschauen.

Aber während Hei mit Pirath sprach, hatte der Holländer sich zum Kapitän hinübergebeugt und ihm zugeflüstert: „Jetzt geht einer nach dem andern mit seinem Glas an die andre Tisch, in die Huk drüben!“ Der Kapitän lachte und sagte es weiter. Pirath sah, wie der Nachbar der Amerikanerin sich zu ihr neigte und wie sie lachend ja winkte. Der Holländer erhob sich, nahm sein Glas in die Hand und ging steif an einen andern Tisch. Da stieß der Richter Pirath an und flüsterte ihm zu: „Einer nach dem andern geht mit seinem Glas an den andern Tisch“ ... Der Kapitän stand auf und der Richter schloß sich ihm an. Als er weg war, sagte die Amerikanerin: „Herr Pirath, geben Sie mir Ihren Arm ...“ Sie führte ihn um das Deck herum, blieb dann stehen und schaute ihn an.

„Soll ich’s Ihnen sagen?“ fragte sie lächelnd.

„Bitte, ja!“ antwortete Pirath. „Was ist es denn?“

„Sie waren ganz rührend, wie er das von Ihren Muskeln sagte und Sie rot wurden ...!“ Und sie ließ ihren Arm mit einer zärtlichen Schwere in seinem liegen.

Pirath war verwirrt.

„Aber lieber Herr Pirath, sind Sie denn solch ein Kind? Wir sind Reisekameraden! Wir können uns doch sagen, was uns aneinander gefällt und uns bedeutsam aneinander zu sein scheint. Kommen Sie, wir gehn wieder zu den andern.“

Peter kam sich wieder als Schüler vor und versuchte seine Verlegenheit zu bemeistern. Sie setzten sich nebeneinander an den neuen Tisch. Sie sahen Hei allein mit dem letzten ihrer Tischgenossen in der andern Ecke sitzen. Der Holländer schimpfte: „So eene Wanz!“ Da erhob sich drüben auch der andre, flüsterte in die Luft hinein: „Verzeihung!“ und kam mit ernstem Gesicht graden Schritts zu den andern. Aber kaum saß er da, als Hei aufstand, sein Glas nahm und ebenfalls herüberkam. Er sagte: „Sie haben recht, meine Herren. Es zieht drüben. Und das ist in den Tropen Gift. Zugluft — schlimmer als ein Elefant, gefährlicher als ein angeschossener Tiger. Übrigens eine Geschichte von einem angeschossenen Tiger ...“

Hei saß wieder neben Pirath und wandte sich an ihn. Pirath drehte sich leicht weg. Aber das beirrte Hei nicht. Er begann: „Also einmal in Birma mit dem Maharadscha von Pnumpum war ich auf der Jagd ...“

„Wenn Sie fortfahren von die Jagdgeschichtchens, denn geh ich auch auf die Jagd!“ sagte der Holländer drohend.

„An Bord?“ lachte Hei. „Was wollen Sie hier erlegen? Mit welcher Waffe? Bitte?“

„Ich will ... hei Wanzen will ich erdrücken. Mit die Daumen ...“

Aber Hei rief hinein: „O, reden Sie nicht von Wanzen, Mynheer! Da war ich einmal drunten in Afrika im Dschungel ...“

Der Holländer lachte zum Kapitän hin: „Für solche Wanzen ist ein Küsten Kanon niet groot genug.“

„Na, aber wirklich!“ rief Hei erstaunt. „Sie kennen die Geschichte? Von der Wanze und der Kanone ...?“

Aber alle begannen zu lachen. Man bog sich hin und her vor Lachen. Goed wieherte, daß ihm die Tränen in die grünen Äuglein sprangen. Er brüllte: „Die ganze deutsche Kriegsmarin mit her an diese Wanz!“

Die Amerikanerin sagte leis zu Pirath: „Gehen wir.“ Der Richter und der Kapitän erhoben sich. Andre taten desgleichen. Man ging ein wenig herum und stellte sich draußen an der Reling zusammen. Der Windzug, der aus dem finstern Meer aufrauschte, spielte durch die Haare und Kleider. Auch Goed stand da. Auf einmal war Hei ebenfalls zwischen ihnen. Goed und Hei stellten sich zu Pirath, und es war ihm, als ob sie sich heimlich um ihn streiten wollten. Peter bemerkte das verwundert. Was wollen sie mit mir? fragte er sich. Dies ungleiche Paar! Der hungrige Schwindler und der imponierende, großmächtige Pflanzer!

Im Stuhl hinter ihnen an der weiß lackierten Wand lag der rothaarige Jüngling und las. Er hatte noch immer sein Buch mit dem klatschigen Deckel: Die Welt und der deutsche Gedanke. Pirath wollte den beiden entgehen, weil er sich über ihr Benehmen nicht klar wurde. Er setzte sich neben den Lesenden und begann ein Gespräch mit ihm.

„Sie lesen immer in diesem Buch?“ fragte er.

„Ja, gewiß!“ antwortete der andre.

„Ist es so fesselnd?“

„Nun wohl!“ sagte Backhaus. „Ich will mir mit deutschem Bewußtsein die Welt anschauen.“

„Und dann?“

„Dann übernehm ich das Geschäft meines Vaters.“

„In Hamburg?“

„Nein, in Kassel!“

„Das lernen die deutschen jungen Leute jetzt wohl von den Engländern?“ fragte Peter. „Zuerst umschauen, wie die Welt aussieht. Lehrjahre! Und dann erst zu Haus beginnen. Nicht wahr?“

„Das deutsche Bewußtsein erwacht jetzt!“ sagte der junge Backhaus. „Hätte es das früher getan, so wäre es besser um uns.“

„Nun, es geht uns doch nicht schlecht.“

„Aber falsch. So wie unser moderner Turnunterricht zu Haus die Glieder neu schult, so müssen wir auch den Geist, das Bewußtsein unsrer Persönlichkeit neu erziehen.“

„Das steht in diesem Buch?“

„Nein. Es ist mehr historisch. Schon das Ergebnis sozusagen.“

„Verzeihen Sie, Herr Backhaus, das ist mir unklar. Noch kein Geschäft, aber schon eine Bilanz.“

„Es handelt sich hier um höhere Dinge als Geschäft.“

„Aber Sie nannten doch als Endziel das Geschäft Ihres Vaters in Kassel. Meinen Sie denn nicht, daß, wenn uns das Geschäft in die Welt führt, eben dieses Geschäft das höchste der Dinge ist. Das Geschäft natürlich in der ganzen Atmosphäre einer deutschen Mentalität ...? Das Geschäft als Spitzenführer der Gruppe unsrer guten deutschen Eigenschaften. Anders wäre es doch wieder der alte verstaubte deutsche Stubengeist!“

Der Blonde machte: „Nun ja!“ Er strengte sich an, nachzudenken, und seine blauen Augen gingen unruhig hin und her und fielen dann aufs Buch und waren gleich still und besänftigt. Aber auf einmal, als Pirath schon dachte, er sagt nichts mehr, bemerkte er ganz ruhig und bestimmt: „Es nutzt doch alles nichts, bis der Krieg entscheidet!“

Der Holländer kam und nahm Pirath hinweg. „Wat seggt der deutsche Gedanke?“ fragte Goed. Pirath erzählte. Goed antwortete, ein wenig nebenbei: „Die Deutsche sind tüchtige Menschen. Aber ihr müßt eure Gedanke zu Haus lassen. Wisse Sie, was ist Welt? Welt ist Geld! Und nicht sich über ein Buch versammeln und mit dem Kopf drüber brühen, wie die Hühner auf die Eiern brühn. Tun! Das müßt ihr. Dann gibt es nichts Besseres in die Kolohnjen als der Deutsche. Aber diese Gedanke ... diese Gedanke ... Wenn ein Deutscher ein Loch in seinen Schuhn hat, dann denkt er zuerst über die Entstehung der Schuh nach, dann studiert he die Fabrikation von das Ledder in den dicke Buks ... Englishman — all right! Sie gehn nicht rundum in Gedanken, aber mit der Faust darauf zu.“

Pirath war ärgerlich, daß einer das deutsche Wesen so nicht erkennen konnte. Er antwortete gereizt: „Lassen Sie die Engländer gradaus auf ihren Pfeffersack und ihren Fußball zugehn. Wir sind Deutsche! Das ist etwas andres! Wir wollen auch in Geschäftssachen fühlen, wie uns das Herz schlägt.“

„Durchschnittlich siebzigmal in der Minut!“ lachte Goed, „wie bei die andern Nationen.“ Allmählich führte er dann, während sie zahllose Male ums Deck gingen, das Gespräch auf seine Pflanzungen auf Sumatra. Er erklärte, wie viel Möglichkeiten diese Insel noch berge.

Einmal sah Pirath, daß die Amerikanerin mit einem langen Blick ihm entgegenschaute, während sie so umhergingen. Er hätte gern mit ihr gesprochen. Aber er hörte zum erstenmal etwas, was seinem Unternehmen galt, und in Gedanken versuchte er fortwährend beim Pflanzer etwas von seinen großen Plänen anzubringen. Ein zögernder Instinkt befahl ihm aber vorsichtig zu sein, und da sagte er gar nichts, weil es ihm unehrlich erschienen wäre, mit halben Verdeckungen zu sprechen. Der junge Backhaus ging jetzt allein umher, das Buch unter die Achsel geklemmt. Der Tigerjäger stand im Winkel hinter dem Rauchzimmer und erzählte ununterbrochen.

Peter hatte seine Zeichnungen und Arbeiten über die Zentrifuge mitgenommen. Er dachte sich, die lange Schiffahrt ließe ihm vielfach freie Zeit, die er mit der Fortsetzung der Arbeiten ausnützen könne. Aber das sorglose und ein wenig planlose Hinundher, das Neue der Atmosphäre an Bord, die steigende Hitze hinderten ihn, voll und ganz an die Arbeit zu kommen. Er fühlte sich dann unzufrieden mitten in einer Anhäufung von Sorglosigkeit, wenn er so halb tätig, halb abschweifend sich über seine Papiere bückte. Es haftete auch ein feindseliger Geruch von Vergangenheit an diesen Blättern und Notizen. Ree entstieg ihnen, und allmählich bildeten sich die Empfindungen, die er aus ihnen empfing, stets zu dem einen Eindruck zusammen, daß in dem Land, das hinter ihm verschwand, in dem Leben, das anfing, ein wenig wesenlos hinter ihm zu werden, er versagt hatte, er jämmerlich unterlegen war.

Ein paarmal versuchte er dabei sich zusammenzuraffen. Aber dann lehnte er sich auf. Er gab sich damit zufrieden, daß er die Pläne der Zentrifuge in der bisher erreichten Form dem Bruder überlassen hatte, der sie dem Patentamt vorlegen und in der Fabrik einführen wollte.

Es kamen nun auch große, gemeinsame Ausflüge in den Häfen, die sie anliefen. Er fuhr mit Mrs. Haug, mit Goed und dem Richter nach Pompeji. Das war Ablenkung und Neues. Er wollte es ganz haben und befreite sich von allen andern Sorgen. Pompeji ließ ihn ohne Eindruck.

Als sie auf den Dampfer zurückgekehrt waren, sagte er der Amerikanerin: „Es sind Stumpen einer Stadt. Ich hab Ruinen nie geliebt, und diese haben nicht einmal das Malerische von Ruinen deutscher Burgen!“

Als sie ihm antwortete, ob es ihn nicht ergreife, daß Pompeji eine Stadt sei, die man nicht sterben lasse, sah er, in der Erinnerung, den Ausflug auf einmal mit andern Augen an. Sie standen abends an Deck zusammen, und er sagte ihr, wie richtig und schön ihre Bemerkung gewesen und daß ihm darnach erst der Sinn in das Trümmerfeld gekommen sei.

Sie bemerkte darauf: „Ich möchte mit Ihnen durch die Welt reisen!“ Und Peter fühlte sein Herz wärmer gehen, und es war ihm auf einmal, als täte es ihm wohl, die Asche, die in ihm lag, etwas zu entfernen und ihr zu zeigen, was drunter brannte. Denn so weit seine Heimat auch hinter ihm lag, aus seinen Adern war Ree nicht gewichen. Um nicht erzählen zu müssen ging er von der Amerikanerin fort und umwanderte ungezählte Male das Deck, während die Ladebäume knarrend arbeiteten und in der Tiefe auf dem Wasser in beleuchteten Kähnen Musikbanden neapolitanische Lieder fruchtbar machten.

Pirath ließ sein Leben hinter sich — und sein Leben war zusammengefaßt in den harten Schlag: Ree — als etwas, das unwürdig war. Nicht Ree war minderwertig. Aber er, er hätte sich nicht in diese Luft begeben sollen, er, der eine Energie war und doch sein Gemüt wie ein Moor in sich trug. Und da Ree keine Wurzeln in seinem Leben schlagen konnte, wucherte dieses Verhältnis auf seinem Gemütsleben wie auf einem Komposthaufen.

Die Amerikanerin schaute ihm unverhohlen nach, wenn er an ihr vorüberging. Sie empfand es nicht als eine Beleidigung, daß er sie hatte stehen lassen. Sie sagte sich: Es ist, als sei er irgendwo wund. Bei gewissen Dingen verliert er seine breite Ruhe und fängt an zu pendeln. Dieser Mann steht kurz hinter einem Erlebnis. Und als er wieder vorbeiging, sprach sie ihm leis für sich in den Luftzug hinein nach, der hinter seinem raschen Gehen sie streifte: „Es wäre süß, Sie zu lieben, mein Herr! Und von Ihnen geliebt zu sein, so zwischen Neapel und Hongkong.“

Das Schiff fuhr einige Tage ohne Unterbrechung durchs Mittelländische Meer. Der nächste Hafen war Port Said. Für Peter, den Unerfahrenen, entwickelte sich das Leben an Bord verführerisch sorglos und weich und bildete eine neue ungeahnte Realität, der er sich mit vollem Herzen hingab. Man plauderte, schaute, spielte, aß, trank, scherzte, die Welt lag fern um die Scheibe des Horizonts herum und konnte nicht über einen kommen. Selbst an Hei hatte man sich gewöhnt. Seine Aufdringlichkeit war manchmal nicht ohne Witz. Nur der Kapitän widersetzte sich. Wenn man ihm sagte: „Hei ist doch ein Scherz!“, dann machte er empört: „O, gehn Sie!“ und sprach von etwas anderm. Hei fuhr fort, Pirath aufzusuchen, und erzählte ihm wunderbare Jagdgeschichten, die Pirath nicht glaubte. Hei ließ dafür Pirath seine Getränke aufschreiben. Er log und schmarotzte sich im Kreis durch die Schiffsgesellschaft und versuchte, als niemand seine Jägergeschichten mehr hören wollte, mit einer geheimen Mission wichtig zu tun, die er nicht direkt, aber verdeckt im Auftrag eines großen Staates, der natürlich nur Deutschland sein konnte, unternahm. Dadurch leitete er den Zorn und das besondere Mißtrauen des Richters auf sich, der nach der Südsee fuhr.

Der Richter sagte zu Pirath, indem er vor Empörung rot wurde: „Das ist ein Schwindler!“

Der Holländer meinte: „Er wird nicht von Bord gehen, ohne uns weismachen zu wollen, daß er wegen seiner guten Flint Erbprinz von Johore wird.“

Die Amerikanerin vermutete: „Er wird nicht von Bord gehen, ohne versucht zu haben, uns alle anzupumpen. Und bei einem wird es ihm gelingen. Bei Ihnen, Herr Pirath, wo er anfangen wird.“

„Weshalb bei mir?“

„Er riecht den Neuling in Ihnen, den Reisedilettanten.“

Goed sagte: „So wie ich Bekenntnis von Ihne hab, Herr Pirath, geben Sie ihm Kredit bis zu drei Nulle!“

„Er wird sich schneiden!“ rief Pirath.

Der Richter: „Dem Schwindler! Bis zu drei Nullen?!“

Mrs. Haug: „Nein, nein! Nichts! Ich werde über Ihr gutes Herz wachen.“

Der Holländer löste die Aufregung in Lachen auf: „Mrs. Tschikaügoü als schützender Engel! Ik hab ja niet gesagt, daß auch noch ein Ziffer vor die Nulle kommt!“

Dann kam Hei.

Goed rief: „Hei, hei, schau, wer kommt wieder? Vertrau ik meine Augen, der Herr Hei!“

Der Hei lachte und sagte: „Mijnheer, Sie haben Augen, wie ein Boa-Constrictor-Jäger. Das ist eine Jagd. Gottverdomme ...!“

Herr Goed hielt beschwörend die Hände vor: „Bitte Jagd, nicht mehr Jagd! Man fühlt sich seinem Leben niet mehr seuker! Mit all Ihre Boa Constrictor, Tigers und rasende Elefants und dem Sumatra-Nilpferd. Ik lauf davon. Komme Sie mit, Mrs. Tschikaügoü?!“

Hei hielt Pirath am Jackenknopf fest: „Für Sie hätt’ ich was,“ sagte er, als die andern davon waren. „Es reisen so viele, die Jagdmärchen erzählen, daß einem ehrlichen Jäger, wenn mal einer kommt, niemand glaubt. Aber hier haben Sie’s schwarz auf weiß, mit Schrift und Kamera festgehalten.“

Hei zog eine alte Nummer der Woche heraus und schlug eine Seite auf. Pirath las: Moderne Tropenjagd von Hartmuth Hei. Hei drückte ihm die Zeitschrift hin. Pirath sollte lesen. Als sie sich später wieder trafen, fragte Hei: „Glauben Sie mir nun? Sie wenigstens? Auf Sie kommt es mir an.“

„Weshalb gerade auf mich?“

„Weil ich etwas Großes mit Ihnen vorhab.“

„Nicht möglich!“

„Ja, ich brauch nicht um Diskretion zu bitten, denn ich weiß, daß Sie’s machen, machen müssen, sobald ich Ihnen die notwendigen Aufschlüsse gegeben habe.“

„Ich warte.“

„Wir industrialisieren ein großes Jagdgebiet in Hinterindien.“

„Wer ist das: wir?“ fragte Pirath.

„Nun: Sie und ich. Hören Sie, Pirath. Da bin ich mit einem Maharadscha befreundet, einem Fürsten, einem König von immensen Gebieten. Aber der Nervus rerum, voilà, der ging ihm aus. Cherchez la femme. In seinem Harem hat er tausend Mächens, eins schöner als das andre. Das kostet sein Vermögen. Denn es müssen immer tausend sein und nicht nur aus Indien. Da sitzen die schönsten Europäerinnen drunter. Und er ist bereit, sein Gebiet zur Jagd zu verpachten. Es wimmelt von Elefanten, von alten Bullen mit Stoßzähnen, wie ein deutscher Eichbaum so dick.“

Pirath wollte ihn los sein und sagte: „Stoßzähne interessieren mich nicht. Dumdumkugeln noch weniger! Also ...“

„Still! pst!“ machte der Hei und hob den Finger. „Ich hab ja noch etwas in der Reserve. Weshalb wende ich mich denn gerade an Sie, an Herrn Peter Pirath, Mitinhaber der Firma Jens Pirath Söhne, unsere größten Kopraverarbeiter. O, ich weiß, mein Lieber. Tigerjäger und Schriftsteller! Mitarbeiter der Woche. Abgesandter der ... na, gehst du, Hei! Maul zu! Diplomatie! Ich weiß, wer meine Mitreisenden sind. Es gibt, na, raten Sie mal was? Es gibt in dem Fürstentum hinter den Bergen immense, unbekannte ... un...be e..kann...te! horchen Sie auf, Pirath, unbekannte Palmenwälder, sozusagen Palmenurwälder. Wir verbinden Stoßzähne, Kokospalmen mit den schlechten Finanzen des Haremkönigs Katipatituli und sind jemacht! Nun sprich, Freund! Wat seggst de nu?! Starr, was?! Un...be...kann...te ...“

Der Hei stand da wie ein Hahn neben einer Henne, der sich eben überlegt, ob er oder ob er nicht. Seine kleinen grauen Augen, die sonst verschwommen glänzten, hatten etwas Starres bekommen. Sie lauerten.

Peter überlegte sich rasch. Ganz wahr konnte es nicht sein, was Hei ihm sagte. Denn solche Palmenwälder warten wohl nicht auf Hei. Aber wenn auch nur etwas dran wahr wäre? Es lockte ihn, wenn er sich auch sträubte. Denn Hei war gewiß eine Art von Hochstapler. Hochstapler können auch einmal in ihrem bewegten Hinundher auf etwas Solides stoßen. Donnerwetter, Palmenurwälder in einem unbekannten Fürstentum! Hermann! Hermann! Das wäre was ... Dies Glück! Schon an der ersten Station!

Hei merkte, daß der Fisch um den Köder herumging.

Er schob ihn noch einmal vor: „Die Stoßzähne übernehm ich. Die Kopra Jens Pirath Söhne. Und vielleicht fällt etwas von den tausend Weibern zum Zeitvertreib auch auf uns, wenn wir droben sind.“

Er klapperte mit den schlaffen Augendeckeln und schlug sich auf die Schenkel.

In diesem Augenblick trat Mrs. Haug auf sie zu und sagte zu Peter: „Darf ich eine Sekunde Ihre Dienste beanspruchen, Herr Pirath?“ Sie führte ihn weg. Hei schaute ihr wütend zu und stampfte mit dem Fuß auf. Er schickte ihr ein unflätiges Wort nach und ging in die Bar, wo der Holländer Cocktails zum besten gab. „Ich schließ mich an!“ sagte Hei. „Vor dem Essen ist so ein Cocktailchen doch das Beste. Wie mischen Sie ihn? Scherry und ... was? ... ’n Schuß Gin! Famos! Aber solche Scherry-Cocktails wie es die im Haus des Gouverneurs von Waßmann in Deutsch-Ost gab, als ich dort mit Schillings im Tanganjika auf Krokodile jagte ...“

Der Holländer brüllte: „Halten Sie das Maul! Gottverdomme!“

Hei schaute ihn unentschlossen ein Weilchen an. Schließlich zuckte er mit den Schultern und bemerkte: „Da kann man nichts machen. Gesondheid, Mijnheer! Proscht, meine Herren!“

Der Barsteward lachte. Hei warf ihm einen giftigen Blick zu. Er sagte verächtlich: „Sie Bierganymed!“

Die Amerikanerin zog Peter ins Musikzimmer. „Was hat er Ihnen so Dringliches vorgeschlagen? Sie haben nicht einmal Zeit gefunden, nach mir umzuschauen ...“

Das sagte sie kameradschaftlich und selbstverständlich, ohne Koketterie. Pirath lehnte sich auf. Sie ist doch nicht meine Reisemutter! Ich fahr in die Welt, um Palmenpflanzungen für Piraths Söhne anzulegen und soll mich von Mrs. Tschikaügoü im Gehstuhl herumführen lassen.

„Jetzt lehnen Sie sich gegen mich auf!“ sagte unvermittelt Frau Haug.

Peter antwortete einfach: „Ja!“

„Nein, lieber Freund, das ist nicht recht. Ich bin eine sehr erfahrene Frau und vielleicht ein wenig gescheiter als Sie intelligenter Mann, und herumgekommen ...“

Pirath grollte hin: „Auf einen Hei fall’ ich, trotz meiner Unterlegenheit, doch nicht so ohne weiteres herein!“

Sie sagen selber: „Nicht ohne weiteres! Das bedeutet doch, daß Sie ihm zugehorcht haben. Daß er etwas sagte, was Sie beschäftigt.“

„Ja!“

„Er ist aber durch und durch ein lumpiger Schwindler. Ich kenn’ ihn. Ich hab ihn auf Sumatra gesehn, und er kennt mich auch. Er ist frech wie Gassendreck. Zu tun, als ob wir uns nie gesehen hätten. Dort hat er in einem Haus schmarotzt und hochgestapelt, in dem ich verkehrte, bei einem Tabakpflanzer. Alle seine Jagdgeschichten von Sumatra sind Feuilletonerfindungen. Und mit Ihnen hat er nichts anders vor, als daß er Geld von Ihnen erschwindeln will.“

Sie sprach zum Schluß ganz heftig. Das reizte Peters gekränkten Ehrgeiz wieder auf. Er sagte spöttisch: „Ich danke Ihnen für Ihre mütterliche Vorsorglichkeit.“ Bei sich: „Wie wird sie so heftig! Als ob sie eifersüchtig wäre, daß ein andrer Mensch mit mir in Berührung kommt. Hat sie mich vielleicht gepachtet?“

Das Gespräch verlief in Mißstimmung. Als Pirath ging, lächelte die Amerikanerin ihm herzlich nach. Er ist lieb; der Riese ist wie ein Kind. Aber dann faßte sie der böse Gedanke, was die Welt wohl aus diesem weichen Mann machen mochte, der ausgezogen war, sie zu erobern. Denn sie kannte das Erbteil des alten Piraten Jens an ihrem Freund noch nicht. Die fatale Energie!

Der Hei bemächtigte sich Piraths, sobald es ihm möglich war. „Nun? Überlegt?“ schnauzte er ihn an. „Der Holländer dürfte auch zugreifen wollen, wenn er’s wüßte.“

Hätte das Gespräch mit der Amerikanerin nicht stattgefunden, so wäre Pirath dem Hei ohne weiteres über den Mund gefahren. Er hätte ihm gesagt: „’n Buckel runter!“ So fand er es selbstverständlich, mit Gefahr und Schwindel noch erst ein wenig zu spielen.

M...m...! wiegte Pirath mit dem Kopf hin und her, als ob er halb zustimme. Der Hochstapler war aus seinem Beruf heraus ein Optimist. Er mißverstand drum Piraths M...m! und legte es so aus, daß der Karpfen zugebissen hatte, jedoch noch etwas gleichgültig tat, um zu verbergen, daß er schon an der Angel hing. Der Karpfen tut schlau! flüsterte der Hei sich wonnig zu. Ich werde ihm eins hinter den Kopf geben, dann vergeht ihm die Schläue. Laut sagte er zu Pirath: „N... ja! Also nein oder ja! Oder der Holländer! Aber eins vorausgeschickt. Als Provision bekomm’ ich vor dem Nachtessen zehn Blaue. Sonst bleibt der Maharadscha Katipatituli, der natürlich nicht so heißt, in seinen Finanzschwierigkeiten zwischen seinen tausend Weibern in Hinterindien, wo natürlich die Palmenwälder nicht liegen. Also Pirath, zeigen Sie, daß Sie ein großer Kaufmann sind, ein echter moderner Deutscher. Verhindern Sie, daß diese Geldquelle in ausländische Hände fließt. Prr, zugegriffen! Der Auerochskopf hängt mit gebrochnem Genick in Ihren Muskeln.“

Sieh, sieh! Der Hei ist sicher! Und wie er frech geworden ist! Es kam Pirath nun humoristisch vor. Er dehnte die Geschichte aus und meinte: „Lieber Herr Hei, es ist eine große Sache. Viel Geld! ’n bisken viel Geld! Wieviel gedenken Sie hineinzulegen ...?“ Hei schaute ihn sonderbar an ... „Nun sehn Sie, ich weiß. Sie sind der Kopf, die einführende Energie ...“ Hei nickte mit aufleuchtenden Augen. „... Wie gesagt, viel Geld! Da Sie aber nun glauben, Herr Goed möchte auch, so wollen wir ihn doch einfach hinzuziehen. Mit seiner Finanzkraft und kolonialen Erfahrenheit! Die Größe des Objekts verträgt zwei Nationen ...“

Hei legte Pirath heftig die Hand auf den Arm: „Still! pst!“ sagte er und klappte einmal mächtig mit den schlaffen Augendeckeln über seinen grauen verwischten Augen. „Der Holländer möchte. Schauen Sie mir in die Augen, Pirath, Hand her! Diskretion! — Der Holländer ist ein Schwindler!“

„Wa...as?“ fragte Pirath.

„Ehrenwort! Ich kenn ihn. Ein Schwin...dler! Er tut großmächtig an Bord. Wollen sehen, ob er in Penang seine Zeche bezahlen kann ... Auf Sumatra ...“

Aber Pirath lachte Hei laut ins Gesicht. So ein kleiner Betrüger, so ein hochstapelndes Wichtchen spuckt nach Mijnheer Goed, dem soliden, breitbeinigen, historisch aussehenden Pflanzer. „Hören Sie mal, Herr Hei,“ fuhr ihn Pirath an, „kennen Sie auf Sumatra ein Haus so und so ...?“

Da sah Hei melancholisch zu ihm auf: „Jugendsünden!“ flüsterte er ganz zerschmelzend. Aber plötzlich änderte er die Haltung. „Das haben Sie von der Amerikanerin. Pfui! Sie soll sich was schämen, einem Mann seine Jugendeseleien nachzurechnen. Gerade sie!“

„Weshalb gerade sie?“ fragte Pirath rasch.

„No, reden wir nicht weiter drüber. Eine Dame. Seien wir galant! Was hat diese ... Dame mit unserm Geschäft zu tun? Sie haben meinen Artikel gelesen. Die Aufnahmen beschwören sozusagen die Wahrheit. Sie können mir trauen. Zehn Blaue, und Sie erfahren als Erstes Namen und Lage der Palmenurwälder ... Ur...wälder! und des Harems mit den tausend Weibern, zu denen die Amerikanerin als tausendundeinte gehörte, denn ... pst, Hei, Maul zu. Tiger gehen dich was an, Stoßzähne! Aber diese Mrs. Tschikaügoü ...!“

Da sagte Pirath eisig, obschon es in ihm wie bei einem Erdbeben zuging: „Ich geb Ihnen die tausend Mark, wenn Sie den Satz zu Ende sprechen.“

Heis faule graue Augen wurden starr und die Augdeckel klappten wie ein verrückter Vorhang. Aber schon besann sich Peter, und eine brennende Scham überätzte ihn, daß er sich diesem Subjekt gegenüber so gehen gelassen hatte. Hei schien zu fürchten, daß der andre hinter sein Wort gehen könnte und beeilte sich: „Die Amerika ...“

Aber Pirath brüllte: „Seien Sie still!“ Er lief davon. Er ging in seine Kabine, legte einen Tausendmarkschein in ein Kuwert. „Der Hund bekommt das schöne Geld!“ sagte er. Er spuckte in das Kuwert hinein, bevor er es schloß. Dann klingelte er und sagte dem Kellner: „Bringen Sie das dem Schriftsteller Hei.“

Als der Kellner zum Weggehen die Tür öffnete, ging draußen die Amerikanerin vorbei. Peter starrte auf die Tür, sah in ein einsames, üppiges, von Palmen umstandenes Pflanzerhaus, an dem alle Jalousien tief versperrt waren und hörte eine bekannte Stimme drin. Er schüttelte sich wütend. „Was geht das mich an? Was geht das mich an?“ fragte er sich gequält und zornig.

Beim Nachtessen war er schweigsam und ließ seine Nachbarin allein reden. Plötzlich sagte sie: „Sie antworten mir kaum. Seien Sie doch nicht so unhöflich!“ Pirath befleißigte sich dann eines spöttischen und erregten Entgegenkommens, das sie mit fragenden Blicken erwiderte. Als das Essen vorbei war, setzte er sich eine lange Weile in seine Kabine und rauchte dort seine Zigarre, statt der Gewohnheit nach ins Rauchzimmer zum schwarzen Kaffee zu gehen und zwischen seinen Tischgenossen zu sitzen. Später stellte er sich vorn am Schiff einsam an die Reling. Er stand eine Weile da im vollen Licht einer Decklampe, da sah er von hinten den dicken Holländer mit wackelndem Bauch heranlaufen; mit kurzen, hastigen, durch die Kleider behinderten Schritten folgte ihm Mrs. Haug. Als Goed bei Pirath ankam, rief der Holländer ganz außer Atem: „Weten Sie, wat Mrs. Tschikaügoü gesagt hett! ‚O, der Herr Pirath sind ein so schöner Mann!‘ Dat hat sie gesagt!“

Er lachte Mrs. Haug an, die wie wartend straff stand und vom Laufen erregt atmete. Goed rief: „Seuker, dat haben Sie gesagt! Zu mir!“ Pirath wurde über und über rot und warf ihr einen empörten Blick zu. „Plump wie ein Amerikaner!“ sagte er für sich. Sie aber stieß mit dem Fuß auf und ging davon. Goed sagte zu Pirath dann: „Kommen Sie mit in die Bar! Ick wünsche Ihnen etwas zu zeigen!“

Sie gingen. Sie setzten sich allein an einen kleinen Tisch. Goed zog aus der Tasche ein Pack Papiere, breitete eine in farbigen Flächen zusammengesetzte Karte aus und zeigte Pirath die grünen großen Flecken: „Die gehören meiner Maatschappij. Und die gelben gehören Ihnen, wenn Sie wollen. Sie sind uns vorge... wie sagt man ... gezeechnet! Grün ist Rubber und Gelb hat alte Kokonutbestände, die man vergroteren kann. Sie, Herr Pirath, sind niet wie soviel Deutsche, wie der Herr Deutsche Gedanke! Sie lesen! Sie greifen zu. Die Welt ist Geld!“

Unvermittelt fragte er, was Hei ihm am Vormittag gesagt hätte. Peter erzählte es. „Schwindler!“ antwortete Goed. Mehr sagte er nicht. „Aber dies ist gut, exzellent. Deli-Sumatra wächst, Atjeh Co. prima, prima!“

Pirath schaute die Karte an. Hier bot sich ihm Ernstes, das wußte er. Goed war ein Ehrenmann. Die holländischen Kolonien genossen, seitdem der Kautschukschwindel vorbei war, den besten Ruf. Sonst ließen nicht England und Amerika ihre Kapitalien dorthin fließen. Goed bemerkte auch: „Rund um uns warten Engländer und Amerikaner. Sie overstromen, overschwemmen das Land mit Geld! Da ist es der deutsche Gedanke, zuzugreifen, vorzukommen, mitzukommen. Herr Backhaus aber leeset nur.“

Pirath sagte: „Man müßte sich das anschauen, natürlich!“

Da begehrte Goed auf: „Verdomme! Wat anschauen! Wer hat Bekenntnis von die Geschäftsdepeschen, die in Kolombo liegen? Schauen Sie sich die Hochöfen und die Minen von Rote Erde an, wenn Sie Aktien darvon koopen? Dat is eene Maatschappij. Man setzt auf sie. Man setzt nicht auf sie. Ça dépend du goût.

„Oder von der Vorsicht!“ lachte Pirath.

„Mit Vorsicht hat noch niemand nichts gemacht!“

„Und ohne Vorsicht sind viele schon hereingefallen.“

„Oder reich geworden!“

Da sah Peter im dunklen leeren Raum des offenen Fensters vor sich das helle blonde Gesicht der Amerikanerin. Es schaute nicht herein, sondern war in die Fahrtrichtung des Schiffes gedreht, der Wind schlug fest auf das Gesicht, das im Licht des Fensters stand, es schaute etwas aufwärts, es kniff die Augen in dem heftigen Luftstrom fest zu, und der Wind blies die blonden krausen Haare wie Schaum rückwärts. In der weißen Seidenbluse strafften sich die Brüste. Sie stand plötzlich da, voll Leben und doch wie eine Erscheinung.

Pirath antwortete dem Holländer zerstreut: „Nun ja, es muß aber doch nicht gleich sein.“ Goed sagte ruhig und nebensächlich: „Aber neen, aber neen! Eine gode Sache! Aber lassen Sie sich ein Rat gewen von einem erfahrnen Ostasiat: Ihr Deutsche hättet die Welt in die Handen, aber ihr seid niet couragiert. Ihr leset den Deutsche Gedanke in der Welt und wisset niet, wi ist die Welt. Der Herr Backhaus draußen vergißt über seinem Buch, sich die Welt anzusehen. Ganz zu hinderst in die Kopfen, da spielt sich das Leben af für die Deutsche. Ich bin erfahren. Herr Pirath, gehen wir bisken an die Luft!“

Peter sah die Amerikanerin nicht mehr. Der junge Mann mit der knotigen Gestalt und dem flaumigen Teint lag in seinem Stuhl und hielt das ewige Buch aufgeschlagen vor sich hin. Aber er schaute in die Finsternis. Dort donnerten die Wogen, die am Steven zerbarsten.

„Er sieht aus nach dem deutschen Gedanken in der Welt!“ sagte Goed.

Hei lehnte mit andern an der Reling und sprach. Pirath schaute nicht hin. Er schämte sich. Er ging bald zu Bett. Er war heut unzufrieden und gequält. Ree stieg so oft aus seinen Gedanken auf und wechselte plötzlich, wurde blond und drückte die Augen fest im Wind zu. Dort flatterte ein Tausendmarkschein. Heis schlaffer Augendeckel klappte danach wie ein Froschmaul und schlug ihn aus der Luft herab in seine Hosentasche. Peter schämte sich. Er fand keinen Schlaf und ging aufs Deck hinaus.

Es waren noch viele Reisende auf. Morgen lief der Dampfer Port Said an, und die meisten verließen dort das Schiff. Peter legte sich in seinen Stuhl, schloß die Augen und stöhnte auf. Da sagte eine Stimme neben ihm in der Dunkelheit:

„Sind Sie bös auf mich?“

Pirath schrak auf. Die Amerikanerin saß neben ihm und schaute herüber. Ihre hellen Augen und ihre blonden Haare leuchteten in der Finsternis.

„Sie mißverstehen mich. Sie kennen keine Menschen, die viel reisen, denen das Reisen Heimat ist und die darum sich leicht zu andern Menschen stellen, leicht und oberflächlich, und Dinge sagen, die in Häusern zu sagen gegen den Geschmack verstieße. Seien Sie mir nicht bös!“ bat sie in herzlichem Ton und schaute ihn an.

In Peter zerschmolz die Verstimmung. Es kam über ihn wie eine Erlösung, und er sagte nur: „Nein, nein!“

Sie reichte ihm die Hand. Es fiel ihm auf, daß alle ihre vielen und reichen Ringe an den Fingern fehlten. Da drängte etwas Peter, zu beichten, daß er dem Schuft tausend Mark gegeben habe, um etwas über sie zu erfahren. Sie machte eine heftige Bewegung, faßte sich aber rasch, und Pirath sagte: „Ich ließ es mir nicht sagen. Ich bin davongelaufen.“

Beide schwiegen. Sie trennten sich dann versöhnt und herzlich zufrieden.

Am nächsten Morgen ankerte der „Fürst Bülow“ in Port Said. Mrs. Haug, Pirath, der Holländer, der Richter und ein fünfter schlossen sich zusammen, fuhren mit dem Expreß nach Kairo und wollten am Abend im Expreß nach Suez reisen. Dort erwartete der „Bülow“ sie. In Kairo mieteten sie zwei Automobile. Der Holländer stieß die beiden Herren unversehens in das eine, sprang selber nach, und das andere blieb für Peter und Mrs. Haug. Sie fuhren froh und gesprächig durch die Sonne zu den Pyramiden.

Als sie zurück nach Kairo sollten, sagte Goed zu seinen beiden Begleitern: „Ick sag jetzt dem andern Chauffeur: Go on! Die zwei werden sowieso niet viel auf unsere Geselligkeit halten. Wir haben noch Zeit auf den zweiten Zug nach Suez, und in Kairo gibt’s wat zu sehen, wat sich for eine Dame niet konveniert!“

Der Richter und der andere lachten. Es entging Mrs. Haug und Pirath, daß das zweite Auto zurückblieb. Sie erreichten den Zug, und Pirath sorgte sich um die drei Kameraden. Aber Mrs. Haug versicherte ihm, daß der Kapitän eben ein paar Stunden länger warten müßte, bis die Herren mit dem zweiten Zug kämen.

Sie gingen gleich in den Speisewagen und bekamen einen Tisch für sich. Der hastig gedrängte Tag war übervoll und schön gewesen. Sie fuhren bequem. Sie tranken Champagner zum Essen, und es war warm um sie. Es war ein milder, herzlicher Odem, der sie umfloß. Peter erzählte von zu Hause, von seinem Bruder und der Fabrik. Aber vor seinem Schicksalsschlag stauten sich seine Worte, und er ging drüber weg und erklärte ihr eingehend, was er in der Welt suchte. Er erzählte von Heis Angebot und sprach dann auch von den Gesellschaften Goeds und von dem, was Goed ihm darüber gesagt und zu lesen gegeben hatte.

„Ich kann nun natürlich nicht,“ sagte Peter, „gleich mit beiden Beinen in diese erste Sache hineinspringen. Aber es scheint mir sehr vorteilhaft, daß ich Herrn Goed traf. Solch ein solid fundamentierter Mann! Wissen Sie, wie ein historischer holländischer Pflanzer kommt er mir vor. Was meinen Sie: Es ist ein Glück für mich!“

Frau Haug antwortete: „Gestern hab ich Sie beleidigt, indem ich das zu Herrn Goed sagte. Ich will das gutmachen, indem ich Ihnen einen Rat gebe.“

Sie schaute Peter an. Er hob sein Glas gegen sie und wartete.

„Als ich Sie vor Hei warnte, da lehnten Sie sich gegen mich auf. Ich möchte nicht als eine fortwährende Verneinerin ausschauen. Wenn Sie wüßten, wie fest mein Leben auf ‚ja‘ aufgebaut ist! Sie dürfen hier draußen sich nicht anders unter Geschäftsleute begeben als mit der Auffassung: Sie gehen in einen Kessel voll Haie. Sie sind ein Neuling. Man weiß, was Sie wollen. Man kartelliert sich, um Sie zu verspeisen. Man feixt und ... kurzum, man freut sich auf den, nicht beleidigt sein! Dilettanten. Man will Sie in einem Hops nehmen. Und was Hei plump machte, machen andre mit erfahrenem Geschick und Sicherheit. Selbst die Frommen werden ihre Schnäbel nach Ihnen wetzen. Europa begann hier draußen als Pirat. Es bleibt, soweit es kann, bei dieser Tradition. Sagen Sie,“ lachte sie auf, „Ihr Ahne, der den Namen gab, kommt doch nicht etwa über Singapur oder Kolombo nach Deutschland?“

Peter lachte dagegen: „Einigermaßen schon. Aber was Sie sagen, ist mir doch nichts Neues. Mit diesem Wissen beginnt man ja seine Reise.“

„Lieber Herr Peter, ja, Sie wissen es. Aber wissen und anwenden sind sich fremde Dinge. Sie werden sehen.“

„Ich wende es nicht an? Wo hätte ich Gelegenheit gehabt, Sie zu dieser Ansicht über meine Handlungsweise zu bringen?“

Die Amerikanerin fragte unvermittelt: „Wieviel gedenken Sie in das Goedsche Unternehmen zu stecken?“

Peter überlegte: „Das kann ich nicht so sagen. Vielleicht dreißigtausend, vielleicht fünfzigtausend Mark. Mehr vorerst auf keinen Fall!“

„Sehen Sie, und diese dreißig, vielleicht fünfzigtausend Mark werden verloren sein, weil Sie Ihr Wissen nicht anwenden.“

Peter schaute sie fragend an.

„Ich weiß nichts von Goed!“ sagte sie. „Aber er hat die Manieren der Haifische von hier draußen an Ihnen gezeigt. Man überfällt nicht unbekannte Reisende mit Geschäften an Bord, wenn man nicht Hunger nach ihnen hat. Das gehört zur Bordpsychologie. Und man hat nicht sehr Hunger nach ihnen, wenn man hier draußen selber genug zu essen bekommt. Sie werden die Erfahrung machen, daß die Leute im Osten möglichst wenig von Europa heranziehen. Sie selber werden drum auch Schwierigkeiten finden, um Ihre Pläne durchzusetzen. Man wird Sie für einen Outsider halten und als solchen behandeln. Das ist hier nicht beliebt. Aus diesen Gründen trau ich Herrn Goed nicht. Surely, Master Goed is not a good man!

Dann schwiegen beide. Peter fühlte sich verwirrt von dem, was er gehört hatte. Er glaubte, was diese erfahrene und kluge Frau ihm sagte. Es stritt gegen alles, was er sich an seinem Unternehmen gedacht hatte. Brauchen sie nicht Geld, guten Willen, fremde neue Kraft draußen? Ich bring von allem. So hatte er sich sein Werk vorgestellt. Daß es Schwindler dort gab wie daheim, war selbstverständlich. Aber es mußte doch noch jungfräulicher Boden draußen sein, und den Ernsten und Starken müßte er willkommen sein.

Er überlegte sich das wieder und sagte es ihr. „Nun machen Sie mich unsicher,“ fügte er hinzu.

Da lachte sie und reichte ihm die Hand. „Das will ich nicht! Tun Sie, wie Ihr Inneres Sie leitet. Ich kenne Sie ja eigentlich nur von der Gemütsseite. Und Ihre sicheren Instinkte sind ja mehr als meine Erfahrungen ...“ Dann änderte sie die Stimme: „Weshalb haben Sie das Gespräch auf diesen Weg gebracht? Sie erzählten von sich und von zu Hause. Ist das nicht viel interessanter und näher? Denn was man auf den Reisen erlebt, sind nicht Menschen wie Sie, sondern bestenfalls wie der Richter. Wie Hei! Goed! Wenn sie auch verborgen lassen, was hinter ihnen treibt, so tragen sie doch den Geruch davon an sich. Pfui! Weshalb lebt man so?!“

Peter schaute sie heftig an und fragte: „Sie haben mir nie ein Wort von sich erzählt? Nie haben Sie mich nur ein wenig davon sehen lassen, was Sie so von Schiff zu Schiff treibt.“

„Es wäre wohl wertvoll für Sie zu wissen, was das sein mag?“ lachte sie.

„Sehr wertvoll!“ antwortete Peter ernst.

„Ich weiß. Sie bestachen ja sogar den Hei!“

Da hielt Peter ihr rasch die Hand hin: „Bitte nicht. Ich schäme mich. Und ich bin ja gleich davongelaufen.“

Aber es kam plötzlich etwas Dunkles in seine Laune. Seine Augen zogen sich einmal heftig zusammen.

Der Zug brüllte wild durch die Nacht. Die fremde Finsternis raste draußen feindselig zurück, und wie aufgescheuchte verwirrte Vögel flatterten die erleuchteten Fenster mit dem Zug durch die Nachtwüste. Peter fühlte, daß eine heftige harte Wehmut in sein Herz fuhr.

Die Amerikanerin schaute auch hinaus. Sie neigte ihren blonden Kopf in den Luftzug, der gleich rasend ihre Löckchen erfaßte. Ein heißer Atemzug war in dieser Nachtluft. Sie hatte halb das Zusammenzucken der Augen gesehen. Nun schaute sie dem Schatten Piraths und ihrem eigenen Schatten nach, die vergrößert und verzerrt in einem hellen, verschobenen Viereck neben dem Zug durch die Nacht flogen. „Dieser schöne starke Mann liebt mich!“ sagte sie sich. Auch ihr wurde ein wenig weh ums Herz. „Du rastloses Herz!“ flüsterte sie ihrem Blut zu, „sei still! Freu dich! Nimm solang deine Zeit ist.“

Peter griff auf das Gespräch zurück: „Ich hab mich noch nie über etwas so geschämt wie über diesen Augenblick!“

Da fuhr ihr Kopf aus dem Fenster auf: „Sie sind streng! Streng wie ein Mönch!“

Peter schaute nieder und antwortete: „Man ist ja auch so etwas wie ein Mönch. So einsam!“

„Ich frag nicht, ob Sie keine Frau finden oder gefunden haben. Denn ich glaube, es steht eine hinter Ihrer Strenge.“

Peter erschrak. Er wußte nicht, wie es zuging, daß auf einmal in einem Augenblick sein fatales Erlebnis wie ein Gewitter in ihm sich auftürmte. Seinen Lippen entfuhr der kleine ängstliche Schrei: „Ree!“ Die Amerikanerin sah ihn wartend an. Ihre hellen Augen waren groß geöffnet, waren auf sein Herz geöffnet. Ihre Hand kam ihm langsam auf dem weißen Tischtuch entgegen. Sie beugte die schönen straffen Brüste herüber, und ihr Wesen überkam ihn, überschwemmend, heiß, wie der Odem der Nachtluft draußen. Er preßte seine Hand ans Herz und schaute hinaus in die davonrasende Nacht, während er mit stockenden Pulsschlägen alles von jener unseligen Qualvollen erzählte, deren Blut er nie in seinem gefühlt und die ihn in die Welt hinaus gestoßen hatte. Und während er von jener erzählte, wußte er doch, daß er der Frau verfallen war, die ihm zuhorchte. Er war nicht so kühn, zu ihr aufzuschauen. Mit einem süßen Erschrockensein hielt er den Blick auf die hellen flatternden Fenster gerichtet, die unter seinen Augen brausend durch die Finsternis schleiften und in denen das vergrößerte Bild der Geliebten mit dahinschwebte.

So war sein erstes Erlebnis nach dem Schicksalsschlag wiederum ein sentimentales. Begreiflicherweise. Denn dafür war sein Gemüt durchgeackert.

Als sie nachher nach einer schweigsamen halben Stunde sich vor den Türen der Schlafwagenabteile trennten, drückte sie Peter zärtlich die Hand, und er beugte sich über die schmalen beringten Finger nieder. Er verletzte seine Lippe leicht an einem Stein und nahm diese kleine Wunde als eine fließende Quelle der Gedanken an sie mit in seine Nacht.

Am nächsten Morgen, beide hatten eine schlaflose Nacht hinter sich, begrüßten sie sich wie zwei, die von ihrer Kindheit an Freunde sind. Sie fühlten sich warm aneinander.

Der „Bülow“ war noch nicht in Suez, als sie dort ankamen. Sie gingen am Meer entlang. Peter nahm die Frau bei der Hand. Die Sonne stach hernieder. Ihre Gedanken und Vorstellungen waren verträumt und ermattet in die fließende Hitze eingehüllt. Auf einmal rief der Dampfer draußen auf der Reede. Sie fuhren hinüber. Sie erzählten, daß sich die drei Herren von ihnen in Kairo verloren hätten und daß sie gewiß mit dem zweiten Zug kämen. Der Kapitän machte ein unfreundliches Gesicht. Mrs. Haug sprach zu ihm. Er sagte: „Nun ja, wir sind unserm Fahrplan ja wohl etwas voraus.“

„Eilen Sie also nicht so! Alle Kapitäne haben das Fieber, Meilen zu schlucken!“ sagte Mrs. Haug. „Das mögen Sie nicht?“ lächelte der Kapitän, ganz diskret anzüglich. Bei sich schüttelte er den Kopf: „O, diese Passagiere! Diese Passagiere! Da hätte ich den Herrn Pirath doch für einen soliden Mann gehalten! Diese Passagiere!“ ...

Dann umwölkten sich seine Vorstellungen: „Um Gottes willen, hoffentlich wird kein Skandal an Bord daraus!“

Bald kamen die drei Herren. Der Dampfer fuhr weiter in die Hitze des Roten Meers hinein. Hei umschlich Peter mit einer anzüglichen Vertraulichkeit. Vom Maharadscha Katipatituli sprach er nicht mehr. Für die Amerikanerin hatte er eine untergebene Höflichkeit. Goed sagte auch nichts mehr von seiner Atjeh Co. Er suchte aber stets die Nähe Piraths auf.

Der Tag wurde brütend und schweißig. Aus geilem Dunst stieg in harter Blässe der Sinai zwischen blauen Bergen auf. Beschlagene Augen suchten ihn. Die Adern waren ermattet. Das Leben pochte in den Körpern wie verzweifelte Quellen unter einer Bodenschicht, die sie nicht durchbrechen können. Die Reisenden, die seit Port Said auf ein Häuflein zusammengeschmolzen waren, lagen tief in den Stühlen und sprachen wenig.

Pirath ließ verwundert diese niederschlagende Hitze durch seine Adern strömen. Er träumte dumpf aus ihr auf. Er lag in seinem Stuhl und sah in fernem Leuchten neben sich den weiß bekleideten Leib der Amerikanerin ausgestreckt ruhen. Das Licht versprühte auf dem weißen Linnen. Es lag um sie wie ein Glorienschein. Peter dachte in sich hinein. Ein Reif lag auf ihm, ein süßer schwelender, schwerer Reif. Der Schweiß sprang wie Springbrunnen, jeder aus einem Tröpfchen bestehend, aus der Haut. Ja, Hermann hatte ihn bis Frankfurt begleitet. Auch im Zug war es heiß gewesen. Und dann blieb Hermann zurück auf dem Bahnsteig unter dem Fenster des Wagens und schaute herauf. Die schwarze Halle tobte. Hermann schaute mit seinem kleinen dicken Kopf immer herauf, und wie der Zug anfuhr, sagte er herauf, immer nach oben: „Und vielleicht wächst eine liebe Frau für dich auf einem Dampfer. Aber bring mir keine Schwarze mit!“ kicherte er. Der Zug fuhr. „Peterlein!“ stotterte Hermann noch. Hat er denn nicht Tränen im Aug gehabt, der gute Hermann, der liebe? Keine Schwarze. Aber eine liebe Frau. Sie wächst auf einem Dampfer. In Peters Brust türmte es sich auf: „Hermann, wenn ich dir die mitbringen könnte! Hermann! Hermann!“ flüsterte er.

Die Amerikanerin richtete sich auf und lachte ihn an. Sie erhob sich vom Stuhl und ging fort. Ihr Lachen blieb auf Peter liegen wie eine Umarmung. Er schlief unter ihr ein wenig ein. Er war müd von der schlaflosen Nacht im Zug und von der still stehenden saugenden Hitze. Er erwachte wieder und sah das weiße Kleid nicht. „Wo bist du?“ fragte er. Sie kam nicht, und Peter war unglücklich. Hei streifte heran. Peter tat, als ob er schliefe, und horchte, ob ihre weichen raschen Schritte nicht bald kämen. Hei setzte sich auf den Stuhl neben ihm. „Wünsche wohl geschlafen zu haben!“ sagte er, klapperte mit den schlaffen Augendeckeln und schlug sich auf den Schenkel, einmal mit der Rechten, einmal mit der Linken. „Wie war’s in Kairo? Sie ... Schwerenöter! Sie Glückspilz!“

Aber Peter hatte sich erschrocken umgewandt und horchte nicht hin. Die Maschinen stampften in fernem Takt in die Schläge seines Blutes. Der Trompeter trat aus einer Tür und blies zum erstenmal zum Nachtessen. Pirath erhob sich auf der Hei entgegengesetzten Seite aus dem Stuhl und ging in seine Kabine. Er zog zum erstenmal einen weißen Smoking an. Er fand, daß dieser Smoking aus feinem Pikee mit weißen Atlasaufschlägen ihn gut kleidete, und er dachte dabei kindlich an die Amerikanerin.

Die Amerikanerin erschien nicht bei Tisch. Peter ward unruhig. „Es fehlt dir nichts,“ sagte er in sich hinein, „nicht wahr, es fehlt dir nichts? Sonst wüßte ich’s! Aber ich möchte dich sehen, ich möchte deine Stimme hören und deine warme Haut riechen.“ Die Ventilatoren drehten mit dummer Eile unter der weißgoldenen Decke und verscheuchten die dampfige Hitze nicht. Peter aß nichts. Es lag tausendfach bedrängend auf seinen Sinnen. Er dachte: „Man sieht es mir an,“ und um abzulenken schimpfte er zum Kapitän hinüber: „Ah, die Hitze, die Hitze!“

Der Kapitän aber hatte ein Prinzip. An seinen Backen lief das Wasser herab. Trotzdem sagte er, wie verwundert: „O, es ist doch nicht so warm.“

„Es ist wie in einem Eiskeller!“ bemerkte der Holländer und fügte ein „Verdomme“ hinzu. Das herzliche Nußknackergesicht des Kapitäns lachte auf. „Vorbereitung auf die Südsee!“ meinte kühl der Richter, der trotz der Hitze den hohen Kragen nicht weggelassen hatte. „Jo, da werden Sie wat erleben!“ ermunterte ihn der Kapitän. „Das hier ist doch nichts ...!“ Aber alle wußten ja, daß das Rote Meer die heißeste Gegend der Erde war, weil die von den Wüsten ausgebrütete Hitze über die Wasser drang. Mijnheer Goed meinte zum Kapitän: „Es steht wohl in Ihre Instruktions, daß das Rote Meer niet heiß zu sein hat!?“

„Ist es denn wirklich so heiß?“ fragte mit unerschütterlicher Verwunderung der Kapitän. „Ich finde das nicht ...“ Er schaute der Reihe nach jeden an.

„Parbleu! so heiß allerdings, als wie ich in Abessinien drüben meinen ersten Löwen ...“ wollte Hei erzählen. Aber Goed fiel ihm ins Wort: „Parbleu! Lüge Sie niet! Niet in Abissinien da drüben war es so heiß. In Ihre Büxen war es noch heeter als jetzt, als Sie in St. Pauli in der Menagerie den ersten Löwen gesehen haben. So wolle Sie segge! Hein?“

Der Kapitän lachte mit vollem Mund. „M...m...m...“ Er konnte es nie ganz unterdrücken, daß jeder Hieb auf Hei ihm Spaß machte. Peter dachte: „Es ist furchtbar heiß draußen. Aber so heiß wie in mir ist es draußen nicht. Weshalb kam sie nicht?“

Das Essen ging vorüber. Was hinderte ihn, bei ihr anzuklopfen? Nein, das durfte er ja nicht. Vielleicht schlief sie. Was hinderte ihn, ihr eine Zeile zu schreiben? „Weshalb kommen Sie nicht? Sind Sie krank? Ich bin es auch.“ Er tat es nicht, weil er einem andern Menschen den Brief zum Überreichen hätte geben müssen. Er legte sich in seinen Stuhl. Heut ging niemand ins Rauchzimmer. Einige schlichen ein paarmal matt ums Deck, sanken eine Weile in ihre Stühle und verschwanden bald. Frühzeitig waren die Decks menschenverlassen. Peter hielt es nicht aus in seiner Kabine. Er zog ein Pyjama an, schleppte seinen Stuhl vorn in den dunkeln Gang, der auf dem Sonnendeck unbeleuchtet vor den stets geschlossenen Fensterläden des Kapitäns vorbeiführte und wie eine schmale Galerie an der Stirn des Schiffes lag. Ein ganz kleiner Luftzug war dort. Peter legte sich nieder. Die Hitze dampfte über ihn her. Er wälzte sich im Stuhl herum. Dann wie er ein wenig zum Schlafen kommen wollte, spürte er, wie ein Körper sich schwer auf seine Beine setzte. „He! he!“ rief er erschrocken. Der Unbekannte sprang auf und taumelte davon. Peter versuchte wieder einzuschlafen. Er knöpfte die Jacke vorn auf. Der Schweiß perlte auf seiner nackten Brust, die in der Finsternis grau leuchtete. Seine Hände strichen die Tropfen von der Haut ab. Die Haut war kühl. Sie war voll Wonnen kühl, wie eine Quelle im Teutoburger Wald. „Heimat! Heimat!“ stöhnte Peter. Aber aus Buchenwäldern und sanften Höhenzügen trat unversehens die Frau heraus, in ihn hinein, und er murmelte nur entzückt und verloren: „Du! Du! Du!“

Dann fiel er langsam ins Schlafen, immer wieder erwachend. Sooft er ein wenig zum Wachen kam, drang der Dampf der heißen Nacht auf ihn ein wie ein fremder Körper. Einmal erwachte er wieder. Er spürte den warmen Dunst schwerer auf sich liegen, ein Alp ... und hob abwehrend den Arm gegen ihn. Aber sein Arm kam nicht weiter durch die breiige Finsternis, er blieb an etwas stehen, und aus der Dunkelheit funkelte ihm ein weißes Gesicht zu und Augen glänzten nah über ihm. Eine weiche Stimme flüsterte sanft wie ein Maienhauch: „Sweet heart!“ Das Gesicht sank innig über ihn nieder. Er schloß die Arme und zog den blonden Kopf in der Finsternis an sich heran. Er fühlte die Hitze der fremden Haut seine nackte Brust benetzen. Die Nacht wälzte über ihn wie ein taumeliges Glück, und er drückte seinen Mund in die duftenden seidigen Haare. „Du! Du!“ Ein Kopf hob sich zu seinem Gesicht. Es flüsterte: „Süßes Herz mein!“ Er antwortete: „Du! Du!“ Die Nacht war süßeste Zauberei. Das Gesicht blieb lange weich über seinen Lippen liegen. Er ertrank in der rauschenden Seligkeit ... „Du! ... Süßes Herz mein ...! Wundernacht! ... Du! ... Nacht!“

Wie eine Flut umstieg ihn ein warmer Leib, den ein seidiges Gewebe so zart und duftend einhüllte, als sei er nackt, und der dann über ihn strömte, die Nacht selber und Ewigkeit war. Die maßlose Hitze fiel über sie wie ein verzaubertes Brautbett.

Keines sprach mehr ein Wort. Über dem Schiff fielen Sterne ins schwarze Meer, als ob das Firmament in die dunkle Erde verliebt sei. Fern und dumpf pochte der Herzschlag der Maschinen.

Als Frau Haug am nächsten Morgen an Deck erschien, lag Peter einsam über die Reling und ließ sich von der Hitze umstrudeln, wie vom Warten auf sie. Es war ihm, als spürte er sie kommen. Sein Blut schoß nach allen Seiten auf. Stechend zischte es in Brust und Augen, als suchte es irgendwo ein Ventil. Die Frau schob sich langsam neben ihm über die Reling, streifte ihn weich dabei und beugte sich vor, um ihm in die Augen zu schauen. „Geht es dir gut?“ fragte sie. Sie lachte glücklich. Peter stöhnte nur vor sich hin. „Soll ich jetzt denn wirklich weinen?“ fragte er. Er preßte die Fäuste auf die Schläfen. „Du, Kind!“ sagte sie, und ihre Hand zog ihm rasch die Fäuste vom Gesicht. Sie achtete nicht darauf, daß fremde Augen es sehen konnten. Da lachte auch Peter. Seine Wange haschte nach einer Berührung der sich entfernenden Hand, und er wollte ihr etwas zuflüstern, das in einem Laut die tosende Zärtlichkeit faßte, die sich durch ihn stürzte. Er fand nicht so rasch ein solches Wort, und seine Zunge bildete eins, willkürlich geschah es, nur ein Ton war es, der das Tiefste seines erregten Innern mit ihr verbinden sollte in diesem Augenblick. Der Laut wurde zufällig: „Ewe!“ Seine Ähnlichkeit mit Eva, der Weibesmutter, ließ Peter den Klang behalten, und zuerst in seinen Gedanken und dann auch im Gespräch nannte er sie stets Ewe!

Es geschieht auf Schiffen, daß man tage- und wochenlang neben Menschen reist, die einem so fremd bleiben wie die weltab liegenden hafenlosen Küsten, die die Fahrt streift. Und auf einmal stellt ein Zufall einen zum andern, ein willkürlicher Vorfall bannt die Augen von gänzlich fremden Menschen auf einige Sekunden zusammen, der Mund sagt ein höflich abgleitenwollendes Wort, und man wird aus dieser spielerischen Minute heraus Freunde. Hundert Menschen bedeuten auf dem Schiff einen ganzen Weltteil. In jedem einzelnen potenzieren sich darum die Bestandteile seines Wesens. Die guten und die schlechten. Man kann sich nicht verbergen. Und es ist nun auf den Schiffsreisen wie ein Ventil, daß man sich vor manchen Menschen gleichsam eine Tarnkappe aufsetzt und wochenlang so tun kann, als ob man sie nicht bemerkte und sie selber einen ebenfalls nicht sähen. Vielleicht beobachtet man sich sogar gegenseitig, aber man sieht sich nicht.

So erging es gegenseitig dem Paare Peter und Ewe und einem mitreisenden Ehepaar. Dieses mitreisende Paar war auffallend. Ewe sagte vom Bezirksamtmann Ledinski: „Er sieht aus wie ein blonder Adler. Ich glaube, er ist Offizier.“

„Er ist Bezirksamtmann in der deutschen Südsee, sagte mir der Kapitän. Aber schau die Frau einmal an. Sie fährt in die Südsee wie Deutschland, so blond, so strahlend ...“

„Weshalb sprechen wir nie mit ihnen?“

Und sie gingen trotzdem an Ledinskis vorbei, die auch ihrerseits manchmal sich über Pirath und Frau Haug unterhielten. Eines Abends war man dann beisammen gestanden und hatte die paar höflichen gleichgültigen Worte gesagt. Man grüßte sich von nun an, und es dauerte nicht länger als drei Tage, bis man sich freundschaftlich aufsuchte ... soweit das natürlich die Notwendigkeit des einsamen Beisammenseins von Peter und Ewe zuließ.

Denn die Glocke, unter der sie sich inmitten der Fremden bewegten, war aus durchsichtigen Unbegreiflichkeiten aus tändelnden Stimmungen verspinnender Melancholie und aus hastigen heißen Erfüllungen zart aufgesponnen.

Wie eine Sternennacht voll Glitzern, voll fließender Schatten, voll süßer und melancholisch rauschender Unendlichkeit staute sich die Zukunft vor Peter. „Ich will nicht wissen, was sie bringt!“ sagte er. Denn nach ihren Schiffskarten hätten sie sich in Kolombo eigentlich trennen müssen.

Die Hitze der viertägigen Fahrt durchs Rote Meer war unergründlich, war wie ein uraltes Moor. Man konnte Schauer vor ihr bekommen. Peter und Ewe lagen tagsüber, mühsam einander ferngehalten, unter ihr, in den Stühlen, wie in einem Pfuhl. Nur in der Nacht, die sie im Freien verschliefen, auf dem finsteren schmalen Gang, auf dem Sonnendeck, faßten sie nacheinander und beschenkten sich mit den ungebärdigen Zärtlichkeiten ihrer gestauten Sehnsucht.

In der dritten Nacht sagte die Frau zu Peter: „Ich fahr nicht weiter. Ich bleib mit dir in Kolombo! Wir wohnen zusammen im Gall Face Hotel am Meer. Wir lieben uns. Wir sind Mann und Weib!“

Und Peter erschauerte.

„Ich helf dir bei deinem Unternehmen,“ flüsterte sie weiter. „Wir fahren zusammen zu den Pflanzungen, wir mieten ein Auto für uns allein. Peter, es gibt Gelehrte, die sagen, in Zeylon habe das Paradies gelegen. Wir verlegen es wieder dorthin. Wir sind Mann und Weib.“

Und Peter ward trunken. Die schwere Nacht war voll keimender und brodelnder Dunkelheit. Der Takt der Maschinen rollte mit wogenden Stößen fern im Schiffsleib wie der Blutschlag alles Seins.

Am nächsten Morgen faßte der Holländer Peter am Jackenknopf. „Heda!“ rief er, „wo wohnen Sie jetzt? Ik seh Sie niet mehr!“

Pirath hauchte: „O, man zerschmilzt!“

„Wieviel Aktie soll ik Ihne denn notiere? Wir können ja gleich zum Wireleß Mann hinaufgehen.“

„In der Hitze wollen Sie drahtlos Aktien notieren!“ lachte Pirath ausweichend.

„An die Hitze müssen Sie sich gewönnen, wenn Sie Geschäftchens im Osten machen wollen. Sonst zerschmilzt Ihnen die Chancen vielleicht.“

Pirath genierte sich seines Zögerns. Aber er blieb fest im Vertrauen auf die Worte der klugen Ewe. Er sagte sich rasch: Selbst das Vertrauen auf sie in solchen Dingen ist mir etwas Süßes. Zum Holländer scherzte er: „Wir können die Chancen derweil auf Eis legen!“

„Auf Eis ist nur die Champagnerbuddel gut!“ entgegnete der andre.

Da schüttelte ihn Pirath ab, indem er burschikos hinwarf: „Mijnheer Goed, Sie wollen doch nicht im Ernst jetzt Geschäftstelegramme versenden. Lassen Sie mich ungeschoren. Ich seh nicht aus den Augen. Ich verdampf.“

Später erzählte er Ewe von dieser Unterredung. Sie sagte aber nichts dazu.

Am fünften Morgen erlöste ein Monsun die Reisenden des „Bülow“ von der Qual des Roten Meers. Der Monsun kam um die Ecke von Aden herum und rauschte über den Dampfer wie ein Wasserfall. Er ließ Kühle herniedersausen, Kühle und harte starke Luft. Der Dampfer bäumte sich gegen ihn auf. Die Menschen kehrten zu sich zurück, besannen sich auf sich selber, und das erste, was sie sahen, war, daß mittlerweile etwas zwischen ihnen vorgegangen war.

He, he, der Herr Pirath trinkt nicht mehr mit uns seinen Morgenschoppen! Sieh mal! sieh mal! Timotheus! Der Herr Pirath knobelt nicht mehr mit uns um die Getränke vor Tisch. Unglaublich! Dieser Herr hat die Schkatpartie gesprengt! Empörend ...! Aber was macht denn eigentlich statt dessen der Herr Pirath? Fühlen wir ihm ein wenig auf den Puls. Ho! ho! Hören Sie! Der Turnsteward hat gehört ... vom Gepäckmeister ..., der es von der Stewardesse hörte ..., Sie wissen, von der molligen mit die rote Haar ..., aber gesehen hat’s einmal, zweimal, viermal hi ... hi ... der Decksgast, daß ... der Obersteward hat aber auch schon ... hem! hem! ... schon dem Kapitän berichtet. Schweinerei! Schkandal! Mrs. Tschikaügoü! Frauenzimmer!

Der Schiffsarzt, der das Benehmen der Reisenden öffentlich zu besprechen pflegte, weil er dadurch seine Unabhängigkeit von der Kompanie zu beweisen glaubte, sagte: „Und von diesem Pirath einfach un...“

„Unkollegial!“ ergänzte rasch mit einem schnarrenden Lachen eine Stimme. Es war die des Amtmanns Ledinski. Er schaute den Arzt mit einem bösen und spöttischen Lächeln an. Der Arzt entgegnete diesen Blick ungewiß. Er verstand nicht sofort, was jener meinte. Aber am Ton merkte er, daß jemand ihm aufs Fell rücken wollte. Hinweisend fuhr er drum mit dem Finger den Durchzieher entlang, der seine hohe mongolische Backe wie ein Wappenschild zweiteilte.

„Bitte?“ fragte er.

Der Amtmann wandte sich aber ruhig und immer noch lachend weg.

Da errötete der Arzt.

Er hob plötzlich seinen blonden Kopf quer und wie ein Kahn in die Gesellschaft hinein, ohne eine bestimmte Person zu beschauen, und sagte laut und wie eine Drohung: „Es ist jetzt Mode geworden, daß die Kapitäne, die das Kreuz der Reserveonkels in der Flagge führen, dies weglassen. Weil sie sonst unter Umständen Forderungen seitens ihrer Schiffsärzte ausgesetzt wären.“

Dann schaute der Arzt mit sieghafter Bezüglichkeit den Richter und Hei an und gab sich damit zufrieden. Der Richter ging davon. Der Arzt sagte zu Hei: „Wissen Sie, weshalb der Onkel da aus der Südsee steigen wollte? Man hat sich mal erzählt, seine Olle habe zarte Beziehungen zu meinem Kollegen auf dem ‚Derfflinger‘ unterhalten. Seitdem kann er, scheint’s, nicht mehr von illegitimen Beziehungen reden hören!“

Hei klapperte und schlug sich auf die Schenkel: „Diese Schiffsärzte! Ihr Schwerenöter! Glückspilze! Weiber, wie mein Freund, der Maharadscha Katipatituli. He! Tausend Weiber! Der Maharadscha. Ich war auch nicht untätig da ... hö! hö! hö! ... So zwischen nem wilden Elefantenbüffel und ner Tigerkatze so ’n braunen indischen zahmen Braten von ner Prinzessin! Als Zwischengericht! Ha! ha! ha! ... Se gehn auf Weiße wie Stare auf die Kirschen.“

„Tju! tju! tju!“ grunzte der Arzt.

Hei: „Weshalb haben Sie sich nicht da ’ran gemacht? ...“ Er klapperte mit dem linken Auge zum Fenster hinaus, in der Richtung, wo Pirath und die Amerikanerin saßen und sich anschauten. Der Arzt zuckte mit den Schultern, zog die Mundwinkel herunter und lachte anzüglich in sich hinein, als wollte er sagen: „Du Schaf! Du Harmloser! Woher weißt du denn, daß ich nicht ...“

Hei warf seinen Hahnenkopf hoch und schmetterte ein Lachen in die Luft: „Da schau her! Auch in jenen Jründen jepirscht!“

Der Arzt sagte, indem er noch immer wie nachgenießend vor sich hinlächelte: „Darf ich mir erlauben, noch zwei Töpfe anfahren zu lassen.“

„Sie Doktor,“ näherte sich Hei, „Diskretion. Kennen wir auch!“ Er klapperte wieder mit dem linken Auge nach auswärts, wo die beiden Verliebten sich anschauten ... „Sumatra. Hab da mal ... Hei, behalt deine Liebesabenteuer for dich alleene! ... hö! hö! hö! ...“ lachte er breit und sagte sich zugleich: „Dieser blöde Schwindler von einem Kurpfuscher! Nicht einmal ihre Fingernägel hat er berührt ...“

„Tju! tju! tju!“ grunzte der Arzt und dachte: „So ’n Aufschneider! So ’n Lügner! Die Fußspitzen würde er sich ablecken ... das Schwein! wenn er ...“

Dann blies es zum Mittagessen, und sie sagten sich förmlich: „Mahlzeit!“ Hei fragte noch: „Wollen Sie Leibarzt bei meinem Freund, dem Maharadscha von Katipatituli, werden? Tausend Weiber! Keines mehr, keines weniger. Immer das Tausend voll! Das ist zu viel für ’nen einzelnen wie der Fürst, und der Arzt ist der nächste dran.“

Der Arzt winkte ab: „Danke für Linsen! Bleib daheim und nähre dich redlich! Bin froh, wenn ich von diesem Kasten mal runter bin!“

Hei sagte bei sich: „Bei dem Hungerleider ist doch nischt zu holen. Hundertfünfzig Mark Monatsgehalt und zwei Mark Weingeld am Tag, von denen er sich auf Einkäufe in Japan fünfundsiebzig Pfennige jeden Tag zurücklegt.“

Dann riefen sie sich noch einmal „Mahlzeit!“ zu und trennten sich mit gesellschaftlicher Verbeugung.

Pirath hatte sich nach Port Said eine Kabine geben lassen, die an einem kleinen überdachten Deck lag. Die Ochsenaugen der Kabine gingen offen auf dieses Deck. Sein Bett lag unter einem der Fenster. Als er am zweiten Abend, nachdem der Dampfer das Rote Meer verlassen hatte, seine Kabine aufsuchte, um eine Zigarre zu holen, fand er auf seinem Bett einen Brief liegen. Er nahm ihn in die Hand. Auf dem Kuwert stand sein Name, mit großen lateinischen Druckbuchstaben geschrieben. Er öffnete und las einen wirren Haufen von Unflat, mit dem ein anonymer Schreiber ihn und Ewe bewarf. Es war ein haltlos vergeiltes, ekelig kombinierendes Zeug, wie das kranke Erbrechen einer verfluchten Phantasie.

Peter war zuerst mehr erstaunt und erschrocken, als ungehalten und beunruhigt. Er erinnerte sich an den entlarvten Schmutzfinken aus der Fabrik. Bissinger hatte er geheißen. Der Name kam ihm auf einmal in den Kopf. Pirath knüllte das Papier, eine abgerissene Briefhälfte, wütend und erregt zusammen.

Da war ihm auf einmal, als ob ihm das Papier bekannt sei. Er riß es wieder auf, glättete es, hielt es gegen das Licht und sah einen Palmbaum drin, in dessen Kopf ein P stand. Das war das Wasserzeichen der Geschäftspapiere von Jens Pirath Söhne. Wie kam es auf den Dampfer? Pirath setzte sich aufs Bett und dachte nach, grübelte, erregte sich das Gedächtnis. Er fand keine Erklärung.

Er brannte sich eine Zigarre an und ging ins Rauchzimmer. Ewe saß bei Ledinskis. Er setzte sich zu ihnen, und Ewe fragte nach den Pflanzungen in der Südsee. Aber der Amtmann lachte mit seiner schnarrenden Stimme: „Mit Leib und Seele bin ich an meinem Platz. Aber verübeln Sie mir nicht, Gnädige, daß ich Ferien hab und sie ausgenießen muß! Das ist ein Prinzip bei mir: In Matantuduk Tag und Nacht zur Verfügung. Davon erhole ich mich in den Ferien!“

Frau Ledinski, die empfand, daß dieser entschlossene Ton, an den die Mitreisenden nicht gewöhnt waren, auffiel, sandte Frau Haug einen ihrer Blicke, die wie ein blauer See erstrahlten, und begann von ihrem Dasein auf der einsamen Insel zu erzählen.

Pirath achtete nur halb hin. Die Südsee hatte für ihn keine rechte Bedeutung. So klein! So Puppenkolonie! Man wußte nichts Rechtes von ihr, und er wollte höher.

Bald kam Goed und brachte den Obermaschinisten mit an den Tisch. Dieser war ein gut gekleideter und gepflegter Mann von etwa vierzig Jahren, von schwerem, weichem Körperbau. Er hatte ein Gesicht, das stets verbindlich lächelte und in dem die Nase sich vorn hob, als ob ihr Rücken zu kurz sei. Er hieß Bissinger. Da fiel Pirath plötzlich der anonyme Brief wieder ein: „Bissinger, so hieß auch jener anonyme Schmähhund aus der Fabrik,“ sagte er sich. Pirath hatte den Brief schon halb vergessen gehabt. Er wurde nun die peinliche Erinnerung an ihn nicht los. Goed horchte herablassend der Erzählung der schönen Frau. Dann antwortete er großsprecherisch absprechend, nannte Südsee und ihre Pflanzungen Käsebetriebe. „So viel Kaas, wissen Sie, von die rote, ronden, machen wir in Holland, wie Sie Kopra in der Südsee ...“ Der Amtmann sah ihn schweigend und mißtrauisch an. Seine Frau verstummte nach einem langen, messenden Blick auf den Holländer.

Als nachher Pirath in seiner Kabine allein war, fragte er sich: „Wer mag so etwas schreiben wie diesen Brief? Wer hat uns gesehen? Wer ist solch ein unglückseliger Dreckskerl? Hei? Ein Reisender oder ein Angestellter? Wer? Wer? Woher das Papier mit unserm Wasserzeichen? Ein Steward? Warum kümmert man sich um uns? Was geht das einen dieser Fremden an?“

Darauf war Peter noch mit Ewe zusammen, und die zwei Stunden, die einzigen, die sie im ganzen Tag für sich besaßen, erfüllten die Bedenken, ob er von dem anonymen Brief sprechen sollte oder nicht. Auch niemals waren so viele Menschen in jenen Nachtstunden über das schmale Sonnendeck gegangen, auf dem ihre Stühle standen. Es war, als ob das ganze Schiff keinen Schlaf gefunden hätte, weil das kleine Deck es magisch anzog. War ein Matrose hastig vorbeigesprungen, so folgte in weißer Jacke und dunkler Hose mit verweilenden Schritten ein Steward, kam langsam vorbei und machte einem Reisenden oder einem Ehepaar Platz, die vor den Nasen der zwei Liebenden eine Weile sich an die Reling stellten und ihre Rücken in der Dunkelheit leuchten ließen.

„Das ist aufregender, nichtiger, als gar nicht zusammen zu sein!“ sagte Ewe.

Peter streifte ihr Gesicht: „Ich bin unglücklich!“

Ewe: „Wir sind bald in Kolombo! Allein!“

Peter: „Und Mann und Weib!“

Ewe: „Ja, süßes Herz mein!“

Peter: „Du!“

Jeder ging in seine Kabine, sich Gewalt antuend, mit Schmerzen die begehrenden Blicke voneinander reißend. Und sobald sie einander verschwunden waren, stürzte, wie ein verfluchtes Tosen, die verlangende Verlassenheit, die Sehnsucht über sie hernieder.

Peter träumte in dieser unruhigen Nacht gegen Morgen einen entsetzlichen Traum um Ewe ... Er war mit ihr in einer dunstigen und zotigen Gesellschaft. Jeder faßte nach ihr. Sie quiekte auf, und er war todunglücklich und verdammt und weinte vergeblich. Aus einer Ecke dämmerte ein riesenhafter Gorilla auf. Der schlug mit den langen Fingern den Takt zu Peters Weinen und zu einem Tanz, in dem Ewe sich von ihm loslöste. Er sah, der Affe wollte Ewe haben. Der Affe zog die Nase hoch, so daß die Spitze in die Höh stand, als ob ihr Rücken zu klein sei. Er kam näher auf Pirath zu, immer näher. Er war kolossal wie ein Berg und war doch der Obermaschinist Bissinger, und kam heran wie eine Lawine. Pirath wich zurück. Er war wie angeschmiedet. Und der Affe fiel über ihn her und hatte ein Instrument in der Hand. Damit wollte er Pirath in den Mund fahren. Aber Pirath hielt sich den Mund fest zu und schrie hinter seinen beiden aufgepreßten Händen furchtbare tote Schreie, die keinen Laut annahmen.

Da stieß der Affe ihm das Instrument in die Nase. Es war mit Unrat gefüllt, und Pirath erkannte nun, daß es eine kleine Saugpumpe war. In einem verzweifelten Sprung warf er sich aus dem Traum; schweißgebadet, gemartert sprang er aus dem Bett und erinnerte sich plötzlich, daß er am zweiten Tag der Reise dem Obermaschinisten auf einem Briefbogen von Jens Pirath Söhne eine Pumpe aufgezeichnet hatte, die Pirath für die Arbeit an seiner Zentrifuge gebraucht hatte. Der Traum hatte dem anonymen Schmutzbrief Gestalt gegeben und zugleich die kleine Erinnerung mit aus der Tiefe aufgewühlt.

Pirath schrie: „Also der ...! der!“ Er lief im Schlafanzug auf das Deck hinaus. Es war schon hell. Die Wut drosselte an seiner Kehle. Ich schlag ihn! Ich stoß ihm die Faust ins Gesicht! rasch! hundertmal! Wie einen Kolben. Der Dreckskerl! Ich würg ihn, daß sein Schweineblut ihm aus der Nase spritzt! ... Pirath lief aufgeregt auf dem Sonnendeck herum. Ich geb dem Kapitän den Brief. Der Gesellschaft ... Nein, ich will nicht, daß Ewe in einen so dummen Schmutz gezogen wird. Es ist empörend! Man kann sich gegen so was nicht wehren. Was ist das denn für eine Welt! Gerade wie damals zu Hause. Dort eine Stadt. Jetzt ein Dampfer. Auch eine Stadt. Werden denn Menschen im Zusammenleben zu gemeinem Viehzeug? Alle die blöden Anspielungen dieser Tage! ...

Da kam Ledinski und blieb grüßend stehn. Peter gab ihm die Hand und sagte heftig: „Ich geh mit Ihnen auf Ihre einsame Südseeinsel. Da gibt’s keine Menschen!“

„Ja, ja!“ machte der Amtmann. „Weshalb sind Sie an so frühem Morgen schon so menschenfeindlich, daß Sie auf einmal die Insel so schätzen?“

„Ach, ich hab ... da! Lesen Sie! ...“ Er riß den Brief heraus, den er am Abend in den Schlafanzug gesteckt hatte. „... Ich bin so aufgeregt. Lesen Sie! Ist das nicht eine Schweinerei?!“

Der Amtmann las rasch und ruhig und gab das Papier zurück. Er zuckte mit den Schultern.

„Das ist das Leben an Bord!“ sagte er. „Man liegt sich zu nah auf der Haut und verträgt sich bald nicht mehr. Man hat keine andere Beschäftigung, als den Widerwillen zu pflegen, den man gegeneinander empfindet. Wenn das Geschwür aufbirst, dann geht das da, dieser innere Schmutz, mit auf. Zerreißen Sie den Wisch und vergessen Sie ihn.“

„Ja, das ist wahr,“ antwortete Pirath. „Ich zerfetz ihn ...“ Er riß das Papier in kleine Fetzen und warf sie in den Wind übers Meer. „Aber ich kann’s nicht vergessen ...“ Er schaute an sich herab. „Bin ich nicht mit Dreck besabbert? Ich fühl’ mich verunreinigt.“

„Seien Sie klug!“ sagte der Amtmann nur und zuckte die Schultern.

Daß ein Mann diese Angelegenheit so nebensächlich behandelte, beruhigte Pirath. Er sagte sich: „Wer weiß, ob es der Maschinist war? Er kann das Blatt abgerissen und fortgeworfen haben, und ein andrer nahm es.“ Daß nun keine leibliche Gestalt mehr hinter dem Unflat stand, milderte den Eindruck und schwächte ihn nach und nach. Zu Ewe sprach er nicht von dem Brief. Kolombo winkte schon. Morgen werden sie für sich sein, allein, Mann und Weib!

Es war einen Monat älter in der Welt geworden. Kolombo war morgen aus. Am ersten Abend hatte Ewe im Gall Face Hotel gesagt, als sie noch im Staubmantel und Hut war, und die Koffer, verschlossen und unbekannt, durcheinander standen: „Wir machen uns einen Monat zum Geschenk. Wir nehmen den Monat, der heut beginnt, und schauen und fragen nicht links, nicht rechts, nicht hinter uns, nicht vor uns und geben ihn unserm Leben. Gib mir deine Hand drauf!“ ... Dann erst packten sie aus und hängten ihre Kleider durcheinander in die Schränke.

Wenn Peter manchmal im Verlauf der vier Wochen sich um das zu kümmern anfing, wie dieser Beginn ihrer Zeit dauernd für sie werden sollte, so sagte Ewe lachend: „Laß dein deutsches Gewissen vor der Tür, wenn du zu mir kommst. Wir haben unsern Vertrag beim Einzug gemacht. Komm, wir gehen auf unsre Veranda und werfen es ins Meer ...“

Sie zog ihn mit, griff in seinen Kopf und warf das Gewissen hinab, wo die Dünung am Fuß von Palmen schallend und brausend mit dem Ufer kämpfte und der Sonnenleib stets eng und gewaltvoll auf der Erde lag, wie ein ungeheurer Begatter.

Sie waren in den vier Wochen viel ins Innere hineingefahren und hatten zusammen unermüdlich den Betrieb der Pflanzungen studiert. In langen Gesprächen waren sie mit ihrer noch frischen europäischen Straffheit nachher in ihren Räumen oder unterwegs im Auto das Gesehene durchgegangen und hatten Verbesserungen besprochen. Sie führten ein gemeinsames Tagebuch, in das Peter all ihre Unternehmungen und Gespräche gewissenhaft in einem Notizstil buchte. Oft vermerkte Peter zum Schluß etwa folgendes: Dies herausgefunden von Ewe, deren geschmeidige Klugheit mich Dummkopf melancholisch macht. Oder: Von dem ebenso gescheiten und erfahrenen wie schmalen und schönen Kopf Ewes entdeckt. Sie schrieb dann eine zärtlich spöttische oder verliebte Bemerkung dran.

Nach dem Nachtessen in dem maurischen Speisesaal, in dem in dieser Jahreszeit sehr wenig Gäste aßen und zahllose Maschinchen die Luftfächer umherwarfen, spazierten sie eine Weile am Strand. Der rothaarige Herr Backhaus wohnte auch im Gall Face. Er war der einzige Mensch, den sie hier kannten. Sie sahen ihn selten. Er ging immer zu Fuß, einerlei ob es kühl am Abend oder brühend am Mittag war. Alle Europäer fuhren in Rickschas, Pferdewagen, Autos ... Backhaus ging immer zu Fuß die roterdige und baumlose Esplanade hinunter, die das Hotel von der Stadt trennte, und die Eingeborenen schauten ihm geringschätzend nach. Ging das Paar an ihm vorbei, wenn er einmal in der Halle saß, so las er stets in seinem Buch. Sie sprachen selten mit ihm. Backhaus selber mied ebenfalls die Gelegenheit, mit dem Paar zusammenzutreffen.

Sie hatten eine kleine Flucht von Räumen gehabt, mehr als notwendig gewesen wäre. Aber sie hatten sich darin unbeschränkt gefühlt wie in einem eignen Haus, und wenn sie nachts vom Meer heraufkamen, drehten sie alle Lichter an und setzten sich in die offene Veranda, die sie dunkel ließen.

Dann begann ihre Nacht über sie herzubrausen. Aus des einen Blut toste es wie mit Untergang bringender Gewalt durch des andern Blut. Wasserfälle! Die Dünung des Meeres donnerte über ihre Nacht, als deckte sie sie vor der Menschheit zu. Es war dann zwischen ihnen, als ob zwei sich feindliche Klimas ineinander stürzten. Das geschah in Katastrophen, die in dunkeln Leidenschaften erdbebten und in denen die Lust vor Melancholie brüllend sang.

Kolombo war eine Zeit gewesen, die eine mühe- und hemmungslose Aufteilung zwischen Sehnsucht und Gewähren, Spannung und Traum, Arbeit und Gemüt in sich gefaßt hatte.

Morgen war sie vorbei.

Peter wußte, daß sie morgen vorbei sein sollte. Aber er nahm es leicht: Er glaubte es nicht. Er wußte, daß Ewe eine Schiffspassage bis Hongkong hatte und daß er selber noch auf Kolombo bleiben sollte. Aber er belächelte das. Bevor sie an diesem letzten Abend zum Nachtessen hinabgingen — Ewe trug ein Kleid aus taubenblauer alter chinesischer Seide, die mit Blumen und Vögeln in à-jour-Rändern durchwirkt war —, kam sie auf Peter zu, legte ihre Arme um seinen Hals und schaute ihn an. Nach einer Weile sagte sie lächelnd: „Morgen!“ Aber ihr Lächeln hatte etwas von der Härte eines Steins.

Peter lachte fröhlich auf: „Halt deinen süßen Mund!“ sagte er und zog sie mit zur Tür. Sie gingen eingehängt die breite Treppe zur Halle hinab. Es war noch eine Viertelstunde zu früh zum Essen, und sie setzten sich an eines der Tischchen im Fenster und tranken etwas. Ewe war von einer hektischen Gesprächigkeit. Peter fand sich jedoch nur wie unter dem Bewußtsein erregt. So ziehen sich hinter der Bergwand die Gewitter zusammen, die der Talbewohner nicht früher sieht, als bis sie sich über sein Haus entladen.

Da hörten die beiden auf einmal eine Stimme vor sich: „O well! Herrschaftchens! How do you do?

Sie fuhren erschrocken auf und sahn Goed. Er hielt ihnen seine beiden Hände hin.

„Noch immer in Kolombo?“ fragte er.

Ewe erholte sich zuerst und fragte dagegen: „Ich denke, Sie sind auf Sumatra? Fahren schon Luftschiffe über den Indischen Ozean?“

„Nein, Gott sei gedanken!“ antwortete der Holländer. „Die Steamer fahren schon viel zu schnell. Ich, Sumatra? Ja, wenn es niet Telegraphen gäbe! In Penang Depeschen. So ’n Stoß Depeschen! Go back Colombo. All right, me go back! Und so bin ik hier!“

Zugleich ließ er sich am Tisch nieder. Es kam ein kleiner Mann in einem sehr gut gemachten Flanellanzug herbei. Peter und Ewe kannten ihn vom Sehen. Er schien auch im Hotel zu wohnen, und er hatte, wo es ging, am Zeitungstisch, im Stiegenhaus, in den Verkaufsläden in der Halle, sich gegen Ewe und Pirath stets sehr zuvorkommend gezeigt, so, als wünschte er mit ihnen bekannt zu werden. Aber die beiden hatten aneinander genug.

Nun stellte Goed ihn vor: „Mein halver Landsmann, Herr Speecht aus Brüssel.“

„Wie ein Specht sieht er auch aus,“ dachte Ewe, und lächelte unter der Vorstellung, wie Name und Mensch übereinstimmten. Herr Speecht sprach beredt von ihrem häufigen Zusammentreffen, und er sei etwas unglücklich gewesen, daß sich die Bekanntschaft nie machen wollte. Jetzt sei er Goed außerordentlich dankbar, daß jener ihn solch netten Leuten zugeführt habe. Die Gesellschaft im Hotel sei augenblicklich sehr dürr. Amerikanische Kapitäne und mittlere englische Kolonialbeamten usw. Sie dürften es ihm nicht verübeln, daß er bei ihnen Anker zu werfen trachte.

Ewe sagte mit einem kurzen Lächeln: „Sie finden schlechten Ankerboden, Herr Speecht. Wir reisen morgen ab.“

Speecht war wie niedergeschmettert. Auch Goed entfuhr ein erstaunter Ausruf. Die beiden sahen sich rasch einmal an und waren unruhig. Dann ließ Speecht eine lange bedauernde Rede über sie strömen. Sie gingen zusammen zum Essen. Goed bot Ewe den Arm. Speecht schritt mit beflissenen Trippelschrittchen neben dem großen Pirath.

Er rief zu ihm hinauf: „Dieser Freund Goed sieht so aus, wie er ist: ein gutmütiger Riese, ein wohl fundierter, breiter holländischer Pflanzer, den dicken Bauch voll Aktien zu fünfzig bis hundert Dividende. Dieses Sumatra treibt ja Gold aus seinem Boden. Haben Sie gelesen, die Medan hundertzehn Prozent. Da muß man hinein in dieses Land! Goed hat eine große Nase, lieber Herr Pirath, aber auch eine gute. Dieser Geldriecher.“

Pirath sagte sich währenddessen: „Dieser Herr Speecht ist so außerordentlich liebenswürdig. Aber seine Freundlichkeit ist leimig. Weshalb ist er mir unangenehm?“ Er fragte: „Sind Sie auch in Sumatra engagiert?“

„Leider nicht genug. Aber ich hoffe, Goed zu benutzen,“ flüsterte er zu Pirath hinauf. Er lachte kindlich dazu.

Nach dem Essen hielten die beiden Peter und Ewe noch fest, und es wurde spät, bis sie sich trennten. Peter und Ewe waren mit widersprechenden Gefühlen bei ihnen gesessen. Oben lag der gemeinsame letzte Abend voll Drohungen in ihrem Zimmer. Sie fürchteten ihn, trotzdem Peter ungläubig über die Trennung war und Ewe stark zu sein glaubte.

Sie kamen dann hinauf und gingen nicht wie sonst auf die Veranda. Ewe sagte: „Ich will den Rest meiner Sachen noch einpacken.“

Peter lachte: „Du fährst ja doch nicht!“

Ewe über einen Koffer gebückt: „Ich hab doch die Passage!“

„Die hattest du schon in Genua. Sie läßt sich verlängern. Oder ich kauf auch eine für mich.“

Sie neigte sich tiefer: „Wo ich hinfahr, da wachsen keine Palmen.“

Ihre Stimme war nicht fest, als sie das sagte. Peter erschrak. Es war ihm, als stünde eine zweite Bedeutung hinter diesen Worten. Er sprang über die Betten auf sie zu und rief: „Wo du hinfährst, da bist aber du. Da brauchen keine Palmen zu sein.“

Er wollte sie an sich reißen. Aber er blieb mit einem Knopf am Fliegennetz hängen und begann sich eilig loszunesteln. Ewe trat von ihrem Koffer zurück und sagte: „Die Zeit ist aus. War sie nicht schön?“

„Schön?“ rief Peter und arbeitete noch immer am Netz.

„Peter, mit mir ist es nicht einfach. Peter, wir müssen uns trennen!“

Sie sagte das „müssen“ mit einer kalten Härte, und Peter wußte auf einmal, daß irgend etwas in dem Unbekannten war, das um diese Frau lag; etwas, das stärker war als er, als Liebe, als der vergangne Monat. Schauer fuhren über ihn nieder. Er zog den Knopf gewaltsam aus dem Netz, das krachend aufriß. Er blieb stehen und fragte mit einem Herzen, das bebte, zweifelte, hoffte und über dem der vergangene Monat sich plötzlich in einer geraden gefährlichen Wand zurückstaute, wie in einem Wunder das Meer vor den durchziehenden alten Juden: „Sehen wir uns wieder?“

Ewe schaute ihn an, eine Weile ohne Antwort, dann begann es in ihrem Gesicht zu arbeiten; sie versuchte sich zu meistern, aber bald fiel sie über den Koffer nieder und begann in wilder, verzweifelter Weise zu schluchzen. Peter stürzte ihr zu Knien und umfaßte ihren Kopf. Er wollte ihn, den sie in ihre Arme preßte und der im Weinen erregt auf und nieder schlug, zu sich heranziehen.

„Sehen wir uns wieder?“ fragte er noch einmal, und auch seine Stimme fuhr das Weinen an, daß sie schwer klang, wie ein zusammenstürzendes Gewölbe.

Da tönte es aus dem verborgenen Gesicht: „Ich kann nicht lügen. Nein, nie!“

Sie warf sich ganz über den Teppich, und ihr Körper flog in verzweifelten Zuckungen hin und her. Peter kniete vor dem Koffer, dumm und verlassen. Es regnete grau, niedrig, heftig. Der Wind raste in den Bäumen. Staub flog in Wolken durch die Luft. Die Erde hat kein Firmament mehr. Das war norddeutsche Rauheit in der Tropenluft. Peter schaute geschlagen vor sich hin auf die braune Fläche des Koffers, die ein roter Strich gerade und schroff durchzog, und in dem breiten blutroten Strich standen zwei Buchstaben und eine Nummer, und viele farbige Zettel klebten auf dem braunen Boden. Er sah sie der Reihe nach an und las, was auf ihnen stand, und verstand es nicht. Es waren Hotelnamen, Schiffe, Städte und Länder. Sein Gehirn ließ die Buchstaben nicht in sich hinein. Er las immer wieder, während Ewe nun ruhig weinend am Boden lag und sich an den Füßen eines Tisches anhielt.

Auf einmal nach einer langen Weile stand sie auf, wusch die Augen mit einem Schwamm und kam auf Peter zu. Sie setzte sich auf den Koffer und legte ihre Hände auf seine Schultern. Sie schaute ihn an. Er sagte kurz und rauh:

„Ich hab schon kein Glück!“

Sie aber erhob weich und herzlich ihre Stimme: „Ich weiß, ich tu dir mehr als weh. Du bist so und sollst nicht anders sein. Du bist mein großes deutsches Herz, und du wirst wieder stark sein, wenn ich davon bin. Nimm mich in deine Zukunft mit als ein rätselhaftes Herz, eine Mischung von Alt und Neu; von meinem deutschen Blut her hab ich Sehnsucht, und von meinem Vaterland her die Ökonomie des Gemüts.“

„Du hast mit mir gespielt!“ grollte Peter auf.

„O, nein, Peter, das hab ich nicht. Wenn ich lange von dir fort bin, dann wirst du in dir etwas von dem Guten, das du durch mich hast, klar erleben. Ich bin nicht gut, nicht schlecht, nicht leichtsinnig und nicht tugendhaft. Hinter mir steht ein sonderbares Geschick. Erlaß es mir, dir davon zu erzählen. Unsre Zeit wird dir reiner und lieber bleiben, wenn du von mir nur weißt, was du an mir erlebt hast.“

Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie unvermittelt und wild: „Und war das nicht gut und schön?!“

Peter legte sich ganz auf den Boden und küßte ihren Fuß, wo die Haut über dem ausgeschnittenen Schuh durch die Muster der durchbrochenen Strümpfe leuchtete, weißer als der Strumpf. Dann zog er seinen Kopf ruhig von ihrem Fuß weg, rundete die Arme über dem Koffer, legte das Gesicht hinein und begann schwer und verhalten zu weinen. Ewe strich ihm über den Kopf.

„Versteh, Peter, mein Geschick mache ich klar durch die Art, in der mein Temperament es überwindet.“

Mitten im Weinen sagte Peter: „Ich versteh nichts von dir. Ich hab dich nur lieb gehabt und lieb’ dich!“

„Und ich?“ fragte Ewe.

Peter richtete sich auf. Er hielt das Taschentuch an die verweinten Augen und stammelte: „Ich versteh nichts von dir ... Ich hab schon kein Glück! Ich wollte, ich wär zu Hause geblieben. Wie ist das Reisen so schwer!“

Er sprach fast nichts mehr. Er brütete in sich hinein, und in seinem Innern rollten Schmerz und Verlangen, Unbegreifliches und Groll durcheinander, eins im andern und jedes für sich. Die beiden Menschen legten sich schlafen, und in der ruhigen Dunkelheit stieg das innerliche Wühlen stärker und wilder in diesem geprüften Männerherzen auf; es wogte und balgte sich, stampfte und schrie wie Maschinen, bis allmählich eine unheimlich kalte, hartnäckige Ruhe alle innere Erregung in sich verzehrte. Diese Ruhe kannte er. Wie war es zugegangen, als er glaubte, er sei verloren, wenn er diese Ruhe aufgäbe, die seine Hände damals an den Tisch schraubte, zu Hause, an den großen schweren Schreibtisch. Sein guter dicker Bruder war gekommen und hatte eine kleine entsetzliche Sache erzählt. Und wie der gegangen war, der liebe kugelrunde Hermann, da ... So strömte die kalte Ruhe auch jetzt über ihn, so langsam und unaufhaltsam, ein Frost, ein Gletscher, dessen Eisigkeit ihn erstickte.

Das ging in der dunkeln Nacht in seinen Vorstellungen vor, und mit einem schleifenden Surren trieb der Ventilator irgendwo, und durchs Fenster fiel der eiserne Klang der Millionen Grillen. Peter wehrte sich gegen diesen Frost, der wie ein tötender Odem über sein Herz zu kriechen begann. „Ich will wild und heftig dies Leid über mich nehmen. Es soll nicht in mir erfrieren,“ schrie es in ihm. „Ich erfriere mit.“

Da hörte er, daß Ewe sich hochhob, und er spürte bald ihre Hand an sich, und ihre Stimme bat durch die Finsternis: „Peter!“

„Ach nein!“ sagte er bös, „du gehörst nicht mehr zu mir! Geh! Ich bin kein Maulesel!“

Die Stimme in der Dunkelheit sagte weich: „Doch, ich gehöre zu dir.“

„Ich weiß nicht, wer du bist!“ antwortete Peter heftig. Er sprang aus dem Bett. Die Kälte seines Innern war gewichen. Eine rasende Verzweiflung fuhr durch seine Adern. Er brüllte: „Ich will wissen, wer du bist!“

Er hastete nach dem elektrischen Licht und drehte es an.

„Wer bist du?“ schrie er noch einmal.

Sie schaute ihn nur an.

„Du sprichst nicht. Ich weiß, wie du heißt. Ich weiß, was dich von mir treibt. Ich fahr nach Chikago. Ich frag, schlag, schieß’ mich durch zu dir. Es ist mir alles einerlei. Ich bin an dich ... an dich verdammt. Ich bin verrückt nach dir. Chikago ...“ Er hielt plötzlich inne und fragte wie erstaunt: „Oder weiß ich denn deinen richtigen Namen?“

Sie antwortete nicht.

Peter wurde wieder heftig: „Sag, weiß ich denn deinen richtigen Namen? Du heißt nicht so und du bist nicht aus Chikago. Ach! Nichts weiß ich von dir! Du bist ein böser Geist. Du bringst Unglück auf die Erde.“

Da legte Ewe ihre Hand auf seinen Mund und sagte rasch: „Peter, hüte dich! Wir wollen nicht bedauern müssen, daß wir einen Monat auf Zeylon im Paradies waren.“

Peter schob ihre Hand weg und warf feurig hin: „Ja, Paradies! Du bist die Wiederkehr der Erbsünde!“

Ewe entgegnete ruhig: „Sünden sind Sünden, damit sie begangen werden.“

„Das ist verfluchter, weicher, unmoralischer Katholizismus!“

„Ich bin darin erzogen worden.“

Peter trat einige Schritte wie erschrocken zurück: „Ich fürchte dich. Ich bin keiner, der zu leichtsinnigen und flüchtigen Liebesgeschichten erschaffen ist. Ich bin ausgereist, um das Erlebte zu vergessen und um zu arbeiten. Du hast mich von meinem Weg gelockt. Jetzt bin ich da, wo ich in Deutschland anfing.“

Da sagte Ewe fest: „Das ist nicht wahr, Peter!“

Aber Peter hatte im Augenblick, wo ihm diese Worte aus dem Mund kamen, auch gedacht: Das ist nicht wahr! Und in einem plötzlichen heißen Umschwung wurde es weich und lind in seinem Herzen. Er wandte sich ab und sagte leise: „Nein, Ewe, es ist nicht wahr. Du warst mir Glückseligkeit. Ich hab von dir und dem einen Monat mehr gehabt als von meinen ganzen vergangenen fünfunddreißig Jahren.“

Sie bat ihn, er möchte sich wieder niederlegen. Er legte sich aufs Bett und nahm ihre Hand und küßte sie heiß und verehrungsvoll. Dann schob er sie unter seinen Kopf und schloß die Augen, um die Formen des verflossenen Glücks vor sich aufschreiten zu sehen. Ewe sprach sanft und leis zu ihm. Sie drehte das Licht aus. Sie ließ die Hand unter seinem Kopf liegen. Sie hörte, wie ungestüm vor den Fenstern die Brandung mit der Erde kämpfte. Sie hörte, wie die Grillen eisern in die Nacht hinein lärmten und wie der Ventilator fast lautlos rundum surrte. Sie wachte und dachte dran, daß ihr nichts so Schweres im Leben begegnet war, wie dies eine „Muß“ auf Kolombo, und das Blut strömte vor unglücklicher Zärtlichkeit zu der Hand hin, die den lieben schweren Kopf auf sich liegen hatte. Und währenddessen wälzten die furchtbaren Schicksale von Frauengenerationen durch ihre Gedanken, die in Deutschland, Kanada, auf einem der großen Holzwerke bei Chikago mitten aus dem kräftigsten und fruchtbarsten Frauentum von plötzlichem Verfolgungswahn hinweggemäht wurden, Schwestern, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter ... und verzweifelte Männer erschienen in den schrecklichen Gedanken und Kinder, die nur dem Fluch der Familie ihr junges Leben entgegenlebten, und die Absicht, als letzter weiblicher Leib dieser Rasse ein Ende zu setzen.

Währenddessen überwältigten müder Schmerz und weher Schlaf den Mann, und im Kopf, der auf der kleinen weißen Hand lag, zogen rohe, qualvolle Träume zu Hauf.

Am nächsten Abend war Peter allein auf Kolombo. Er ging, saß, lag, las ruhelos umher und fluchte seiner Einsamkeit. Er trank viel. Er wollte Goed suchen oder wenigstens Speecht. Aber keiner der beiden ließ sich sehen. Peter fragte unruhig immer wieder nach. Auf einmal, kurz vor dem Nachtessen, sah er Speecht eilig die Halle entlang herbeistürzen. Speecht setzte sich zu ihm, rieb sich die Hände und sagte: „Fein, daß Sie nicht abgereist sind.“

Peter sagte entgegenkommend, glücklich, nicht mehr allein zu sein:

„Mrs. Haug ist ja allein gereist. Ich bleib noch acht Tage hier. Hab noch im Innern zu tun.“

„So zu tun. Unangenehme Geschäfte im Osten. Aber die können Gold bringen. Übrigens, Herr Pirath, ich hab sie!“ lächelte der Kleine und klopfte auf seine Brusttasche.

„Was haben Sie?“

„Na, ich erzählte Ihnen doch gestern, Aktien von Goeds Gesellschaft.“

„Ach ja, ich sollte mich doch auch einmal darum kümmern. Mr. Goed sprach nicht mehr davon ...“

„Ja, aber ob er noch welche hat?“ machte Speecht bedenklich.

„Ich kann ja mal fragen.“

„Er kommt heute erst nach Tisch. Er ist beim Direktor der Chartered Bank eingeladen. Goed hat kolossale Verbindungen. Und eine Hand, eine Hand, wie ein Croupier in Monako.“

Speecht lachte.

Sie sprachen allerlei nebensächliche Dinge, während in Peter die Geschiedene langsam ein neues Leben begann. Er haßte sie und überschüttete sie mit brennender Sehnsucht zugleich. Aber ganz im Innern dachte er, hinter ihrem Geheimnis stünde nur Zeit, es zu lösen, und er käme nicht bis Sydney, ohne von ihr einen Brief zu bekommen, daß alles geordnet und nichts ihrer Vereinigung mehr im Wege wäre. Dieser Trost schwebte wie ein ferner wohliger Klang durch alle seine Vorstellungen.

Um zehn Uhr kam Goed.

„Ik weet schon durch den Manager, daß Mrs. Tschikaügoü allein afreist ist,“ rief er Pirath zu.

Diese Begrüßung und der Name, der aus einer Zeit stammte, da er nichts von ihr wußte, als daß ihn ein dunkler Wunsch ihr verband, machte Peter erschrecken und wühlte auf einmal wieder die mühsam beruhigten Leidenschaften auf. Goed setzte sich nieder. Er ließ eine Flasche Champagner kommen und lud Pirath und Speecht dazu ein. Peter trank heiß und leidenschaftlich. Die Unruhe seiner Nerven ließ ihn das Glas immer wieder nehmen. Er bestellte eine zweite Flasche, Speecht die dritte. Sie machten noch eine Runde auf diese Weise. Peter trank immer begehrlicher. Sein Blut wurde milder dabei.

Sie sprachen über Pflanzungen, die er besucht hatte, über Geschäfte, und Speecht klopfte sich kindlich lachend auf die Brusttasche.

„Wat hebben Sie an Ihrem Herzen?“ fragte der Holländer.

„An meinem Herzen hebb ich die Atjeh! lieber Goed.“

Goed wandte sich an Peter: „Den Speecht war et niet te heet. Er koofte, die Sie bekomen sollten!“

Peter antwortete: „Es werden wohl noch welche da sein!“

„Aber nicht viele!“

„Also her damit!“ schrie Peter. Es war mehr eine Äußerung seines aufgewühlten Innern. Er mußte laut werden. Er konnte nicht immer so still dasitzen und es in sich wühlen lassen. Eine Tat mußte er tun! Der Champagner heizte seiner Phantasie ein. Der Champagner log ihm rasch vor: Du vergißt die Frau, wenn du arbeitest. Der Erfolg deines Unternehmens macht dich im Nu glücklich. Beginn aber endlich!

Goed sagte ihm: „Sie seegten mir auf dem Steamer, wat Sie vorhaben. Dat Sie selber Pflanzungen besiten möchten und den Zwischenhändler op de Seide stellen wollen. Dat können Sie doch niet, wenn Sie nur voor zwanzigtausend Gulden Aktien kaufen. Und mehr sind niet mehr frei.“

„Was soll ich denn, meinen Sie?“

Speecht schaute erwartungsvoll zwischen die beiden.

„Was Sie sollen? Dat will ik seggen. Ik kann Ihnen von einer meiner Maatsschappijen so viel Aktien abtreten, dat Ihre Stimm naar Statut — wie seggt man — ausschlaggebend ist. Sie können nach Sumatra gehen, und Sie können sehen, wie die Coconut sind, die jetzt schon staan, und können nur Coconut pflanzen laaten. Verstaan Sie?“

„Ja! nicht schwer! Wieviel Aktien sind das?“

„Einhundertundfünfzigtausend Gulden!“ sagte Goed, nicht wichtiger, als ob er den Rauch seiner Zigarette ausbliese.

„Einhundertundfünfzigtausend Gulden!“ echote Speecht.

„Einhundertundfünfzigtausend Gulden!“ wiederholte Peter. Er leerte ein Glas auf einen Zug. Es war heiß im Saal. Die Ventilatoren summten mit einem hartnäckigen Geräusch, wie große Brummer, die nicht mehr aus dem Zimmer fliegen wollen.

Speecht hockte auf der Kante seines Stuhles und schaute geradeaus, wie ein Pferd. Goed brannte sich eine neue Zigarette an. Er wischte sich mit seinem riesenhaften Taschentuch den Schweiß von seiner hohen geröteten Glatze: „God verdomm! het is heet, so heet wie im Rooden Meer,“ sagte er.

Peter glaubte, das sei eine Anspielung auf jenes Gespräch auf dem „Bülow“, als Goed ihm ein Geschäft anbot und ihm dann sagte: „An die Hitze müssen Sie sich gewöhnen, wenn Sie im Osten Geschäfte machen wollen.“

Goed rief: „Boy, one pieci Champain more!

Ein brauner Kellner lief auf nackten Füßen eilig herbei, verbeugte sich und wiederholte: „One pieci Champain more!“ und eilte davon zum Getränkboy. Der Getränkboy kam, verneigte sich und sagte: „One pieci Champain more!“ Der Holländer fuhr ihn an, indem er eine Bewegung machte, als ob er ihm eine Ohrfeige verabreichen wollte: „Oh! you ... me talki, quick you swine!“ Der Boy eilte davon.

Goed wandte sich wieder an Peter: „Dat Geschäft slag ik voor, dat is guud und is grot; da können Sie wat maken. Op de ‚Bülow‘ hebb ik Ihnen die Kartchen und die Prospectus gezeigt ... maken Sie nu, wat Sie wollen. Aber natürlich, ik mut een Geschäftche dabei maken und, wie seggt man, Abfindung bekommen. Ik nehm niet viel. Sie weeten, ik heb intérêt, dat unsre Kolohnjen hoch gehen und ik heb lever Duitschers darin und keene Englishmen und keene Yankees. Ik nemm drei Prozent.“

Da fuhr es Peter durch den verdunkelten Kopf, daß Ewe etwas von Haifischen gesagt hatte. „Ich will nichts von dir erfahren!“ sagte er aufbegehrend zu sich selber. „Was willst du von mir? Du! Wer bist du? Wohin fährst du denn ... aus meinem Bett heraus ... wohin?“

Er richtete sich ein wenig auf, sah Goed leidenschaftlich an und sagte: „Ich will!“

Sie schrieben einen provisorischen Vertrag; als Peter die Füllfeder Goeds zur Unterschrift ansetzte, sagte er sich: „Ich bin betrunken!“ Einen Augenblick, während er den Namen schon zur Hälfte geschrieben hatte, wollte er das Papier zerreißen und davongehen. Dann sah er aber, wie glatt er die Feder führte. Er war klar bei Sinnen. Er machte seine erste Tat.

Die drei tranken weiter. Nur Speecht hielt zurück. Auf einmal war er verschwunden. „De Belgier, he is so klein. Ik seh nich, wenn er geht!“ lachte Goed. Nach dem Champagner setzten sie sich in die Halle und tranken abwechselnd gemischte Schnäpse und dazwischen Whiskysoda. Goed war betrunken, und als er aufstehen wollte, fiel sein schwerer Körper über einen Stuhl. Hilfbereit sprangen drei nacktfüßige Boys auf ihn zu. Er hatte sich aber schon aufgerichtet und stieß mit dem Fuß nach ihnen. Er brüllte ihnen unflätige Schimpfworte zu und verfolgte sie torkelnd aus der Halle.

Je mehr Peter trank, um so mehr fiel die Wirklichkeit aus ihm. Er erinnerte sich auf einmal, daß Ewe gesagt hatte: „Laß dein deutsches Gewissen draußen.“ Da schimpfte er bei sich: „Hat sie denn ein Gewissen? Was ist sie denn? Wohin ist sie denn gefahren, aus meinem Bett heraus? Gewissen! ...“ Peter war nun allein am Tisch. Goed war davon. Die Halle war leer. Nur hinter der einen oder anderen Säule stand in weißem über die Hose hängenden Hemd einer der braunen Boys. Sie schauten alle wortlos auf Peter und flogen wie Geister, wenn er rief. Er trank weiter. Er trank, bis sein Blut so schwer war, daß er auf dem Stuhl einschlief. Nur über seinem Tisch brannte noch ein Licht. Dann kam der deutsche Geschäftsführer, weckte ihn sanft auf und bot ihm seinen Arm. Peter sagte: „Ewe!“ und ging schwer an der Seite des Fremden bis in sein Zimmer. Zwei braune Diener halfen ihm beim Auskleiden, und kaum lag er im Bett, so raste er aus sausenden Kreisen heraus, die sich erst allmählich beruhigten, in einen Schlaf von Blei, Moor und stählerner Hitze.

Peter schlief bis in den tiefen Morgen hinein und erwachte aus schwerem Traum, krank, geschlagen, voll Scham und Angst.

Goed erwartete ihn schon in der Halle. Speecht zeigte sich nicht. Goed sprach kein Wort von der Trinkerei. Sein Kopf war rot und seine Augen klein und flackerig. Sie besprachen das Abkommen, das sie gestern getroffen hatten, und Peter beschlich der beunruhigende Wunsch, er hätte nicht solcher Laune nachgeben und eine so bedeutende Summe herauswagen sollen. Wenn auch Goed ein einflußreicher und mächtiger Mann war!

Aber er war kleinlaut mit seinem müden, kranken Blut. Er brachte schnell die Angelegenheit in Ordnung und fuhr dann mit dem Auto davon. Er wollte zu den großen Teepflanzungen nach Matebe. Er wollte arbeiten. Sein Kopf stach ihn. Es fieberte ihn durch Adern und Nerven. Er warf sich ungeduldig im Wagen hin und her und preßte sich dann mit Gewalt in eine Ecke. Er befahl sich Ruhe an und wollte immer wieder seine Gedanken zu seinem Unternehmen zurückzwingen. Er griff wie hilfesuchend an seine Seite und griff auf einmal ins Leere. Aber der leere Sitz hatte einen leichten Duft von Ewe behalten, und wie ein Kartengebäude stürzte es in ihm zusammen. Er wollte nicht fahren. Er wollte liegen und schlafen ... oder baden? ... oder trinken? Er befahl dem malaiischen Chauffeur zum Gall Face zurückzufahren.

In der Tür stand Goed.

„De ‚Koning‘ kommt to day. Depesche! Ik fahre nach Deli.“

Da war Sumatra Peter plötzlich wie eine Rettung vor der Leere, die er überall um sich vom Dufte Ewes erfüllt spürte, und er sagte rasch: „Ich fahre mit.“

Goed zögerte ein wenig. Sie hatten besprochen, daß Peter in acht Tagen nach Deli käme. Goed hatte ihm gesagt: „In mijn huis wohnen Sie und mein motorcar fährt Sie durch Sumatra.“ Jetzt sagte er langsam: „All right, as you like.

Peter bat den Manager durch einen Boy, seinen Koffer packen zu lassen. Er fuhr zur holländischen Agentur und ließ sich eine Passage nach Belawan geben. Der Dampfer fuhr direkt nach Sabang und Belawan.

Der „Koning“ verließ am späten Nachmittag Kolombo. Peter sah Goed noch den Steg heraufkommen. Aber er wollte allein sein, mußte allein sein und stellte sich in seiner Kabine ans Fenster. Langsam sank der Hafen zurück. Das rote Gall Face erschien, Palmen am Strand, Erinnerungen, die ihn erdolchen wollten; er kämpfte mit sich, rasend und stark, Kolombo verschwand hartnäckig langsam, und als nichts mehr wie Meer vor dem Fenster blaute, in der eiligen Dämmerung weich beflort sich maßlos ausdehnte, da war es erst recht voll Melancholie um ihn. Er wandte sich zurück und ging hinauf ins Rauchzimmer. Es überfiel ihn die Versuchung, wie gestern abend zu trinken, zu trinken, bis sein Blut so moorig schwer würde, daß die Wirklichkeit von ihm sich erdrücken ließ. Aber er spürte den Alkohol noch in seinen Adern bohren, sein Mund hatte einen solch klebrigen, widerwärtigen Geschmack behalten, daß es ihn grauste. „Unappetitlich!“ flüsterte er der Versuchung zu. Er bestellte einen schwarzen Kaffee und rauchte eine große Havanna dazu. Goed ging durchs Rauchzimmer, grüßte und schritt zur andern Tür hinaus.

„Was hat der denn?“ fragte sich Peter. Dann lächelte er: „Er schämt sich seiner Besoffenheit von gestern.“

Aber bei der zweiten Begegnung mit Goed ging es nicht anders. Der Holländer saß mit flackrigen Augen da, sprach nicht, gab kurze mürrische Antworten und brutalisierte die Bediener. Peter zog sich von ihm zurück.

Am vierten Morgen fuhren sie zwischen Mangroven dem Kai von Belawan zu. Goed ging auf dem Deck hin und her, hastig und wie aufgestört. Seine wurzelhafte Ruhe war hin. Er hatte einen großen Panama auf und rauchte Zigaretten ohne Unterlaß. Auf dem Kai stand ein junger Mann und ein Mann mit einem großen Vollbart. Die winkten Goed zu und holten ihn dann ab. Man mußte durch den Zoll, dann über eine feuchte, verfilzte Straße, Belawan war in einen Mangrovenmorast gebaut, zum Bahnhof. Goed kümmerte sich nicht um den ortsunkundigen Pirath. Er war verschwunden. Die malaiischen Zollbeamten sprachen Deutsch und zeigten Peter den Weg hinter seinen Gepäckträgern her.

Erst im Zug sah Peter Goed wieder. Goed lag tief in einem Sessel in der Ecke des Wagens. Neben ihm saß der junge Mann. Der mit dem Bart saß von beiden entfernt. Einige vornehme alte Chinesen in seidenen Kleidern mit großen goldenen Brillen und breiten Manilahüten begrüßten sich mit edler Höflichkeit. Ihr fremdes und schönes Benehmen lenkte Peter von Goed ab. Die Fahrt bis Medan dauerte nur drei Viertelstunden. Am Bahnhof trat Peter auf Goed zu und fragte ihn: „Welches Hotel ist das beste in Medan?“

Goed antwortete: „Der Herr von der Linden“ (er stellte damit den jungen Mann vor) „seggt mir, dat ik keen Chauffeur hebben kann, weil het javansch new year is. Nemme Sie een Sados. Wohne Sie im Hotel de Boer. Het is dat best in Medan.“

Er gab Peter die Hand und sagte: „Ik seh Sie ja wohl noch in Medan!“ und ging.

Peter blieb verblüfft stehen und schaute ihm nach. Dann ärgerte er sich: „Wart, mein Lieber, dich krieg ich noch!“ sagte er beleidigt. Er fuhr ins Hotel de Boer. Er schrieb auf einen Bogen: „Liebe Ewe! Ich bin unglücklich und unlustig. Ich konnte nicht mehr auf Zeylon bleiben und bin in Medan, Hotel de Boer. Wo bist Du? Erreicht Dich dieser Brief?“ Er brachte den Brief zur nahen Post. Er ging früh zu Bett.

Als er am nächsten Morgen frühstückte, wunderte er sich, daß Goed noch nicht nach ihm fragen gekommen war. Es war schon halb elf. Eine sumpfige Hitze strich über den großen Platz und auf die Terrasse vor dem Hotel herüber. Peter sah im Schatten von Bäumen braune Männer hocken, und jenseits gingen zwei weiße Europäeranzüge davon. Ab und zu lief ein chinesischer Kuli mit einer Rickscha vorbei. In jeder Rickscha saß ein weißgekleideter Europäer, der sich vor der Hitze unter dem Tropenhut zusammenduckte. In keiner Rickscha saß der große Körper Goeds.

Die Mittagsstunden vereinsamten den Platz und das Hotel vollständig. Peter sagte sich: „Man kann es Goed nicht verübeln, daß er diese Hitze meidet.“ Er legte sich ins Bett und schlief bei geschlossenen Läden ein. Im Garten schrien Grillen und Vögel. Über die Decke liefen kleine graugrüne Eidechsen und jagten Mücken. Eine Eidechse stürzte herab und weckte Peter. Das Tier fiel auf seinen nackten Hals und kribbelte entsetzt davon. Erschrocken stand Peter auf. Er klingelte. Ein kleiner nacktfüßiger Malaienjunge kam. Peter fragte nach Goed. Der Junge verschwand und brachte dann einen Zettel, auf dem auf englisch stand, Mr. Goed sei nicht dagewesen.

Als Goed auch am nächsten Tag nichts von sich hören ließ, entschloß sich Peter kurz, erkundigte sich, wo er wohnte und fuhr in seiner Rickscha hin. Er kam in eines der üblichen Kolonialhäuser. Es sah etwas schmutzig aus. Peter ging auf die Veranda hinauf, ins Vorzimmer. Es schien kein Mensch in dem Haus zu wohnen. Er klatschte in die Hände. Da kam ein dickes junges weißes Mädchen. Es hatte verweinte Augen und sprach nur Holländisch. Es zeigte nach hinten und sagte dazu: „Mijnheer Goed!“ Peter durchschritt noch einen Raum, der nach hinten auf eine kleine Terrasse ging. In dem Raume saßen nebeneinander auf dem Boden drei strohblonde bleiche Kinder und weinten, und Peter sah durch die breite offene Tür auf einen Tisch, an dem Goed hockte. Der schwere Mann saß weit über den Tisch gebeugt. Es standen zwei Flaschen und ein leeres Glas vor ihm, und er stierte auf einen alten malaiischen Diener, der gegenüberstand. Auf einmal schoß der schwere Körper in die Höhe, eine Hand ergriff eine der Flaschen und warf sie nach dem Malaien. Der Malaie bückte sich. Die Flasche flog an eine Säule und zerschellte. Peter hörte hinter sich die Kinder aufweinen. Er war schon in die Tür getreten, und Goed hatte ihn gesehen. Der Holländer stand krumm über den Tisch gebeugt und schaute ihn mit seinen kleinen flackrigen Augen stier an. Dann sagte er, als ob plötzlich ein Unwillen ihn packte und er gleich auf den Besucher losstürzen wollte:

„Ach Sie! Sie!“

„Ja! Sie kommen nicht ins Hotel, so komme ich zu Ihnen!“

Da hob sich Goed vom Tisch los, lachte und kam auf Peter zu. Der bemerkte jetzt erst, daß der Holländer betrunken war. Goed war plötzlich gesprächig und liebenswürdig. Er schob Peter das Zigarrenglas hin, ließ ein Trinkglas kommen und setzte sich wieder. Plötzlich rief er: „Aantje!“

Das dicke holländische Mädchen kam widerspenstig in die Tür. Goed lachte ihr zu: „Come on!“ Das Mädchen zögerte. Goed lockte mit freundlicher Stimme: „Veroorlof mij, dat ik U aan mijnheer Pirath voorstelle ... dat ist die liebe Erzieherin meiner Kinder!“ wandte sich Goed an Peter. Das Mädchen verlor den widerspenstigen, mißtrauischen Zug im Gesicht, kam heran und reichte Peter die Hand. In diesem Augenblick schlug Goed ihr in weitem Schwung klatschend auf den bloßen Fettnacken. Sie kreischte zurück. Goed lachte närrisch und fiel in seinen Stuhl. Peter sagte sich: „Welch sonderbares Spiel!“ Er hörte die drei Kinder und die Erzieherin weinen. Er schaute Goed an. Sein Gesicht war rot gedunsen und die Augen voll Feuer. „Trinken Sie!“ sagte Goed. Aber das Sodawasser war warm. Peter ließ den Whisky stehen. Goed goß ihm wieder ein. Er sah nicht, daß das Glas noch voll war. Auch sich goß er ein und rülpste auf. Peter verzog das Gesicht. „Schmeckt es U niet?“ fragte der Holländer. „Daran moet U sik gewoonen in den Kolohnnijen!“ fügte er barsch hinzu. Peter warf ihm in Gedanken „Schwein!“ hin, stand auf und sagte: „Adieu.“

„Was fang ich mit dem besoffenen Menschen an?“ sagte er sich. „Ich komm lieber morgen noch einmal.“

Am nächsten Vormittag kam Peter um dieselbe Zeit. Sein Kuli legte gerade die Deichseln der Rickscha nieder, als er bemerkte, daß Goed im Begriff war, in eine andere Rickscha zu steigen. Er sah, wie Goed den Fuß hob, den Tritt verfehlte und stolperte. Da schlug der Holländer dem kleinen Chinesen seine Faust roh in den Rücken. Der Chinese schaute stumpfnasig auf, wie rätselhaft unbeteiligt an dem Schlag. Goed schimpfte: „Bloody, bloody!“ ... Peter sah, daß er wieder betrunken war. Aber er wollte ihn diesmal nicht entwischen lassen. Goed stieg, ohne Peter zu sehen, schließlich ein, der Chinese wollte anziehen. Peter rief: „Stopp, stopp! He! Herr Goed! Herr Goed!“

Der Holländer drehte sich umständlich um. Er sah Pirath und zuckte mit dem Arm auf in einer abschüttelnden Bewegung. Er rief nach hinten: „Sie hebbe ja Ihre Aktie.“ Er stieß mit dem Fuß den Kuli ins Gesäß und brüllte: „Go on, quick, bloody ...“ Der Kuli huschte davon. Peter stand da und schaute nach. Goed drehte sich nicht mehr um.

„Und die Atjeh Exploration Co.! Und meine Palmen! Meine einundfünfzig Prozent Aktien!?“ fragte sich Peter und war zuerst mehr erstaunt über diesen Mann als geängstigt. Aber rasch stellten sich dann die Bedenken ein, wie es um seine Aktien stehe, und er dachte an Ewe, als er in der Rickscha zum Hotel zurückfuhr.

Er wollte sich über Goed gleich Gewißheit verschaffen. Er hatte ein amtliches Empfehlungsschreiben an einen deutschen Konsul. Das suchte er hervor. Er wußte ja nichts von Sumatra, weil er von den Straits gleich nach Java fahren wollte. Mit diesem Schreiben suchte er den deutschen Konsul in Medan auf und schickte es mit einer Visitenkarte ins Büro. Ein liebenswürdiger eleganter Herr kam im Kontor auf ihn zu, stellte sich vor als Konsul Behnke und bat ihn, mit in sein Arbeitszimmer zu kommen. Er reichte ihm das Zigarrenglas und schaute ihn fragend an. Peter erklärte, weshalb er das Schreiben an den fremden Konsul benützt habe.

Der andre sagte: „Ihre Firma ist uns ja nicht unbekannt. Sie sind auch so empfohlen.“

Dann ging Peter gleich gegen Goed vor und fragte: „Kennen Sie einen Herrn Goed, der Administrator der Tanadjava Rubber Co. ist? ...“

„War!“ unterbrach der andre.

Peter erschrak. Er sah fragend auf.

Der alte Herr ergänzte: „Bis vor vierzehn Tagen war.“

Peter warf erregt ein: „Und die Atjeh Exploration Co.?“

„Da ist er noch Administrator. Aber das ist mehr platonisch.“

„Ist es Schwindel?“

„Man kann es nicht so nennen. Aber einigermaßen ist es das. Das Gebiet, das sich die Gesellschaft zugelegt hat, ist unerreichbar und hat also, bis auf weiteres wenigstens, keine Abfuhr für etwaige Produkte. Es liegt in einem nur halb pazifizierten Land, und der Besitz des Bodens dürfte außerdem noch nicht ganz einwandfrei in den Händen der Atjeh Exploration Co. liegen.“

Peter fühlte, daß er erbleichte. Seine Hand zitterte mit der Zigarre erregt über den Rand des Aschenbechers.

„Haben Sie Aktien der Gesellschaften?“ fragte der andre. „Die Rubbergesellschaft ist im Grund solid, wenn auch kein glänzendes Unternehmen. Aber man hofft, sie nach dem Herausschmiß des Herrn Goed zu heben.“

Peter antwortete unsicher: „Nur von der Atjeh habe ich Aktien. Allerdings für eine große Summe.“

Der andre: „Ich möchte nicht indiskret sein. Aber es liegt wohl im Interesse Ihres Besuchs bei mir, wenn ich weiß, wieviel es ist und auf welche Weise Sie die Papiere bekamen.“

„Ich kaufte von Goed am elften Oktober in Kolombo einundfünfzig Prozent der Atjeh-Aktien.“

„Das ist empörend,“ rief der Konsul und sprang lebhaft auf. Sein Gesicht rötete sich. Er ging hastig um den Tisch herum. Dann setzte er sich wieder und sagte ruhig:

„Da ich Ihr Haus kenne, weiß ich, daß diese Summe Ihnen nichts allzu Schweres bedeutet. Aber ich muß Ihnen sagen, daß das ganze Geld so gut wie Null ist, vorläufig wenigstens und für absehbare Zeit. Denn bis Atjeh in den Verkehr gezogen ist, werden wir nicht mehr da sein ...“ Der Konsul sagte noch: „Es ist uns mitgeteilt worden, daß sich Goed irgendwo zwischen Port Said und Hongkong einen Schlepper unterhält, einen Belgier namens Speecht.“

Da lachte Peter verzweifelt: „Ja, der wirkte auch bei mir mit!“ Er knirschte vor Wut und Scham und ballte die Fäuste. Er erzählte, wie Goed auf dem Dampfer als Mann von Einfluß, Glück, Macht galt, wie sein Auftreten von Selbstsicherheit und Breite gewesen sei und wie Speecht diese Meinung in ihm gekräftigt habe. Dann sei er mit Goed nach Sumatra gekommen. Da habe Goed ihn plötzlich nicht mehr gekannt. Daraufhin sei er Goed aufsuchen gegangen und habe ihn zweimal am lichten Vormittag betrunken vorgefunden.

„Er ist ein verlorener Mann,“ antwortete der Konsul. „Das typische Schicksal der Tropen. Einst sah er beßre Tage und konnte im Zirkus die vollen Champagnerflaschen an der Rampe zerschlagen. Er ist ein verlorener Mann. Körperlich und finanziell ruiniert.“

„Und meine einhundertundfünfzigtausend Gulden?“ fragte Peter. „Was macht er damit?“

Aber der Konsul hob nur die Hand und zuckte mit den Schultern. „Er ist wie ein Moloch,“ sagte er. „Man hat schon öfter versucht, gesetzlich an ihn heranzukommen, mußte es aber aufgeben. Er soll ganz in der Hand einer schlauen Mischlingsmalaiin sein. Die pflegt seine Trunksucht. Aber der können Sie den Teil Ihres Geldes, der jetzt von ihr auf Zinsen angelegt wird, nicht mehr entreißen. Ich kann Ihnen auch nicht dazu raten, die Hilfe des Gerichts in Anspruch zu nehmen. Den Kosten, die das verursacht, steht wohl nur gänzliche Aussichtslosigkeit entgegen. Der Osten ist ein habgieriges Maul. Und — seien Sie nicht bös — Sie waren leichtsinnig.“

„Ich tat es unter dem Druck gewisser ... Stimmungen, Erlebnisse!“

„Stimmungen sind im Thüringerwald, am Bodensee zu Hause. Im Osten gibt’s nur ‚business‘. Sagen Sie sich, es ist Lehrgeld ...“ In verändertem Ton fügte er hinzu: „Sie würden mir große Freude machen, wenn Sie dieser Tage einmal bei mir zu Gast wären. Wann es Ihnen beliebt. Heut abend? Morgen? Gut, heute abend. Um acht Uhr. Abgemacht. Ich freue mich sehr.“

Peter dankte und ging.

Er ging eigentlich ganz beruhigt daher, sagte er sich. Er trat durch den Schatten von Gummibäumen, um deren schwarze Haufen die Sonne weiß und grell niederfiel. Er blinzelte in dem von Licht umfluteten Schatten rund um sich. Nur weniges Leben war umher. Zwei stangenbeinige halbnackte Inder gingen mit wiegenden Hüften, mager, gerade und dumm — schön durch die steile Sonne. Ein alter weißbärtiger Malaie unter einem großen europäischen Hut trieb einen Ochsenwagen langsam daher. Er sah aus wie ein wandernder Pilz. Die beiden Ochsen drückten die Köpfe auf den Boden, und ihre Leiber schwankten steif hin und her. Die Sonne floß auf ihre unregelmäßigen Höcker. Sonst war nichts um ihn. Nichts als die drei fremden Menschen, die beiden fremden Tiere und die sonnenvergewaltigten, verstummten und geschlossenen Fassaden der beiden Häuserreihen, die sich im Winkel trafen. Ein fremder Geruch von exotischen Gewürzen strich durch den erhitzten Schatten. Alles war fremd.

„Wie bin ich so allein!“ sagte sich Peter. Er ging etwas schneller. Er sah das Hotel drüben im Winkel des Platzes gegenüber der sonderlich gebauten Post liegen. „Dies könnte Maastricht sein,“ sagte sich Peter. Dies Gebäude eines modernen, europäischen Architekten stand da in der von Faulheit, von niedergebogenen und doch erregt quellenden Instinkten geschwängerten Luft wie ein Kunststückchen. So eine Lüge! Das täuscht Europa her. „Europa als Vogelkäfig!“ schimpfte Peter, und auf einmal fiel die grelle Verlassenheit der Stadt, die an den drei fremden Menschen, den beiden fremden Tieren, dem fremden Geruch noch verlassener wurde, widerstandslos über ihn her. Er lief dem Hotel zu. Er flüchtete. Wovor? Er wußte nicht, wovor er flüchtete. Rund um ihn ballte es sich zusammen, und er war so verlassen, so verflucht der einsamen Fremdheit ausgeliefert.

Bald war er im Hotel. Die Terrasse war öde und sonnenbeschwemmt, die Säle dahinter hatten eine stillstehende Hitze aufgestapelt, in der die Ventilatoren mühsam wie in einem Brei drehten und keine Kühle schafften. Der Atem ging einem bedrückt. Die Säle waren leer.

Auf einmal aber kam breitbeinig tretend, etwas unsicher zwischen den Tischen durchschreitend, Goed daher. Seine Glatze leuchtete in der Dunkelheit des Saales. Peter spürte einen Stich im Herzen. Es war, als ob dieser Stich ihm unversehens einen drohenden und rasenden Ärger gegen den Schwindler eingeimpft hätte, von dem er sich hatte prellen lassen.

Aller Zwiespalt, alle Enttäuschung, alle Vereinsamung, alle Ohnmacht nahm er zusammen und trat auf den Holländer zu. Er sagte ihm: „Herr Goed, jetzt setzen Sie sich einen Augenblick an diesen Tisch. Ich habe mit Ihnen abzurechnen.“

Goed richtete sich mühsam stramm, schaute Peter hassend an mit seinen grünen kleinen Augen, die im Rausch flackerten, und rief aufgeregt: „Wat wellen Sie?“

„Mit Ihnen abrechnen.“

„Det hebben wir ja. Ik hebb ja die Anwising for die Aktie! Sie moeten slaapen gan. Die Hitz’!“ Goed wollte weiter.

In seiner Aufregung faßte ihn Peter an den Schultern und schrie ihm ins Gesicht: „Sie bleiben hier! Sie stehen mir Rede!“

Goed riß sich los und brüllte in stotternder Wut: „Oh, you ... go on ... bloody mouth ...“ Er hob die Hand und schlug mit aller Kraft zu. Peter fing den Schlag ab und griff rasch nach dem Hals des Holländers, drückte mit der ganzen Kraft seiner Muskeln den großen Kopf zurück und schleuderte den massigen Leib über einen Liegestuhl.

„Du willst mich schlagen,“ schrie er dazu, „du Schwindler, du Gauner, du Haifisch!“ Der schwere weißgekleidete Mann fiel hin wie ein Klumpen.

Peter fühlte sich weggedrängt. Menschen erschienen plötzlich in Massen. Wo kamen sie her aus dieser schleimigen Verlassenheit der sonnenbebrüteten Stadt? Er wich ihrem Drängen. Er sah weiße Anzüge um sich, ließ sich weiter schieben, ohne zu wissen, was mit ihm geschah. Allmählich gewann er die Besinnung wieder und begann den Unbekannten erregt zu erklären, weshalb er Goed an den Hals mußte.

Einer beruhigte ihn und bemerkte auf englisch: „Herr Goed ist kein Mann, dem man die Ehre einer Ohrfeige gibt.“

Peter hörte den Holländer schimpfen und brüllen. Aber er war in einem andern Raum. Er sah nichts mehr von ihm. Er dankte den Herren für den Beistand. Einer sagte burschikos: „Boy, give him a Whyski-Soda.“ Peter stürzte das Glas in den Mund. Die andern lachten. Für ihn aber war alles von bitterem Ernst. Er schämte sich auch, daß er sich so vergessen hatte in der Wut und entschuldigte sich fortwährend. Die Gesellschaft in den weißen Anzügen aber scherzte mit ihm und über ihn. Es waren meist Holländer.

Einer sagte auf deutsch: „Sie brauchen sich doch nicht zu exkusieren. Was liegt an einer Ohrfeige? Sie sind noch jung im Land. Die Sonne wird auch an Ihnen das ihrige tun. Nur abwarten!“

„Aber er wollte mich doch schlagen!“ rief Peter.

„Das vergeht!“ sagte der andre.

„Und er hat mich mit Atjehaktien betrogen!“

Das kam wie ein Druck auf einen Einschalter. Alle brüllten ergötzt auf: „Atjehaktie! Atjehaktie!“

Peter war beleidigt. Er war zum Gespött geworden. Rasch durchfuhr ihn die Vorstellung all der großen Hoffnungen, der stolzen Erwartungen, des starken Willens, der besiegten Verzweiflung, der Welt, die auf ihn wartete, als er in Genua auszog. Er duckte sich kleinlaut unter den Spott. Mürbe, müd und heimatsüchtig war er. Was war verlorenes Geld gegen diese Zerrissenheit und Mutlosigkeit seines gestürzten Herzens?

Einer sagte noch: „Lassen Sie Ihre Atjehaktien droben im Nachtkasten liegen. Was machen Sie mit dem unnützen Ballast.“

Ein andrer: „Ich gebe Ihnen meine Manilazigarre dafür.“ Er hielt ihm eine halbgerauchte Zigarre hin.

Ein Belgier mit einem blonden Hahnenkopf rief: „Wollen Sie einen Kuß für Ihre Atjehs?“ und alle lachten.

Peter ging. Er hatte nicht mehr zugehört. Und auch Ewe kam zu Besuch, und all ihre Süße, ihre klare Klugheit, ihre reichen Launen erneuerten ihren Verlust in ihm.

„Ach, mehr als die Atjehaktien bin ich auch nicht wert!“ klagte er. Und als er dann allein, dumpf und verzweifelt in seinem verdunkelten Zimmer des Hotels de Boer in Medan stand, da war er an der ersten Station seiner Welt- und Eroberungsreise angekommen.

Zur zweiten Station

Peter Pirath arbeitet schon im dritten Monat in einer Palmenpflanzung auf Java. Er ist dort Assistent. Den ganzen Tag geht er unter Palmen und verteilt die Arbeit an braune Javaner, die in lässiger Arbeitsgleichgültigkeit im dünnen Schatten der Palmen wirken, und an gelbe Chinesen, deren unermüdliches Arbeitsgewissen ihn aufstachelt und ihm ein Volkswunder Gottes dünkt. So geht Peter Pirath weite Wege unter Palmen, wo die braunen Nüsse in Pyramiden aufgehäuft sind. Er kommt an Haufen von Männern und Weibern, die die Nüsse aufschlagen und das weiße Fleisch, die Kopra, herausschälen. Er läßt das Fleisch zu den großen Darren führen, wo es in zahllosen Eisenblechfächern getrocknet wird. Er läßt die getrocknete Kopra in Säcke zu sechzig Kilogramm füllen, aufspeichern und von Weile zu Weile in den kleinen Dampfer verladen, der der Gesellschaft gehört und die Kopra nach Sumatra bringt. Acht Tage sieht er nur Nüsse schlagen und ausschälen, acht Tage dörrt er, acht Tage kümmert er sich um Aufspeicherung und Verpackung.

Er wohnt im Gästehaus des Hauptverwalters. Er hat die Stelle, auf der er ein Gehalt von dreihundert holländischen Gulden im Monat bezieht, durch einen Brief des Konsuls Behnke an den Hauptadministrateur, einen Bayern namens Föhr, bekommen. Deshalb wohnt er im Gästehaus des Verwalters. Das Haus ist zu groß für ihn. Er benutzt nur zwei Zimmer, die an der offenen Veranda liegen. Diese Veranda öffnet sich wie eine Höhle ins Haus hinein, und Peter Pirath sitzt abends dort und nimmt sein Nachtessen, liest europäische Zeitungen und fachliche Bücher, oder studiert Javanisch, oder denkt in die Nacht hinaus, die vom Meer gekühlt und vom eisernen Schrillen der Millionen Insekten durchlärmt wird.

Schöne braune javanische Mädchen gehen an ihm vorbei. Der Sarong, mit Gold durchwirkt, sitzt prall über die spitzen Brüste, umgürtet eng die Hüften, daß wie eine leichte Kuppel der Bauch sich vorne hebt. Die Mädchen sagen nichts zu ihm. Sie gehen des Abends auf der Veranda an ihm oft vorbei mit dem leis drehenden, gespannten Gewölbe ihres Bauches und den auf und ab schlüpfenden Hüften, und wenn sie vorbeigegangen sind und Peter sie rückwärts sieht und ihre beiden Kugeln dort unter dem Sarong wie Früchte reif hüpfen, dann weiß er: sie möchten in dein Bett. Aber obschon er weiß, daß nichts von seiner Seele mit in diese tierhaft leibliche, urwaldwirre, gewaltige Verführerischkeit der jungen Javanerinnen fiele, so widersteht er doch den Lockungen seines Rückgrates. Der Ethiker! Er sitzt so weltenfern einsam in dem heißen und doch wie von kühlem Reif beatmeten javanischen Abend und läßt die schönen Weiber hängen. Sie gehen nur an ihm vorbei, um von ihm gepflückt zu werden. Er brauchte sie nur mit den Augen zu berühren, und sie fielen in sein Bett, wie reife saftige Mangos.

Er aber geht in sein Wohnzimmer, in dem eine unsichtbare Hand eine Stehlampe angedreht hat, setzt sich unter die Lampe an den Tisch und zieht aus der Schublade ein kurzes dickes Büchlein. Dorthinein schreibt er — in Notizenstil —, was er am Tage gesehen, erfahren und gedacht hat.

Der erste Teil des Buches ist voll von Ewe. Dort singt die sorglos uneingeschränkte Genießerischkeit jenes paradiesischen Monats auf Zeylon.

Der zweite Teil ist Arbeit, Lernen, Selbstbeschränkung, Einfügen in den kleinen Kreis.

Dieser zweite Teil beginnt mit dem Abend, den er beim Konsul Behnke in Medan verlebt hatte, nachdem er Ewe noch nicht verwunden hatte und in seiner ersten Eroberertat geprellt worden war. Diese Einzeichnung liest er manchmal. Sie lautet:

„Der Konsul kam mir entgegen und sagte: ‚Ich hab nur Sie geladen, weil ich dachte, daß wir dann ungestörter das besprechen können, was Ihnen am Herzen liegt. Nicht einmal meine Frau ist da. Sie ist augenblicklich zugunsten ihrer roten Blutkörperchen mit den zwei Kindern in Deutschland.‘ Später im Gespräch über unsre Angelegenheit sagte er: ‚Es ist ein Buch erschienen: „Königliche Kaufleute“. Ich hab’s nicht gelesen, aber dieser Titel kitzelt alle diese Hamburger und Bremer bis nach Jokohama. Doch das gibt’s nicht mehr: „Königliche Kaufleute!“ Wir in den alten soliden Häusern sind nur noch Krämer. Sehr geregelter Massenverkauf gegen vorsichtige kleine Gewinste. Daneben Spekulanten. Ehrliche, glückliche und verunglückende und meistens andre. Goed wurde aus dem ersten der zweite und aus dem zweiten der dritte; Tropenschicksal: Aufschwung und Niedergang in einem Atemzug.

Sie, Herr Pirath, kommen mit Temperament und Gewissen in die Tropen. Ob das gut oder schlecht ist, ist Nebensache. Es kommt darauf an, wie man es mit seinen Geschäften — versöhnt, wenn es in einem bewußt bleibt.

Gehen Sie in die Südsee. Da ist es noch jungfräulich. Hier ist alter angelsächsischer gepflügter Tropenboden. Die Jungfräulichkeit der Südsee erwartet Ihr Temperament und Ihr Geld. Hier braucht man das nicht. Ich kenne einen Beamten dort, der wirklich etwas von der Gegend und der Sache versteht. Der wird Ihnen mehr als gerne helfen ...‘

Ich: ‚Auf dem Bülow fuhr der Amtmann Ledinski mit, der ...‘

Der Konsul: ‚Komisch, den meine ich gerade.‘

Der Konsul will ihm schreiben.

Der Konsul: ‚Arbeiten Sie wie jeder hier: Von der Pike auf! Sie brauchen ja nicht die technischen Einzelheiten so genau zu kennen, nur einen Einblick nehmen, Boden, Arbeitsart und vor allem die Menschen kennen lernen, wissen, in welcher Atmosphäre ein Pflanzungs- und Handelsbetrieb hier steht.‘

Empfehlung an den Direktor Föhr auf Java, seinen Freund ...“

Diese Aufzeichnung las Peter öfters. Von ihr ging ja sozusagen das neue Gesicht aus, mit dem er jetzt schaute. Und wenn Peter diese Aufzeichnung liest, in dem nach dem Tageslauf der Sonne wie von einer fernen Kühle beatmeten javanischen Abend, in seinem leichten schönen Haus an der Küste, dann lebt er wieder die langsame, qualvolle Übergangszeit durch, die jenem Tag folgte. Nicht die Tat, die ihm den Verlust von einhundertundfünfzigtausend Gulden und seine Sicherheit brachte, rechnet er sich bös an, sondern die Ursache. Die Tat, ob gut oder Sünde, ist heilig.

Ewe, von der im Grunde diese Tat ausging, ist in der Entfernung in ihm sonderbar schön ausgereift. Im Verzicht, zu dem er sich endgültig durchkämpfte, ist sie vom Zeitlichen befreit worden und ist gedanklich groß und edel. Sie war ein Mensch, daß er hätte achtungsvolle Scheu vor ihrem Geheimnis haben müssen, statt haltlosen Egoismus. Ihr Geheimnis ist eine Erschaffungstat in ihm geworden, ein Prinzip, erfüllt mit dunkler Notwendigkeit und Fruchtbarkeit.

Weil er menschlich an ihr gefehlt hatte, deshalb ist er dem Preller unterlegen. Er spürt den Zusammenhang mit seinem innerlichen Erlebnisse jenes Abends auf Zeylon als Fehl und Sühne. Eine katholische Philosophie. Er dachte, so etwas sei ihm fremd. Aber es scheint, als ob sich die katholische Erziehung von vor der Reformation her in seinem Blute durchsetzte.

Wie Ewe, so trägt Peter auch Goed tief in sich vergraben. Beide liegen in ihm wie ausstrahlende Radiumkörper. Sie sind erlebte zeitlose Symbole geworden.

In seiner verwunderten Bewunderung vor dem Leben und der Philosophie der Tausende von chinesischen Arbeitern, mit denen er auf Java zu tun hat, ist er den Einrichtungen dieses Volkes nachgegangen und hat das alte, das urhafte Zeichen des Jinjangs gefunden. Die Unerschaffenheit der Welt war eine leere Scheibe. Allmählich entwickelten sich in ihr zwei Lebewesen, zwei Keimzellen, eine männliche und eine weibliche, eine positive und eine negative, ein Prinzip des Guten und eines des Bösen, und diese beiden Prinzipien umschlangen sich zur Fruchtbarmachung; die Welt entstand aus ihnen und besteht in ihnen weiter. Überall, wo Chinesen waren, sah er die Zeichen des Jinjangs, eine Scheibe, in der ein roter und ein schwarzer Fötus ineinander geschlängelt liegen, wie zwei Körper beim Begatten. Die Elektrizität, die sich vereinigt, wenn zwei gegensätzliche Strömungen, eine positive und eine negative, sich treffen, war eine physikalische Betätigung dieser uralten chinesischen Philosophie, dieser Philosophie, die alle europäische Philosophie als spekulativen Wahn, als Spielerei auf angenommenen, aber im Innern unbeständigen Werten verhöhnte. Das war eine Philosophie, die so wahr war wie Musik. Man konnte ihr Körper geben, die unmittelbar den Weg zum Dasein fanden.

Wie dieses Jinjangbild seiner chinesischen Arbeiter stand die vorfrühlingshaft verwühlte Zeit in ihm, die eine war das Jin, die andere das Jang, und die beiden hatten sich in ihm getroffen und ihn zu seinem neuen Schauen und Leben fruchtbar gemacht.

Peter denkt sich dann auch aus, wie es sich in ihm dabei wiederholt hatte, daß eine Katastrophe seine Selbstachtung, seinen Mut zerstört, ihn zu einem armen zerzausten Vogel gemacht, aus dem Nest geworfen hatte, daß er mitleidsweich, närrisch gegenstandslos wie ein Schlemihl geworden, sozusagen ins Nichts geglitten war.

Und aus diesem Nichts, aus diesem wie verfluchten Brachboden waren ihm dann neue und unerwartete Energien aufgesprossen. Er mußte sich, so wie es bei Ree gegangen war, vom Bösen abhäuten, und erst nach dem Weg durch diese Hölle war er wieder stark, war er wieder Ackerboden.

Das war es, was Hermann immer das Erbteil des alten Jens Peter nannte, die Sturmsicherheit der Pirathen.

Peter hatte in der Zeit der Scham, nach Befreiung ringend, seinem Bruder eine Darstellung seiner Katastrophe geschrieben. In dem Brief war Hermann angefleht worden, das verlorene Geld auf Peters Konto zu verrechnen. Sonst könnte er nicht geheilt werden. Hermann müsse Peters Eitelkeit diese Konzession machen.

Auf diesen Brief hatte er noch keine Antwort.

Der Direktor Föhr war sehr entgegenkommend zu seinem Assistenten; er behandelte ihn mehr als Gast. Er lud ihn ein, wenn Bekannte oder Freunde kamen. Peter lernte viele Menschen kennen. Er trank auch im Klub mit den Angestellten und den Besuchern und zog sich vor keinem Fest zurück. Er stand mit allen andern mitten in der Daseinsart des Betriebs. Aber er sah nicht mehr sich in jedem Fremden und hielt sich zurück aus den Menschen. Er ließ jeden nach seiner Art leben und ging nicht den Menschen, sondern dieser Art zu leben, nach. Dadurch gewann er eine Ruhe des Überblickens, die er nie gekannt hatte und die ihn mit einer stillen Sicherheit zu erfüllen begann.

Es kamen viele Menschen an ihm vorbei: Männer aller Arten, Gesetzte und Abenteurer, Verlorene und Gerettete, Hilfesuchende und Verrückte, die glaubten, die Tropen und die Pflanzung hätten sie durchaus nötig. Er absorbierte alle diese Vorübergehenden. Furchtbare Schicksale erlebte er aus nächster Nähe, er beschaute langsame und schnelle Aufstiege und das mitleiderregende Stillstehen der meisten seiner Kollegen, die ihm in besonderen Stunden erzählten, mit was für Erwartungen sie vor fünf oder zehn Jahren die Heimat tauschen wollten. Er versuchte den kleinen Wirrgängen der fremden Arbeiterseelen zu folgen und hatte beim Schlichten von Streitigkeiten, wie sie oft zwischen Chinesen und Javanern ausbrachen, ein ungewöhnliches Glück.

Was der Hauptadministrateur durch die Gewalt und Schlagkraft seiner Persönlichkeit vollbrachte, das gelang Peter durch seine einfühlende Art. Föhr sagte ihm einmal: „Sie haben eine so sonderbare Weise mit meinen Arbeitern. Ich sah nie eine glücklichere Hand als die Ihrige. Was ich mit meinen Muskeln kaum fertig bringe und was die Herren Assistenten mit ihrem europäischen Dünkel und ihrer Nichtigkeit stets versauen, das machen Sie ... ich weiß nicht wie ... nicht weich und nicht energisch ... so selbstverständlich machen Sie das. Ich lass’ bei solchen Konflikten ja auch den Arbeiter sehen, wie wichtig ich seine kleine Sache nehme. Aber Ihnen gelingt es, den Mann zu überzeugen, daß Europa nur nach Java kommt, um Streitereien zwischen Chinesen und Javanern zu schlichten. Potz der Tausend, das ist eine neue Macht, die Sie dem weißen Fell über das braune und das gelbe sichern.“

Während dieses Gesprächs fuhren sie im Auto Föhrs durch die Pflanzung. Die Pflanzung bedeckte Land von der Größe eines deutschen Fürstentums. Sie war in einige Bezirke eingeteilt, die A. B. C. hießen und von denen jeder seinen Verwalter, seine bestimmten Assistenten und seine Arbeitsbevölkerung hatte. In der Mitte eines jeden Bezirks lagen, wie eine Insel, die Kolonie der Europäer und die Arbeiterhäuser, die Barren- und Lagerräume. Föhr fuhr jeden Tag von Bezirk zu Bezirk. Er hatte eine gottspielende Art des unerwarteten Überallseins. Er lenkte sein Auto wie ein Akrobat über die engsten und holprigsten Wege und schlang es durch Palmen hindurch. Er war milder zu den farbigen Arbeitern als zu den europäischen Angestellten. Die Arbeiter vertrauten auf ihn, die Europäer fürchteten ihn. Er behandelte die Menschen nach der Achtung, die er vor ihnen hatte. Die Arbeiter und Arbeiterinnen grüßten lachend oder verehrungsvoll, indem sie schon von fern den Hut abnahmen und stehenblieben, die Europäer ergeben.

Als Föhr und Peter von der Fahrt zurückkamen und das Auto langsam um eine Ecke in der Arbeiterniederlassung fuhr, kamen einige Mädchen herangelaufen und riefen etwas. Föhr hielt an und fragte. Da trat eine vor und sagte: „Der Assistent hat mich geschlagen!“ Sofort riefen die andern aufgeregt: „Und mich auch! Und mich auch!“ Sie schrien durcheinander. Föhr lachte und beruhigte sie. „Welcher Assistent?“ fragte er. Da sagten sie alle durcheinander: „Der da!“ und zeigten auf Peter.

Peter war betroffen. Er sagte: „Was haben die Weiber? Es ist nicht wahr!“

„Lassen Sie sie!“ sagte der Direktor lachend. Den Mädchen rief er zu: „Es wird untersucht.“ Er ließ das Auto anspringen und fuhr weiter. Sie waren gleich vor seinem Haus. Föhr bat Peter: „Essen Sie mit mir zu Nacht.“

Sie sprachen dann über die Beschuldigung. Sie war Peter ein Rätsel. Er behandelte alle Leute stets mit großer Milde und Ruhe.

Der Direktor lächelte und sagte: „Es ist die Aufregung nicht wert. Seien Sie nur ruhig. Wir bekommen schon heraus, was da los ist. Irgendeiner scheint da gehetzt zu haben. Kennen Sie die Mädchen?“ fragte er plötzlich.

Peter sagte: „Nein.“

Da lachte der Direktor auf: „So, so! Ich glaub, dann hab ich’s schon! Sie keuscher Joseph!“

Peter schaute ihn ein wenig erschrocken an.

Föhr sagte bestimmt: „Sie berühren kein Weib auf meiner Pflanzung.“

„Woher wissen Sie? ...“

„Weil dies die Mädchen waren, die Ihnen sozusagen kontraktlich zustehen. Sie arbeiten in Ihrem Haus. Und wenn Sie sie nicht kennen ...“

„Ich versteh!“ lachte Peter. „Rache der Verschmähten.“

„Das ist landesüblich!“ entgegnete nebenbei der Direktor. „Die bekommen morgen jede fünf auf ihre schönen Backen. Sie haben schöne Backen.“

„Ich schau ihnen manchmal nach, wenn sie davongehen.“

Der Direktor sagte: „Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Das ist das einzige, was von meinem Gewissen hier draußen blieb: ich bedaure, daß ich mich mit den farbigen Weibern eingelassen habe. Praktisch gesprochen, ich habe sie nie gefürchtet, und es hat nie Folgen, weder schlechte noch gute gehabt. Dem einen schadet’s, der andre bleibt eben der Herr. Bei mir ist dies Bedauern vielleicht nur eine unüberdachte Äußerung des weißen Dünkels. Je mehr wir uns von der Natur entfernen, um so mehr bilden wir uns ein. Man soll zwar nichts tragischer nehmen, als es ist, und es ist selten etwas tragisch. Aber ich genier’ mich vor mir, wenn ich an meinen Harem denke.“

Peter antwortete darauf: „Ich meinerseits mache Ihnen auch das Geständnis, daß es mir nicht immer leicht fällt, diese Hüften vorbeigehen zu lassen, wenn ich abends auf der Veranda sitze. Aber ich schau ihnen nur halb und sozusagen durch die Gitter meiner javanischen Grammatik nach, und dann ... geht’s.“

Föhr lachte: „Das Gitter ist zerbrechlich!“

Durch Peters Gedanken wogte, wie ein Licht, Ewe.

Sie legten sich nach dem Essen in die Streckstühle und rauchten frische Manilazigarren zum Whisky. Sie sprachen nicht mehr viel. Der Vorfall und das, was er aufgedeckt hatte, hielt einstweilen ihre Gedanken im Innern. Peter wurde sich seiner Tugendhaftigkeit eigentlich erst bewußt durch ihn. Föhr sann nach über diesen sonderbaren Peter, der als Mitinhaber einer großen Firma, Weltreisender usw. solchen Prinzipien folgte, als Unerfahrener eine so sichere Behandlung der Eingeborenen ersonnen hatte und sonst doch ein Mensch schien, der nichts Außergewöhnliches an sich hatte, weder in gutem Sinn noch nach der üblichen verrückten Seite. Nur manchmal kam es ihm vor, als ob im ganzen Zug dieses blonden hünenhaften Wesens etwas ungeweckt schlief, eine Energie vielleicht zusammengekugelt lag, die nicht gelöst sein wollte ... Sonst geben die Menschen doch allen Dampf ab, den sie haben. Meist ist es ja beträchtlich wenig. Aber gerade, wenn sie zu uns in die Tropen kommen, dann wollen sie doch gleich mit Aeroplangeschwindigkeit die vermeintlichen rasenden Möglichkeiten des Glücks in Besitz nehmen ...

Auf einmal sagte Föhr seinem Gast das, was er über ihn dachte. Föhr, der König, war nicht gewohnt, vor andern zurückzuhalten.

Als Peter hörte, wie sich sein Wesen in einem andern Bewußtsein formte, war er sehr erstaunt, denn es schien ihm vertraut zu sein, daß etwas in ihm auf Entfaltung wartete.

Föhr sagte noch: „Die meisten Menschen, die bis auf unsre Pflanzung oder nach Batavia schwemmen, sind merkwürdig, wenn sie das sind, nicht durch ihr Wesen, sondern durch ihre äußeren Schicksale.“

In Peter strömten, da ein andrer, den er für so bedeutend und kraftvoll hielt wie diesen Direktor, in das dunkle Chaos seiner Gefühle gegriffen hatte, die Vorstellungen zuhauf. Sie waren in ihm gelöst worden, wie ein Wind Wolken zum Wandern löst. Er fühlte sich dazu gedrängt, Geheimstes von sich einem andern Bewußtsein zu übermitteln, damit es dadurch für ihn selber an Körperlichkeit gewänne, in dieser Zeit des Übergangs zum Sicheren und Abgegrenzten. Er sagte:

„Ich hab eine sonderbare, erschöpfende Art, Erlebnisse in mir sich ausleben zu lassen. Sie müssen mich stets wie bis zum Nichts zerstören, bevor ich wieder zum Gleichgewicht und zu Kräften komme.“

Der Direktor lachte. Es klang halb spöttisch: „Sie sind Jesus in der Wüste.“

Föhr hatte das Bedürfnis, stets den Dingen auch nebensächlicher Art ihren Anschluß ans Große, ans Allgemeine, Vergangene und Zeitlose zu geben. In seinem Beruf dachte er genau, scharf und detailliert, wie eine Präzisionsmaschine, die auf Bruchteile von Millimetern feilen muß. Aber wenn er aus diesem praktischen Weg herauskam, dann wollte er nichts, als irgendeiner Anregung, die von weither an ihn herankam, durch ein Wort einen raschen Ausdruck geben. Er wollte die Kraft seines Kopfes nur spüren; diese Gedanken schlug er aus seinem Hirn wie Felsbrocken. Er dachte sie nicht aus. Das Unausgeformte, das in ihnen lag und nur das Wesentliche faßte, schien ihm so lebenswahrer und schöpferischer zu sein, als wenn er der Anregung weiter nachging und die Ätze seines scharfen und skeptischen Kopfes die Größe des Einfalls rasch zu zersetzen begann.

Der Verwalter hob sich langsam aus dem Streckstuhl und trank seinen Whisky aus. Er schmiß die dicke halbgerauchte Manila in die Nacht hinein und schaute nach, wie sie an einem Stamm in Funken zerstob. Er warf sich wieder zurück und rief: „Boy, one Whisky more,“ und sagte fast zugleich schon: „Ich fühle meinen Jesum hier“ — er zeigte auf seinen Kopf — „und hier“ — er zeigte auf seinen Bizeps. „Der Jesus wechselt mit Umständen und Zeit. Ich habe Urwald, javanische Arbeitswiderspenstigkeit, chinesische Unbegreiflichkeit und europäische Geldgier und Unfähigkeit organisieren müssen. Ganz aus dem Rohen heraus. Ein wenig Erschaffer muß man spielen. Da sinkt Moral hin. Alles ist Objekt, reine Masse. Also Erschaffer spielen. Wenn man aus dem mehr oder weniger fertigen Europa kommt, dann heißt es: den Kopf umordnen. Zwischen uns gesagt: es ist auch das nicht nötig, und meine Administratoren, die Sie kennen, und die Kollegen von den andern Gesellschaften brauchten den Kopf nicht umzuordnen, weil sie keinen hatten. Es geht doch, wie Sie sehen. Die Java-Coffee verteilt auch hundert Prozent.“

„Und was sagt auf die Dauer der umgeordnete Kopf bei Ihnen?“ fragte Pirath.

Ein javanisches Mädchen schlich langsam vorbei. Der Sarong spannte über ihre steilen, zitronenförmigen Brüste, ihre Hüften tanzten. Der Gang hatte etwas absichtlich Verweilendes. Das Weiß der rasch herüberblickenden Augen leuchtete mahnend.

Da fuhr Föhr gegen das Weib auf: „Geh fort, Kreuzdonner!“ schrie er. Ruhig lächelnd wandte er sich zu Peter zurück und antwortete ihm: „Der umgeordnete Kopf, dem es eine Reihe von Jahren gut ging, ist nun schließlich dazu gekommen, sich nach seiner primären Ordnung zurückzusehnen. Er will nicht mehr mit den Dunkelheiten von drei Rassen rechnen und hofft, daß er in drei Jahren in einem Haus am Starnberger See sich Java und Kopra sehr aus der Ferne betrachten kann. Das wäre dann so etwas wie meine Erlösung.“

Föhr sprang auf, schlug mit der Faust durch die Luft und sagte fast schreiend: „Das ist, was einem bleibt von fünfundzwanzig Jahren Tropen! Und ich hab doch Erfolg gehabt. Ich komm mir armselig vor mit meiner Sehnsucht nach dem armseligen Starnberger See. Aber diese Luft hat mich ausgetrunken ...“

Er hielt die starke, etwas aufgeschürzte Nase seines spitzen glattgeschorenen Kopfes über die Veranda schnuppernd in die weiche, nur leicht gekühlte Nachtluft, in der das Schrillen von Insekten und das Verdonnern der Dünung ineinanderflossen und unbekannte Tiere manchmal einen Schrei, wie einen Dolchstoß so heftig, so tragisch, aufwarfen. Peter schaute ihm zu. Er ging seinen Gedanken nach und lebte doch bei diesem Mannesherzen, das sich wie ein empörter Hengst rückwärts bäumte vor der Fremdheit draußen, die es nicht ganz besiegen konnte.

„Ach was!“ sagte Föhr plötzlich roh und warf sich auf seinen Streckstuhl zurück, daß das Rotanggeflecht krachte und schrie. „Whisky, boy!“ rief er sanft tuend, und als der Javaner herankam, faßte Föhr ihn um den Hals und schüttelte ihn heftig. Der Javaner schlug das Weiße seiner Augen leuchtend auf, der kleine Körper zappelte erschreckt. Föhr entließ ihn mit einem milden Stoß aus seinen Händen, der Braune torkelte und drohte zu fallen, aber Föhrs Hände hatten ihn schon wieder unter den Achseln und stellten ihn auf die Beine. „Du brauner Hund,“ sagte er lachend, „wir wollen dir doch nichts tun. Wir sind doch zivilisierte Orang blanda, weiße Orang-Utans, wie ihr Schweinepack uns nennt. Whisky, Whisky, rasch, mein Junge!“ rief er, und der Javaner glitt lautlos in die Dunkelheit des Hauses.

„Morgen müssen wir noch Ihre drei Doñas prügeln!“ sagte Föhr. „Wollen Sie dabei sein? Sie sehen alle drei wunderbar aus, aus dieser Vogelschau. Je fünf über beide Backen. Das genügt. Die Weiber haben ja schließlich recht, Sie Jesus in der Wüste.“

„Vielleicht geht’s auch ohne Prügel,“ versuchte Peter.

Föhr schwieg. Der Lärm der Nacht strömte über die beiden Einsamen, die auf der Veranda in die Stühle versanken. Nach einer Weile sagte der Direktor plötzlich: „Wir wollen sie anders bestrafen.“

Er rief einen Diener und befahl ihm auf javanisch: „Dasima, Samium und Mela sollen gleich herkommen und alle Diener und der Koch.“

„Die Babus schlafen,“ antwortete der Diener widerspenstig.

Föhr schaute ihn an, und der Braune hastete eilig hinweg. Föhr sagte zu Peter: „Er glaubt, wir wollen uns eine für die Nacht aussuchen. Es ist der auch bei uns bekannte Neid.“

Nach einer Weile kamen die Weiber. Sie hatten sich schön gekleidet, gebatikte Sarongs um die Hüften gelegt und einen farbigen Schleier um den Kopf gezogen. Föhr lachte: „Sehen Sie, sie glauben, wir wollen uns jeder eine wählen.“

Aber die Weiber standen da und schauten gleichgültig und eher abwehrend an den Europäern vorbei. Föhr fuhr sie streng an. Er sprach Javanisch mit ihnen.

„Der Assistent sagt, es ist nicht wahr, daß er euch geschlagen hat.“

Sofort quietschten alle drei: „Er hat uns geschlagen. Er hat uns auf die Schultern und aufs Gesicht und aufs Gesäß geschlagen. Und mich hat er auch auf den Bauch geschlagen.“

Der Direktor winkte „nein“ mit dem Kopf.

Die Mädchen schrien frech weiter: „Doch, er hat uns geschlagen.“

Peter schaute sie an, gespannt, aber auch bekümmert. Denn er gab sich Mühe, alle Leute gut zu behandeln. Auch er winkte „nein“ und sagte: „Wie könnt ihr das sagen? Ich hab euch nie angerührt.“

Da schrie Mela, die wildeste und schönste, die ihre großen Brüste vor sich trug wie Gewölbe voll Schwung, Schatten und Gewalt, zu Föhr: „Er hat uns geschlagen, auch wenn er nein sagt. Er kann nein sagen, denn der Tuwan, der Herr, gibt uns immer recht gegen die Assistenten!“

Da stand Föhr langsam auf, ging auf sie zu und gab ihr eine Ohrfeige. Die Ohrfeige kam Mela unerwartet. Sie erschrak, aber sie nahm sie entgegen, ohne zu zucken. Er sagte ruhig: „Ich geb dem recht, der recht hat. Ob das ein Assistent, eine Babu, ein Chinese, ein Javaner oder ein Hund ist. Das wißt ihr. Der Assistent hat euch nicht geschlagen. Ihr lügt ...“

Rund um die Weiber standen die braunen Diener. Einige lachten. Die andern schauten bös und dumm drein.

„Ich weiß, weshalb ihr lügt. Ihr lügt, um euch zu rächen. Ihr geht jeden Abend über die Veranda, wenn der Assistent dort nach dem Nachtessen sitzt. Und ihr wollt, daß er euch mit schlafen nimmt. Das wollt ihr nur, damit er euch dann Geschenke macht. Ihr wollt nicht mit ihm gehen, weil es im Bette schön ist. Ihr wollt euch verkaufen, ihr schmutzigen Mädchen.

Aber der Assistent liest in Büchern und kümmert sich nicht um euch. Deshalb seid ihr erzürnt gegen ihn. Ihr bekommt keine Geschenke, und so sagt ihr: er schlägt euch. Die Mela hat euch verführt, das zu sagen ...“

Die drei Mädchen standen da mit bösen und trotzigen Gesichtern. Sie schauten an Föhr vorbei. Die Männer begannen zu kichern.

„Und wißt ihr, weshalb der Assistent liest? Weil seine Bücher schöner sind als ihr. In den Büchern stehen gute Dinge. Ihr seid schlecht. Ihr seid habgierig und habt kein Feuer im Blut. Ihr seid unsauber. Ihr badet nicht. Ihr seid häßlich. Eure Gesichter sind wie Kokosnüsse so uneben. Eure Leiber riechen wie Durianfrüchte. Ihr haltet euch so krumm wie ein Pavian. Eure Stimmen sind so häßlich wie die von Papageien. Ihr habt Glieder, die so schlaff sind wie getrocknete Tintenfische. Geht fort, ihr häßlichen Weiber! Ihr bekommt nicht einmal Schläge auf den nackten Hintern, obschon ihr das verdient. Denn ich will den Jungen es nicht antun, daß sie welke und häßliche Hinteren sehen. Geht!“

Föhr legte sich nieder. Die Weiber standen da, leidenschaftlich bewegt, bösartig wie angebundne Schlangen. Die Jungen kicherten.

„Weshalb geht ihr nicht?“

Da rief Mela frech und bös: „Ich will Schläge!“ Die beiden andern riefen nach: „Ich will Schläge!“

„So! Weshalb?“ fragte Föhr.

„Ich hab keinen häßlichen und welken Hintern!“ zischte Mela.

„Das sagst du! Ich sag aber, du hast einen!“

„Der Tuwan hat ihn nicht gesehen!“ entgegnete Mela rauh.

„Davor hat Mohammed mich bewahrt,“ sagte der Direktor ernst. Er schwieg einige Sekunden und fragte dann: „Er ist häßlich, oder ihr habt gelogen, und der Assistent hat euch nicht geschlagen.“

„Dann haben wir gelogen!“ brach es aus Mela heraus.

Die drei Weiber standen schlank und gerade da und reckten ihre Körper auf, daß Brüste und Bauch die Sarongs auseinandersprengen wollten.

„Und wir wollen keine Geschenke!“ sagte das Mädchen. Die beiden andern schrien auch: „Wir wollen keine Geschenke.“

„Was wollt ihr denn?“ fragte Föhr.

Aber da schwiegen sie und schauten mit ihren großen feurigen Augen wild vor sich hin in die Lampe.

„Dann hab ich euch nichts mehr zu sagen, geht!“

Nachdem die Mädchen und die Diener gegangen waren, sagte Föhr zu Peter:

„Das war Hölle für die drei! Sie werden drei Monate nicht mehr lügen.“

Als Pirath in der Nacht zu seinem Hause kam, brannte die Lampe in seinem Schlafzimmer. Die Sterne schienen durch die Palmen durch. Die Nacht war tief und schwarz und die Luft mit einem scharfen, keimigen Meerdunst gefüllt. Peter spürte die Finsternis wie einen Leib seinen Körper streifen. Er erinnerte sich an eine Nacht im Roten Meer.

An seiner Treppe standen drei dunkle Gestalten. Sie standen so, daß der Schein der Lampe sie ein wenig berührte. Peter erkannte rasch, daß es die Mädchen waren. „Wollen sie sich an dir rächen?“ sagte er sich. Er erschrak ein wenig, machte sich dann angriffsbereit und ging gerade auf sie zu. Er sah die fremden Augen in der Nacht leuchten, wie aus Höhlen heraus. Der große weiße Kranz schimmerte. Die drei standen stolz und schön aufgereckt. Er schaute sie fest an und ging vorbei. Keine sagte ein Wort. Keine machte eine Bewegung. Die Sternenfinsternis floß über sie wie über Säulen.

Peter schaute durch die Jalousien seines Fensters noch einmal auf sie herab. Er kämpfte auf einmal heftig gegen diese braunrassige Luderhaftigkeit; es war ihm, als sprühte sein Blut durch die Haut zu diesen drei reifgehobenen wartenden Leibern, in denen Stolz und Gemeinheit, Rache und Hingebung geheimnisvoll eins waren. „Ich will nicht! Ich will meine Muskeln behalten!“ knirschte er. Er trat unwillig vom Fenster, zu dem die drei dunkeln Augenpaare nun heraufschillerten, und setzte sich an den Tisch. Er begann wieder zu schreiben, was der Tag gebracht hatte. Er riß nacheinander zwei Seiten heraus.

Er konnte nicht schreiben. Die Nacht feilte, schrie, feixte, roch, sprudelte. Er drohte ihr anheimzufallen, sich in der fremden Nacht ertrinken zu lassen. Die Mädchen warteten draußen. Ihr Schoß war krause Verführung, süßer wuchernder Urwald. Die Nacht lauerte in ihrem Schoß wie eine Sünde von einer tötenden Brutalität. Weshalb warf er sich nicht hin, nahm, trank, brüllte ... und schlief. „Ach, ich Jesus in der Wüste!“ klagte er. „Ich hab daheim versagt und muß nun wandern, suchen, mir selber Erlöser werden! Ich fühl jetzt meinen Jesus in mir, meinen eigenen Jesus. Denn es ist eine Lüge, daß dieser Gesalbte einmal eine leibliche Gestalt annahm. Ein jeder Mensch trägt den eigenen Gesalbten in seiner Brust. Es ist eine Lüge, und unsere Symbole zu Hause sind verwuchert und entweiht, damit einige Menschengruppen, die das Symbol zu verwalten vorgeben, ihre Macht über das Volk behalten.“ Wie klar empfand er das in dieser Stunde der Versuchung und des Verlorenseins in der tropischen Nacht! Das Meer rauschte wie eine Höhle, und die Grillen feilten grell, die Sterne machten die Bäume und Sträucher und Rasen leise schäumen. Die drei Mädchen sangen jetzt. Ihr Gesang war, als ob er das glasig fremde Sternenlicht verspönne. Das Gewebe ihres eintönigen, leisen und fremdlich aufduftenden Psalms strömte ins Haus herauf, strudelte an den Wänden entlang und wollte das deutsche Herz überströmen.

Aber das deutsche Herz, das seinen Erdulder und Erlöser entdeckt hatte, wehrte sich gegen den Gesang der drei braunen Münder. Das deutsche Herz roch den starken Atem, der den singenden Weibern aus den roten Mündern entströmte wie ein riechender, fremder Fluß im Urwald. Der Mann sank übers Bett und drückte die Fäuste an die Schläfen. Er wußte, es geschieht dir nichts, wenn du deinem Blut nachgibst; es wird nur eine Sünde sein, nur ... eine ... Sünde. „Sünden sind, damit sie begangen werden!“ hat einmal jemand ihm gesagt. Wer ...? Wo ...? Wann ...?

Ewe!

Peter sprang vom Bett. Er richtete seine starke Gestalt wuchtig in die strudelnde tropische Nachtluft und rief laut den Namen: „Ewe.“ Wie eine Glocke läutete der Name in die verborgen tobende Stille der Nacht. Der Gesang der drei Weiber brach ab. Der Name hatte ihn gelöscht. Peters Herz erhob sich um die ferne, in ihr Geheimnis dahingesunkene schöne, kluge und reife Frau. Der Spuk der javanischen Nacht zerschmolz. Ewe stand süß wie ein Berg, edel wie die hohen Schwärme der Sterne und ewig wie das bronzene Wogen des Ozeans in dem deutschen Herzen, das seine Erlösung gefunden hatte. Ein Erlebnis hatte sich aufgelöst in den Brodem der Phantasie. Eine Kreuzigung war vorbei. Ein Herz gerettet.

Draußen, wo unwillig und bös drei halbnackte schöne junge Weiber verschlungen an Sträuchern dahinstrichen, in denen Glühkäfer aufleuchtend sich begatteten, da wartete schon die nächste Versuchung. Als Peter so frei aufgereckt dastand und wunderbar Herr seines Innern geworden war, war es ihm, als spürte er seine Kräfte in sich stehen wie einen Baum. Sein Temperament und sein Intellekt waren vom fremden Klima aufgepflügt, waren in vielfachen Kreuzungen widerspruchsvoll berührt worden, waren nach hundert Richtungen gezückt. Kampfesselig, mannesbewußt fühlte er den Willen in seiner weißen Faust eine fremde spukhafte Nacht erwürgen. „Was ist’s, der Gefahr aus dem Wege zu gehen?“ sagte er plötzlich. „Man muß sie über seine Muskeln kommen lassen!“ Und er ging rasch auf die Veranda hinaus, von der Fruchtbarkeit seines plötzlichen Gedankens ungebärdig erfüllt und rief: „Mela!“ Er rief das Wort wie zum Kampf in die Sternennacht. Das Wort hielt, wie das unerwartete Anspringen eines Tieres, die drei Weiber an, die nicht fern unter den Palmen aneinander geschlungen davongingen. Sie blieben stehen, sie schauten alle drei zurück und lachten befriedigt und satt. Sie standen da mit ihren schönen, aneinander ruhenden Leibern, mit ihrem auf den Europäer gezückten Willen, wie die Scheide Javas. Dann löste sich Melas monumentale Brust aus dem Gemengsel der nackten braunen Arme und Schultern, und das junge Weib schritt langsam und geradeaus der Begierde des Weißen zu.

Peter nahm sie kurz, streng und wild. Kein Augenblickchen zitternden Nachgebens kam in seine Seele. Er blieb ganz sich selber und ihr der Herr.

Er dachte immer in den abspannenden Lüsten dieser Nacht, die wie Gewitterregen durch seinen Körper fielen, an Ewe und sehnte sich doch nicht nach ihr. Sie floß fern und verwunden, tief in den Schollen seines Seins, wie ein Geist gewordenes Licht. Er war im Bund mit ihr, und er sündigte nicht, daß er das braune Weib gerufen hatte. Sein Leib lag dann bis zum Morgenlicht einsam in einer süßen Abspannung. Er hatte die braune Seele in Besitz genommen, und sein weißer Wille zog auf Eroberung in die Urwälder.

Am nächsten Morgen wurden ihm zwei Briefe gebracht.

„Hermann!“ rief er erschrocken und glücklich und brach den ersten Brief auf, ohne den anderen anzuschauen. Er las mit fliegenden Augen und mit hastig nehmendem Gefühl. Ach, Gott, ja, das war der liebe, kleine, runde und edle Hermann. Peter wollte weinen. Der Brief war die Antwort auf die Beichte. Es stand etwa drin: „Ja, wenn Du gedacht hast, daß ich glaubte, Du brauchtest nur tausend Mark Passage auf einem Dampfer zu bezahlen, um sofort Jens Peter Pirath Söhne eine üppige Plantage in die Fettkessel zu werfen, so hast Du die Meinung, die ich von Dir habe, doch überschätzt. Du weißt, das einzige Buch, das ich immer wieder lese, sind die Schicksale des Wilhelm Meister. Daraus hab ich erfahren, wie man seine Lehrjahre machen muß. Du bist auf der Walze, lieber Geselle, und ich bin sicher, daß Du ein Meister werden wirst. Spring über Deinen ersten Schlag hinweg, wenn er nicht gelang. Es ist ja nur kindlicher Ehrgeiz, wenn Du verlangst, den Mißerfolg selber und allein tragen zu müssen.

Im übrigen arbeiten schon drei Deiner Zentrifugen daran, ihn gutzumachen. Das sind famose Maschinen, die Du uns vor Deinem Sprung in die Welt noch da ließest, Bruder ...“

Es war ein langer Brief voll Einzelheiten aus der Heimat, ein Brief, der einen liebkühlenden Atem in das offene sonnendurchspülte Haus brachte, ein wenig wehmütige Sehnsucht, krasse und milde Erinnerungen, Zuversicht, Stolz, Liebe. Und dann stand noch als Anmerkung: „Dein Prozeß ist geordnet. Alles vorbei und nach Wunsch gelöst.“ Peter mußte sich wirklich zuerst fragen: Was für einen Prozeß hab ich denn? — Dann lächelte er, und ein Wörtchen klang und verklang rasch in ihm: Ree! Viel mehr als ein Klang war es nicht.

Das andere Schreiben war von Ledinski aus der deutschen Südsee. Mit Ledinski korrespondierte Peter. Sie hatten sich allgemeine Dinge in den beiden Briefen geschrieben, die sie gewechselt hatten: über Pflanzungen, Koprapreise, Möglichkeiten des Marktes, über Arbeiterfragen, die wichtig und ungelöst wie ein Schatten die deutschen Inseln überlagerten. Ledinski schrieb ihm, die Eingeborenen dieser Inseln seien fast unbrauchbar und werden immer arbeitsunwilliger. Peter schilderte ihm die Tüchtigkeit der chinesischen Kuli.

Aber in diesem Brief schrieb der Amtmann:

„Die Aussichten auf meiner Insel sind einfach ungemessen. Die Deutschen sehen sie nicht. Australische Unternehmer fangen ihnen augenblicklich das Beste weg, und ich bin an die beschränkte Macht meiner Stellung gebunden. Ich möchte diese australische Invasion auch gar nicht verhindern — vorläufig. Denn ich hoffe immer noch, daß sie den deutschen Kapitalisten die Morgenkörner aus den Augen putzt. Aber was weiß man denn in Deutschland von unserer Südsee? Ein vortreffliches System hat ihre Kenntnis bei uns zurückgehalten. Und mir waren immer — gouvernemental — die Hände gebunden. Fuhr außerdem nie als Commis voyageur der Südsee in die ‚goldenen‘ Ferien. Ich sah auf dem Schiff die Wirkung jener Technik an Ihnen. Wissen Sie noch, wie wir uns auf einem Dampfer unterhielten? Die schöne und kluge Frau Haug! Ich wurde kratzbürstig, als sie mich fragte. Jetzt sind die Ferien vorbei.

Ich vertraue Ihnen an, daß ich es fertig brachte, in unserer Nähe (der beste Einladehafen) ein ziemlich beträchtliches Gebiet frei zu halten — gegen alle Intrigen. 5000 Hektar. Zum größten Teil sandiger Boden mit Wasser, von dem man ehedem glaubte, er trage nichts. Europäisches Augenmaß: fett ist gleich fruchtbar ...! Schon vor zehn Jahren legte ich eine kleine Probe- und Musterpflanzung an. Daraufhin ist es im Laufe der Jahre der beste Boden für Palmen geworden. Er trägt etwa 5/4 Tonne pro Hektar. Der andere eine Tonne.

Noch mit den Zahlen locke ich Sie, die Sie auf den beigelegten Blättern finden. Diese Berechnungen sind von mir durch zwei Jahrzehnte Tätigkeit geprüft. Sie sehen daraus, daß eine Tonne im eigenen Betrieb etwa 80 Mark kostet + 100 Mark Fracht, Spesen und Eintrocknungsabzüge bis Hamburg, macht 180 Mark. Sie wissen ja auch, daß die Palme stabile Ernten gibt. Die Preise sind seit Beginn des Pflanzens in regelmäßiger Steigerung, augenblicklich zahlt Hamburg 640 Mark für die Tonne. Und weshalb sollte solch ein Welthandelsartikel einem Preissturz ausgesetzt sein? Selbst für den Fall eines Kriegs, den wir seit einiger Zeit ja alle im Osten erwarten, scheint mir wenigstens nichts Bleibendes zu befürchten zu sein.

Aber kommen Sie! Als unser Gast natürlich, sagt meine Frau über meinen Rücken, da sie erstaunt ist, daß ich einen so langen Brief schreibe, und auf so lange, wie es Ihnen beliebt. Kommen Sie bald, denn die Choiseuil Compagnie, die an der andern Küste unserer Insel 5000 Hektar in Pflanzung genommen hat, liegt mit einem schweren Auge auf meinen 5000 Hektar. Wenn auch das Gesetz einen größeren Besitz als 5000 Hektar in einer Hand verhindert, so verhindert kein Gesetz die Gründung einer neuen Gesellschaft und die Vorliebe, mit der der Deutsche das ausländische Kapital behandelt. Ich könnte dann, wenn mit ernsten Waffen auf mich losgegangen wird, die Sache nicht mehr retten, denn, wenn auch vielleicht geschätzt, so bin ich keineswegs beliebt an hoher Stelle. Dafür kann und weiß ich zuviel, und vor allem tu ich zuviel! Sie wissen, wie das ist ...“

Pirath ging gleich die beigefügten Berechnungen durch. Er fand, daß sie ungefähr mit dem übereinstimmten, was er auf Java erfahren hatte. Der Unterschied war nur im Bodenwert und in den Löhnen bedeutend, aber für ein noch nicht erschlossenes Land begreiflich.

Er berechnete: Die Fabrik arbeitete zu Hause bisher mit drei Systemen durchschnittlich 18 000 Tonnen jährlich. Ein Drittel Sesamsaat, ein Drittel Erdnüsse und ein Drittel Kopra. Also 6000 Tonnen Kopra. Das ergab in merkwürdiger Übereinstimmung die Ernte jener 5000 Hektar. Diese Pflanzung könnte also in acht Jahren Jens P. Pirath Söhne vom Kopra-Zwischenhandel frei machen.

Pirath schrieb dem Bezirksamtmann gleich, er sei fest entschlossen, sich der Sache mit allem Ernst anzunehmen. Er müsse nur mit der Reise warten, bis er auf Java frei würde. Auf alle Fälle bäte und berechtige er den Amtmann, für den Fall von Gefahr, das Land mit den Ansprüchen von Jens Peter Pirath Söhne zu belegen. Er schrieb ihm noch mit, was Föhr über die Südsee-Pflanzungen meinte. Er nenne sie immer: Palmenkarusselle. Wie das Pferd im Innern, wenn das Ding mal dreht, auch im Schlaf herumläuft, so gingen sie von selber. Er brauchte dort nur Verwalter, die nicht immer besoffen sind. „Die Kerle leben von unserer Geschicklichkeit!“ fluchte er. „Wir treiben die Preise, kanalisieren den Markt, und sie schieben so mit hinein.“

Peter versiegelte den Brief. Er hatte ihn am Abend nach Schluß seiner Arbeit geschrieben. Er steckte die Kopie in die Tasche und überlegte sich, ob er nicht mit Föhr diese Angelegenheit durchbesprechen sollte. Zwar war er sich bewußt, daß er unabhängig von Föhrs Meinung bei seiner Zusage bliebe. Denn Föhr war jetzt oft wunderlich gereizt und widerspenstig und zugleich von einer Vertrautheit zu Pirath, die Peter oft peinlich war. Unentschlossen, was er tun sollte, verließ er sein Haus. Er ging einen Umweg hinten durch das javanische Arbeitsdorf herum und sah dort Föhr auf einmal aus dem Haus kommen, in dem das kleine Gefängnis war. Der Administrator stürmte auf ihn zu, den Panama in der Hand, den spitzen Schädel mit Schweißtropfen besetzt und sagte, als er ihn erreicht hatte, wie außer Atem:

„Jetzt sah ich Ihre Mela. Ich bin weg. Herrlich, herrlich, wie ...“ Föhr formte ununterbrochen mit seinen Händen lebhaft und begeistert zwei Hügel ... „wie soll ich sagen, wie ... wie zwei Weltkugeln, wie ... nun ja, ich hab ihr fünf geben lassen.“

Pirath erschrak. „Wegen meiner?“ fragte er verwundert.

„Nein, ich bin unterrichtet. Sie haben sich ausgesöhnt. Ich weiß alles, was geschieht. Ich bin Gott auf A. B. und C. der Java-Amsterdam-Maatschappij. Ja, ja, also die Mela hat heut früh einen Chinesen bezichtigt, er habe ihr ein silbernes Armband gestohlen. Ich fragte: ‚Woher hast du das Armband gehabt?‘ Sie sagte: ‚Vom Assistenten ...‘ Föhr tippte Peter auf die Brust ..., aber ich sagte: ‚Du schlaues Luder! Du lügst und beschuldigst den Chinesen, damit ich erfahren soll, daß deine Hinterbacken den Gefallen des Assistenten gefunden haben.‘ Aber den Einfall fand ich so ulkig und sonderbar, daß ich ihr die Lüge durchgehen ließ, um so mehr als ihre Brüste mir entgegenprangten. Die schönsten Brüste der Java-Amsterdam-Maatschappij. Dann kam sie aber mittags nicht zur Arbeit. Weshalb? Sie habe ein blutiges Hemd. Wir führen ja doch Kalender darüber. Das war also nicht wahr. Sie vertraute auf die vergangene Nacht, das Rabenaas. So sind sie! Sie glauben, per Bett können sie die Disziplin vom Weg spucken, wie eine Mücke, die auf einem Blatt vor einem sitzt. Da diktierte ich ihr fünf zu. Sehen Sie, erst mußte ich aber ungerecht sein! Wegen der Brüste! Ekelig. Starnberger See! Der Schrei nach dem Starnberger See! Wieviel von uns sind schon zwischen zwei Weiberbrüsten ins Tiefe gerutscht. Ich verkomm! Lieber Pirath, nach fünfundzwanzig Jahren von mehr oder weniger Sauberkeit solche Sachen. Sagen Sie selber!“

Peter fragte sich: „Ist er nicht betrunken?“ Es widerte ihn ein wenig an, und er entschloß sich gleich, von seinem Brief an Ledinski nichts zu sagen. Dann tat dieser gewaltige und tüchtige, starke Mann ihm aber leid, der nicht erwarten konnte, sein Leben in die Seele einer deutschen Landschaft zu retten.

„Sagen Sie selber!“ drang Föhr in ihn. Ein Dunst von Alkohol flog Peters Gesicht an. Er wendete sich leicht ab. Das bemerkte Föhr. Da nahm er sich zusammen und sprach etwas von der Pflanzung. Sie durchschritten die Terrassenanlagen vor Föhrs Haus am Meer. Ketten von rotem Hibiskus kreuzten sich mit steifblütigen weißen Frangipanen, und weinrote Bougainvilles überschäumten einen langen Laubengang. Über andern blühenden Teichen erhoben sich als Abschluß mit grotesker steifer Feierlichkeit eine Reihe von Agaven, die ihre trächtigen Blütenstengel hoch aus den Blättern gegen die untergehende Sonne hoben. Hinter dem Hause wogten die Palmenwälder heran, mächtig in ihrer tropischen Eleganz, stark in ihrer unentwegten Fruchtbarkeit, widerspruchsvoll: Park, Urwald, Welthandel, drahtlose Telegraphie, Aufschwung und Niedergang ...

„Bald kann ich die Palmen nit mehr aanschaun,“ sagte Föhr in süddeutschem Dialekt, den er sich sonst abgewöhnt hatte. Peter durchlebte die Ahnung der haltlosen Geschehnisse, die im Innern dieses starken Mannes stürmten und ihn zu stürzen drohten. Jetzt, wo seine Seele den Duft des heimatlichen Sees schon so stark roch. Waren das die Tropen? Er schaute in die wirbelnde Buntheit, in die ineinandergepreßte Wirrsal von Farben und Formen rundum auf der großen Gartenterrasse. Die dunkeln Agaven standen wie Giraffen kahl und hochhalsig und uferlos dumm im sprühenden tiefen Sonnenlicht, das sie vergrößerte. Peter faßte Föhr unterm Arm und lenkte ihn in die Laube der Bougainville, und die weite, von Buntheit bebende Luft fuhr um die beiden rasch gestillt zusammen zu einer kühlen, schattigen, schweigsamen Kugel. Sie setzten sich in breite chinesische Sessel. In der Laube brannte schon die grelle Vergasungslampe, die jeden Abend um dieselbe Zeit von einem dazu bestimmten Diener angezündet wurde.

„Da haben Sie eine meiner Pfostenzigarren,“ sagte Peter. „Rauchen wir sie zusammen, als Friedenszigarre mit der Luft hier rundum.“

„Sie geben mir die Adresse Ihres Händlers. Die rauch ich auch am ... Also sooft ich jetzt noch einmal Starnberger See sage, so viele Whisky entzieh ich mir täglich!“ fuhr Föhr gegen seine eigene Rede auf.

Sie brannten die Zigarren an. Ihr Duft änderte den Geruch der steif mit Blumengerüchen und ferner Feuchtigkeit vollgepumpten Luft. Föhr schnupperte mit seinem eingetätschten Korken von Nase rund um seinen Kopf hinter dem Geruch her. Dann begannen sie ruhig und in leichter Ermattung nach dem heißen Tag über mancherlei zu reden und kamen in eine Unterhaltung, die sie einander nahe brachte und aneinander fesselte und die nach und nach sehr persönlich wurde. Sie söhnten sich in diesen Gesprächen beide mit der Mißstimmung der letzten halben Stunde rasch aus. Föhr ließ eisgekühlten Champagner kommen. Er fürchtete, die Laube und damit die Stimmung aufzugeben, diese Stimmung von seelischem Gleichgewicht, in dessen einer Schale Europa lag, während Unwägbarkeiten die andere füllten.

Er fragte, als es Abendessenszeit war: „Haben Sie Hunger? Ich habe keinen. Der Boy soll kalten Fasan bringen, eine Platte voll, und wir essen das so mit den Fingern. Nicht decken, gelt, wir bleiben so, bitte.“

Peter war einverstanden. Auch er fühlte sich glücklich. An einer unbekannten fernen Küste sproß es unter seinem Willen auf. Da zog er die Kopie seines Briefes an Ledinski heraus und gab sie Föhr zu lesen. Föhr las rasch und lachte dann auf.

„Also unter uns!“ ... Er tippte sich an die Stirn ... „Was haben sich eigentlich diese Koprafabrikanten drüben so lange gedacht? Ich sitze hier wie eine gespannte Flinte. Fünfundzwanzig Jahre wart ich auf das eine: Kommt denn nicht endlich einer auf die Idee, unsere hundert Prozent Dividende zu durchschauen und selber zu pflanzen, was er verarbeitet? Also wie Sie kamen, da war ich wie erlöst. Unsere holländischen Inseln sind ja wohl jetzt zu. Aber die Südsee ...! Das geht gewiß! Sie werden dort mit primitiveren, aber günstigeren und leichteren Verhältnissen rechnen können. Ich sah’s an der Aufstellung Ihres Bekannten. Die Arbeiter sind billiger, viel billiger. Taugen aber nichts. Sie werden sich schließlich doch zu Chinesen entschließen müssen.“

„Das hab ich mir auch schon gedacht!“ warf Peter ein.

„Gehen Sie hin, so rasch wie möglich!“ sagte Föhr.

Aber Peter entgegnete: „Ich will mein halbes Jahr hier fertig machen.“

„Was suchen Sie denn noch hier? Den Einblick, den Sie brauchten, haben Sie. Da drunten geht’s ja von selbst, wenn der Verwalter zu Anfang ein bißchen gut schmiert. Es ist ja wurscht. Ich geb Ihnen private Aufzeichnungen. Sie sollen allerdings vertraulicher Natur sein. Aber Sie sehen daraus, wie die Java-Amsterdam-Maatschappij geworden ist. Ich vertraue Ihnen ...“

Peter entgegnete: „Sie sind vielleicht jetzt in einer Laune, die ... Ich möchte nicht, daß Sie morgen bedauern, und bitte Sie, es mir nicht zu geben.“

Föhr sprang auf und lief davon. Er rief zurück: „Potztausend, so einer!“ Rasch war er wieder da und hatte ein fingerdickes, steif gebundenes Heft in der Hand. Er gab es Peter: „Ich werde morgen nicht bedauern. Arbeiten Sie’s durch. Es wird nicht umsonst sein. Wo wir hier anfingen vor soviel Jahren, da fangen Sie jetzt in Buka an. Nur daß die Koprapreise derweil um etwa ... etwa ... zweihundert Prozent gestiegen sind. Und damals ging’s uns auch nicht schlecht. Nach der ersten Krise.“

Sie plauderten lange. Föhr war vom Champagner wieder zum Whisky geraten. Er hatte den Korbsessel gegen den Liegestuhl vertauscht. In einem fernen Winkel brannte eine Glühbirne. Ein Ballen von großen und kleinen Insekten umwirbelte die feurige Kugel und tanzte mit dem Licht, das sie aus der gleichmäßigen Flut der Sternennacht von weit rundum erregend anzog. Peter war auf einmal ungeduldig, wegzukommen. Der Inhalt des Buches lockte ihn mächtig. Flüchtige Berechnungen entstiegen seinem Gehirn, ob man die Eingebornen gegen Chinesen umtauschen könnte. Die Berechnungen versprühten immer wieder plötzlich, und andre Vorstellungen hoben sich um die steif fruchtbare Urwaldküste des schwarzen Buka. Er begann auch Föhr zu fürchten, der jetzt mächtig Whisky trank und die ruhige Versenktheit ihrer bisherigen Unterhaltung zu durchbrechen anfing. Er redete heftige Sätze, unterbrach sich immer wieder und rief zwischen seine eigene Rede: „Ich sag’s nicht, ich sag das Wort nicht, Starnberger See kommt nicht über meine Lippen. Noch ein Whisky, Junge.“

Er richtete sich auf einmal auf in der Dunkelheit und sagte Peter leise: „Wenn Sie hierbleiben wollten die zwei Jahre, ich würde durchsetzen, daß Sie mein Nachfolger werden. Administrateur können Sie morgen sein. Ich hab heut den Hermings an die Luft gesetzt.“ Seine Stimme erhob sich allmählich ... „So etwas von Unfähigkeit! Welch Glück, daß Gott die Kopra immer gleich wachsen läßt. Wenn es nur um ein Prozent vom Können meiner dreißig Assistenten abhing, so hätten wir immer Mißernten. Ich werde jetzt die Arbeiter zu Assistenten machen und die Assistenten zu Käfersuchern. Diese Köppe von aufgeblasener Dummheit! Man muß selber für alles mit Kopf sein. Ist Europa denn dümmer geworden in den letzten zwanzig Jahren! Sagen Sie mir das! Oder welches neue System treibt die Unfähigsten in den Tropendienst? Nun gehen Sie auch hier weg!“

Peter lenkte ab: „Wir sehen uns ja in zwei Jahren in Deutschland wieder. Mein Haus liegt zwar nicht am See, dessen Namen man nicht sagen darf, aber es wird Ihnen trotzdem drin gut gehen, wenn Sie kommen.“

Aber Föhr ließ sich nicht abbringen. Er klagte: „Ich komm ja nicht! Ich verkomm ja hier noch in den zwei letzten Jahren. Die Geschichte mit den prangenden Brüsten der Mela ... Boy, noch einen Whisky ... Ich erzählte ja. Und zwischen den Brüsten der farbigen Weiber geht ein watershoot für weiße Liebhaber in die Tiefe. Der Mohammed soll sie alle zu seinen Huris nehmen, daß wir Christen diese Plage bis in alle Ewigkeit los werden! Aber schön sind sie, die Äser. Die Mela ... wie zwei Erdkugeln! Die ganze Geilheit des Urwaldes hat an diesem Paar Backen mitgearbeitet. Ich muß ihr morgen noch einmal fünf geben lassen.“

Peter lachte peinlich berührt: „Das können Sie einfacher haben.“

„Wie denn?“ fragte Föhr gierig.

„Ich schick sie Ihnen jetzt herüber.“

Föhr rief auf: „Pirath, Sie sind der Verführer Beelzebub. Weiche! Weiche ...!“ Lauernd aber fragte er gleich darauf: „Was machen Sie denn heut abend?“

„Ich arbeite Ihre Aufzeichnungen durch.“

Da besann sich Föhr. Er sagte sich bezwingend: „Nein, Spaß! Gehen Sie schlafen! Es ist Zeit.“

Er erhob sich, und sie verabschiedeten sich.

Peter ging einsam durch die schrillende Nacht seinem Haus zu. Diese Kämpfe und das Unterliegen, das Gewaltsame und das Versagende des Direktors erregten ihn. Als Peter vor vier Monaten kam, war dieser Mann wie stählern gewesen, von einer unwandelbaren Gleichmäßigkeit. Er spürte, als ob die fremde, dampfend weiche Luft wie ein Gift in seinen Atem und seine Nase dränge. Er wehrte sich gegen Java. Weshalb hatte er Mela gestern nacht gerufen? Es verursachte ihm Pein, an die Nacht zu denken. Er ging rasch auf seine Veranda hinauf. Es brannte Licht in seinem Zimmer. Mela machte sich drin zu schaffen. Ihr großes und edel tierisches Gesicht lachte ihm unmerklich zu, und ihr Leib straffte verständnisinnig die Brüste und den Bauch auf, als er sie ansah. Er sagte ihr schroff: „Geh! Der Tuwan Administrateur wünscht dich.“ Sie zögerte. Er drängte: „Geh, geh! Rasch hinüber! Sonst gibt’s was! Geh!“

Da ging sie. Er schaute nicht nach, wohin. Er setzte sich an den Tisch und öffnete das Buch Föhrs. Er las einen Anfang von Ziffern und Zahlen, die sich zu dem immer mächtiger werdenden Gebäude einer glasklaren, wuchtigen Sprache aufbauten. Er las und machte sich Notizen, und während draußen Meeresrauschen und Insektenlärm sich im fernen Licht unter Palmen ineinander bohrten, versank er mit weit und hart arbeitenden Gedanken in die Geschichte der Java-Amsterdam-Maatschappij. Er las vor allem eine Bestätigung der kurzen aber raschen Erfahrungen seiner letzten vier Monate. Eine Sicherheit und Kraft überkamen ihn, daß er glaubte, er knete über zweitausend Meilen Entfernung hinweg die richtungs- und sinnlose Urfruchtbarkeit der schwarzen Urwaldküste Bukas in jene wie geometrische Figuren gebaute Häuserwürfel hinein, in denen seine Zentrifugen jetzt rauschend kreiselten und dem wachsenden weißen Volk dienten.

Einige Wochen später wurde Föhr krank. Er wehrte sich gegen die Fieber, die ihn durchprasselten und sein Blut verschlangen. Er wollte sich nicht legen. Im Bett war er wehrlos. Dann kamen die fremden Geister aus den Palmbäumen, aus dem Schoß des Bodens, der vor zwanzig Jahren randlosen Urwald getrieben hatte, aus der dumpfigen Sonnenluft, aus dem Feuer der flackernden braunen Augen und aus der schleimigen Phantasie der Javaner und erwürgten ihn unversehens. Er raste umher, ruhelos, mit heftigen Launen, er schrie und schlug. Er wurde mager und klapperig, seine Haut ergelbte, seine Augen färbten ihr Weißes und zitterten in den Höhlen, als ob sie in einem heimtückisch unsichtbaren Feuer verschwelten.

„Einer hat mir Bambushärchen ins Essen gestreut!“ schrie er einmal. „Jetzt weiß ich’s.“ Er ging dann immer lauernd, spionierend umher. Er aß nichts mehr. Alles an ihm war Mißtrauen, und einmal sah er, als er hinter einer Jalousie verborgen spähte, Mela aus der Küche seines Hauses in den kleinen Hof treten, wo die Destillierfässer das Wasser von einem in das andre rinnen ließen. Da sprang er wahnsinnig auf sie los, griff nach ihrem Hals und würgte sie zu Boden. Weit und breit war kein Mensch. Föhr hatte seine Riesenkraft in der Krankheit behalten. Er preßte den Kopf hinterrücks auf die Steine und stemmte mit einem Knie die schweren Brüste nieder. Wild flüsterte er dem erstickenden Weib zu: „Du Aas hast mir Bambushaare ins Essen geworfen! Jetzt weiß ich’s! Was machst du in der Küche? Sprich! Warst du’s! Du verdammte Hure! Du fleckiger Teufel! Sprich, sag ich. Gesteh’s! Bambushaare! Ich muß krepieren. Was? Ich befehl dir: Sprich!“

Aber das Weib sagte nichts mehr. Ihre Augen quollen auf. Ihr Körper lag auf den Steinen gebogen wie ein in einer Netzmasche im Wehren verreckter Fisch. Ihr Mund war weich und weit geöffnet, und die Lippen hingen herunter. Das weiße Gebiß schimmerte. Da stand Föhr auf, schaute sie kalt an und sagte befriedigt: „So!“ Darauf ging er ins Haus und legte sich ins Bett.

Er starb in der Nacht.

Peter war an diesem Tag in Batavia gewesen und kam mit dem Auto am nächsten Vormittag zurück. Er hörte, was geschehen war. Er sah die Leiche des Weibes, aus dessen üppiger Fruchtbarkeit das Leben verkrampft gewichen war, sah die blauen Quetschwunden an ihrem mächtigen Hals und wandte sich ab. Er sah die Leiche Föhrs. Sie lag im weißen Anzug, in dem er sich ins Bett geworfen, weit ausgestreckt auf der Matratze. An den Füßen staken noch die weißen Tuchschuhe. Die Augen waren glasig weit offen, wie fürchterlich schillernde Gewölbe, unter denen dunkle Urrätsel gingen. Der Mund stand weit und bös aufgereckt, als bisse er nach Teufeln, und der Rücken hielt im Starrkrampf den Leib etwas aufgerundet. Die Füße drückten sich tief in die Matratze hinein.

Ein schwarzer ungeheuerlicher Widerwillen fiel über Peter her. Sein Wille war wie von grünspanigen heißen Dämpfen getrübt. Er flüsterte nur vor sich her: „Der fremde Tod! Immer dasselbe. Der fremde Tod!“ Er ging in sein Haus. Es hetzte rundum ihn nieder, von der Decke, durch die Fenster, aus den Wänden. Er fürchtete sich. Er packte seine Koffer, hastig und wild. Seine Arme zitterten. Es bebte über seinen Rücken, durch seinen Leib. Seine Beine waren kraftlos. „Bin ich auch krank?“ fragte er sich erschrocken. Er hetzte weiter und fuhr dann in der schrillen Sonne der Mittagsstunde im Auto durch die Pflanzung davon. Hinter dem Wagen raste der Staub auf und stürzte unter dem aufgeklappten Dach herein, und die böse, ekelhafte Feindseligkeit der ganzen Pflanzung strömte über sein Herz, wie ein Meer, das die Dämme gebrochen hatte.

In Batavia wurde er erst ruhiger. Er ging zu dem deutschen Konsul und erzählte ihm, was geschehen war. Der Konsul sagte ihm, er könnte Java ruhig verlassen. Da er an dem fatalen Tag nicht am Schauplatz der Tat war, brauchte man ihn nicht, und seine Abreise könnte keine Folgen für ihn haben.

Einige Tage später fuhr er mit der „Manila“ des Norddeutschen Lloyd über Makassar nach den Inseln. Die Nachricht, daß er die Südsee besuche, war ihm schon lang vorausgeeilt. In der Hauptsiedelung Luabar, wo der Sitz der größeren Pflanzungs- und Handelsgesellschaften war, sah man seiner Ankunft mit einem etwas aufgeregten Mißtrauen entgegen. Er war von Europa aus jemandem angekündigt worden. Dieser erzählte von Pirath den andern Herrn. Sie saßen zusammen in dem mit Eingeborenenwaffen angefüllten Zimmer Archibalds, eines Australiers. Dieser hatte die Tatsache, daß alle Frauen Luabars untereinander zerstritten waren, weil jede die Stellung ihres Mannes für die bedeutendste haben wollte, ausgenützt, um den Männern die Möglichkeit zu schaffen, manchmal beisammenzusitzen. Er hatte seinem Geschäft deshalb eine Schankstube beigegeben, die stets gut besucht war. Denn in Luabar gab es weder Wirtschaft, noch Hotel. Als bei Archibald von dem bevorstehenden Besuch erzählt wurde, warf Herr Steifkragen seine Augen vorsichtig lauernd über die Kneifergläser und wartete, bis sich ein anderer äußerte. Herr Foß ließ seiner Gewohnheit nach seine Augen umherwirbeln und drehte mit dem Körper auf dem Stuhl wie eine Bauchtänzerin. Dann kaute er aus dem rechten Mundwinkel heraus: „Fehlt ooch noch, daß nu sämtliche Fettwarenonkels von drüben die Prozente kontrollieren kommen!“

Er wartete eine halbe Minute und lachte dann quäkend heraus. Herr Steifkragen lächelte ein wenig. Der Konsul Frisch, der sich in jedes Haus, in das er hineinging, sein Konsulswappen nachtragen ließ, tat gleichgültig: „Soll er kommen! Es ist ja hier nicht alles durchsichtig.“ Und der kleine giftige Dicke mit den Schweinsaugen und den roten Bäckchen fuhr hervor: „Ginge er zum Mars! Ich sag, das ist ein Semit. So ein überschlauer Jud ...!“ Da stach Foß mit seinem Finger dreimal in die Luft und sagte begeistert dreimal: „Das ist es!“ Herr Foß war nämlich selber ein Jude, aber niemand wußte es.

Von dieser Unterredung an nannten die Herren Peter Pirath immer nur: „Der Jud!“

Dann kam die „Manila“.

Die Herren liefen mit eiliger Höflichkeit an Deck, um den verdächtigen Juden zu empfangen, schauten nach einer krummen Nase und schwarzen Löckchen aus und wurden auf einmal vom Kapitän vor einen Mann gestellt, der den Größten von ihnen um einen halben Kopf überragte, seinen Panama über einem Schopf leuchtender blonder Haare lüftete und überhaupt so aussah, als sei er Germanien. Sie machten sehr zuvorkommende Verbeugungen, indem sie ihre Namen nannten.

Peter blieb einige Tage in Luabar. Er fand das Benehmen der Herren merkwürdig. Ihre übereinstimmende überhastige Liebenswürdigkeit, die ihn nicht zu Atem kommen ließ, war wie auf Kommando, und er empfand rasch heraus, daß sie hinter dieser Maske passiven Widerstand gegen ihn trieben in allen Dingen, die Geschäfte angingen. Er ersparte ihnen das Äußerste und sprach nie über Geschäfte. Da waren sie erst recht ängstlich. Sie zuckten um ihn, wie die Fische um den Köder, der so plötzlich ins Wasser fällt, daß die Fische vor Schrecken nicht wissen, was sie tun sollen, und ununterbrochen um ihn herumlaufen.

Peter war gleich zum Gouverneur gegangen, hatte dort erfahren, daß der Amtmann ihn schon angemeldet hatte. Der Gouverneur hatte ihn dann eingeladen, sein Gast zu sein.

„Das ungastliche Fehlen eines Hotels in der Kolonie macht es Ihnen zu einem für meine Frau und mich außerordentlich erwünschten Zwang, anzunehmen, lieber Herr Pirath!“ sagte er mit genau betonender Aussprache. Sie saßen lange Stunden abends zusammen und plauderten. Peter hatte sich einen Gouverneur anders vorgestellt. Dieser Mann war ein Gelehrter. Ein Gelehrter, der nichts aus Büchern, sondern alles in unmittelbaren Taten erlebt hatte, was er wußte. Er sprach, wie ein Professor, mit feierlicher Gründlichkeit, mit rhetorischer Färbung und doch voll Begeisterung. Dahinten in einem Wald starb ein Volk an seiner eigenen Armseligkeit. Er hätschelte diese Lebensuntüchtigen mit begeisterten verliebten Worten: „Ein wunderbares Völkchen, lieblich, naiv und bunt, wie ein Rapunzel im Wald,“ sagte er von ihm. Aber Peter lernte an diesem Abend die einzelnen Inselgruppen aufs genaueste kennen, ihre Topographie, Ethnographie, Geschichte ... Nur fiel ihm auf, daß sein Gastgeber es vermied, von den Kolonisten zu sprechen, und auf sie kam es Peter ja wahrhaftig im Augenblick mehr an.

Am nächsten Abend gab einer der Verwalter ihm ein Abendessen. Herren und Damen trennten sich nach dem Essen. Die Herren saßen in einer Ecke der Veranda, rauchten und tranken Schnäpse und Bier, und wieder, wie auf Kommando, überfielen sie auf einmal Peter mit der Arbeiternot. Die Gegend geht dem Ruin zu. Die Regierung sei nicht der Weißen, sondern der Schwarzen wegen da. Denken Sie sich: verschließt ganze Gebiete dem Anwerben. Blöd, hirnverbrannt. Ruin.

Peter warf hin: „So nehmen Sie doch chinesische Kuli.“

Da zeterten sie wieder auf: „Chinesen genug! mehr als genug! Die Regierung spielt ihnen die fettesten Pflanzungen in die Hände, diese gelben Gauner stecken uns demnächst ein.“

Nur Steifkragen, der gescheiter als die andern war und auch gebildeter, bemerkte, daß die Einfuhr chinesischer Kuli viele Schwierigkeiten habe. Sie verteuern nicht nur die Arbeitslöhne außerordentlich, sondern vor allem folge der Chinese dem tief in ihm liegenden Handelstrieb. Er arbeitet drei Jahre und gründet dann einen Handel.

Peter bemerkte: „Das mag jetzt sein, wo im ganzen vielleicht hundert Chinesen in den Inseln wohnen. Aber wenn Sie lauter Chinesen hier haben, so können sie doch nicht alle Handel treiben.“

Herr Foß warf seine Augen hin und her, drehte sich wie eine Bauchtänzerin und quetschte aus dem Mundwinkel heraus: „Es gibt ooch noch andre Chinesen hier. He, he, he! In der Chinatown ... Mächens! Aber mehr japansche!“

„’n Bordell!“ präzisierte der giftige Dicke mit den polierten Backen. Weil er mißtrauisch war, war er ein Freund von genauen Ausdrücken.

Und so waren sie wieder vom Geschäft abgeglitten. Manchmal kamen sie noch auf die Arbeiternot zurück, schimpften über zu hohe Abgaben und schlechte Transportmittel. Dann sang eine Dame in die breiig warme Nacht hinaus. Sie sang edel und gepflegt, und Peter horchte ihr erstaunt und warm zu. Sie hob ihren schweren schönen Körper wuchtig neben dem Klavier auf, und ihr schmaler Mund sang geradeaus in die schwere Nacht, als riefe er ihrer strudelnden, von fremdem Lärm erregten Finsternis etwas aus der Seele Europas zu. Bald darauf fuhr Peter, mit einem Schwarzen neben sich, im leichten Wagen seinem Bett entgegen.

Peter drängte weg aus dieser sonderbaren kleinlichen Siedelung. Es war dort nichts für ihn zu holen. Er mietete einen Motorschoner, der einem reichen Japaner gehörte, um nach Matantuduk, der Insel Ledinskis zu gelangen. Er fuhr am Vormittag ab. Der Besitzer begleitete ihn. Ein Schwarzer steuerte. Der Japaner war wie ein sanfter Fluß von Liebenswürdigkeit. Nach dem Essen ließ er jedesmal eine Flasche Champagner auftragen, von der er nur zum höflichen Schein mittrank. Er umsprang Peter mit Fragen, Bewegungen, Höflichkeiten, wie ein spielender Schimpanse. Eins schien die Absicht des andern decken zu wollen. Peter fragte, wie es mit der japanischen Kolonisation in der Insel stünde? In Luabar hatte man über eine japanische Invasion der Karolinen gesprochen. Aber der andre tat, als ob es unbescheiden wäre, von der eignen Nation zu sprechen. Der Japaner sagte nur: „Oh! Die Deutschen sind viel bessere Pflanzer, ein großes Volk!“ und jonglierte zu etwas anderm über.

Die Fahrt dauerte bis zum übernächsten Abend. Der Schoner war einen halben Tag an einer bewaldeten Küste, die erst eine Strecke flach aus dem Meer stieg, dann wild zu einem Gebirgsstock hinankletterte, entlang gefahren. Am Ufer erschien dann eine Reihe heller Häuser, die aus dem fetten Grün leuchteten. Sie waren wie auf eine Bank auf einen kleinen Höhenzug gestellt, der in kurzer Entfernung vom Strand in gerader Linie mit ihm dahinzog. Das war Matantuduk.

Pirath sah an dem größten der Häuser an einem hohen Flaggenstock eine riesenhafte deutsche Fahne hochgehen. Ein weiß gekleidetes Paar erschien am Ufer. Sie winkten. Pirath hatte gleich den Amtmann Ledinski und seine Frau erkannt, die schöne, schlanke und blonde Frau. Der Schoner glitt an den kleinen Landungskai. Im Schatten eines Schuppens scharten sich Schwarze mit reinlichen weißen Schurztüchern zusammen, und in der Sonne auf dem Kai stand das Paar, vom Licht, von der dunkeln Masse des Hintergrunds der Wälder und Gebirge und der stillen Vereinsamung der hellen Häuser eingefaßt wie von einem Glorienschein. Ein König und eine Königin waren sie.

Pirath sprang an Land. Er sah die Augen der Frau mit einem so wohligen wie herzlichen Leuchten ihn empfangen und grüßen, und er küßte ihr die Hand in einer tiefen Verbeugung. Er empfand einen kurzen und warmen Augenblick lang ein Erwarten von irgend etwas als ein stürmisches Glücksgefühl, das rasch durch seine Adern lief und ein Gefühl der Verehrung, gepaart mit einem Gefühl des Geborgenseins, zurückließ.

Der Amtmann drückte seine Hand und schlug ihn auf die Schulter.

Nach einigen Schritten zeigte er die Küste hinab, wo Wälder lagen und sagte lachend: „Das grüßt Sie durch mich und wartet auf Sie!“

Man stieg eine steinerne Treppe hinan, über deren Balustraden beiderseits schwere Gebüsche von Gummisträuchern sich wie grüne Wolken niederließen und einen schwarzen kühlenden Schatten machten, der wie ein leiser Strom seinen Körper umfloß. Oben lag inmitten von großen Veranden das Haus.

Vor dem Nachtessen standen die beiden Männer noch auf der Veranda umher. Der Bezirksamtmann zeigte dem Gast die Siedelung Matantuduk. Dort der Arzt! Ferner die Mission! Die Filiale der Handelsgesellschaft, die Kaserne der schwarzen Soldaten, ferner das Haus eines Mannes namens Schmitt, der sich aus sehr dunkeln Verhältnissen zu einem achtbaren und wohlhabenden Menschen aufgearbeitet habe.

„Das ist alles, was wir von Menschen hier haben! Hinter dem Waldstück wohnt noch oder vielmehr trinkt ein kleiner Pflanzer und etwas weiter noch einige kleine Pflanzer und damit finish. Die Choiseuil Co. ist weit weg am entgegengesetzten Ufer. Sie besteht nur geschäftlich.“

Frau Ledinski bat zu Tisch.

„Wir wollen lieber allein sein am ersten Abend. Das ist Ihnen doch recht, wenn auch die Nachbarn pikiert sein werden?“ fragte sie.

„Pikiert?“

Ledinski lachte schnarrend: „Ja, können Sie denn ermessen, was für ein Wundertier heut mit der Jolle von dem Japaner hier an den Rand der Welt kam? Ungeduldiger erwartet als der Messias von den Juden! Stellen Sie sich vor: Die Frau Doktor und die Frau Schmitt, ja sogar die Frau Unteroffizier Hartmann haben seit drei bis fünf Jahren keine andre Visage mehr gesehen als die ihrer Männer. Sie liegen, ich schwöre es, hinter den Gardinen und lassen unsre Veranden nicht aus dem Fernglas.“

„Wir lechzen manchmal nach einem Menschen, nach einem wirklichen Menschen!“ sagte die blonde Frau, und ihre strahlenden Augen legten sich herzlich in Piraths Gesicht. Pirath empfand wieder jenes rasche Glück, das in seinem Blut aufstieg und seine Blicke eine Sekunde lang verdunkelte.

Sie blieben lange auf und lagen in der dunkeln Veranda in den Streckstühlen, und Frau Ledinski und Pirath sprachen ohne Hemmung über Dinge ihres Innern, die man in Europa nie zu besprechen gewagt hätte. Aber es war, als ob die Ferne im Raum und das Bewußtsein der Heimat in dieser fremden, fremden Luft die Seelen, wie Blumen so naiv, geöffnet hätte. Nur der Amtmann horchte bloß zu und schaute mit einem kühl verliebten und überlegenen Lächeln seine Frau an, wenn sie sprach. Er freute sich, daß sie über den Besuch glücklich war.

Nachher stand Frau Ledinski auf und ging in das kleine Musikzimmer. Sie setzte sich an den Flügel, auf dem eine Vase mit weißen steif schönen Frangipanenblüten stand, und sie sang:

„Du bist Orplid, mein Land ...“

Piraths Phantasie war eingelullt in die schwere dampfige Abendluft, in das Essen und den Wein, in die unerwartete und rasche Freundschaft mit diesen beiden großen und schönen Menschen, die wie König und Königin ihre Einsamkeit lebten. Das Lied überfiel ihn. Es wurde ein plötzliches heißes Erlebnis. Schauer rauschten durch sein Blut. Er erschrak vor der vereinsamten Schönheit dieser Frau, die drinnen leidenschaftlich sang und die weiß, strahlenäugig und blond war, wie Deutschland. Er stand vom Stuhl auf und lehnte sich über die Balustrade. Er warf seine Blicke in den schwülen Teich der Nacht wie ein Lasso. Die Nacht und die Sterne und die schwarzen Rücken der Gebirge gehörten ihm und bäumten sich an der zusammenschnellenden Schlinge seines Willens auf.

Als er sich wieder aufrichtete und die Blicke durch die nahe helle Tür ins Musikzimmer schickte, kam ein Luftzug, und einige Frangipanenblumen brachen auseinander und fielen mit einem leisen reifen Pochen auf den Ebenholzdeckel des Flügels.

Pirath ging rasch ins Zimmer hinein. Das Lied war aus. Frau Ledinski stand auf. Die weißen Kleider umflossen eng ihren schönen strahlenden Leib. Sie kam wie Diana auf ihn zu, beide schauten sich in die Augen, lächelten und wurden ein wenig rot. Keiner sagte etwas. Ein kleiner Schwarzer brachte Champagner, und sie leerten ihre Gläser zusammen.

Als Pirath später allein in seinem Zimmer war, sah er zum Fenster hinaus. Der Mond war aufgegangen, beleuchtete das Meer und die Küste und hob die gewaltigen Stürze der Gebirge aus der grünen Finsternis. Überall krochen wirre Wälder. Drunten hin hatte der Amtmann gezeigt, als Peter ankam. Dieses krause verschlungene Land wartete auf ihn. Er sah das alles an. Er fühlte, daß die Überschwenglichkeit ihn verlassen hatte, und seine Blicke maßen das Land kühl unter der Nacht. Er war nicht erschrocken vor ihm, nicht begeistert und nicht enttäuscht. Er sagte sich nur: „Jetzt wird die Arbeit beginnen!“

Heut bin ich nicht zu gebrauchen. Verübeln Sie es mir nicht, bitte!“ sagte der Bezirksamtmann nach dem Frühstück. „Ich muß heute ‚papieren‘!“

„Papieren?“

„Was das ist? Eine Erfindung des Teufels ... eine Staatsschöpfung! Die Leiche eines Substantivs zu einem lebendigen Zeitwort gemacht. Die Kraft eines Mannes in Tinte ertränkt! Ein Diebstahl an Zeit, Energie, Nerven! Eine Umsetzung von Energie in Schwatz! Amtliche ... Beerichtee ... schreiben! Dazu sagen wir hier: ‚Wir papieren.‘ Einen Tag pro Monat muß ich papieren. Ich hab’s aufs Minimum gesetzt, aber drunter ist es nicht abzutun.“

„Was schreiben Sie denn?“ fragte Pirath.

„Was ‚Oberste Stelle‘ in Luabar wünscht!“

„Und Sie wissen, was die wünscht?“

„Natürlich! Das Gegenteil von dem, was notwendig und gut ist und was ich hier tue. Adieu!“

Er ging, und Frau Ledinski sagte: „Ich lade Ihnen zur Information und dem Ärger meines Mannes zur Zerstreuung auf heute mittag die Nachbarn ein. Wir dürfen Sie ihnen nicht länger vorenthalten. Mögen Sie? Sonst laufen wir Gefahr zu beleidigen. Jede Gegend hat nun einmal ihren besonderen Formenkodex. Mein Mann meinte sowieso, ob Herr Schmitt nicht vielleicht an Ihren Pflanzungsplänen interessiert werden soll. Er hat zweihundert Hektar Pflanzung, die in drei Jahren tragen. Sie mögen gewiß die Vorarbeiten bald beginnen, und es ist Ihnen nützlich, wenn Sie dabei schon den späteren Verwalter hinzuziehen könnten.“

„Sie sind sehr lieb!“ Pirath küßte die Hand der Frau Ledinski.

Das Mittagessen verlief mit den Gästen zwischen Gesprächen über Kolonisieren, Pflanzern, Eingeborenen und der Papiertaglaune des Amtmanns. Schmitt gefiel Pirath. Er fühlte in ihm einen Mann, der mehr als auf seinem Erwerbsgebiet strebte. Schmitt sprach über Weltpolitik wie über deutsche Schriftsteller jüngster Art. Er versuchte in allen Richtungen sich den Anschluß an das zeitgenössische Deutschland zu wahren. Er war auf die Neue Rundschau und auf den Kosmos abonniert und las die Frankfurter Zeitung in den Tagesausgaben. Um Kleinigkeiten gingen seine Gespräche in schlauer Klugheit. Sprach er aber über die bedeutenden Dinge von Leben und Beruf, so tat er das mit einem allgemeinen Umfassen und dem Versuch, ans Große anzuschließen.

Pirath sprach später mit dem Ehepaar darüber.

„Glauben Sie, daß dieser Mann, bevor er herkam, ein anrüchiges Hotel in New Orleans besaß?“

Als man sich am nächsten Morgen zum Frühstück traf, rief der Amtmann über die Veranda herüber Pirath entgegen: „So! Jetzt bin ich frei, gebadet und gereinigt vom papiernen Tag von gestern und spüre meine Muskeln wieder. Ich sag Ihnen, der Professor in Luabar bekommt diesmal Berichte ... wie bei einer gut gelösten Mathematikaufgabe klappt’s ... So gelang es mir noch nie zu schreiben. Jetzt wollen wir dann aber mit der Arbeit beginnen!“

Und in den Tagen, die kamen, riß das strudelnde Temperament des Amtmanns Pirath unversehens bis über den Kopf in die Arbeit hinein. Ledinski schaffte wie mit Säbelhieben. Das Klima zerspellte an seiner Energie und guten Laune. Und oft noch abends, wenn Piraths Gehirn dumpf in die breiige Schwüle versank, unfähig eine eigene Überlegung zu führen, sprach der Amtmann vom Liegestuhl her neue Einfälle in die Dunkelheit. Bis er merkte, daß sein Gast nicht mehr folgte.

„O, wir trinken ein Gläschen Sekt, wie?“ rief er dann.

Um die Küchenecke erklang bald das kühlende Reiben der Sektflasche im Sodakübel. Pirath tauchte aus der Dumpfheit auf, und es wurden Gespräche über Menschsein und Menschen, über Europa und die Südsee geführt. Die schöne hohe blonde Frau ging zum Flügel und sang.

In den Tagen fuhren oder ritten Pirath und der Amtmann weit im Land herum. Ledinski hatte eine breite Straße an der Küste angelegt, die die einzelnen Pflanzungen mit Matantuduk verband. Diese Straße durchschnitt das Gebiet, das Jens Peter Pirath Söhne seiner jungfräulich urwaldlichen Hemmungslosigkeit entreißen sollten. Diese Straße war der Stolz des Amtmanns. Nirgends anderswo auf den Inseln hatte jemand ein solches Werk mit den mangelhaften Kräften der Eingeborenen fertig gebracht.

„Sehen Sie,“ sagte Ledinski einmal, als er mit Pirath und Schmitt, der bald ins Einvernehmen gezogen worden war, über die Straße zu ferner liegenden Pflanzungen ritt, „meine Straße ist zwölf Meter breit. Matantuduk wird einmal seine Eisenbahn haben, müssen Sie wissen.“

„Ich hoffe, daß Jens Peter Pirath Söhne Ihnen diesen Ehrgeiz erfüllen können!“ antwortete Pirath.

„Erfüllen müssen ...“ meinte Ledinski.

Sie gingen zu den Dörfern der Eingeborenen und sahen die Menschen in den dunkeln kleinen Hütten liegen und grunzen und sterben. Die Frauen waren mit fünfundzwanzig Jahren Greisinnen. Die Männer arbeiteten in den Pflanzungen bis zum zwanzigsten Jahr und ließen sich dann wieder zu ihren Weibern und Schweinen, ihrem Urwald und ihren dunkeln Hütten zurücksinken.

„Chinesen! Chinesen! als Arbeiter!“ rief Pirath.

„Das sag ich auch!“

„Und dem Bezirksamtmann bleibt es dann überlassen, was mit den Eingeborenen geschehen soll, die die Herren Pflanzer nun einmal aus den Wäldern gerissen haben!“

„Sie werden sehr gern und rasch dorthin zurück wollen,“ meinte Schmitt. „Trotz aller Bedürfnisse, die wir ihnen schaffen, damit sie Geld erwerben müssen, werden sie immer müder, in die Pflanzungen zur Arbeit zu kommen.“

„Wir können ihnen ja die Missionare mitgeben und retten den Ethos vor Europens erzürnten Augen, was, Schmitt!“

„Gern! Zwei Fliegen auf einen Schlag!“

Sie kamen an einer Kopradarre vorbei. Auf den Holzschiebern lagen Koprabrocken zum Trocknen. Schwarze saßen auf dem Boden im Schatten und schälten Kokosnüsse aus.

„Schauen Sie mal, wie sie sich anstellen,“ sagte Pirath. „Sagen Sie, woher kommt es, daß man überall hier noch derartig primitive technische Behelfe hat? Die Darren, ob Sonne oder Feuerdarren, das Ausschälen, das Abschlagen des Kunaigrases mit geschärften Faßbändern als Sägen ... Den Bast wirft man weg und verbrennt ihn, statt Seile daraus zu ziehen. Das Trinkwasser ist eine Quelle von allen Krankheiten, die fortwährend ein Drittel der ohnehin spärlichen Arbeiter der Arbeit fernhalten. In Europa wird alles auf die letzten technischen und hygienischen Ausnützungen gestellt. Hier ist Arbeiternot, und man läßt alles auf der Arbeit der Hände liegen ...“

„Die Sonne, mein Lieber,“ meinte der Amtmann. „Man macht soweit man unbedingt muß, um die Kopra in die Säcke und die Säcke aufs Schiff zu bringen, und dann: Whisky, Wein und Rutsch mir ... Und auch die Herren Kolonialärzte reißen sich nicht gern ein Bein aus wegen solch eines Ungeziefers von schwarzer Biesthaftigkeit.“

„Da könnte man viel Neues machen!“

„Wenn einer die Sache in die Hand nimmt, der viel Geld, Erfindungssinn und sonstige Fähigkeiten hat!“ sagte Schmitt. „Aber woher sollten die kleinen Pflanzer sich die technischen Behelfe beschaffen, die erst erfunden werden müssen?“

„Und die großen Gesellschaften?“

Aber der Amtmann und Schmitt zuckten nur die Achseln.

Nach einer Weile bemerkte der Amtmann: „Pfeffersäcke. Eine große Gesellschaft ist zum kleinen Pflanzer nicht wie hundert zu eins, sondern ist nur eine Multiplikation von zaghaften Einern mit eins, ist fünfmal eins oder achtmal eins.“

Da begann Pirath sich auch jenen notwendigen Erfindungen zuzuwenden, die die Kleinarbeit fördern konnten, und führte parallel mit diesen Bemühungen die Arbeit an der Aufteilung und der Organisation des ganzen Unternehmens.

An diesem letzten Werk schuf er mit systematischer Energie, immer wieder von der unermüdlichen Forschheit des Amtmanns, der sich für sein Werk Matantuduk aus dem Pirathschen Unternehmen die letzte Erfüllung versprach, dahin gewirbelt.

Pirath wurde in die andern paar Häuser eingeladen, er trank mit den ferner liegenden Pflanzern, die auf kleinen Wagen manchmal ankamen. Manchmal, wenn sie etwas vom Amtmann wollten, kamen auch die Verwalter der Choiseuil Compagnie, Australier, die nach englischer Art sich als den Mittelpunkt der Welt betrachteten und dennoch durch eine leichte nationale Verletzlichkeit das Gefühl von Konkurrenz, Neid und Unsicherheit verrieten, das sie den Deutschen gegenüber empfanden.

Sobald man sich trennte, gehörte Peter wieder ganz seinem Werk. Er fühlte dieses in sich anwachsen, wie ein Baum aus gut bereitetem Boden den kraftvoll sicheren Stamm erhebt, der sich in die Äste nach allen Richtungen aufreckt und sich in seinen letzten Äußerungen, in dem wirren aber planmäßigen, in dem an Richtungen nicht zusammenfaßbaren, aber an Willen einigen Netzwerk der Zweiglein in den nährenden Atemteich der Luft ausbreitet und Früchte reifen läßt.

Aus dem Boden der Finanzierungsberechnungen, die er zusammen mit dem Amtmann und mit Schmitt aufgestellt hatte, erwuchs sein Unternehmen und ordnete sich nach und nach zusammen wie ein kunstvolles Gebäude. Er fing alles in zusammengreifenden schriftlichen Darstellungen auf, die bestimmt waren, Hermann das Unternehmen zur letzten Entscheidung vorzuführen. Und aus diesen Blättern strömte ihm der Atem einer großen und kühlen Reife zu, sobald er sie in die Hand nahm.

Während in den ersten Wochen und Monaten, die der Entwirrung und der Formung jener unbewältigten Masse von Urwald galten, sein ganzes Menschsein mit in der Arbeit aufging, trat auf einmal auf dem Weg zur Vollendung ein neues und unbekanntes Gefühl nebenher. Es war eine schummerige flüchtige Sehnsucht nach einem formlosen wechselnden Etwas, das er vor sich in seinem Leben sah. Er spürte dies Etwas auf der Zunge, wenn es zu ihm kam; seine Fingerspitzen zückten danach; es lag wie ein bereifter Streifen auf seinen Augen; er konnte seine Wange darauf legen wie auf ein Kissen von Nebel, und sein Blut ging hoch wie ein Föhn, wenn es darauf drückte.

Gern ließ er sich abends aus der harten und starren Künstlichkeit seiner Arbeit in die Menschlichkeit des gastfreundlichen Paares sinken, von dem ihm dünkte, daß er nie schönere und edlere Menschen gesehen hatte.

Wenn dann die hohe blonde Frau sang, in Schubert die Seele der Heimat aus dem Schoß der Welt herauf sang, dann nannte er sie: Weyla, mit dem Namen aus jenem Gedicht, das er nicht verstand und das ihm doch alles Märchenhafteste und Zauberischste zwischen Mann und Weib zu sagen schien. Er umarmte sie in Vorstellungen von einer süßen Scham, und seine Augen wurden mild schmerzlich von den einsamen Heidemooren seiner Heimat betastet; seine Zunge empfand den tiefen schattenweichen Duft eines Waldes aus Norddeutschland, irgendwo erstand ein ruhiges mildes Haus, und Dämmerung regnete um ihn, während die abwechselnd warmen und leicht gekühlten Strudel der Abendluft seinen Leinenanzug durchstießen, die Grillen die ganze Nacht zum Kampf heraus pfiffen und fliegende Hunde wie lebendig gewordene Lappen von Palme zu Palme fielen und in den Wedeln klapperten.

Piraths Werk war vollendet. Der vierte Monat seines Aufenthalts ging zu Ende, und er wollte mit der „Java“ des Norddeutschen Lloyd, die dreimal im Jahre die Verbindung von Matantuduk nach Luabar machte, dorthin zurück, um den Prinzendampfer nach Australien zu nehmen. Dann kam gleich die Heimreise nach Europa.

Seit Tagen schon waren alle die Papiere wohlgeordnet und abgeschlossen, in denen der Plan des Unternehmens ausgebreitet, in denen die Mechanik vorgezeichnet lag, mit der jenes Stück wilden Landes drunten in den Weltverkehr und die deutsche Kraft eingezogen werden sollte.

Pirath faßte oft mit verliebten Fingern die beiden kleinen Bände an, von denen der eine ihm selber dienen, der andere als Abschrift davon Hermann gelten sollte. Aus der versenkten Ruhe seines Gemüts sprang dann in einem brausenden Glücksgefühl die Vorstellung von einer überquellenden Fruchtbarkeit auf. Er hielt die Hände von sich, spreizte die Finger und drückte sie zur Faust zusammen und sagte sich: „Es quillt mir zwischen den Fingern hervor!“

Er war Landwirt, Ingenieur und Kaufmann zugleich und verband so mit den von der Erde gegebenen Werten die Kraft, die Nutzanwendung des Geschenkten zu spekulativen Rechenmöglichkeiten zu steigern, die scheinbar sich zu grenzenlosen Räumen ausdehnen konnten. Sein Werk und seine Zukunft waren frei von der Verwirrung und der hitzigen Verstiegenheit des zeitgenössischen Treibens um Waren, um Geld, um Technik. Er schuf nicht für eine Mode, für einen Ehrgeiz, sondern nur für den ewig zeugenden Gedanken der Entwicklung, in dessen Schoß der Weg der Menschheit entsprang.

Aber wenn immer wieder einer dieser Tage des Wartens auf die Abreise zu Ende ging, so vermochte Pirath nicht, einer glitschigen Stimmung zu entschlüpfen, deren Zwiespalt ihn marterte. Hier hatte er seine Reife erlebt, und die Gastfreunde hatten daran teilgenommen, und nun, wo der Aufstieg vollendet war, mußte er sich von ihnen wenden. Das trat vor ihn, wie ein fataler Zug des Lebens. An einem dieser Tage vollendete er das siebenunddreißigste Lebensjahr. An diesem Tag erschien es ihm besonders verhängnisvoll, ja, von einer so bösartigen Vorbedeutung, daß er von seinem Feste nicht einmal zu den Gastgebern sprach.

Am Abend lag man in der dunkeln Veranda in den Liegestühlen, und die glitschige Abschiedsstimmung hielt alle drei zunächst erregt stumm.

Da begann Pirath, von diesem würgenden Schweigen bedrückt, von dem Zwiespalt und dem Ahnungshaften jener Gefühle zu sprechen, in denen er sich nun trennen müßte, da seine Reise zur Reife gelangt sei. Er lag im Stuhl auf dem Rücken und sprach geradeaus vor sich unter der Kante des Daches in die Nacht hinauf. Er wußte nicht, ob man ihm zuhorchte. Dem Amtmann geschah es öfter in der letzten Zeit, daß er unvermerkt einschlief. Vielleicht tat das Frau Ledinski heute auch. Um so freier sprach Pirath.

Als er geendet hatte, blieb es eine Weile stumm. Die Hitze quirlte aus den Palmen hernieder. Sie war wie ein Brei.

Und dann fiel plötzlich das Wort: „Ewe!“

Das Wort, von dem Pirath glaubte, daß nur zwei Menschen auf der Welt es kannten.

Er schrak ein wenig auf vor dem verklungenen Ton. Es war ihm einen Augenblick lang, als ob ein Gewölbe in ihm zusammenbräche. Aber er ertrug den Einsturz mit großer Beherrschung. Er richtete sich auf und schaute Frau Ledinski an. Sie hatte das Wort gesagt.

Sie reichte ihm durch die Dämmerung die Hand, und diese blonde, schmale Hand kam wie ein Engel durch die Dunkelheit und Hitze ihm entgegen. Pirath beugte sein Gesicht auf sie.

Eine Stimme klang: „Es kommt mir vor, als ob wir Verstecken um sie spielten. Ich mußte wenigstens ihren Namen einmal sagen.“

Piraths Gesicht sank inniger über die Hand. Es war, als ob er sein Gesicht in einen Rosen- und Liliengarten einschmiegte.

„Und sie ist es doch wert, daß man um sie leidet!“

„Ja!“ sagte Pirath entfernt und dunkel glücklich und unglücklich.

Sie schwiegen, und der Name war durch sie gegangen wie das Klingelzeichen, das den Vollzug des heiligen Geheimnisses in der Messe durch die inbrünstig verstummten Bänke der Gläubigen schwirren läßt.

„Daß Sie Ewe sagten!“ begann Pirath nach einer Weile und fügte dann ganz leise und zart hinzu, wie ein flehendes kleines Gebet: „Wissen Sie, wo sie ist?“

Nein! winkte Frau Ledinskis blonder hoher Kopf.

„Ich hab sie ja auch verwunden!“ sprach Peter still und fromm in die Nacht hinauf. „Sie ist mir wie eine der Wurzeln, mit denen ich unter der Erde ans Leben verwachsen bin. Nur weil Sie so unerwartet den Namen sagten, den nur sie und ich kannten ...“

Frau Ledinski sagte leise vor sich hin: „Sie hat vorgefühlt, daß Sie zu uns kämen. Am Abend vor Kolombo sagte sie mir: ‚Wenn er kommt, so sprechen Sie einmal von mir‘.“

Da erfaßte unversehens ein wunderbares Gefühl, eine Erregung von ewigem Schmerz und ewigem Gut die Seele Peters. Er stürzte wortlos in die schwere Nacht der Tropen und in den wilden deutschen frühherbstlichen Sturm seines Herzens hinein.

Er ging den Weg hinter dem Häuserhügel hinab. Er sah über ferne Hügel die Gratlinien der schwarzen Inselgebirge durch die Sterne wandern. Die dunkeln Massen der Erde trugen die zarten südlichen Schwärme der Gestirne auf sich, wie wandernde Hünen zarte Vögelein auf den Gewölben ihrer Köpfe halten. Palmen spreizten ihre gefingerten Wedel üppig in die silbrige Finsternis hinauf. Mit einem Donner krachte nicht weit von Peter eine Kokosnuß in den Erdboden. Er erschrak vor diesem Ruf der Natur.

Pirath ging wieder den Hügel hinan. Er kam vor das dunkle und halboffene Haus der schwarzen Soldaten. Er sah die Schwarzen durch die offene Tür mit ihren Weibern zusammen in der Dunkelheit liegen. Nur manchmal glühte eine glimmende Kokosschale auf, wenn sich einer eine Pfeife anbrannte. Die Soldaten brummelten auf ihren Maultrommeln mehrstimmig und weich eines der Tanzlieder ihres Volkes. Es scholl heraus als eine verfließend begehrliche und wehmütig zarte Musik. Es war, als ob die Dunkelheit selber sänge und summte.

Die Brandung des Meeres scholl hinein, und in der Nacht leuchtete der Gischtstreifen des Riffs.

Plötzlich schwankte ein Licht auf dem Meer. Stimmen riefen aus der Dunkelheit: „Schiff! Schiff!“ Soldaten stürzten heraus. Pirath lief zum Kai hinab.

Dort stand der Amtmann. Der sagte: „Die ‚Java‘ ist es nicht!“ Pirath erschrak: Die „Java“ — der Abschied!

Frau Ledinski kam durch die Dunkelheit heran. Sie leuchtete in ihrem weißen Kleid in der Nacht wie eine Heilige.

Ein Boot hörte man mit regelmäßigen Schlägen rudern.

Das Boot trieb bald an den Kai. Ein schwarzer Soldat des Amtmanns hielt eine Laterne hin, und ein Mann stieg herauf. Der trug zu einer Kakihose einen dunkelblauen Rock mit messingnen Knöpfen. Auf jedem Knopf war ein Anker. Aber ein Anker war anders als der andre. Der Mann hatte einen ergrauten Knebelbart und eine riesenhafte rote Nase, an die er sich rasch faßte, wie um sie zu verdecken.

Er sagte: „Ich bin Kapitän Damm. Störe ich nicht? Ich bin nämlich besser als meine Nase, wenn Sie sich drüber wundern sollten, daß ich Sie, die Nase in der Hand, begrüße.“

„Nein, nein!“ riefen die drei zusammen. In der glitschigen Stimmung freuten sie sich, daß es noch nicht die „Java“ war, und sie waren glücklich, daß ein fremder Mensch zu ihnen kam und sie aufheiterte. Der Kapitän erklärte, er könne zwischen den engen riffigen Inseln nicht gegen den Wind kreuzen und müsse abwarten, bis der Wind umginge. Er habe die Häuser gesehen, und er mache hiermit seine Antrittsvisite. Er müsse wegen des fehlenden Zylinders um Entschuldigung bitten. Den behüte seine Ohlsche in Blankenese, wenn er nicht inzwischen ins naturhistorische Museum nach Hamburg gekommen sei. Aber er habe seine beste Mütze aufgesetzt.

Frau Ledinski lud den Kapitän gleich ein, mit ins Haus hinaufzugehen. Der Kapitän war ein Witzbold. Er trank für sich allein etwa fünf Flaschen Mosel und sagte: „Der is auch nicht an Ihren Palmen gewachsen.“ Manchmal bat er dazwischen um ein Gläschen aus der Kirschwasserflasche, die vom Kaffee her auf dem Tisch stehengeblieben war. „Es ist, um die einzelnen Gläser Mosel zu verbinden!“ bemerkte er. „Man muß trinken, daß es im Bauch eine Girlande wird, segg ik jümmer!“ Und sein Knebelbart hob sich seiner Nase entgegen, die wie eine prachtvoll rotbackige Bergamottebirne sich aus seinem Komikergesicht auf das Kinn niedersenkte, während beiderseits über dieser Nase die Äuglein, gleich zwei grünen Kügelchen, immer in einer entzückten Flüssigkeit schwammen und blinzelten. Es lag ein ganzer kleiner Himmel in diesen nassen Äuglein. Dies Gesicht änderte sich nie. Es war bei jeder Rede, sie mochte ernst sein oder zum Lachen reizen, von demselben schwerfälligen und komischen Verwurschteltsein. Es war, als sagte und hörte es ernst und gleichmütig die scherzhaftesten und witzigsten Dinge, und als lachte es sich faltig bei einem Gespräch über Leichen auf See. So war jeder Ausdruck in vielfach verschlungenen Zügen von vornherein darin ausgeprägt. Das war sehr belustigend, manchmal aber ein wenig geisterhaft anzusehen.

Man feierte den unerwarteten Besuch des ulkigen und errettenden Landsmannes bis spät in die Nacht hinein. Man fühlte sich wie aus einem Kessel voll zwiespältigen Unbehagens heraufgezogen und einer lieblichen burlesken Landschaft ausgeliefert. Die Urwaldgebirge schienen unter der Nacht freundlicher und vertrauter geworden zu sein. Man sprach übereinander. Der Kapitän Damm hatte ein kleines Haus mit einem Garten und Hühnern, Enten, zwei Ziegen und einem Schweinestall in Blankenese. Seine Frau verwaltete das. Er fuhr schon über anderthalb Jahre, ohne zu Hause gewesen zu sein. Er sprach mehr von dem Wurf von jungen Schweinen und der Sorge um einen rasseseltenen Enterich als über seine Frau. „Die Ohlsch weilt immer beim lieben Jott!“ bemerkte er. „Ick bin zu sehr ‚hienieden‘ for sie.“

Sein Schiff hieß „Hinnerjette Hahnbock“ und war eine kleine Viermastbark, die 1400 Tonnen faßte. Sie war mit Stückgut von Hamburg nach Sydney gefahren, hatte von Newcastle Kohlen für die Marine nach Matupi bei Rabaul gebracht. Der Kapitän war Mitinhaber des Schiffs. Er wollte eigentlich unter Ballast nach Australien zurück. Dort hätte er Getreide für Europa oder Kohlen für die Salpeterküste laden können. Aber es fand sich, daß es mit der Zeit schlecht ging. Das Getreide war schon verschifft. Die Kohlen zahlten augenblicklich so niedrige Fracht, daß er etwas anders unternahm. Er lud Muscheln und Kopra in Rabaul und wollte sie den neuen Weg durch den Panamakanal nach Europa bringen.

„Ich bin nämlich immer mal fürs andre!“ bemerkte der Kapitän, und um das in einem kleinen Beispiel gleich praktisch vorzuführen, fragte er: „Sehen Sie, Herrschaften, hätten Sie nich so nen lütten guden Rum of Jamaica. So dazwischen ...m ...m? Ohne Rum gibt’s für nen ollen Seeonkel doch kein Vergniegen nich.“

Dazu schien das Gesicht zu weinen, und Ledinski ließ die Rumflasche kommen. Da spitzte der alte Säufer den dicken Mund unter der Bergamottenase.

„So! dat schmiert all wiederum!“ Er fuhr fort zu erzählen, daß er nun etwa bis auf den 35. Grad hinunter müßte, und so bei den Kermadekinseln hätte er Rendetzvutz mit die braven westlichen Winden. Aber bis dahin habe die Bark „keinen Usus vor sich“, drückte er sich aus, das heißt sie konnte nicht auf schriftlich niedergelegte Erfahrungen hin segeln, sondern müßte sich ihren Weg zwischen den Inseln und Riffen selber suchen. Aber einmal da unten, da riecht die „Hahnbock“ ihren Weg. Sie hat ihn schon ein paarmal gemacht.

Während er dann von alten Reisen im Stillen Ozean erzählte und dabei, im Anschluß an seine zahlreichen Girlanden von Alkohol und die Palmenpflanzungen der Gegend, von Inseln phantasierte, die mit Kokosnüssen belegt seien, wie bei uns ein Pferdestall mit Roßknödeln und kein Mensch kümmere sich darum — vielleicht liegen diese Inseln im Mars — kam Peter Pirath eine Vorstellung, die ihn wie eine rasche Überschwemmung unwiderstehlich anfüllte und über abenteuerliche mächtige Wege der Wirklichkeit zu entführen drohte. Wenn er, statt mit dem braven Dampfer über Sydney nach Hause, seine Reise mit diesem großen Unternehmen schlösse: Mit der „Hinnerjette“ zum Panamakanal, von dort heimwärts? Und vielleicht fanden sie die Insel, die noch nicht entdeckt zu sein schien und deren Boden die Kokosnüsse bedeckten, wie in Deutschland die Buchenblätter den Waldboden. Das wäre ein Schlag!

Er sagte rasch und hitzig, als ob es ihm entgehen könnte: „Kapitän, nehmen Sie mich mit durch den Panamakanal?“

Der Kapitän schaute auf, blieb eine Weile stumm, und dann kam zum erstenmal etwas in sein Gesicht, das wie ein Lachen ausschaute. Alle Falten falteten sich noch einmal, die Kreuz und Quere zuckte es wie gebrochene Streichhölzer über die Backen, die Stirn, und die Nase schwibbelte ein wenig und wollte sich am aufstehenden Bocksbart kitzeln. Auch das Ehepaar schaute Peter erstaunt an.

Der sagte heftig: „Das ist doch einmal eine andere Sache! Und dann komm ich ganz um die Welt herum!“

All right!“ rief dann der Kapitän ruhig. „Ich persönlich fahr aus Prinzip auf keinem Dampfer. Unser Menü ist am ersten, vierten und siebenten Tag der Woche Salzfleisch, am zweiten und sechsten Tag Salzfleisch und am dritten und fünften Tag Salzfleisch. Behagt Ihnen das? Mir recht. Ich geb Ihnen meine Kabine und den Salon. Und dann feuern wir der ‚Hahnbock‘ in die Nüstern. Sie ist ein Renner, first class. Bei raumem Wind nie unter hundertachtzig am Tag. ’n bäten Water schöpft sie ja wohl. Aber wir sitzen achtern hoch ...! Und am Panamakanal können Sie ja den Dampfer nach Europa nehmen, wenn Ihnen ‚Hahnbocken‘ zu schnell reitet, hi, hi, hi, und zu gut kocht ...! Wie ist’s mit der Seelenspeise?“ fragte er plötzlich, wie ernüchtert. „Ich bin nur auf mich eingerichtet ...!“ Und er zeigte auf die Wein- und Schnapsflaschen auf dem Tisch.

Da sagte Frau Ledinski ein wenig aufgeregt: „Wir können unsern Rest mitgeben. Die ‚Java‘ kommt ja morgen oder übermorgen mit neuem Proviant.“ Sie war begeistert von Peters Plan. „Auch Konserven! Brr, das Salzfleisch! Es schmeckt wie stickige Luft.“

„Wie Honig!“ warf Damm empört dazwischen. „Überhaupt das beste Essen, wo man hat. Und braune Bohnen dazu ...m ...m ...m!“

Er leckte mit der Zunge um seinen glattrasierten großen Mund und schlürfte.

„Haben Sie Hunger?“ fragte Frau Ledinski lachend.

Der Kapitän sagte ernst: „Ich bin ein aufrichtiger, ein ganz aufrichtiger Mensch.“

„Also ja!“ rief Frau Ledinski.

Damm winkte ernst zu.

Sie aßen alle noch einmal. Der Wein schwelte in ihren Köpfen weich auf. Er vergrößerte bei jedem die Eigenarten der Anlage. Ledinski sprudelte von Einfällen, der Kapitän war nudelig und knusperig, ging auf wie ein Strudel, Peter Pirath spürte das Gemüt wie einen tiefen Brunnen in sein Gehirn gegraben, und es scholl herauf und ward Musik, die alles Genaue und Greifbare verwischte, und Frau Ledinski empfand als ein eigenes das naive Glück dieser drei so verschiedenen Männer.

Schließlich wollte der Kapitän zum Schiff zurückfahren. Frau Ledinski sagte: „Aber Sie schlafen doch bei uns!“

Damm entgegnete mit ernstem Gesicht (oder lachte er?): „Ick slap immer bei meiner Hinnerjette, Hinnerjette! Hahnbock! Hahnbock! Nichts für ungut. Hahnbock!“ fügte er noch einmal energisch drauf.

Sie führten ihn zum Ufer. Die beiden Matrosen, die Damm an Land gerudert hatten, waren von Frau Ledinski hinter dem Haus bewirtet worden. Sie warteten am Meer. Einer von ihnen war betrunken und quatschte das Ehepaar und Peter immer an. Da nahm ihn der Kapitän bei der Brust, hob ihn über den Rand des Bootes und drückte ihn nieder: „Verteuf man en beeten, du Oos!“ Der Matrose maulte auf. Der Kapitän sagte: „Et is ne Dame hier. Bei Roerslag twintig butenland fangst eene, du Nickel, du Normann!“

Das Boot stieß ab.

Der Wind drehte in der Nacht, und am nächsten Morgen verließ Peter Pirath die zweite Station seiner Reise, nachdem er dem Amtmann das Buch: „Matantuduk“ mit einem Brief zur Versendung an seinen Bruder Hermann übergeben hatte. Die „Java“ sollte es gleich mitnehmen. Das Ehepaar winkte vom Ufer aus, daß ihm die Arme weh taten. Die Herzen bluteten. Peter Pirath stand auf dem Achterdeck und strich mit seinem Fernglas über seine Pflanzung Matantuduk, die langsam am südwärts ziehenden Schiff vorbeistreifte. Er hörte jenseits der urtümlichen Gebirge Zentrifugen surren und sich in geheimnisvoll treibender Fruchtbarkeit voneinander abspalten und hemmungslos sich aufschleudern und vermehren. Hermann lief zwischen den Maschinen und feuerte sie durch Zurufe an, seine Heimatstadt sah er erfüllt von einer heftigen raschen Bewegung; das große Zahnrad der Entwicklung schnappte nach dem Einsprung, der höher gelegen war.

Auf der „Hinnerjette Hahnbock“

Achtern wohnten sie zu drei: Pirath, der Kapitän Damm und ein älterer Steuermann, namens Kluge. Kluge war ein kleiner Mensch mit breiten Schultern und flacher Brust. Er ging stets mürrisch und nörglerisch umher, weil er sich nichts zu trinken verschaffen konnte, da sein Schnaps alle war. Gossen ihm Peter oder Damm ein, so stürzte er das Glas gierig unmittelbar in die Kehle, und er war für eine Viertelstunde aufgeräumt und gesprächig.

Einmal fragte ihn Peter in einer solchen Viertelstunde: „Nun, und Sie, Herr Kluge? Wann werden Sie denn Kapitän?“

Damm meckerte auf. Alle Fältchen seines Gesichtes knickten sich ein, und der dicke Kopf und die blitzigen Äuglein und der quellend geöffnete Mund warteten. Denn diese harmlose Frage Peters hatte Kluge ins Herz getroffen.

Kluge schaute Peter wild an, erhob sich und ging davon. Als er draußen auf Deck war, brüllte er zurück: „’m Oos!“

Da begann Damm mit den Händen auf dem Tisch zu trommeln.

„Was hat er? Was ist?“ fragte Peter verwundert.

„Sie häwt em bannig schwer beleidigt!“ antwortete Damm ernst, kicherte dann los und schlug wieder auf den Tisch.

„Was denn?“ fragte Peter ungeduldig.

„Hier!“ machte Damm und hob seinen Mittelfinger, der so dick war wie eine Schützenwurst, an die Stirn. „Dort het he ’n Ankerspill. Dort geiht alls jümmer rundum. Mit beide Wachens un baben in de Mitt’, de mit dat Schipperklavier. Er ist nämlich schon mal Käpten gewest, und dann hat er mit seiner Bark so gut gezielt, daß er zehn Schifferboote über’n Haufen rannte und seinen Klüverbaum in einen Dampfer festrammte. Im Kanal war’s. Und er war so duhn, daß er glaubte, die Ewer wollten ihn überfallen, und er hat geschrien und mit ’m Rivolver geschossen. Dar häwt se em sien Patent wegnahm’n.“

Peter war bestürzt und dachte nach, wie er das Geschehene wieder gutmachen könnte. Er wollte den geraden Weg gehen und sich vor Kluge entschuldigen. Er fand ihn draußen an den Brassen beschäftigt und ging auf ihn zu. Er begann: „Ich muß Sie vielmals um Entschuldigung bitten, Herr Kluge ...“

Aber der Steuermann warf ihm einen wüsten Blick seiner grauen Augen an den Kopf, drehte sich um und ging davon. „Du Oos!“ murmelte er. Dann sprach er nicht mehr mit Pirath. Er wollte auch nicht mehr mit den beiden essen und ließ sich seine Mahlzeiten in seine Kabine geben. Er ging viel zum Matrosenlogis nach vorn. Einige hatten von Rabaul her noch Schnaps. Für teueres Geld, das er schuldig blieb und von seiner Heuer in Hamburg versprach, kaufte er ihn Glas für Glas, betrank sich und hetzte die Matrosen gegen Pirath. Er deutete allerlei Verächtliches über ihn an. Aber wie er immer wieder in ungenauen Verdächtigungen über ihn sprach, stellte ihn einmal Henry Tedge, einer, der seine Nationalität verloren hatte, faßte ihn mit beiden Fäusten an der Joppe und schrie ihm ins Gesicht: „Stürmann, jetzt grade heraus mit der Rede. Du Aas! Was ist mit dem verfluchten langbeinigen Kamel von Passagier?“

Kluge reckte sich Henrys Ohr entgegen und flüsterte so laut, daß das ganze Logis es hörte:

„He is een Spionierer.“

„Wat,“ brüllte Henry, „wat is he?“

„Een Spio ... spio ... nie ... Wees de: een Detektiv is he!“

Henry Tedge war ein magerer großer Kerl mit einem ganz ausgemergelten Kopf, der hinten flach in den Hals lief und in dessen Gesicht über einer starken kleinen Nase zwei graue Augen gemein und scharf immer unruhig umherschauten. Wie er das Wort Detektiv hörte, da schoß das Blut in sein knochiges bleiches Gesicht, die Adern hämmerten an den Schläfen heraus, die Augen sprangen, er schlug die Fäuste an die Holzwand und brüllte: „Krepieren schall he, verrecken ...!“

Da sagte der breite gemütliche Hinnerk von Spiekeroog lachend:

„Tedge, de is eegens for di an Bord kam’n!“

„Wat?“ schrie Tedge ihn an, „du dammned bloody ... Wat seggst du?“ Und mit einem Raubtiersprung setzte er auf Hinnerk los. Aber Hinnerk hielt ihn in langsam steigendem Zorn bei den Schultern vor sich in die Höhe. Henry zappelte mit den mageren nackten Beinen: „Lat los!“ brüllte er. „Ich renn di meen Messer in die Knaken! Los!“

„Man tau!“ sagte Hinnerk mit drohender Ruhe und hielt ihn fest. Nach einer Weile ließ er ihn los und ging auf Deck hinaus. Henry brummte ihm drohend nach. Kluge hatte sich in die Koje eines Matrosen gelegt, der gerade auf Wache war, und begann seinen Rausch zu verschlafen. Auch Henry legte sich in seine Koje. Er zog den schmutzigen Vorhang vor und warf heftige, blutige Blicke heraus. Das Blut färbte sein Augenweiß wie ein rotes Gift.

Pirath kam oft zu den Matrosen. Die „Hinnerjette“ fuhr prall am Wind durch die ruhige See, das Mitteldeck nahm nur wenig Wasser.

Pirath kam zu den Matrosen, weil er in ihnen den höchsten Ausdruck des Lebens an Bord sah, eines Lebens, das er nicht kannte und dessen fremde Seele ihn reizte. Die Matrosen nahmen ihn gleichmütig auf und ließen sich auf kurze Gespräche mit ihm ein, wenn er sich zu ihnen an die Luke beim Logis setzte.

Auf einmal aber fiel ihm auf, wie ihr Benehmen gegen ihn kürzer wurde. Einige grüßten, wenn er kam. Andre blieben und antworteten kaum, wenn er fragte. Nur Hinnerk von Spiekeroog und einige deutsche Matrosen sowie die drei Schiffsjungen waren gleich bereit, mit ihm zu plaudern.

Wenn er das Deck herankam, sagte Tedge: „Da kommt de aasige Spionierer! De ... langbeenige Hammel. Ick riet em de Gorgel ut ’n Schlund!“ Aber Hinnerk versicherte die andern: „He luggt. De Stürmann het ’n Pik up em, weil he ’n Fabrikant is ut Dütschland!“ „Wat is he?“ schrie Tedge, „Fabrikant? Fabrikant vonner Polizei, Galgen makt he, de Kreuzdonner ...“ Und wenn Pirath kam, schaute er ihn mit den gierig hassenden Blicken seiner gemeinen Augen herausfordernd an und ging weg.

Peter teilte die Gefühle Tedges: „So ekelhaft sieht dieser Mensch aus!“ sagte er sich immer. „So ausgemergelt von dem gemeinsten Leben, von Verbrechen gemein ausgemeißelt!“ Sein Widerwille wuchs an dem feindseligen Benehmen des Matrosen rasch zu Haß. Er schaute ihn nicht mehr an. Er brachte es nicht über sich, diesen Verbrecher zu grüßen.

Die „Hinnerjette Hahnbock“ lief vor dem Wind eilig zwischen den Inselgruppen dahin. Damm ließ seine Zähne aufeinanderkrachen, wenn er das aufschäumende Wasser an der Back weichen sah, und sagte: „Die ‚Hahnbock‘ hat brennende Zunder im Moars. Sie läuft wie’n Esel! Achtzehn Meilen!“ Er schaute mit seinem immer gleichmäßigen Gesicht, in dem sich nur die Fältchen bewegen konnten und an dem Nase, Ohren, Lippen, Bocksbart wie knollige Auswüchse hingen, Peter an und meckerte:

„Soll ’n Dampfer man mit! Soll ’n Dampfer man mit! De Ölspritzer, de Ölkann-Jonglierer, de Dreckkasten, de Rußkotzer ... So wat müssen wir begießen!“ fügte er leise hinzu, daß es die Matrosen am Steuer nicht hören sollten. Laut sagte er dann: „Wollen wer man in die Karten schauen gehn, Herr Pirath?“ Er trank dann immer ein Glas Kognak, eine Flasche Bier und einen Rum. „Mein Girlandchen!“ sagte er befriedigt.

Aber als sie das Inselgebiet verließen und sich ostwärts wandten, den „braven Westwinden“ zu, änderte sich die Sache plötzlich. Es kamen langtägige Flauten; Tage und Nächte schlapperten die kraftlosen Segel lärmend auf dem Gut herum. „Dat ritt mien beste Segel to Plünnen!“ jammerte Damm. „So’n aasiges Wetter!“

Auf einmal unterbrach ein plötzlicher Oststurm die Flauten. Mit Mühe holten sie die Segel ein. Beide Wachen arbeiteten Tag und Nacht. Niemand kam aus den nassen Kleidern. Das Meer stürzte sich aufs Deck. Die Bark mußte südlich gehen, der Sturm trieb sie auf Neuseeland zurück. Damm schimpfte wie ein Vulkan. Die Matrosen waren widerspenstig. Der Kapitän verweigerte ihnen deshalb den bei schwerer Arbeit gewohnten Rum. Das machte auch die Partei Hinnerk von Spiekeroog, die mehr mit achtern zusammenhielt, gegen ihn gereizt. Aber die Matrosen ließen es aneinander aus. Sie beschimpften sich blutig mitten in der lebensgefährlichen tollen Arbeit auf den Rahen und in den Seen, die sich auf Deck über sie stürzten, und als der Sturm vorüber war, hatte die Feindschaft der beiden Parteien sich tiefer und heftiger in die Herzen gegraben.

Peter hatte den Sturm verwacht. Er hatte, stundenlang an die Reling und die Taue des Besanmastes angeschraubt, die Raserei der Winde Schiff und Meer bekämpfen sehen. Rissen denn die Segel nicht? Hebt sich denn das Schiff wieder auf? Verschluckt denn die Woge es nicht? Der ganze Sturm war als ein mächtiges, unheimliches Rätsel durch sein Herz gerast. Nun da das Unwetter vorbei war, blieb der Sturm in ihm, wie etwas Wunderbares, wie ein Symbol des Kampfes mit allen Gewalten des Schöpfers, und der Mensch hatte mit seinem Werkzeug gesiegt.

Der Wind raumte auf. Die Bark konnte flink vor ihm daherfahren. Er strich von unten seitwärts in die Segel. Sie wölbten sich wieder. Sie fuhren wie mächtige fremde Drachen mit dem Schiff durchs Meer.

Die Matrosen hatten wenig Arbeit. Die Segel blieben tagelang unverändert. Kaum, daß sie ein paarmal aufgebraßt wurden. Die Menschen waren wieder auf sich angewiesen, mit sich allein. Mit der kleinen Abwechslung in Rabaul hatten sie seit beinahe zweihundert Tagen nichts Menschliches gesehen als ihre eigenen Gesichter, keinen Willen gespürt als den des Stärkeren unter sich gegen den Schwächern, nichts besessen als die Gefühle gegeneinander. Sie ekelten sich an. Sie gingen aneinander vorbei und nahmen ihren Haß aus dem Herzen gierig in die Hand, und in heimlicher Raserei schrien sie einander zu: „Ich möcht dir mein Messer in den Bansen stoßen! Du Hundegeburt! Du Scheißdreck! Meine Augen kotzen, weil sie dich sehn müssen. Du stinkst! Alles was du tust und sagst, tust und sagst du nur, um mich wütend gegen dich zu machen. Ich zerschmatz dich mit meinen Zähnen, du blutiges Aas!“

Peter sah auf einmal diese Änderung. Es war, als ob diese Schar von Menschen, als ob die Menschheit überhaupt durch unverständliche Kräfte gebunden wäre. Auch er spürte diesen Druck des Hasses, er wollte würgen, schlagen, töten! Sich von der Gebundenheit befreien, grausames, von Brutalität quellendes Raubtier sein. Wie Blut unter einem wüsten Dolchstoß aus einem Leib aufschießt, so wollte er die Verdammtheit seines Gemüts befreien können! Oft gerieten Matrosen aneinander. Wenn er das sah, lief er am Leittau über das von Wassern überstürzte Deck und riß sie auseinander, nicht um des Friedens willen, sondern um diesem dämmernd wilden Zustand in seinem Innern an die Luft zu helfen.

Er lag jetzt oft, um nur nichts Menschenähnliches zu sehen, auf dem Logis und der Küche, die vorn an Deck niedrig aufgebaut waren, in einem der dort aufgestellten Rettungsboote und schaute in die schwellenden, stoßend geblähten Segel hinauf. Er hatte keine Gedanken. Sein Gemüt floß wie ein Strom in der Überschwemmung. Aber er wußte, daß dieser Zustand nur zeitlich war. Ein stürmischer Wirrwarr strömte dann durch ihn, Bedeutungsvolles und Willkürliches mischend.

Er machte die letzte Probe. Das war diese Fahrt auf dem Segler durch die maßlose Unendlichkeit und Vereinsamung des Stillen Ozeans. Es war eine letzte Verdammnis, ein letzter Fluch. An einem unbekannten süßen Küstenfleck Amerikas wartete, wie eine Fee, die letzte Errettung auf ihn. Sie war so süß lockend, wie Ewe süß und lockend gewesen war. Dann konnte er auf einem Dampfer, wie in einer verzauberten Stadt, schön und genießend, heimwärts fahren und die Ernten raffen.

Er hörte, wenn er so im Boot lag, unter sich die Matrosen, die auf Freiwache waren, sprechen. Sie saßen auf der Luke, die an die Wand des Logis anstieß, und schwiegen und schimpften. Sie wußten meist nicht, daß er oben lag.

Einmal, an einem Sonntag gegen Abend, hörte er drunten Henry Tedge. Der rief: „Wo ist der Detektiv? Dat aasige Langbeen von einem Saukärl!“ Einer antwortete: „Er säuft mit dem Alten Schnaps achtern.“ „Das bist du!“ sagte sich Peter erschrocken. „Well!“ machte Tedge, „lat em supen! Möcht ich auch! Ick woll, he verreckte an den Spriet. Weert man Vitriol! He sparte mi denn de Arbeit, em de Gorgel dortosnien!“

„Was?“ begehrte Peter bei sich auf, als er diesen Haß drunten gegen sich ausfließen fühlte, „du Galgen! Du Ekelhaftigkeit! Ich werde dich mal gelb und blau prügeln!“

Nach einer kleinen Weile sagte der klobige Hinnerk von Spiekeroog drunten: „He töft upp di, du Hering. Eh du man: Au! seggst, fiert he dich up’n Besan rup! Da kannste runner pfurzen! Du Büchsenschieter!“

Hinnerk wollte streiten, aber bevor Henry entgegnen konnte, sagte der alte Boern, der für eine Keilerei zu faul und zu schwach war, jeder möge was erzählen. Einige riefen: „Well! Ja!“

„Wat een sölm beleevt het?“ fragte Hinnerk steif.

„Was man will!“ sagte Boern. Der Meister rief: „Der Schmaus, der Koch, fang an. Erzähl die Geschichte von deiner Nase!“

Alle lachten, denn Schmaus hatte eine lange spitze Nase, die ganz krumm im Gesicht stand.

Schmaus lachte nicht. Er erzählte, ohne sich zu zieren, daß er einmal ein Schwein schlachten sollte. Es war aber unruhige See, und das Schwein entkam ihm. Er stürzte die Treppe zur Vorderback hinauf. Das Blut spritzte dem Schwein weit aus dem Hals, weil es schon angestochen war. Wutsch! war es unter der Reling durchgeglitten und lag im Netz unterm Klüverbaum. Er nach, es spritzt ihn mit Blut an, aber wie er es aus dem Netz herausheben will, schlägt eine Welle von unten herauf und wirft ihn an den Klüverbaum. Als er wieder aus dem Netz herauskletterte, war seine Nase krumm.

Aber der Meister schimpfte erbost: „Du Schwindelmajor! Wo hast du deine krumme Nas’ her? Vom Klüverbaum? Gott noch emohl? Von einem Prellstein aus der Davidstraße in Hamburg hast du es her, dein krummes Riechorgan!“ Alle riefen: „In der Davidstraße in Hamburg! Wat hewt ji do makt, Swinegel!“ Doch Schmaus ließ das Gebrüll gelassen über sich ergehen.

Als zweiter kam Henry Tedge dran, weil er neben Schmaus saß. Hinnerk brummte spöttisch: „De ward schön upsnie’n!“ Tedge kündigte dann an, er wolle die Geschichte vom Mädchen auf der Reeperbahn und dem Tiger aus Bengalien erzählen. Das Mädchen hieß Johanna und war im Dienst bei einem Polizeioffizier, der auf der Reeperbahn wohnte, und das Mädchen war so stolz, daß keiner sie verführen konnte. Sie ging abends mit den Jungen aus, ließ sich Bier und Kaffee bezahlen, und Punkt eins stand sie schon wieder an der Haustür, Reeperbahn Nr. 113, genau so unberührt wie um neun Uhr, wenn man sie abgeholt hatte.

„Da bandelte mein Freund, ein Normann, mit ihr an. Es war damals gerade Dom, und der Normann war mit einer Menagerie nach St. Pauli gekommen. Er ging schon eine Woche mit der Johanna, und nichts hatte sich gemacht. Er kam sich dumm vor, denn das war ihm noch bei keiner Maid geschehen. Da sagte er ihr eines Abends: ‚Wissen Sie, Fräulein, nachts springen in der Menagerie die Affen bei die Tigers herum, und die Kakadus schaukeln sich auf dem Rüssel vom Elefanten Peter, und die Ameisenbären hängen sich in die Zotteln von die Kamelen. Dann ist der ganze Urwald zusammen, friedlich und fröhlich wie in der American Bar.‘

Er dachte sich, das locke sie, daß sie mitgeht, und wenn sie beide dann allein in der dunkeln Menagerie sind, dann mag sie sich wehren, dann kriegt er sie heran.

Johanna hatte am Sonntag vorher sich in der Menagerie die wilden Tiere angeschaut, die so grimmig und wütend ein jedes zwischen seinen engen Gittern umhergingen, und wunderte sich, daß nachts diese Tiere Freundschaft miteinander halten sollten. Sie fragte: ‚Ja, laufen sie alle so frei drinnen im Zelt herum?‘ ‚Goddammich,‘ sagte mein Freund, ‚bewahre! Aber haben Sie nicht gesehen, daß die Käfige alle aneinander stehen und daß zwischen jedem eine Tür ist, und nachts werden alle Türen aufgemacht, daß die Biester miteinander spielen können.‘ Das glaubte Johanna nicht. Da sagte der Normann geärgert: ‚Ja haben Sie denn die Käfige mit aufgebaut und öffnen Sie denn jede Nacht die Türen zwischen jedem Käfig, oder tu ich das, Fräulein? Und was glauben Sie dann: hielten denn sonst diese Viecher die Gefangenschaft aus, so weit von ihrer Heimat?‘

Da fand die Johanna es wunderbar, und der Normann sagte ihr: ‚Fräulein, wenn Sie sich die Kirmes ansehen wollen, so machen wir’s. Sehen Sie, das ist der Schlüssel hinten für die kleine Tür in die Menagerie.‘ ‚Aber wenn all die wilden Biester doch im Zelt sind!‘ ‚Sie sind aber nicht drin, sondern in den Käfigen.‘

Schließlich ging die Johanna mit ihm. Sie schlichen hinter den Buden, die schon alle geschlossen hatten, durch. Der Normann zog den Schlüssel heraus und öffnete die kleine Tür, und sie gingen hinein. Sie kamen aus der Dezemberkälte heraus in den warmen Raum. Aber es war rabenfinster in der Menagerie, und man merkte von all den Tieren nichts als den Gestank. Die Johanna traute sich nicht vorzugehen. Der Normann riegelte die Tür hinter sich ab und sagte: ‚Nun gehen Sie mal vor, Fräulein.‘ Er schob sie. Da sprangen auf einmal zwei grüne Kugeln in der Dunkelheit hoch, und ein Gebrüll folgte ihnen. ‚Nicht erschrecken, Fräulein!‘ sagte der Normann und nahm eine Hand von der Johanna. ‚Das ist der Tiger aus Bengalien, der kann nicht schlafen. Der hat einen kranken Magen bekommen, und da geben wir ihm nun seit gestern morgen nicht zum Fressen. Was meinen Sie, wenn Sie dem bei seinem Hunger einen Besuch machten, wieviel übrig bleibt von Ihnen?‘ ‚Au je,‘ schrie die Johanna entsetzt.

Als die Johanna nun eine Weile in der Menagerie war, gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Sie trat näher an die Käfige heran, schaute hinein und sagte auf einmal ganz bös: ‚Ist ja Schwindel, Sie; wo springen die Affen mit die Tigers herum? Lassen Sie mich gleich heraus, oder ich ruf’!‘ Der hungrige bengalische Tiger fuhr gegen die Bewegung und die Laute, die aus der Finsternis kamen. Die Johanna sah die grünen Kugeln wieder aufschießen und hörte den Körper an die Eisenstangen prallen. Sie fuhr zurück, stieß fest gegen den Normann, und der legte einen Arm um ihre Brust und sagte: ‚Ich werde mit dir springen!‘ Da war er der Tiger aus Bengalien, und er warf sie nieder und bekam, was er wollte. Und sie schrie, und er hielt ihren Mund zu, und als er genug hatte und seine Hand wegnahm, da sagte sie: ‚Das bringt Sie ins Gefängnis, Sie.‘ Er fragte: ‚Wohin?‘ ‚Ins Gefängnis!‘ sagte sie noch einmal und begann um Hilfe zu brüllen.

Da schrie er: ‚Halt’s Maul,‘ und fuhr an ihrem Hals mit der Hand herab, bis er die Kehle an den Fingern spürte und drückte zu, daß kein Laut mehr herauskam. Und als keiner mehr herauskam, da ließ er sie los. Die Johanna blieb am Boden liegen. ‚Jetzt bist du tot, siehst du,‘ sagte der Normann. ‚Weshalb hast du geschrien? Ich hab schon mehr Weiber gehabt, die nicht wollten, aber es hat keiner das Leben gekostet, weil keine geschrien hat.‘

Einige Tiere waren aufgewacht. In der lautlosen Dunkelheit hörte der Normann, wie sie sich aufrichteten und wie ihre eingeruhten Glieder knackten, und aus ihrem Rachen kam ein dunkles Brummen. Der bengalische Tiger fauchte einmal schrill auf.

Jetzt ist es aber Eisenbahn, sagte sich der Normann. Er schüttelte die Johanna, aber sie regte sich nicht. Da lud er sie auf und schleppte sie hinter die Käfige. Dort zog er sie ganz nackt aus. Dann stellte er eine Leiter an den Tigerkäfig. Und er trug sie hinauf und öffnete oben die Falltür und rin ins Vergnügen mit ihr. Er sah von oben zu, wie in der Dunkelheit der Tiger zuerst erschrocken ruhig war, dann stutzte, die Nase hochhob, roch und auf einmal fuhr er mit der Tatze durch die Luft. Da schloß er die Falltür. Er stellte die Leiter zurück. Er zündete eine Laterne an, vergrub unter den Käfigen die Kleider und sah zu, ob nichts zurückgeblieben war. Er ließ aber das Licht nicht auf den Käfig scheinen. Der bengalische Tiger schrie nicht mehr. Es rauschte und krachte nur in der Finsternis. Da grauste den Normann doch ein wenig. Da ging er weg.

Nach ein paar Tagen kam ein Polizist in die Menagerie. Er sprach mit dem Besitzer. Währenddem stand der Normann hinter den Käfigen und hatte seinen Revolver in der Hand. Aber der Polizist ging wieder. Der Besitzer rief den Normann und sagte ihm: ‚Kannten Sie die Johanna vom Polizeirat?‘ ‚Und ob,‘ sagte der Normann. ‚Die ist weg!‘ sagte der Direktor. ‚Was nicht gar!‘ antwortete der Normann. Aber in derselben Nacht machte er sich aus dem Staube, und man hat ihn nicht erwischt.“

... Als Tedge nichts mehr sagte, brummten die andern erregt auf und ruckten auf der Luke hin und her. Es war inzwischen Nacht geworden. Pirath hatte die Geschichte mit angehört. Er spürte sein Blut in plötzlichem Jähzorn durch die Adern zum Kopf strudeln. Er sagte sich heftig: „Ich werde ihn in Hamburg der Polizei ankündigen! Das ist er ja selber gewesen. Der Kapitän soll ihn gleich festlegen, den Mörder.“ Pirath wollte aufstehen, aufgepeitscht von dieser Geschichte und der Entdeckung. Er hörte noch, wie der kleine krummbeinige Niklas, der Freund Hinnerks, rief: „Kreuzdunner, so’n Schwein. Dem möcht ich an die Hammelbein’, Goddammich!“ Aber Hinnerk erhob sich langsam und trat auf Tedge zu, nahm allen Haß seines Herzens zusammen und sagte ihm: „De Normann bist du wohl sölm wäsen, du Galgenstrick!“

Da pfiff Tedge schrill durch die Zähne und stieß zugleich mit seinem dünnen spitzen Kopf Hinnerk brutal in den Leib, während andere Matrosen, Bundesgenossen Tedges, von hinten über den Hinkollernden herfielen. Peter hörte den Lärm. Er sprang aus dem Kahn, ließ sich an der weißen Wand herunter. Er sah in der Dunkelheit ein Knäuel von Menschen, die übereinander herfielen, schlugen, schrien, und plötzlich wühlte sich vor ihm ein Kopf aus dem Haufen, wie eine Schlange glitt ein Körper nach, sprang hoch, hielt mit der linken Hand einen Hals im Haufen gepackt und fuhr mit der Rechten dicht an Peter vorbei, den er nicht sah, mit einem Messer in der Luft. Pirath erkannte den Verbrecher Tedge und erkannte im selben Augenblick, daß er dem Mann, den er am Hals hielt, das Messer in den Kopf schlagen wollte.

Da hämmerte Peter mit beiden Fäusten derart wild wagrecht auf den steilen Arm, der das Messer zückte, daß es war, als flöge der Arm davon. Der Mann drehte sich um sich selber, stürzte hin, Pirath riß mit einer Hand die Faust mit dem Messer zwischen seine Knie und würgte mit der andern den Kopf des Liegenden nieder. „Hier ist der Mörder!“ rief er. „Hier ist der Mörder!“ brüllte er ununterbrochen.

Die andern ließen voneinander ab. Fauchend und keuchend, wie ein erbostes Flußpferd, drückte sich Hinnerk mit seinen mächtigen Schultern aus den Matrosen herauf, schrie: „Dat Oos woll mi steeken!“ Mit einem Ruck zog er Tedge auf, dem unter Peters Faust der Atem etwas vergangen war und der sein Messer fallen gelassen hatte, er nahm ihn am Genick, hielt ihn hoch, und mitten in einer dahinstürzenden Bande von Matrosen stieß er ihn vor sich her nach achtern. Er brachte ihn dem Kapitän.

Der Kapitän hatte nichts von dem Lärm gehört. Der Steuermann hatte Wache, und der Kapitän erhob sich unwillig vom Sofa im Salon.

„Wat gibt’s?“ fragte er.

Hinnerk rief: „He woll mi steeken! De feige Hund!“

Tedge brüllte hinein: „Dat is nicht wahr!“

Aber da kam Pirath dazu und sagte: „Doch, es ist wahr.“

Der Kapitän erhob sich vollends, ging auf die hereindrängenden Matrosen zu und schlug in sie hinein. „Wat wullt ji achtern, rut! rut!“ schrie er sie an. Sie drängten eilig hinaus. Nur Tedge und Hinnerk blieben in der Kajüte. Dann schloß er die Tür. Sein Gesicht war von der Lampe beschienen. Peter sah, wie durchs Scheinleit sich der magere Kopf Kluges plötzlich herabbog. Aber Kluge zog sich zurück, als er bemerkte, daß Pirath ihn sah. Das Gesicht des Kapitäns sah aus, als ob nichts geschehen wäre. Er war nur ganz rot überpudert. Er ging auf Hinnerk zu, der Tedge noch immer am Wickel hatte. Der Kapitän schrie Hinnerk an: „Ick bruk diene Füste nich. Lotlaten, ansonst streckst dien Been glik himmelwärts!“ Hinnerk ließ zögernd los. Da fragte der Kapitän: „Wat is nu los?“ Hinnerk erzählte, wie es gegangen war. Tedge rief immer: „He luggt! He luggt!“ Aber Pirath schrie bös hinein: „Er lügt nicht! Ich hab gesehen, wie er mit dem Messer zustechen wollte und hab seinen Arm niedergeschlagen.“

Der Kapitän wartete einen Augenblick. Dann fragte er: „Det haben Sie gesehn?“ — Ja! nickte Peter. „Un sinen Arm häwt Se nederslan?“ Ja! nickte Peter. Und plumps! war eine schwere Hand durch die Luft gefahren, wie ein springender Elefant, und war Tedge ins Gesicht geflogen. Der spitze dünne Kopf stob jämmerlich beiseite und donnerte an das Getäfel des Salons. Kaum hatte sich der Kopf wieder hochgerichtet, so flog er — pump! — unter einem neuen Schlag auf die andre Seite. Der Kopf ging hin und her unter der schweren Faust des Kapitäns.

Pirath spürte ein Unbehagen. „Sie schlagen ihn tot!“ rief er, „lassen Sie ihn doch, Sie schlagen ihn tot, Kapitän!“

„Den! tot?“ meckerte der Kapitän schrill. „So ’n Nilpferd von ’m Verbrecher, von nem Halbgehenkten, tot? Der ist mehr gewohnt ...“ Schließlich faßte er Tedge hinten beim Genick, riß die Tür auf und schmiß ihn mit einem gewaltigen Fußtritt aufs Deck in die Nacht hinaus.

Tedge flog in den Haufen der Matrosen, die dort in der Dunkelheit standen und auf den Ausgang der Sache warteten. Die Freunde Tedges murrten laut, als er so herausgeflogen kam. Die Anhänger Hinnerks wieherten vor Lachen.

Damm trank dann drei Rums. „So ne aasige Schweinebande!“ sagte er nur.

Peter fand keinen Schlaf. Er stand auf, als er Mitternacht glasen hörte, und ging an Deck hinauf. Kluge kam gerade die Treppe herunter. Zum erstenmal grüßte er Peter wieder nach jener Frage. Er schlich klein und zag im düstern Licht des engen Flurs zu seiner Kabine. Pirath ging die Stiege hinauf, setzte sich ein Weilchen ins Kartenhaus, das, wie eine Kabine mit Aussicht, auf dem Hinterdeck aufgebaut war, und trat dann ins Finstere des kleinen Decks, auf dem er Damm auf und ab gehen hörte. Hinnerk stand am Steuer. Damm schaute in die Segel hinauf, die leise klapperten. Er brummte zurück: „’n Strich höher, Rotzfott, bi de Wend!“ Pirath gesellte sich zu ihm. Sie gingen schweigend nebeneinander. Dann setzten sie sich in die dunkle Ecke auf eines der Rettungsboote, die seitlich neben dem vorderen Kompaß standen. Sie sahen Hinnerks dicken Kopf von Weile zu Weile, wenn er das Steuerrad drehte, sich in den Lichtschein vorbeugen, der von der Salonlampe durchs Scheinleit heraufdrang. Die Wache war dabei, die Großmastsegel aufzubrassen. Der Kapitän schaute von seinem Platz aus zu und rief manchmal ein kurzes Kommando hinab in die Nacht, in der die Matrosen arbeiteten.

Da auf einmal machte es: „Pßt, Kaptän! Kaptän, pßt!“ Eine flüsternde Stimme: „Pßt, Kaptän!“ — „Wat, pßt, Kaptän?“ fragte Damm brummig. Er wußte nicht, woher es kam. Aber plötzlich sah er Hinnerk erregt winken.

„Wat denn? Wat denn?“ fragte Damm und stand auf. Hinnerk zeigte in den Salon hinab. Der Kapitän und Pirath traten leise aus der Dunkelheit auf das Scheinleit zu. Hinnerk flüsterte: „Henry Tedge!“ und zeigte hinab. Und sie sahen unten Tedge im Licht der Lampe im Salon dahinschleichen. Er hatte einen Hammer in der Hand. Dann verschwand er in eine Ecke. Er verschwand in der Ecke, wo der Schrank eingebaut war, in dem die Schiffsapotheke untergebracht war und in dem der Chronometer gut eingekapselt aufbewahrt wurde, der die Zeit des ersten Meridians, die Zeit von Greenwich durch die Welt trug. In diese Ecke sah man nicht von oben. Damm meckerte flüsternd: „He will sik det blaue Ooge einbalsamieren!“

Sie hörten, wie der Schrank aufging, und auf einmal gab’s einen Schlag und Splitter, und die Menschengestalt flog unter der Lampe vorbei. Damm grölte auf. Er stürzte schwer auf das Kartenhaus zu, fiel donnernd die Stiege hinab ... Pirath folgte ihm hastig und erschreckt. Sie fanden im Schrank den Chronometer zertrümmert, und der Hammer lag inmitten von Scherben und Messingstücken. Damm hob nur die Fäuste hoch. Er brachte kein Wort heraus. Seine Lippen gingen auf und ab. Dann setzte er die Rumflasche an den Mund und beruhigte sich. Er sagte nichts, zog aus einer Lade einen Revolver heraus, aus einer andern eiserne Handschellen und ging vorn aufs Mitteldeck und zum Logis. Pirath folgte ihm mit fliegenden Adern.

Der Kapitän fragte nach dem Meister. Der Meister hob sich langsam aus der Koje. Er war ein breiter starker Mann und sah aus wie ein Fleischer. „Da hewt ji wat! Meister!“ sagte Damm, „Come on!

Die drei gingen ins Logis. An einem Balken schwankte eine trübe Laterne und warf die Schatten ihrer Stäbe regelmäßig über die Kojen und den breiten Tisch. Am Tisch saß jemand. Der hatte den Kopf auf die Arme gelegt und schlief. Sie erkannten gleich, daß es Tedge Hein war. „Tedge!“ rief der Kapitän in der Tür, indem er auf den Schlafenden zutrat. Tedge schien nichts zu hören. Der Kapitän rief nochmals lauter. Da brummelte Tedge, erhob sich wie schlaftrunken und rieb sich die Augen.

Da schlug der Kapitän von oben herab seine Faust wie auf einen Amboß Tedge auf die Stirn. Der Matrose fiel widerstandslos nieder, stieß zwei Stühle um und sank weiter auf den Boden. „Du Kriminal!“ stotterte der Kapitän. Sein Gesicht war rot wie eine Feuersbrunst im Nachthimmel, und in dem unveränderlichen Aussehen kalt und grausig. Er sagte zum Meister: „Leg ihm die Handschellen an! Er hat den Chronometer zerschlagen!“ Matrosen stiegen aus den Kojen, durch den Lärm aufgeweckt. „Bleibt liegen, ihr Rotzfötter!“ brüllte Damm. Der Meister legte dem am Boden Liegenden die Handschellen um. In den Kojen erhob sich ein Gemurmel. Damm achtete nicht darauf. Er befahl, den Tedge in eine der Segelkammern einzusperren. Dann ging er mit Peter achtern zurück. Unterwegs, in der Finsternis, sagte er ihm: „Sie müssen jetzt nachts immer die Koje schließen, wenn Sie schlafen, und stecken Sie auch tagsüber einen Revolver ein.“

Das tat Pirath, und er sehnte sich mit brünstiger Gewalt nach dem süßen Erdenfleck an der amerikanischen Küste, an dem er an Land dürfte.

Er fragte Damm am nächsten Tag: „Wie lang haben wir noch?“

Damm antwortete schlecht gelaunt: „Zweitausendneunhundert Meilen.“

„Können wir denn weiter auf die guten Winde zählen?“ fragte Pirath, der die Meilen in Tage umrechnen wollte.

„Darauf schon. Aber nicht auf den Kurs!“

„Was will das sagen?“

„Dat wir mit dem kaputtnen Chronometer keen Besteck nehmen können ... Der Hundsrotz. Schweinefott!“ schimpfte er auf einmal los. „Der aas’ge Kriminal! So ’ner sollte man gliks an’ Besan kommen, daß er mit der Zung’ das Steuerrad belecken kann, so ’n Halbgehenkter. Wo wir jetzt herauskommen? De Splitteren von den Chronometer mögt dat weeten, ick nich.“

Sie mußten jetzt mit ihren Taschenuhren arbeiten. Eine wurde nach ungefährer Berechnung auf die Zeit von Greenwich gestellt. Aber die Uhren schwankten alle voneinander ab, und niemand wußte, um wieviel die Greenwichuhr, die unten in kardanische Ringe gelegt war, jeden Tag vor- oder nachging. Auch das Sekundenzählen beim Mittagmessen ging mit dem kleinen Sekundenrad nur sehr ungenau. In den fünfundvierzig Tagen, die sie unterwegs waren, hatten sie kein Schiff gesehen, und auf eine solche Begegnung, bei der man sich die geographische Lage hätte sagen lassen können, war auch künftighin nicht zu rechnen. Der Himmel war immer bewölkt. Auch nachts sah man keine Sterne. Sie stürmten ins Ungewisse hinein. Jeder Tag verstärkte die Unsicherheit des Kapitäns. Sie konnten nordwärts zu Inseln treiben. Die Osterinsel lag im Kurs. Die Karten zeigten hier und dort Riffe. Nachts sah man das alles nicht.

Pirath war es in dieser bösen Zeit, die sich nie mehr zu einer ausruhenden Minute fand, als ob sich sein Leben vom festen Erdboden gelöst habe und leicht und zerbrechlich, wie das Leben von jenen durchsichtigen Nachtinsekten, die ein Windhauch töten kann, übers Meer schwebend getragen würde. Eine Sekunde könnte es unversehens aus dem Dasein blasen. Er betete: „Komm, o süßer Erdenfleck an der amerikanischen Küste!“

Dann half er dem Kapitän und Steuermann in langen Beratungen voll jähzorniger Ausbrüche allen Wahrscheinlichkeiten nachjagen, um jeden Tag die geographische Lage festzustellen. Man hatte nicht viel mehr Hilfsmittel als das Log, das die tägliche Meilenzahl angab. Aber da man die Stromversetzung nur auf „vielleicht“ berechnen konnte, war diese Berechnung nicht zuverlässig.

Kluge war nun wieder freundlich und ergeben, wie er zu Anfang der Reise gewesen war. Die Not hatte die Erbitterung in ihm erdrückt. Die drei Menschen achtern mußten auch fest zusammenhalten gegen das Logis. Dort wuchs eine Luft von Aufruhr immer dicker an. Der Meister, der Koch, Hinnerk, Niklas und die drei Schiffsjungen waren die einzigen, auf die das Achterdeck fest zählen konnte, und der Meister kam täglich mit einer Beschwerde über Widersetzlichkeit und Drohungen. Der Kapitän, Pirath und Kluge trugen stets ihre Revolver bei sich. Auch der Meister bekam einen. Der Kapitän trank viel und ging selten ohne Rausch schlafen. Aber er hatte die Eigentümlichkeit, daß der Rausch ihn in seinen beruflichen Verpflichtungen nicht störte. Den Steuermann hielt er mit Rum so knapp als möglich, und er bat auch Pirath, ihm nichts zu geben. „He kann nix verträgen!“ sagte er.

Eines Sonntagabends, als Pirath, und der Kapitän das Nachtessen beendet hatten, kam der Meister in die Messe herein und sagte, die Engelmanns und Normanns und Amerikaners täten sich zusammen und kämen achtern. Da stand der Kapitän auf und ging hinaus an Deck. Peter stieg zum Kartenhaus hinauf und auf die kleine Kommandobrücke, die wie ein Steg bis zum Großmast über das mittlere Deck vorgeschoben war. Er sah im Licht, das aus Kluges Kabine fiel, unter sich den Kapitän stehen. Übers Deck trat eine Schar Menschen im Dunkeln. Der Kapitän fragte barsch in die Finsternis hinein: „Wat wollt ji?“

Einer sagte: „Kapitän, Sie sollen den Henry Tedge freigeben.“

Der Kapitän schaute in der Dunkelheit um sich, griff in die Nagelbank des Großmastes und zog einen der schweren eisernen Koffeinägel heraus, um die die Taue befestigt wurden. Er rückte auf die Bande los. Einige, die zu hinterst standen, gingen wieder zurück. Der Segelmeister, der ein Finne war, rief frech: „Et schickt sich nicht, daß ein Vollmatrose von wegen eines ... eines aasigen Langbeins von Spionierer ins Eisen kommt.“ Peter erschrak oben auf der Brücke. Das war wiederum er. „Spionierer?“ Und „meinetwegen kam der ins Eisen“? Er schüttelte den Kopf und wollte ruhig sich bezwingen, hinabgehen und den Finnen um Rechenschaft bitten.

Aber der Kapitän hatte schon vor sich in die Dunkelheit gegriffen und hielt einen an der Brust: „Du Finnrusse, du riskierst de Baß! Soll ich dir per la maing man seggen, wat sich schickt, du Lauseschwein!“

Die Matrosen traten unter dem grob vorrückenden Kapitän zurück. Die hinten standen, drehten sich um und gingen rasch davon. Der Finne riß sich los und stieß in die andern, die langsam zurückrückten, hinein. Da zeigten auch die den Rücken und liefen so rasch sie konnten.

Der Kapitän warf den Nagel ins Meer. „Dadran soll kein anständiges Tau mehr kommen!“ schimpfte er.

„Die Segel schämen sich sonst!“ — Dann ging er zu seinem Rum.

Peter setzte sich neben dem Kompaß auf die Kante des Rettungsboots, das dort hereingeschoben stand. Er war verzagt, ärgerlich und wütend. Sollte der Teufel das blöde Unternehmen holen! Was ihn nur geritten hatte, sich auf dieses Schiff einzulassen, auf diesen Kasten von Verbrechern! Wenn er mit dem Dampfer über Sydney gefahren wäre, so säße er jetzt zwischen gesitteten Menschen, reiste bequem, und alle Bedürfnisse würden ihm befriedigt, und er wäre bald zu Hause und könnte die große Arbeit beginnen. Gestohlene Tage sind das hier! Das ist altertümlich! Ein zeitgenössischer Mensch soll diesen sentimentalen romantischen Segelschiffabenteuern aus dem Weg gehen. Er spielte in der Tasche mit seinem großen Browning und hätte ihn gern nach vorne hin abgeschossen in die Nacht und die elende Verbrecherbande hinein, die dort hauste, weil sie die ordentliche Gesellschaft der festen Erde fliehen mußte.

Die Segel fingen an über ihm zu knallen, und das Schiff holte mit einem mächtigen Schlag auf einmal über. „De Wend schralt!“ hörte er Kluges Stimme hinten beim Steuerer. „Ach was!“ sagte sich Peter. „Ich geh schlafen! Ich wollte, ich könnt jetzt mich da unten in die Koje legen und erst aufwachen, wenn der süße ersehnte, rettende Erdenfleck an der amerikanischen Küste da ist ...“

Er verweilte noch einige Minuten, schaute den wie rätselhaft gewaltvollen Bau der vollbepackten Maste hinauf, die in abgebauten Stockwerken ihre Segel übereinander türmten, wie fremde Pagoden in verhaltenen Schwankungen mächtig hinüber und herüber pendelten. Dann ging er. „Wenn nur Damm nicht drunten sitzt! Ich will keinen Menschen sehen und kein Wort sprechen!“ sagte er sich gereizt. Im Kartenhaus stand Kluge und klopfte auf das Barometer. „Dat Barometer geiht bannig dohl!“ sagte der Steuermann. Pirath antwortete nur: „Ich geh schlafen, gute Nacht!“ und glitt die enge Treppe hinab. Damm schnarchte in der Lotsenkammer, in der er jetzt immer bei offener Türe schlief. Peter schloß seine Türe und legte sich ins Bett. Aber er fand keinen Schlaf. Es lagen alte deutsche Zeitschriften in seiner Kabine. Er begann zu lesen. Er konnte auch nicht lesen.

Da streckte er sich auf den Rücken und dachte sich heftig, immer schmerzender, immer trotziger in seine Mißstimmung und seine Wut hinein, bis er schlief und in langen Träumen in sonderbaren Abarten noch einmal alles, was ihn plagte, erlebte, viel grausiger und härter, viel unentrinnbarer und wesenlos wie ein Symbol. Er saß eng eingesperrt in einem Rohr mit eisernen Wänden, und das Rohr fuhr hoch über der Erde, und er wußte, es dauert hundert Jahre, bis es daheim ist. Hundert Jahre lang kannst du kein Glied rühren. Schrei! Brüll’! ... Aber seine Stimme nahm keinen Ton an. Sie flog wie aus einem dumpf zischenden Ventil durch seinen Hals. Und wenn du nach hundert Jahren unten bist, so bist du doch natürlich längst tot, und dein ganzes Leben lang wird dir nicht mehr die süße Freiheit, dich zu bewegen, wie du willst, ruhig mit Menschen zu sprechen und deine Zentrifugen schleudern zu sehen. Das Rohr stieß auf etwas auf. Es gab einen plumpen Schlag. Dann war es, als ob es polternd und mit Donner in einer engen Schlucht von Wand zu Wand in heftig aufschlagenden Zickzacken in die Tiefe sauste, und Peter erwachte in einer Kabine, die toll geworden zu sein schien.

Die beiden Stühle kreiselten durcheinander und schlugen bald diesseits, bald jenseits an die Wand. Die Lampe tanzte überm Bett in den kardanischen Ringen, und plötzlich schleuderte das schwarze offene Ochsenauge einen wilden Strudel von Wasser über Peter und das Bett. Da sprang er heraus, torkelte in der tanzenden Kabine zu Boden, klemmte sich irgendwo an und riß die Hose über die Beine, zog sich an und machte sich hinaus. Im Salon war es finster. Er schlich auf Händen und Beinen am eingebauten Büfett entlang, in dem die Gläser klingelten und Scherben berstend sangen.

Die schmale Treppe zog er sich ins Kartenhaus hinauf. Auch dort war es finster. Er flog wie in einer Schaukel, stemmte vergeblich die Beine auseinander, um fest zu stehen, trotzdem er sich anhielt. Als er eine Tür aufschieben wollte, preßte sich, wie ein plump vorwärtsstürzendes Tier, ein Wind gegen ihn, Wasser prasselte in sein Gesicht wie Nadeln ... Er konnte die Tür nicht mehr schließen, kroch hinaus, die Nacht raste und schrie, und vorn am Schiff bellten die Segel wie Hunde in der Nacht, mit langen heulenden Stößen. Und auf einmal schlug ein knatternder Krach in die bellenden Stöße, und Peter sah weiße Flügel in die Nacht schlagen und versinken. Die Klüversegel waren abgerissen.

Da schrie mit unmenschlicher Stimme der Kapitän in die tosende Dunkelheit: „Kluge! Kluge!“

Peter machte sich am Scheinleit fest, das in die Messe hinabführte und an das das Kartenhaus angebaut war. Er lag halb darüber und krallte sich ans Gitter der Greetings, mit denen die Scheiben eingedeckt waren. Bald hörte er zwei Stimmen vor sich, die sich in der Nacht anfuhren.

„Wat makt die Banditen? Is jem de Steert uppe Rahen anwossen?“ Das war Damm. Kluge brüllte dagegen: „Sie wollen nich! Sie wollen nich!“ Der Kapitän schrie hundert unflätige Schimpfworte hinauf; er stand vorn auf der Kommandobrücke, im Mantel, und brüllte in die Nacht hinauf. Kluge war wieder fort. Pirath wurde steif in seiner Stellung. Aber das Schiff schlug so im Sturm, daß er sie nicht aufgeben konnte, weil er keinen andern Halt sah.

„Was ist geschehen?“ fragte sich Peter unglücklich. Der Orkan sprang wie Kanonenschüsse in die Segel. Die bogen sich, vom Wind gezerrt und geschlagen, und waren rund gespannt wie Gewölbe, die vor dem Einsturz erregt aufzittern; sie schienen verzweifelt zu schreien: Wir halten nicht! Wir können nicht mehr! ...

Der Hinterteil des Schiffes stieg hoch wie ein Turm und setzte, plötzlich abwärts sausend, aufs Wasser nieder, als ob ein Berg aus der Nacht ins Meer fiele. Einmal tat die Nacht einen schrillen Schrei, und neben Pirath schleuderte ein Segel auf den Boden, hob sich wieder rasend hoch, taumelte brüllend wieder herab, und ein Fetzen peitschte Pirath über den Rücken. Er ließ vor Schreck und Schmerz los, schlug am Boden rollend, rasch die Hände nach der offenen Tür des Kartenhauses, und das auf und ab fahrende Segel peitschte den Scheinleit in Stücke und flog unsichtbar nach und nach in der Nacht davon. Eine Woge wälzte sich von hinten übers Steuer, drückte Pirath an die Tür, die krachte, und schoß strudelnd die Treppe hinab und warf sich zugleich durchs Scheinleit grell gurgelnd in die dunkle Messe.

Pirath hob sich halb auf, von Wasser triefend. Er sah niemanden mehr am Steuer. Er wälzte sich zur Reling und kroch an ihr nach der Kommandobrücke. Der Kompaß stand dort in einer Holzsäule. An die klemmte er sich an und richtete sich halb auf. Damm sah ihn: „Hier wassen keine Palmen!“ sagte Damm nur. Da war es, als ob der in weiten Kreisen, wie ein unnatürlicher, geheimnisvoll rasender Drache durch die Nacht drehende Großmast, an dem noch sämtliche Segel hingen, einen Körper aus der Finsternis pflückte und ihn über den Köpfen von Pirath und Damm hinweg davon spritzte.

Das mittlere Deck unter Piraths Füßen war anzuschauen wie ein in die Dunkelheit gedeckter fliegender Rauch. Das Meer wälzte beiderseits darüber. Und einmal wieder, als ob die Nacht entzwei risse, barst das Gewölbe des Großsegels, flatterte erregt wie zwei große Riesenvögel beiderseits vom Mast hoch und fuhr in knallenden Flügen hin und her und peitschte sich Fetzen für Fetzen vom Leib, die brüllend und rasend vom tobenden Schlund der Finsternis eingesaugt wurden.

„Was ist denn?“ fragte Pirath mit zagender Stimme den Kapitän. Aber der hörte nicht. Damm stand schweigend und dick in der Dunkelheit und bewegte sich nicht. Er stand neben Pirath wie ein unheimlicher alter Baumstrunk. Die zerreißenden Rufe der Segel krachten ununterbrochen hintereinander über den brüllenden Sturm hinaus. Langsam kam ein Grauen ins östliche Gewölk, und die weißen durcheinander schlagenden Fetzen leuchteten auf im Osten des beginnenden Tages. Der Orkan wuchs in kreiselnder Wut.

Das ganze Schiff warf von Wasser, die Masten bebten, Pirath bebte, und das Wasser lief an ihm wie ein Brunnen herab. Er sah an dick umwickelten Rahen einige Menschen. Lebten sie noch? Sie klebten dort droben unbeweglich wie tote ausgedörrte Fliegen im Winter an einer weißen Stange. Auf der Bramsaling und der Mars über ihm hockten zwei Häuflein Menschen aufeinander wie auf zwei Balkonen des Todes. Sie fuhren mit den Masten wild und wüst durch das immer heller werdende Grauen.

Da brach über ihnen die Stenge. Sie brach ein, als ob das Gewölbe des Morgenhimmels zerkrachte. Der schwere Eichenbaum sauste droben lange hin und her, vom Gut noch gehalten, schlug auf die Pardunen wie auf einen federnden Amboß. Das Häuflein Menschen auf dem Todesbalkon der Bramsaling zerstob. Wohin? Als flöge es durch die Luft von einer Fliegenklappe gescheucht ... Ins Meer? Auf Deck? Wohin? Wer sah’s genau? Das Meer war eins auf dem Deck drunten. Nur manchmal schaute die hohe Luke hinter dem Großmast hervor, und auf die fiel auf einmal mit der Spitze gerade hinein, wie ein Pfeil des strafenden Gottes, die abgebrochene Stenge.

Sie durchschlug die Luke, verschwand, die Seen stürzten ihr nach wie eine rasende Meute, preßten das Loch auf, zersprengten die Luke und waren auf einmal ein unendlicher Haufen von riesenhaften, widerstandslosen Maulwürfen, die sich in den Leib des Schiffes hineinwühlten. Der Großmast legte sich nach vorn, sank rasch; die „Hinnerjette“ durchdrang ein erschütternder Schlag, sie bebte wie eine Maschinenhalle ... Der Vorderbug war zerspalten, war eine Grube, in die die zerfleischenden Gebirge des Meeres rasten wie zerspellende Eisenbahnzüge.

Da fuhr die Stimme des Kapitäns auf, wie ein Trompetenstoß: „Luken eingeschlagen. Rettungsboote klar ...“

Aber wer war da, der einen Befehl ausführen konnte ...? Peter sank am Kompaß nieder. Ein Gefühl kam aus der Gefahr über ihn, als ob ein heißer Strudel rasch durch seine Adern flösse und aus dem Unterleib heraus in rasendem Drehen versprühte, als ob er dabei selber allmählich verdunstete. Er stammelte hilflos dagegen an: „Oh! ’s ist ja nicht wahr! Wir gehen nicht unter! ...“ Und als er Willen und Mut zusammenraffte, schrie er: „Wenn ich denn doch nicht untergehen will. Wer arbeitet sonst? Wer macht denn die Gründung zu Ende?“ Er parlamentierte auf einen energischen Ton mit dem Sturm und dem Wrack, das ihn noch zwischen Dasein und Jenseits trennte. Aber er wußte: Mein Wille ist nichts. Wenn ich meinen Willen aus mir nehme, so verschwindet er wie eine Seifenblase. Es gibt kein Leben mehr. Die Stunde ist da ...

Und während er zunächst darüber so erschrak, daß es war, als raste ein rotglühender Dolch ihm ins Becken, kam dann bald die gefaßte Todesbereitschaft über ihn, der er oft in Gedanken obgelegen hatte. In dem dunkeln Chaos seines Gemüts ordneten sich, wie um Abschied zu nehmen von dem neuen Leben, rasch die Erlebnisse, die es hatten mitbilden helfen, und über allem stieg ein Wörtchen auf, aus diesem urhaften Brunnen und taumelte wie selig über seine Lippen. Er murmelte es. Es hieß: „Ewe!“ und der Sturm prallte ihm das reiche zarte Wörtchen von den Lippen. Aber das Wörtchen stieg unversiegbar immer wieder von neuem auf seine Lippen. Das Wörtchen war wiederum, so wie der Dolch, ein Sporn, ein ergebenes Mitziehen, und es hielt in seiner großen Brust die kämpfenden Wagschalen von Lebensbegehren und Sterbensbereitschaft straff am wagrechten Balken.

Er wollte nicht liegend erwarten, daß sich die Ewigkeit vollzog. Doch als er sich erhob, prallte ihn ein Körper an, der am Fockstag über ihm herabgeglitten kam. Der Körper stieß ihn zurück, fiel selber vor ihm nieder. Peter erkannte Kluge. Kluge raffte sich vor Peter auf die Knie zusammen. Vom Deck geschaukelt, immer wieder umfallend und sich aufrichtend, erhob er flehend die verschränkten Hände gegen Pirath, weinte und stöhnte und machte mit den Händen wie ein scharrendes Pferd. Er scharrte mit den Händen um Vergebung, daß er verleumdet hatte, brachte keinen Ton aus der Kehle, außer seinem stöhnenden Ächzen, und kroch wie eine Krabbe auf allen vieren zum Kartenhaus.

Er sank die Stiege hinab, ins Wasser, das drunten von Wand zu Wand platschte, drückte sich durch in den Salon und schlug mit einem Stuhl die Schranktür ein, hinter der Damm seine Flaschen verschlossen hatte. Er nahm, ohne zu schauen, die erste und soff sie auf einen Zug hinunter. Es war Brennspiritus. Er sank leblos um und klatschte in das fußhohe Wasser, mit dem ihn der Tanz des Schiffes widerstandslos von Wand zu Wand rollte.

Das Schiff neigte sich leeseits. Es vermochte sich nicht mehr hochzurichten und hing mit besänftigtem Schaukeln schräg in den zerfließenden Gebirgen der Wogen. Da beugte sich Damm zu Peter hinab. Der Sturm griff ihm unter den Ölmantel und wehte ihn hinten hoch wie einen schwarzen Sterz. Der Wind zockelte an den armseligen grauen Haarsträhnen des nackten Kopfes. Aus dem großen dicken Gesicht hing die Bergamottenase wehmütig hernieder, manchmal berührte sie Piraths Ohr. Eine dicke Stimme sagte:

„Wie häwt lävt, häwt sapen und hurt. Davor mott’n ju woll als Held star’m. Wenn ’t Ihnen drum ist, dat man vielleicht erfährt, wo Sie adje seggt häwt, so schrieven’s up ’n Zeddel: Flaschenpost. Ick will meinen Orthograf nicht kompromittieren. Mine Ohlsche is dat ja wohl ooch piepe, to wäten, up wecker Länge und Breite ick mir zum lieben Jott bejeben heb.“

Auf einmal hatte er eine Flasche in der Hand. Da war ein Etikett darauf, wo ein Indianer auf Fässern saß. Er steckte sie tief in den Mund und goß sich den Rum, ohne abzusetzen, in den Hals. Er zuckte und strauchelte. Aber er wehrte sich und bekam die Beine wieder gerade und stand dann steif ans Geländer geschraubt, die Brust herausgereckt, den Kopf geradeaus in die Luft. Sein Gesicht blieb gespenstig beim selben Ausdruck. Der Sturm riß den Strick, mit dem er den Mantel zugebunden hatte, los, und das knarrende Ölzeug fuhr steif um ihn in der Luft herum wie Fledermäuse, die ihn angreifen wollten.

Er trompetete noch einmal in den Lärm hinein: „Rettungsboote kla...“ Aber dann auf einmal saß er neben Pirath und lachte ihn harmlos an.

„Wat!“ rief er glückselig. „Det Mächen kann’s! Och diese olle seute Hahnbock. Dat ick dat noch an ihr erlev.“

Peter sah, wie das Meer drunten das Deck schlucken wollte, ein rasendes Nilpferd. Manchmal stieß ein Beben durch den eisernen Leib und zitterte die Masten hinauf, die alle gekappt waren. Das Schiff sehnte sich nach dem Grab.

„Jetzt geht es unter!“ schrie etwas in Peter. Er zerrte sich auf, und alles war mit einemmal hart und klar in ihm. Das Rettungsboot konnte er mit der Hand erreichen. Wütend rief er: „Rasch, Kapitän! Ins Boot!“

Aber der sagte bös: „Leck mi im Moars! wech! Ick fahr’ mit der Hahnbock in den Himmel! Zwischen ihren Beinen ... As hi geiht!“ schrie er dem Steuerer zu, den das Meer längst vom Rad davongerissen hatte! „As hi geith! Dunner! Dunner! Wie sie die Flügel hebt ...“

Der letzte Fetzen des Beguins flog mit dem Sturm im Schreien dahin.

„... Un wie sie flattern dut. Dat is fein! Dat harr ick nich dacht von di, Hahnbock. Und ick häv jümmer ne gute Meenung von di hatt. Aber ... wie ’n Albatros. Dar häv ji ’n Schluck Rum. ’n deftigen ... Du gute, seute ...“ Er weinte und hielt dem Schiff die leere Flasche hin. Aber Peter schlug ihm mit dem Fuß die Flasche aus der Hand. Er bückte sich nieder, faßte den Bären wild unter den Achseln, um ihn ins Boot zu zerren. Die Wogen schlugen herauf und jagten über ihre Köpfe hinweg. Aber der Verrückte zuckte hoch und zischte: „Lat mich, du Oos!“ und griff wütend nach Pirath. Er bekam ihn an den Beinen, stemmte den Riesen torkelnd hoch. Wie ein Erdbeben flog es donnernd und zitternd in der Luft. Es war Pirath, als breche er ab aus den Händen des Wütenden, als breche er ab aus der Luft des irdischen Lebens. Gewaltvoll und mild hob sich das Meer hoch um ihn, er fiel und versank und sank, sank durch Graues und Rosenrotes.

Dritter Teil
Die Insel


Kililiki

Es liegt eine Insel unbekannt im Stillen Ozean. Sie heißt Kililiki. Sie ist nicht in die Karten eingezeichnet, und sie liegt außer dem Weg der wenigen Schiffe, die von Australien nach Südamerika fahren. Weitherum ist sie einsam vom Meer umgeben. Kililiki trägt nach der Nordseite, wie einen gefurchten Kern, ein ausgedehntes niedriges Waldgebirge, in das viele enge Täler eingegraben sind. Von den Bergen hinab fällt nach Süden das Land in sanften Hängen, naß und fruchtbar bis ans Meer. Sieben Dörfer, gefüllt mit Hütten und Häusern auf Pfählen, liegen dort am Strand, und die Menschen vom großen Wasser bewohnen diese Dörfer. Die Haut dieser Menschen ist so braun wie poliertes Palmenholz an einem Bogen und glänzt, und auf ihren hohen Köpfen baut sich der Haarwuchs auf, der kraus und fein ist und gepflegt wie ein Moos. Ein jedes der sieben Dörfer hat einen Häuptling, und der Häuptling im Dorf, der Ulawun heißt, das will Vater sagen, ist der große König.

Nur im Norden gehen die Berge schroff ins Meer, und bloß ein schmaler Eingang führt zwischen dickem Gebüsch in einen großen Kessel aus Felsen. In diesem Kessel, der Kombiu heißt, das bedeutet Mutter, wohnen die Bildhauer, ein kleines Volk, das nach urheiligem Erbe aus den hohen Granitwänden riesenhafte Götterbilder schlägt; für ein jedes Götterbild braucht es an Zeit viele Menschenleben, und wenn eins fertig ist, so wird der Älteste daran erschlagen, sein Blut spritzt an den Stein, und seine Seele geht in das Götterbild nach Hause und wohnt nun drinnen für die Ewigkeit. Die Bildhauer sind rothäutig wie Passionsfrüchte. Sie gehören nicht zu den Menschen am großen Wasser.

Die Menschen des großen Wassers erzählen, daß im Steinbruch Mutter eine Sage entstand, die so lautet:

Vor vielen Zeitabständen kam ein Kanu an den Strand. Das war so groß wie die ganze Insel Kililiki und hatte einen Bauch wie eine dunkle Wolke, und Bäume wuchsen darauf. Es entstiegen ihm ein Dorf Menschen. Die kamen an den Strand und waren nicht dunkelhäutig, sondern hatten ihre Haut mit weißem Wolkenglanz am Rand des großen Wassers ausgemalt. Das waren böse Geister. Und weil sie nicht Bogen noch Speer hatten, sagte der große König in Vater:

„Rasch über sie her! Sie haben keine Waffen. Machen wir sie gleich fertig!“ Und alle sieben Dörfer warfen ihre Speere über sie. Aber die weißen Geister zogen ihre Schwänze vom Rücken, hielten sie vor, und Donner entströmte ihnen. Da fiel der große König tot hin. Da fielen zahlreiche aus den Dörfern tot hin. Und die bösen Geister gingen wieder. Da sagten sie: „Wir kommen zurück, und unser Donner erschlägt dann die andern.“ Da waren sie weg. Sie ließen ein weißes Schwein da, und niemand wagte es anzurühren. Da warf es tags darauf sieben Junge, und in jedes Dorf lief eins der jungen Schweine von selbst. Da waren die Schweine auf der Insel wie heilige Tiere. Der Priester aus dem zweiten Dorf aber sagte: „Wenn die weißen Teufel zurückkommen, so paßt auf. Wenn ihr sie zuerst erschlagt, dann können sie ihre Schwänze nicht vom Rücken nehmen, und der Donner bleibt in ihnen. Denn der Gott des großen Wassers hat sie verdammt zu ihrer Farbe und hat sie kenntlich gemacht, indem er weißen Kalk der Muscheln und weißen Glanz der Wolken auf sie gemalt hat. Der Gott des großen Wassers ist uns freundlich.“

... Diese Sage erzählten sich die sieben Dörfer, erzählten sich die Hütten der Frauen und die Häuser der Männer und die Junggesellenhäuser, und sie sangen auch Lieder darüber, und sie tanzten sie auch. Und wie die Seele erwartet, den Körper zu verlassen und vom Tier des Totems in eins der Steinbilder getragen zu werden, so warteten die Menschen am großen Wasser darauf, daß eines Morgens das große Schiff am Ufer stünde und die weißen Geister herauskämen. Sie fürchteten sich.

Nach einem Tag, an dem der Sturm das große Wasser bis an die Beine seiner Häuser geschlagen hatte, saß der König im Dorf Ulawun auf der Leiter, die in sein hohes Haus führte, und die Sonne stand ganz steil, schwer und glänzend überm Strand. Der alte König schlief droben ein klein wenig ein. Die Männer waren in die Pflanzungen gegangen, die sie am Fuß der Berge angelegt hatten, und wollten Taro und Bananen zum Essen holen. Da kam vom Wald her ein weißer Kakadu, setzte sich auf den Rand des Daches über den alten König und ließ ihm etwas auf die nackten Knie fallen. Der König erwachte, sah zum Vogel hinauf und erschrak erst. Der Kakadu flog davon. Da wußte der König, daß es kein böser Geist war, sondern nur ein Vogel Kakadu. Er wischte den kleinen weißen Kot weg und war ganz wach. Er sah wie eine glitzernde Muschel den Vogel Kakadu in der Sonne flattern und dem Wald zustreben.

Aber wie er zum Meer hinschaute, da gewahrte er eine sonderbare Sache. Es war auch wie eine Muschel, aber es war viel größer und schwamm. Eine große Furcht packte ihn. Er nahm Bogen und Pfeile und stieg die Treppe herab, zu der großen Garamuttrommel, die aus einem Baumstamm gemacht worden war, und er stieß laute, flehende Töne hinein, die bis zu den Pflanzungen flogen. Die Signale lauteten: Große Muschel schwimmt — großes Wasser — Gott großen Wassers schickt sie — Kommt zu Vater — Eure Beine laufen wie Kasuare. Und er telegraphierte der Reihe nach an alle sieben Dörfer und hörte aus den Dörfern die Antwort. Seine Weiber liefen aus den Hütten, die Weiber des ganzen Dorfes standen bald zusammen, die Kinder krochen zwischen ihnen. Sie schauten alle aufs Meer. Eine brennende Angst erfaßte ihre Herzen. Der alte Priester kam. Aber seine Augen sahen nicht mehr so weit. Er stotterte. Da kamen auch schon Männer aus den Nachbardörfern und aus den Pflanzungen. Alle hatten Bogen und Speere in der Hand. Sie schrien. Sie waren furchtsam und aufgestachelt zugleich, und wilde Gefühle klommen in ihren Adern, wie Blasen im Wasser. Sie rannten durcheinander und brüllten ununterbrochen.

Da schrie der alte König: „Mein Bauch weiß es jetzt. Ein weißer Kakadu kam auf mein Dach und warf weißen Kot auf mein Knie. In der Muschel kommen die weißen Teufel.“

Ein wirres Aufheulen schlug aus dem Haufen. Die Weiber riefen dazwischen. Die Kinder weinten und versteckten sich. Ein Mann brüllte: „Wir machen die Bildhauer in Mutter tot. Die haben uns die Geschichte vom weißen Dorf gegeben. Die werfen die bösen Geister über uns.“ Sie wollten zu ihren Kanus stürzen und zum Steinbruch fahren. Aber der König hielt sie an: „Wir fragen den Priester.“

Der alte Priester vom Dorf Vater wurde vorgeführt. Die Männer umstellten ihn heftig und riefen: „Sprich wahr und klug! Was tun wir?“

Der Alte stand in der Sonne und hob seine triefenden halberblindeten Augen in die aufgeregte Masse. Er murmelte unverständliche Worte und machte Bewegungen dazu. Er rieb aus seinem Bastkorb, den er unter der Achsel trug, Kalk auf sein Gesicht, auf seine Brust, auf seine Beine und machte immer schnellere Bewegungen, warf die Worte immer schwebender von sich, steigerte von Augenblick zu Augenblick sein Tun, geriet in einen rasenden Tanz und schlug schließlich wie Keulenschläge sich ein paar wilde klare Worte aus dem zahnlosen Mund. Rundum wirbelnd und sich beugend und gleich wieder aufschnellend, seitwärts hockend und gleich flach aufspringend, keuchte er rascher und roh: „Die Bogen, die Speere, und bevor Schwänze donnern, Geister erschlagen. So spricht der Priester. So spricht der Mund des großen Geistes ...“ Dann fiel er zur Erde und lag dort wie ein zuckender, pfeifend atmender Klumpen.

Da berieten die Männer. Die Muschel kam näher, und einer sagte: „Es ist ein großes Kanu.“ Und die Gewißheit überkam sie, daß der weiße Geist über das große Wasser nahe, und daß der weiße Geist den Sturm der letzten Tage mit dem Gott des großen Wassers gekämpft habe. Der Gott des großen Wassers war den sieben Dörfern freundlich gewesen. Sie sahen den Untergang. Weiber riefen: „Die weißen Teufel nagen morgen eure Knochen ab.“ Und die Krieger erfüllte elendes Verzagen und heiß aufwallender Blutdurst. Sie schlugen die Speere aneinander und rieben sich Kalk in die Gesichter. Sie hüpften von Bein zu Bein, und aus ihren Mündern quoll der wilde wüste Gesang des Krieges und des Menschenblutes, und damit stopften sie dem Geist des Verzagens in ihnen das Maul. Jeder dachte an den Vater Kasuar, an den Vater Strandschnepfe, an den Vater Schlange und an all die Väter ihrer Totems. Ihre Nerven lärmten wie nachts die Grillen. Ihr Blut rauschte wie der Sturm, der vom großen Wasser die Wälder hinan braust. Erde und sie waren eins, Leben und Tod waren dasselbe.

Aus dem Grauen und Rosenroten erwachte Peter Pirath auf einmal. Sein Kopf lag in etwas Warmem, das auf und abflog, und er fand sich allein daliegen, den Kopf auf einem eisernen Faß, die Beine über eine Bank angepreßt. Das Boot schwankte und warf Wasser über ihn. Er zog die Beine von der Bank. Sie waren steif und blutleer, und er stieß mit ihnen vor sich hin und rieb sie, bis er sie gebrauchen konnte. Dann wollte er sich erheben. Er sah, daß er in Blut lag, und als er seinen Kopf abfühlte, kamen seine Finger an eine verklebte Stelle in den Haaren. Das Blut auf dem Faß war dick und fast trocken. „Wie lange lieg’ ich hier?“ fragte er sich. „Was ist das, wo ich bin?“

Er reckte sich auf, hob den Kopf über den Rand des Bootes und sah rundum in furchtbarer Maßlosigkeit das einsame Meer. Da lachte er, ein wenig irr, und rief: „Ich bin gerettet!“ Vom Segelschiff war nichts zu sehen. In langen Zügen hoben sich die Wellen dahin, beruhigt. Ein fester, regelmäßiger Wind trieb übers Meer. Es war warm. Peter stand auf und fiel auf die Bank zurück. Das Boot kippte über die Wellen. Als Peter ein wenig dasaß, erinnerte er sich, daß ihm der Kapitän einmal das Rettungsboot gezeigt hatte. Da sah Peter schon das Faß mit Wasser unter der Bank. Da wußte er, daß in jenem angeschmiedeten Eisenfaß Zwieback war, und er machte sich darüber her. Er schlug seine Zähne über den Zwieback wie ein Nilpferdgebiß. Der Zwieback war hart wie Holz. Und er trank. Er wollte unbedacht trinken, zahllose Male das Gefäß voll, aber plötzlich hielt er ein, goß den Rest Wasser behutsam zurück, legte das Stück Zwieback, das er anbeißen wollte, ins Eisenfaß zurück. Er schöpfte Meerwasser und wusch den verwundeten Kopf und das Blut vom Faßdeckel. Die Wunde war schon halb verharscht, und er dachte an den Kapitän und an den Untergang der „Hinnerjette Hahnbock“ zurück. Aber das waren Ereignisse, die ... Lagen sie vielleicht im Mond? Oder wenigstens vor hundert Zeitaltern? Wohl waren sie am Ende nur seinem Ahn, dem Jens Peter aus Emden, widerfahren? ... Und auf einmal brach der Vulkan auf in Peter Pirath. Er wollte leben! Leben! Er wollte nicht in dieser Wüste von Wasser und Weltferne verschwinden, wie eine Eintagsfliege aus dem Meer des Abendlichts in die Wiese fällt, und niemand und nichts sieht je mehr etwas von ihr. Er erinnerte sich, daß ihm gesagt worden war: Das Boot ist eingerichtet wie eine Villa. Nur wird die See es eben umkippen, bevor man die Einrichtung benutzen kann. Er war nun durch einen besondern Zufall nicht damit umgeworfen. Er schwamm drin auf einem fast ruhigen Meer. Er sagte sich heftig: „Der Zufall ist nie etwas Armseliges. Der Zufall ist die Hilfe gegen die Unmöglichkeit. Ich werde gerettet werden aus dieser Verlassenheit.“ Er fand den Kompaß und sah, daß das Boot nach Norden trieb, und daß der Wind fast vom Süden kam. Da sagte er sich, es sei möglich, daß er schon aus dem Gürtel der Westwinde heraus und im Gebiet der veränderlichen Winde sei, in das im Norden die Inselgruppen hereinlangten. Der zertrümmerte Chronometer und ewig bewölkte Himmel hatten die „Hinnerjette“ tagelang ohne sicheres Besteck und ohne Orientierung gelassen. Er erinnerte sich nur, daß die letzte genaue Bestimmung 35° südlicher Breite, 118° westlicher Länge gewesen war. Das Schiff mochte in den nächsten Tagen besonders durch den Sturm, der in südlicher Richtung blies, weiter nach Norden geführt worden sein. Aber er hatte keine Karte. Er wußte nicht, wo die Inseln begannen. Er konnte nur eine Himmelsrichtung ansegeln.

Pirath stellte den Mast auf und zog das Segel hoch, und der stete Südwind blies das Schiff mit den langen wogenden Wassertälern dahin. Es lag auch ein altes schlechtes Fernglas im Boot, das er häufig benutzte. Er nahm den Proviant heraus und maß an der einen Mahlzeit, auf wie lange er dauern mochte. Für Monate war Zwieback in dem Faß. Wasser hatte er für dieselbe Zeit. Er fand auch noch einen Revolver starken Kalibers und ein Kistchen voll Kugeln. Er selber hatte noch den Browning in der Tasche. Aber das und ein Schnupftuch war alles, was er gerettet hatte.

Als er müde war, ließ er das Segel herunter, pumpte das Wasser aus dem Boot und faltete dann das Segel zu einer Matratze zusammen. Er schlief sofort darauf ein.

Drei Tage lang fuhr er so. Da fand er mit dem Glas, mit dem er vor dem Niederlegen die Kimm absuchte, eine Insel. Er sah sie in dem runden Feld wie etwas selbstverständlich Erwartetes. Der Wind war langsam, aber stet. Er wollte in die Nacht hinein der Insel entgegensegeln. Die trennende Entfernung konnte er nicht abschätzen. Dann fiel der Wind. Pirath wartete noch eine Stunde, bis er das Segel niedernahm und sich zum Schlafen darauf legte. Er schlief nicht, und der sternenhelle Himmel war weit und aufregend über ihn gespannt wie ein Geist. Oft erhob Peter sich und schaute rundum. Aber er sah nichts mehr von der Insel in der Dunkelheit. Als es klar zu werden anfing, zog er das Segel wieder hoch. Der Wind war sehr schwach. Auf einmal, noch bevor er zum Glas gegriffen hatte, sah er die Insel. Sie war so nahe, als ob er in einer halben Stunde sie erreichen könnte. Er saß am Steuer, und sein Willen lag in ihm wie ein Enterhaken, stark und ruhig nach der rettenden Insel hinlauernd. Er ließ sie kaum aus den Augen. Sie kam immer näher. Die Sonne stieg hoch und preßte ihre Strahlen über ihn und das Boot und vergoldete die Insel. Und langsam, langsam verringerte sich die Entfernung. Bis auf einmal von hinten her über das ruhige Meer ein Wind kräuselnd ankam, das Segel rund blies und ihn im Nu dem Eiland zuwarf.

Er hatte ein Stück Zwieback im Mund und hatte nicht Zeit, es ganz zu zerbeißen. Die Sonne funkelte auf dem Wasser und brannte durch seine Kleider. Er sah am Ufer zwischen Bäumen und Bambus Hütten und gewahrte schließlich auch eine Schar Menschen, an einem Platz zusammengedrängt. Die nackten schwarzen Gestalten tanzten und sprangen im schweren Schatten, und fast im Augenblick, wo das Boot neben einem großen Baum auf den Strand setzte, hörte er ihr wildes Gebrüll heranstürzen; ihre Speere und Pfeile wirbelten in der Luft, der Anprall des Auflaufens warf ihn unversehens auf den Boden des Schiffes. Die Speere und Pfeile sausten über ihn und prasselten in der Luft zusammen; einige spießten sich ins Segel. Einige fielen auf ihn nieder, im Flug gebrochen.

Und da fühlte Peter sein Blut wie einen Springquell gewaltig in seinen Adern hochstürzen. Er schrie: „Leben! Leben!“ Er spuckte das Stück Zwieback aus dem Mund. Und ohne Überlegung, nur von der wilden Raserei seines blutigen Willens gestoßen, nahm er in jede Hand einen der Revolver, sprang achtlos aus dem Boot und lief, von dem dicken Baumstamm gedeckt, schießend auf die tanzende und brüllende schwarze Horde los. Er sah, daß der Vorderste stürzte. Ein nackter Schwarzer griff nach ihm, faßte die Luft an und brach nach vorn jäh zu Boden. Peter schoß ... schoß ... Ein dritter fiel nieder. Peter drang hinter dem Baume hervor und begann in den Haufen hineinzustürmen, ein Amokläufer ... Seine Hände mit den Waffen staken festgerannt in einem heißen Haufen schwarzer Leiber. Er drückte ununterbrochen ab und brüllte mit bebender Stimme unbewußt deutsche Schimpfwörter: „Hundemörder! Menschenfresser! Drecksäser!“ Einer sank nach dem andern zu Boden und drückte das Gesicht in den Sand und hob die Hände flehend hoch: „Tabu! Tabu!“ schrien sie.

Er stand groß, weißhäutig und blond, rasend bewegt, wie eine Pappel im Sturm, zwischen den nackten, am Boden zuckenden schwarzen Leibern. Und da stieg aus dem schwarzen kriechenden Unglück im gelben Sand ein schwerer, dunkler und leidenschaftlicher Sterbegesang auf. Der war mächtig wie der Sturz eines Wasserfalls und traurig wie ein Vogelschrei in der Nacht. Die Weiber stürzten aus den dunkeln Bäumen und Hütten und fielen übereinander in den Sand und sangen, und die Kinder warfen sich weinend zwischen sie, und ihre hellen Stimmen überstiegen gell und verzweifelt die schwarze gewaltige Sterbensmelodie der Väter und Mütter.

Da kam Peter von seinem Blutrausch zu sich. Er trat aus dem singenden Gewürm heraus und ging mit bebenden Gliedern und mißtrauisch gespannten Sinnen rückwärts zum Boot zurück. Er untersuchte seine Revolver. Beide waren leer geschossen und hatten heiße Läufe. Die Waffe, die er im Boot gefunden hatte, lud er gleich wieder aus der Patronenkiste. Er setzte sich, das Gesicht dem Land zugekehrt.

Gottwerdung — Menschwerdung

Am Land unterbrach plötzlich ein Ruf den schweren Sterbegesang. Eine Stimme schrie: „Der weiße Gott verschont uns! Der weiße Gott ist freundlich!“ Und da brüllten alle und sprangen auf: „Der Priester muß hin! Er hat gelogen! Der weiße Gott ist freundlich!“

Der weiße Gott hat nicht alle getötet. Er hat eine Anzahl getötet, weil die sieben Dörfer seine freundliche Ankunft mit Speer und Pfeil empfingen. Peter war im Augenblick ein heiliges Tabu, gegen das alle gesündigt hatten. Der alte blinde Priester wurde, als man auszog, ihn zu töten, an einem Balken unter seinem Haus gefunden. Er hatte sich in einer Rotangschlinge erhängt. Die sieben Dörfer wälzten sich in ungeheuren, vermischten heiligen Gefühlen. Sie wagten nicht zum Boot hinüberzublicken, in dem der weiße Gott saß, der sie mit Worten getötet hatte, wie der Donner des Himmels die Menschen tötet. Sie sahen nur, wie weit übers Meer ein Regenbogen stand. Den Regenbogen schlug der große Geist der Erde als Brücke zwischen dem Reich der Seelen und dem der Körper, und der weiße Gott wird auf ihm davongehen und Kililiki verlassen. Und sie huben an zu jammern und zu wehklagen. Sie riefen sich zu, er habe keinen Schwanz und er sei nicht der weiße böse Geist. Der Gott des Meeres habe ihn geschickt, wie er vor Zeitabständen die Mutter Kililiki schickte, um die Dörfer zu gründen. Aber auf dem Grund ihres Wesens waren sie sich nicht klar bewußt darüber, ob er nicht doch der böse weiße Gott aus der Geschichte des Steinbruchs Mutter und gekommen war, ihren Leibern die Seelen hinwegzunehmen. Aber dadurch, daß sie das glaubten, fühlten sie sich bedroht, und sie schrien, er sei ein guter Geist und mächtig, und sie nannten ihn: Donnermund. Sie sprachen und entsetzten sich, hofften und bangten und flehten. „Donnermund hat den Priester in einer Rotangschlinge erhängt, ohne ihn anzurühren. Wehe! Wehe uns! Wir haben das heiligste Tabu verletzt.“ Drei Männer zogen sich furchtsam und sterbenssüchtig in ihre Pfahlhütte zurück und starben noch in derselben Nacht aus Angst vor der Rache des Tabus, an dem sie sich vergangen hatten. Alle Schweine der sieben Dörfer wurden noch vor dem Abend getötet.

Die Menschen glaubten, die Schweine seien auf rätselhafte Art durch jene weißen Geister gekommen und, daß ihr Blut nun zum großen Geist zurückkehrte, versöhnte Donnermund. Die Bewohner des Dorfes Vater, vor dem Donnermund gelandet, zogen alle aus. Das Grauen stand am Strand aufgerichtet wie eine dunkle Höhle. Ein Loch war dort, in dem sich die Luft verzitternd in die Geheimnisse der Nacht verwebte, die über dem Kopf eines jeden Menschen einherlief und voll Ungewißheit und Tabu war.

Donnermund saß, während dies geschah, auf dem Steuersitz, das Gesicht gegen Land gekehrt, die Revolver in der Hand. Die Sonne knallte auf seinen Kopf und seinen Rücken. Er riß mit raschem Griff das Segel ab und zog es hinterwärts über seinen Kopf. Er war gespannt wie seine Revolver, denn er wartete auf einen neuen Angriff. Eine aufwühlende Erregung wirbelte durch sein Blut, die Nerven schienen aus seiner Haut herauszusprühen, und das Geschehene stand riesenhaft und blutig in ihm, wie eine Schöpfertat. „Was mochten sie weiter tun?“ fragte er sich, und diese Frage, deren Antwort für ihn Sein oder Nichtsein bedeutete, machte so ungefähr alles aus, was stundenlang seinen Kopf durchfuhr. Er sah, wie die Menschen sich mit einemmal erhoben, tief vom Strand zurückwichen und nicht herüberschauten. In der Dämmerung sah er auch, wie das Dorf auszog, und er knirschte ihnen nach, im Zorn darüber, daß sie um sein Leben gespielt hatten: „Ihr Bluthunde!“ Es kam ihm allmählich sonderbar vor, wie alles zugegangen war und zu seinem Besten geendigt hatte. Langsam, während er beobachtete, was die Feinde taten, wuchsen Sicherheit und Trotz, und er begann zu ahnen, was für einen unerwarteten, ja wunderbaren Sieg er gefeiert hatte. Aber es war alles noch dumpf und roh in ihm von dem großen gewaltsamen Ereignis, daß er sich das Leben gerettet und Menschen getötet hatte. Er begann einen furchtbaren Hunger zu verspüren, und er aß und trank lange.

Im zweiten Dorf versammelten sich nun alle Menschen des großen Wassers, lebendige und tote. Die Flüchtlinge stellten sich aus den Wäldern ein. Die Priester begannen die Reinigungszeremonien, um Menschen und Landschaft vom zorndrohenden Tabu zu befreien. Rund um das Dorf wurde Feuer aus Kokosschalen und Palmenfasern unterhalten, um die bösen Geister fernzuhalten. Die Priester begannen bei den Leichen, die vor dem Pfahlhaus des Häuptlings Möwenschnabel nebeneinander lagen. Der König lag allein. Aus einem kleinen Loch in seinem faltigen großen Bauch sickerte Blut, und niemand wagte es, das Loch anzuschauen. Denn aus ihm hatte Donnermund die Seele herausgerissen. Ein jeder der Toten hatte solch eine kleine Höhle, der Königssohn hatte die seinige in der Stirn, der Häuptling des sechsten Dorfes in der Flanke, ein Mann des zweiten Dorfes im Unterleib ... Zehn Tote lagen da. Und sie waren verdammt, denn Donnermund hatte ihre Seelen alle zu den kleinen Löchern herausgerufen, und sie konnten nun nicht mehr in ein Tier schlüpfen und von ihm ins All verpflanzt werden.

Aber wegen der Lebenden mußten die Leichen vom Tabu befreit werden. Der Priester zerschlug über dem König eine Kokosnuß und bespritzte die Leiche mit dem Saft, der aus dem Innern quoll. Er sprach, rund um sie gehend, dunkle Laute dazu, die sich heftig erregt steigerten und in einen schwerfällig heißen Gesang endigten, während die Schritte in stürmischen plumpen Kadenzen rasch rund um die Toten auf den Boden klopften. Der Häuptling Möwenschnabel meinte plötzlich mitten aus seiner Erregung heraus mit gleichmütigem Sinn: „Der König braucht viel Befreiung. Seine Seele war lange Zeitabschnitte in seinem Körper.“ Dann fiel er wieder in das brütende, geängstigte Stöhnen und Brummen, mit dem die Menschen rundum die Reinigung mitmachten.

Die Priester eines jeden Dorfes bewarfen, nachdem sie die Toten erledigt hatten, ihre Angehörigen mit dem Saft der Kokosnuß, sprachen und sangen, und unmerklich riß diese Zeremonie ab, und die Menschen kamen in ruhigere Stimmung, hofften, und während die Priester noch Kokoswasser streuten, unterhielten sie sich, Männer und Frauen, schon heiteren Sinnes über allerlei. Sie dachten bei sich: Wenn unser Mund dem neuen Tabu fernbleibt, so merkt uns das neue Tabu vielleicht nicht mehr, so wie ein Taschenkrebs, wenn er kein Loch findet, sich unbeweglich wie ein Stein zusammenrollt und dem Auge entgeht.

Aber der Häuptling Möwenschnabel brachte die Rede wieder auf Donnermund. Möwenschnabel war der zweite Häuptling, und da alle Söhne des Königs tot waren und er auch, wie der König, den Vogel Kakadu zum Stammvater hatte, so war er an der Reihe, König zu werden. Und er wäre König, sobald die Prügelzeremonie getan worden wäre, mit der der König eingesetzt wurde. Er fand sich in dieser heiligen Stellung Donnermund näher als alle andern, ja verwandt mit ihm, denn sein Totem war auch das Totem Kililikis gewesen, die vor ungezählten Zeiten zusammen mit dem Ulawun die Insel gegründet hatte.

Und auch Kililiki war vom großen Wasser gekommen. So bei sich rechnend, wie er seine neue Macht gewinnen und vergrößern könnte, weilten seine Gefühle ununterbrochen bei Donnermund und den Ereignissen des Tages, und von Stunde zu Stunde fühlte er sich enger in diese Geschehnisse hineingeflochten. Er wühlte sich weiter, blind und unaufhaltsam, wie eine Quelle im Boden. Er war tabu, er, der zweite Häuptling, morgen der König. Er war der, den Donnermund, wenn er über den Regenbogen zurück zur Heimat gegangen war, zurückgelassen hatte. Aber war Donnermund zurückgegangen? Saß er nicht etwa noch in seinem großen weißen Kanu vor dem Königshaus am Strand? Bereit, die sieben Dörfer zu verschlingen? Doch ihn verschlang er nicht. Er war aus seinem Mutterstamm.

Da sprach Möwenschnabel in das angeregte Plaudern hinein, bei dem die Männer rundum am Boden hockten:

„Donnermund ist mein Ohm!“

Erst wollte ein Schrei aus jeder Brust. Aber dann sagte sich jedes Gemüt: Solch etwas Großes muß wahr sein! Und einige Priester, die durch ihre Erziehung und ihren Beruf zur Schlauheit gelangt waren, spürten etwas von dem, was Möwenschnabels Willen anstrebte. Sie wußten, daß ihre Macht auf denselben Grundbalken stand wie die des Königs, und der Häuptling und der Priester Kokosbast vom zweiten Dorf sagte gleich: „Möwenschnabel wird jetzt unser König. Seine Lippen lassen nur Wahrheit aus seiner Seele.“

Möwenschnabel rief: „Wir müssen Donnermund Essen bringen.“

Hämisch und neidisch entgegnete der Häuptling Muschelkalk: „Donnermund ging über den Regenbogen heimwärts.“ Er schwoll an vor Zorn, daß er nicht auf den Einfall gekommen war. Er kicherte lauernd, biß eine Betelnuß an und sprühte den ersten herben Saft gewaltsam zwischen seinen breiten Lippen vor sich in die Dunkelheit. Dann biß er die Nuß und die Pfefferschote wie ein Menschenfresser und stopfte sich zehn Holzlöffel voll Kalk ins Maul, bis kein Platz mehr drin war und kaute und spuckte.

Niemand antwortete ihm.

Möwenschnabel sagte: „Bringt Kokosnüsse, Bananen und Taro! Ich bring’ dem Ohm im großen weißen Kanu Essen.“

Der Priester Kokosbast rief: „Bereitet euch zum Königsfest! Wir prügeln, wenn die Sonne dreimal stieg, den Häuptling Möwenschnabel zum König. Berührt zweimal zwischen Sonne und Sonne kein Weib!“

Durch alle Männer stieg wie eine befriedigte Wut die Lösung des schweren Tages, und sie schafften Kokosnüsse, Taro und Bananen herbei.

Möwenschnabel belud sich damit und ging geradeaus zwischen den Feuern in die Nacht hinein. Aber als er den Lichtkreis verlassen hatte, zerschlug er eine Nuß und spritzte den Saft über sich, und achtete sorgsam darauf, daß nichts auf den Weg fiel und von bösen Geistern gefunden werden konnte. Er war nun gefeit. Doch je mehr er sich dem Dorf Vater näherte, um so dunkler und ungewisser bestrahlte ihn die Macht Donnermunds, und er bückte sich erst, und als er das Boot in den Sternen leuchten sah, legte er sich nieder und kroch mit seiner Last weiter. Er schlüpfte hinter das verlassene Königshaus, wand sich zwischen den Hauspfosten durch, um den Hag herum und erreichte zwischen Bambusbüschen den Bereich des großen Baumes. Er sah das Boot schief auf dem wasserlosen Strand liegen, und nichts rührte sich, und die Sterne „zwei Leute“ leuchteten schon hoch, fern von ihrem östlichen Beginn, über den großen Baum. Da legte er sein Essen in den Sand und schlich zurück.

Und wie er dem Dorf Vater schon so fern war, daß er sich aufrichten und ruhig davongehen konnte, da sagte er sich: „Donnermund ist mein Ohm!“

Peter wachte bis tief in die Nacht hinein. Die Ebbe entführte das Wasser unter dem Boot und das Schiff legte sich schief. Er hatte daran gedacht, das Boot von Land zu stoßen und in die Nacht hinauszusegeln. Vielleicht fand er einen Platz, wo keine Dörfer waren. So sah er sich unerwartet gezwungen zu bleiben. Er rückte kaum auf seinem Sitz. Wie ein Sklavenvogt war der mächtige Wunsch zu leben hinter all seinen Sinnen her. Er schaute und horchte in die buschige Finsternis des Ufers hinein, das der Sternenglanz ungewiß bestrich. Es war ihm, als wöbe das feilende Schrillen der Grillen ein eisernes Netz über den Boden, und plötzliche, unsichtbare Flügelschläge schreckten ihn auf. Seine Haut war wie elektrisiert von der Spannung aller Nerven und empfand jede Änderung des Luftdruckes wie ein Quecksilber, und wenn die Müdigkeit doch Meister wurde, so schlug er hart mit den Knöcheln der Faust auf die Holzkante und der Schmerz erfrischte ihn auf Minuten. Wenn er so von neuem ganz erwachte, dann überströmte plötzlich das verschlungene leidenschaftliche Lärmen der Nachtinsekten seine Ohren, dann überfiel die unkenntliche, lebendige Krausheit der Nachttiefen seine spähenden Blicke wie ein wilder feindlicher Angriff ... bis seine abspannenden Sinne, sein müd gemartertes Gehirn sich wieder nach und nach von der Außenwelt zurückzuziehen begannen, all das undeutlich Furchtbare, Unerkenntliche sachte sich mäßigte und zu einem milden Wogen sich dämmte und zu Nichts verschwand. Einmal wachte er nicht wieder auf. Im Schlafen sank er um und rutschte langsam von der Bank lang hin auf den Boden.

Er schlief, bis das Tageslicht hell auf seine Lider drückte und sprang auf, entsetzt, todesgewiß und sah nichts als ein leeres Dorf zwischen Bäumen und auf dem Strand zwei Kokosnüsse, ein Bündel Bananen und einige Taroknollen. Da überlegte er sich: Es war einer dagewesen, der das gebracht hatte. Peter hatte ihn nicht gesehen. Also war der Wilde gekommen, während er schlief. Der Wilde hätte ihn töten können. Weshalb legte er ihm Nahrungsmittel hin statt dessen? Fürchtete man ihn und getraute man sich nicht, ihn hinzurichten? Die Speisen waren vergiftet worden, weil man sich fürchtete, ihn selbst im Schlaf zu berühren. Er ließ sie liegen. Er knackte den Zwieback und trank laues Wasser dazu, und die mächtige Sonne stieg in seinem Rücken hoch und strahlte übers Meer und brannte geil über die fette Insel.

Da drang auf einmal am Ufer zwischen den Häusern eine große Schar Schwarzer hervor. Sie waren alle mit Blumen und Blättern, Muscheln und Farben geschmückt und trugen keine Waffen. Sie kamen wie im Tanz heran, und Peter griff erschrocken nach dem Revolver. „Es ist eine Falle!“ sagte er sich. Die Schwarzen blieben hinter dem Hause des Königs stehen und einer kam aus ihnen heraus. Das war ein großer Mensch, mit einer gewölbten Brust, und er hatte einen fast sanften Kopf, auf dem sich die Frisur glänzend schwarz hochtürmte und wie eine Rokokohecke beschnitten war. Der kam wiegend heran, langsam und lächelnd. „Das ist eine Falle!“ sagte Peter und war unschlüssig. Der Schwarze rief: „Ohm Donnermund, ich bin der Häuptling Möwenschnabel und werde, wenn die Sonne sich zum drittenmal aus dem Osten hebt, zum König geprügelt ...“

Peter verstand nichts von seinen Worten. Er hörte nur: sie waren freundlich und sanft, und er war mißtrauisch und hielt den Revolver bereit. Er war entschlossen zu schießen, sobald der Schwarze die eine Baumwurzel erreicht hätte, die etwa dreimal so weit, wie das Boot lang war, sich aus dem Sande aufkrümmte. Und er schrie in seiner Erregung und der trotzigen Entschlossenheit: „Du schwarzer Laushund! Zurück! Ich schieße! Zurück!“

Und kaum hatte er ein Wort laut gesagt, so war Möwenschnabel wie ein Fisch schnellend zurückgesprungen und lief der großen geschmückten Schar zu, und die ganze Schar hatte kaum die Worte gehört, so warf sie sich herum, floh und brüllte: „Er ruft unsere Seelen aus dem Leibe.“ Alle tasteten sich entsetzt ab, ob sie nicht das furchtbare kleine Löchlein irgendwo verspürten. Als aber Möwenschnabel die Fliehenden erreichte, da kicherten sie im Davonlaufen und meckerten und machten: „Krr! krr!“ höhnisch und schadenfroh, und der Häuptling Muschelkalk zog Mund und Nase zusammen, daß sein Gesicht aussah wie zwei nebeneinandergeklebte schwarze, wellige Muscheln und feixte: „Der Ohm ist schlecht in der Laune. Krr! krr!“ Aber Möwenschnabel sagte nur großhin: „Er hat mir zugerufen, daß er den sieben Dörfern noch zürnt.“

An dem Tag kamen sie nicht zurück. Peter hatte bei einer genauen Durchsuchung des Bootes eine kleine Eisenkiste gefunden, die mit Signalraketen gefüllt war. Es waren fünfzehn Raketen. Er sagte sich: „Ich brenn’ sie ab. Drei an jedem Abend, eine jede eine Stunde nach der andern ...“ Aber welches Auge ging durch diese maßlose Abseitigkeit des Meers, um sie zu sehen? Er wußte, daß es nur Feuerwerk wäre, Sterne, die steigen und ersticken und sonst nichts sind. Er sah an der Stätte, wo die Menschen vorhin gestanden waren, ein Räuchlein aufsteigen und verließ zum erstenmal das Boot, um sich das Feuer zu holen. Es war brennender Bast. Er sammelte Holz und Bast und schürte am Strand ein Feuer und hielt sich’s bis zum Abend. Gequält umging er den Haufen frischer Nahrungsmittel, der noch immer im Sand lag. Er ließ sie, so sehr sie ihn lockten. An den Häusern standen nur hohe Palmen, deren Früchte er nicht erreichte, und er mißtraute denen, die am Boden lagen. Er knackte Zwieback. Das Wasser war warm und riechend geworden. Er wußte, in den beiden Nüssen liegt eine köstliche Quelle. Der große Baum warf in den Stunden um Mittag einen fetten Schatten über sein Boot; der Schatten umstieg ihn wie ein laufeuchtes Bad. Er zog Jacke und Hemd aus und die Luft rötete rasch seine blonde Haut. Er begann auch im seichten Wasser zu baden, als die Flut kam, und hätte gern einen Fisch gefangen und verbrachte mit zahllosen, kleinen, immer in die Nähe des Boots gebundenen Verrichtungen den Tag; die Augen hatte er nie vom Revolver abgewandt, die Sinne waren ununterbrochen aufs Sterben gerichtet, und es war ihm, als überströme ein tiefer Fluß sein klares Bewußtsein und als läge er auf dem Grund des grünen, schwerfließenden Wassers, und droben über der gläsernen, zähen Halbdurchsichtigkeit stand das Leben.

Die Menschen aus den sieben Dörfern am großen Wasser durchzogen ihre Siedlungen eine nach der andern. Sie wußten nicht, was sie tun sollten. Daß Donnermund kein unbedingt böser Geist war, das mußten sie sich sagen. Denn er ließ alle Seelen in den Körpern und behexte niemanden, und Möwenschnabel soll er zugerufen haben, er zürne noch wegen des Angriffs. So mochte es wohl sein. Und morgen zürne er nicht mehr, sang es in ihnen, denn die Kokosnüsse wuchsen rascher auf den Palmen und die Taros gediehen dicker. Die Bananen reiften zahlreicher, als der Mund sie brauchte ... Morgen zürnt Donnermund nicht mehr. Aber nehmen wir ihn nicht so in den Mund, sonst wird er immer wieder auf uns aufmerksam. Wir wollen ihm einen andern Namen geben, wenn wir von ihm sprachen. Sein Name sei Wolkenglanz. Denn seine Haut ist der Glanz der Wolken auf dem Rand des großen Wassers ... Und dann sprechen sie wollüstig über Wolkenglanz, der nun nicht mehr hörte, wenn ihr Mund bei ihm weilte, und ihre Bäuche waren unruhig stechend und voll von seiner Rätselhaftigkeit, seinem Ungewissen und Unbekannten.

Aber, als es dunkel geworden war, gingen die Männer langsam und vorsichtig zum Dorf Vater. Sie gingen durch den Wald und über das Dorf hinaus und dann an die Küste, und wie sie den Sand betraten, auf dem Ebbe war, und den großen Baum erkannten, da stieg unter dem Baum unversehens die Feuerschlange auf, bohrte sich heftig wie ein Pfeil schräg übers Meer hinan und stieg und stieg, und in die Eingeweide der Männer raste wie ein Speer der gewaltige Schrecken. Sie fielen hin und stammelten und schauten der wilden Feuerschlange entsetzt nach. Nichts war in ihnen, wie das große leere Entsetzen. Aber auf einmal verlöschte die Feuerschlange. Ihr Kopf neigte sich in der Finsternis und spaltete sich langsam und sacht in zehn große strahlende Sterne, die stärker leuchteten als die Sterne der Nacht und lange und mild droben auseinander segelten und auf andere Sterne niederglitten.

Da schauten sich die Männer des großen Wassers an und lachten: „Kch! Kch!“, feixten ein jeder mit sich und riefen: „Schön! Schön!“ und blieben im Sand sitzen, wundersam berührt, bis einer nach einer langen Weile sagte: „Wolkenglanz ist in der Feuerschlange zum großen Geist zurückgeflogen.“ Aber der hatte das kaum aus dem Mund, so stieg eine zweite Schlange hoch und säete sich sacht droben auseinander und pflanzte ihre blinkenden Kugeln auf die Sterne. Da rief Möwenschnabel mit starker Stimme: „Der Ohm macht Sterne!“

Und langsam wurde Pirath zu einem Gott.

Der Schiffbrüchige, Einsame machte nun jeden Abend Sterne. Jede Nacht, wenn die Sterne „Zwei Brüder“ weit von ihrem östlichen Aufgang standen und das Sternbild Schlange über den Rand des großen Wassers stieg, schlich Möwenschnabel mit Kokosnüssen, Bananen und Taro zum großen Baum und legte die Nahrungsmittel in den hellen Sand. Peter sah den neuen Haufen an jedem Morgen neben dem alten Haufen liegen, und wenn er seinen hölzernen Zwieback knackte, sagte er sich, nicht mehr so entschlossen: „Sie sind vergiftet.“ Die geschmückten Männer kamen jeden Morgen ins Dorf Vater, und Möwenschnabel trat jeden Morgen vor und Peter schrie, mit dem Revolver in der Hand. Aber er schrie jeden Morgen weniger heftig und weniger, und Möwenschnabel trat jeden Morgen weiter ans Schiff heran, und die Flucht wurde von Tag zu Tag weniger ungestüm ...

Eines Morgens lag der fünfte Haufen am Strand. Da glaubte Pirath, daß er sicher sei, und er faßte einen Entschluß. Als Möwenschnabel dem Boot entgegenkam, nahm Pirath den Revolver in die linke Hand, ließ den Schwarzen möglichst nahe herankommen und sprang plötzlich mit einem großen Satz auf ihn zu. Der Häuptling schnellte herum, die Männer warfen sich im wirren Haufen dem Wald entgegen. Möwenschnabel hetzte wie ein Kasuar dahin, aber mit seinen langen Beinen erreichte Peter ihn bald, griff in seinen hohen schönen Haarwuchs und riß ihn rückwärts zum Boot zurück. Die Männer hielten ihre Flucht an. Sie versteckten sich in die Bambusbüsche und lugten zwischen den Stangen hervor, was Wolkenglanz mit dem Häuptling machen wollte. Sie atmeten kaum. Sie dachten alle: Jetzt reißt er seinen Mund so groß auf wie sein Kanu und schlingt Möwenschnabel hinunter.

Als Peter mit dem Schwarzen bei den fünf Haufen angekommen war, nahm er eine Banane, riß sie auf und steckte sie dem Wilden ins Maul. Er machte dazu mit dem Mund die Bewegungen des Essens. Der Schwarze ließ im Sand kniend seine dummen dunkeln Augen in den gelblichen Scheiben hin und her zucken, wie gefangene wilde Tiere, die mit der Kette davonspringen wollen. Dann aß er die Banane. Peter schlug mit dem kleinen Beil eine Nuß auf. Der Schwarze trank ihren Saft und aß ihr Fleisch.

Und da klopfte Pirath ihm wohlwollend auf die Schulter und sagte: „Gut!“

Auf Kililiki war aber der Schulterschlag die feierliche Begrüßung des Gastgebers an seine Gäste, und kaum hatten die Eingebornen in den Bambusbüschen diese Zeremonie gesehen, so sprangen sie heraus und tanzten und brüllten glückselig und riefen: „Wolkenglanz ist der Ohm des Häuptlings.“ Und Peter sah Möwenschnabel auf einmal kindlich beglückt sich niederhocken. Die dummen schwarzen Augen leuchteten auf einmal kindlich fröhlich, und die rauhen schwarzen Hände strichen wie treue Hundepfoten über seinen Arm. Möwenschnabel brach eine Nuß auf und trank an, Peter nahm sie und trank weiter wie ein Marder an einem Hahnenhals; während Möwenschnabel eine andre aufbrach, verschlang Peter das Fleisch der ersten und nahm dem Schwarzen auch die zweite aus der Hand. Möwenschnabel aß dann eine dritte, und sie gingen zu den Bananen. Peter aß hastig. Alle Poren waren ihm offen nach frischer Nahrung. Möwenschnabel glaubte, mit ihm Schritt halten zu müssen, und sie verschlangen um die Wette Nüsse, Bananen und Taro. Währenddessen war die Schar der Wilden immer näher gekommen. Sie standen bald einige Schritte entfernt im Halbkreis um die Essenden und lachten und feixten, machten „Ö! Ö! Ö!“ Der Priester Kokosbast ging unter ihnen umher und sprach auf sie ein, und Möwenschnabel aß Bissen um Bissen Wolkenglanz nach; dann hatte Peter genug, und auch der Schwarze hielt sofort auf, grinste Wolkenglanz brüderlich an, streichelte mit den Hundepfoten über den Ärmel und stieß zwei Rülpser aus. Peter lachte: „Mahlzeit!“

Die Wilden erschraken und zuckten auf, um kehrtzumachen. Aber es kam nichts nach hinter dem einen Wort. Sie begriffen nun schon, daß er Wörter hatte, die Fangkraft über die Seele und Wörter, die das nicht besaßen. Sie lachten und grunzten und wollten alle das Wort nachsprechen und kamen dabei immer näher an Peter heran und faßten tollpatschig nach seinen Händen, nach seinen Backen, und die weiße Farbe ging nicht ab. Peter wich allmählich zum Boot zurück.

Da auf einmal war es, als ob ein toller Schrei tanzend durch alle Kehlen fuhr. Die Schwarzen sprangen, reckten die Arme und ließen sie wie Hämmer niedersausen, und Peter sah plötzlich, daß sie sich alle über seinen Eßkameraden herwarfen und auf ihn einzuschlagen begannen.

Die ganze Schar geriet in eine kreiselnde Bewegung. Bald stampften sie in regelmäßigen Schritten, die wie leiser Donner im Boden widerschollen, um den Liegenden herum, bald verwirrten sie den schwerfälligen Reigen zu einem chaotischen Brüllen und sprangen, und ein jeder schlug auf Möwenschnabel ein. Der saß mit einem Gesicht in dieser wilden Gärung, als ob ihn die Schläge nichts angingen. Sein Herz war zufrieden. Der Ohm hatte geholfen. Er wurde König. Er dachte weiter an nichts. Aber auf einmal sah er den Häuptling Muschelkalk auf sich zudringen. Das kleine, in der Breite gezweiteilte Gesicht seines alten Gegners war wild gefältet, und Möwenschnabel bemerkte, daß der andre einen Stein in der Hand hatte. Da stieß er unversehens, ehe Muschelkalk bis an ihn herankommen konnte, zwischen den andern Tanzenden mit dem Fuß gegen den Bauch des Häuptlings. Dieser brach stumm in sich zusammen. Er wurde aus dem Kreis geschleppt. Die Zeremonie ging weiter. Die kreiselnde Bewegung machte die Männer toll, und die uralte Gewohnheit dieses Festes steigerte mit ihrem geheimen geisterhaften Sinn den heiligen Wahnsinn. Möwenschnabel blutete schon aus mehreren Löchern im Kopf, und eine Schulter war aufgerissen. Die Priester der Dörfer schlugen auf Trommeln, die aus gehöhlten Baumstämmen bestanden, den Takt und sangen alte Psalmen, deren Worte keinen Sinn mehr hatten und deren ferne dumpfe Melodie das Blut in allen Adern aufwühlte und glühend machte.

Peter sah dem zwiespältig erregt zu. Es war ihm rasch klar, daß die Wilden irgendeine Sitte übten, und er hatte oft gelesen, daß diese Tänze die Blutgier entzündeten. Er sah sich wieder in Gefahr und verschanzte sich ins Boot. Aber niemand kümmerte sich um ihn. Dann schlugen die Trommeln fünf regelmäßige dunkle Schläge, und auf einmal hörte der Hexensabbat auf, und die Männer setzten sich lachend und kichernd auf den Boden, plauderten und schrien. Möwenschnabel erhob sich. Er blutete über und über. Er ging an Peter vorbei und schickte dem Ohm ein zufrieden lächelndes „Ö!“ zu. Dann stieg er ins Meer.

Der Fluch des Geborenseins war aus ihm herausgebleut. Die Wut der Männer hatte ihn gereinigt zum Königsein. Machtvolle Dämonie zog in ihn ein. Er war ein Vater, von alters her heilig und doch von Mißgunst und Bosheit der Menschen umlagert. Sie hatten ihm gezeigt, daß sie ihn, den Höchsten, töten konnten. Statt des Todes hatten sie ihm das Bewußtsein ihres Mißtrauens und ihrer Kraft gegeben. Und nun erstrahlte er vom heiligsten Tabu, und nicht einmal den Schorf der Wunden, die sie ihm geschlagen, durfte ihre kleinste Bewegung anrühren.

Am Abend dieses Tages verschoß Peter seine letzte Rakete. Er sah sie in die Gewaltigkeit des einsamen Sternenhimmels dringen, zuerst mit begehrlichem Zischen wie ein machtvoll brünstiger Ruf zwischen den Sternen dahinschießen, ein Ruf, der sich über die ganze Erde weben sollte. Und dann verglühte sie rasch in den märchenhaften, zarten Regen der Leuchtkugeln, die geräuschlos zwischen den hohen Sternen erloschen, und nichts war mehr in seiner Hand, den Menschen der andern Welt, der er angehörte, von ihm zu zeigen. Wiewohl er wußte, daß niemand seinen Ruf vernommen haben könnte, begann er in die Nacht hinein zu warten. Er entzündete ein hohes Feuer am Ufer, um die Stelle zu zeigen, wo er harrte. Aus der fernen Nacht scholl der Lärm der Tänze und Gesänge, mit denen man im zweiten Dorf die Königseinsetzung feierte, und die Garamut dröhnte dunkel hinein, wie ein Pulsschlag der fremden Erde, zu der er verbannt war.

Unter dem fernen Lärm stieg in seinem vergeblich harrenden Herzen Europa auf. Es stieg auf wie die letzte Rakete und begann geräuschlos und farbig zwischen den Sternen zu versinken. Die Schwarzen kannten seinen Revolver nicht. Das war gewiß. Und wohl nie hatten sie also einen Weißen gesehen. Gab es denn noch eine Insel auf der Welt, die so einsam war, daß kein europäisches Schiff sie erreicht hatte? Das fremde Singen und die dunkeln Stöße der Trommeln hetzten seine Gedanken. Er sah den Zug der Menschen in weißen Städten in mächtigem Mechanismus die Straßen überströmen, und Maschinen surrten zielstark unter niedern weiten Hallen, denen einmal alle seine heftigsten Gedanken gegolten hatten und verflohen wie ein prasselnder Regen auf einer Asphaltstraße. Er sank hin unter der drückenden Melancholie des grauen Verregnens. Er wachte in die blaue Nacht, und Europa sollte verschollen und versunken sein unter ihrer dampfenden Hitze. Er warf Holz übers Feuer, die Flamme loderte heißer auf, und seine Sehnsucht schwoll und sank wieder nieder, wenn das Reisig verbrannt war, und wurde auch tiefer, schwebender, verwehender Regen. Europa starb langsam und heftig in ihm. Es starb so, wie einst eine Frau in ihm erstorben war, von der er Erde und Himmel erhofft hatte. Fliegende Hunde stiegen wie flatternde dunkle Tücher über dem Lichtstrahl aus den Bäumen. Ein Schrei scholl im Wald. Die Grillen arbeiteten die Finsternis in grellen Lärm um. Im Wald flog der Schall des unbegreiflichen Festes der Wilden wie eine Seele, die ein Netz über die Insel, die Küste und ihn sponn, um ihn zu trennen von dem, was war.

„Als ob ich auf dem Mars wäre!“ sagte er und biß die Zähne in die Lippen und schlug seine Fäuste raffend über die linke Brust, um seiner Tränen Meister zu werden. Er wachte und dachte die ganze Nacht und unterhielt sein vergebliches Feuer. Die Verlassenheit stand rauh und schroff über ihm wie ein ungeheuerliches Karstgebirg, und jenseits ging eine Welt unter für den Schiffbrüchigen.

Die Menschen kehrten zum Dorf Vater zurück. Peter sah, als er morgens im Schatten seines Baumes erwachte, ihre Scharen die Hüttenkreise füllen, dann und wann bis an sein Boot herankommen und wieder gehen. Er sah auf der Treppe des größten Hauses, das auf hohen Pfählen stand, den Schwarzen, den sie gestern geprügelt hatten. Möwenschnabel hatte seine Wohnung ins Königshaus verlegt. Der Schwarze winkte Peter zu, indem er erfreut lachte, einmal mit dem Kopf in die Höhe fuhr und „Ö!“ rief. Da ging Peter zu ihm. Er stieg die Leiter hinauf und setzte sich neben ihn. Er öffnete den Mund und fuhr mit der Hand öfter hin, das Zeichen des Essens machend; der Schwarze unterlegte dies Zeichen mit einem Laut, und das erste Wort, das Peter von der Sprache Kililikis lernte, war das Wort für Essen.

Der Schwarze rief, und Frauen erschienen in den kleinen Öffnungen der Hütten, die hinten um das Königshaus herumlagen. Die Frauen brachten Kokosnüsse und zwischen Blättern gebackne kalte Fische. Das Dorf umstellte den dünnen Zaun des Königshags, und Männer und Weiber nickten mit dem Kopf in die Höhe, grinsten Peter glücklich zu und quetschten den kurzen Laut: „Ö! Ö!“ aus ihrem Mund. Möwenschnabel aber nahm Peter ins Innere der Hütte, das ein einziger großer Raum, vollgestopft mit Gegenständen und Waffen war. Dort richtete er ihm am Essensplatz das Mahl auf kleinen Mattentellern an, und er schickte die Weiber fort, die sich in die Tür drängten. Und während Peter aß, nahm er den ersten Sprachunterricht beim König, und er lernte die Namen der einzelnen Speisen.

Als er fortging, nahm er einen der Bogen und ein Bündel Pfeile mit. Er wollte ihn gebrauchen lernen, weil er ihn zur Verteidigung des Lebens oder zum Erwerb seines Unterhalts nötig hatte. Dann zog er auf dicken Bambusrollen sein Boot hoch ans Land herauf, daß die Flut es nicht mehr erreichte. Er schob es an den Baum an und baute das große Segel als ein Dach darüber. In der Nacht war ein Regen vorbeigerauscht, der wohl nicht lange gedauert hatte; aber das Laub war doch nicht dicht genug, um das Wasser abzuhalten. Der König schickte ihm Matten, mit denen er sich ein Schlaflager machte. Er sammelte einen Haufen Kokosnüsse auf und brachte sie ins Boot, und als das die Eingeborenen sahen, schleppten sie alles Eßbare an, worüber sie verfügten. Peter war auf Wochen verproviantiert.

Als es dunkel wurde und die fliegenden Hunde aus dem Walde heraus in die Dämmerung stürzten und sich wie Lappen durch die Luft schwangen, schoß er danach. Es war ein merkwürdiger Zufall, daß er gleich beim ersten Schuß traf. Das sahen die Eingeborenen, und alle, die den fliegenden Hund im Totem hatten, wurden bang. Sie liefen zum Häuptling Muschelkalk und sagten ihm: „Wolkenglanz schießt unsern Stammesvater tot!“ Den Häuptling, der von dem trächtigen Fußtritt Möwenschnabels daniederlag, beschlich eine wahnsinnige Furcht. Er wußte, daß er das heiligste Tabu verletzt hatte, denn aus Eifersucht und Neid sann er auf weiter nichts als darauf, daß er den glücklichen König Möwenschnabel beseitigen könnte, und er hatte schon zehn, zwölf wilde, blutdurstige Mordarten erwogen. Er fiel auf sein Lager zurück. Sein Unterleib begann fürchterlich zu stechen. Er rief: „Wehe, wehe! Wolkenglanz tötet den Stammesvater, und die Seele weiß nicht, wohin sie im Tod gehen soll.“ Das Fieber durchraste ihn wütend. Der Fußtritt hatte ihm eine Ader gesprengt, an der er sich verblutete. Er aber glaubte, er müsse sich in den Tod hineindenken, weil er ein Tabu angerührt hatte, das an Macht das seinige zehnmal und öfter übertraf. Er starb in der Nacht. Die Garamut warf die Nachricht seines Todes rasch in die Küstendörfer. Alle des Stammes vom fliegenden Hund sahen ihre letzte Stunde gekommen. Sie versteckten sich im Wald und heulten, denn Wolkenglanz erschoß ihren Stammesvater, der ihre Seelen in die Steinbilder im Steinbruch Mutter getragen hatte. Und so wußten sie nicht, was ihrer elenden verfluchten Seele widerfuhr. Möwenschnabel aber nützte die Gelegenheit. Der fliegende Hund war der Rivalenstamm und hatte vordem durch eine Bluttat dem Totem Kakadu das Königshaus geraubt, bis der Ahn Möwenschnabels seine alten Rechte wieder eroberte, indem er den Ahn Muschelkalks erschlug.

Doch war der Stamm „Fliegender Hund“ noch stark an der ungestillten Wut gegen diesen Mord. Er reizte sich ununterbrochen heimlich zur Rache auf an dem geschändeten Blut. Die Stellung Möwenschnabels war darum keineswegs sicher. Nun war es dem König in die Hand gespielt worden, seine Sache sicherzustellen. Wolkenglanz zeigte an, daß er die Vernichtung des Totems wollte, und der König machte sich daran, das Werk zu vollenden, das der weiße Gott symbolisch begonnen hatte, als er den ersten fliegenden Hund zufällig mit seinem Pfeil durchbohrte. Mit Hilfe der Priester, die seinem Stamm angehörten oder ergeben waren, wurde das Werk vollbracht. Sie schoben die menschliche Angelegenheit in die Schicht, die unsichtbar und dämonengefüllt über den Köpfen der Menschen stand. Man fing so viel Männer des fliegenden Hundes ein, als man erwischte, und man band sie an die Palmstämme. Dann umwickelte man die Gebundenen um die Stämme mit breiten Bananenblättern, so daß man nichts mehr von ihnen sah, und schnürte das Bündel von Fleisch, Knochen, Blättern und Holz mit Baststricken und Rotang so fest zusammen, daß die Seile gespannt waren wie Bogensehnen. Das geschah noch in der Nacht. Peter hörte die Weiber heulen. Sie flohen oder wurden mit Keulen erschlagen. Das Blut der Schwarzen schäumte gärend. Die Bewegungen, die Griffe, die Schläge, das Einbinden wurden heiß und scharf und machten sich mit knapper Sachlichkeit, wie bei Tieren, die Beute jagen. Die Nacht flimmerte rot von Blut und Totschlag.

Als Peter am nächsten Morgen ins Dorf ging, gesellte sich ihm Möwenschnabel bei. Möwenschnabel war ein junger sehniger Mensch, seine Haut hatte einen hellen Schimmer, sein Kopf war hoch und die Nase schmal und einwärts geschweift. Aber er hatte einen dünnen langen Mund, der sich spitzte wie ein Wolfsmaul. Möwenschnabel hatte brennend rote Hibiskusblüten in seinem hohen, gepflegten Haar. Seine Augen waren wie blau bestaubt und die großen Ovale fast orangenfarben angelaufen.

„Gelb und Blut!“ sagte sich Peter, als er hineinsah. Möwenschnabel verzog das Maul zu lächelndem Gruß, entblößte das vom Betelkauen blutig gefärbte Gebiß und stieß sein „Ö!“ hervor.

Aber da sah Peter die sonderbar formveränderten Palmstämme. Er trat an einen heran und erschrak. Ein leises Wimmern stieg in dem Blattpaket auf und gurgelte wie Blasen, die sich tief von einem moorigen Grund erheben. Er zeigte mit der Hand fragend hin und sah den Schwarzen an. Dorfmänner umringten die beiden rasch, lachten glückselig. Sie hatten alle rote Blumen in den Haaren. Der König ahmte das Bogenschießen mit den Armen nach und sprach ein Wort mehrmals dazu. Peter verstand nicht. Das gurgelnde Stöhnen erregte ihn. Er nahm sein Messer und schnitt die Stricke durch, begann die Blätter abzureißen, und plötzlich löste sich etwas vom Palmstamm und fiel plump nieder. Es war ein Mensch. Er wand sich zuckend am Boden. Die Augen quollen aus den Höhlen, der Mund war verzerrt aufgerissen, und Schaum und Blut sprudelten aus ihm. Peter lief zu einem zweiten Stamm, schnitt rasch auf, und der Mensch fiel und regte sich nicht mehr. Ein dritter lebte noch. Ein vierter war tot. Der fünfte war tot.

Und zugleich, wo Peter dunkel zu verstehen begann, daß dies hingerichtete Feinde seines schwarzen Freundes waren, verwirrten sich seine Vorstellungen an der Grausamkeit des Geschehenen, sank all sein weißer Halt zusammen und rohe Gelüste sprangen ihn an wie Tiger. Es war ihm, als sei er wie eine Kugel auf einen Stein auf diese furchtbare Tat aufgeschlagen und prallte immer weiter, blutdürstig sie fortzusetzen. Er wollte dem farbigen Hund, der sie verrichtet, an die Kehle rasen und den roh springenden Adamsapfel zerfleischen, das Leben dieses Tiers zu Brei vernichten. Er sprang auf ihn zu. Aber im letzten Augenblick fand seine Wut nichts als eine furchtbare Ohrfeige, die mit einem plumpen Klatsch in das schwarze Gesicht sprang. Diese Ohrfeige war lächerlich gegenüber der dämonischen Erregung, aus der sie kam.

Möwenschnabel jedoch lächelte unbeirrt. Durch die Zuschauer lief ein freudiges Murren. Die Mäuler kamen in Bewegung und brachten frohe Laute hervor. Sie riefen: „Seht! Seht! Auch Wolkenglanz schlägt Möwenschnabel zum König. Der fliegende Hund ist niedergewürgt. Seine Seele irrt umher und findet den Weg nicht nach Mutter in den großen steinernen Gott. Wir müssen unser Essen, die Abfälle und unsern Speichel bewahren vor den bösen Geistern der Seele des fliegenden Hundes, daß sie uns nicht behexen. Aber Wolkenglanz, der Töter des fliegenden Hundes, steht uns bei.“

Peter sah fassungslos um sich. Das Rätsel blieb ihm starr verschlossen. Er war auf dem Mars. Eine kalte verlassene Wehmut rann durch seine Adern. Er ging zum Boot und brachte den Apothekerkasten heraus. Aber er wußte nicht, was er mit den beiden, wie Karpfen nach Luft und Leben zuckenden Leibern tun sollte. Er rieb die Quetschstriemen, die die Stricke gelassen, mit Salbe ein. Er faßte nach den schlagenden Armen und bog sie in einer regelmäßigen Bewegung ein und zog sie wieder aus, wie man Ertrunkenen das Leben wieder zu gewinnen versucht. Er hielt das Ätherfläschchen in ihre Nase. Die schlagenden Glieder dämpften nach und nach ihre Verzweiflung. Der Kampf erlosch, und die beiden Halbtoten fielen in Schlaf.

„Was tut der Ohm Wolkenglanz?“ fragte der König. Aber Peter verstand und beachtete ihn nicht. Die Männer rundum sahen angstvoll dem Beginnen des Gottes zu und bissen erregt auf ihre Betelnüsse. Sie prusteten den ersten herben Saft wie einen Sprühregen aus und wagten nicht einander anzuschauen. „Er gibt die Seele in den Körper zurück!“ stotterten sie. Und das Grausen packte sie, und sie gingen, sich in die dunkelste Ecke der Hütten zu ihren Lieblingsweibern hocken, sprachen nicht mehr und fürchteten die zweifeldunkle Kraft des Gottes. Die zwei Hingerichteten erhoben sich bald und gingen zu ihrem Dorf zurück. Niemand rührte sie an. Ihre Geschichte sprach sich eilig durch alle Dörfer herum, die Männer und Frauen, die man im Wald nicht aufgespürt hatte, kamen zurück, und Wolkenglanz stieg an Macht wie an Rätselhaftigkeit. Niemand fühlte sich mehr sicher vor ihm, und zugleich, wo in der Tiefe des beunruhigten Blutes roher Drang aufstieg und um den Gottesmord sich unbewußt die Adern erhitzten, dämpfte das furchtbar Drohende, ewig mit Donner und Verdammnis beladene Tabu diese urhafte Wildheit zu zitternder Straffurcht, zager Todessüchtigkeit und kindlich naiver Ergebenheit zurück.

Peters Kraft wurde nun jeden Tag beansprucht. Es kamen Verliebte, es kamen Rachsüchtige, es kamen eifersüchtige Verdächtler, es kamen Frauen, denen die Kinder immer starben, es kamen kranke Behexte ... Sie sprachen ihn mit den schönen, bald wie ein Bach im Wald verschmelzenden, bald wie ein niederkrachender Baumstamm roh aufstoßenden, bald wie ein Vogelschrei kindlich tirilierenden Lauten ihrer Sprache an. Die Wörter merkten sich, wie naive Naturgeschehnisse, so leicht und tief. Pirath benahm sich eingehend zu jedermann, und wenn er nicht verstand, so nickte er lächelnd trostvoll oder suchte durch allerlei Zeichen seine Sprachkenntnisse weiter zu bilden und führte dadurch den Hilfesuchenden unbewußt so weit ab vom Gegenstand seiner Sorge, daß er seine Wünsche erfüllt glaubte. Die meisten Krankheiten waren ungepflegte, beschmutzte Geschwüre und Fieber, die aus den in die Küstenwälder zwischen die Dörfer gebetteten Sümpfen aufstiegen. Das konnte er alles heilen, und da die Menschen glaubten, eine jede Krankheit sei die Folge einer Behexung durch einen Fluch, so gewann die Gottwerdung Piraths von Tag zu Tag an Festigkeit und Umfang.

Er hielt die Phantasien der Menschen in Aufregung. Überall hin trug er sein europäisches Gewissen, wetterte gegen jeden faulen Schmutz, gegen Trägheit und Lässigkeit, gegen Grausamkeit und Mordlust. Das verstanden diese Menschen nicht, bei denen die Instinkte ein ungedeckter Brunnen waren und der Impuls so viel wie die Tat. Denn sie lebten zu lange mit der Natur zusammen, wie zwei, die im Beischlaf sich einander vermengen, und hielten sich an das mütterliche Beispiel, das sie an Pflanzen und Tieren, an Wasser und Wolken sahen. Oft sprachen sie über die Unverständlichkeiten des mächtigen Wolkenglanz. Aber ihre Liebe zum Plaudern ging damit heimlich und vorsichtig um, und sie wandten allerlei geheime Schutzmittel an, um sich ihrer Klatschsucht ungestraft hingeben zu können. Sie nannten ihn dann jedesmal, wo sie ihn erwähnten, mit einem neuen Namen, den sie im Augenblick des Sprechens erfanden und den dennoch jeder verstand. So bildete sich Pirath in diesen Gemütern zu einem Kreis von gesonderten Vorstellungen aus, von denen eine jede einen bestimmten Namen hatte. Die Menschen konnten ihn nicht in einen Begriff fassen. Er war in viele Kräfte der Natur gespalten. Sie verehrten, liebten, fürchteten und haßten ihn. Die Phantasien bildeten alles um, was mit ihm in eine Berührung kam, und so waren zum Beispiel jene wenigen, die von der allgemeinen Vertilgung des Totems Fliegender Hund errettet worden waren, fortan zu einer neuen, von dämonischer Scheu umgebenen, tabugeladenen Kaste geworden, weil Wolkenglanz den zwei Hingerichteten die Seele zurückgegeben hatte.

Etwas Besonderes reizte die Gemüter: Er ließ sich unbeweibt!

In den Dörfern lebten schöne Mädchen. Sie hatten ebenmäßige, gedämpft wilde Gesichter, die schlanken Beine stiegen in heißem Schwung der Schenkel in die Hüften, die Brüste standen wie große spitze Zitronen, hart wie unreife Früchte, reif wie goldene Bananen, und die Schultern überstiegen sie, breiter als die Hüften, und mit einer genauen Muskulatur, als ob sie allein die spitz starrenden festen Brüste, die gewölbte Kugel des Bauches, die ausschweifend zusammengehaltenen Hüften tragen müßten. Die farbige Haut, auf deren dunkelem Grund helle Töne flimmerten, war ihm wie ein Fell von seidigem Glanz, von lebendig polierter Bronze, in die sich die geile Sonne gefangen hatte. Peter schaute ihnen gereizt nach, wenn sie vorbeigingen und ihre weißen großen Gebisse vor dem glücklich scheuen Gruß: „Ö!“ weit entblößten.

Alle Mädchen warteten, daß Wolkenglanz zum Mutterbruder ginge und um sie bat. Alle Stämme warteten, daß ihre Mädchen die Götterkinder im weißen großen Kanu empfängen und gebaren. Aber in Pirath bildete das Weiße seiner Herkunft eine sagenhafte Scheu aus vor dieser letzten, innigen Vermischung.

Fast wie in einem Wunder, so unversehens fühlte er sich diesem primitiven Volk hinwachsen. Er verstand Einrichtungen, Sitten, Verhältnisse aus seinem Instinkt heraus. Einige Monate vergingen. Er konnte schon mit den Menschen in den Lauten sprechen, die dieser Urwald zusammen mit der Meereseinsamkeit gebildet hatte. Er empfand auch, daß all die Mädchen und Stämme auf ihn harrten. Da war ihm über dem allem, als ob die körperliche Hingabe an die Weiber der letzte Verzicht auf Europa sei, und er wollte nicht verzichten — so verloren und verlassen Kililiki auch im Ozean lag. Der Krampf seines nach Europa sehnsüchtigen Herzens machte die Begehr nach den Weibern zu etwas Sündhaftem, machte seine Keuschheit zu einem Symbol; die Bewahrung der heimatlich weißen Persönlichkeit stand in ihr. Aber ach, er wußte, daß seine Anstrengungen, dies Symbol aufrechtzuerhalten, immer mehr blutlose Gebärde würden.

Monate flossen dahin, unaufhaltsam und sanft, und Peter erlebte in einer manchmal blutig gereizten, manchmal schwerfällig dunkeln Melancholie vorfrühlingshafte Änderungen in sich. Er erlebte, als sei es an einem Menschen neben sich, den er kannte, wie das europäische Gewissen, das Ummodeln jeder Erscheinung in geistig vermünzte Werte, langsam von dem Urwald überwuchert wurde, der um die Hüttenkreise der Dörfer vom gelben Sandufer aus, wie heimliches Frauenhaar über den Venusberg, sanft aufregend, verbergend, süßer Fruchtbarkeit willenlos ergeben, die Höhen überquoll. Er verspürte diesen Nebenmenschen, der ihm so innig verwachsen war, in ein weiches Aufgehen in dieser einsam fremden Natur versinken, und eine üppige Entfaltung der Phantasie drängte sich machtvoll durch. Impulse stiegen trächtig und greifbar wie Taten durch seine Adern. Die voraussetzungslosen Formen der Natur, die keine Erinnerungen in sein Blut geritzt hatten, wirkten vertiefend und beschleunigend hinein. Ihre sorglose Üppigkeit und selbstverständliche Begrenzung waren ihm wie eine erreichbare Ewigkeit. Die Zeit hörte auf. Er verlor das kurze Verrechnen der Tage gegeneinander. Tage und Jahre kosteten nichts. Die Zeit spaltete sich nicht mehr in Arbeitszeiten und Nächte. Sie war wie ein kreisender Globus von Glut und Schatten, die hellen Stunden heiße Flammen, die dunkeln schwarzes Versinken, aus dem mächtige Träume stiegen. Wie im Traum, so schränkte auch im Wachen keine Kraft die seinige ein. Er lebte, wie sein Blut ihn trieb. Er lebte wie die Pflanzen, von keiner Sorge gehindert, keine Hemmung kam ihm in die Quere.

Er wurde allmählich sich weniger wertvoll und wuchs immer inniger in die Natur zurück. Er war nicht mehr ein dunkles kleines Glied, beengt und gezerrt, verantwortungsvoll und bescheiden in die europäische Kette gespannt. Er war selber ein Urwald.

Durch Wochen hindurch vollzog sich dieser sachte Übergang. Kaum gab er sich Rechenschaft darüber. Einmal, als er in einem kleinen Kanu aufs Meer zum Fischen segelte, fühlte er an dem Benehmen der Fregattenvögel und Möwen, die über ihm hin und her strichen, daß etwas sich mit einer Spannung lud, daß etwas gefährlich und drohend wurde. Er wußte nicht, was geschah. Die Beobachtung sickerte unbewußt in sein Blut, pulste durch seine Adern und bewog ihn, sein Kanu landeinwärts zu drehen. Da hetzte es hinter ihm her wie eine wirbelnde Angst. Er erreichte das Land, bevor der furchtbare Orkan ausbrach, den keine Wolken und kein Wind angezeigt, dessen gefährliches Kommen aber die Vögel seinem Blut gemeldet hatten.

Von diesem Tag ab bemerkte er öfter plötzlich, wie er den schärferen Witterungsinstinkt der Tiere benutzte, um sich vor Gefahren zu schützen, um einen Rückweg von verlorenen Waldwanderungen zu finden, um Nahrung zu suchen oder das Wetter zu prüfen. Aber auch dies Bewußtsein begann nach und nach in die unsichtbare Tiefe zu sinken.

An einem Morgen, als alle Männer schon in den Wald gegangen, schickte sich Peter an, in seinem Kahn stehend, den Bogen zu spannen, wobei ihn junge Weiber umstanden.

Die Weiber schauten zu und plauderten mit ihm über ihre Kinder, ihre Männer, Essen und Wetter. Auf einmal, während er sich niederbückte, hörte er jähes Schreien. Er richtete sich auf.

Die Frauen stoben schon zwischen den Hütten davon, und nahe bei ihm am Ufer stand ein Mann, den er auf der Insel nie gesehen hatte.

Das Bild der Gestalt flog mit einem Blick den erstaunten Peter an. Der Fremde hatte eine rötliche Hautfarbe. Er war klein, mit einem kegelförmigen dicken Kopf, auf dem drahtiges Haar aufstarrte. Seine Nase unter den geschlitzten und schiefen Augen war nicht groß, aber schwer und hing in einer gebrochenen Linie auf den dünnen geschwungenen Mund zurück.

Der dicke fremde Kopf schaute Peter mit dumpfem Entsetzen an, einen Augenblick nur, dann schoß die kleine Gestalt in die Höhe, warf sich herum und raste davon. Peter setzte mit einem Sprung über den Bootsrand und flog mit seinen langen Beinen hinterdrein. Der Kleine durchstürmte das Dorf, lief am Wald entlang und schlüpfte wie eine Eidechse plötzlich ins Dickicht.

Peter lief ihm blind und ohne Gefühl nach, war nur mehr ein Jäger, dem das Blut in den Augen flimmerte. Nach einer Weile verlief sich der jähe Anfall.

Als Peter durch den Wald zurückging, fiel ihm plötzlich ein, wie die Weiber sich gegen den Fremden benommen hatten. Sie kannten ihn. Er gehörte einem Geheimnisse an, das man ihm vorenthielt.

Deshalb hatte er keine Aussicht, etwa von Möwenschnabel mehr zu erfahren, und Peter nahm sich vor, seine Waldstreifen weiter auszudehnen und einmal in einem Kanu ganz um die Insel herumzufahren. Das hatte er bis dahin sonderbarerweise nie getan, und es fiel ihm nachträglich auf, daß die Fischer ihn stets abgehalten hatten, nach dem Norden zu segeln.

Das dachte er sich nun und sagte zu Möwenschnabel:

„Wir segeln jetzt um die Insel!“

Möwenschnabel sagte erschrocken: „Nein!“

„Weshalb nicht?“ fragte Peter.

„Im Norden wohnt in einem Loch am Ufer der böse Geist.

Der böse Geist hat unsere Mutter Kililiki getötet, hat ihre Seele behext und hält sie an einer langen, langen Rotangschnur und läßt sie, wie einen Falken über die Tauben, über die Menschen niederstürzen, die dort vorbeirudern.

Die verhexte Seele wohnt in der Luft und im Wasser. Sie kann von überall her über uns ...“

Peter ließ Möwenschnabel weiter reden. Er horchte nicht zu.

Der König überschüttete ihn mit weitläufigen dunkeln Worten, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Peter ging in sein Boot.

Er hatte die Tage, die er seit der Ankunft an der Insel in seinem Boot wohnte, mit Kerben am Bootrand eingezeichnet und sie in Gruppen zu zehn abgeteilt. Er begann diese Kerben abzuzählen. Er kam bis zu dreihundert, und es stand noch eine Reihe vor ihm. Da ließ er es plötzlich bleiben.

„Was ist hier Zeit?“ fragte er sich. Ein Tag sind tausend Jahre und tausend Jahre sind ein Tag. Er war ein verschlagener Mönch von Heisterbach und ließ sich tief vor dem Wunder Kililikis versinken.

„Ich will die Tage nicht mehr anzeichnen! Was ist Zeit?“ fragte er sich noch einmal.

Und plötzlich erschien in diesen geheimnisvoll versinkenden Vorstellungen das Bild eines jungen braunen Mädchens.

Sie hieß Seeschwalbe und war ihm einmal unvermittelt im Wald begegnet. Da war sie stehengeblieben. Ihre schlanken Hüften stiegen sonnenbraun aus dem grünen Gestrüpp, wie aus einem Bad. Sie öffnete zum Lachen den Mund, und ihr großes und leuchtendes Gebiß legte sich bloß und war mächtig und unwiderstehlich, wie ein junges Raubtier.

An diese Begegnung dachte Peter in hin und her hastenden Vorstellungen. Er hatte sich immer ausgemalt, seine Kraft bestände darin, daß er die Weiber mied. Das fiel auf einmal lächerlich in ihm zusammen. Weiber waren, wie das atmende Laub an den Bäumen, wie die Ranken an den Lianen, menschliche Verknüpfungen mit der gewaltigen Natur. Sie waren die Wirklichkeit der Phantasie, das Gewähren der schöpferischen Güte, die dunkle innige Wölbung der Gebärmutter, aus der das Urleben sich herausschmiegte, die geheimnisvoll finstere Grotte, in der das Fleisch seine Haut und seine Lebensfähigkeit gewann.

Während er so grübelte, bemerkte er zugleich, daß die Vögel heftig über den Boden niederdrangen, plötzlich hochschnellten und im Bogen zur Erde zurückgingen. Gleich trieb ein Zug von Käfern am Bug vorbei und hastete dahin, wie in einer Flucht. Kleine Insekten überholten sie und Ameisen kamen, stauten sich, als sammelten sie Mut und in der Masse Kraft, es mit einem Feind aufzunehmen. Alles Leben trieb aus einer Richtung heraus auf den Bug seines Bootes zu. Die gleitenden Vögel, die sich wie Pfeilschüsse immer wieder auf die Erde warfen und wie Bumerangs im Bogen in die Luft zurückkehrten, näherten sich ihm rasch. Er stand auf und wartete, und auf einmal schlang sich um den Bug eine der giftigen schmalen und kleinen Schlangen herum.

Sie sah das plötzlich große Leben vor sich, unterbrach die aalende Wanderung, hob den Kopf und blies die Backen auf. Sie sammelte alle elektrische Kraft ihrer Ringe vor der großen Gefahr. Ihre Muskeln luden sich rasch und ballten sich, ihre Wirbel bereiteten sich zum Sprung, das Gift schwoll in der Drüse, die Stoßzähne zitterten. Aber bevor sie auf das weiße Feindliche losspringen konnte, hatte Peter mit einem Brett ihre Wirbelsäule zerbrochen. Die Schlange wand sich in unselig machtlosen, verdammten Krümmungen. Es war ihr, als ob der Sand sie umklammerte, als ob die Erde sie an sich saugte. Peter tötete sie vollends mit dem Brett und schleuderte sie zurück ins Gras. Die Seeschwalben stürzten über sie her und hackten im Flug in sie hinein. Die Ameisenarmee machte in Eilmärschen kehrt. Aber ein Reiher nahm die Schlange rasch mit übers Wasser. Sie hing wie ein totes Seil in seinem Schnabel, und er flog mit ihr vom Ufer davon. Die Seeschwalben stürzten in erregter Befriedigung, satt und glücklich vor Rache, hinter ihm her. Die Insekten, Käfer und Ameisen gingen, jede wieder von Sorge frei, der Richtung ihres Lebenserwerbs zu.

Übers Meer zog Regen heran. Wie eine schleifende graue Wand näherte er sich. Peter richtete das schützende Segel, das nur mehr aus Fetzen bestand, auf dessen größte Löcher Matten befestigt waren. Dann aber dachte er sich, es sei gut, wenn er sich auszöge und den seichten Strand hinab im Baden dem Regen entgegenginge. Seine Kleider mußte er vorsichtig behandeln. Das weiße Drilchzeug hatte der Zeit und Witterung und dem vielen Waschen schließlich nicht mehr standhalten können. Es war brüchig geworden. Er zog die Jacke und dann die Hose mit Sorgfalt aus, legte sie unter ein Brett ins Trockene und schritt dann dem Regen zu.

Da schimmerte auf einmal, wie ein Schlag durch die Luft, ein breiter mächtiger Regenbogen auf. Er stützte einen Fuß seiner Brücke scheinbar in den schweren alten Baum und trat mit dem andern, vor Farbigkeit strahlend, in das schieferdunkle Ungemessene des Raumes hinein. Peter schritt rasch aus. Er wollte in die farbige Nebelbrücke hinein. Die flimmernden Dünste wichen vor ihm zurück.

Aber Schildkröte, der ein Gefolgsmann des Königs war und nahe am Ufer im Sand saß, während das geschah, sah, wie Wolkenglanz rasch in die farbensprühende Säule des Regenbogens hineinging. Er erschrak. Zuerst verschlug ihm der Atem. Der Regen stürzte hastig heran. Wolkenglanz verschwand fast in den niederrauschenden Fluten. Der Regenbogen stieg breit in die dunkeln Wolken, wurde von ihnen halb verschlungen, wie von einem urhaften Krokodil, und Schildkröte sprang entsetzt auf, lief heulend ins Dorf, weinte, daß die Tränen wie der Wolkenbruch über die Blätter des Baumes an seinen Backen rannen, und brüllte:

„Der Gott Wolkenglanz verläßt Kililiki. Der Segen verläßt Kililiki. Die bösen Geister werden sich über Kililiki werfen!“

Männer und Frauen drangen aus den Hütten. Der Regen peitschte ihnen in die Augen. Sie sahen nichts. Nur die Trümmer des Regenbogens standen noch in der grauen Luft. Und alle erinnerten sich, daß Wolkenglanz über einen Regenbogen zu ihnen gekommen war. Und alle schrien auf einmal: „Der Gott Wolkenglanz ist auf dem Regenbogen zurückgekehrt. Wehe! Wehe!“ Möwenschnabel trat, vom Lärm aus seinem dunkeln Hause geführt, auf die schmale Veranda über der Leiter, hörte und glaubte, sein letzter Augenblick sei gekommen. Die Regen rasten knatternd hernieder. Sie trommelten auf Blätter, Dächer und Erdboden wie Steine. So sang der ewige Geist des heimkehrenden Sohnes Wolkenglanz das Tanzlied. Das war der heftige Lärm des Regens, und der ewige Vater brach hinter Wolkenglanz den Regenbogen ab. Deshalb sah man nur noch ein Stück des Bogens blaß in den hohen finstern Regenmassen.

Der Regen schleppte schwer und eilig über die Insel weiter. Er war bald davongerauscht, und gefrischt von der heftigen Kühle, über und über rinnend von Tropfen und Nässe, stand Wolkenglanz auf einmal wieder an seinem Boot. Die untergehende Sonne flog, wie leuchtende Tiere, auf seiner nassen Haut auf. Er flimmerte und blitzte und strahlte Licht aus und gehörte wieder Kililiki.

Da war heiße Freude im Dorf Vater, und die Männer, Frauen und Kinder kamen heran und tätschelten sein göttliches weißes Fell.

„Du, Ohm Wolkenglanz, warst beim väterlichen ewigen Geist!“ meckerte Möwenschnabel, der sich nicht fassen konnte vor Glückseligkeit. Er ergriff mit blöden, schmeichelnden Fingern Peters Handgelenk, bald seinen Daumen oder eine Brustwarze oder den Oberarm und tänzelte um ihn. „Der Ohm Wolkenglanz liebt Kililiki. Kililiki liebt ihn. Du, Ohm Wolkenglanz, kommst von einer großen Reise heimwärts zu Kililiki, und wir Männer und Frauen werden deine Rückkunft feiern.“

Es wurde ein großes Tanzfest angesagt. In der übernächsten Vollmondnacht sollte es stattfinden. Die Tage, die nun kamen, änderten das Leben der Dörfer vollkommen. Auf einmal löste ihre sonnenbeladene Stille sich in ein Summen und Brummeln auf, das früh mit dem Tagesgrauen anfing. Die Männer und Weiber gingen kaum mehr in die Pflanzungen. Sie holten sich nur, was sie zum Essen nötig hatten. Wo eine Gruppe beisammensaß, begann sie bald leise die alten Tanzmelodien zu singen, einer stieß mit einem Holz an einen Hauspfahl den Takt der Garamut, und im Sitzen machten alle die uralten Bewegungen, deuteten mit den Füßen die Tanzschritte an, ließen die Arme gehen und wiegten den Oberkörper. Und dann konnte es vorkommen, daß auf einmal die ganze Schar ins Flammen geriet, aufsprang und eine der Figuren tanzte. Sonst verspann sich tagsüber das Summen der Tanzweisen mit der Sonne über die Dörfer.

Wenn es dunkel wurde, fanden sich die Tänzer zusammen und übten.

Im Dorf des Häuptlings Fischreiher, das das siebente Dorf war, lebte der alte Mangostein, ein Ohm von Seeschwalbe. Er war berühmt als Erfinder von Tänzen und brachte jedes zweite Jahr eine Neuheit, die rasch in allen Dörfern aufgenommen und Mode wurde; das brachte ihm viel Muschel- und Zahngeld ein, denn die Tänze und Lieder waren ihrem Urheber geschützt. Mangostein erfand einen Tanz, der das Erdkommen und Erdwandern Wolkenglanzes darstellte. Er nannte den Tanz „Regenbogen“, und das war auch der Name, den Peter nun endgültig bekam.

Der Tanz sollte zusammen von den Männern aller sieben Dörfer getanzt werden, und man begab sich sofort an das schwierige Einstudieren. Mangostein ging zu den Holzschnitzern. Die mußten kleine Schnitzereien machen, die das Boot Peters darstellten, es aber halb als Kanu, halb als Muschel ausgestalteten und lebhaft bemalten. Es wurden viele Dinge darauf gemalt. Der Regenbogen stand darauf, die Wolke stand darauf, das große Wasser, die Insel Kililiki und die sieben Dörfer; das Farnkraut Tausendfuß war darauf gemalt, als das Zauberkraut gegen angehexte Krankheiten; ein Bogen und Pfeil und der fliegende Hund; der tote Mensch und der tote Geist, der weibliche Geschlechtsteil und der Bambus, der Regen und der große Geist über den Wolken ...

Und während dies Kunstwerk hundertfältig entstand und in neuen Erdfarben frisch in den Häuptlingshütten erglänzte, ging die Seele Regenbogens hinein, wohnte drinnen, und das Schiff war das Symbol der Allgegenwärtigkeit des erdgekommenen Gottes. Abends wurde es den Männern gegeben, und sie übten den Tanz, in einer Hand die Seele Regenbogens darbietend, mit der andern Kräuter und Blumen schwingend. Pirath wurde darüber der Regenbogen, die Fleischwerdung, der Zusammenhang zwischen Kililiki und der Überwelt des großen Geistes über den Wolken.

Die Männer übten in den Mondnächten den Tanz bis zum Aufbruch der Sonne und fielen dann in ihren Hütten in die Schlafecke und erwachten erst nach der Mittagsstunde, wenn der Hunger in ihren Leibern herumstieß. Dann begannen sie gleich wieder, und ihr Leben war nur Spiel und Traum in diesen Wochen. Herrlich, wunderbar und gottgemacht nannten sie dieses Leben. Sonst dauerte das Einüben eines Tanzes, der so schwierig und vielfach wie der Tanz „Regenbogen“ war, drei, vier anstrengende Monate. Die Aktualität der Ereignisse, die der Tanz „Regenbogen“ darstellte — ein jeder hatte alles unmittelbar miterlebt —, war für alle ein Ansporn und ein heftiger Reiz. Sie brauchten sich nicht erst mühselig in den Sinn hineinzuleben. Sie nahmen mit immer wacher Kraft, mit fortwährend aufgestacheltem Verständnis die Erklärungen und Darstellungen des Tanzmeisters Mangostein auf. Sie gruben Melodien, Worte und Bewegungen sofort in sich ein, und als die Vollmondnacht sich nach fast zwei Monaten näherte, waren sie vorbereitet und warteten auf das Ereignis, das wie ein Wunder vor ihrem Lebensweg lag und nur darauf harrte, von den Menschen in Besitz genommen zu werden.

Peter wußte, was vorbereitet wurde. Er verhielt sich dagegen, wie Erwachsene vor einer Bescherung, mit einer gemäßigten Spannung und einer gespielten Diskretion. Er lebte in einem leidenschaftlichen Auf und Ab. Bald floß er wie ein dunkler Strom, voll nächtiger Melancholie, voll rauschender Unrast und Sehnsucht nach seiner Heimat, seinem Bruder, seiner Tätigkeit, und dann konnte es geschehen, daß dieser Strom plötzlich verrann und, wie ein drohendes Stauwehr seinen Wall endlich bricht, ergoß sich die Glückseligkeit und die paradiesische Erfüllung der widerstandslosen Natürlichkeit Kililikis über ihn. Er fühlte, daß seine letzten Vorfrühlingstage vor ihm standen und daß der Sommer wartete, dessen reifender Saft mächtig aus dem Schoß der schwarzen einsamen Südseeinsel in ihn drang.

Als er früh am Tage des Festes vom Baden kam und die Sonne rasch seine Haut getrocknet hatte, wollte er seine Hose anziehen. Da riß das eine Bein von unten bis oben auf; morsch wie es war, konnte der Schaden nicht mehr gutgemacht werden, und Pirath entschloß sich zu der großen, für ihn symbolisch werdenden Entscheidung, von nun an nackt zu gehen wie die andern. Er riß einen noch brauchbaren Streifen aus der Hose und machte mit ihm einen der schmalen Schamgürtel, die zwischen den Beinen durchgezogen und hinten und vorn an einem Strick befestigt wurden, der den Leib umspannte. Diesen Schamgürtel trugen von der Mannbarkeit an die Männer Kililikis.

Der erste Besuch, den Peter in seiner neuen Toilette empfing, war der der Frauen Möwenschnabels. Sie schienen die Veränderung nicht zu bemerken. Auch Möwenschnabel, der dann kam und glücklich, wie ein Kind bei einem frohen Fest, ihn anmeckerte, nahm offensichtlich keine Kenntnis von Peters geänderter Tracht. Er streichelte dem Ohm nur über die Arme und Hände und schlug ihn dann roh auf die Schulter zum Zeichen, daß er heute des Königs Gast sei.

Er nahm ihn gleich mit. Im Königsdorf, auf dem mit Sträuchern, Blumen und Pflanzen, mit Tanzmasken, Königswaffen und schönen Matten ausgeschmückten Platz vor dem Königshaus fand Peter die Häuptlinge der Dörfer im Kreis auf dem Boden sitzen. Mit offenem Mund rülpsten sie ihm fröhlich, aus tiefster Kehle gurgelnd, den Gruß „Ö! Ö!“ entgegen.

Die Weiber arbeiteten unter der Kochhütte herum, wühlten mit Bambuszangen in den mit heißen Steinen gefüllten Gruben. Drinnen brieten Hühner und Tauben, zerstampfter Jam war, mit dem zu Brei geschabten Kokosfleisch gemischt und um zarte junge Taroblätter eingewickelt, zwischen zwei Lagen heißer Steine geordnet worden. In einem andern Kochloch wurden Taro, Jame und Bananen gedünstet, indem man die Matten, zwischen denen sie lagen, mit Wasser tränkte, das sich an den heißen Steinen auflöste. Haufen von Fischen, die zwischen Blättern gebacken worden waren, lagen schon bereit. Über drei offenen Feuern brieten Schweine am Spieß. Ein Hügel von gerösteten Brotfrüchten schichtete sich auf einer Matte um einen Pfosten der offenen Kochhütte auf. Suppen und süße Speisen wurden aus Papayafrüchten mit Stärkewurzel und Kokoskernsaft bereitet. Puddinge und Pürees, die aus Kokosmehl, Seewasser, Pfefferschoten und kleinen Zitronen bereitet wurden, kochten die Frauen in aufgerollten Bananenblättern und umgaben die Blätterhülle zur Verstärkung mit einem oben zugebundenen Beutel aus Brotfruchtblättern. Meertang und Tintenfisch, Taschenkrebs und das fette Fleisch der Tridaknamuschel, Taroklöße und Jam in Kokoskernsaft, Bananenbrei und Schnecken, Seeigel und Baumschlangen, Käferlarven und Würmer ...

Es wurde ein gewaltiges, übermenschliches Essen.

Es dauerte bis in die Dämmerung, und im Kernpunkt saß Regenbogen, umstrahlt von dem Glück und der Anbetung des fressenden Kililikis. Zu seinen Ehren stopften sich die schwarzen Bäuche. Die Frauen und die Königsdiener rannten und schwitzten. Der Essensgeruch wurde von der heißen Sonne, die über den Baumkronen und Palmenköpfen ihren grellen hitzigen Glanz aufwölbte, niedergedrückt und änderte die Luft des Schattens zu einer schweren, gereizten Sattheit um. Das Schmatzen, Plaudern und Rülpsen füllte melodisch den Essensplatz.

Als dann die Sonne hinter dem Meer versunken war und es einen Augenblick lang war, als ob Tag, Dämmerung und Nacht zusammen auf der Erde ständen, erhob man sich. Zwischen dem ersten und dem zweiten Dorf war der Tanzplatz gemacht worden. Die Männer hatten dort unter Palmen, die der Urwald dicht umschloß, einen langen schmalen Platz eben gemacht und rundum mit Blumen und Sträuchern geschmückt. Pirath ging mit dem König an der Spitze zu diesem Tanzplatz. Er hatte sich, trotz allem Zurückhalten, zu voll gegessen, und er ging neben dem König in einer faulen Benommenheit dahin. Er fühlte seine Adern bleischwer seinen Körper durchfließen. Oft schloß er die Augen und wünschte, daß er sich gleich zu Boden werfen und schlafen könnte, und dann reizte fast in demselben Augenblick ein Ruf in der Dunkelheit, eine Bewegung über seinen Augen, eine holperige Stelle unter seinen Füßen ihn jäh wach. Er schimpfte, und eine dunkle Wut schwoll in ihm an. Er konnte seinen Zustand nicht in eins fassen. Zerhackt, wie ein Ball geworfen, verirrt in rauschende Unbekanntheit, so kam er sich vor.

Möwenschnabel wollte, während ununterbrochen das Genossene sich bei ihm laut zur Erinnerung brachte, konversieren. Peter antwortete nicht und horchte nur dem schaukelnden Rausch seines Innern zu, und nach und nach geschah es ihm wieder, als ob das vielfach Aufgewühlte in ihm sich zu jenem geheimnisvoll sachten Sturz dämpfte, mit dem er in die sorglosen Wucherungen der Seele der schwarzen Insel Kililiki versank.

Sie kamen bald an den Tanzplatz. Dort waren für Regenbogen, für den König, die Häuptlinge und die Priester und Zauberer an einer Stelle Matten niedergelegt. Während sie sich darauf niederließen, ordneten in dunkelm Wirren die Scharen der sieben Dörfer sich unter die Palmen. Die großen Garamuttrommeln wurden bereitgestellt, und als auf einmal ein leises goldnes Flimmern die schwarzen Gitter der Palmwedel über den Köpfen berührte, klang es in einem dunkeln und einem hellen Ton in den Trommeln auf; der Doppelton riß einen schwirrenden Hagel von rasch aufeinander rückenden Klängen aus dem Holz, und an einem Ende des Tanzplatzes jagten fünfzig Weiberstimmen jäh in die Höhe und kreischten das zarte Mondlicht an. Peter fuhr aufgestört mit dem Kopf dorthin. Er saß inmitten der Häuptlinge und Priester auf einer schönen Matte. Er sah nichts und hörte nur das grelle Psalmodieren der Frauenstimmen. Auf einmal stieß ein starker flötender Ton aus der schrillen Melodie, und zugleich drang in langsamen Schritten die tanzende Weiberhorde aus dem fetten Schatten der Bäume in die sanfte Dunkelheit des Tanzplatzes. An der Spitze schritt Seeschwalbe. Peter erkannte sie gleich. Seine Augen hefteten sich an den edeln Schwung, in dem ihre rutenschlanken Beine sich in die Hüften ausbogen. Sie blies in eine Muschel und schwenkte mit der andern Hand ein Büschel von Kräutern und Blumen.

Die Frauen folgten den Bewegungen. Sie gingen vier und vier in einer Reihe, und Seeschwalbe immer voran. Seeschwalbe bog in zarter Spannung ihre Knie heraus, drehte sich halb um und auf wie eine Schlange, die tonberauscht sich zu unbewußten Bewegungen aufrafft, und zog die andern zu denselben Schritten hin, blies hoch und tief eintönig in ihre Muschel, und das Bündel von Blumen und Blüten schaukelte durch die Dunkelheit heran, auf Pirath zu. Der sah die zwei ungleichen, starken und spitzen Brüste wie reife Kokosnüsse dunkel und fest sich unter den Schultern spannen. Am schönen Leib wedelten knisternde Blumen und Sträuße, und der Bauch war in seiner bronzenen Rundung nackt und unbeweglich. Das sah Peter herankommen, mit kaum betonten Rhythmen hin und her weichen, ruhig und eben, denn die Frau liegt still unter dem Leib des Mannes ...

Peter saß da, alle fünfzig Weiber tanzten nur für ihn, all die schmalen Beine stiegen so schön in die Hüften nur für ihn, all die breiten Weiberschultern rundeten sich so edel in die Arme nur für ihn. In der mondgoldigen, sacht verklärten Finsternis dämmerten die beiden Kugeln, die von den Beinen getragen wurden, wie von Säulen, die aus lebendigen, verhaltnen Tieren gebildet waren. Die Kugeln ruckelten sich rundend auf und ab, ihm entgegen. Er saß da und war ein Pascha, die harrende Raserei eines göttlichen Begattens und Erzeugens schwoll ihm aus der Weiberschar und der millionenfach verschlungenen Waldesnacht entgegen. Schwellend wartete die rauschende Heimlichkeit des Waldes um den Tanzplatz, und der Liebestaumel von Leuchtkäferscharen knisterte hinter den Tänzerinnen im finstern Wald, entzündete sich, verlöschte, glühte wieder an, verschlang sich zu Licht und Nacht, zu Leben und Tod.

Peter löste seine heißen Augen nicht mehr von Seeschwalbe, die wie ein weiblicher Heros mit ihren melancholisch starren, unheimlich harten Muscheltönen und ihrem traumfremd behexten Vorausschreiten den Tanz leitete. Peter wußte, daß seine Stunde schlug.

Die Weiber wanden sich, wie zwischen Finsternis und Licht kletternd, mit den leis knatternden Blattbüscheln, den unerbittlich eintönigen, jähen Psalmen sinnloser Worte, mit Geruch von Käfern, Tigern und frisch geschälten Ruten an ihm vorbei über den langen Tanzplatz, und auf einmal verschlang die satte Finsternis wieder Ton, Tanz und Leib, wie sie am andern Ende des Platzes vorhin Ton, Tanz und Leib unversehens ins Flimmern des Mondlichtes geschoben hatte. Die Leuchtkäfer beeilten sich bei ihrem göttlichen Akt und funkelten über der Stelle, die die Weiber in Dunkelheit verschlungen hatte, wie Diamanten, die sich umkreiselnd vom Himmel fielen, aufblitzten und verlöschten und aufblitzten.

Peter stand auf und ging ruhig davon. Seine Umgebung hatte sich halb aufgelöst. Ein Teil saß, von der schweren Verdauung an den Boden geheftet, und schaute ihm blöden Sinnes nach. Sein hoher weißer Körper leuchtete in versprühenden Umrissen den Rand des Tanzplatzes dahin, wie ein heiliges, ehrfurchtbeladenes Tier. Er ging auf die Stelle zu, wo die Weiber verschwunden waren. Peter fand die Seeschwalbe gleich. Er legte seinen Arm über ihre edel gerundeten Schultern und zog sie sacht und selbstverständlich mit in den Wald.

Sie gingen rasch davon ins verschlungene Dickicht hinein, lange Zeit, bis die Entfernung und die Wirrnis der Pflanzen und Bäume den Lärm des Tanzplatzes von der Welt wegwischten. Dann sanken Lianen, junge Palmblätter, hundert Pflanzen, die von einem satten Drang emsig gefüllt waren, über sie. Tausend Käfer überstiegen das Hochzeitsgewölbe der Pflanzen und jungen Palmen. Zwischen dem an- und ausfunkelnden Liebesbegehren der Leuchtinsekten haschten sich Hunderttausende von dunkeln und unscheinbaren Kreaturen. Die Domhallen des Urwaldes breiteten sich hoch und schützend über ihnen aus, und der Mond, der vor einem Tag die Fluren Europas betastet hatte, schmückte den First der Kathedrale mit seinem ruhigen Glast und sickerte wie ein sanfter Segenquell des Alls zwischen den Blättern nieder bis auf das schwarze fette Bett Regenbogens und der Seeschwalbe.

Das Tanzfest, ganz hinten in der Welt, ging weiter. Dem Frauentanz folgten die Tänze der Totemgruppen der sieben Dörfer, in denen die Männer eines jeden Stammes pantomimisch das Tier vorführten, das ihrer aller Vater war. Die Tänze gingen bis in die späte Nacht, und dann kam der neue Tanz „Regenbogen“. Aber während die besten Tänzer der sieben Dörfer tanzten und sangen, wie der Gott Regenbogen nach Kililiki kam und was er dort verrichtete und welcher Segen er dort war, und während sie das farbig bemalte Symbol aus Holz, auf dem alle Ereignisse niedergezeichnet waren, mit Grazie und Kraft in ihren schlanken Armen hin und her steuerten, in schwierigen Sprüngen, Stellungen und Bewegungen die Erlebnisse Peters zu Religion werden ließen, ging dieser allein durch die finstern Wälder. Er hatte sich mit einer sanften Bewegung von Seeschwalbe getrennt, die noch immer die schwarze Erde umarmte, erdrückt vom göttlichen Wunder, das ihr widerfahren war. Sie hatte ihre Hände zwischen Pflanzen in den dampfigen Boden gegraben und spürte an ihren Fingerspitzen die Hochzeit mit dem Geist, der in der Erde drinnen lebte und webte, und ihr Gesicht, das, nachdem der Gott sich von ihr gelöst hatte, mit finstern Zügen, in wilder Begier sich in die Blätter drückte, lag dort auf einem Kissen, durch das alles Leben der Welt pulste, die sie kannte.

Peter schlug sich durch das Gestrüpp bis ans Meer. Es war Ebbe. Der helle Sand leuchtete im Mond, wie eine weithin schwingende Bahn zu einem Zauberland. Was in dem schweißigen Schoß des Nachtwaldes geschehen war, stürmte durch seine Adern, fiel und stieg immer wieder mit wollüstiger Gewalt in sein Herz, verebbte und flutete neu und gewaltvoll auf. Der Mond schien anders. Das Meer war nicht mehr wie sonst. Die Nachtvögel kannten ihn. Er war dem fliegenden Hund, der sich vor ihm von einer Palme warf, Bruder. Er spürte die harmlosen schönen schlanken Schlangen, die nah im Gebüsch schliefen. Er roch durch die Finsternis die Früchte auf den Bäumen und im Boden. Er sah die nächtlich erregten Käfer in den schwarzen Rinden der Bäume knisternd übereinanderfallen. Er hörte aus den nur sanft heranwogenden Geräuschen des Tanzplatzes die Menschen dem Pulsschlag der Schöpfung taumelig hinfallen.

Er schritt weit und stark aus und sah seinen weißen Körper die Dunkelheit, die an ihn anfloß, leuchtend zurückstrahlen. Die Kraft seiner Schritte gewann etwas Symbolisches: er ging mit ihnen hemmungslos machtvoll, einer wunderbaren großen Kindheit entgegen. Vor ihm stand der Beginn einer neuen Rasse. Die Welt kreiste um ihn in Metamorphosen. Es ging vor sich wie eine Änderung des Alls.

Als er nach einer langen Wanderung in die Nähe seines Bootes kam, bemerkte er, daß jemand drin saß, und er sah gleich Seeschwalbes großes, muschelweißes Gebiß herrlich durch die Nacht ihm entgegen leuchten. Er teilte mit ihr seine Matte, und sie schliefen mit starken und erregten Atemzügen neben einander.

Die tanzenden Dörfer waren noch beisammen. Die Musik war ihnen mit brutaler Hitze ins Blut gekommen und hatte sie über die Laute von Wogenschallen, Windesbrausen, Nachttönen, Donnergeknatter, Vogelsang, Insektenzirpen, Blattrauschen und die eignen, nach Wohllaut lechzenden Zungen, dem in aller Macht ausgeglichenen guten und bösen Herzen der Schöpfung zugeworfen. Als dieser verbindende, ursprüngliche Rausch aufs höchste gestiegen war, hatte Möwenschnabel einen großen Einfall bekommen. Er hatte Regenbogen mit der Seeschwalbe fortgehen sehen. Er wußte, daß Regenbogen nun auch die Weiber Kililikis nahm, und er sprach:

„Männer der sieben Dörfer, so spricht der König zu euch in der Tanznacht: Der Gott Regenbogen hat die Seeschwalbe mit in den tiefen Wald genommen. Der Gott Regenbogen setzt sich nun an die Quelle des Lebens, da er jetzt auch über unsere Frauen kommt. Der König aber weiß etwas. Der König weiß, daß Regenbogen nichts weiß von dem Steinbruch Mutter, von den rothäutigen Magiern und ihren himmelhohen Steingöttern, die Tag und Nacht sich unsere Seelen erwünschen. So spricht der König zu euch, o Männer: Die Steingötter im Steinbruch Mutter leben, um die Seelen von den Körpern zu trennen, denn seit unsere Mutter Kililiki und unser Vater Ulawun den Steingöttern die Insel abgekämpft und abgenommen und die Steinkünstler in den Steinbruch eingesperrt haben, leben die Steingötter von unsern Seelen. Aber der Gott Regenbogen, der vom ewigen Geist kommt, der Körper und Seele zueinander tut, wünscht, daß sie zusammen bleiben. Darum spricht der König also zu euch: Die Steingötter, die in die Wolken ragen und die blaue Matte auf ihren Stirnen tragen, sind dem Gott Regenbogen feindlich. Wir wollen sie uns verpflichten, damit wir ihre Macht besitzen gegen Regenbogen und er uns nicht beherrscht. Und es spricht der König so, daß die Steingötter auf die Seelen erpicht sind, und daß wir Männer der sieben Dörfer ihnen sieben Menschenleben opfern, um ihre Gunst zu gewinnen, in jeder der kommenden Vollmondnächte ein Menschenopfer ...“

Es ging ein Zittern durch die schwarzen Männer. Ein jeder konnte das Opfer sein, viele waren mit den Mädchen in den tiefen Wald gewatet, und die Gier des Blutes überströmte sie dort wild und menschenfern. Aber Haufen standen noch am Tanzplatz und hielten Schau unter den Weibern. Möwenschnabel schritt geradeaus und Männer flüchteten nervös in die Finsternis. Seine Keule hieb einen von hinten nieder. Der Getroffene sank lautlos hin. Dann nahm der König ein Büschel weicher Farnkräuter, tauchte sie ins Blut des Getöteten und ging zu seinem Dorf. Er schritt bis ans Boot Regenbogens vor und spritzte von dem Blut auf die Sträucher rundum, schritt dann rasch bald geradaus, bald wieder zurückgehend, bald im Kreis, bald in Mäandern bis in den Wald und spritzte überall Blut aus und dachte sich, daß dieser Irrweg, den er mit dem Opferblut gezeichnet, die Schritte des Gottes Regenbogen abhielt, den Weg nach dem Steinbruch Mutter und zu seinen steinernen Feinden zu finden.

Als am nächsten Mittag Seeschwalbe damit beschäftigt war, in einem Kochloch der Kochhütte ihres Ohms Möwenschnabel für Regenbogen und sich das Frühstück zu bereiten, erschien auf einmal ein Trupp von Mädchen und Weibern im Dorf Vater, ging mit Lachen und Lärm zwischen den Hütten durch und auf den Strand zu. Sie kamen ans Gewese des Königs, blieben stehen und schoben sechs junge schöne Mädchen aus sich heraus. Eine ging vor und trat langsam, mit niedergeschlagenen Augen und doch lächelnd an das Boot heran, in dem Regenbogen saß, entblößte das langzähnige Gebiß, das im Schatten funkelte wie ein herrliches Gestein, legte die Arme im Kreuz auf die Brust übereinander und sagte:

„Rotmuschel spricht zu dir, o Gott Regenbogen, also: Rotmuschel will ihre Hütte neben dein Haus bauen und kleine Menschen mit dir zeugen.“

Dann trat Rotmuschel leis lachend und ernst, mit ihren schlanken hohen Beinen wieder in den Kreis der Frauen hinein, aus dem sich sofort eine zweite löste, zu Pirath trat und dasselbe sagte wie Rotmuschel. Eine dritte folgte. Dann kam noch eine vierte, eine fünfte, und mit der sechsten waren die Heiratsanträge erschöpft. Der Troß der Weiber trollte plaudernd und lachend von dannen und verschwand im Gebüsch aufs nächste Dorf zu.

Seeschwalbe kam zu Regenbogen. Sie lachte und sagte: „Wir wollen Pfahlhaus und Frauenhütten bauen und eine Kochhütte.“

Aber Peter war anfangs etwas überrumpelt. Auf Kililiki war es Sitte, daß die Mädchen um den Mann anhielten. Die sechs Mädchen, die diese Zeremonie gerade vor ihm erfüllt hatten, kannte er. Sie waren die schönsten Töchter der Häuptlinge. Die Auswahl zeigte ihm, daß die Bewerbung der Wunsch der Dörfer war. So sehr ihm Seeschwalbe in der ersten Zeit seines neuen Ehelebens zu genügen schien, so war ihm doch von Anfang an klar, daß er nicht „nein“ sagen könnte. Seeschwalbe umsprang ihn den ganzen Tag, überschäumend von den neuen Dingen, in die er und sie auf einmal geraten waren, und sie plauderte ununterbrochen über das, was nun geschehen möge und müsse.

Er ging, den Forderungen der Gewohnheit folgend, zum Mutterbruder eines jeden der Mädchen und sagte, er nehme das Angebot an.

Und noch am Abend wurde das durch alle Dörfer bekannt. Ein Glücksrausch flutete durch Häuser und Hütten, und die Bräute waren Gegenstand verstärkter Achtung, wurden beglückwünscht und mit Schmuck aus Muscheln und Zähnen beschenkt. Es wurde eine Versammlung von Möwenschnabel zusammengerufen, und man beschloß, Regenbogen und seinen sieben Frauen einen Platz zu umhegen und ein großes Pfahlhaus und Weiberhütten und eine Kochhütte zu bauen. Die Männer sagten: „Regenbogen wird reif und süß wie ein Mango! Er wird unsern Mädchen junge Götter machen!“ Es entstand ein heißes Wettbegehren unter den Dörfern um den Bau des Wohnhags. Gleich am nächsten frühen Morgen gingen alle Männer in den Wald und fällten Bäume. Die Holzschnitzer suchten sich gerade und fehlerlose Stämme und begannen sie schön auszuschnitzen und zu bemalen und jedem seinen Sinn zu geben, so wie ihn Haus- und Dachpfosten haben mußten. Ein Platz wurde neben dem Königshag gerodet und geebnet und die Arbeit rasch begonnen. Das Bauen der Hütten dauerte Monate. Zuerst erstand, größer und mächtiger als das Königshaus nebenan, reicher mit Schnitzereien und Malereien versehen, üppiger in der Formung, sorgsamer und verliebter in der Pflege der Einzelheiten, das Pfahlhaus. Es gedieh rasch hoch. Langsamer, weil der Schwung schon im Abebben war, entstanden rundum die sieben niederen Weiberhütten.

Währenddessen lebte Peter mit der Seeschwalbe in seinem Boot. Sie gingen zusammen fischen. Sie legten eine Pflanzung an. Seeschwalbe wob Matten, kochte und umgab den Mann mit einer schaumigen maßlosen Sorgsamkeit, wob ihn ein in ihre sorglose Heiterkeit, strickte ein liebliches Netz um ihn mit ihren Einfällen, die wie von jungen wilden Tieren so tolpatschig, so beißend spielerisch, so flammig rasend waren. Peter erlebte diese göttliche Zeit, als sei er ein Bergzug, der untätig unter Frühling und Sonne liegt und den von selbst Gärten und Wälder ansprießen. Die Scheibe der Tage und Nächte drehte mit ihm wie ein wunderbares, hastig mit Wollust und Sorglosigkeit, mit Musik und Farben erfülltes Karussell. Der sonnenbronzige Leib des jungen Weibes war um ihn und in ihm wie ein rauschender Bach, der die Kraft und die Frische des Gebirges trotzig durch die schweißige Sonnenniederung warf und Tiefen des Erschauerns und Gluten der Berührung hatte, die geheimnisvoll dunkel waren wie die Schöpfung, der er mit leidenschaftlicher Zweckergebenheit lebte. Peter sah mit Sorge der Zeit entgegen, in der er sein Boot und seine so sanft fließende Zweiheit mit Seeschwalbe aufgeben, in den Hag einziehen und für die Allgemeinheit der Insel leben mußte. Das Boot hatte sehr gelitten und brach schon überall morsch auf. Vom Segeldach war nichts mehr übrig. Er hatte ein Gestell aus Stämmen über das Boot errichtet, und die Eingebornen hatten es mit einem Palmblätterdach eingedeckt. Seeschwalbe trieb zum Umzug in den Hag. Ihre sozialen Gefühle verlangten gebieterisch diese Änderung, die ihrer Stellung, als erste und Hauptfrau Regenbogens, erst den vollen Glanz verleihen sollte. Mit einer kindlichen Hartnäckigkeit und einem raubtierhaften Egoismus betrieb sie ihre Agitation, war mit Spott und Anfeuern Tag für Tag hinter den arbeitenden Männern her. Aber sie konnte nicht hindern, daß der Schwung, mit dem begonnen worden war, hinstarb. War es in der ersten Zeit der Arbeit möglich gewesen, ein Dach in vier Tagen zu vollenden, so brauchte man jetzt zum Legen eines jeden Palmwedels die Zeit zwischen Frühstück und Abendmahlzeit, und viele Männer blieben oft aus.

Aber zugleich beschäftigten sich die Dörfer schon mit den Vorbereitungen zum Hochzeitsfest. Mangostein war dabei, einen neuen Tanz zu erfinden. Man sang und summte und machte im Beisammenhocken abends sitzend schon allerlei Tanzbewegungen und sprach nur noch vom Fest.

Da geschah es eines Morgens, als Regenbogen und Seeschwalbe zusammen in ihrer Pflanzung gearbeitet hatten, daß sie sich in ein am Rand des Ackers stehendes Gebüsch hineinzwängten. Sie wollten im dicken Schatten ausruhen. Sie saßen dicht aneinander, schauten stumm durch’s Laub hindurch auf den sonnenbedeckten Acker, als auf einmal jener fremde Rothäutige mit dem dicken Kopf und den Schlitzaugen plötzlich jenseits aus dem Gestrüpp auftauchte und mit großen Sprüngen durch die sonnenbeschienene Pflanzung herüberhüpfte. Sowohl Peter wie Seeschwalbe sahen ihn. Peter merkte, daß das Weib, dessen Haut die seine berührte, heftig aufzuckte. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, der sonderbar in zwei Tönen ging, so wie ihn Peter nie auf der Insel gehört hatte. Der kleine Mann mit dem dicken Kopf schaute einen Augenblick heftig um sich und glitt dann wie eine Eidechse über den Boden in das nächste Gebüsch hinein.

Peter tat zunächst nichts. Er verhielt sich so, als ob er den Geheimnisvollen nicht bemerkt hätte, und er überlegte den ganzen Tag, wie er diesem Unbekannten auf die Spur kommen könnte. Er wußte, daß selbst Seeschwalbe das Geheimnis nicht ohne weiteres preisgeben würde, denn es schien etwas mächtig Dämonisches darin verknüpft zu sein. Er erinnerte sich, wie aufgeregt Möwenschnabel ihm die Reise um die Insel ausreden wollte, als er damals zum erstenmal den Fremden gesehen hatte.

In der Nacht weckte Peter plötzlich Seeschwalbe. Sie lag neben ihm auf dem Boden des Bootes wie ein junger Baum in der Nacht. Er stieß sie an. Sie rührte sich nicht. Er fuhr ihr über die Augen, über den Leib, alles war vergeblich. Sie schlief wie ein ins Meer versunkener Stein, so schwer und unlöslich von ihren Träumen überwogt. Der Tod ihrer Nacht deckte sie gewaltvoll ein. Da erhob Peter sich, schöpfte in seinem Eimer Wasser und ließ es langsam über ihr Gesicht fließen. Nach und nach bewegten sich ihre Züge. Sie drehte sich im Schlaf um. Aber das Wasser verfolgte sie weiter. Sie riß die Augen auf. Peter faßte sie unter die Arme, zog sie hoch, und als sie saß und sich die Augen gerieben hatte, sagte er ihr rasch:

„Auf, auf, Seeschwalbe! Es ist ein guter Wind. Wir segeln zum Nordufer.“

Da war Seeschwalbe mit einemmal mit großen und entsetzten Augen ganz wach und rief: „Nein!“

Peter lächelte: „Weshalb nein?“

Seeschwalbe aber starrte ihn nur aus der Finsternis heraus an. Peter beugte seine Augen tief zu ihrem Gesicht nieder und sah, daß das Entsetzen darin stand. „Auf! Auf! Du Seeschwalbe!“ sagte er noch einmal. Aber das Weib rührte sich nicht. Es war, als ob die Aufforderung sie mit einem dumpfen Zauber belegt habe. Peter hielt seine Augen nahe den ihrigen und sagte dann scharf und hart: „Ich will wissen, woher der Schiefäugige kommt!“

Seeschwalbe atmete mit einem Schrei auf und blieb stumm. Sie saß da und hüllte sich in die Schauer ein, die ihr über Herz und Haut liefen. Es war ihr, als schwirrten die bösen Dämone durch die Luft wie Eintagsfliegen. Sie zwang sich, mit keinem Nerv zu zucken. Vielleicht sahen sie sie nicht. Der Steinbruch Mutter lag im Norden der Insel als deren heiligstes Tabugeheimnis, und außer von des Königs Mund durfte sein Name nie ausgesprochen werden, durfte nie ein vorwitziger Willen ihn aufsuchen. Denn im Steinbruch Mutter, wo die Schlitzäugigen wohnten, wohnte auch der Tod.

Peter forderte Seeschwalbe auf, zu antworten. Sie zitterte und schwieg, und von plötzlicher Todesangst bewältigt, fiel sie zu ihm nieder, drückte sich an seine Beine an und preßte ihren Kopf von rasenden Schauern vergewaltigt, zwischen seine Knie. Er aber hob sie sacht auf, und ohne seinen strengen Ton zu ändern, beruhigte er sie. „Ich bin der, dem kein Gott etwas antut, du Seeschwalbe. Das weißt du!“ Zum erstenmal wollte er die Macht benutzen, die Kililiki ihm gegeben hatte. „Wenn zehn mal zehn mal zehn böse Geister im Norden mit Rotangschlingen die Menschen unters Wasser ziehen, so weichen sie erschrocken und bang, wenn ich komme!“ fuhr er fort. „Mein Tabu ist das mächtigste der Insel, und kein Lebender und kein Geist wagt es anzutasten. Das Verderben wäre ihm gewiß. Sieh, du Seeschwalbe, dies hier nehme ich ...“ Er ergriff die Revolver, die er stets in einer wasserdichten Kiste bereitliegen hatte ... „damit hab ich den König getötet. Und wir segeln im Nachtwind nach Norden, Regenbogen und du, Seeschwalbe. So spricht Regenbogen zu dir, nicht bös, weil du unfolgsam bist, aber streng und gewiß.“

Seeschwalbe begann ein seufzendes Wimmern auszustoßen. Peter spürte, wie sie ihr Gesicht voll an seinen Leib drückte, um nur nicht in die Finsternis zu sehen. Ihre Hände griffen erregt um seine Rippen, und die Finger krallten sich in ihn. Er fühlte, daß die Angst vor dem Geheimnis, das in dem Schiefäugigen lag, sich lockerte, und fuhr fort: „So spricht Regenbogen zu dir, du Seeschwalbe. Er entbindet dich des Schweigens über den Schlitzäugigen. Es sind keine bösen Geister um dich in der Finsternis. Sie fürchten meine weiße Haut. Du kannst sprechen, du Seeschwalbe. Du mußt sprechen! Denn Regenbogen will es. Regenbogen wird deine Worte in sich nehmen und gleich zerstören. Kein Ohr auf der Insel, in der Luft oder im Wasser wird sie hören. So spricht Regenbogen.“

Peter kämpfte noch lange und heftig auf diese Weise mit ihr, bis schließlich seine weiße Energie ihre dunkle Weichheit besiegte, ihr kleines angstgemartertes Hirn mürbe machte, und wie sie sich einmal entschlossen hatte, das Geheimnis des Steinbruchs Mutter preiszugeben, da war all ihr Vertrauen mit kindlicher Sicherheit bei dem weißen Gott. Sie hatte keine Angst mehr. Jahrelang hatte das gefahrgeladene Tabu jenes heiligen Platzes ihre Phantasie schwer bedrückt und geknechtet. Nun war mit einemmal die Phantasie frei, und sie flog auf wie eine Schwalbe, die sich aus dem Maul einer Schlange retten konnte. Sie erfaßte Peters Hand mit ihren beiden Händen, setzte sich auf die gekreuzten Beine nieder und sagte: „Seeschwalbe will sprechen!“

Dann erzählte sie:

„Einmal begann es auch bei mir, da entfloß zum erstenmal meinem Leib das Blut. Da durfte mich vier Tage und Nächte kein Mann sehen. Und ich saß mit meiner Mutter in der dunkeln Hütte. Da sprach meine Mutter zu mir: ‚Jetzt ist die Zeit da, daß ich dir vom Steinbruch Mutter erzähle.‘ Da erzählte die Mutter: Im Norden der Insel ist ein Loch in der Küste. Da ist ein großes Loch und hat hohe glatte Wände, und nicht vom Land kommt man hinein, sondern nur vom Wasser. In diesem Loch wohnen die schlitzäugigen Magier. Sie sind Menschen wie wir, und wenn die Seele sie verläßt, stirbt ihr Leib wie bei uns. Aber mit ihren Händen können sie sich von der Insel Kililiki versetzen, und dann leben sie über den Wolken, wo der große Geist alles Lebens wohnt. Dann ist es, als ob ein jeder in der tiefen dunkeln Weiberhütte droben über sich selber herfiele. Dann zeugt ein jeder mit sich selber, wie der Wurm sich in ein Altes und ein Junges abspaltet. Sie brauchen nicht Mann und Weib zu sein. Dann schlagen ihre Hände mit dem harten Nephritbeil große Menschen aus den Felsen, die mit den Füßen auf der Erde stehen und mit der Stirne die blaue Decke durchbrechen. Dann gehen Geister in diese Steine wohnen, die geheimnisvolle Macht über die Männer und Frauen haben. Als Kililiki vor vielen Zeiten übers große Wasser zu der Insel kam und zum erstenmal ihren Fuß aufs Ufer setzte, kamen die Schlitzäugigen aus dem Wald und wollten sie töten. Da rief Kililiki aus dem Wasser ein Krokodil herbei. Da kam das Krokodil und ging auf die Schlitzäugigen zu und zerknackte mehrere. Die andern aber sperrte es in das große Loch an der Nordküste ein. Kililiki baute ein Dorf. Das nannte sie Vater. Da nannten sie das Loch in der Nordküste, in dem die schlitzäugigen Magier wohnen: Mutter. Da bauten ihre sechs Söhne, die sie mit dem Krokodil erzeugte, ein jeder ein Dorf. Deshalb sind sieben Dörfer auf Kililiki. Das Krokodil aber hieß Ulawun.

Aber die Schlitzäugigen, die das Krokodil in das Loch eingesperrt hatte, schlugen aus den hohen Felsen ihre steinernen Götter. Sie trachteten nach den Seelen der Menschen. Denn sie würden zusammenfallen, wenn sie keine Seelen bekämen. Alle Seelen aber, die den Körper verlassen, werden vom Stammestier den großen steinernen Göttern in Mutter gebracht, und sie steigen langsam im Leib des Gottes hinauf, und wenn sie in die Stirn kommen, nimmt sie der große Geist über den Wolken wieder zu sich. Auch deshalb müssen die Steine immer neue Seelen bekommen. Die Schlitzäugigen arbeiten an jedem Steinbild so lange, wie eine Mutter und ihre Mutter und ihre Tochter leben. Dann ist immer ein Steinbild fertig. Dann ruft die Garamut, und die Männer der sieben Dörfer müssen alle nach Mutter kommen. Dann beben sie sehr. Dann steht am Fuß des fertigen Steines der älteste Mann der Schlitzäugigen. Er ist bemalt und geschmückt wie bei einem Tanzfest. Er bekommt sehr viel zu essen. Dann ist das Essen fertig. Dann legt er sich vor das fertige Steinbild. Vier Männer kommen, und an jedem Bein fassen ihn zwei an. Dann drehen sie ihn so lange herum, bis er wie ein Stück Holz in einem Strudel kreiselt. Dann schlagen sie seinen Kopf an den Fuß des steinernen Gottes, und seine Seele geht sogleich als die erste in den großen Gott wohnen und klettert in ihm hinauf, bis sie in die Stirn kommt und aus der blauen Decke herabschauen kann und ganz Kililiki sieht und jeden Mann und jede Frau sieht, deren Seele der steinerne Gott haben will. Das ist die Geschichte des Steinbruchs Mutter und der schlitzäugigen Magier. So erzählt sie dir die Seeschwalbe, so wie sie sie von ihrer Mutter gehört hat.“

„Wann waren denn die Männer der sieben Dörfer zum letztenmal im Steinbruch Mutter?“ fragte Peter, den diese Erzählung geheimnisvoll aufwühlte und der aus ihr tiefe und ewige Ahnungen des Menschseins empfing, so dunkel, so verschlungen, wie die Erzählung selber war.

Seeschwalbe antwortete: „Lange bevor meiner Mutter Mutter Seele ihren Körper bezogen hatte. Ich wohnte noch beim großen Geist über den Wolken.“

Dann schwiegen beide. Seeschwalbe war frei und glücklich, daß sie einmal dies Schwere und Verborgene aus ihrem Herzen herausnehmen konnte und sicher vor Gefahr war, weil Regenbogen eine wunderbare, über die Geister gebietende Macht besaß. Sie rutschte von Peter ab und sank plötzlich hin. Sie lag gebogen wie eine Katze auf der Matte und war gleich im tiefsten Schlaf. Peter legte sich auch wieder hin. Aber der Schlaf floh ihn, und während der dunkle schillernde Himmel seine gläserne Starrheit hoch über die einsame Insel wölbte, grübelte Peter hinter dem Sinn und den Zusammenhängen der Erzählung her, in der die Zuwanderung der sieben Dörfer zu der ehedem von schlitzäugigen Menschen bewohnten Insel in verwirrtem Zusammenhang mit Teilen von einem Erschaffungsbericht und dem Glauben an einen Kreislauf alles Lebendigen vermischt war.

Es regte ihn auf, wie der Glaube dieser Menschen die Tätigkeit der steinhauenden Künstler mit dem geschlechtlichen und mit dem ewigen Schöpfungsprozeß gleichstellte und die Bildner der Steingötter ihren Erschaffungen eine übermenschliche, geisterhafte Macht über die Menschen und sich selber einhauchen konnten. Er dachte an den Schöpfungsbericht der Bibel, daß Gott aus Lehm einen Menschen formte und Leben in den toten Stoff blies.

Peter beschloß bei sich, am Morgen gleich zum Steinbruch Mutter zu segeln.

Als sie Bananen zum Frühstück gegessen und zu den kalten Resten eines Huhns Kokosmilch getrunken hatten, sagte Peter zu Seeschwalbe: „Du Seeschwalbe, du gehst heut allein in die Pflanzung. Ich bleibe hier.“ Er dachte sich, Seeschwalbe widerspricht, argwöhnt und will mehr wissen. Wenn ich ihr sage, wohin ich gehen will, so erfindet sie Schauerdinge von Geistern, um mir es auszureden. Aber Seeschwalbe nickte nur stumm: Ja! und ging gleich mit dem Tragkorb davon. „Regenbogen geht jetzt nach dem Steinbruch Mutter!“ sagte sie sich, als sie das Dorf durchschritten hatte und im Wald war. Geheime Schauer überrannen sie.

Sie dachte nach, was für einen Gegenzauber es gegen den Einfluß der Schlitzäugigen gab. Aber es bestand kein Kraut, kein Trank, keine Speise, keine Blume, keine Worte, keine Handlung, die den Menschen gegen den Steinbruch Mutter gefeit hätten, denn im Steinbruch Mutter wohnte die Höhle der ewigen Einkehr und Trennung. Zugleich sagte sie sich aber auch: „Du, Regenbogen, du bist weiß, wie ein Wolkenglanz, der übers Wasser streift, du bist groß und stark wie ein Irimabaum, du bist kampftüchtig wie eine Gottesanbeterin. Wer mag dir etwas antun können?“

„Hi! Hi!“ lachte sie mit einem tiefen Ton kichernd und warf sich vor kindlichem Genuß über einen Strauch. Sie purzelte rasch über den weichen Zweigen nieder auf den Boden und blieb in der tiefen Wiege des Waldes liegen, in der sie Regenbogen zum erstenmal in sich empfangen hatte, und lachte gurrend wie eine Taube in den Palmen am Meer und krähte grell wie ein Kakadu. Eine kleine dicke Grille streckte vor ihren Augen den Steiß aus dem Boden und rieb sich klirrend die Hinterbeine an die Flanken. Seeschwalbes Finger ergriffen sie unversehens, ihr leuchtendes freudiges Gebiß zermalmte sie im Nu, und sie schluckte die Bissen jauchzend, als ob sie einen Strahl des Erdglücks verzehren dürfte.

Peter machte sich derweil reisefertig. Er verpackte seine beiden Revolver in einen kleinen bastgeflochtenen Beutel, lud Eßzeug ins Kanu und nahm dann, um Möwenschnabel zu täuschen, das Fischgerät und die Schlinge und Klapper zum Haifischfang mit. Der König rief: „Ö! Ö!“ herüber. Peter sah die Ausleger des Einbaumes nach, zog die kleine Matte auf und stieß das Boot ins Wasser. Dann segelte er gleich nahe am Ufer um den Vorsprung, der ihn den Blicken des Dorfes entzog. Der Wind ging gut. Er kam von Südwest. Peter zog an der dorflosen Küste entlang, an der sich überall uralte Hünenbäume schwerfällig und gewaltig über den hellen Strand auswölbten.

Auch hier, wo keine Siedlungen waren, drangen Palmen empor, und ganze Scharen standen, wie steil erstarrte urhafte Riesenschlangen, über den Wald hinaus in der blauen Luft. Die Nüsse baumelten unter den Stützen der Blattwedel, orangenfarbig leuchtend in fetten Klumpen zusammen. Da dachte der einsame weiße Segler an die Pflanzung Matantuduk und an ein Werk, das er einst verrichtet hatte. Menschenzüge strömten an ihm vorbei, die ihm einst nahe gestanden hatten, und alles war doch ungreifbar blaß, war wie eine Projektion aus der Raumlosigkeit heraus in die dampfig-heiß um ihn verrinnende Sonnenatmosphäre. Von der rasch verfließenden Vision behielt er nur einen Vorsatz in sich, über den er halb sich selber lächelnd leid tat und dennoch einen Atemzug von Zukunft empfing: er wollte die Einwohner der sieben Dörfer anlernen, ordentliche Palmenpflanzungen zu schaffen.

Die Insel war geformt wie ein Kreissegment. Der Bogen lag nach Süden und trug die sieben Dörfer in sich. Die beiden Schenkel waren nur unbegangener Wald und liefen nach Norden spitz in ein mäßig hohes baumüberschwemmtes Felsgebirge aus. Peter segelte an der Westseite entlang. Das Dorf Vater lag hier am Beginn des Kreisschnitts, als erstes Dorf der Reihe, und war man um die scharfe Ecke gesegelt, so war nichts mehr von Hütten oder Menschen zu sehen. Die Sonne stieg steil auf. Die niedern Berge näherten sich mit immer häufigeren, aus dem Wald aufsteigenden Felsklötzen dem Ufer. Das Kanu zog nun rasch vor dem Wind einher. Peter hielt es in Steinwurfweite vom Ufer. Er mochte vier Stunden unterwegs sein, als er in seiner Fahrtrichtung das kleine Gebirge gerade und plump aus dem Meer aufsteigen sah. Da stellte er das Boot noch mehr unter die Küste, und eine große Ungeduld erfaßte ihn. Er nahm die Revolver heraus und legte sie zurecht.

Nach einer langen Weile kam er unter den Felsen, an dem eine sanfte Dünung schaukelte. Er umfuhr den Felsen. Er sah, daß er wie eine Bastei ins Meer hineinragte, kahl und blaugrau und zeitgehämmerter Granit war. Der Wind trieb das Boot an. Peter strich rasch das Segel ein und ruderte. Jenseits des Felsens lag ein bewaldeter Uferstreifen flach auf dem Meer. Aus den Bäumen dieser Küste stieg dann wieder rasch das niedrige felsige Gebirge an. Peter ruderte den Einbaum an den Felsen. Er wußte, daß er an seinem Ziel war. Den Felsen sah er im Bogen durch den Wald rückwärts schweifen und zweihundert Schritte vom Strand über den Bäumen sich wie einen Zirkus runden. Er wollte am Ufer entlang rudern und den Eingang in diesen Zirkus suchen.

Da sah er plötzlich in Manneshöhe über dem Wasser, das Flut hatte, einen Fußweg wie ein Band sich am Felsen dahinschlingen. Er ruderte zu der Stelle, wo der Wald an den Felsen stieß. Dort zog er das Boot aufs Ufer, band sich die Revolver an und kletterte mit Hilfe eines Baumstamms auf den Steg im Felsen. Dieser Steg war nicht breiter, als sein Fuß lang war. Peter mußte sich mit dem Rücken gegen den Felsen weiterschieben. Die Äste der Bäume drückten sich fest an den Stein. Mühsam zwang Peter sich weiter hindurch. Dann verließ der Pfad den Felsen und wand sich ins Gestrüpp hinein, und mächtige Baumkronen, von hellen riesenhaften Stämmen getragen, über sich, drang Peter vor.

Auf einmal stand er am Rand eines Kessels. Er sah zwischen den Bäumen durch, unter denen er stand, untief zu seinen Füßen einen weiten, von Baum und Gestrüpp freien Kreis. Die Sonne schien hinein. Er trug die Spuren von Arbeit und Menschen, aber Peter sah keine Seele. Er hörte nur einen Lärm, wie ein auf Dächer prasselnder Regen. Auf einmal bemerkte er, daß der freie Platz jenseits einen Steinwurf weit an einer dunkeln Felswand aufhörte. Diese Felswand stieg steil und eben auf, hoch wie ein Seglermastbaum.

Peter stand erschrocken still. Die glatte ungeheure Wand sah schwarz aus wie ein rasender Gewitterhimmel. Peter strengte sich an, zwischen den Bäumen durchzuschauen, die sich auf seiner Seite über die Kante des Kessels warfen, und allmählich sah er, daß die Wand nicht glatt war. Er erkannte mit schlagendem Herzen, daß schwarzleibige Gestalten mit ungeheuren Leibern aus dem Granit hervorragten. Es war, als hockten sie auf kurzen plumpen Beinen im Gestein und der Leib reckte sich dann frei auf. Der Bauch stieg wie eine Kuppel über die Schenkel. Die Schultern rundeten sich ab, schwerfällig und drohend wie Bastionen. Die Arme lagen wie hünenhafte Schlangen über den Bauch gekreuzt, und über ihnen stieg die Brust auf und war aufgestautes steinernes Meer, das sich jeden Augenblick verhängnisvoll über die Insel loswälzen kann. Der Kopf war gebildet wie ein mächtiger oben sich ausweitender Kegel; als eine Balustrade baute sich die Stirn auf, niedrig und scharf vorgewölbt, und die großen schiefstehenden Augen waren flach und trugen die schauerliche Starrheit eines von Ewigkeit zu Ewigkeit dauernden Totseins in sich, das dennoch geheimnisvoll mit dem urlangsamen Wachstum des dunkeln Granits angefüllt war.

Peter sah eine Reihe von diesen steinernen Ungeheuern nebeneinander sich errichten. Sie waren wie Türme, denen ein Gott furchtbare, brutale Menschenformen gegeben hatte. Sie waren versteinerte Urtiere. Eines war wie das andere, und sie waren doch unterschieden unter sich. Schließlich erkannte Peter, daß seitwärts der Steinbilder der Felsen von zwei parallel in die Höhe laufenden Reihen kleiner Terrassen gefurcht war. Die Terrassen waren mit Bambusstangen untereinander bis auf den Boden und bis zum Scheitel der hohen Felswand verbunden.

Als er eine Weile angestrengt schaute, bemerkte er, daß auf den kleinen Terrassen sich etwas regte. Er trat unwillkürlich vor. Ein toter Ast zerkrachte unter seinem Fuß. Ein Ruf mit sonderbaren zwei gleichzeitigen Tönen stieß durch die Luft. Die Terrassen, die Peter durch das Laub nur in kleinen Flecken sah, schienen sich aufzulösen. An den hellen Bambusstangen rasten dunkle Leiber aufwärts. Peter, vom Schauer des Sehens, vom Willen zu nehmen, gestoßen, brach gewaltsam an die Kante des Kessels durch.

Er sah, daß sie nicht tiefer als eine doppelte Mannshöhe bis auf den Boden maß. Mit Hilfe eines überhängenden Astes ließ er sich hinabrutschen, fiel hin, sprang zugleich empor und lief, mit den Händen nach den Revolvern tastend, quer in den Kessel hinein, auf die Terrassen zu. Er sah einige kleine dickköpfige Menschen schon ganz oben an den Bambusstangen davonfliehen und erkannte zugleich, daß die Terrassen das Gerüst waren, von dem aus eine neue Steinfigur aus dem Felsen geschlagen wurde. Die kurzen schwerfälligen Beine waren schon fertig. Das Gewölbe des Bauchs hob sich über die Schenkel, die Brust, die Augen, die Stirn schauten auf ihn herab. Aber Leib und Kopf staken noch tief im Felsen drin.

Da rief eine Stimme: „He, du! Mann, Mann!“

Pirath schaute weiter in die Höhe, als ob er nicht gehört hätte. Er sagte sich: „Meine Ohren sausen von dem raschen Herabspringen und Laufen. Wie soll eine deutsche Stimme hierhin kommen?“ Aber gleich rief es wieder: „Du! Du! Mann! Hier! Hier!“

Da wurde es Peter so schwach in den Beinen, daß er sich zu Boden legte. Über ihn wuchsen die schwarzen Urtiere, die starren Menschenungeheuerlichkeiten, die das Leben Kililikis in sich aufsaugten und voll von Gewittern staken, denen alles Blut Sklave war. Aber entsetzlicher, grauenerregender als die granitnen Furchtbarkeiten, die sich gewaltvoll über ihn bauten, überstürzte ihn diese plötzliche deutsche Stimme, die auf einmal wie eine Katastrophe die Einsamkeit der Insel Kililiki und seine eigne weiße, erwartungsloser Ewigkeit ergebene Vereinsamung donnernd zerschmetterte.

Peter lag am Boden. Sein Herz stach wie ein auf- und abschnellender, an beiden Enden gespitzter Pfeil. „Ich werde irrsinnig!“ murmelte er. „Der Zauber des Steinbruchs hat mich vergiftet. In der Luft fliegt ein Wahnsinn. Die steinernen Götter sind alt und mächtiger als Europa ...“ stotterte er sich vor, halblaut, um seine Stimme zu hören und vergleichen zu können, ob die deutschen Worte, die immer zahlreicher, bald flehend, bald drohend, immer brüllender aus einem unsichtbaren Loch über ihn fielen, Laute einer anderen Stimme seien.

Nach und nach erholte sich Peter. Das niederschmetternde Entsetzen, das durch die grausame Plötzlichkeit dieser Laute ihn überkommen war, verlief sich in seinem Blut. Er erhob sich, die Stimme rief: „So komm doch, komm. Hier! Hier! ...“ Peter schaute rund um sich. Er sah eine Seite des Kessels in Höhlen ausgegraben, die wieder vorn zugebaut waren. Diese Höhlen bedeuteten wohl die Wohnungen der Schiefäugigen. Aber die Stimme kam nicht von dort. Peter ging langsam und angestrengt horchend auf die Laute zu. „Hier! Hier!“ brüllte es. „Mehr rechts! In der Ecke!“ Peter ging rasch ein paar Schritte vor, und dann bemerkte er, daß ein Winkel des Kessels mit jungen Bäumen bewachsen war, und daß ein haushoher Hag unter den Bäumen diesen Winkel abtrennte. Da eilte er dorthin, denn von dort erschollen die Rufe. Er suchte den Hag ab und fand bald eine kleine viereckige Tür aus dicken aneinandergebundenen Bambusstäben. Von außen konnte man sie mit einem Griff öffnen, und als er sie offen hatte und einen Augenblick sich besinnend zurücktrat, zwängte sich etwas in das offene Loch hinein, das Pirath zunächst für nichts andres als eine Masse hielt. Das Loch war eine Weile verstopft von der hellen Masse, die lebhaft arbeitete. Endlich zwang sie sich durch, und auf dem Boden lag ein ganz nackter weißer Mann, dessen Haut fast krebsrot gebrannt war und dessen Leib von einer mächtigen Überfülle an Fett schwabbelte.

Diese Gestalt rollte sich bis an Peter heran. Ein blonder kleiner Kopf hob sich aus der Masse heraus und stammelte zusammenhanglose Laute. Pirath sprach dem am Boden Liegenden nicht weniger verwirrte Töne zu, um ihn zu beruhigen. Aber auf einmal arbeitete der Koloß sich mühsam mit Händen und Beinen los und stand dann, ungeheuer, mit Falten von Fett behängt, vor Peter. Der kleine blonde Kopf mit kleinen blauen Augen saß wie eine Haselnuß auf den fettgepolsterten Schultern und öffnete plötzlich mit wütenden Lauten einen kleinen Mund. Es war Peter, als ob der Fettkloß ihn anbellte.

„Was! Du ... du ...!“ zeterte der Dicke mit einer fisteligen, nach Worten happenden Stimme. „Du wolltest mich da liegen lassen! Du wolltest mich da liegen lassen, du Hund, du falscher Engländer!“

Peter gewann bald die Fassung wieder und warf rasche beruhigende Worte in die Rede des andern: „Nein, nein! Ich bin ein Deutscher und schiffbrüchig auf die Insel gekommen wie Sie. Beruhigen Sie sich! Wie heißen Sie? Wie kommen Sie her?“

„Einen Dreck!“ brüllte der andere. „Einen Dreck, wie ich heiße und wie ich herkomme. Jetzt schaust du, daß ich aus diesem Loch davon komme. Nun lieg’ ich lang’ genug zwischen diesen schwarzen Schweinen ...“ Er hörte nicht auf zu schreien und rief ununterbrochen Unflätigkeiten.

Da dachte sich Peter: „Er ist verrückt geworden durch die Aussicht, vielleicht doch noch Europa wiederzusehen. Ich kann ihm nicht helfen. Ich laß ihn sich austoben.“

Er stellte sich ruhig hin. Der Dicke schrie und wütete. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und legte sich bald hin und raste am Boden weiter mit wilden Worten gegen Peter, gegen die Insel, gegen ein Schiff, das er „Jingo“ nannte, gegen die Schwarzen, gegen sich selber, gegen Europa ... Peter wartete.

Allmählich wurde der Atem des Schimpfenden schwerer und stechender. In der Kehle pfiff es ihm. Und mit einemmal war er still. „Brandy!“ sagte er noch. Aber Peter winkte nein, er habe keinen Branntwein. Der Dicke lag ausgestreckt am Boden, wie ein Tier, das sich sonnte. Peter betrachtete ihn und hatte dabei das peinliche Gefühl, daß er diesen Menschen nicht aus dem Kessel der Schiefäugigen retten wollte, weil er nicht wußte, was er auf Kililiki mit ihm machen sollte. Er warf diesen Vorstellungen vor, sie seien falsch, treulos, egoistisch. Aber er vermochte nichts gegen den dunkeln Instinkt, der ihm diesen Menschen störend und gefährlich erscheinen ließ, und seine erst zaghaften Bedenken wurden rasch zu einem unumstößlichen Entschluß.

Nachdem der andere eine Weile mit schwerfälligem Atem am Boden gelegen, richtete er sich in eine Sitzstellung auf und sagte, er wolle erzählen, wie er hergekommen sei.

Er begann eine verworrene Rede, in der er sich fortwährend im Erzählen wiederholte, die Erlebnisse zeitlich nicht auseinander zu halten vermochte, sie haltlos vermischte, und Pirath konnte nur mit Mühe verstehen, daß der Dicke mit dem englischen Dreimaster „Jingo“ scheiterte und allein an die Insel geworfen wurde, wo ihn die Schwarzen auf einmal überfielen, festbanden und in den Steinbruch schleppten. Dort lag er tagelang in einer Ecke festgebunden, und er sah, wie sie einen hohen Hag bauten. Als der Hag fertig war, banden sie ihn los und führten ihn hinein. Er dachte, es ginge in den Tod. Aber weit entfernt! Im Hag waren sieben Weiber, die auf ihn warteten und sich alleweile mit ihm ergötzen wollten. Nie in seinem Leben habe er so tolle Weiber gehabt. Sie wollten ihn ganz auszapfen, so versessen waren sie auf ihn. Und Essen brachten sie und die Schwarzen, mehr als er wollte und konnte: Nüsse, Fische, Schweinebraten, Hühner, Tauben, Taro, Früchte, Bananen, Papayas, und wenn er nicht mehr essen wollte, kitzelten ihn vier Frauen, und die andern stopften ihm das Maul voll Essen. Aber aus dem Hag ließen sie ihn nicht hinaus. Sonst lebte er, wie er sich’s nie besser gewünscht hatte. So wurde er dick.

Im Laufe der Jahre lernte er dann die Sprache und hörte von den Weibern, daß die Schwarzen glaubten, er sei ein Gott. So eine ähnliche Geschichte mit Weißen hätten sie sich immer vorher erzählt. Und wie er am Strand gefunden wurde, da haben sie geglaubt, er sei der angekündigte, gefährliche weiße Gott, und sie haben ihn unschädlich gemacht und für sich zu gewinnen versucht, dadurch daß sie ihm die tollen Weiber gaben und ihn mästeten.

Als er seine Geschichte erzählt hatte, fragte Pirath ihn über die Schlitzäugigen und über das Steinbild, an dem sie arbeiteten. Da wurde der andre auf einmal wieder rasend. Er schrie: „Leck’ mich ... Was soll es jetzt mit den Schwarzen, du ... du ...! Heraus will ich. Heim! Nach Buxtehude ...“

Pirath sagte: „Nein!“

„Was! Nein!“ brüllte der Gemästete. „Nein? Du schuftige Laus. Willst mich hier verfaulen lassen. Willst mich ... Wart’, du ... du ..., ich ...“ Und damit wälzte er sich schwerfällig auf Pirath los. Der wehrte sich. Aber der Dicke griff nach den Revolvern in Piraths Gürtel, er bekam den Browning zu fassen, riß ihn heraus und stieß, ihn abdrückend an Piraths Leib. Pirath trieb mit aller Wucht seine Faust in das kleine knollige Gesicht, zweimal, dreimal, während er mit der andern Hand den Revolver von seinem Leib abzuschlagen versuchte. Der kleine Kopf fuhr zurück und richtete sich unter den Schlägen immer wieder auf. Die fette Hand stieß den Revolver immer wütender in Piraths Bauch und drückte knackend. Pirath selber wunderte sich, daß er keinen Schuß hörte, daß er nicht von einer Kugel zerfetzt hinstürzte. Aber auf einmal erinnerte er sich, daß er seine Revolver ja ganz ausgeschossen und im Boot nur Kugeln für den Revolver, nicht aber für den Browning gefunden hatte. Da ließ er dem Wahnsinnigen den Browning und lief der Stelle zu, wo er in den Kessel herabgestiegen war. Er kletterte rasch zwischen einem Baumstamm und dem Stein die niedere Felswand hinan. Der Dicke versuchte sich zu erheben. Eine wilde Flut von Unflätigkeiten sprudelte er aus sich heraus, und er warf ohnmächtig die Browning nach ihm, raffte Steine auf und schleuderte sie blind vor sich.

Pirath drang den Pfad durch den Wald rasch voran, fand den schmalen Felssteig und war bald an seinem Boot. Er schob es eilig ins Wasser, ruderte um den Felsen herum und zog das Segel auf. Dann ließ er sich einen Pfeilschuß weit ins Meer hinaustreiben und begann an der Ostseite wieder nach Süden zu segeln. Sein Kopf war angefüllt mit einem furchtbaren Chaos von Kampf und Friedensglück, von Schwarz und Weiß und von schwülen schleimigen unklaren Dingen.

Es war schon finster, als das Kanu beim Dorf Vater auf den Strand lief. Das ganze Dorf stand am Ufer. Die erste Gestalt, die Pirath erkannte, war Seeschwalbe. Sie hatte das Dorf so spät wach gehalten, und als Pirath dem Kanu entstieg, rief sie auf einmal in die Finsternis:

„Wißt ihr denn, Leute, von wo Regenbogen kommt? Er war im Steinbruch Mutter bei den schiefäugigen Magiern und den Riesengöttern!“

Auf einmal stand sie allein in der Dunkelheit. Alle Menschen waren mit dem Schrei des furchtbarsten Entsetzens zu Boden gestürzt und wanden sich dort, von heißen angststechenden Schauern durchstoßen. Es war ihnen, als ob die Luft, die um den hell in der Dunkelheit sprühenden Körper Regenbogens hing, mit Untergehen und Donner geladen sei. Sie beruhigten sich nur allmählich und schleppten sich verstört in ihre Hütten.

Pirath und Seeschwalbe blieben allein. Das junge Weib warf sich ausgelassen und mit quiekender Zudringlichkeit um ihn herum. Pirath wies sie sanft ab, und als er ihr schließlich ein strenges Wort sagen mußte, legte sie sich gleich hin auf ihre Matten und schlief fast im selben Augenblick tief ein. Legte sich Pirath auch hin, oder blieb er auf der Kante sitzen, den langen nackten Leib tief wie über sich selbst herübergebogen? Die Erlebnisse im Steinbruch Mutter schwemmten ihm wie eine stechende Ätze durch den Kopf. „Hat mich der Zauber des Steinbruchs vergiftet?“ fragte er sich und preßte die Hände auf die Schläfen. Er dachte an die paar Augenblicke, wo der Fettkloß mit ihm gerungen hatte und ihn töten wollte. Es war ekelhaft und furchtbar. Und jener widrige Überfall und Mordversuch waren ihm jetzt doch wie die notwendige Folge seines Vorsatzes, den Dicken im Steinbruch zu lassen und ihn nicht zu retten.

„Ich hab mich von Europa losgesagt dadurch!“ flüsterte Pirath in die stockige Nacht, in der von Weile zu Weile ein ferner Donner verrann. Die hitzige Luft drang auf ihn ein. Aber seine Haut blieb trocken auf der innerlich aufbrennenden Hitze. Ein Blitz nach dem andern verschwelte hinterm Laub des großen Baumes. Wellend dumpfig strich die Luft heran und füllte sich von Weile zu Weile fern oder nah mit der verzuckenden Grellheit der Blitzstrahlen. Da sah Pirath auf einmal auf dem Bootsrand gegenüber einen kleinen dunkeln Vogel sitzen. Seine Perlenaugen leuchteten schwärzer als die Nacht, und er piepste leis. Pirath verhielt sich bewegungslos. Es war ihm, als wollte dieses zarte Geschöpf Gottes seine qualvolle Einsamkeit teilen. Eine duftige Wärme erfüllte Piraths Herz, und dennoch ließ das schmerzende Pochen in Augen und Schläfen nicht nach.

Der kleine schwarze Vogel hörte nicht auf zu piepsen. Er fügte zwölferlei, zwanzigerlei dünne Laute aneinander, verschlang sie unter sich, begann wieder, trillerte süß und leis und piepste, schob den Kopf vor und umkreiselte mit dem Schnabel gleichsam die Laute, die ihm entquollen. Pirath hörte entzückt zu. Es war eine schmelzende Anmut in dem Geplapper, und Piraths Herz sagte dem Vöglein: „Du bist ein so süßes Gottesgeschöpfchen. Ich möchte deinen kleinen lieben Kopf küssen.“

Da antwortete der Vogel: „Du bist krank, Pirath!“

Pirath lächelte mild und leis und entgegnete: „Ja, ich glaub es selber!“

„Ja!“ fuhr der Vogel fort, „lieber Pirath, dich haben die Mücken vergiftet. Was euch Menschen zur Qual da ist, das ist uns zur Lust da. Sie schicken durch die Adern das Fiebergift in eure Milz, lieber Pirath, aber wir fangen sie im Sturzflug zur Nahrung. Das ist ein wunderbarer Genuß!“

„Ist das so?“ fragte Pirath erstaunt.

„Gewiß! Und das weißt du doch auch, du weißer Pirath. Denn du bist kein Gott!“ piepste der Vogel.

Da gab Pirath dem kleinen Vogel bei sich rasch einen Namen, und er antwortete: „So sag mir, süßer Vogel Ewe, was bin ich denn?“

„Du bist der Sklave der Insel Kililiki!“

„Woher weißt du das, liebes Vöglein Ewe?“

„Das weiß ich!“

„Aber so sag mir doch, wieso du das weißt, süßes Vöglein Ewe!“ bettelte Pirath sanft und wehmütig.

„Wenn du dein Blut fragst, so hörst du die Antwort!“ zwitscherte der Vogel.

„Ich frag mein Blut und höre nur, daß es mit giftigen Pfeilen in meine Schläfen und in meine Augen stößt. Bitte, bitte, mein innigstes Vöglein Ewe, so sag es mir doch, wieso ich der Sklave Kililikis bin.“

„So frag die Seeschwalbe!“ entgegnete der Vogel hartnäckig.

„Die Seeschwalbe schläft, und um sie aufzuwecken, müßte ich Wasser in meinem Eimer holen, und wenn ich zu dieser Verrichtung aufstehe, so fliegst du fort. So sag’s mir doch, du!“ machte Pirath unruhig.

„So frag dein Kanu, das dort unterm Blätterdach liegt!“ setzte der Vogel dem querköpfig entgegen.

Pirath wurde immer ungeduldiger. Es erregte ihn, daß er dies kleine Geschöpf nicht unter seinen Willen zwingen konnte. Er erwiderte barsch: „Das Kanu hat keinen Mund und kann nicht reden. Nun, mach keine Umstände und sprich, sonst ...“ Damit griff er listig, rasch und wütend durch die Nacht nach dem Vogel. Aber ein Blitz schlug auf, die Hand faßte ins Leere, der Vogel rief aus der Luft herab:

„So frag den dicken Weißen, den du nicht aus dem Steinbruch der Schlitzäugigen retten wolltest!“

Weil der Vogel mit diesen Worten sein tiefstes und erregtestes Innere getroffen hatte, sprang Pirath rasend auf und wollte nach dem frechen Vogel in die Luft springen. Aber da war es ihm, als öffnete er in seiner Villa zu Haus das Fenster im Schlafzimmer. Unten im Garten hatte eine Stimme gerufen: „Herr Pirath! Herr Pirath!“ Er hatte die Stimme seines Kutschers, der ein Schwabe war, erkannt und war rasch aufgestanden, im Schrecken des plötzlich gestörten Schlafes, das Blut noch voll schwerer Schlafwärme, und ans Fenster geeilt. Er legte sich über die Brüstung und rief der Gestalt, die unten im Dunkeln stand, zu:

„Was ist denn?“

Der Schwabe antwortete: „Adihö, Herr Pirath, mueß in ’n Krieg!“

Die Stimme im Dunkeln war schwer vom wilden Zwang einer mühsamen Gleichmütigkeit. Pirath wußte, daß starke Spannungen sich in einige große Völker geladen hatten. Er sagte bewegt und ergriffen: „Nun, nun, Franz, das ist nicht so schlimm, wirst schon wiederkommen.“ Aber Franz rief aus der Dunkelheit verhängnisvoll herauf: „Nein, nein, Herr Pirath, i komm’ nimmer z’ruck!“ Und er ging langsam und ein wenig torkelnd, wie betrunken davon.

Da legte sich Pirath wieder ins Bett. Neben ihm rekelte und mummelte sich eine kleine rosenhäutige Frau und versuchte an ihn anzuwachsen, wie ein Blutegel. Er stieß sie zurück. Er sagte ihr entsetzt und kalt:

„Ich werde dich einfach zuvor töten. Denn du wirst mir nur Leid bringen und mich hindern. Ich kenne dich. Du willst mir Kililiki nehmen.“

Aber sie begann zu erzählen. Sie wurde eine weißrassige neuzeitige Scheherazade, öffnete den kleinen roten Bogen ihres Mundes, und die Zähne perlten leuchtend, und dem Mund entfloß eine weite unaufhörliche Wendung aller Dinge, eine ganze Geschichte der Zeiten und Völker. Er sah des Weibes Blut in den Adern wie in einem Pumpwerk allmählich steigen. Es wurde Dampf. Die perligen Zähne hüpften wie Zylinder, und die schlanken greifenden Arme umtobten ihn, wie Kolben, die rastlos die zeugende Gebärde ausübten.

Was rosig und mummelig gewesen, ward ein dunkler Bergschoß, der vor Triebkräften schmetterte. Die ganze Schöpfung spannte sich an rasende Treibriemen und schleuderte sich zu einer wahnsinnigen Heftigkeit. Und doch war all dies Fließen Pirath so selbstverständlich ... Doch blieb die Scheherazade das junge blonde Weiblein, das seiner begehrte.

Er stritt gegen sie. Er legte seine Finger an ihre Kehle. Aber sie hob nur, ohne sich um seine Finger zu kümmern, den Arm über das Bett und über ihn, und siehe! — der Arm ward eine Brücke. Diese kam aus der Tiefe der verflossenen Zeiten als ein Weg, der wie der Lichtkegel eines Scheinwerfers weit hinten am Ursprung handschmal aus einer Höhle am Himalaja begann und ihm entgegen in unbegrenzte Breite wuchs.

Der nackte Adam hielt auf ihm seine Schlange in der Hand und schlug mit ihr nach dem Apfel. Salomon ging hinterher, eitel gereckt, und trug auf einem Buch feierlich das Lamm Gottes. Sieben Siegel baumelten aus den Seiten der Schrift. Das Lamm Gottes war umdampft von den Phantasmagorien der Offenbarung des Heiligen Johannes. Die Mutter Maria schritt, das Gesicht hoch in den Himmel gebadet, umfunkelt vom ewigen Glanz ekstatischer Tränen und ewig gewölbten Leibes zwischen den Männern.

Und vom Weg trat Homer auf die Brücke und schrie in skandierten Versen die Helden aus dem Nebel hervor. Aber niemand kam. Er schrie und schrie, daß Peter wütender über die Scheherazade herfiel und schon ihre Kehle zwischen den Knöcheln zu spüren vermeinte. Aber das Mädchen öffnete nur den Mund, und da stand auf einmal Attila vor Homer und hob die Faust, um ihm den singenden Mund zu schließen. Der kleine Napoleon jedoch schlug ihm mit finsterer Gebärde den Arm weg. Dürer ging auch in der Gruppe. Er zeichnete auf ein großes Blatt das Labyrinth der Melancholie, zu dem sich Goethe mit zerrauften Haaren und drei Blutstropfen auf der Schläfe, die ihm das Herz aus der Hirnschale getrieben, heftig, märtyrerhaft niederbeugte.

Mitten in einem Spiel goldener Glocken und zwischen schwarzen Sklaven und hellhäutigen jungen Perserinnen lustwandelte der Kalif Harun und lächelte mit seinem duftenden Gesicht, wie eine tropische Frucht. Kung Fu Tse wand sich durch die Schreitenden, bis er neben dem Lamm Gottes ging, und zeichnete mit stummer Beredsamkeit in die dunstigen Ausflüsse der Apokalypse das Fötuszeichen des Jinjangs, während er selber zu ertönen begann, wie eine uralte, mit Zeichen umkränzte bronzene Faßglocke und zu tönen nimmer aufhörte.

Da kam rasch und ruhig Röntgen und durchleuchtete die apokalyptischen Dämpfe, und Harun der Kalife lächelte schärfer, Dürer verwirrte das Wirrsal seiner Zeichnung noch mehr, und Goethes Augen wuchsen, und seine Schmerzen schlugen ihm zu Mund, Nase und Ohren heraus. Homer piepste nur noch, und Dehmel sang an seiner Stelle in einem Garten, daß die schwarzen Nächte voller Rosen und rauchschwelender Schlote vor schwerem Sternenglanz schweißig zerfielen.

Die Brücke ging vom rechten Tigrisufer nach dem Kaiser-Wilhelm-Hafen am linken Elbufer gegenüber von Hamburg, wo die „Vaterland“ mit einer Stimme zur Abreise in die Welt rief, die alle Zeiten verschüttete.

Und aus aller Mund sprach die süße giftige junge Scheherazade. Pirath wich mit seinen rasenden Händen nicht von ihrer Kehle, mordete sie tausendmal, und tausend neue alte Leben entquollen dem Geheimnis dieses Mords und seiner Sprache, das von des Mundes roten Bogenrippen süß umwölbt war. Pirath schrie ... schrie ...

Denn die ganze Brücke voll Geschichte,

Die aus des Paradieses Schoß die Zeiten überwölbte

Und in der Zukunft fernem Dämmern niedersetzte,

Hatte zum Schlußstein,

Am Scheitel ihres Bogens,

Wild zerquetscht,

Piraths Herze eingefügt.

Und über dieses Herz hinweg

Wandelten jene Männer und Frauen der Zeiten.

Auf einmal sprang der wüste Zahn des Raubtiers

Aus der uralten Höhle, die von Anbeginn der Welt

Zum Ende aller Zeiten sich nie schließt,

Jach mitten in die Gruppen.

Die Töpferscheibe mochte mit dem runden Kreise

Ihrer Sonnenähnlichkeit, das steinern Beil,

Dem Zahn des Raubtiers nachgebildet,

Von Menschenhänden handhabt, in den Schoß

Der Völker friedlichen Keim versenken ...

Die Keule und der Bruder Morgenstern,

Zweihand-Schwert, Büchse, Mitrailleusen halfen

Dem Raubtierzahn.

Die schwarzen Sklaven über die Hellhäutigkeit

Der persischen Kalifenweiber her! Und Attila

Blähte gespitzte Kiefern.

Surrend übersang Dynamos den Homer,

Unsichtbare Quellen überströmten aus den Spulen

Die Melancholeia, und Goethe stand,

Steinern, wie ein Roland,

Aufs Schwert gestützt und schaute, litt, erlebte, rang

Und überwand.

Das Lämmlein Gottes blökte mild und hilflos.

Sal’monis Herrlichkeit notzüchtete,

Derweilen Adam spaltete den Apfel mit der Schlange.

Der Jinjang grölte pustend wie ein Stahlwerk.

Personen schwanden vor Begriffen,

Aus Hirnen strebten Völker,

Öffneten sich zur Zerstörung

Und schlugen sich wie Pelikane, Zahn an Zahn,

Ins Blut der eignen Brust.

Pirath erfaßte seine Warze überm Herzen,

Sie war ein Quell geworden, dem das rote Blut entzischte,

Und die schöne, zarte und heimtück’sche Scheherazade

Öffnete darunter das Gewölbe ihres giftigen Mundes und fing

Den roten Springquell schlürfend ein und grausam.

Da rasten Völker wie zerborstene Vulkane.

Wie Wolkenbrüche patschten Kugeln durch die Heere.

Granaten sprengten Lehm und Bein zusammen

— Die Schöpfung riß —

Und warfen Wald und Stadt zum Himmel.

Und als sie wieder niederfielen,

Fielen sie auf das arme Herz des Peter Pirath,

Das den Schlußstein der erdgeistigen Brücke machte

Und als Jahreszahl Plus und Minus Unendlichkeit

in seine Kammern eingegraben trug, weil es verflucht war von der giftigen Scheherazade. Da schlug er kurz mit dem Steinbeil Kililikis nach ihrem Schädel, so schön er auch war. Aber sie lachte nur und entfleuchte und war nicht mehr bei ihm, war nichts mehr als Lug, Stank und Nichts.

Da schwoll sein Herz vor märzlicher Schmerzhaftigkeit glückselig an. Das Chaos seines Blutes stampfte von den Heerscharen des Todes, das über die gewaltige Bergstraße marschierte und, von üppigen Hengsten umsprungen und umwiehert, im donnernden Lärm gottstarker Geschütze zu Tal zog. Es war schon vom Zwang des Kriegs befreit, aber noch unter seinem Schatten. Es hatte schon den Pflugsterz, die Feder, den Hammer, das Steuer in der Hand, aber noch das Gewehr auf dem Rücken, und wohlig zur Ader gelassen, in machtladender neuer Jugend sang es in den Takten der scharf hinmähenden alten und schwermütigen Kriegsmärsche:

Das war der Herbst von Neunzehnhundertvierzehn!

Das war der Herbst, der unser ist! ...

Während noch das große Morden sein Blut durchraste, begann aber schon das neue, das grenzenlose Ernten und Befruchten. Die gerechten Scheuern flogen mit unendlicher Geilheit auf. Aus dem Schoß der Erde donnerte das Kreißen einer neuen Zeit herauf, die sich an Größe mit allen Entwicklungen der gewesenen Menschheit maß ...

Pirath lag die ganze Nacht in die blutende Qual eingeschlossen. Die Schwüle des Gewitters, das sich nicht entladen konnte, hielt ihn unter ihrem dampfigen Druck. Die wehen Fieber stöhnten durch sein Blut, und in stundenlangem Ringen erlitt er diese Vision, mit der sein fieberndes Ahnen den Raum brach und die gottgesandten Ereignisse heranzog, mit denen ein Volk seinen gerechten Thron zu erbauen unternahm.

Als Pirath erwachte, lag er auf dem Boden neben dem Boot. Der Schweiß quoll ihm wie heiße Küglein aus allen Poren. Sein Blut rann ermattet durch den Körper. Sein Kopf war schwach, und den Muskeln fehlte jede Spannung. Er erhob sich schlaff und ging zum Meer hinab. Das Ringen der Nacht lag wie ein geheimnisvoller Spuk mächtig auf all seinen Sinnen. Er verstand nichts von dem, was ihm widerfahren war. Er badete sich den Schweiß weg, aber sein Körper behielt vom Salzbad einen schleimigen und hitzigen Belag.

Seeschwalbe und die Eingeborenen hatten ihn neben dem Boot liegen gesehen. Sie hatten ihn nicht angerührt, denn sie glaubten, er sei im Kampf gegen die Dämonen des Steinbruchs Mutter dorthin gelangt. Als er sich erhob und baden ging, kamen sie alle aus den Hütten hervor, in die sie sich versteckt hatten. Sie waren glückselig und gingen gleich in die Dörfer und erzählten, Regenbogen habe den Steinbruch Mutter besiegt, und kein Mensch brauche mehr zu sterben.

In Wirklichkeit war die Sterblichkeit in den Dörfern sehr gesunken, weil Pirath sich überall um Reinlichkeit und Krankenpflege bemühte. So schien in der nächsten Zeit, solange das Interesse am Besuch Piraths bei den Schlitzäugigen die Phantasien in Spannung hielt, weil niemand starb, die Macht Regenbogens wirklich dieses unglaubliche Ziel erreicht zu haben, und die Männer machten sich daraufhin mit neuem Eifer an die Vollendung des Wohnhags Regenbogens, um ihn durch die siebenfache Kette der sieben Mädchen fester an die Insel zu binden. Eines Tages kam dann der König und sagte Pirath, die Häuser seien fertig und man veranstalte ein großes Fest. Das Fest fand statt und dauerte drei Tage, in denen fast ohne Unterbrechung gegessen und getanzt wurde.

Pirath verließ das überdachte Boot am Strand unterm großen Baum und bezog das hohe geräumige Haus, das auf Pfählen stand und dessen Dach- und Türbalken ausgeschnitzt und mit lebhaften Farben freudig belegt waren. Seeschwalbe ging in eine der niedern Hütten wohnen, die das Pfahlhaus umgaben. Sie wählte die Hütte, die die Männer ihres Dorfes gebaut hatten und die gleich links vom Eingang in den Hag, neben dem offenen Kochhaus lag.

Die andern Hütten blieben inzwischen noch leer. Die sechsfache Hochzeit wurde immer wieder verschoben, weil stets bald das eine, bald das andre Mädchen mit dem Tabu ihrer monatlichen Blutungen belegt war und keines Mannes Auge die Unwürdige sehen durfte.

Aber Seeschwalbes Leib stieg unversehens in heimlich treibender Fruchtbarkeit. Wie sie, bevor dies geschah, immer straff und gespannt, heftig schön war, wie ein polierter Bogen aus dunkelm Palmholz, so baute sie sich jetzt auf in einer schwerfällig mächtigen Fruchtbarkeit. Sie blieb oft im Schreiten zum Ausruhen stehen; von Sonne oder Schatten übergossen, erhob sie sich, steil im Kreuz aufgerichtet, um die Last des Leibes besser tragen zu können. Ihr Bauch war wie die Kugel einer neuen Erde. Ihre Brüste strotzten ausschweifend mit mütterlicher Kraft gefüllt, und in der Hitze sog sich aus ihren pflaumendicken und pflaumenblauen Warzen von selber die Milch heraus. Sie sickerte in kleinen Rinnsalen an den Halbkugeln hernieder.

Wenn Pirath dieses Stehenbleiben, diese ausschwellende, drangvolle Fruchtbarkeit sah, die sein Werk war, so erfüllten ihn mächtige Gedanken. Er war Vater einer beginnenden neuen Rasse, die sich Kililiki erobern mußte. Er wollte aus dem entstehenden Leben ein Geschlecht auferziehen, das sich auf ihn stützen und von ihm aus entwickeln sollte, das ohne Verbindung mit den vorwärtsdrängenden Völkern jenseits des Meeres einen unsichtbaren Anschluß an die Triebkraft des weißen Geistes finden sollte. Und wenn dann einst diese Insel entdeckt werde, so müßte sie sich in den Gang des Weltverkehrs ohne Mühe und Blut fruchtbar einordnen können; es dürfte ihr nicht so ergehen wie den schwarzen Inseln, auf denen er vor Kililiki gewesen war und auf denen die Eingeborenen an der ungestüm eindringenden Energie und Stetigkeit des weißen Geistes starben.

Pirath arbeitete schon lange an der Fleischwerdung dieses Gedankens. Er begünstigte die Künstler und bemühte sich, ihren rein symbolischen Werken eine neue, stärkere und geistigere Geltung zu verschaffen. Die Häuser und Hütten hatten sich überall verschönt unter seinem Einfluß. Über die Bäche waren kleine Brücken gebaut worden, deren Geländer und Kappen in Schnitzereien ausgearbeitet waren. Die Menschen folgten diesem Eifer Regenbogens willig, denn er wandte sich ohne Vermittlung an ihre Phantasie. Die heimatliche Kunst des Farbigen war wie Musik. Sie war nicht im Erschaffen zusammenbändigend, sie löste auf, sie summte und sang die Erscheinungen der Schöpfung spielerisch und verliebt auseinander. Über ein Schnitzwerk konnte die Phantasie lange dahinstreifen und viele geheime Dinge auf sie beziehen.

Aber zugleich wo Pirath diesen Bedürfnissen des Herzens Nahrung gab, versuchte er auch, den Sinn für die Wirklichkeit, für die Dauer eines Lebens, für das Fortbestehen vergangener Zustände und Zeiten zu wecken. Er leitete Männer und Frauen an, regelrechte Palmenpflanzungen zu gründen. Er versprach ihnen einen späteren Lohn für die Arbeit der Gegenwart und bemühte sich ununterbrochen, die Phantasien vom Wert des zufälligen Augenblicks, dem sie sich weich und hinschmelzend stets ganz ergaben, abzulenken und alles Gegenwärtige in einen Zug zu bringen, der in die Zukunft strömte und irgendwo im Kommenden erst seine Ernten fand.

So versenkte er in die breiigen Massen, in denen die Einbildungskraft der Farbigen haltlos auseinander strömte, allmählich, wie eine ferne noch dunkel umbrandete Insel, den Anker des Gedankens.

Er wußte, daß es erfolglos sei, diesem Ziel die Männer und Frauen zuzuführen, und er ging sparsam mit seinen Kräften um. Er wandte sich nur an die Heranwachsenden, die noch weniger geformt waren; er schuf ihnen neue Werte, und er hatte Erfolg. Er hatte Erfolg, weil er zu gleicher Zeit, wo er mit stetiger Tatkraft die Werdenden auf seine Höhe heraufzog, auch sein eigenes Herz tief und weich sich in die Insel Kililiki eingraben ließ. In seiner unbegrenzten Vereinsamung verlor er ja den starren Maßstab, um das zu messen, was europäisch in ihm blieb und was südseeinselhaft wurde.

Was aber an weißer Erziehung in ihm verharrte, genügte, um von Weile zu Weile seinem Gottestum bei den Eingeborenen einen neuen Anstrich zu geben und den Einfluß seiner Macht immer frisch zu halten.

Eine geheime Mithilfe seines Blutes kam ihm dabei zustatten. Pirath war von Stechmücken vergiftet worden. Das Chinin, das er im Boot gefunden hatte, war ausgegangen, und er war der Malaria wehrlos ausgeliefert. In regelmäßigen Abständen schwärmten die neuen Bruten aus seiner Milz auf. Sie stürzten sich über seine roten Blutkörperchen und durchrasten seine Adern mit wilden Schmerzen. Dann lag er stöhnend auf einer Matte zu Füßen seiner hohen Treppe, und die Eingeborenen hockten sich um ihn. Sie sahen, wie er von Weile zu Weile diesem sonderbaren heftigen Gebaren anheimfiel.

Da erfand einer der Priester, daß in diesen Zeiten seine Seele den Körper verließe und zum großen Geist einkehrte, um sich mit neuen Kräften zu laden. Darüber jammerte und zuckte der Leib und schrie nach der Seele.

Wenn sich dann allmählich das Fieber löste und die plagenden Schwärme gestillt zurückstarben, dann überkam Pirath die Erleichterung seines Blutes wie eine Erlösung. Sein Herz erschwoll unter einem Ansturm von tiefen glückhaften Vorstellungen. Die Welt umschlang ihn in ewiger Liebe, und sein Mund ließ Worte von süßer, seliger Verbrüderung ausströmen. Die Menschen waren wie ein einziges, liebesgetränktes Herz, gierig, sich Gutes und Liebes anzutun, vom Geist geschaffen, damit das Glück, das im Erdschoß schlief, ihnen teilhaftig werde. Die Schwarzen hockten um ihn und horchten lautlos dem Zauber seiner Reden, der mächtig in ihr Blut einzog. Sie weinten vor weichen Gluten, die sie durchtränkten, vor geheimnisvollen Bildern, die sie durchzogen, und streichelten sich gegenseitig. Und ihre in nächtigem Dunkel erd- und tiergebundenen Phantasien durchbrach die erste Morgendämmerung des Menschwerdens.

Eines Frühmorgens sagte Seeschwalbe: „Meine Zeit ist da! Ruf die Mutter und die Verwandten!“

Sie setzte sich stöhnend an ihre Tür und umfaßte fest und gewaltig den Hausbalken. Ihr Leib arbeitete wie ein Vulkan. Die Schmerzensstiche durchrissen sie wie Erdbeben. Aber sie gab keinen Laut von sich, und als Mutter und weibliche Verwandte kamen, lag ein kleiner Knabe vor ihr. Mit einem Muschelscherben durchschnitt die älteste Frau die Nabelschnur und tröpfelte den Saft einer Pflanze auf die Wunde. Andre Weiber wuschen den Knaben mit Bachwasser und brachten ihn Regenbogen hin, der der Sitte gemäß den Wohnhag verlassen und, mit dem König sprechend, die Vollendung des Ereignisses abgewartet hatte.

Das Knäblein, das man ihm brachte, war fast ganz weiß. Pirath hatte das nicht erwartet und erschrak ein wenig darüber. Aber er hatte nie den Neugeborenen einer schwarzen Frau gesehen und wußte nicht, daß die Kinder alle die gottgesegnete weiße Farbe zur Welt mitbringen. Es brauchte dann auch nur etliche Tage Sonne und Luft, um die Haut zur Farbe der Insel zurückzuführen. Aber der Knabe, der gleich mit Haufen von Namen überschüttet wurde, behielt einen hellen Schimmer, der ihn von allen auszeichnete und der Seeschwalbe und ihre Sippe glücklich machte.

Nach drei Tagen war Seeschwalbe wieder auf den Beinen, und die großen Geburtsfeste begannen das Ereignis zu feiern. Die sieben Dörfer kamen vor dem Hag des Vaters zusammen. Pirath stand an der Treppe zu seinem Haus und bemühte sich um den Knaben. Auf einmal erscholl ein wüster Lärm. Die Dörfer hatten sich unversehens in Männer und Weiber geteilt und waren aufeinander losgegangen. Sie warfen sich mit Erdklumpen, Steinen, Früchten, sie schlugen mit Bambusstöcken aufeinander ein. Sie lachten und quietschten dabei und gingen doch rasch in eine leidenschaftliche Wut gegeneinander über. Es war, als entlüde die Natur in den beiden Geschlechtern einen langher aufgestapelten Haß, und Pirath erinnerte sich auf einmal, in seinem Innersten aufgewühlt, an den Satz aus dem Schöpfungsbericht: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und ihr!“ Und die Schlange war nicht die Schlange, sondern war ein Sinnbild für das männliche Glied. Da legte er den Knaben nieder; von zwiespältigen, gereizten Gefühlen gepeinigt, warf er einen Blick voll mühseligen Hasses auf sein Weib und ihr Kind und mußte sich bezwingen, um nicht brutal mit in den Kampf einzugreifen und auf die Weiber loszuschlagen.

Aber der Kampf der Geschlechter hörte auf, wie er begonnen hatte, ohne Übergang; ohne Übergang, wie alles auf der Insel. Während die Männer und Weiber sich wieder glücklich krähend und meckernd vermischten und einige, die bluteten, ohne weiteren Ärger die Wunden mit Blättern eindeckten, mußte Pirath noch lange, in seinen zwiespältigen dunkeln Zorn eingeschlossen, verstört umhergehen. Das Fest nahm seinen Verlauf, üppig und ohne Einschränkung. Sieben Tage lang tat man nichts andres als essen und tanzen, sich begatten und schlafen.

Dann war auf einmal eine Zeit da, in der die sechs Bräute Regenbogens alle gesund waren. Man eilte sich. Ohne weitere Umstände und Zeremonien bezogen die sechs jungen Mädchen eine jede ihre Hütte zu Füßen des Pfahlhauses. Nur die Sippe kam der Reihe nach zu Besuch, brachte Geschenke und nahm kostbarere Geschenke als Ausgleich mit zurück und aß Piraths Speisevorräte auf.

Als diese Besuche vorbei waren, legte ein jedes der Weiber unter Piraths Leitung eine Pflanzung an, in der in genau gesonderten Feldern Taro und Jame, Bananen, Papayas gepflanzt wurden. Außerhalb des Hags wurde ein großer Schuppen errichtet, in dem die Schweine sich aufhielten. Pirath lehrte die Weiber die Arbeit zu teilen und Zeit zu sparen und erübrigte für die Palmenpflanzung, die am unbewohnten Westufer vor dem Dorf Vater entstand, einen Teil ihrer Arbeitszeit. Die Männer hatten sich begeistert und in zornigem Arbeitseifer über die Anlage gestürzt. Aber länger als für das Roden hatten Kraft und Lust nicht gehalten. Immerhin war das die schwerste Arbeit. Die Eingeborenen kannten freilich Methoden, durch Keile Holz zu sprengen, die die Arbeit weniger mühselig machte.

Aber im großen ganzen waren sie auf ihre Steinbeile angewiesen. Nur Pirath hatte das eiserne Beil aus dem Rettungsboot. Er verrichtete siebenfache Arbeit, und die Eingeborenen, die zum erstenmal die Kraft des Eisens erlebten, erhoben das Beil zu einer Gottheit und nannten es die schnelle Schärfe. Pirath hatte durch eine List ihre Tatkraft so lange wach gehalten, bis ein Geviert, das etwa dreihundert Schritte in der Länge und hundert Schritte in der Breite maß, von Bäumen frei war. Er sagte ihnen, daß jenes Steinbeil, das der schnellen Schärfe an Kraft und Raschheit nachkäme, von demselben mächtigen Geist bezogen werde, der in seinem Eisen wohnte. Da schlugen sie drauf zu, und ein jeder hoffte, daß der Geist in sein Beil einzöge. Zum Aufsuchen und Eingraben von Pflanznüssen, zum Sauberhalten und Pflegen der jungen aufschießenden Bäume hatte Pirath nicht mehr soviel Kräfte nötig. Er konnte diese Arbeiten mit seiner jungen Garde und den Weibern bewältigen.

Pirath lebte als Erzeuger in die kommenden Jahre hinein. Er lebte zwischen den Frauen, fast unbewußt ihrer Gegenwart. Mit einem sonderbar fernen Anteil ging er zwischen diesen Geschöpfen, und von der einen zur andern führte ihn ein leicht zu erfüllendes Pflichtbewußtsein. Er war nur Erzeuger. Er ging fleißig von Hütte zu Hütte, als der große Gründer einer kommenden Rasse. Nie hatte er Schwierigkeiten mit den Frauen. Mit ihren Streitereien wagten sie sich nicht bis an ihn heran. Sie fürchteten seine stetige Strenge. Sie fügten sich alle von selbst unter die Herrschaft Seeschwalbes, die wie eine Prinzessin über Dienerinnen zwischen ihnen lebte und von Fruchtbarkeit und Glück strotzte.

Für Seeschwalbe allein wuchsen Gefühle von Zärtlichkeit und von innigem Zusammenhang in Piraths Herz. Ihr allein weihte er die Notwendigkeiten des Austausches von Gemüt zu Gemüt. Sie bewahrte ihre, oft plötzlich wie die Krallen einer Katze wild aufspringende, oft in süßer Trägheit dahindämmernde Grazie, und war er bei andern Frauen, so dachte Pirath sich zu ihr.

Die Frauen gebaren Jahr um Jahr. Eine starb. Das war Pirath nicht mehr, als ob er einen Tag dahinrauschen hörte. Sie wurde ersetzt. Andre wurden alt, häßlich und welk und traten von selber zurück. Im Laufe der Jahre wurde manche ausgewechselt.

Die Kinder erwuchsen. Der Vater nahm sich ihrer an, wie er auch die Kinder der Eingeborenen, die man bis dahin hatte frei herumlaufen lassen, in sein mildes aber stetiges überwachen und Erziehen genommen hatte. Die Ältesten gingen schon mit in die Pflanzung, in der die ersten Bäume Nüsse reifen ließen, und wurden mit leichten Arbeiten beschäftigt. Sie suchten die Käfer ab. Pirath erlebte an seinem Samen, daß er befähigter und anders war, und pflegte die Anlagen, in denen er sein Blut erkannte.

Aber zugleich, wo er so das Alte, was er aus dem weißen Erdteil herübergetragen hatte, so hoch in sich hielt und es in seiner Nachkommenschaft zur Blüte brachte, überstrickten ihn doch die Scharen der halbfarbigen Kinder, die aus seinen Weiberhütten quollen, wie ein Netz und verbanden ihn immer tiefer und enger der Muttererde Kililikis. Mit sachtem Verblassen schwand Europa stetig hin.

So stürzten zwischen Zeugen und Gebären, Festzeiten und sanften Alltagen, gemäßigt schreitender Arbeit und Sorglosigkeit die Jahre über ihn dahin und schienen sich nicht mehr um ihn zu kümmern als er um sie. Er maß die Zeit nicht. Er besaß rund um sich keinen Maßstab dafür, trotzdem die Alten starben, und die Kinder aufwuchsen; denn er war das oberste Gesetz für die Insel; so wie die Insel ihm, so war er sich selber gleichermaßen untertan; wie ein mächtiger Saft strotzte er durch das Leben der Insel; er sah seinen Weg nicht, er folgte ungestümem Drang, denn wenn er nachts bei den Frauen lag und, sich mit ihnen vermischend, immer tiefer der fremden Seele zusank, so blieb doch vor ihm das Letzte, die endgültige Besitznahme, wie der Horizont, der von dem drauflos rauschenden Dampfer zurückweicht. Aber das war seine dumpfe Kraft, daß er Gemüt und Instinkt über Kililiki herrschen ließ und nicht das Hirn, dem der Weg zu der schwarzen Seele doch verrammt geblieben wäre.

Einmal in dieser ungemessenen Zeit erscholl die Garamut, und Pirath, der sich nun auf ihre Sprache verstand, hörte heraus, daß sie die Männer nach dem Steinbruch Mutter rief; ein neuer Gott war dort fertig geworden. Er sah den König Möwenschnabel, dessen ursprünglich heftige Energie immer erschlaffender sich ihm unterbötig machte, mit einer unausgesprochen bleibenden Frage um ihn herumgehen. „Ö! Ö!“ machte Möwenschnabel und blies vor Pein die Lippen auf wie ein Seelöwe. Pirath verstand. Er selber war nicht mehr im Steinbruch gewesen. Sein Abenteuer mit dem Gemästeten war durch die Jahre in ihm weitergewachsen. Die Qualen der Kriegserscheinung der auf den Besuch folgenden Nacht waren in ihm zu einer geheimnisvollen Wurzel gewachsen, die fortwährend Ranken ausschlug. Etwas Fernes plagte ihn, wenn er dran zurückdachte, und die Nachwirkung jener Visionen, die nicht sterben wollten, und die Formen, die die furchtbare Begegnung mit dem unflätigen Dicken im Laufe der Zeit annahm, waren nach und nach in ihm wie ein schmerzgeladenes Symbol davon geworden, wie er Europa nie ganz verlor und Kililiki nie ganz gewann, und wie sein Leben in der Vereinsamung doch etwas rätselhaft Volles war, das er nicht zu fassen vermochte. In der Erinnerung an die kurze, gewalttätige Berührung mit der geifernden weißen Fleischmasse, die gerettet werden wollte, hatte sich ein unsteter und unsicherer Haß entwickelt, der nicht nur dem Dicken galt, sondern auch insgeheim etwas in Pirath selber traf. Oft nahm Pirath seine Zuflucht zu diesem geheimnisvollen Haß. Er wühlte sich hinein, roh wie ein Schakal, falsch wie eine Schlange, grausam wie ein Falke, ganz und auflodernd wie ein Kililikimann. Dann war es ihm, als bestiege er ein heilsames, kriegerisches Bad, und Unsicherheit und Schwanken häuteten sich von ihm ab. Er entstieg seinem Haß, aufs neue Herrscher über Kililiki und die Einsamkeit des Stillen Ozeans.

Das war Pirath gegenwärtig, als Möwenschnabel so unentschlossen um ihn ging. Einen Augenblick stieg es verführerisch durch das Blut des Schwarzen auf: ich nehm eine Keule und schlag ihn von hinten tot! Dann kann ich machen, was ich will ... Aber furchtsam machte er gleich einen heimlichen Zauber hinter diesen Einfall, damit Regenbogen nichts davon verspüren soll. Pirath aber sagte ihm einfach: „Die Männer werden nach dem Steinbruch Mutter gerufen! So spricht Regenbogen: Geht! Aber die jungen Leute, die in der Pflanzung arbeiten, gehen nicht und Regenbogen geht auch nicht.“

Damit war der König nur halb befriedigt. Was sollte er sagen, wenn die Schlitzäugigen nach den jungen Leuten verlangten? Er drückte sich noch immer herum und wagte endlich seine Bedenken hervor: „Der König meint, die jungen Leute ...“ Aber Pirath schnitt ihm erregt das Wort ab und rief unwillig: „Regenbogen spricht: Die jungen Leute bleiben hier. Geh!“ Da ging Möwenschnabel und tröstete sich mit dem Bewußtsein der Übermacht, die Regenbogen gegen den Steinbruch Mutter besaß.

Alle Männer, die an Pirath vorbeigingen, um ihre Kanus ins Wasser zu setzen, sahen bedrückt und furchtsam aus. Pirath verfiel in eine wüste und harte Stimmung. Er wollte die Männer nicht aufhalten, aber es beleidigte ihn doch etwas daran, daß sie zum Steinbruch gingen. Der Steinbruch war sein Feind. Aber vielleicht war der dicke Weiße in den Jahren gestorben? Doch seine Erinnerung klebte im Kessel. Der Haß umstieg Pirath. Er warf den Davonrudernden, die alle gedrückt sich in die Kanus füllten, Spottreden nach, und als der König Möwenschnabel, üppiger geschmückt als die andern und das schwere Halsband aus Muschelringen über Schultern und Brust, das er alle fünf Jahre einmal trug, sein Kanu bestieg, rief Pirath: „Der König verliert ja aus Angst vor den Schlitzäugigen seinen eigenen Dreck!“

Das war das Furchtbarste, was einem Kililikimann gesagt werden konnte. Denn die heftigste Scham und die entsetzlichste Angst hüteten die Leiberabgänge vor fremden Augen. Sie entstiegen dem innern Ort, an dem die Seele den Körper belebte und waren jeder Behexung aufs äußerste zugänglich. Alle Männer erschraken, als sie dies hörten, und der König blickte entsetzt unter sich. Er sah nichts, aber er glaubte. Ein finsterer Impuls schwoll in seinen Adern. Es war der Haß gegen den Unterdrücker Regenbogen, die Furcht vor dessen göttlicher Gewalt, die Liebe zu dessen Dasein auf Kililiki, die Grenzenlosigkeit zwischen Regenbogens Macht und der des Steinbruchs Mutter, dem sie entgegenfuhren, all der dumpfe Zwiespalt von Jahren. Regenbogen hatte etwas Neues gebracht, aber die alten dämonischen Säfte waren weiter durch Kililiki geflossen. Das alles ballte sich in ein rasendes Eins zusammen und durchwirbelte das Blut des Königs. Aber da in diesem Hirn Impuls und Tat keine genaue Abgrenzung kannten, genügte der dunkle Ansturm, um den König angstvoll niederzuducken und an einem geheimen Tabu Sühne und Sicherheit zu suchen.

Die Männer ruderten davon. Pirath sah, daß in den Kanus doch einige der jungen Leute saßen, denen er die Fahrt verboten hatte, und das steigerte seinen Zorn und Haß. Er geriet allmählich in eine Stimmung, an der er zu zerspringen drohte. Es war ihm, als zersprühten seine Nerven durch die Haut hindurch und als verlöre sein Körper den Halt. Jähzornig stieg er umher, warf sich bald hin und schnellte wieder empor, schoß mit dem Bogen nach allen Tieren, die er sah, raste durch die Weiberhütten und trieb die Frauen auf. „In die Pflanzung! Arbeitet!“ schrie er. Er stürmte zur Pflanzung und fuhr mit heftigen Worten drein. Die Kinder heulten. Pirath schlug sich in den Wald, lief zwischen Hag, Pflanzung, Wald und Meer ruhelos stundenlang umher.

Als er sich entschloß, das Kanu ins Wasser zu schieben und aufs Meer hinauszurudern, sah er plötzlich zwei Kanus um die Ecke biegen. Die Kanus strebten mit aller Kraft der Ruder aufs Land zu. Sie flogen surrend über das ruhige Wasser. Da ließ er sein Kanu liegen und wartete auf die beiden andern. Kaum hatte der Bug den Sand berührt, so sprangen die Männer in der Hatz ans Land und liefen. Er hielt einen an. „Was ist?“ rief er ihm ins Gesicht. Und der andre fiel in die Knie und stammelnd und ohne Zusammenhang mit schreiender Stimme: „Großes Kanu, so groß wie Kililiki, und aus einem Kopf Rauch! Und weiße Männer eingedrungen in den Steinbruch ...“

Da verließ die Kraft Piraths Arme. Der Mann entriß sich ihm und stürzte wie ein Kasuar davon. Aber Piraths Herz war wie explodiert. Es war ihm beim ersten Wort klar, daß ein Dampfer den Norden der Insel angelaufen hatte, daß ihm ein Wiedersehen mit Europa bevorstand. Das Ereignis fiel über ihn her wie ein zusammenbrechender Steinbruch. Er war ihm nicht gewachsen. Seine flatternden Nerven verloren den letzten Halt. Seine Vorstellungen purzelten um. „Nun wird der Dicke gerettet!“ stammelte er vor sich hin, von jenem kindischen Wahn umfangen. Er war niedergefallen. Langsam erhob er sich, und betäubt ging er davon mit immer demselben halblauten Stottern: „Nun wird der Dicke gerettet!“ Da geschah es in der furchtbaren Verwühltheit seiner betäubten Sinne, daß die Dinge sich auswechselten. Er hatte einmal Europa in dem Dicken verraten, hatte es ununterbrochen durch seine Hingabe an die Insel verraten. Er wurde mit einemmal das schwarze Kililiki, und der Dampfer und die Weißen rückten ihm bedrohlich als Todfeinde entgegen.

Er eilte in sein Haus, schaffte allerlei Lebensmittel zusammen, nahm den Revolver und schlich sich dann in seinem kranken Trotz, von der Unfaßbarkeit jener plötzlichen großen Nachricht in die Flucht gejagt, in den Wald hinein. Er hatte auf Jagden gegen Kasuare ein Tälchen entdeckt, in dem Felsen mitten in einem Teich von Grün weit über moosigen Boden sich auswölbten. Unter den Felsen war es wie in einem geschlossenen Haus. Dorthin wühlte er sich durch den Wald. Es war schon dunkel, als er ankam, und die Ermattung des Waldlaufens und die Wirkungen des unversehenen Ereignisses mähten ihn gleich aus dem Wachen. Aber sein Schlaf war wie ein zuckendes Von-Traum-zu-Traum-Flüchten. Jeden Augenblick wachte er halb auf, und der folgende, im Ungewissen beginnende und rasch zu grausamer Körperlichkeit steigende Traum riß ihn ein Stück weit durch einen entsetzlichen Schlaf, bis er gleich wieder aufschreckte. Eine dunstige Hitze sickerte aus seiner Haut. Als das Frühlicht durch die grüne Wand bis in die Höhle brach, lag Pirath stöhnend im Moos und wälzte sich unglückselig und schmerzgepeitscht im Fieber.

Die Forschungsgesellschaft

Im Norden ankerte die kleine Dampfjacht „Seepferd“. Sie war mit einer deutschen Forschungsgesellschaft hergekommen, die ausgezogen war, dem Stillen Ozean einmal gründlich auf die Eingeweide zu fühlen, und sie hatte bei monatelangen Kreuz- und Querzügen schließlich doch einmal auch Kililiki getroffen. Sie wären vorbeigedampft, denn ihre Arbeit war abgeschlossen. Aber diese Insel war nicht in ihre Karten eingetragen. So warfen sie Anker, und die jungen Mitglieder ruderten mit zwei Matrosen gleich ans Land. Sie sahen den Steg in dem Felsen, und sie kamen wie ein Gewitter, das auf einmal mitsamt Blitz, Donner und Wolken auf die Erde fällt, über die Versammlung im Steinbruch her.

Die Schlitzäugigen, die allerhand geheime Wege hatten, waren über diese zum größten Teil entwischt. Die Uferleute drückten sich ängstlich in die baumbestandene Ecke, in der sich der Hag des Dicken befand. Regenbogen hatte den jungen Leuten oft von jener ungeheuren Insel erzählt, die so groß war wie die blaue Matte über Kililiki und dem großen Wasser, und die Dörfer hatte, die doppelt so groß wie die ganze Insel waren, und in den Dörfern wohnten nur weiße Männer, Frauen und Kinder.

Die Alten hatten auch einiges von diesen Erzählungen aufgeschnappt, sie vermochten jedoch nicht recht zu glauben, daß die Erde noch mehr weiße Menschen trug als Regenbogen. Aber die Jungen, die durch jene Erzählungen Regenbogens mit den weißen Männern schon etwas vertraut waren, riefen den Alten zu, sie brauchten keine Furcht zu haben, das seien Brüder Regenbogens. Die Weißen kamen auf die Geängstigten zu und hoben die Arme hoch, um zu zeigen, daß sie keine Waffen hatten und ihnen nichts tun wollten. Sie sahen, daß die Schwarzen alle ebenfalls waffenlos waren. Das verstanden die Männer aber nicht, und sie drückten sich heftig gegen den Hag. Pfähle krachten und Matten rissen. Auf einmal erscholl ein entsetzliches Gebrüll. Ein Klumpen mengte sich unter die Männer, die in den eingedrückten Hag gerieten, preßte sich mit brüllenden Lauten zwischen ihnen hindurch, rollte nieder und erhob sich und fiel wieder hin. Es war der Gemästete. Das Fett hing, nun da er alt wurde, wie Würste schlapp um ihn herum. Er war entsetzlich kurzatmig und schimpfte zusammenhanglose Unflätigkeiten. Dünne graue Haarsträhnen klebten zwischen den Fettfalten seines Schädels. Er wälzte sich bis an die Weißen heran und rief: „Äser! Äser!“ und griff nach einem. Sie erwehrten sich seiner ohne Mühe. Ein Matrose hielt ihn fest. Der Dicke war dem Wahnsinn verfallen.

Die Männer aus den Dörfern aber verstanden nichts von dem, was geschehen war. Sie glaubten, der Dicke sei eine Sau, eine ulkige Mißgeburt, die schreien konnte wie ein Mensch, und weil sie sich dazu auch noch wie ein Mensch gebärden konnte, fanden sie ihn außerordentlich komisch, und sie begannen im Gebüsch und Hag allmählich immer lauter aufzumeckern. Das Gebaren der so drollig geratenen Sau ergötzte sie aufs höchste und machte sie den Weißen zugleich zutraulicher.

In Möwenschnabel regte sich das Blut, das ihn zum König gemacht hatte. Er nahm all seinen Mut zusammen, denn er war nicht sicher, ob nicht wie damals, als Regenbogen gekommen war, plötzlich das große Donnern wieder über die Männer dreinführe. Er schlüpfte etwas aus dem Gebüsch heraus auf die Weißen zu und entblößte weit sein Gebiß, indem er freundlich und lauernd: „Ö! Ö!“ grüßte. Dann wartete er zugleich auf Donner und Tod und auf gutes Gelingen seines Unternehmens. Ein Mann trat auf ihn zu. Er sah aus wie Regenbogen und klopfte ihm versichernd auf die Schulter, und auf einmal wußte Möwenschnabel und wußten alle die nackten Männer im Gebüsch, daß all die Weißen nichts anders seien wie Regenbogen. Ein Individuum schwand, und ein Begriff trat an seine Stelle, so wie in diesen Urwaldphantasien Leben lebloses Ding und lebloses Ding Leben, eine Tat, eine Vorstellung, ein Mensch und aus einem Menschen oder einer Tat eine Vorstellung werden konnte. Sie wurden auf einmal ganz zutraulich. Sie wälzten sich aus dem Schutz des Hags heraus und tolpatschten, lachten und machten ihre freundlichsten „Ö! Ö!“ um die Weißen, wie junge spielerische Hunde. Sie redeten die Weißen an und glaubten verstanden zu werden und griffen nach ihren Armen und sagten immer: „Regenbogen! Regenbogen!“

„Lausch, verstehen Sie, was da auf einmal vorgegangen ist?“ fragte der Doktor Stein seinen Kameraden.

Der meinte nur: „So was haben wir nirgends erlebt ... Wer ist denn der weiße Dicke?“ fragte er plötzlich.

Der weiße Dicke lag in der Sonne auf dem Boden und streckte die Beine und Arme weg. Er war tot. Er war tot wie ein Tier. Ein Herzschlag hatte ihn erlöst. Doktor Stein, der Arzt war, bückte sich zu ihm nieder und versuchte lange, durch die Fettbehänge dem Herzen nahe zu kommen. Es schlug nicht mehr. Er sah sich den Toten an und bemerkte seinen Kameraden: „Als ob er gestopft worden wäre, wie eine Mastgans. Welches Geheimnis ist diese Insel? Kneifen Sie mich mal in die Nase, Lausch, ob ich wirklich lebendig und bei Sinnen hier stehe ...“

Lausch kniff ihn. Stein sagte: „Ja!“ Dann zeigte er Möwenschnabel auf den Toten. Möwenschnabel erschrak und machte eine Bewegung, die heißen sollte: „Ich weiß nicht, hab ihn nie gesehen.“ Auch die andern Schwarzen schienen nichts von ihm gewußt zu haben. Sie lachten nur, denn sie glaubten noch immer, der weiße Körper sei eine Mißgeburt von einem Schwein. Stein sagte den Matrosen, sie möchten eine Grube graben und den Toten hineinlegen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte er Lausch und die beiden andern. „Was meint ihr, wenn wir an Bord zurückkehrten, Papa Wiltingen berichteten und ihm nahelegten, mit diesen Männern in deren Dörfer zu gehen. In diesem Loch können sie doch nicht wohnen ...“

Dabei drehte er sich herum und blieb auf einmal mit offenem Mund, erschrocken und wie geschlagen, stehen. Lausch folgte den Bewegungen Doktor Steins, und es geschah ihm plötzlich dasselbe. Der Biologe Doktor Hardt, der zu dem dicken Toten niedergebeugt kniete, sah, daß die beiden auf einmal, gleich der Frau Lots auf der Flucht, wie Säulen dastanden, folgte der Richtung ihres Gesichts, sprang auf, und auch der Zoologe Doktor Meister, der im Haufen der Schwarzen stand, gewahrte unversehens die Riesenbilder und trat mit einem Ruf des Erstaunens und Erschreckens aus dem Haufen heraus.

Er fand zuerst die Besinnung vor der fürchterlichen Gewaltigkeit dieser plötzlichen erdenschwarzen Hünen aus Granit, und er sprach das Wort: „Osterinsel!“

„Ja, aber viel älter, viel mehr Urwald und ... furchtbar, furchtbar!“ rief Lausch. Auch Stein sagte: „Ganz anders!“

Er zeigte Möwenschnabel und den Schwarzen die Bilder. Sie wichen erschrocken zurück. Sie versuchten die Weißen mitzuziehen. Sie waren sich nicht gewiß, wie die entsetzlichen Seelenfänger dort die Berührung mit den Weißen auffaßten. Einer der Europäer sagte: „Sie scheinen sich davor zu fürchten. Sie wollen uns weghaben. Kommt! Wir können ja morgen wiederkommen.“

Sie gingen, von den Männern umschwärmt. Die Kililikier zogen ihre Kanus unter den Bäumen heraus, die Weißen ruderten zur Jacht und erzählten dem Professor von Wiltingen, dem Leiter der Expedition, was sie erlebt und gesehen, und baten ihn, den Anker zu lichten und zu den Eingebornen zu fahren. Die Kanus hielten sich in gemessener Entfernung. Der Anker rasselte hoch, und auf einmal begann das Schiff sich in Bewegung zu setzen. Da scholl, wie eine Gewehrsalve, das Lachen aus den Kanus auf. Das Schiff fuhr ohne Ruder und ohne Segel. Hat man das je auf Kililiki gesehen? Ohne Ruder und ohne Segel. Das Lachen knatterte vom Felsen wider. Das „Seepferd“ fuhr mit wenig Dampf. Die Kanus lagen wie ein Schweif hinter ihm. Dann, nach zwei oder drei Stunden rückten sie auf einmal ab und ruderten ans Ufer. Der Dampfer setzte die kleine Jolle aus, und die Europäer fuhren ans Ufer, wo sie zwischen Bäumen Hütten sahen.

Als sie ein paar Schritte hinter Möwenschnabel her den Strand hinaufgegangen waren, kroch Seeschwalbe plötzlich aus dem Ufer. Ihre Augen funkelten vor gieriger Freude, sie hob die Arme hoch, sie wußte, wer gekommen war und sagte rasch hintereinander die sechs deutschen Worte, die sie von Pirath spielerisch gelernt hatte: „Peter, Deutschland, weiß, schwarz, Kinder, gebären!“ ... Die Europäer lachten, und Seeschwalbe entblößte mit tausend Gefühlen des Glücks, das sie wie ein wilder ungestümer Vogelschwarm überfiel, die großen schönen Zähne und sagte: „Regenbogen!“ und zeigte auf ihren Hag. Sie sprang voraus. Die Europäer kümmerten sich nun nicht mehr um den lächelnden, stammelnden Möwenschnabel, sondern folgten ihr.

Sie rief ununterbrochen ins Haus hinauf: „Regenbogen! Regenbogen!“ Aber Regenbogen kam nicht. Sie wußte nicht, daß er sich geflüchtet hatte. Da eilte sie vor den Europäern die Treppe hinauf. Die Weißen folgten. Seeschwalbe trat enttäuscht wieder aus dem Haus und hob die Matte vor der Tür hoch, damit die Weißen hineingehen konnten. Sie standen in dem dunkeln, leeren Raum und wußten nicht, was geschehen sollte. Da holte Seeschwalbe das Eisenbeil, den Kompaß, das Taschenmesser, die Uhr ... alle europäischen Dinge hervor, die Regenbogen im Boot mitgebracht hatte. Die Deutschen schauten sich an und schauten sich die Sachen an, sahen aus den Schriften darauf, daß sie deutscher Herkunft waren, und der alte Professor flüsterte: „Ein neuer Robinson!“

Er trat zu Seeschwalbe, legte mild seine Hand auf ihre Schulter und fragte mit eindrucksvollen Bewegungen, wo der Besitzer dieser Gegenstände sei. Seeschwalbe verstand die Frage und wollte den Weißen mitteilen, sie sei erschrocken, daß er nicht hier sei, und wisse nicht, wo er sich befände. Bevor sie aber diese Antwort geben konnte, erblickte sie auf einmal in dem halbdunkeln Raum in einer Ecke den König Möwenschnabel. Ihr Blick fiel zufällig unmittelbar in dessen Augen, und da sah sie etwas Gefährliches darin stehen. Sie fühlte in der raschen dumpfen Erkenntnis ihres Herzens, daß hinter diesen selbstvergessenen Augen etwas vorging, das auf Regenbogen zielte. Sie antwortete den Deutschen nicht mehr. Sie setzte zwischen ihnen hindurch, fiel über die Stiege hinab und sauste in den Wald hinein, zuerst ohne Richtung und nur heiß und angstvoll der Absicht folgend, Regenbogen zu suchen. Etwas, was Angst, Dankbarkeit, Hundetreue, Liebe, die ersten dämmernden Lichter von Gewissen war, hetzte sie so in den Wald hinein. Sie preßte sich hastig, bebend und stammelnd durchs Dickicht. Sie lief im Zickzack hin und her. Da fand sie auf einmal an einem geknickten Ast einen Faden hängen. Der Faden war von Regenbogen. Kein Mann auf der Insel besaß solches Gewebe. Sie rief und folgte hastig einer Spur im Gebüsch. Es wurde dunkel und finster. Sie schnitt sich rasch geradeswegs, scharf und drohend wie ein Messer durchs Gestrüpp. Denn jetzt fühlte sie, wo er hingegangen war.

Sie fand die Höhle. Sie stürzte zu ihm, der im Moos lag und im Fieber redete und stöhnte. Sie nahm seinen Arm und strich mit ihrer Hand unermüdlich und beruhigend drüber hinauf. Das Fieber war in der Auflösung begriffen. Piraths Hände drückten Seeschwalbe an sich. Er war glücklich, in seiner qualvollen Einsamkeit und Krankheit des Leibes und der Seele dieses Geschöpfes Teilnahme zu empfinden. Langsam schlief er dann ein, von der Ermattung bewältigt. Seeschwalbe aber wachte und horchte in den Wald hinaus. Es war ihr in ihrem aufgestachelten und besorgten Argwohn, als könnte sie ihr Gehör und ihre Nerven wie Pfeile in den Wald hineinwerfen. Und auf einmal nach Stunden, da die Dämmerung schon grün vor der Höhle im Wald aufleuchtete, da trafen ihre lauernden Vorhuten ein Geräusch, da empfand sie, daß sich etwas näherte.

Sie weckte Regenbogen leise und sagte ihm: „Möwenschnabel will dich töten. Wach auf, Regenbogen! Seeschwalbe ist dein Vogel, der gewacht hat, wie die Fregattvögel überm großen Wasser den Sturm aufrufen.“

Als Möwenschnabel hinter den Weißen in Regenbogens Haus eingeschlichen war und gesehen hatte, daß Regenbogen nicht darin war und daß Seeschwalbe sich erschrocken über seine Abwesenheit zeigte, da durchfuhr ihn plötzlich ein großer Einfall. Sein Inneres sagte ihm: „König Möwenschnabel, laß deinen Bauch zu dir sprechen: Der Regenbogen ist vor den Weißen geflohen. Sie sind so viele, als eine Hand Finger hat. Regenbogen ist allein. Er fürchtet sich. Diese Götter sind also mächtiger als Regenbogen. Ich werde ihn töten. Das wird dem König Möwenschnabel nützen.“

Sobald die Weißen dann zum Schiff zurückruderten, nahm er die Keule und schlug sich in den Wald. Er suchte. Dann kam die Finsternis, und er ging zurück in sein Haus. Aber mit der ersten Dämmerung brach er wieder auf. Bald fand er Spuren. Er folgte ihnen, verlor sie wieder, aber der Drang zu morden stand mit brutaler Sicherheit in ihm und schärfte seine Sinne. Nach und nach fand er den Weg von Regenbogens Flucht und sah den Felsen schon durch die Bäume durchdringen. Da faßte er seine Keule fest in die Faust und drückte sich hitzig durch die Sträucher durch. Auf einmal hörte unter den Felsen das Gestrüpp auf. Möwenschnabel sah einige Schritte vor sich Regenbogen auf dem Boden sitzen, und vor ihm stand Seeschwalbe. Die beiden erwarteten den König. Regenbogen erhob sich vorsichtig und langsam. Der König trat vor. Er meckerte laut seinen Gruß: „Ö! Ö!“ Er rief ihn halb spöttisch, halb von Haß zerbissen, mit Genugtuung und Gier; er schob Seeschwalbe, die vortrat, ohne weiteres auf die Seite und machte harmlos tuend eine Bewegung mit seiner Keule. Er lachte. Aber Piraths Revolver war rascher, und die Kugel traf mitten in das lachende Gesicht. Möwenschnabel stürzte vornüber. Er lachte im Tod. Seine Finger umkrampften den Griff der Keule wie einen Knollen. Alles lag in diesem, im Tod lebendig bleibenden Griff, was unter der spitzen Wölbung des durchlöcherten Schädels gelebt hatte. Die Finger glichen, hart, dünn und klein, wie sie waren, der spärlichen Masse des Gehirns, die sie in den Tod gestoßen hatte.

Pirath trat über die Leiche hinweg, Seeschwalbe umging sie, erschauernd und zufrieden. Sie brachen sich in geradem Weg durch den Wald zum Dorf Vater durch. Seeschwalbe ging vor, und Pirath hatte ihre kleine zuckende Hand in seiner Faust. Pirath schien es ohne Überlegung klar geworden zu sein, wohin er wollte. Er schritt wie eine Katastrophe Europa zu. Ein krasser und brutaler Schmerz saß starr in seinem Herzen. Es war kein Kampf in diesem Herzen. Aber die Selbstverständlichkeit dessen, dem er sich näherte, war von derselben einfach rohen Größe und Geradheit wie alles Lebendige der Insel Kililiki. Europa stand vor ihm wie ein Zwang, der einmal vor langen Zeitwenden, in einer Urzeit, unausrottbar in ihn eingesät worden war. Jetzt gedieh er und war ein Urwald in ihm, und dieser erste große Schritt zurück zu dem Einst trug all die überströmend und haltlos aufpflügende Wehmut in sich, die stets die geheimnisvoll in die Tiefe weisende Begleiterin aller großen Taten des Herzens wird.

So schritt Pirath hinter Seeschwalbe durch den Wald. Er wußte, daß zum letztenmal die widerstrebenden und zähen Wogen des Urgestrüpps seine nackten Flanken umpreßten, und er malte mit einer spitzen Angst im Leib die weißen Gesichter vor sich, die drunten am Strand auf ihn warteten.

Aber als die beiden an ihren Hag kamen, saß das ganze Dorf drin und auch das Nachbardorf und viele, viele andre Menschen. Sie sprangen auf und liefen schreiend durcheinander und umströmten Pirath wie Strudel. Weiße Männer waren jedoch keine zu sehen.

„Wo sind sie?“ fragte Pirath, der sich mit Gewalt auf seine Leiter durchstieß.

„Im Norden!“ riefen alle.

Dann ging Pirath in sein Haus, suchte ein weißes Brett und nahm eine angebrannte Kokosnußschale. Mit ihr schrieb er auf das weiße Brett: „Bitte um Kleider!“ Er sagte Seeschwalbe, sie solle gleich im Kanu zu den Weißen fahren und das Brett abgeben.

Nach einigen Stunden war Seeschwalbe wieder zurück. Sie hatte ein Paket, das in Papier gewickelt war. Die Männer und Frauen lagen noch alle im Hag und rundum und stürzten auf Seeschwalbe los. Aber sie rang sich durch, das Paket in den hochgestreckten Armen haltend. Die Männer griffen nach dem Bündel, dessen Hülle ihnen unbekannt war. Sie regten sich auf. Seeschwalbe mußte alle Kraft und List anwenden, um sich durchzuarbeiten. Sie entwischte und stürzte auf den Hag zu. Die Männer sprangen bös hinterdrein. Sie flog die Treppe hinauf, die mannshoch war, und rief Regenbogen, und zugleich, als sie oben war und Pirath in die Tür kam, wollten die ersten Männer die Leiter heraufsetzen. Das Erscheinen Regenbogens kühlte ihren Ansturm etwas. Die Leiter war nur breit genug für einen Mann.

Pirath rief streng: „Geht!“

Aber sie gingen nicht, sondern die Vordersten begannen langsam die Leiter zu ersteigen. Pirath rief noch einmal: „Regenbogen spricht zu euch also: Ihr geht gleich aus dem Hag!“ Da setzte sich das erste schwarze Bein auf die kleine Plattform vor der Tür, und der Schwarze rief eigenwillig: „Nein!“ Pirath aber trat rasch vor und schlug von oben herab mit seiner Faust heftig auf den frechen schwarzen Kopf. Der offene Mund des Schwarzen klappte zu und machte einmal „Keh!“ Dann fiel der Körper langsam und willenlos zurück. Er drückte den Hintermann einige Sprossen abwärts, der dritte fiel unter dem unerwarteten Stoß von der Leiter und riß den vierten mit, und bald lag ein Knäuel von Menschen am Fuß der Leiter. Sie versuchten möglichst rasch auf die Beine zu kommen und flüchteten. Einer zog den Besinnungslosen mit.

Dann sagte Pirath zu Seeschwalbe: „Ich sprech’ zu dir, du liebe, treue Seeschwalbe: Regenbogen wird jetzt ein andrer werden und muß die Insel verlassen.“

Kaum hatte er das gesagt, so fuhr Seeschwalbe zu Boden und begann händeringend zu stöhnen. Ein kurzer Gedanke durchflog Pirath, ob er Seeschwalbe mit sich nehmen könnte. Aber er wußte gleich, daß er sie nicht aus dem Boden reißen dürfte, und daß drüben in Europa nichts aus ihr werden könnte. Er fuhr fort:

„Du wirst die Königin über Kililiki sein und auf die Kinder aufpassen und die Männer und Frauen zur Arbeit in den Pflanzungen anhalten. Und wenn ich einmal zurückkomme, so wirst du Rechenschaft ablegen. Ich weiß, du wirst mir gute Rechenschaft ablegen, denn du bist ein starkes und kluges Weib. Du darfst nicht stöhnen und weinen. Eine Königin stöhnt nicht. Sie herrscht und ordnet. So spricht Regenbogen zu dir und du gehst jetzt in deine Hütte und wartest.“

Seeschwalbe war aufgestanden, und ihre Augen durchleuchtete der mädchenhafte Glanz einer neuen Zeit, die sie unter den Worten Regenbogens dämmernd in sich aufsteigen sah. Sie ging stolz in ihre Hütte und setzte sich in den Sand. Und ihre Kinder setzten sich um sie. Es waren fünf Knaben und zwei Mädchen, und sie waren von schönem großen Wuchs, von heller Haut und reinen Augen. Und Seeschwalbe sprach zu ihnen: „Euer Vater Regenbogen geht in sein Land und kommt zurück. Eure Mutter ist nun Königin von Kililiki. Möwenschnabel liegt erschlagen im Wald; denn er war bös. Aber aus dem Innern eurer Mutter kommt das Gute, weil der Gott Regenbogen sie befruchtet und gesegnet hat. Der ewige Geist will, daß wir Palmen pflanzen, die später reifen und unsern Kindeskindern eine Arbeit hinterlassen und eine neue Arbeit anzeigen. So spricht eure Mutter, die Seeschwalbe, zu euch, die jetzt Königin auf Kililiki ist.“

Pirath öffnete das Paket und fand einen Zettel drin. Darauf stand: „Wir kommen am Nachmittag. Von Wiltingen.“ Er zog die Kleider an, die das Paket enthielt. Es war ein blauer Leinenanzug. Strümpfe, ein Hemd und Schuhe. Er zog Stück für Stück an in einer gespannten Feierlichkeit, langsam, wichtig und schwerfällig, und ein Glanz erstand um ihn, der voll Seligkeit war. Er berauschte sich an der heiligen Handlung des Anziehens, mit der er sich Europa, Deutschland, der Mutter wiedergab.

Als er angezogen war, wartete er, ohne das Haus zu verlassen. Er saß ruhig mitten im Raum und dachte in bebenden Wonnen an seinen Bruder, an die Vaterstadt, an Arbeit und Fabrik, an Verwandte und an Menschen, deren Gesichter willkürlich in seiner Erinnerung aufflossen. Auf einmal hörte er draußen schreien. Männer und Frauen riefen: „Das große Kanu mit dem Feuerloch kommt! Ö! Ö! Niemand rudert es. Es hat kein Segel auf, und es geht doch rascher als unsre Kanus! Ö! Ö!“

Da erhob Pirath sich langsam und ging hinaus. Er sah den Haufen der Menschen am Strand und bemerkte dann auch den kleinen schönen Dampfer, und er stieg die Leiter hinab und er ging zum Meer. Die Männer und Frauen, an denen er vorbeiging, erschraken auf einmal, als sie ihn sahen, und wollten fliehen. Aber ein Weib rief: „Es ist Regenbogen!“ Da hielten sie an und schauten ihn ungläubig und unsicher an. Was war mit ihm vorgegangen? Wo war seine göttliche weiße Haut? Was hing an seinen Gliedern? ...

Er stellte sich vor sie, das Gesicht zum Meer hin, die Augen an das weiße Schiff gebannt, das ein wenig traumhaft seine kleinen Manöver in dem blauen Wasser verrichtete, und harrte. Er sah, wie die Jolle niederging, wie Leute in weißen Anzügen hineinstiegen; ihre Haut leuchtete ein wenig, und er biß die Zähne aufeinander, furchtbar von diesem Neuen und Unerhörten gepackt, das ihn nun aus dem Leben der einsamen Insel Kililiki zurücknehmen sollte.

Aus der Jolle stieg zuerst der alte Professor von Wiltingen heraus. Er kam, groß, breit und gutmütig, wie er war, mit seinem langen grauen Bart auf Pirath zu und, nicht wissend, mit wem er es zu tun hatte, reichte er ihm ernst und stumm die Hand. Die jüngeren Herren warteten eine Weile diesen Willkommengruß ab und machten sich so lange an der Jolle zu schaffen. Pirath sprach kein Wort. Es war ihm, als verdunste alles in ihm an der Berührung. Es kämpfte schwelgerisch in ihm, und er preßte mit aller Kraft die Tränen zurück. Dann ging er auf die drei jüngeren Männer zu und reichte jedem die Hand und schritt dann stumm voraus auf seinen Hag. Da wußte der Herr von Wiltingen und die andern, mit wem sie es zu tun hatten, und sie begannen auf eine lange und starke Erzählung zu warten. Sie traten hinter Pirath in den Hag ein. Die Eingeborenen stellten sich weit im Kreis um das Gehöft. Alle sieben Dörfer waren nun da. Aus dem Schatten der ersten Hütte trat Seeschwalbe heraus und auf die Männer zu. Sie lachte und war stolz. Hinter ihr hielten sich furchtsam ihre sieben Kinder. Und Pirath legte seinen Arm leicht auf ihre Schulter und sagte: „Das war meine alte Kameradin.“ Das war das erste Wort, das er sprach. Die andern Weiberhütten waren leer, die Weiber hatten sich in den Kranz von Neugierigen gemischt, die den Hag umstellten.

Als die Männer oben waren, schweigsam sich im Raum umhersetzten und Pirath noch immer kein rechtes Wort fand, brach der Herr von Wiltingen das Schweigen und fragte mit seiner milden Freundlichkeit: „Herr Pirath, gehen Sie mit uns nach Europa zurück?“

Und da löste sich auf einmal an dieser einfachen und selbstverständlichen Frage die verknollte Erstarrung, die jene kühle scheinbare Sicherheit in Piraths Herzen vollbracht hatte. Pirath, der auf einem Holz saß, hob seine Augen noch zu dem Frager hoch, aber gleich fuhr er in sich zusammen, schlug die Hände übers Gesicht, und es stieg ein tränenloses Schluchzen aus allen Wurzeln seines Daseins herauf und rüttelte ihn wie ein Erdbeben. So kam die erste Abrechnung mit Kililiki, und obgleich er, nachdem er von jenem Fieberanfall befreit, sein Bewußtsein wiedererlangt hatte, keinen Augenblick unsicher war, daß er Kililiki verlassen mußte, daß Europa ihn rief und er dem Ruf der Quelle seines Blutes folgen mußte, so überrannte ihn nun doch das Schwere und Gewalttätige seines Entschlusses.

Die Männer ließen ihn gewähren. Als er sich beruhigt, trat der alte Herr von Wiltingen zu ihm und legte seine Hand auf seine Schulter. Pirath sagte, seiner wieder ganz sicher: „Verzeihen Sie mir den Anfall. Ich muß so viel hier zurücklassen.“

„Wie lange waren Sie hier?“ fragte Herr von Wiltingen, und alle lauschten gespannt auf die Antwort.

„Ich weiß es nicht. Die Jahre sind über mich hergestürzt. Nennen Sie mir das Datum, das Sie heute schreiben.“

„Morgen ist Weihnachten neunzehnhundertachtundzwanzig.“

Da erschrak Pirath. Er stammelte: „Dann sind’s fünfzehn Jahre. Das hab ich nicht gedacht. Dann bin ich ja ein alter Mann. Dann bin ich ja schon über fünfzig.“

„Donnerwetter!“ entfiel es dem Professor. „Und Sie sehen aus wie Mitte dreißig.“

Dann lachte der alte Herr: „Die Hose ist etwas kurz, die wir Ihnen geschickt haben.“ Jetzt erst bemerkten die jüngeren Männer und auch Pirath, daß die Hose ihm kaum über die Mitte der Waden reichte. Sie grölten alle auf. Das Eis war geschmolzen. Der Professor sagte: „Da muß ich, als der Längste von uns, Ihnen meine Garderobe zur Verfügung stellen. Wollen wir zum ‚Seepferd‘ hinüber?“

Pirath sagte: „Wie Sie wünschen. Bitte lassen Sie mich noch eine Stunde auf der Insel. Ich muß mit den Leuten sprechen, und das geht besser, wenn Sie fort sind. Ich will auch einiges hier aus dem Haus einpacken und mitnehmen.“

Die vier Männer gingen. Pirath begleitete sie zur Jolle und wartete, bis sie auf dem Schiff waren. Dann sagte er zu den Scharen von Männern und Frauen, die sich am Ufer drückten: „Ihr Leute, kommt in meinen Hag. Regenbogen muß zu euch sprechen!“

Alles stürzte hin, und Pirath erstieg die Leiter zu seinem Hause und sprach von oben:

„Es spricht Regenbogen zu den Männern und Frauen Kililikis so:

Regenbogen muß von euch gehen. Seine weiße Insel hat ihn gerufen. Er fährt mit dem großen weißen Kanu zu seiner Mutter. Er läßt euch allein. Unter euch wohnte ein Mann, der war bös und falsch wie eine Schlange. Deshalb hat Regenbogen ihn von euch fortgenommen. Das war euer König Möwenschnabel. Er liegt im Wald, und seine Seele ist aus seinem Leib fort. Aber fürchtet euch nicht. Sie tut euch nichts Böses. Regenbogen hat sie gebannt. Es spricht nun Regenbogen zu euch, daß die Seeschwalbe eure Königin sein soll. In sie ist das Tabu übergegangen, und ihr müßt ihr gehorchen. Regenbogen hat euch oft erzählt, daß ihr weiterlebt in dem, was ihr arbeitet, und ihr lebt weiter in den schönen und fruchtbaren Palmen, die ihr in den Pflanzungen hegt, und wenn eure Seele den Körper verläßt, bleibt sie als Geist in den Palmen wohnen, und sie ist ein guter Geist, der euern Kindern nichts Böses antut, sondern nur das Gute. Darum müßt ihr immer in den Pflanzungen arbeiten und sie schön instand halten. Denn ihr müßt wissen, Regenbogen kommt einmal wieder nach der Insel Kililiki und schaut sich die Pflanzungen an, und wehe, wer unordentlich und faul war. Und das spricht Regenbogen noch zu euch: Sooft es für einen Mann oder ein Weib Zeit ist, daß die Seele den Körper verläßt, so oft ist Regenbogen auf Kililiki und fragt die Seele, die davon will: Hat der Körper in der Pflanzung gearbeitet? Hat der Körper auch seine Kinder angehalten, das zu tun, wie Regenbogen es zeigte? Und die Seele, die ‚Ja‘ sagen kann, wird es gut haben im Lande Jenseits. Jetzt geht Regenbogen.“

Er stieg hinab und ging durch die Menschen durch. Die waren erst erstaunt und betreten, und dann, wie Regenbogen sie durchschritten hatte, da ging seine Rede wie eine süße Verzweiflung in ihnen auf. Sie waren glücklich an den Jahren, die der weiße Gott unter ihnen verbracht hatte, und waren verzweifelt, daß er sie verließ. Sie warfen sich auf den Boden, und ihr Weinen und Heulen, ihre Rufe und ihr Gestöhn folgten ihm, bis sein Kanu an dem weißen großen Schiff anlegte und er über die schwankende Treppe ins Innere verschwand. Seeschwalbe aber lag im Sand ihrer Hütte und drückte ihre Kinder an sich. Kein Laut drang aus ihren aufeinander gepreßten Lippen. Freude und Schmerz aber überschwemmten mit grenzenloser Wucht ihr Inneres. Sie war wie eine Gebärerin voll des Heiligsten an Lust und Leid, und es war ihr nicht geringer, als ob sie eine ganze Insel Kililiki gebären müßte.

Pirath kam nicht mehr ans Land zurück. Er sagte den Forschern, er habe schon Abschied genommen. Da meinte der Professor, dann könnten sie abdampfen. Der Zweck, den ihr Unternehmen verfolgte, sei ja schon vor dem Besuch auf Kililiki erreicht gewesen.

Das kleine weiße „Seepferd“ dampfte im späten Nachmittag ab. Pirath stand auf Deck und schaute heimlich zu, wie Kililiki ins Meer und in die Ferne versank. Nach dem Abendessen erzählte er bis in die tiefe Nacht hinein, gepackt von den Erinnerungen und dem hingegeben, was er wiedergewinnen sollte, seine Erlebnisse. Als er geendigt hatte, sah er, daß seine Zuhörer aufgeregt und ergriffen waren von dem Weg, den sein Leben genommen hatte. Da änderten auch in seinem Inneren seine Erlebnisse das Gesicht. Sie waren ihm bis dahin selbstverständlich vorgekommen. Nun legte er einen Maßstab an, den die Welt ihm hinhielt. Er war melancholisch. Es war ihm, als ob ein Riß in seinem Leben wäre, und nur die Aussicht, das verlorene Europa wiederzugewinnen, stand wie ein tröstendes Heim in seiner Richtung. Als er seine Erzählung beendet hatte, schaute Professor von Wiltingen ihn innig an und sagte: „Das ist das größte und sonderbarste Menschenschicksal, das mir unter den vielen, die ich mitansehen durfte, begegnet ist. Der neue deutsche Robinson.“

Vierter Teil
Der Heimgekehrte


Der Heimgekehrte

An einem widerwärtig launischen und nassen Märztag saß Hermann Pirath in der deutschen Stadt in seiner Villa und dachte an etwas, was in seinem Leben nicht eingetreten war. Ein kleiner Schein dieser unlustigen Gedanken fiel auch rückwärts in eine Zeit, die verflossen, und auf einen geliebten Menschen, der verblichen war, und der Gedanke, der also abirrte, wurde rasch ausgelöscht. Wozu soll er durch sein Blut leuchten? Die Toten kommen nicht zurück. Hermann Pirath hörte, daß die Türglocke ging. Dann brachte ein Dienstbote eine Visitenkarte. Pirath kannte den Namen, aber er erinnerte sich nicht. „Professor Anastasius von Wiltingen.“ Wer? Wer? Woher? ... Ein vornehmer älterer Herr trat ein. Hermann ging ihm entgegen. Jetzt wußte er, daß er diesen Mann niemals gesehen hatte. „Ich steh zu Ihrer Verfügung, Herr Professor. Womit kann ich dienen?“ sagte Hermann entgegenkommend. Man wandte sich manchmal bei Stiftungen an ihn, und er suchte schon mit den Augen nach einer Feder. Denn bald sollte wohl die Liste aus der fremden Manteltasche erscheinen, auf der schon der Oberbürgermeister fünfhundert Mark, die Frau Annie Dübelstein, wenn es sich um Wissenschaften, oder die Frau Natalie von Brank, wenn es sich um ein soziale oder religiöse Geschichte handelte, ebenfalls fünfhundert Mark eingetragen hatten. Während Hermann im Geiste sah, wie aus seiner Feder die Fünf und die beiden Nullen flossen, erinnerte er sich auf einmal, daß er vor wenigen Tagen den Namen des Professors von Wiltingen im Zusammenhang mit einem wissenschaftlichen Unternehmen gelesen hatte. „Na, also, fünfhundert. Meinetwegen!“ sagte er bei sich. „Herr Professor, Sie waren der Leiter der deutschen Südsee-Tiefenmessungsfahrt!“ wandte sich Hermann noch einmal an den Besucher, um gutmütig die Rede gleich auf ihr Ziel zu lenken.

Aber da sah er, daß der alte Herr um Worte verlegen war. Hermann schaute aufmerksam in das vornehme, vergeistigte und großzügige Gesicht, dessen Ausdruck im Widerspruch zu der Ratlosigkeit stand, in der sich der gelehrte Mensch befand. Da trat etwas in Hermanns Inneres, eine seltsame, bedeutende, unbekannte Erwartung. Der fremde Mund sagte schließlich: „Mein Besuch hat keinen Zusammenhang, weder mit jenem Unternehmen noch mit meinem Beruf. Herr Pirath, ich bin mit einer ganz sonderbaren, ganz großen und freudigen Mission für Sie betraut worden. Sie könnten erschrecken, wenn ich auf einmal damit herauskäme, mit dem einen Wort ... wenn ich ... wenn ich ... sogleich einen Namen nennte ...“

Da war es Hermann, als ob sich sein Brustkorb, sein Leib, sein ganzes Ich zu einem Luftballon ausweitete und emporhob. Er sprang auf und warf die Arme hoch. Er wußte alles, und er rief das Wort, den Namen: „Peter!“ und fiel dann dem alten Herrn von Wiltingen an die Brust, um irgendwo zu spüren, wo ein warmes Leben schlug, das einen Anteil nehmen könnte an der schmetternden Süße, die sein aufwallendes Bruderherz durchraste. Der Professor sagte lachend im Schluchzen: „Ja, Peter. Ihr Bruder! Nun seien Sie ruhig und verständig! Wir haben ihn mit herübergebracht.“ Hermann raffte sich zusammen und flog hinaus und rief in alle Zimmer, in den Flur, ins Treppenhaus: „Der Peter! Der Peter!“ Seine Frau kam auf die Rufe aus ihrem Zimmer. Hermann sah sie nicht und rief: „Tilla, der Peter! Tilla! Tilla! Der Peter!“ Das Dienstpersonal lief zusammen. Der Johann machte der Zofe Annaliese ein Zeichen: „Er hat einen Sparren!“ Die Zofe machte mit dem Finger Zeichen auf der Stirn und flüsterte: „Tet.“ Die dicke Köchin keuchte aus dem Erdgeschoß herauf und schmetterte erschreckt von sich: „Wat is nu los?“ Der Chauffeur hörte die Rufe im Hof und trat neugierig in den hinteren Flur. Hermann stürzte zum Professor zurück und rief ihm überschwellend zu: „Dank! Dank! Herr Professor! ...“

Da sah er, daß seine Frau im Zimmer war. Sie hatte verstanden, daß der fremde Herr eine Nachricht von dem verschollenen Schwager brachte. Hermann fiel zu ihr hin und rief: „Tilla, der Peter!“ und konnte kein anderes Wort finden als immer: der Peter! Die Frau lächelte ihn an und sagte mit einer freundlichen Kühle und Gewandtheit: „Aber Hermann! Willst du so lieb sein, mich mit dem Überbringer einer so unerwarteten und glücklichen Nachricht bekannt zu machen?“ „Ja, ja!“ stotterte Hermann. „Verzeih! Verzeihung, Herr Professor, Herr Professor von Wiltingen — meine Frau. Herr Professor hat uns den Peter mitgebracht. Wo ist er, Herr Professor? Steht er hinter Ihnen? Draußen? Wartet er in Ihrem Wagen? Wo? Ach, ich werde ihn nicht mehr erkennen. Er wird mich nicht mehr erkennen. So lange ... alt geworden ... fünfzehn Jahre! Sechzehn Jahre! Wie sieht er aus? Ist er gesund oder krank? ...“

Der Professor besänftigte Hermann. Er erzählte das Notwendigste in großen Zügen und fügte hinzu: „Ihr Bruder ist in meinem Hotel, und er wartet darauf, zu Ihnen gerufen zu werden.“

„Das Auto! Chauffeur! Hans! Hans!“ rief Hermann. „Wir fahren gleich! Gleich!“

Seine Frau aber sagte ruhig: „Bleib doch besser hier! Meinen Sie nicht auch, Herr Professor? Es wird meinem Schwager lieber sein, daß das Wiedersehen in einem bekannten Haus und nicht in einem Auto auf der Straße ist.“

Sie stand da, groß, braun und glanzhäutig, wie sie war, sieghaft und sicher mit ihren schönen dunkeln Augen überlegen und gewandt den Auftritt beherrschend, und Hermanns Inneres sagte schmerzlich betroffen: „So kalt wie immer!“ Aber er mußte ihr recht geben und der Professor auch. Das Auto fuhr mit Herrn von Wiltingen davon.

Hermann strampelte vor Erregung und Ungeduld. Er warf sich in einen Sessel und hielt sich mit Gewalt an den Lehnen fest und schloß die Augen. Er versuchte, für eine Zeitlang sein Bewußtsein auszulöschen. Aber er mußte bald wieder aufspringen. Seine Frau zog sich nach einer Weile in ihr Zimmer zurück.

Peter kam. Er ging, von der Dienerschaft hinter den Vorhängen heraus angestaunt, schwerfällig und mit klopfendem Herzen durch den breiten Flur, und auf einmal flog etwas auf ihn zu, stürzte an ihm hinan, und die beiden Brüder hielten sich stumm umarmt und weinten. Dann gingen sie in Hermanns Zimmer, und sie tätschelten sich nur eine Weile und schauten sich an, unfähig zu sprechen.

Die Tür ging auf, und Frau Tilla kam herein. Sie ging groß und stolz rasch auf Peter zu, nahm schnell und lange seine Hand und sagte mit leuchtendem Auge: „Peter, ich freu’ mich!“ Zu Hermann gewandt, mit einer koketten, beleidigt tuenden Miene, fügte sie hinzu: „Du hättest mich wohl bis morgen auf meinen so unerwarteten Schwager warten lassen, damit du ihn allein hast. Egoist!“

Hermann war aber noch ganz umfangen von dem Ansturm des ersten Wiedersehens. Er sagte nur zu Peter: „Das ist Tilla, meine Frau!“ Tilla dehnte ihren schönen Leib auf vor Peter. Die Brust straffte sich unter den Spitzen zum Gewölbe, und ihre Hüften flossen schmal, gespannt und geschmeidig ab. Ihre Haut auf den nackten Armen und im Blusenausschnitt war von einem marmornen Braun. Sie hatte eine schmale, leicht gebogene Nase, aber ihr Mund war gewöhnlich und hatte verschwommene Linien um die rote Massigkeit der Lippen.

In einem messenden kalten und großen Blick sah Peter diese fremde Frau an. Er war auf einmal betroffen und beleidigt. Er hatte nichts von Hermanns Ehe gewußt. Er war nicht eifersüchtig. Er war mißtrauisch. Sie stand da, in Kleidern, die vor Vornehmheit kühl und befremdend waren, gepflegt, unter einem entfernenden Reif und rückte doch alles an sich vor und ins Licht. Dem dunkeln Glanz, den die großen braunen Augen über ihn ausstrahlten, begegnete Peter mit trotzigem Staunen. Es sagte eine Stimme in ihm: „Ich glaub dir nicht, Glanz. Du bist ja falsch ...“ Und dennoch bezwang der Glanz etwas in ihm. Peter zog sein Herz scheu zurück. Er fürchtete sich ein wenig, vor etwas Verstecktem, was in dieser steinkalten Person sich hinter Freundlichkeit verborgen hielt. Da fühlte er eine eisige Fremdheit sein Herz unglücklich machen, und er sprach kaum mehr. In seinem Innern fragte es immer: „Weshalb ist sie dreißig Jahre alt und Hermann noch einmal soviel?“ Er hatte die ganze Reise Hermann vor sich aufgestellt wie eine Vase. Hermann war das Gefäß gewesen, das seine europäischen Erwartungen gefaßt hielt. Er hatte falsch an ihn gedacht. Und während ihre Gespräche stockend und vorsichtig zwischen den Abenteuern und der Rückkehr Peters und dem hin und her flatterten, was in der Heimat zurückgeblieben war, fragte Peter unablässig heimlich in sich: „Sag, bist du denn der alte liebe Hermann aus der ersten Zeit meines Lebens?“

Aber weshalb wollte er den ersten Teil seines Lebens wieder treffen? Welcher verhängnisvolle Irrtum!

Sie gingen früh zu Bett, ein jeder mit seinen Sorgen. Niemand schlief im Haus in dieser Nacht.

Peter lag tief im Bett. Er fröstelte an seinen unerlösten Gefühlen und packte sich in die Tücher ein, als könnte er in ihrem weichen Schwall die süße Wärme finden, die ihm das Wiedersehen mit Europa versprochen hatte. Er lag mit den Augen gerade noch heraus, und seine Augen spannten sich groß und offen in den Fensterrahmen, der von außen erleuchtet in der Dunkelheit stand und in dem sich die Formen eines andern Gebäudes in der hellen Nacht zackten. „Ich bin unglücklich!“ sagte er. „Was ging mir nicht in Erfüllung, da ich hierhin kam?“ Er wußte sich nicht anders zu antworten als immer wieder mit dem Vergleich zwischen jener schönen jungen Frau und Hermann. „Das ist Tilla, meine Frau!“ hatte Hermann gesagt. Das waren die Worte. Peter fühlte sie weiter aus, und er begann in Gedanken durch die Nacht ein Zwiegespräch mit Hermann. Er fragte: „Was ist sie mehr als deine Frau?“ Hermann seufzte: „Der Berg von Unglück und Unzufriedenheit, den ich vor mir aufgehäuft hab.“

Peter: „Aber sie ist ein schöner Berg.“

Hermann: „Ich kann ihn nicht übersteigen.“

Peter: „Schau ihn von unten herauf an.“

Hermann: „Stets waren alle Sinne in mir ein Ganzes. Sehen, Fühlen, Nehmen, Besitzen.“

Peter: „Es ist Schicksal, sich untreu werden zu müssen.“

Hermann: „Aber sie ist so schön.“

Peter: „Was ist es: schön sein? Und sein Schönsein nicht an das Herz der lebenden Dinge anschließen können! Ein unnützes, vampirhaftes Schönsein.“

Hermann: „Ich werde nicht daran sterben. Ich hab mein Temperament umgeleitet. Es fließt um den Berg, den ich nicht besteigen kann, und überströmt um so größere Ebenen.“

Peter (kalt): „Darum bist du nicht mehr der alte liebe Hermann.“

Hermann (getroffen): „Liebst du mich nicht mehr?“

Aber Peter warf sich rundum. Er stöhnte: „Ich bin so eindeutig scharf auf die Menschen hier eingestellt. Das kommt, daß Kililiki die Willkür und Ungehemmtheit der Natur war, und ihr hier habt euch alle umgeleitet. Meine Sinne tun mir weh unter euch!“

So schnitt er das Zwiegespräch ab, und er erinnerte sich, daß einmal auf dem „Seepferd“ der Doktor Stein ihn allein in eine Ecke drückte und Peter, noch bevor der andere den einleitenden gleichgültig tuenden Satz gesprochen, schon erfaßt hatte, daß Stein ihn ausnutzen, sein außergewöhnliches Schicksal in irgendeiner Weise für sich ausbeuten wollte. Eine halszuschnürende Angst überrannte Peter, und er stand dem Ausbeuter willenlos Rede und Antwort. Er fühlte sich wie vergewaltigt von dem fremden, ungeraden Willen.

Während Pirath diese sonderbaren Erlebnisse ausdachte, entdeckte er plötzlich durch die Finsternis hindurch, daß er ja in seinem alten Haus war, in dem Haus, wo er und ... und er fand den Namen nicht gleich ... Nur wie ein Anprall von Leid und Schmerzen überfiel der Name ihn. Da peitschte Peter sein Hirn auf, daß es den Namen jener Frau in seine tiefste, schallose Vergessenheit vertreiben sollte. Aber es war zu spät, und die Dunkelheit sagte rauh und hart, wie eine Stahlschneide: Ree! Pirath floß in sich zusammen, und das neue Land, an das er getrieben war, errichtete sich grausam vor ihm und wehrte ihm brutal den Eintritt. Er lag im Bett in sich eingekrümmt, furchtsam, verzagend, und der kleine rohe Name schwang sich durch die Finsternis um ihn wie Peitschenhiebe.

Während das in der Seele des Mannes und im dunkeln Zimmer vor sich ging, lag in einem andern Zimmer nach vorn Frau Tilla, schön und halb von den Bettdecken befreit, und hob ihr langes und üppiges Bein in das heimliche rote Licht des Bettkandelabers. All ihre Gedanken strömten zu dem riesenhaften, sonnenbraunen Mann, in dessen eiserner Muskulatur ferne große Abenteuer schlummerten, die ihn mit etwas Bedeutendem und Außergewöhnlichem umhängt hatten. Sie schloß die Augen, und sie sah diesen Riesen auf sich zukommen. Sie lächelte, halb gepeinigt, halb lustvoll, und sagte frivol und wegwerfend: „Weshalb heiratet man meine Schönheit mit sechzig Jahren? Das ist gefährlich! Was kann ich dafür! Der schöne Leib will baden, erleben, erleben ...“

Aber sie hatte empfunden, daß dieser schöne große wilde Mann etwas aufrichtete zwischen sich und sie, einen Nebel von Mißtrauen, Argwohn ... oder nur vielleicht Angst? Dann ... Aber eher Argwohn! Sie wollte jetzt nicht weiter daran denken, und sie erinnerte sich, daß vorgestern, nach dem Essen beim Hauptmann, der Sänger ihre Hand eigentümlich geküßt habe, als ob seine dünnen heftigen Lippen etwas auf ihre braunen Handrücken geschrieben hätten. Ja! Ein Verlangen! Servus! Dös glaabst! Er brüllte beim Singen etwas, der Sänger. Er vermochte nicht, sich vom Theaterraum auf den Haussaal zurückzubeschränken. Das fand sie geschmacklos und unmusikalisch. Aber er war schön, und seine Brust war so breit und gewölbt, wie in reizvollem Gegensatz seine Gesichtszüge unter den wellig fallenden Haaren weich und bleich waren. Doch der andere! Der aus der Südsee! „Ich bin Eis und Vulkan zugleich,“ sagte Frau Tilla und war unglücklich daran, daß sie sich ganz weder zu Eis noch zu Vulkan entschließen konnte. Ach, der aus der Südsee! So schlief sie ein, das schöne Bein nackt dem roten heimlichen Licht des Bettkandelabers überlassen. Ihr Zimmer war weich geheizt.

Als sie am nächsten Morgen Hermann und Peter am Frühstückstisch traf, hatten sich alle drei erholt von dem Unerwarteten und Gewaltsamen, was das Wiedersehen gestern zwischen sie gebracht hatte. Tilla drückte Peter mit Wärme die Hand und schlug einen kameradschaftlichen Ton an. Sie sagte: „Also jetzt wird bald das Große kommen — die Erzählung unseres Robinson!“

Peter aber fragte sich erschrocken: „Was ist das für ein Geschöpf? Das soll die Frau des lieben Hermann sein?“

Er schloß sich hart zu vor ihr, und wie ihn auch das Herz drückte, dem geliebten Mann, der ihn fortwährend mit leuchtenden und glücklichen Augen anschaute, zu erzählen, was er erlebt hatte, so sagte er sich jetzt doch: „Ich kann es nicht, wenn die dabei ist! Weshalb?“ fragte es weiter in ihm. Eine Antwort kam zögernd und tief aus dem Dunkeln: „Weil sie so schön und falsch ist. Weil sie mich stößt!“

Es hatte sich etwas in Peter unversehens verwandelt. Seine Begier nach Europa hatte sich das Wiedersehen des Bruders als den Scheitelpunkt des Glücksgefühls, die alte Heimat wieder in Besitz zu nehmen, aufgebaut. Aber er wußte nun, nachdem seine Nerven sich an dem Persönlichen gestillt hatten, daß Hermann nur eigentlich wie eine Verkleidung der Statue gewesen war, in der er sich die Wiedersehensfreude zu einem körperlichen Bild errichtet hatte. Unter der Verkleidung stand aber heimlich das Gerüst, und dies Gerüst war er selber, einst, in jenem ersten Abschnitt seines Lebens, der ihn in die Vereinsamung von Kililiki entlassen hatte. Ja, womit hing er an dieser neu zurückerworbenen Welt? Womit hing er seit alters her an ihr? Hatte er nicht einst eine Saat in sie gesät? Und jeder Mensch ist sein eigener Acker. Er selber sollte als Ernte der vorsorglichen Saat aus dem Frühling des Lebens nun aufsprießen. So gab er sich Europa wieder, dachte er. Hatte er nicht eine große Maschine erfunden, ein bedeutendes Unternehmen gegründet? Und war er nicht durch diese Taten seines Willens auch von der Einsamkeit Kililikis herüber mit seinem alten Europa fruchtbar verknüpft geblieben? Ohne ihn hatte Deutschland seine Ellbogen wuchtig ausgestoßen und seine Geographie vergrößert, seinen Geist in die Völker geworfen. Aber waren seine Werke nicht eine der Kräfte gewesen, die an diesem wunderbaren und doch natürlichen Ereignis mitgewirkt hatten? Wie hatte das, was er geleistet, am Rad mitgeschoben, das Deutschland höher getrieben hatte? Weshalb ist dies ärgerliche Weib da? Er konnte nicht vor ihr fragen. Deshalb störte sie ihn besonders. Er haßte sie. Es brannte in ihm, zu fragen. Aber diese Dinge waren so keusch eingebettet in sein Innerstes! Wenn die Gegenwart der Frau ihn auch nicht gestört hätte, die eigene Scheu hätte ihm gewehrt, das Heiligste laut werden zu lassen, mit dem er an der Heimat verwurzelt geblieben war. Er sprach im großen Kreis rundum, von der neuen Zeit, die den Kriegen entsprossen war, dem neuen Deutschland, von Ingenieur und Kaufmann ... und hoffte, daß wie von selbst die Sprache ...

Da mischte sich Tilla ein. Sie lehnte die nackten Ellbogen auf den weißen Damast, und über ihren gekreuzten marmorbraunen langen Fingern fragte ihr formloser roter Mund: „Ja, nicht wahr, mein Schwager, das stelle ich mir unerhört interessant vor, ohne die geringste Ahnung, ohne die geringste Teilnahme an der Entwicklung so auf einmal aus der einsamen Insel in unsere Zeit gehoben zu sein.“ Der kalte Glanz der Augen prangte ihn an. Peter hielt seine Augen scheu aus dem Bereich dieser Blicke. Tilla fühlte das, und ein Gefühl von übermütiger Rechenlust und kühler Spielsucht war auf einmal in ihrem Herzen. „Ich werde ihn verführen!“ sagte sie sich. „Meine Schönheit wird seine spröde, verwilderte Männlichkeit besiegen ...“

Peter antwortete nicht auf ihre Frage, sondern fuhr, ohne ihr Achtung zu geben, in dem Satz fort, den er begonnen hatte. Da schaute sie ihn erstaunt und herrschsüchtig an. Er fühlte, wie dieser Blick ihr Inneres verriet. „Was will sie?“ fragte es stockend in Peter, und er sprach lauter, um die Last dieser Erkenntnis los zu werden. Tilla saß nun stumm da, spielte mit ihren Händen und ihrer Frisur und beobachtete ihn. Sie wollte seine Augen in ihre Augen zwingen. Sie dachte, was in ihm vorging, sei dem ganz fremd, was ihr eigenes Inneres erdachte; seine unhöfliche Nichtbeachtung habe nichts mit ihr zu tun, sondern sei das ungebändigt Männliche, das er vom Paschaleben der einsamen Insel mitgebracht hatte.

Peter sprach und sprach, mit wenig Worten, aber so vielerlei von weither. Hermann merkte schon lange, was sein Bruder wollte. Zugleich, wo Peter seine Kreise enger zog und auf die Frage nach seinem Schatz und Anker zusteuerte, dachte Hermann mit schmerzendem Herzen an die Form, wie er ihm mitteilen könne, was Peter wissen wollte, ohne daß es Peter zu sehr traf. Und auf einmal war Peter wirklich bei der Fabrik.

„Sie geht!“ sagte Hermann. „Sie geht ganz ausgezeichnet. Die verstärkte Zeit hat sie von selbst mit hochgehoben. Du kannst dich rasch wieder einarbeiten und vergleichen, was uns das letzte Jahrzehnt gab. Wir haben uns selbst überflügelt ...“ Und mit einem schweren Lachen, das die Sache leichter machen sollte, fügte er hinzu: „Denn die deutschen Ingenieure sind während deines Aufenthaltes in der Südsee nicht untätig gewesen. Ein junger Bremer hat ein Verfahren erfunden, das wir einführen mußten. Du mußt dich also dahinter machen und ihn übertrumpfen.“

Etwas verlöschte in Peter. Ein befruchtendes seliges Licht ging aus in ihm. Das Erschrecken atmete ihn heftig an. Europa entsetzte ihn. Er versuchte sich zu fassen, indem er sagte: „Das erscheint selbstverständlich, daß meine Zentrifugen überholt wurden.“ Hermann freute sich schon, daß dem Bruder die Sache doch nicht schwerer würde. Aber auf einmal fragte Peter, fast drohend und mit einem spöttischen Grimm: „Und hat sich Matantuduk ebenso überlebt wie die Zentrifuge? Wahrscheinlich doch auch!“

Seine Augen krallten sich an die blauen Blicke Hermanns. Aber Hermann sah ihn an und fragte erstaunt zurück: „Wie nennst du das? Matu... Was ist das? Mantuduk?“

Peter war’s, als müßte er sein Herz fest in die Faust einpressen. Er bewältigte noch mit Mühe sein zerspellendes Blut und fragte: „Hast du denn meine ... die Aufzeichnungen über die Gründung und Einrichtung einer Pflanzung in der Südsee nicht bekommen?“

Hermann winkte: „Nein!“

„Nein!“ wiederholte Peter und stand auf. Aber das kleine Wort schleuderte ihn unversehens wieder in den Sessel zurück. Er warf die Arme auf den Tisch, den Kopf hinein, die Tassen und Teller spritzten weg, und er weinte tränenlos und stotterte laut: „Ich hab ja umsonst gelitten und gelebt ... umsonst gelitten und gelebt ...“ Jeder Halt zerrann in ihm. Er war wie ein Kind, das unglücklich und ungerecht gezüchtigt wurde; er war ohnmächtig, wie der Willen eines Kindes gegen die mächtige Energie des Vaters, er war wund wie das Herz eines Kindes, das die Ungerechtigkeit der Welt nicht faßt. Er hatte seine Erfindung und seine Pflanzung verloren, Ewe verloren, Europa und Kililiki verloren. Hermann tröstete ihn und beugte sich über ihn. Peter aber weinte und schluchzte, und seinem Mund entfuhr immer nur das machtlose Stammeln: „Umsonst gelebt und gelitten!“

Tilla stand auf. Wie lächerlich war dieser Mann! Das war spröde Männlichkeit, Südseewildnis, ungedämpfte Natur, diese weinende Armseligkeit. Weil einer eine andre Maschine erfunden hatte! Weil im Krieg ein Brief nicht angekommen war! Sie war verlegen über das, was sie gegen ihn unternommen hatte. Sie streifte ihn mit einem kühlen Blick und ging davon. Sie setzte sich ans Klavier und wollte Chopin spielen. Dann sagte sie aber wegwerfend und hochmütig: „Das paßt wohl nicht, wenn ich dazu Musik mache!“ Das Klavier wurde wieder geschlossen, und sie ging zu ihrem Schreibtisch und schrieb an drei Freundinnen, ob sie sich ihren Robinson nicht einmal anschauen kommen möchten. Sie wußte doch, daß der armselige Riese vorläufig als Kuriosum gesellschaftlich außerordentlich auszunützen sei, und daß nun Leute kämen, um die sie sich bisher vergebens bemüht hatte. Zum Schluß schrieb sie auch an den Sänger.

Nachmittags fragte jemand nach Peter Pirath. Es kam eine Visitenkarte mit einem unbekannten Namen. „Erwin Arnold Kirsch.“ Sonst stand nichts darauf. Peter empfing ihn. Er war ein Reporter. Er sei nicht nur am hiesigen Tageblatt, sondern auch Vertreter der großen Berliner Zeitung am Platz, sagte er und meinte, es sei ja wunderbar, was Herrn Pirath widerfahren. Das sei ja wie ein Robinson, nach allem, was man höre, und das deutsche Volk habe ein Recht darauf, mehr davon zu wissen. Herrn Piraths Schicksal und Erlebnisse seien eine Sache, die der Menschheit gehört.

Peter schaute den kleinen lebhaften Herrn feindselig an. Der andre fragte. Peter wehrte sich. Er wollte über ihn herstürzen, ihn erwürgen. Aber er saß da; durch die eindringlichen Fragen schienen seine langen Glieder an den Stuhl gefesselt, und sein Willen folgte den Fragen im Schlepptau. Am Morgen kam das Tageblatt. „Ein neuer Robinson,“ hieß die dicke Überschrift. Peter las es nicht. Tilla schob es spöttisch hin: „Lies doch nur, Schwager! Du bist ein berühmter Mann.“ Tags darauf kam es auch in der großen Berliner Zeitung; dort war es aufgewürzt durch eine typographische Anordnung mit kleinen krassen heftigen Überschriften. Aus dem Berliner Blatt ging es in die Provinz, nach Österreich, Dänemark, der Schweiz. Es kamen täglich Telegramme: „Redaktion erlaubt sich höflichst anzufragen, ob sie auf ausführliche persönliche Darstellung Ihrer ganz außerordentlichen Geschichte zählen darf, wodurch Sie Redaktion und Leser außergewöhnlich verpflichten.“ Da ein Antworttelegramm bezahlt war, wurde zurücktelegraphiert: „Leider nicht in der Lage.“ Es kamen neue Telegramme: „Ergebene Bitte, da Sie persönlichen Bericht nicht zusagen könnten, unserm Vertreter Unterredung zu gewähren. Vertreter, Herr Armin Fritzcohn, wird sich mit Legitimation versehen zur Verfügung halten. Schließen Sie aus der Wahl dieses Mitarbeiters, dessen Reiseschilderungen und massenpsychologische Veröffentlichungen bei unsern Lesern solche Erfolge fanden, wie sehr uns an einer ernsten Darstellung Ihrer Erlebnisse liegt.“

Peter beantwortete dieses Telegramm nun nicht mehr. Auch das Antwortformular gab er dem Boten mit zurück. Von Doktor Stein aber wurde ein Buch angekündigt: „Fünfzehn Jahre Südsee-Einsamkeit!“

Wenn Peter durch die Stadt ging, so blieben die Menschen stehen. Horden folgten ihm. „Bin ich denn ein ausgesprungenes Menagerietier?“ fragte er sich erbost. Dunkle Erinnerungen stiegen in ihm auf. Wie schon einst die Stadt ihn verfolgt hatte und er in Haß aus ihr entflohen war. Er verließ das Haus nur mehr in der Dämmerung und schritt dann, groß und gerade, mit eiligen Schritten, fast im Lauf, durch die Wege des großen Stadtwaldes, die nur spärlich beleuchtet waren, und sah nicht rechts noch links.

Einmal hielt jemand ihn unter einer Laterne an: „Verzeihen Sie!“ sagte der Unbekannte. „Dürfte ich um Feuer an Ihrer Zigarre bitten!“ Peter reichte ihm erschrocken die Zigarre und sah ihn an. Der Unbekannte war ein großer, schwammiger Mensch, etwas geckenhaft gekleidet. Er hatte ein verschwommenes Gesicht mit weichen Zügen, und lange Haare waren künstlich beiderseits über die Schläfen gestrählt und an ihren Enden einwärts aufgelockt.

„Ist’s nicht ein Weib?“ fragte Peter sich. Der Unbekannte reichte ihm zögernd die Zigarre zurück, ohne sie ganz loslassen zu wollen, und Peter sah, wie die fremden Augen ihn im Laternenlicht scharf musterten. Da wußte er: Jetzt sagt er: „O, Sie sind ja der neue Robinson!“

Der Unbekannte sagte mit leiser, weich ausbetonender Stimme: „Wissen Sie, daß Sie das Gespräch und die Gedanken von Terpsichore und mir während dreier Wochen bilden. Sonderbar! Ich geh durch diese große, fremde Stadt. Ich geh durch sie mit dem Mut und der Sucht, den sonderbaren Zwangseinsiedler, den die Südseeeinsamkeit in Fesseln schlug und der nun unversehens in ein neu bereitetes Volk zurückgesät wurde, zu finden. Der Zufall muß es sein, sagte ich mir. Denn der Zufall gab diesem Mann das einzige Schicksal, der Zufall gab ihn der Erde wieder. Sie waren mir in den drei Tagen, die ich hier herumgeh: der Verhüllte. Ich schrieb Terpsichore noch erst heut: Die Monomanie des Entdeckens hat mich gepackt. Es ergeht mir so, schrieb ich an Terpsichore, wie es mir in Südafrika geschah, als ich die Seele eines Erdteils suchte und das Ghetto der Stadt auf dem Spitzschädel des Erdteils entdeckte.“

Da drehte Peter sich heftig um und stürmte in einen dunkeln Seitenweg hinein. Er lief davon, so rasch ihn seine langen Beine tragen konnten. Er hörte noch in der Nacht hinter sich einen Ruf ihm heftig nachprallen, wie ein ohnmächtiges Lasso: „Ich bin doch ...“ schrie die Stimme schrill und endigte leiser und verwischend ... „Cohn! Armin Fritzcohn! Von der großen Zeitung!“ Peter lief. Der andre war anfangs wütend. „Jetzt dachte ich, ich hab ihn schon!“ sagte er sich enttäuscht. Aber nach und nach wandten sich seine mißmutigen Gedanken. Im Davongehen ging es ihm allmählich auf, was für einen köstlichen kleinen Aufsatz er aus dieser Nachtbegegnung und komischen Flucht machen könnte. Das war ja mehr und reizvoller als ein Jahrhundert einsamer Südseeinsel. „Goddam! It’s a beauty!“ flüsterte er, und sein Gehirn bildete schon verzwickte Wortwickel, die nach Feder und Papier ungeduldig verlangten, wie die Stirnhärchen einer den Ball Erwartenden nach der Brennschere.

Mit dem Nachtzug reiste er nach Berlin. Im nächsten Abendblatt stand der köstliche kleine Aufsatz unter dem Titel: „Der neue Robinson im nächtlichen Park.“ Tilla wurde die Zeitung von einer Freundin gebracht. Sie legte sie Peter hin, ein wenig hochmütig und verächtlich. Peter las den Titel und wußte. Tilla sagte lachend: „Sie machen dich zu einem entsprungenen Wunderaffen!“ Peter war kleinmütig und unglücklich. Tilla war es nicht gelungen, mit der Sensation „ihres Robinson“ ihre gesellschaftlichen Erfolge zu steigern. Anfangs waren sie gekommen und hatten ihn ausgefragt, dumm, plump und ohne Absicht. Dann entzog er sich jeder gesellschaftlichen Veranstaltung.

Auch Gelehrte kamen mit Empfehlungen von Professor von Wiltingen. Er mußte sie aufnehmen und stand ihnen Rede und Antwort. Sie fragten Dinge, über die Peter staunte und die er nicht beantworten konnte, weil sie ihm selbstverständlich erschienen. Er fühlte sich nicht wohl in Europa. Die Luft des Weltteils lag um ihn wie ein verbrauchter Atem. Es widerte ihn ein wenig an.

„Sie stoßen mich aus dir hinaus!“ sagte er. „Sie machen mich zu einem Kuriosum. Und ich will doch nur mich achtlos und unauffällig wieder in dich einmischen.“

„Komm, wir arbeiten uns zusammen wieder ein!“ versuchte Hermann ihn mitzuziehen. Peter ging mit in die Fabrik und die Geschäftsräume. Er bemühte sich, dort eine Stellung zu gewinnen. Aber er sah, daß alles voll besetzt war. Wo er hingriff, war er doch nur eine parallele Kraft zu einer andern, die für sich ausreichte, und all seine Anstrengung war innerlich überflüssig, seine Arbeit unnötig.

Er bekam von Weile zu Weile leichte Fieberanfälle, die ihn dann immer wieder auf zwei oder drei Tage fern und im Bett hielten. Wenn er dann seine Arbeit nachholen wollte, fand er, daß sie stets schon eine der namenlosen Kräfte gemacht hatte. Nach und nach gab er es darum auf. Er nahm die alten Zeichnungen und Notizen über seine Erfindung hervor und wollte sich von neuem versuchen. Aber sein Geist hatte jene alte Fähigkeit, Bewegungen, Richtungen, Kräfte in eins zusammenzuleiten und über den Umweg der Abstraktion Körperliches zu schaffen, ganz verloren. Es war ihm, wenn er über diesen Zeichnungen saß, als sei etwas aus ihm ausgeflossen. Er sank über sie hin, in brütender Ohnmacht an Vorstellungen verloren, die Tiere und Pflanzen, Licht- und Wasserbewegungen, Menschenregungen und unfaßbare Kräfte wehrlos mit zuckenden Maschinenteilchen und quetschenden Sieben, mit Berechnungen und Zeichnungen austauschten und vermischten.

An einem Maientag spürte er, daß wieder Fieber kam. Er nahm kein Chinin. Er trotzte. Er rauchte und trank und lehnte sich scheu auf. Das Fieber warf ihn ins Bett, stürzte sich gewaltsamer als jemals zuvor über ihn her. Die Temperatur stieg tagelang über vierzig Grad. Ein Tropenspezialist kam. Auch er konnte nichts anderes sagen: „Chinin. Und dann Luftveränderung!“ Er riet von der Radikalkur der Salvarsaneinspritzungen ab. Das Herz habe sehr gelitten.

Hermann besprach sich mit Tilla. Er fragte sie, ob sie schon Lust habe, in den Wiener Wald zu reisen und die Sommervilla zu beziehen. Tilla war gern einverstanden. Wien war ihre Heimat. Sie hatte mehr Beziehungen mit ihr behalten, als neue durch ihre Heirat in der Heimat ihres Mannes gewonnen. Übrigens war der Freund Arnulf Dvorak, der Sänger, auch jetzt in Wien.

Als Peter nach dem starken Malariaanfall das Bett verließ, spürte er, daß er älter geworden war. Er ging gleich zu einem Spiegel. Er war um zehn Jahre gealtert. Er sagte es Hermann. Der tröstete ihn, burschikos tuend: „Zunächst kannst du nicht verlangen, daß eine solche Krankheit dich gleich jünger macht. Und dann hast du ja Spielraum vor dir. Mit deinen zweiundfünfzig siehst du aus wie fünfunddreißig,“ lachte er. „Was tut’s auch?“ entgegnete Peter müd. „Ich meinte es nicht als Klage.“ Er erholte sich auch nicht mehr ganz. Kleine fortwährende Wechselfieber griffen ihm ans Herz. Auch seine innere Spannung fühlte er immer noch lockerer werden. Er kämpfte kaum mehr. Die Welt um ihn entglitt sacht. Er fand keinen Anschluß mehr an sie zurück. Sie kreiste so heftig und willkürlich um ihn. Sie war so grausam eilig und unberechenbar, launisch und roh. Und über ihm lag, wie ein schwerer Dampf, immer drückender werdend, eine ferne Sattheit, eine faule Welt von Sinnlichkeit und schwülem Instinkt. Aber auch diese Welt hatte er verloren. Er lag zwischen dem All und war verflucht. Zwei kleine Fäden verbanden ihn mit der Erde. Bruderliebe und Tilla. Aber Tilla war furchtbar, war Leid und Haß und Unerlöstheit.

Eines Tages reisten sie dann nach Wien.

Die große Villa lag in einem Tal, das jäh von Bergen, Wäldern und Felsgruppen umzogen war. Sie lag in der Mitte eines Hangs, und der Tannenwald, der hinter ihr am Berg weiterstieg und eine große künstliche Ruine umzog, senkte sich bis in den Garten hinein. Durch einen Felsenengpaß, der den Zugang zum Tal wie ein verwittertes Tor gestaltete, sah Peter die ungarische Tiefebene grenzenlos verströmen. Die Ortschaften lagen drin wie Schiffe im Meer.

Tilla war oft in Wien. Hermann mußte wegen seiner Geschäfte manchmal nach Deutschland. Er blieb dann stets ein oder zwei Wochen fort. Für Peter, dessen Fieberanfälle nicht nachließen, stellte man schließlich einen Krankenwärter an. Als dies Peter eröffnet wurde, zog sich sein Inneres noch scheuer, kranker und unfähiger von Europa zurück. Eine Mattigkeit überkam ihn, ein wehes, weites Sehnen nach ungreifbaren Dingen.

Peter ging über die Straße. Ein Pferd stand dort an einem Wagen. Es war Sommer und Sonne. Peter schaute dem Pferd in das große Auge, das Fliegen umschwärmten. Das Auge war schön und kannte keine Grenze von dumm und klug, von Leid und Lust. Alles in diesem Glanz war ein Reif, in dem sich das Leben in allen Äußerungen bedeckte, in dem sich Menschheit, Tierreich, Pflanzen, männlich und weiblich verschlangen. Wo war es einst so? Und aus der Tiefe seines Blutes brodelte es heiß auf, und eine kräftige Stimme sang geradeaus: „Ki ... li ... li ... ki ...!“ Die Insel hob sich in ihm wie eine Erlösung, wie eine Erfüllung des physischen Lebens ohne Rest von Sehnsucht und Suchen, von Streben und Gehirnkraft, die in tausend Richtungen verlief, man sah nicht wohin. So riß er sich vom Pferdeauge los, das ihn zwei Minuten lang erlöst hatte. Kreise von Vorstellungen drehten in ihm auf. Und es geschah in ihm, daß er einen jeden dieser Kreise durch einen Laut festhalten wollte, durch einen kurzen melodischen Laut, wie der Urwald drüben sie in Menschenkehlen legte. Er sagte: „Ping!“ kurz, scharf und laut, und das bedeutete etwa: Ich zeuge mit Seeschwalbe in süßer milder Nacht. In einer Hecke höhnten zwei Knabenstimmen ihm nach: „Pang!“ Und Kindergelächter überfiel ihn und stieß ihn zurück von der weißen Welt und der schwarzen, zurück in Einsamkeit und Krankheit. Er ging als Sonderling umher. „O, der!“ sagten die Leute, wenn Fremde nach ihm fragten. „Das ist der Lange mit dem Span aus der Villa Walküre.“

Wenn jemand seine Schwägerin fragte: „Was fehlt ihm eigentlich?“ so sagte sie lächelnd: „Das Paradies kam ihm abhanden!“ — „Das Paradies?“ — „Ja, ja. Er sucht im Wiener Wald das Killekille, das er in der Südsee verloren hat. So ähnlich hieß seine Insel drüben.“ Die Menschen lächelten.

Wenn Peter zu den Ruinen hinaufstieg, durch den struppigen Tannenwald, und dann weiter oberhalb des Kalkbruchs durch die harte Heide ging, das war sein liebster Spaziergang, denn es begegneten ihm nie Menschen dort, dann spürte er sein Herz, als ob es eine dünne Blase sei, die zerplatzen könnte. Der Arzt im nahen Sanatorium sagte, das Herz sei sehr in Unordnung. Er riet zu einer Wasserkur. Der Wärter begleitete Peter dann jeden zweiten Tag in die Wasserheilanstalt. Peter ließ lächelnd den Badediener die Kur vollziehen. Er lag dann in den Flanelldecken, und in der wohligen Ermattung, die ihn überfloß, erstaunte er, daß man sich so viel Mühe mit ihm gab. So viel vergebliche Mühe. „Denn sieh, Doktor, ich will doch sterben!“

Im Garten traf er immer ein Schwesternpaar, die Töchter des Arztes. Es waren zwei junge Mädchen, mit schmalen Köpfen, einer braunen Haut und großen dunkeln Augen, und es war ihm, als ob diese beiden näher jener Sonne gewachsen waren, deren heimlichen Fluch er nach Europa gebracht hatte. „Perserinnen,“ sagte er, so oft er sie sah, für sich, „ich liebe euch!“ Die Leute hörte er stets sich über die Ähnlichkeit der beiden Mädchen ergötzen. Sie waren Zwillinge, und niemand konnte sie recht auseinanderhalten. Aber er konnte das sofort. Er sah auch, wie die eine fließend weich und die andere glühend hart war, was sonst niemand sah.

Einmal standen sie am Tor, als er allein von der Kur kam und nach Hause gehen wollte. Er schaute sie an, wollte ihnen zulachen und sah, wie die beiden großen Augenpaare, wie zwei Scheinwerfer, Mitleid auf ihn strahlen ließen. Da blieb er stehen und sagte leise: „Aber Kinder, das Sterben ist doch meine Heimat!“ Die Schwestern jedoch streichelten seine Wangen und mußten sich dazu auf die Zehen stellen. Ihre großen Augen waren zugleich voll Tränen und Lachen, und das weiche Herz und das glühend harte Herz fühlten das Große, was diesen kranken Mann durchrauscht und verlassen hatte.

Jenseits des Weges war Tilla vorübergegangen. Sie grüßte hochmütig lachend und sagte später zu Hause: „Robinson, du machst Eroberungen!“

Hermann war telegraphisch fortgerufen worden und schickte aus Hamburg ein Telegramm, er müsse nach Neuyork reisen und hoffe in einem Monat wieder zurück zu sein. Als Peter das Telegramm las, überkam ihn eine fröhliche Wehmut, die er selber nicht verstand. Er dachte und dachte und glaubte dann, diese sonderbare Stimmung käme daher, daß er nun Hermann den Anblick seines Sterbens ersparen könnte.

Dies Gefühl überrankte sein Herz so stark, daß er unbedachtsam Tilla davon sprechen wollte. Aber kaum hatte er den Mund geöffnet, so wurde etwas kalt in ihm. Er sagte: „Der Dvorak läutet!“ Tilla hatte nicht läuten hören. Da rief die Klingel, kaum daß Peter das letzte Wort gesagt hatte. Tilla erschrak. Was wußte er? Sie stand groß in ihrer schlank gefaßten Üppigkeit vor ihm, schön wie eine Zeder, achtlos dieser Welt ergeben, siegreich und stolz in ihrer Gesundheit. Sie fürchtete ihn jetzt manchmal. Seine Verrücktheit schlug auf gefährliche Nebenwege. Mit dem Sänger hatte sie sich in eine Art eingelassen, die ihr selber nicht ganz recht war. Aber Peter sah sie vor sich, vom Zwiespalt seiner Gefühle heftig umdrängt. War sie das fremde Land nicht etwa, das er verloren hatte? Sie sagte gierig: „Woher weißt du, daß es Dvorak ist? Robinson, woher ...?“

Da kam das Dienstmädchen und warf das Wort: „Herr Dvorak!“ zur Tür herein.

Herr Dvorak trat ein, üppig und weich von der Wichtigkeit, die er sich anhaften glaubte, geschaukelt. Tilla rief: „Herr Dvorak! Servus! Denken Sie sich, unser Robinson hat Sie geahnt!“ Aber heimlich stürzte ein Schauer über ihre braune Haut bei den letzten Worten.

Peter ging, schmerzlichen Gefühlen eine Beute, und er wußte und wußte nicht, was für Gefühle das seien, die ihn von Tilla und dem Sänger davongestoßen hatten. Er hatte von der Begegnung mit den süßen Zwillingen her eine Wärme im Blut behalten. Er glaubte, er müsse sie auf Tilla übertragen. Und er wußte doch, wie es um Tilla und den Fremden stand. In heimlichen Zwiegesprächen, die er nachts im Bett mit sich durch seine zähe Schlaflosigkeit hindurch hielt, hatte er sich mit dem Blut der Schwägerin auseinandergesetzt. Das Blut der Schwägerin war wie das Blut einer Zuchtstute gewesen, schwer, voll Drang und zuwartender Kraft. Kein Name war bei diesem Zwiegespräch gefallen. Keine andre Person war zwischen sie und ihn gekommen. Es war ein aus der Ewigkeit her reines Beieinandersein des tiefsten und wahrhaftigsten Bluts gewesen.

Peter ging den steinigen Weg wieder hinab, dann über den weichen gepolsterten Tannenwaldweg und zur Wasserheilanstalt. Er wollte die Zwillinge sehen und mit ihnen sprechen. Aber sie waren nicht da, als er kam. Der Arzt fragte im Vorübergehn: „Wie schaut’s bei Ihnen aus?“ „Gut!“ sagte Peter nur und entfernte sich. Er ging jetzt schon wie zögernd, auf einen Stock gestützt und tief wie über sein krankes Herz vornüber gebeugt. Im Hotelgarten neben dem Sanatorium saßen viele Leute um eine Schrammelmusik. Ein Glas zersplitterte. Eine heftige Stimme schimpfte. Ein Maulbeerbaum warf Peter eine reife kleine Dolde seiner Früchtchen auf die Hand, die den Stock führte. Ein schleimiger Saft blieb von den Beeren auf der Haut. Vier junge Mädchen kamen von der Badeanstalt herauf. Das Wasser schien noch an ihnen zu glänzen. Ihre Jugend strotzte. Peter schaute sie im Vorübergehn scharf an. Er sah in ihnen hinter den jung drängenden Brüsten, die den geblümten Stoff heimlich aufpreßten, hinter den dummen funkelnden Kinderaugen, hinter dem mutwilligen Gang, Keim und Skelett. Entstehn und Endigen! Das war nicht schreckhaft, nur von der Ewigkeit her natürlich.

Die vier Mädchen tollten vor ihm daher wie junge Hunde. Sie gingen seinen Weg im Zickzack vor ihm hinauf, auf die Villa Walküre zu. Dort stand Tilla in der Tür. Vielleicht hatte sie den Sänger hinausbegleitet. Der stieg die lange Treppe ins Dorf und zur Elektrischen hinab.

Peter ging zu ihr und sagte ruhig: „Tilla, schau diese vier Mädchen an, die vom Baden kommen. Ich sehe in ihnen Keim und Skelett.“

„Pfui!“ machte Tilla. Sie wollte gehen. Aber sie blieb. Seit einiger Zeit kam etwas immer stärker aus Peter, das sie gegen ihren Willen heimlich in Besitz nahm, eine dunkle, geschlossene Kraft, die sie nicht erkannte.

„Ihr seid alle,“ fuhr Peter fort, „angeknüpft an ein Drahtseil zwischen eurer Geburt und eurem Tod. Aber sieh, ich bin das nicht. Ich bin ins Endlose abgeschnitten worden.“

Dann ging er an ihr vorbei und in seine Zimmer, und er war so etwas wie glücklich, daß der Sänger nicht mehr bei ihr war. Abends aßen er und Tilla zusammen, während eine ihm fremde Dame hereintrat. Sie begrüßte Tilla lärmend und schaute sie mißtrauisch an. „Ach, verzeih, du kennst ja unsern Robinson noch nicht!“ sagte Tilla. Früher hatte Tilla diesen Namen stets nur in der Familie benutzt, jetzt wandte sie ihn bei jeder Gelegenheit an. Sie nannte diesen Namen, weil er ihr verächtlich erschien und weil sie sich für die Gewalt, die der Schwager mit dem Span über sie gewann, rächen mußte. Manchmal variierte sie auch: „Unser Peter aus der Südsee, oder der Killekillepeter.“ Aber Peter verstand das wohl und verargte es ihr nicht. Es knüpfte sie ja, aus dem dunkeln Chaos heraus, in dem sich alles ungelöst Ursprüngliche der Menschen in Gut und Blut durcheinander mengte, an ihn an, aus der strudelnden Schlucht des Gefühls heraus. Und durch diese Schlucht hatte Kililiki ihm Wege gebahnt.

Ein gewittriger Augusttag ging schwer und gereizt dahin, an dem Peter sein Herz noch um ein Gewichtchen leichter werden fühlte. Er legte sich in einer späten Nachmittagsstunde, oben, wo der Rasen an den Wald stieß, mit dem Bauche auf den Boden, öffnete das Hemd und drückte die nackte linke Brust fest an die krümelige Erde. Es war ihm, als ob der Boden leise wellte unter seinen schweren Herzschlägen. Peter wußte nicht, weshalb er so sein Herz in den Erdboden hineinklopfen ließ. Er lag eine Viertelstunde da, dann hörte er Tilla heraufkommen, und er schloß rasch sein Hemd. Die Erde rann wie Tierchen an seiner Haut hinab. Er stand auf.

Tilla sagte im Vorbeigehen: „Ach, Robinson! Du!“

Peter schaute sie an, und sie blieb unter seinem Blick stehen. Es war ihr, als läge dieser Blick tief in der Erde und sei ein Wasser, das sie von dorther plötzlich anschaute. Sie erschrak.

Peter sagte gleichmütig: „Es erleichtert dich, wenn du mich mit diesem Namen nennen kannst.“

Tilla erschien es wie selbstverständlich, daß er dies an ihr durchschaut hatte. Sie antwortete einfach: „Ja!“

Da meinte Peter: „Das tut mir leid, denn morgen kannst du nicht mehr Robinson zu mir sagen.“

„Weshalb nicht?“ fragte sie.

„Weil ich heute oder morgen sterbe!“ sagte er ruhig und gleichgültig.

Es schauerte sie. Ein Grausen überlief sie, wie vor einer Weissagung; es war, als ob eine der geheimen Kräfte den Nebel vor dem kommenden Tag weggeblasen hätte, und sie sah den erschreckend nackten Leib des nahen Teils der Zukunft. Sie wurde kleinlaut. Sie sagte: „Peter, ich werde es nicht mehr tun, wenn es dir weh tut. Verzeih mir!“

„Ich hab nichts zu verzeihen!“ antwortete er. „Du bist jung und gesund. Auch ich hab einst getan, was ich wollte.“

„Du warst König einer Insel!“ meinte Tilla. Der Spott wich ganz von ihr. „Soviel ist keiner von uns gewesen.“

„Wenn du am Klavier spielst, so bist du das auch, und mir ist, als ob ich’s wieder sei. Wenn ich in eines der großen Pferdeaugen schaue auf der Straße, oder vor der Wirtschaft unten, so bin ich’s wieder! Heute ist Vollmond.“

„So! die Nachtinsekten fliegen wieder so stark.“

„Woher weißt du das?“

„Ich sehe sie jeden Abend.“

„Nein, ich meine, woher weißt du, daß sie fliegen, weil der Mond kommt.“

„Das weiß ich nicht!“

„Aber ich weiß es; ich spreche mit ihnen.“

„Was sagst du ihnen denn?“

„Ihr könnt sterben, ich muß leben!“

„Peter!“ schrie Tilla auf. Es ward ihr unheimlich. Die Dämmerung floß aus dem nahen finstern Wald. Sie waren beide allein im Garten. Sie wäre gern ins Haus gegangen. Aber der grausige unverständliche Zauber seiner sonderbaren Worte hielt sie draußen bei ihm.

„Ja, das sag ich doch!“

„Und sie ... sie antworten dir?“

„Natürlich!“

„Was sagen sie denn?“

„Sie werfen sich in Lüsten übereinander und zeugen, und sie sagen: ‚Unser Tod ist doch unser höchster Augenblick. Unser Tod wirft uns von Zukunft zu Zukunft.‘ Und ich sag: ‚Das weiß ich. Euer Tod ist Glück!‘“

„Hassest du sie wegen dieses Glücks?“ fragte Tilla.

„Ich hasse sie. Aber das ist Liebe. Ich hasse dich ja auch.“

„Also liebst du mich auch?“ lachte Tilla, aber unsicher.

Da sagte Peter: „Der Sänger kommt den Weg herauf. Geh!“

Tilla erschrak. Wieder der Sänger? Sagte er das in einer Absicht? Denn er konnte von hier aus weder hören noch sehen, ob jemand drunten den Weg heraufkäme, besonders in der Dunkelheit.

Peter meinte: „Du siehst ihn nicht. Aber ich sehe ihn! Das ist, weil ich mit den Nachtinsekten sprechen kann, weil ich sechzehn Jahre auf Kililiki gelebt habe, und weil heute oder morgen, wenn der Mond über den Anninger steigt, ich sterbe. Gott sei Dank. Ihr habt die Natur verlassen, deshalb konnte ich nicht mehr zu euch zurück.“

„Aber du bist doch bei uns. Mußt du dich über uns beklagen? Pflegen wir dich denn nicht gut, sag, Peter?“

„Ja, als Kranken pflegt ihr mich. Ich aber war König von Kililiki und sah der Welt durch den Nabel. Da ist der Sänger.“

Peter wandte sich schroff um und ging davon.

Hinter den Hecken trat der Sänger hervor. „Servus, Gnädigste! Die Zofe sagt mir, Sie sind ...“ Er sah den langen Robinson davongehen ... „Stör’ ich?“ fragte er beleidigt.

Tillas Herz machte einen Schlag. Woher wußte Peter, daß Arnulf kam. Er hatte es gefühlt. Sie ging rasch den Weg zum Haus hinab. Der Sänger trottelte hinter ihr drein mit ängstlichen Fragen. Sie wehrte ihm unwirsch ab. Das Grauen lief wieder über sie hin und her. In ihrem zwiespältigen Herzen dämmerte etwas auf von der fremd gewordenen Seele Peters, die sich in die geheimnisvollen Zustände der unentdeckten Insel in der Südsee zurücksehnte. Erst als sie eine Weile mit dem Sänger im hellen Zimmer war und über allerlei alltägliche Dinge gesprochen hatte, wich der Spuk von ihr.

Peter ging in den Wald hinauf. Er lief oben durchs Gestrüpp an der Ruine vorbei. Dann kam er über die Kalkgruben an die nackte Kante der Hügel. Der Mond hob sich hinter der künstlichen Ruine in die freie Nacht und warf sein Licht auf den steilen Buckel des Anninger. Peter ging bis zu den Felsen, die den Hang einbordeten und die gerade der erste Mondstrahl streifte. Peter schlich am unebenen Rand entlang, jäh an der Kante, streckte den müden Kopf steil rückwärts und sagte: „Bitte, erhöre mich, du Drunten!“

Aber der Mond füllte die Kluft des Kalkbruchs unter seinen Füßen schnell mit einem dicken Teich von grüner zäher Dämmerung. Er warf Peters Schatten lang, vielfach gebrochen und dünn vor ihm her über die Steine und in die Bäume hinein. Im grünen Himmel zogen sich dünne Wolkenschwaden zusammen und spreizten sich jäh auf über das ganze Firmament, wie eine weitausgestreckte Hand mit fünf Fingern. Allmählich erkannte Peter das Bild der Wolken. „Nimmst du mich, Hand?“ fragte er da.

Er sprang von einem Felsen hinüber zum andern. Es schwindelte ihn ein wenig beim Sprung. Er fiel jenseits nieder und krallte sich in ein Eichengebüsch hinein. Ein Fuß trat hinterrücks ins Leere. Das Herz zuckte veratmend in den tiefen Trichter zurück. Aber Peter ließ die Hände nicht los und zerrte sich hoch.

Da ging er von den Felsen davon in den dunkeln Wald. Er spürte sein Blut im Fieber dünn und heiß werden. Wie schmerzende und schneidende Töne durchfloß es seine Schläfen. „Jetzt singt er Amfortas!“ sagte Peter, „und sie spielt dazu.“ Er schritt rasch durch den Wald zurück. Das Fieber stieg hastig. Seine Beine zitterten. Seine Augen fingen das Nachtbild nur mehr schwankend auf. Er ging zur Villa. Von hinten aus dem Wald heraus fiel er den Hang hinab in den Garten. Er hörte die Stimme des Sängers. Sie schwebte durch die Nacht wie eine andre Welt, und wie ein süßes mächtig wühlendes, steigendes und stampfendes Segelschiff zog die Musik des Klaviers mit der Stimme daher.

Peter stürzte durch den Garten hinab näher zur Musik hin, die sein Herz umarmte. Seine Schläfen bebten. Seine Adern durchzogen die mordenden Schwärme der Malariatierchen, und wie eine unerschöpfliche Kaserne warf seine Milz immer neue Bruten aus, die erobernd ihn durchstürmten. Der Schmerz betäubte ihn ein wenig. Sein Gemüt floß in die Töne hinein, die ihm entgegendrangen.

Da sah er in ein offenes helles Fenster. Er ließ sich in den Rasen nieder und schaute. Am Klavier saß Tilla. Ihre Bluse war aus weißer leichter Seide, tief ausgeschnitten, und das Licht drang unter dem Schirm am Klavier hell auf die starke Brust ein. Ihre Finger rissen Töne aus den Tasten. Ihre scharfe Nase sprang ins Licht der Klavierlampe, und der Mund verzerrte sich in der Leidenschaft des Spiels wie eine Pflanzenranke. Der Sänger stand hinter ihr. Es brannte im Zimmer kein Licht außer der Klavierlampe. Der schwarze, große und weiche Kopf des Sängers stand im Dunkeln, nur blaß beleuchtet von dem grünen Licht, das durch den Schirm aufwärts drang. Man konnte nichts erkennen in diesem Gesicht, nur daß es abwärts gerichtet war, und daß sich der große Mund öffnete und ihm das Wunder des Verfluchtseins entströmte, wie ein Atem Gottes, der willkürlich Lust und Leid auswirft.

Peter sog die Musik auf. Er ließ keinen Blick vom hellen Fenster, und während der Sturm des unheilbaren Gemüts herübertoste, voll triefender Schwärze und ewig strömend, sagte sich Peter: „Ich sehe durch das helle Fenster wie in einen offenen Menschen. Jetzt wird der Sänger sich herüberlehnen und sie anfassen, denn sein Blut begehrt ihrer.“

Er war nicht eifersüchtig. Gewiß liebte er Tilla. Aber er starb ja. Die Musik des Amfortas quoll wie ein Schoß aus, wie ein trächtiger Schoß voll Ewigkeit, voll Formen und Geruch, peinigend und erlösend und wieder verstoßend. Und da legte sich langsam der schwere dunkle Körper des Mannes von hinten an die weiße zarte Bluse an. Eine Hand griff aus dem dunkeln Teich des Raumes heraus, blätterte rasch um und ging nicht wieder zurück in den Teich, sondern blieb an dem gehobenen Gewölbe der wogenden Frauenbrust liegen, die tief im Licht entblößt war, und die zerrenden Töne der Menschenstimme und die rasenden Schreie des Klaviers riefen nur heftiger und schmerzhafter auf.

Da wälzte sich Peter wieder davon und eilte in den Wald zurück. Die Erde sauste kreiselnd vor seinen fieberbedrängten Augen. Der Boden schaukelte unter seinen fiebergefüllten Beinen davon. Peter keuchte und stöhnte, sprang und fiel durch die Finsternis des Waldes den Berg hinan. Oben lief er, über Stock und Stein hinstürzend und sich wieder hochraffend. Sein Herz schlug wie ein Glockenschwengel, aber es schlug nicht genug zum Sterben, und er lief und lief. Er hörte seine Herzschläge wie eine Sturmglocke die nächtliche Heide überbollern.

Dann stürzte er hin. An einer hellen Stelle stürzte er hin, mit dem Rücken über einen flachen Felsblock, und um den Block krauste sich das Gebüsch wie verborgen schwarzes Haar. Der Mond schien groß und dumm, wie die Erde, mitten in seine Augen. Das Herz stieß wie ein Maschinenkolben in seiner Brust, seinem Willen fremd. Er riß die Augen auf, denn aus der Tiefe der Gräser und des Buschwerks, der Steine und aus dem Spalt des Tals und aus den Eichen und Tannen stiegen Heere von Insekten auf. Der Mond stand wie ein Molochmaul feurig geöffnet in der Nacht. Die Nacht, allmählich und dunkel erglühend, war wie ein ungeheurer Ofenbauch aufgewölbt. Die Sterne blitzten wie Löchlein in den eisernen Flanken, durch die das innere Feuer schlug.

Aus einem Wacholderbusch säuselte das Volk „Grüne Braut“ auf. Es waren zephirgrüne, zarte Insekten und durchsichtig wie ein Tautropfen, und die Männer trugen zwei buschige hellbraune Hörner am Kopf. Die Prismen ihrer Augen funkelten herausgeschoben nach allen Seiten in Gier, und das Quentchen Blut, das in dem Körperchen war, fühlte sich unversehens, so im Wirbel des Schwarms, zu ewiger Seligkeit erhitzt. Und eins das andre in tändelnder Gewalt überhuzelnd, nahmen sie ihren Flug, zu dem großen feurigen Maul der Nacht, das sich weit und rund über dem schwarzen Anninger aufriß. Das Volk der zarten Dreischwänze folgte ihnen gleich aus dem trocknen Gras heraus. Die schwanken drei Fäden am Steiß steuerten das braune Pünktchen des Leibes sicher durch die grüne entzündete Luft. Die Fädchen griffen im Steuern nacheinander, fühlten sich zärtlich ab und hingen auf einmal aneinander. In kleinen erregten Klümpchen und in ganzen Grüppchen liebegesegnet, stiegen die Tiere auf, die Luft zischelte leis von ihrer ungeheuren Schar, und der Mond riß sich ihnen glühend entgegen. Und noch geringere Tiere rasten in Ballen verführt aufwärts und kreiselten zugleich in wütenden Kringeln um den Geruch, die Verführung und die Lust des Geschlechts herum, als ob sie alle an kurzen unsichtbaren Schnürchen an die eine Vorstellung festgebunden wären.

Die Tannen warfen einen Schwarm von kleinen braunen Motten in die Nacht aus. Die Flügelschläge schlugen weich und samtig, und der leise Lufthauch ließ die Flügel süß flattern, wenn sich Mann und Weib trafen. Ein weißes Heer von Schwänen strömte hinterdrein. Das grüne Zauberlicht tränkte ihren weißen Staub. Die großen braunen Augen waren mit grünem Reif des Mondlichts überzogen. Die beiden männlichen Fühler wedelten am Kopf wie Palmwedel in einem heißen Seewind. Und Eintagsfliegen kamen aus Tümpeln hoch und kreiselten durcheinander und liebten sich, während der große runde Mond sie an sich ansog und sie selber wie ein Ball aus Millionen von Verliebtheiten geradeaus in die Nacht aufwärts zogen, dem Volk „Grüne Braut“ und den Motten nach. Fliegende Ameisen mit Leibern wie Tannennadeln, dünn und lang, und geäderten Seidenflügeln schossen spröd, blind und raschelnd zusammen zur großen Scheibe empor. Dann entstiegen den jungen Eichen wilde ungebärdige Schwärme von fett behaarten, dicht bestaubten Schmetterlingen. Wie ein Pusten warfen sie sich auf, einer über den andern, steil dem Mond zu, und der Staub fegte von ihren dicken Leibern, wenn die vielen Männchen den geheimen Duft eines Weibchens trinken wollten und sich über sie herwarfen, dreißig, fünfzig über eines. In stoßenden verwilderten Schwärmen kugelten sie dann unglücklich und gewaltsam aufsteigend um die paarweis verbundenen Glücklichen, die, aneinander gefesselt, der geheimen Süßigkeit des Mondes zustrebten und in denen Sehnsucht, Begattungsseligkeit und Fortpflanzung eins waren. So kamen Schwarm um Schwarm von den Nachttierchen. Alles was Flügel hatte strebte aufwärts an Peters heißen Augen vorbei.

„He! he! ihr!“ flüsterte er. „Nehmt mich mit! Ich bin ja euer! Von Kililiki. Wißt ihr denn nicht mehr?“

Sie aber liebten sich und flogen hoch.

Die Schnaken auch hatten sich drunten aus dem trägen Bach erhoben, der hinter den Häusern die Gärten durchfloß und dessen stinkige Faulheit von ihrer Blutgier hitzig belebt war. Aus der Dämmerung waren sie dorthin mit ihrem Raub von Menschenblut zurückgekehrt, und nun zog sie der Mond hinan, wie er alle Völker aus den Büschen, Gräsern, Steinen und Bäumen zog. Die Schnakenweiber schwärmten auf, die Ranzen gedunsen voll Menschenblut; mit den sechs langen Beinen im Flug durch die Luft rudernd, steuerten sie, den blutgefüllten Schlauch schwer, aber hitzig geradeaus, und als sie Peter überflogen, leuchtete das Blut ein wenig himbeerrot durch die Leiber durch. Die Männchen umfuhren sie tänzelnd im Aufwärtsdringen und wedelten erregt mit den großen Blättern ihrer Hörner. Eine jede Schnake hatte den Kopf klein und hart unterm Nacken niedergebeugt wie zum Stoß. Der Saugrüssel stieg steil geradeaus aus ihm, die Fühlhaare waren fest und geil angepreßt, und er stieß heftig vor in den Zauber des Mondlichtes wie eine Bohrmaschine.

Da fliegt das Blut Tillas und das Blut des Sängers! sahen die Augen Peters. Das gestohlene Blut! Und Tilla wird mit ihren marmornen braunen Fingern jetzt an den Knöchel oder seitwärts ans Knie greifen, wo sie angezapft wurde. Und der Sänger wird über sie hergehen. Und Hermann ist arm und fern und unglückselig. Peters Augen flossen über, verdehnten sich, waren auf einmal Teiche, die in ihm quollen und wie Seen über die Welt her sich verbreiteten.

Und es kamen noch hinter den Bluträubern die schönen Kotbienen, die wie Tiger so schön sind, schwarz und gelb beringt, und die wie Maschinen im Flug auf der Luft stehenbleiben können und die doch verrufen sind, weil sie von Gestank und Fäkalien leben.

Aber auch sie hörten Peter nicht an, als er rief: „He, ihr! Ihr wenigstens, nehmt mich mit! Kililiki, Kililiki!“ Sie schnitten in der Luft übereinander hin wie Torpedos, blieben plötzlich im rasenden Geradeaus übereinander stehen und schossen dann in sich hinein wie Kugeln und schnitten hart wie Stahlschneiden von hinten schräg aufwärts in die andern Völker, die in dichten langen Schwärmen dem Molochmaul über dem Anninger zuflogen. Peter sah, wie der weite unübersehbare Schwarm, der trotz der Massen nur zart in die Nacht leuchtete wie ein verschwimmender Rauch sich hoch und höher zog und fast wie eine Brücke aus braunem Reif von der Erdenhöhe zum Mond ging. Die getigerten Torpedos überrannten von hinten alle Schwärme. Die Schnaken wollten heftig vor ihnen davonstoßen. Aber es war zu spät. Sie sanken getötet durch das lächelnde Licht des Mondes. Aus den Schwärmen der Motten flatterte der Staub verzweifelt auf. Der Mond lachte kalt, dumm und geil und ewig wie Kililiki. Er war Kililiki. Er riß sich weit auf und die Insekten strebten ihm bebend und totgeweiht zu. Ihre Brut schwebte schon auf die Erde nieder. Ihr Leben war daran, sich in ihrem Tode zu erfüllen. Die zarten Dreischwänze waren vom Wind, der sich über den Bergrücken aufwarf, erdrückt worden und gingen wie ein braungepunkteter Schnee wieder auf die Erde nieder, ein Schnee von Leichen, die befruchtet waren. Das Volk „Grüne Braut“ wurde von den Motten überrannt, die Motten zwischen den Scharen der erregten Schmetterlinge erdrückt, und die Schmetterlinge, eingeschlossen in die zusammenpressenden Netze der Schnaken, schlugen nur mehr schwer mit den Flügeln und sanken scharenweise zu Tode ermattet aus den Höhen, und alle Tiere, die der grünen neuen Welt, die leuchtend über die Erde stieg, zustrebten, waren dem Tod verfallen. Sie gingen volkweise unter. Sie waren Völker und Zeiten, sie waren Gestirne, und die Atmosphäre der Ewigkeit, die zwischen Erde und Mond lag, zerstörte sie.

Diesen Krieg sah und erlebte Peter Pirath.

Der Vollmond stieg den sich mächtig hebenden Bergrücken steil entlang. Er stieg über den Anninger wie einst über die Insel im Stillen Ozean. Bestand sie noch? Sie bestand nicht mehr, seitdem Peter unterging. Unterging wie die Welten der prismenäugigen Nachttiere. Die Fieber schwangen sich durch Peters Adern und zielten nach der Quelle des Bluts. Er sah in sich die Malariatierchen wie Milliardenheere über seine roten Blutkörperchen einstürzen, sie zerstören und verschlingen und unwiderstehliche Artillerien weiter auf die Festung im Mittelpunkt seines Landes zurasen, auf die rote mürbe Herzfestung, die soviel Leben erlebt hatte. Und dann nahmen die Scharen plötzlich das Gesicht des Sängers an, das blasse, feiste Gesicht; er öffnete sein großes, schwarzes Maul und schlang und schlang von Peters Blut, daß seine Mundwinkel wie Stromfälle troffen, bis die schöne Schwägerin Tilla, die nebenan stand, sagte: „Unser Robinson spritzt sein Blut dahin!“ Und dann schlug der Sänger rasch sein Nußknackerkinn zu, und stieg, die Hand um den hohen Frauenbusen pressend, Amfortas singend, mit dem Weib in die Wälder. Die Fieber zogen zuhauf in Peter, wie die Insekten nach dem Mond gezogen waren, wie die Wünsche und Erinnerungen an Kililiki zu seiner Seele strömten. Er harrte der Erlösung, so wie er einst, wenn die Fieber wichen, den Eingeborenen die schweren süßen Worte der Verbrüderung ins Blut senkte ... Es rasten Erkenntnisse durch ihn statt der Erlösung. Erkenntnisse wie auf Kililiki so roh natürlich, so gewaltsam selbstverständlich. Blutzusammenhänge von Entwicklungen und Geschehnissen aus seinem Leben und seinem Untergang. Er rief:

„Erbarmen! Erbarmen!

Mir Armen! Mir Armen!“

Nachtvögel strichen über ihn, tief und heftig sich aus der grünen Dunkelheit auf ihn niederschleudernd. War es denn noch wahr, daß er die Völker der Insekten nach dem Mond streben und sterben gesehen hatte? Wo war der Mond? Er stand wohl schon hinterm Berg. Sahen seine Augen nicht mehr? Erbarmen! Erbarmen! Sein Herz ging wohl noch. Dann auf einmal schlug es wie ein Tennisball ins auffangende Netz. Äh! äh! Ich komm’ nicht mehr heraus. Das Strickgewirr der Maschen umsaugt mich. Äh! äh! erstickt mich ... rief das Herz. Der ewige Reif stieg kalt aus Peters Blut auf die entsetzten Gewölbe seiner Augen. Und da der Mond versunken war, konnte die Venus über die Hochebene leuchten. Im bleiernen Glanz der zwei erstorben aufwärts gerichteten Augkugeln blieb sie mit einem kleinen blitzenden Widerschein stehen, kalt und hart. Robinson war tot.

Ende

Werke
von
Norbert Jacques

Funchal. Eine Geschichte der Sehnsucht. Zweite Auflage.
Geheftet 2 Mark, in Leinen 3 Mark.

Der Hafen. Roman. Gebunden 1 Mark, in Leinen 1 Mark 25 Pf.

Heiße Städte. Eine Reise nach Brasilien. Zweite Auflage. Geheftet 3 Mark, in Leinen 4 Mark.

London und Paris im Krieg. Erlebnisse auf Reisen durch England und Frankreich in Kriegszeit. Siebzehnte Auflage. Geheftet 1 Mark 50 Pf., Pappband 2 Mark.

Die Flüchtlinge. Von einer Reise durch Holland hinter die belgische Front. Gebunden 1 Mark.

In der Schwarmlinie des österreichisch-ungarischen Bundesgenossen. Dritte Auflage. Geheftet 1 Mark, in Leinen 3 Mark.

Funchal
Eine Geschichte der Sehnsucht

Von der Sehnsucht des Menschen nach der unendlichen Ferne, von der Sehnsucht nach dem einen Menschen erzählt dieses Buch. Aus zwei Erlebnissen, die sich in der Grundstimmung finden, ist es herausgewachsen. Dasselbe Gefühl der Sehnsucht läßt den Findling Tho wandern und wandern, vorüber an den weißen Bergen hin nach der Stelle, wo der Himmel die Erde berührt, läßt den Künstler träumen von der unbeschreiblichen Schönheit von Thos Tochter. Tho findet nicht Funchal, das Ziel seiner Wanderung, und resigniert; das habsüchtige Meer erfaßt das braune, schöne Mädchen und zieht es hinab und läßt dem Künstler nur den schlanken Bornholmer Granit, um daraus das Bild der Geliebten zu formen: süß betörend, errettend. — Norbert Jacques schreibt seinen eigenen Stil. Etwas Schweres, Erdrückendes liegt in ihm. Die Fülle überraschender Bilder erinnert an Gottfried Keller, an den die Sprache überhaupt gemahnt. Und es scheint mir kein Zufall, daß die Schweiz das zweite Vaterland des Dichters geworden ist: seine Verwandtschaft mit den großen Schweizer Poeten, von Keller bis zu Hesse und Walser, ist unverkennbar. (Berner Rundschau)

Der Hafen

„Der Hafen“ ist nicht nur ein wilder Abenteuerroman, sondern vor allem auch eine Dichtung, welche die Erziehung und Entwickelung eines jungen leichtsinnigen Schülers zu einem pflichtbewußten Menschen darstellen soll. Baptist Biver, der Held des Buches, flieht kurz vor seinem Schulexamen aus dem Hause des ihn nicht verstehenden Vaters; er zieht mit italienischen Musikanten von Ort zu Ort, bis ihn der Dolchstoß eines eifersüchtigen Liebhabers niederstreckt. Er sucht in den Armen von Dirnen seine Seelenruhe, lügt und stiehlt und findet endlich den Hafen seines Lebens in dem Gedanken an die große soziale Arbeit des deutschen Volkes. Der Roman legt Zeugnis ab von der großen Kraft eines werdenden Dichters. Mit außerordentlicher Anschaulichkeit sind die Menschen dieses Buches gesehen und gezeichnet, mit einem einzigen Strich sind einzelne Gestalten so scharf umrissen, daß wir sie nie mehr vergessen können. Neben Ausgeburten einer wilden, allzu jugendlichen Phantasie stehen in dem Werk vereinzelte Szenen voll tiefstem Stimmungsgehalt, voll echtester Lyrik. Hier erklingt ein leiser Ton, der an den Dichter des „Funchal“ von fern gemahnt. In seiner Geschichte der Sehnsucht hatte uns Norbert Jacques hineinschauen lassen in die letzten Tiefen seines Seelenlebens. In dem neuen Buche tritt er vor uns hin als der Realist, der mit offenen, grausamen Augen hineinblickt in die Wirklichkeit. (Berliner Tageblatt)

Heiße Städte

Die Reise Norbert Jacques’ nach brasilianischen Städten unterscheidet sich von all diesen Fahrten durch zweierlei: durch das reine, von keinerlei spekulativer Voreingenommenheit getrübte Sehnsuchtsgefühl, von dem er sich in die Weite, neuen Bildern und Erlebnissen entgegen tragen läßt, dann durch das starke Heimatsgefühl, das ihn stets davon zurückhält, sich ganz an den fremden Eindruck zu verlieren. Diesen Eindruck trachtet er kritiklos, mit völliger Hingabe an seine Reise und mit der möglichst stärksten Intensität wiederzugeben, und dank einer hochentwickelten, suggestiven Kraft dichterisch beschwingter Schilderung gelingen ihm zuweilen breit hingeworfene Freskobilder von leuchtender Frische und überzeugender Lebensechtheit. So namentlich das der Kaffeestadt Santos, von Serra do Mar und das der Reise nach dem Serra do Mirrador, dem Berge der Wunder. Auch rein inhaltlich genommen, wird man das Buch angeregt und gefesselt lesen. Neue, ganz unbekannte Kultur- und Unkulturwelten tun sich auf, seltsame Mischbezirke von europäischem Unternehmergeist und halb orientalisch anmutender Verkommenheit, dazwischen bizarre und auch tragische Aspekte auf seltsame Schicksale, wie sie sich nur an diesen gesegneten und dennoch just von den Erntenden verfluchten Küsten erfüllen können. (Pester Lloyd)


Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig