*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE PRIMADONNA ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der Buchausgabe von 1921 so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr verwendete Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert; fremdsprachliche Ausdrücke wurden nicht korrigiert.

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Original-Einband

Olga Wohlbrück

Die Primadonna

Verlagssignet

Die
Primadonna

Roman

von

Olga Wohlbrück

Verlagssignet

Vierzehntes bis achtzehntes Tausend

August Scherl G. m. b. H., Berlin SW 68

Alle Rechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1921 by August Scherl G. m. b. H., Berlin.

Druck von August Scherl G. m. b. H., Berlin SW 68.

[S. 5]

A

Als Karla König die Gestalt ihres Mannes durch die staubgraue Glasscheibe des Künstlereinganges erblickte, wurde ihr lebhaftes, junges Gesicht dunkelrot.

„Du, denk dir ... wir kriegen ein Kind!“

Fast hätte sie es laut herausgeschrien. Aber weil nun die Kollegen und Kolleginnen vom Schauspiel an ihrem Manne vorbeidrängten, preßte sie die Hand in dem weißen Zwirnhandschuh gegen die vollen, roten Lippen.

Ihr Mann war zweiter Held und Liebhaber. Keine große Nummer, aber ein vorzüglicher Sprecher und eine vornehme Erscheinung. Sie schwärmte für Vornehmheit. Die Kollegen hielten große Stücke auf ihn, weil er bei vorkommenden Streitigkeiten mit der Direktion stets ihre Interessen vertrat und durch seine überlegene Ruhe manchen Konflikt gütlich beilegte.

Genau wußte man sein Alter nicht, aber man gab ihm mehr Jahre, als er hatte.

Eines Tages kam er Arm in Arm mit Karla König zur Opernprobe und stellte sie als seine „Braut“ vor.

Der Direktor gratulierte lau.

Eine halbe Stunde später ließ er sie in sein Bureau kommen.

„Hast du den Verstand verloren, Mädel?“ — So empfing er sie.

„Aber ...“

[S. 6]

Sie blickte ihn ganz verschüchtert an und versuchte vergeblich, den Kragen ihres Kleides zu schließen, den sie beim Singen während der Probe gelockert hatte.

Sie war für ihn das kleine Mädchen, das er rücksichtslos anschnauzte, wenn es sich was zuschulden kommen ließ. Aber sie war auch seine „Entdeckung“, auf die er stolz war.

Streng hielt er sie. In eisernen Klammern. Hungergage. Aber erste Partien. Einmal, während der Lohengrinprobe, wurde sie ohnmächtig. Seitdem schickte er ihr aus einem guten Speisehaus an Tagen, da sie Wagner sang, reichliches Essen.

Ihr Brustkasten war noch zu schmal. Aber „Singen entwickelt“. In ein paar Jahren war sie eine allererste Kraft. Ein Geschenk, das er der Musikwelt machte. Er hielt sie mit Vorliebe am Arm, tastete mit seinen behenden und erfahrenen Fingern die Zunahme einer ersprießlichen Rundung ab.

„Sag’ mal, Mädel, bist du ganz von Gott verlassen? Mit dem Altmann, dem Ernst Altmann, verlobst du dich ...? Hat’s gebrannt? Was hast du an ihm gefressen?“

Sie stand sehr verwirrt und sogar ein bißchen erblaßt zwischen den roten, grauschimmernden Samtsesseln. Was sollte sie antworten? Sie wußte selbst kaum, wie alles gekommen war. Altmann hatte sich vor einem halben Jahr erboten, ihr Sprechunterricht zu geben, sie Vortrag zu lehren.

„Man versteht Sie nicht, Kleine ... Schade um Ihre Stimme. Zahlen brauchen Sie nicht. Als Kollege ...“

Also war sie in seine zwei möblierten Stuben gekommen, verschüchtert auch da. Aber lerneifrig und von verblüffender Auffassungsfähigkeit. Wie verwandelt war sie in den abgeleierten Partien. Die schalen, alten Worte gewannen neues, heißes Leben.

Altmann drückte beim Direktor eine kleine Erhöhung ihrer Gage durch, und vor der Stunde setzte er seiner Schülerin ein Glas Milch vor und dickbelegte Stullen. Wenn[S. 7] sie recht satt war, sang sie hinreißend. Mit der Leidenschaft eines erfahrenen Weibes.

Er mußte dämpfen. Wie ein junges, wildes Tier war sie, das er an die Kette legen mußte, damit es ihn nicht umwarf und zu Schaden brachte. Abends zur Vorstellung ließ er es los und hetzte es auf das Publikum.

Wenn sie mit leuchtenden Augen, froh wie ein müdgespieltes Kind, den Nachhall des brausenden Erfolges noch im Ohr, aus ihrer Garderobe trat, stand Altmann wartend vor ihr.

„Wie war’s?“ fragte sie scheu und stolz.

„Schlecht. Hundeschlecht. Knöpf’ die Jacke zu — du erkältest dich noch.“

Er duzte sie nach Theaterart. Hauptsächlich, weil er ihr Lehrer war.

In seiner Stimme lagen Sorge und Groll. „Die Esel draußen“ verdarben ihm das Mädel noch, wenn das so weiterging mit dem blödsinnigen Herausrufen und den überschwenglichen Besprechungen unverwöhnter Provinzliteraten. Dann wurde sie größenwahnsinnig und verkam. Also — dämpfen.

Und während er ihr haarscharf auseinandersetzte, wie unklar und überhastet sie die Arie des zweiten Aktes gebracht, wie ausdruckslos sie in der Sterbeszene des Finale gewesen, wie matt ihr „Für dich, Geliebter!“ geklungen, während er ihren Gang, ihre Armbewegungen unbarmherzig bekrittelte, folgten auf der anderen Seite der Straße Gymnasiasten, Ladenfräulein, junge Polytechniker und Musikschülerinnen ihrem angebeteten Liebling, Karla König, bis zur nächsten Straßenecke.

Dort riefen sie: „Hoch Karla König! Hoch!“ und stoben auseinander. Durch die Nachtluft sausten ein paar Sträußchen, halb versengt von den heißen Fingern, die sie den Abend über krampfhaft gehalten.

Sie wagte es nicht, sich nach den Blumen zu bücken; und er stieß sie mit dem Fuß achtlos zur Seite. Das Herz[S. 8] klopfte ihr zum Zerspringen, sie hielt mit Mühe die Tränen zurück.

„Was ist denn? Bist du beleidigt, weil ich dir die Wahrheit sage? Wenn du willst — gehe ich morgen in den nächsten Laden und kaufe dir den schönsten Blumenkorb. Aber dann auch — Adjö! Na — so sprich doch ...“

Sie hatte Hunger. Ganz gemeinen Hunger. Wie immer nach der Vorstellung. Er wußte, was sie bei ihrer Wirtin erwartete: zwei dünne Scheibchen mit harter Wurst oder Käse belegt.

„Komm zu mir ’rauf — wir essen zusammen.“

Es war nicht das erstemal. Ins Wirtshaus ging er nicht mit ihr. Sie sollte nicht die üble Luft und den Zigarrenrauch einatmen.

Er selbst hatte überdies starke häusliche Instinkte. Seine Wirtin war gut abgerichtet und der Tisch gut bestellt bei ihm. Er brauchte nur ein Gedeck mehr aufzulegen, es langte für mehr als für zwei.

Und sie ließ sich nicht bitten. Ging mit, biß ein, mit blitzenden Zähnen, während er ihr zusah, nachdenklich und fast ein wenig gerührt. Allmählich suchte sie, es ihm gemütlich zu machen: stellte das Wasser auf in der Küche, bereitete ihm Grog oder Tee, strich ihm die Butter aufs Brot.

Sie hatte etwas Hausmütterliches, an dem er sich erfreute. Und sie war anschmiegend, wenn sie satt war, wie eine schnurrende Katze.

Eines Abends hatte es in Strömen gegossen; sie fragte sehr besorgt, ob er sich nicht nasse Füße geholt hätte. Ehe er sich’s versah, brachte sie ihm die Hausschuhe aus der Schlafstube.

Er wurde ärgerlich.

„Was machst du denn?! Ich mag so etwas nicht leiden.“

Aber im tiefsten Innern empfand er es angenehm. Wie ein freundliches Erinnern. So war es in seinem Elternhause üblich gewesen. Mutter stand hinter der Gardine und spähte auf die Gasse hinaus. Wenn der Vater an der[S. 9] Ecke sichtbar wurde, stellte sie je nach der Jahreszeit die Filz- oder die leichten Schuhe aus Segeltuch bereit.

Er fragte nach Karlas Eltern. Zum erstenmal.

Der Vater war Tänzer gewesen. Zar Alexander der Zweite hatte ihm eine goldene Uhr geschenkt, mit Brillanten. Die Mutter hatte die Brillanten ausbrechen lassen und verkauft. Die Mutter war eine große, stattliche Frau gewesen, sehr energisch. Sie selbst hatte Karla den ersten Gesangunterricht gegeben. Die Ohrfeigen waren dabei in aller Liebe rechts und links um ihre Wangen geflogen. Die Mutter wollte sie zur Operette bringen. Aber der Vater hielt nur von großer Kunst etwas. Ein Dresdener Hofopernsänger, mit dem er, wenn auch in verschiedener Art, jahrelang in Braunschweig gewirkt hatte, versprach ihm, sich der Kleinen anzunehmen und sie für die Oper auszubilden. Der erste Brief an Karlas Eltern lautete: „Was wollt Ihr eigentlich? Das Mädel hat nichts bei mir zu lernen. Die Stimme sitzt so natürlich und gut, daß unsere großen Sängerinnen bei ihr in die Schule gehen könnten! Ihr Temperament ist unbändig. Sowie wir hier eine Vakanz haben — bringe ich sie unter.“ Um die Zeit erkrankte die Mutter und starb. Karla mußte die erste Zeit beim Vater bleiben, der sich nicht zurechtfand im Leben ohne seine energische Gefährtin.

Aber er wollte nicht, daß sie ihre Zeit bei ihm verlor, und gab ihr Unterricht in seiner Art. Wenn sie auch nicht mehr auf die Hofoper rechnen durfte — ihr Handwerk mußte sie auch für eine kleine Anfangsbühne beherrschen. Er stellte Stühle im Zimmer auf, vor denen sie sich verneigen, niedersinken lassen mußte. Der eine war ihr Liebhaber, dem sie sehnsuchtsvoll die Arme entgegenbreitete, der andere ihr Feind, auf den sie sich mit einem Dolch stürzte. Sie mußte in Ohnmacht fallen oder der Länge nach wie tot hinschlagen. Einen besonderen Spaß machte es ihr, sich zu vergiften.

„Damit habe ich auch meine größten Erfolge gehabt.“

Altmann liebte es aus erzieherischen Gründen nicht, daß[S. 10] sie je von ihren „Erfolgen“ sprach. Aber diesmal — weil es gar so kindlich klang, ließ er es durchgehen.

Ihre Wangen glühten. Sie hörte zu essen auf, und sie dachte daran, wie sie dieses Engagement bekommen. Auf einer „Schmiere“ hatte der Direktor sie gesehen, im „Troubadour“. Ihretwegen hatte er bis zum Ende der Vorstellung ausgehalten, hatte ihr dann gleich einen Kontrakt vorgelegt, auf fünf Jahre. Nun war sie schon vier Jahre in der norddeutschen Hafenstadt; die glanzvollen Besprechungen hatten manchen Agenten auf sie aufmerksam gemacht, ihr manches Angebot eingetragen. Aber der Direktor ließ sie nicht gehen. Zum Kontraktbruch fehlte ihr der Mut. Und schließlich war sie auch ganz zufrieden. Die Galerie brüllte sie unzählige Male heraus, junge Mädchen warfen ihr Blumen zu. Wenn sie auftrat, waren alle guten Logen besetzt, und zu Weihnachten schickten ihr die ersten Familien Geschenke: Wäsche, Wurst, wollene Strümpfe; manchmal auch einen goldenen Armreif oder eine kleine Brosche. Eingeladen hatte sie freilich noch niemand. Es war hier nicht Sitte, mit den Theaterleuten zu verkehren. Sie hätte ja auch nicht viel Zeit gehabt. So war Altmann eigentlich der einzige, der sich persönlich ihrer annahm, der sich um sie sorgte.

Aber das konnte sie dem Direktor nicht alles so in Kürze erzählen. Sie fand nur einen Satz:

„Er war doch immer gut zu mir, der Altmann ...“

Im Grunde — und das brachte den erfahrenen alten Direktor in Harnisch — bildete sie sich sogar was darauf ein, daß er sie für würdig erachtete, seine Frau zu werden.

„Ich werde auch gewiß einen großen Weg machen, dafür wird er schon sorgen, der Altmann ...“

„Na ja ... dann ist’s ja gut.“

Der alte Herr kehrte ihr den Rücken. Schade ... schade um seine Mühe, das Interesse ... das teure Essen aus dem Gasthaus....

Nun kam ein anderer und pflückte die Früchte!

„Sie können gehen, Fräulein König.... Aber vergessen Sie nicht, daß Sie noch ein Jahr hier sind und bei mir[S. 11] singen. Und wenn ihr glaubt, daß ich euch vorher freigebe — dann habt ihr euch geirrt. Das heißt ... Altmann — auf den pfeif’ ich. Von der Sorte kriege ich dreizehn aufs Dutzend. Wirst dich noch wundern, Kleine, wie du schleppen wirst an ihm ... jawohl schleppen!“

Er brüllte sie wütend an und verließ als erster das Zimmer.

Sie sagte Altmann nichts von der Unterredung. Ihre Mutter hatte früher oft geäußert: „Männer brauchen nicht alles zu wissen.“ Und seit Altmann mit ihr verlobt war, reihte er eben in die Kategorie jener ein, die „nicht alles zu wissen brauchen“. Wäre es auch nur, um Weitläufigkeiten, Auseinandersetzungen zu entgehen.

Straffe Folgerungen, knappe, zwingende Begründungen lagen ihr nicht. Sie ärgerte sich über den „Alten“ und lachte ihn hinterher aus. Er war wohl eifersüchtig. Jetzt gab es jemand, der ihm auf die nichtsnutzigen Finger klopfen konnte, wenn sie sich gar zu lange mit ihrem Arm zu schaffen machten.

Diese Vorstellung machte ihr sogar Vergnügen.

„Was wollte der Alte von dir?“ fragte Altmann.

Sie machte ganz harmlose Augen.

„Ach nichts, er hat mal wieder Repertoireänderungen vornehmen wollen ...“

„So .. Na, das viermal wöchentlich Singen werden wir mal ein bißchen einschränken! Da hab’ ich jetzt auch noch ein Wort mitzureden!“ ...

Sie blickte dankbar und bewundernd zu ihm auf. So „himmlisch geborgen“ fühlte sie sich.

Sie heirateten sehr bald. Karla König lieh sich zur Trauung ein weißseidenes Kostüm von zeitloser Form aus dem Garderobenfundus des Theaters. Die Kolleginnen legten zusammen und stifteten Brautkranz und Schleier.

Altmann hatte in der „Krone“ ein Zimmer bestellt und ein Mittagessen von acht Gedecken. Karla fand das fürstlich. Überhaupt machte ihr die Hochzeit, mit allem, was damit an Besprechungen und Veränderungen zusammenhing,[S. 12] großen Eindruck. Sie kam sich ungeheuer wichtig vor. Als sie das erstemal die Elsa im „Lohengrin“ sang, war sie nicht so erregt wie in der Stunde, da sie das weißseidene Kleid und den Myrtenkranz anprobierte. Ganz feucht waren ihr die Hände, ihre Knie zitterten, und eine leichte Übelkeit bleichte ihr die Lippen.

Zu einer Kollegin, die sie anzog, sagte sie:

„Ich hab’ doch nie Angst, wenn ich singe, ich kenne das nicht ... aber ob ich das Ja herausbringe in der Kirche — darüber schlafe ich nun schon die dritte Nacht nicht. Die Kehle schnürt’s mir zu, wenn ich daran denke.“

Sie brachte es heraus. Sogar lauter, als es sonst üblich sein mochte. Und dann warf sie den Kopf zurück und blickte mit glänzenden Augen auf den Geistlichen. So — das war getan. Nun fürchtete sie sich nicht mehr. Vor nichts. Vor gar nichts auf der Welt. Und nun spürte sie auch ihren gesunden Hunger und freute sich auf das gute Essen, das sie in der „Krone“ erwartete.

Es war eine lustige Hochzeitstafel. Der Direktor, den man anstandshalber eingeladen hatte, war durch eine Reise verhindert, zu kommen. So war es auch allen lieber. Altmann knauserte nicht mit dem Wein, hielt aber selbst Maß und erfreute Karla durch ein paar nette Worte auf ihren Vater, der eine Depesche geschickt hatte; ebenso wie die zwei Schwestern Altmanns. Die eine war unverheiratet, Erzieherin in einem großen Hause, die andere Frau eines Lehrers. Sie hatten beide nicht abkommen können. Altmann war es ganz recht. Sie hätten sich ja doch recht fremd gefühlt in dem Kreise.

Der alte Tänzer aber war durch einen Anfall von Ischias an seinen Lehnstuhl gefesselt. Er schickte eine hübsche Amethystkette als Hochzeitsgeschenk und bat um den Besuch des jungen Paares, sobald es sich machen ließe.

Altmann war sparsam. Es gab in diesem Jahre an anderes zu denken als an Reisen. Es hieß Geld zurücklegen für eine anständige Garderobe. Karla war mit einem[S. 13] Korbe zu ihm gezogen, der mehr Klavierauszüge als Wäschestücke und Kleider enthielt.

Ein „Schwarzseidenes“ mußte sie gleich haben. Das gehörte zur Würde und Stellung einer jungen Frau. So wußte es Altmann von zu Hause, von der Heirat seiner ältesten Schwester her.

Karla küßte ihm die Hand wie ein beschenkter Backfisch.

Altmann hatte seine möblierten Zimmer behalten und noch ein drittes — mehr eine Kammer — dazugenommen. Die Wirtin gab ihnen Frühstück und Essen. Karla schlüpfte des Morgens, zehn Minuten vor ihrem Mann, in die Wohnstube und deckte den Tisch.

Altmann hatte sie darum gebeten. Sie sollte kleine Hausfrauenpflichten erfüllen, sollte nicht verlottern in der Trägheit allzu ausgedehnter Bettruhe.

Karla stellte die Tassen auf: weiße mit Goldrand, die Zuckerdose aus Glas, das Sahnenkännchen. Dabei summte sie ein paar Takte aus einer Oper. Plötzlich lief sie zum Klavier, warf die Auszüge durcheinander, klappte den einen auf, griff ein paar Akkorde, legte los mit voller Stimme. Sie hudelte ein bißchen vor lauter Freude über ihre frische, volltönende Stimme, die ihr davonlief wie ein sprudelnder Quell ....

Altmann kam heraus. Er trug eine Hausjacke aus großkariertem Flanell, ein ausrangiertes Bühnenrequisit. Ohne Kragen, ohne Manschetten. Sein Hals war merkwürdig lang und hager. Das beeinträchtigte die Vornehmheit seiner Erscheinung ein wenig. Auch litt er in den ersten Morgenstunden an einer leisen nervösen Reizbarkeit.

„Du sollst doch nicht so drauflosbrüllen, Karla. Was hat das für einen Zweck! Überdies hast du vergessen, die Butter auf den Tisch zu stellen ... und ich sehe auch nur einen Löffel — —“

Karla brach mitten drin ab, lief heraus, lief herein, schwuppte den Kaffee aus der übervollen Kanne auf das Tischtuch, tupfte es mit dem Taschentuch ab, schenkte ein — „wieder viel zu voll“, bemerkte Altmann —, strich die Brötchen[S. 14] ... und merkte es nicht, daß ihr Mann einsilbig, unzufrieden auf dem Sofa saß, mit betonter Sorgfalt seinen Kaffee umrührte und mit spitzen Fingern das Brötchen hielt.

Nichts sah sie. Griff immer wieder in den gefüllten Nickelbrotkorb, schenkte sich immer wieder aus der bauchigen Kanne die Tasse voll — warf Zucker hinein, ein Stück, zwei Stück und — nach einem heimlichen kurzen Seitenblick auf Altmann — das dritte.

Wundervoll war es, verheiratet zu sein! Sich satt essen, satt trinken zu können! Es verdroß sie nur, daß die Frühstücksstunde so kurz war.

„An die Arbeit“, sagte Altmann.

Er spielte erträglich, wenn auch sehr hart, Klavier. Aber sie traute sich nicht zu sagen, er möchte leiser begleiten. Es war ja auch gleichgültig, wie es klang. Er unterbrach ja doch bei jedem zweiten Takt.

Manchmal machte er ihr nach, wie sie dies oder jenes aussprach. Er übertrieb entsetzlich. So sprach sie doch im Leben nicht! Es sah so häßlich aus und klang so abscheulich. Erst lachte sie.

Da klappte er den Auszug zusammen.

„Na, dann wollen wir warten, bis du ein bißchen ernster bist. Zur Unterhaltung setze ich mich doch nicht hierher.“

Karla dachte an den Unterricht beim Vater. Der war lustiger gewesen. Da hatte sie sich ausleben können. Sie dachte auch an den Unterricht bei dem alten Sänger. Der hatte nur immer gestrahlt und gerufen: „Mädel, Mädel, wo hast du das her?!“ Blieb die Mutter. Die Ohrfeigen — na ja! ... Aber wenn Altmann die Noten zuklappte und sich erhob, eisig, unnahbar wie ein beleidigter Gott — das war schlimmer!

Das Verheiratetsein hatte auch Schattenseiten! ...

Karla ging gern am Arme ihres Mannes durch die Hauptstraße, die zum Theater führte. Die beiden Zeitungen hatten eine Notiz gebracht über die Vermählung von „Fräulein Karla König, der Zierde unseres Stadttheaters,[S. 15] dem Liebling des Publikums“, mit dem „verdienstvollen Herrn Ernst Altmann“.

So war die Stadt gleichsam mit zur Hochzeit gebeten worden, und die Leute quittierten auf der Straße durch ein stummes Lächeln, ein Grüßen mit den Augen. Viele blickten sich nach ihnen um, und Karla raschelte stolz mit ihrem Schwarzseidenen.

Im Theater benahm sie sich mit einer gewissen Zurückhaltung. Denn Altmann hatte ihr eingeschärft, nicht hinter den Kulissen zu dalbern während der Proben, wie sie es sonst wohl getan.

„Du mußt Haltung lernen“, sagte er ihr. „In dem Nest hier bist du die längste Zeit gewesen.“

Er unterhielt eine eifrige Korrespondenz; mehrfach kamen auch Briefe mit dem Poststempel aus New York.

Aber er sprach nicht über die Briefe, sondern verschloß sie sorgfältig im Schreibtisch, dessen Schlüssel er stets abzog.

Wenn sie an ihren Vater, den Papa, schreiben wollte, mußte sie ihren Mann erst um einen Bogen Briefpapier und einen Umschlag bitten.

Übrigens schrieb sie höchst ungern, und selbst die kleinen Dankbriefe für die Geschenke waren ihr immer eine Qual gewesen, und bald überließ sie auch den Schriftwechsel mit ihrem Vater dankbar ihrem Mann.

Das einzige, was ihr an Altmann mißfiel, war seine Einsilbigkeit. Sie wollte ja gerne zugeben, daß er „viel im Kopf“ hatte, wie er sagte, daß seine Korrespondenz, die Pläne für die nächste Zukunft ihn sehr beschäftigten, aber immerhin hätte er doch wenigstens während der Mahlzeiten oder abends nach dem Theater ein bißchen gemütlich plaudern können.

Karla war von Natur mitteilsam und gesprächig. Sie hatte, wenn sie aus dem Theater kam, immer tausenderlei zu erzählen. Er hörte zu mit nachsichtigem Lächeln. Manchmal gähnte er. Oder aber er stand plötzlich auf und setzte sich an den Schreibtisch.

[S. 16]

„Einen Augenblick, Karla — ich habe etwas Wichtiges vor!“

Karla kauerte sich in die Sofaecke und griff zum Stadtanzeiger. Sie las zumeist nur das Feuilleton und die Lokalberichte. Einmal fielen ihre Augen auf einen Schauspielbericht: „... unser verdienstvoller Altmann war etwas eintönig“.

Sie erschrak und legte unwillkürlich die Hand auf das Blatt. Dann schlich sie aus dem Zimmer und warf die Zeitung in das erlöschende Herdfeuer der Küche. Nach einer kleinen Weile fragte Altmann nach der Zeitung. Karla gab sich den Anschein, als suche sie beflissen in allen Ecken. Sie guckte sogar unter das Sofa. Das Blatt blieb unauffindbar. Altmann nahm Hut und Mantel, um auf ein halbes Stündchen ins Café zu gehen.

Karla spähte ängstlich nach seinem Gesichtsausdruck, als er heimkam. Aber sie konnte keine Veränderung entdecken. Hatte er nicht gelesen? ... Bei seiner Empfindlichkeit — er war imstande und ging zum Redakteur, stellte ihn, vergriff sich an ihm.

Sie wartete sogar auf eine kleine Sensation, und es war fast eine Enttäuschung für sie, daß nichts eingetroffen war von dem, was sie gefürchtet hatte.

Die Angriffe gegen Altmann wiederholten sich. Sie ließ die Zeitungen ruhig liegen. Eine brennende Neugier erfüllte sie, wie ihr Mann sich dazu äußern würde.

Er äußerte sich gar nicht. Durchflog die Spalten nach wie vor mit gleichgültigstem Gesicht.

Eines Tages hielt sie es nicht aus. Auf dem Heimwege vom Theater brachte sie das Gespräch auf den betreffenden Kritiker.

„Ich finde, er schreibt so dumm“, sagte sie.

„Dann lies ihn doch nicht“, antwortete er ruhig. Und nach ein paar Schritten: „Weißt du, daß dein Ärmel ausgerissen ist? Hübsch sieht das aus, Karla.... Du wirst so gut sein und dir deine Sachen mal ein bißchen ansehn. Eine Hausschneiderin kann ich dir noch nicht halten.“

[S. 17]

Karla saß den ganzen Nachmittag und flickte. Abends war Schauspiel. Sie hatte das Stück schon mehrfach gesehen und bat, zu Hause bleiben zu dürfen.

Aber dann wurde es ihr zu einsam in den drei stillen Stuben, und sie ging hinüber zur Wirtin.

Sie half ihr beim Kartoffelschälen und erzählte ihr Theaterschnurren. Sie lachten beide sehr viel, und Karla fühlte sich sehr behaglich. Schließlich fragte sie, ob sie ihr nicht etwas vorsingen solle. Die Wirtin war begeistert. Sie band eine saubere Schürze vor und ließ sich von Karla in einen der braunen Ripssessel nötigen.

Karla wählte nicht lange. Sie fing mit der Agathenarie aus dem „Freischütz“ an, griff dann zu Mozart. Aber der „lag ihr nicht“, da hudelte sie. So landete sie bei Wagner. Ihr war es, als hätte sie nie so schön gesungen, als hätte sich ihre Stimme nie so voll und rein ausgebreitet. Gar nicht, als ob sie es war, die sang. Als sänge etwas Fremdes, Wundersames, Großes aus ihr heraus. Der Wirtin liefen helle Tränen die Wangen herunter; sie schneuzte sich heftig. Auch Karla fing an zu weinen. Sie war so glücklich. Es war so herrlich, singen zu dürfen ... die ganze Seele hinzugeben.

„Was hätten Sie für eine Heirat machen können ... mit der Stimme!“

Karla ließ den Klavierdeckel hart zufallen.

„Hab’ ich’s denn nicht gut getroffen? Ich wünsch’ mir gar nichts Besseres.“

Die Wirtin stand auf.

„Na ja ... aber immerhin ... Ich will nichts gegen Ihren Mann sagen. Ein feiner, solider Herr. Aber so richtig froh wird man nicht mit ihm. Und wie er Sie immer plagt beim Studieren ...“

„Ja ... er meint es gut mit mir. Sie können mir’s glauben.“

Karla war verschnupft. Sie hatte nur den einzigen Gott. Den wollte sie sich nicht verkleinern lassen.

Als Altmann nach Hause kam, umarmte sie ihn leidenschaftlich.[S. 18] Fast schien es, als wollte sie ein Unrecht gutmachen.

„Na, was denn, was denn ...?“

Er klopfte ihr gönnerhaft, aber doch innerlich beglückt, die Wangen. Sein kühles Blut erwärmte sich an ihrer heißen Erregung.

„Hast du etwa gesungen?“

„Ja ... ein bißchen.“

Er kannte den Ursprung ihrer Leidenschaftlichkeit.

Auch als Gatte fühlte er sich verpflichtet, zu dämpfen.

Gerade als ihr Gatte. Ihre Stimme mußte geschont werden, ihre Frische. Er bezwang auch viel in sich selbst ... Er meinte es wirklich gut mit ihr.

Eines Tages brachte Karla eine halbverhungerte Katze nach Hause. Sie gab ihr warme Milch und ließ sie nicht von ihrem Schoß. Sie übte auch nicht an diesem Tage, sondern streichelte immer nur das struppige graue Fellchen. Abends machte sie ihr ein Körbchen zurecht, füllte es mit weichen Lappen, legte ein Taschentuch darüber.

„Niedlich ... wie ein Kindchen“, sagte sie und lächelte versonnen.

Altmann gab es einen Ruck. Das Wort Kind traf sein Ohr wie ein greller Pfiff.

Das „Kind“ hatte er nicht mit einbegriffen in den sorgsam ausgearbeiteten Plan der nächsten Jahre. Er fand mit dem besten Willen kein Eckchen und keine Zeit, wo es einzuschachteln wäre. Er stand knapp vor dem Abschluß mit Bremen für Karla. Das war ein großer Fortschritt. Gegen Ende der nächsten Spielzeit waren mehrere Gastspiele von ihm vorgesehen: in Lübeck, Danzig. Mit Hamburg stand er in eifrigen Unterhandlungen. Er hoffte sehr, daß das Hamburger Gastspiel zu einem Engagement führen werde.

Wie Ameisenkribbeln spürte er es im Rücken. Eine ihm sonst fremde Nervosität bemächtigte sich seiner.

„Wie fühlst du dich, Karla? Ist dir gut?“

Sie blickte erstaunt. Warum sollte ihr nicht gut sein?[S. 19] Dann lachte sie wieder mit drolliger Heimlichkeit, nahm das Kätzchen von seinem Lager, wickelte es in das Tuch und schaukelte es in den Armen.

„Schlaf, mein Kindchen, schlaf ...“

Und sie wippte es so hoch in die Luft, daß sein Köpfchen bis zu Altmanns Lippen hinaufreichte.

„Gute Nacht, Paachen ... gute Nacht.“

„Laß doch den Unsinn.“

Es war nicht ein überlegener Verweis wie sonst — er war wirklich ärgerlich. Karla küßte die Katze und legte sie zurück in ihr Bett. Sie flüsterte:

„Laß nur, Miezerle, Papa ist böse ... ich muß Papa wieder gut machen.“

Es war nichts als Gedalbere. Aber echte Zärtlichkeit lag in ihrer Stimme. So hatte sie früher zu ihren Puppen gesprochen, so mochte sie später zu ihren Kindern sprechen.

Altmann gab dem Körbchen einen Schubs, daß es durchs ganze Zimmer flog.

„Hör’ doch endlich auf!“

Karla sah ihn erschrocken an. Was war denn das mit ihm? Verstand er denn gar keinen Spaß? Oder ....

Sie wurde plötzlich blutrot ... Mochte er Kinder nicht leiden?

Ihr wurde merkwürdig kalt im Rücken, und so leer schien ihr das Zimmer, als ob er gar nicht mit darin stünde, ihr Mann.

Sie nahm das Kätzchen in den Arm und ging in die Kammer. Dort saß sie lange, und die sanfte Wärme des kleinen, schnurrenden Tieres beruhigte sie. Einzelne Tropfen fielen aus ihren Augen auf das weiche Fellchen. Sie berührte mit ihren Lippen den kleinen runden Kopf, die spitz aufragenden Ohrchen. Sie summte vor sich hin ... kleine naive Liedchen aus ihrer Schulzeit ....

Sie dachte daran, wie sie als Kind Wärme und Zärtlichkeit bei den Hunden und Katzen der Nachbarn gesucht, da sie sie zu Hause nicht fand.

[S. 20]

Warum hatte sie keine Brüder, keine Schwestern, wie die anderen Kinder? ....

„Das hätt’ mir noch gefehlt!“ gab die Mutter zur Antwort.

Später fragte sie den Papa.

„Liebes Kind .... multipliziere nicht nur die Spiele und Freuden, multipliziere auch die Zahl der Knuffe, Entbehrungen und Krankheiten mit der Zahl der Geschwister!“

Vielleicht dachte auch ihr Mann so ...?

Am nächsten Tage schenkte sie das Kätzchen einer Kollegin. Altmann brachte ihr einen hübschen seidenen Unterrock aus der Stadt mit.

Sie hätte nicht gewagt, an solch einen Luxus auch nur zu denken. Ganz blaß wurde sie.

Wie war der Mann gut — nein, wie war er gut! ....

Die Katze war vergessen.

Abends rief Altmann sie an seinen Schreibtisch und zeigte ihr die Briefe der Theaterleiter, die Eventualverträge. Da ging ein Zittern durch ihren Körper.

„In all den Städten soll ich singen? Ist das wahr? ... Wirklich wahr? ...“

Sie fiel ihm um den Hals, sie küßte seine Stirn, seine Augen, seine Hände. Sie lachte und sprang trällernd im Zimmer umher.

Wie ein Hündchen folgte sie ihm in den nächsten Wochen. Ein Mann, der das alles zustande gebracht! Ein Mann, der sie zur großen, berühmten Sängerin machte! ... Ein Mann, der ihr ein heißes, begnadetes Leben schenkte! Ein Mann, der ihr die Tore öffnete, zu allem, was es Großes, Wundervolles, Beglückendes in der Welt gab! ... Und dieser Mann war ihr Mann! ...

Sie fing an, ihn zu lieben, mit scheuer, inniger Zärtlichkeit. Sie lächelte sanft, wenn er sie während der Stunden verhöhnte, sie zitterte, wenn er seine dunklen, geraden Brauen hob, und die tiefen Mundwinkel seiner blassen, feinen Lippen sich senkten. Und ihr Herz schlug[S. 21] glückschwer und erwartungsvoll, wenn er langsam die eingelaufenen Briefe mit der langen Schere aufschnitt.

Es waren zumeist gute Nachrichten.

Bald nach Weihnachten holte sie sich eine Erkältung auf der zugigen Bühne. Es war nicht das erstemal, und sie pflegte nie viel Aufhebens davon zu machen, beurlaubte sich auf eine Woche, lag mit Prießnitzumschlägen zu Bett, schluckte Aspirin und trank Kannen heißer Limonade.

Altmann genügte nicht einmal der Theaterarzt, den er sofort zu sich bat. Karla erschrak, als sie einen wildfremden Herrn an ihr Bett treten sah, einen Herrn Geheimrat, dem sie Zunge, Hals und Brust zeigen sollte. War sie denn so krank?

Altmann schaffte Inhalationsapparate an, allerhand Pinsel und Arzeneien standen auf ihrem Nachttisch. Er wechselte ihr selbst die Kompressen und pinselte ihr den Hals aus, unbarmherzig gewissenhaft.

Als sie das erstemal zur Probe kam, schenkten ihr die Kolleginnen Blumen.

Da fing sie an zu weinen. Sie küßte die Blumen und sprach den ganzen Tag nur davon, wie lieb und gut die Kolleginnen wären.

Altmann wurde bitter. Zum ersten Male.

„Zu Blumen hat es nicht gelangt.“

Karla fand ihr Zimmer wieder trostlos und leer, und abends graute ihr vor dem Bett, in dem sie solange krank gelegen.

Ausbrüche plötzlicher Leidenschaftlichkeit wechselten ab mit Tagen stumpfen Hindämmerns. Wenn ihr auf der Straße Kinder in den Weg liefen, bückte sie sich zu ihnen herab und küßte sie. Wenn eins fiel, hob sie es auf den Arm, schaukelte, tröstete es. Zweimal kam sie dadurch zu spät zur Probe.

Wenn Altmann mit ihr studierte, war sie oft unwillig, bestenfalls zerstreut. Er zitterte oft vor verhaltenem Ärger. Sie tat, als merkte sie es nicht, oder — vielleicht sah sie es auch wirklich nicht.

[S. 22]

Sie knixte, wenn er ihr etwas sagte: „Jawohl, Herr Lehrer!“ Oder aber sie weigerte sich zu üben; sie hätte Kopfschmerzen, es kratzte sie etwas im Halse; sie hätte schlecht geschlafen und wäre matt.

Abends im Theater sang sie schöner denn je. Und kein einziges Mal warf sie ihm einen Blick zu. Als ob sie nicht wüßte, daß er immer da unten auf dem Eckplatz in der zehnten Parkettreihe rechts saß.

Sie fragte auch nicht: „Nun, wie war’s?“, wenn er sie aus der Garderobe abholte. Hatte sie Blumen bekommen, so hielt sie sie sorglich und auffällig im Arm, und wenn vor dem Bühneneingang die üblichen jungen Enthusiasten warteten, dann schlich sie sich nicht mehr scheu an ihnen vorbei, sondern hob den hübschen dunklen Kopf und sah ihnen mit strahlendem Lächeln in die bewegten, heißen Gesichter.

Eines Tages legte Altmann einen Gastspielvertrag zur Unterschrift vor sie hin. Drei Abende. Als Pamina, Elisabeth und Elsa. Und für jeden Abend zweihundert Mark. So viel, wie sie hier im ganzen Monat verdiente.

Altmann wußte: Jetzt kam der große Jubel; jetzt sprang sie mit dem Vertrag im Zimmer umher, stürzte ans Klavier und zerrte ihn auf den Hocker. Jetzt ließ sie nicht ab von ihm, bis er nicht wenigstens eine der drei Partien mit ihr durchgenommen. Jetzt gleich lagen ihre Arme um seinen Hals, und ihre frischen, vollen Lippen drückten sich in sein Gesicht ...

Es verging eine Minute, die zweite .. Nichts von alledem geschah. Sie sah ihn gar nicht an, zählte nur an ihren Fingern irgend etwas ab.

„Was rechnest du aus, Karla?“

„Ob ich noch auftreten kann, falls ... es sind noch drei Monate bis dahin.“

Mit einem Satz war er bei ihr, riß ihre Hände an sich. Drückte sie so fest, daß sie glaubte, er wolle ihr wehe tun.

„Glaubst du denn, Karla ... Hast du irgendwelchen Anhalt dafür, daß ...“

[S. 23]

Sie zuckte die Achseln.

„Ich weiß gar nichts ... aber es könnte doch sein, nicht wahr? Wir sind verheiratet ... es wäre immerhin natürlich.“

Sie hörte seinen schweren Atem. Sie sah, wie er sich mit dem Tuch über die Stirn fuhr ...

Sie hätte sich mit den Nägeln in sein Gesicht einkrallen mögen, in sein schönes, vornehmes Gesicht.

Aber er faßte sich.

„Warum behältst du denn alles für dich? ... Wir wollen zum Arzt gehen. Man muß doch wissen. Ich muß doch disponieren können! Den ganzen Tag sitze ich am Schreibtisch, opfere meine Zeit, verbrauche Papier, Marken ... zerbreche mir den Kopf, wie ich alles am besten anordne und verteile — und nun wirfst du alles über den Haufen durch ein Wort! Wann — glaubst du denn ...?“

Seine Stimme klang hart und doch unsicher.

Sie saß bequem zurückgelehnt und blinzelte vor sich hin.

Sie hörte seine Angst durch den harten Klang, und diese Angst weckte ihre Lust, ihn zu quälen, ihn abhängig zu fühlen von ihr, von dem Schicksal, daß sie selbst ihm schuf.

Aber — eigentlich wußte sie gar nichts Bestimmtes. Manches, was sie als Symptom auslegte, war wohl nur Einbildung, weil sie so tief in sich hineinhorchte. Weil sie es so heiß ersehnte. Weil der liebe Gott sie zur Mutter erschaffen hatte — viel mehr als zur Sängerin. Weil selbst ihr Singen nichts war als ein Schrei nach Verdoppelung ihres Wesens.

Altmann drängte:

„So sprich doch, Karla ... so sag’ doch ...“

Aber sie wehrte ungeduldig ab. Er sollte sie doch zufriedenlassen. Sie hatte das nur so hin gesagt. Zum Arzt gehen? Der würde sie auslachen.

Altmann atmete auf. Er war jetzt wieder ganz ruhig. Junge Frauen spielten wohl oft mit dem Gedanken der[S. 24] Mutterschaft. Es lag so nahe. Sie wußten ja auch nicht, wie abhängig sie waren vom Willen und der Beherrschung des Mannes.

Und er streichelte, wieder entlastet und nachsichtig, Karlas Wangen.

„Wie wär’s, wenn wir ein bißchen übten?“

**
*

Und es kam doch der Tag, da ihr unbewußtes Sehnen Erfüllung wurde. Noch wagte sie nicht, an ihr Glück zu glauben. Hielt ihren Zustand geheim. Im Theater schloß sie sich an die anderen verheirateten Kolleginnen an; fragte sie aus, auf allerlei Umwegen.

Nachts wachte Karla oft auf und starrte in das Dunkel ihres Zimmers. Lange. Mit klopfendem Herzen. Sie dachte an ihr Kind.

Das Kind, das ihr jetzt noch allein gehörte. Sie stellte sich vor, wie es in ihren Armen liegen, mit winzig kleinen Händen auf ihre Brust patschen würde. Oder sie sah es im Bade strampeln; ihr Arm stützte das rosige Körperchen, und ihre Lippen suchten die verspielten kleinen Füße.

Sie warf sich im Bett auf die andere Seite und lachte ganz heimlich vor sich hin.

Plötzlich stockte ihr Herzschlag: das Kind war krank. Sie saß an seiner Wiege und hielt die zuckenden Fingerchen zwischen ihren Händen ... Der kleine Körper wand sich in Krämpfen, bäumte sich auf — fiel dann zurück in die Kissen — tot! ...

„Heiliger Gott ....!“

Der Schrei zerriß die Stille des nächtigen Zimmers. Altmann richtete sich in seinem Bett auf.

„Was ist ... hast du geträumt, Karla?“

Er griff nach ihrer Hand — sie war feucht und kalt.

„Ja ... aber ich weiß nicht mehr, was ... Macht nichts. Laß mich nur schlafen! ...“

[S. 25]

Sie hielt ihre Hand gegen das Herz gepreßt und vergrub den Kopf unter der Decke. Um keinen Preis der Welt hätte sie gesagt, warum sie so hatte aufschreien müssen.

Altmann durfte nichts erfahren, bis sie selbst gewiß war ... ganz gewiß! Und wieder setzte ihr Herzschlag aus, da sie sich vorstellte, daß sie sich geirrt haben könnte, daß sie nur ein Spiel war ihrer sehnenden Phantasie.

Eines Vormittags, während ihr Mann auf der Probe war und sie die Unruhe nicht mehr ertragen konnte, ging sie zu einer Frau, deren Schild schon öfters ihre Aufmerksamkeit erregt hatte: „Frau Leben. Staatlich geprüfte Hebamme.“ Sie hatte oft gelacht über den Namen, in Verbindung mit dem Beruf. Dadurch hatte er sich ihr eingeprägt. Und nun stand sie vor der großen, breitschulterigen Frau, zitternd wie auf verbotenem Weg.

Die Frau war mißtrauisch gegen die Damen vom Theater, seitdem sie etliche Male versteckte Bitten hatte überhören müssen. Aber Karla König hatte sie einmal singen gehört, und sie hatte die wundervolle Stimme nicht vergessen können.

„Ja ... was soll’s?“

„Ich möchte wissen ... wissen möcht’ ich ...“

Karla stockte.

Es konnte das leise Zittern ebenso als Angst wie als Wunsch gedeutet werden. Aber als Karla König sie plötzlich am Kopf packte und mit ihr durch das Zimmer galoppierte, da verstand sie.

„Also doch ein Kind ... hurra! ... Beste, liebste Frau Leben! ... Ich bin ja so glücklich!! ... Soll ich Ihnen was vorsingen zum Dank? ...“

Sie sang wirklich, was ihr gerade einfiel, mit voller Stimme. Unsinn sang sie. Und der Text war immer nur: „Ein Kind! Mein Kind! ...“ Aber so wundervoll waren die Töne, die sich aus ihrer Brust lösten, daß die Frau, als sie Karla beim Weggehen fragte: „Was bin ich schuldig?“, antwortete:

„Nichts mehr. Ich bin bezahlt.“

[S. 26]

Karla stülpte ihr Hütchen auf das dunkle Haar, fuhr in die weißen Zwirnhandschuhe und jagte durch die Straße bis zum Theater.

Jetzt durfte er es erfahren: „Wir kriegen ein Kind ... ein Kind!“

Verzierung, drei Sterne
N

Nach Palmarum übersiedelte Altmann mit Karla nach Berlin.

Dort konnte man am billigsten leben und am besten untertauchen. Er pflegte auch sonst immer um die Zeit bei den Theateragenten vorzusprechen.

Diesmal wollte er den Boden für Karla beackern.

Sie stiegen in einem kleinen Hotel der Friedrichstadt ab. Hofzimmer, drei Treppen.

Wenn Karla ans Fenster trat, blickte sie auf schmutzige Glasscheiben und geschwärzte Eisenstangen. Ein einziges trübes elektrisches Birnchen brannte hoch oben an der Decke. Sie sah kaum das Nötigste beim Auspacken.

Zum Abendbrot hatten sie sich bei Altmanns Schwager angesagt.

Es war Zeit, daß Karla die Familie kennen lernte. Sie zog das „Schwarzseidene“ an. Aber es machte ihr Mühe. Altmann mußte hinuntergehen und Sicherheitsnadeln holen. Mit einem seiner breiten schwarzen Schlipse ließ sich die nötige Brustweite provisorisch herstellen.

„Na ... Du gehst ja ordentlich in die Breite!“

Er lächelte. Aber die Nervosität konnte er nie ganz verbergen, wenn sich Karlas Zustand bemerkbar machte.

Es war doch eine katastrophale (er brauchte das Wort gern) Störung! Karlas Stimme war merkwürdig zeitig in Mitleidenschaft gezogen worden. Es gab Schwankungen,[S. 27] leichte Belegtheit. Ja, es war vorgekommen, daß sie unrein gesungen hatte!

Der Direktor stand, die Hände in den Hosentaschen, in der zweiten Kulisse und lächelte gallig.

„Hast’s nötig gehabt, Mädel ....“

Auch schauspielerisch hatte Karla immer weniger hergegeben.

Aus Angst, es könnte ihrem Kinde schaden.

Frau Leben, mit der sie Freundschaft geschlossen, war ihr eine strenge Beraterin geworden.

Karla trug kein Korsett mehr, weil sie es ihr verboten hatte. Sie hatte sich auch früher von der Bühne zurückgezogen, als es sonst üblich war.

Ihre Gage fehlte merkbar, und die Kammer wurde aufgegeben. Um Wäsche zu sparen, legte Altmann zu Hause stets Kragen und Manschetten ab. Karla fühlte plötzlich einen Druck.

Und sie war froh, als es hieß: Berlin.

Da hatte sie doch den Papa und die Schwestern ihres Mannes. Sie kannte sie nicht, aber sie war besten Willens, sich ihnen anzuschließen. Denn, ohne daß sie es zugab: die Abende waren ihr recht tot erschienen in den letzten Wochen.

Klanglos war sie untergetaucht in der grauen Menge und dem stumpfen Alltag. Sie war nahe daran gewesen, sich zu vernachlässigen, den ganzen Tag im Schlafrock herumzulaufen.

Und wenn sie übte, dann weinte sie oft. Manchmal wurden ihr die Schläfen feucht, wenn sie daran dachte, daß sie die Stimme verlieren könnte.

Lieber sterben, als die Stimme verlieren! Lieber ....

Sie war doch verrückt gewesen, sich ein Kind zu wünschen. Verrückt! ...

Frau Leben hatte ihr dann immer den Kopf zurechtsetzen müssen.

Jetzt kam es vor, daß sie von der Zukunft zu sprechen anfing: Wenn „das“ erst vorbei wäre, dann müßte sie doch[S. 28] gleich ins Engagement. Ob sich die Gastspiele verschieben ließen?

„Du machst das schon, Ernst, nicht wahr? ...“

Sie schmiegte sich an ihn, und er versuchte sie zu trösten, ihr die Angst wegzuscherzen, Luftschlösser aufzubauen ....

Er mußte sie doch wohl sehr liebhaben, daß er das alles konnte. — — —

So — nun endlich war Karla angekleidet. Sah prächtig aus. Sie würde noch einmal eine schöne Frau werden ... eine wunderschöne Frau. Und mit ihrer Stimme ....

Altmann wurde wieder besserer Laune. Er wollte auch eine Droschke nehmen. Karla sollte nicht abgehetzt bei seinen Leuten eintreffen. Seine Leute hatten ihm die Heirat mit einer Theaterdame ohnehin verübelt.

Sie hatten ihn für „verständiger“ gehalten. Seine Leute hatten von jeher an ihm herumkritisiert. Er war immer im Verteidigungszustand ihnen gegenüber gewesen. Hatte es nur nicht so sehr gemerkt, weil er nicht in derselben Stadt mit ihnen wohnte.

Und überdies hatte er auch eine so unbegrenzte Hochachtung vor den Schwestern, daß er sich willig ihrem Urteil unterwarf.

Karla sollte sich nur recht einfach und ruhig geben; nicht zuviel vom Theater erzählen.

„Ja, wovon denn? Ich kenne doch nichts anderes ....“

Es wurde ihr plötzlich ungemütlich.

„Hätten wir nicht doch lieber erst zu Papa gehen sollen?“ meinte sie.

Altmann zog die Mundwinkel herab. Das bedeutete immer eisige Ablehnung.

„Ich denke, es wird Zeit, Karla. Adele hat sicher ein warmes Abendbrot bereitet — wir dürfen sie nicht warten lassen.“

Bei dieser Gelegenheit erfuhr Karla, wie ihre verheiratete Schwägerin hieß. Sie hatte nie danach gefragt, und ihr Mann hatte den Namen nie genannt.

[S. 29]

Im letzten Augenblick riß Altmann noch ein Federbüschel von ihrem Hut:

„So, Kind .... das ist nicht so auffällig.“

„Aber ....“

Sie hätte fast losgeheult. Ihren einzigen schönen Hut so zu verunstalten. Pfennig auf Pfennig hatte sie vom Wirtschaftsgeld abgeknapst, um ihn zu kaufen. Zwanzig Mark hatte er gekostet .... gerade wegen der Federn! ... Wütend war sie! Und feuerrot vor Ärger.

Er tat, als merke er es nicht.

„Hast du deinen Umhang? Nimm noch ein Tuch mit. Die Abende sind kühl. Du könntest dich erkälten.“

Immer war er besorgt. Sie lächelte wieder.

Und im Treppenhaus suchte sie es so einzurichten, daß sie seine Gestalt in dem schmalen Pfeilerspiegel sehen konnte. Wirklich vornehm sah er aus in dem zweireihigen schwarzen Rock.

Seine frisch rasierten Wangen schimmerten bläulich. Die über der Nasenwurzel fast zusammengewachsenen Brauen gaben seinem regelmäßigen Gesicht einen strengen Ausdruck, der gemildert wurde durch die geschwungene Linie der schmalen Lippen. Freilich — wenn die Lippen sich senkten .... dann sah sein Gesicht aus wie eine tragische Maske. Aber wenn die Lippen lächelten — wie eben jetzt — und die elfenbeinfarbenen, gesunden Zähne sehen ließen, dann ... ja dann war Karla immer aufs neue bereit, sich in ihren Mann zu verlieben.

In der einen Hand hielt er ein Paar hellbrauner Handschuhe, in der anderen einen Stock mit silberner Krücke, die sie kurz zuvor mit Zahnpulver, vermischt mit ein paar Tropfen Kölner Wasser — blankgerieben hatte.

Er sah ungemein elegant aus.

Und Karla stützte sich auf seinen Arm mit einem Ausdruck fast herausfordernder Besitzerfreude, und sie machte sich so schwer, drückte sich so nahe an ihn heran, daß er ihr zuflüsterte:

„Aufpassen, Karla, du zerdrückst meine Manschetten.“

[S. 30]

Denn er wußte nicht, was jetzt eben in ihrer Seele vorgegangen war; wohl aber verlor er nie das Gefühl für die Wirklichkeit und das leise Bangen vor jeder leichtsinnigen Ausgabe.

Als sie auf die Straße herunterkamen, fuhr gerade der Omnibus vorüber.

„Halt!“ rief er.

Karla machte große Augen, denn sie hatte sich auf die Wagenfahrt gespitzt. Aber sie wagte keine Bemerkung. Sie hatte nur nicht mehr dieselbe Freude an ihrem Mann, als sie ihn eingequetscht sah zwischen einer Frau mit einem Gemüsekorb und einem Kindermädchen mit einem Schokolade essenden kleinen Jungen.

Es war erstaunlich, wie schmal sich Altmann machen konnte ....

Nun, es war jedenfalls gut, daß er so sparsam war ....

Aber ihre lebhaften braunen Augen starrten sehnsüchtig durch das Fenster hinaus auf die durch das Abendlicht vergoldete Straße.

Sie kannte nicht viel von Berlin, weil sie in Braunschweig aufgewachsen und nur ein halbes Jahr beim Papa geblieben war, bevor sie ihr erstes Engagement angetreten hatte. Aber so schön wie heute war ihr Berlin nie erschienen. Die prachtvollen Läden, die elegant angezogenen Frauen, die Cafés, aus denen jetzt schon das elektrische Licht in Garben herausstrahlte — das alles verwirrte und berauschte sie.

Und gerade jetzt mußte sie in dem abscheulichen Kasten sitzen .... Wenn sie wenigstens hätte laufen können — wie früher ....

Endlich, an der Endstation, hielt der Wagen.

„Nun sind es nur noch ein paar Schritte bis zur Culmstraße“, sagte Altmann und nahm beinahe zärtlich Karlas Arm.

„Geh nur langsam — wir haben Zeit ...“

Sie kannte den Ton nicht an ihm und blickte von der[S. 31] Seite zu ihm auf. Eine ihr fremde Erregung lag in seinem Gesicht.

„Hast du Bammel, sag’?“

Er zuckte zusammen.

„Wieso? Was? Bammel ...?“ Was war das wieder für ein Ausdruck!

„Ich bitte dich, Karla, nimm dich zusammen. Adele und Luise sind diese Sprache nicht gewöhnt. Sie werden einen ganz falschen Begriff von dir bekommen. Tu mir die Liebe und laß sie vergessen, daß wir zum Theater gehören ...“

Karla biß sich mit ihren scharfen Zähnen auf die Unterlippe.

Sind sie denn Gräfinnen, deine Schwestern? wollte sie fragen. Im letzten Augenblick hatte sie sich noch zurückhalten können. Aber innerlich lachte sie.

Altmann läutete.

Unter der Klingel im dritten Stock rechts leuchtete ein weißes Schild. Auf dem stand zu lesen:

Dr. Alwin Maurer.

Verzierung, drei Sterne
E

Es war die in Berlin übliche Fünfzimmerwohnung. Die Wohnung, von der es nach der Geburt des zweiten Kindes heißt: Sie ist zu klein und muß gegen eine andere umgetauscht werden.

Aber das blieb ein frommer Wunsch. Denn erstens vertrug das Einkommen Dr. Maurers kaum einen Umzug und noch weniger Neuanschaffungen.

Als junger stud. phil. war er bei Adelens Mutter Kostgänger gewesen ... Mittag zu 75 Pfennig. Nach einem weihnachtlichen Karpfen in polnischer Sauce blieb[S. 32] er endgültig hängen an der so vorzüglich kochenden Adele, an ihrer trotz ihrer weißen Haare noch immer schönen, strengen Mutter, an den guten, gediegenen Möbeln, an dem dünnen, aber reinen Kaffee, der, stets dampfend, in einer großen, bauchigen Kanne von einem rotwangigen, drallen Dienstmädchen hereingebracht wurde und mit seinem Duft eine Wolke von Behagen in alle Ecken des Zimmers verspritzte.

Alwin Maurer war sich bald bewußt, daß er alles und alle in dem Hause liebte, und da ihm jede Vergleichsmöglichkeit fehlte, so konnte ihn nichts von dem Gedanken abbringen, daß er in Adele Altmann die beste Lebensgefährtin, in Frau Altmann die idealste Schwiegermutter, in Luise Altmann die netteste Schwägerin finden würde. Blieb noch Ernst Altmann. Aber der zählte nicht recht. Denn erstens lebte er nicht in Berlin, und zweitens war er Schauspieler.

Die Altmannschen Damen sprachen nur wenig von ihm, und dann mit gedämpfter Stimme und vornehmer Zurückhaltung.

Die Altmannsche Vornehmheit hatte für den jungen Philologen ebenfalls etwas sehr Bestechendes. Sein Vater war Pastor in irgendeinem schlesischen Bergnest. Viel zu essen gab es nicht in dem mädelreichen Pastorenhaus — aber die Bauern zogen höflich den Hut, wenn sie die Pastorkinder sahen. Man war immerhin was Besonderes. Auch mit knurrendem Magen.

Vielleicht hätte Alwin Maurer im Hinblick auf seine vier Schwestern versuchen müssen, sich eine reiche Braut zu ergattern. Die reichen Bäcker kauften damals gern einen Doktor für ihre Töchter — aber ihm lag das Suchen und Sichdurchbeißen nicht. Der warme Kaffeebrodem im Altmannschen Hause umnebelte ihn, zauberte ihm lichtvolle Bilder einer glücklichen Zukunft vor.

Arme, hausmütterlich veranlagte Mädchen haben hinwiederum oft eine verblüffende Technik des Männerfanges, um die sie die raffinierteste Kokette beneiden könnte. Ihr Appell an die Ehrenhaftigkeit des Mannes[S. 33] nach einem heimlich geraubten Kuß ist von einer Tragik, die auch den Widerspenstigsten bezwingt.

Aber Alwin Maurer war gar nicht widerspenstig. Er hatte kaum seinen Doktor gemacht, als er in die Wohnung, die Möbel, den guten Tisch und den heißen Kaffee einheiratete.

Doch der Philologenhunger war kaum gesättigt, als Frau Altmann starb. Mit ihr schwand die Witwenpension, die dem Hause so wohl zustatten gekommen war. Die magere Lehrerbestallung war nur ein notdürftiger Ersatz. Aber Luise Altmann half mit. Von früh bis spät lief sie in den Straßen auf und ab, gab in dem einen Hause Klavier-, in dem anderen deutschen, in dem dritten Geographie-Unterricht — gründlich und billig. Sie rechnete nicht zu Hause und legte all ihr Verdientes in Adelens Hände. Kaum, daß sie etwas übrigbehielt, um sich eine Bluse oder ein Paar Stiefel zu kaufen.

Nach der Geburt von Adelens zweitem Kind wurde Luisens kleines Hofzimmer — Gemeingut. Der Kinderwagen wurde hineingeschoben, das Dienstmädchen baute dort ihr Bügelbrett auf, die Hausschneiderin häufte Berge alter Kleider auf Luisens Bett und rasselte an der ebenfalls in dem Zimmerchen aufgestellten Maschine. Ob Luise mittags oder abends heimkam, es roch muffig in ihrem Zimmer — nach kleinen Kindern, feuchter Wäsche und alten Stoffen.

Eines Tages erklärte Luise, daß sie eine Stellung als Erzieherin angenommen hätte:

„Ihr müßt Platz haben, Kinder.“

Vielleicht hatte sie gehofft, man würde ihr abreden, sie nicht fortlassen. Aber man bewunderte sie nur.

Dr. Maurer war es zufrieden, daß die Schwägerin das Haus verließ. Ihre Aufopferungsfähigkeit demütigte ihn. Auch war es ihm oft peinlich gewesen, daß die Schwestern sich in vielen Fragen besprochen und ihn dann vor die vollzogene Tatsache gestellt hatten.

Je weiter die Hungertage der Studentenzeit von ihm[S. 34] fortrückten, desto mehr verstärkte sich sein Bewußtsein als Mann und Familienvorstand.

Die „prächtige Luise“ war ein willkommener Gast. Aber mehr als Gast sollte sie im Hause nicht sein.

Adele kam leichter, als sie gefürchtet, über die veränderte Lage hinweg. Denn als die Jüngere hatte sie manches Mal Ratschläge anhören müssen, die ihr nicht immer zusagten. Auch sie sehnte sich nach „Entfaltung ihrer Selbständigkeit“. Die Zuwendungen der Schwester waren noch lange Jahre willkommen — denn Dr. Maurer war ein Epikuräer.

Das, was ihm einst als ein Gipfel menschlichen Behagens vorgeschwebt hatte, genügte seinen erwachten Sinnen längst nicht mehr. Und die größer werdenden Bedürfnisse weckten seinen Ehrgeiz.

Adele, die aufgewachsen war in den Begriffen kleiner Bürgerlichkeit, fand es selbstverständlich, daß ihr Mann seine zwei freien Abende in der Woche hatte. Das Geld für einen kleinen Verlust beim Skat und für etliche Glas Bier mußte einfach da sein. Da verzichtete die Familie eher auf einen Sonntagsausflug oder Adele auf ein Paar Handschuhe.

Denn vor allem kam der Mann.

Der „vor allem“ mußte anständig angezogen sein und mußte mit ein paar Silberstücken in der Hosentasche klimpern können. Das gehörte sich so. Auch Luise war derselben Meinung. Es wurde auch bald selbstverständlich für Dr. Maurer. Nur reichten die Silberstücke fast nie so lange, wie sie sollten. Dr. Maurer rauchte gern eine anständige Zigarre und trank lieber Echtes als Lager. Ein paarmal war es vorgekommen, daß er sich in eine nette Weinstube hatte mitziehen lassen ... Und da machte er die Entdeckung, daß die Gespräche beim Wein — wenigstens während der ersten zwei Flaschen — viel gehaltvoller und geistiger waren. Daß auch die sinnfälligen Freuden dieses Lebens in der weindunsterfüllten Luft weit freundlichere Beurteilung fanden als an dem filzbestreuten Biertisch.[S. 35] Der Wein regte die Phantasie an, führte in das gelobte Land unbegrenzter Möglichkeiten.

Alwin Maurer war kein Trinker, aber er war weinfest und gehörte zu denen, deren Seele hohe Flüge macht, während ihr Körper wie angeschmiedet vor den sich erneuernden Flaschen verharrt.

Einige Male war es ihm gelungen, die erhöhte Stimmung bis nach Hause zu retten. Da war es ihm gewesen, als zöge ihn eine unsichtbare Gewalt zu seinem Schreibtisch. Er nahm die Feder zur Hand und schrieb einen Aufsatz über individuelle Erziehung. Er erschien bald darauf in einem Fachblatt und erweckte eine lebhafte Polemik, die sich spaltenfüllend in der Zeitschrift austummelte. Aber das Honorar bezahlte ihm kaum die Flasche Niersteiner, die er getrunken.

Als er einige Wochen später einen Aufsatz über die „Lähmungserscheinungen humanistischer Überbildung“ schrieb, bot er ihn einer vielgelesenen Tageszeitung an. Die Schriftleitung verlangte, daß sie bei diesem hervorragenden Artikel ausdrücklich auf seine Lehrtätigkeit hinweisen dürfte.

„Ja ... gewiß ... selbstverständlich.“

Dr. Alwin Maurer schwebte in den siebenten Himmel ein. Mit einem Schlage war er berühmt. In seiner Phantasie sprengte das Geld seine Taschen, und alle Lehranstalten luden ihn auf ihr Katheder.

Der Tag nach dem Erscheinen des Aufsatzes brachte ihm zwanzig Mark und eine peinliche Auseinandersetzung beim Direktor. Er sollte „revozieren“, oder er ging der Stellung verlustig und würde irgendwohin strafversetzt. Denn das Ministerium hatte soeben Material über ihn eingefordert.

Wie zerschlagen kam er nach Hause. Adele hatte bereits den Besuch zweier Lehrerfrauen gehabt. Sie war in Tränen aufgelöst und hatte das Dienstmädchen zu Luise geschickt, um sie zu holen. Denn Luise mußte helfen, mußte raten. Luise war so klug! Und Alwin ... nein, wie hatte Alwin sich so vergessen können! ... Luise kam. Alwin[S. 36] Maurer wurde richtig ins Verhör genommen. Der Aufsatz wurde laut gelesen — jeder Satz doppelt und dreifach ausgelegt. Es war fürchterlich, was er da alles geäußert hatte! Umstürzlerische Ideen waren das! Er erschütterte die Grundfesten deutscher Jugenderziehung ... er war ein Revolutionär, ein Sozialdemokrat! ...

Das war damals noch ein Schimpfwort, und Adele hob beschwörend die Hand:

„Nicht zu weit gehen, Luise!“

Aber Luise schob sie aus dem Zimmer. Schließlich brauchte die Frau nicht dabei zu sein, wenn sie ihren Mann abkanzelte, wenn er so dastand, richtig wie ein dummer Junge, der was ausgefressen hatte! Und als der Schwager ihr endlich sein Aneinandergeraten mit dem Direktor berichtete und daß das Ministerium „Material“ über ihn verlangt hatte, da schrie Luise Altmann verzweifelt, unter Tränen:

„Revoziere! ... Revoziere!“ ...

Adele wurde gerufen. Sie weinte mit und schrie mit: „Revoziere! Revoziere!“

Die Kinder wurden hereingeschleppt, die „unschuldigen Würmer“. Die heulten auch mit, ohne zu wissen, warum. Es war ein Höllenlärm. Dr. Alwin Maurer, der nichts hatte wissen wollen von irgendwelcher Zurücknahme seiner Worte, fühlte die zerrenden Finger seines kleinen Mädchens, seines Jungen ... Um seine Ohren gellte das Schreien der Kinder, das Jammern der Frauen.

„Revoziere! Revoziere!“ ...

Adelens nasse Wangen lagen an den seinen. Luise drückte krampfhaft seine Hand, zeigte pathetisch auf das schwarzgerahmte Bild der Mutter:

„Wenn sie das erlebt hätte — sie, die so viel von dir gehalten!“ Zeigte die alten, gediegenen Möbel, die einst der Inbegriff allen Behagens für ihn gewesen: „Wovon lebt Ihr denn, wenn du deine Stellung verlierst, wenn du versetzt wirst? ... Dann kannst du alles für ein paar Groschen verschleudern ....“

[S. 37]

Die Angst kroch langsam aus Alwin Maurers verborgensten Herzenswinkeln heraus:

„Aber,“ ... stammelte er, „aber“ .... Nichts anderes.

Er ließ sich zu seinem Schreibtisch schleifen. Die Frauen standen ihm zur Seite: rechts Luise, links Adele. Sie beugten ihre Köpfe über seine Mappe; die eine reichte ihm Briefpapier, die andere tauchte seine Feder in die Tinte.

„Revoziere!“

Ihm war, als hätten sie ihm sein Gehirn aus der Schale gelöst und stocherten mit ihren Fingern darin herum .... Er hatte keinen Gedanken mehr, kein Gefühl .... Nicht für das Tragische seiner Lage, nicht für das Lächerliche.

Er schrieb, strich aus — fing wieder an.

„Ich kann nicht so ....“

Sie nahmen ihm den Atem, die beiden Frauen.

„Wir sehen nicht hin ... schreib nur.“

Aber ihre Körper lehnten an den Ecken seines Tisches, und der Dunst ihrer Tränen umhüllte ihn.

So revozierte er feige, erbärmlich. „Aus den Zuschriften, die er erhalten, hätte er ersehen, daß seine Worte mißverstanden worden wären.“

Behauptung für Behauptung nahm er zurück, Wort für Wort. Der Schweiß sickerte in dicken Tropfen unter dem leicht gekrausten blonden Haar hervor, rann die Schläfen entlang.

Jetzt noch die Unterschrift.

„Aber das geht doch nicht ... ich kann das doch nicht.“ ...

Luise Altmann legte ihre feste, hagere Hand auf seinen linken Arm. Adele schluchzte noch einmal drängend auf.

Und dann schrieb er: Dr. Alwin Maurer. Luise faltete das Papier, schrieb die Adresse des Blattes auf den Umschlag.

„Ich bringe den Brief selbst in die Redaktion. Morgen früh muß der Brief in der Zeitung stehen.“

Adele war damals ihrer Schwester um den Hals gefallen. Und sie beide waren aus dem Zimmer gerannt, als[S. 38] könnte Alwin Maurer ihnen noch im letzten Augenblick den Brief aus den Händen reißen.

Aber er dachte nicht daran.

Wie erschlagen lag er im Sessel. Und nur seine Augen wanderten voll Ekel von einem gediegenen Möbelstück zum andern. Altem Plüsch und morschem Holz hatte er seine Überzeugung geopfert — der Speisekammer seiner Frau und dem Autoritätenglauben seiner Schwägerin. Er riß die Schreibtischlade auf und zerfetzte die Seiten des nächsten Artikels, den er bereits begonnen hatte. Zerfetzte den Traum, den ein paar Glas Wein ihm eingegeben und den zu verwirklichen er vielleicht das Talent gehabt hätte. Und er weinte.

Weinte bitterlich, wie ein kleiner Junge weint, dem die Hand eines Großen sein Schaukelpferd zertrümmert.

Die Zeitung brachte den Widerruf, mit einigen spöttischen Worten verbrämt. Der Schuldirektor klopfte ihm auf die Schulter:

„War das einzig Vernünftige, lieber Doktor!“

Die Klasse aber mußte wegen groben Unfugs während seines Unterrichts zwei Stunden nachsitzen.

Adele kochte ihm eine Woche lang seine Lieblingsgerichte, und Luise Altmann brachte ihm eine Kiste mit fünfundzwanzig Zigarren, das Stück zu fünfzehn Pfennig.

Das Leben in der Culmstraße ging weiter, sättigend und behaglich. Luise „verbesserte“ sich. Sie kam als Erzieherin in ein reiches Haus, hatte gutes Gehalt und unterstützte nach wie vor den Haushalt der Schwester.

Jedes Jahr um Palmarum kam Ernst Altmann.

Die Schwestern fühlten sich verpflichtet, dem „Zigeuner“ gegenüber ihre makellose Bürgerlichkeit stark zu betonen. Aber Adele war nicht unempfänglich für die Theaterbilletts, die sie durch ihn bekam. Auch war er immer bereit, die Kinder auszuführen, in den Zirkus oder eine Klassikervorstellung am Nachmittag.

Mit Dr. Maurer hatte er wenig Berührungspunkte,[S. 39] oder wenigstens nicht viel mehr, als ein gemeinsamer Bierabend ergibt.

Dem Pastorensohn aus den schlesischen Bergen war die Kulissenwelt fremd, kaum reizvoll. Immerhin brachte Altmanns alljährliches Erscheinen in Berlin eine kurze, willkommene Abwechslung in die starre Regelmäßigkeit der Lebensführung.

Einmal nahm Altmann seinen Schwager zu einem Rennen mit nach Karlshorst. Keiner von beiden setzte, aber Dr. Alwin Maurer kam wie berauscht nach Hause. Er hatte Frauen gesehen, wie er sie nur für möglich gehalten im Schimmer des Rampenlichts. Vor seinen weltfremden, erstaunten Augen hatte sich ein Stück gesellschaftlichen Lebens abgerollt, wie er es nur in dem einen oder andern Roman geschildert gefunden und als unwahrscheinlich abgelehnt hatte.

Das Lehrerlein in dem engen schwarzen Rock, mit dem Zylinder auf dem krausen Blondkopf, mochte wohl eine recht komische Figur abgegeben haben in dem schillernden Bild des grünen Rasens. Eine Dame, von deren sich ziemlich deutlich äußerndem Beruf Alwin Maurer nur dunkle theoretische Kenntnis besaß, warf ihm im Vorbeigehen lachend ihr Veilchensträußchen ins Gesicht. Gar zu herausfordernd naiv sah er aus.

Altmann war froh, als er den sehr widerstrebenden Schwager glücklich wieder nach Hause bugsiert hatte. Am anderen Tage mußte er aber Adelens bitterste Vorwürfe über sich ergehen lassen. Auch Luise schrieb ihm einen empörten Brief. Was war ihm denn eingefallen? Alwin in solche Umgebung zu bringen! Wollte er durchaus den Frieden des Hauses zerstören, indem er Alwin Einblick in eine äußerlich vielleicht verlockende, gewiß aber verderbte Welt gewährte, indem er ihn mitschleifte dorthin, wo „sich das nackte Laster und alle verbotenen Leidenschaften die Hand reichten“?

Der Satz war aus Luisens Brief.

[S. 40]

Altmann wurde vorsichtiger. In seiner ernsten Verehrung für die Schwestern fand er kaum ein Lächeln für diese übertriebene Angst. Nein, gewiß, von ihm brauchten sie für Alwin nichts zu fürchten, obwohl er nicht glaubte, daß der gute Alwin ...

So? Das glaubte er nicht ...? Na, dann sollte er nur hören!

Bei geschlossenen Türen suchte Adele den Zeitungsartikel heraus. Nun ... was sagte er jetzt? ...

Altmann fand den Artikel ausgezeichnet. Er selbst hatte das humanistische Gebüffel nicht ertragen und war darum durchgebrannt. Sehr vernünftig von Alwin, er wollte ihm die Hand schütteln! So viel Mut hatte er ihm gar nicht zugetraut ...

Erst nach einer ganzen Weile begriff er, daß der Schwager gar nicht das Recht gehabt hatte, so zu schreiben. Daß es ein Verrat gewesen war an Frau und Kind, nur entschuldbar durch Alwins Feuertemperament. Aber wie hatte er sich bezwungen ... mit welchem Opfer hatte er die Ruhe des Hauses erkauft ... Und Adele legte dem Bruder den Widerruf vor.

Irgend etwas behagte Altmann nicht daran. Aber er mußte es dem Schwager doch danken, daß er Adele vor Kummer und Sorgen bewahrt hatte. Ja ... vielleicht war das eine größere Tat, als wenn er darauflos seine Überzeugung herausgeschrien hätte ... Die Schwestern wollten jedenfalls, daß er das so ansah ...

Und mit den Jahren kam es auch so weit, daß er nicht zu sagen gewußt hätte, ob Alwin Maurer ein Held oder ein Waschlappen gewesen war. Gewiß ein Held — weil er Adelens Mann war. Und noch mehr wurde er in dieser Annahme bestärkt, als der Zufall das Gespräch einmal auf den Mut der Überzeugung brachte. Da sagte Dr. Alwin Maurer, und seine Stimme war dabei ein wenig belegt:

„Es kann sein, daß der größte Mut darin besteht, sich zu einer entgegengesetzten Überzeugung zu bekennen.“

[S. 41]

Adele und Luise drückten ihm darauf die Hand. Aber er stand vom Tisch auf und kam den Abend über nicht mehr aus seinem Zimmer heraus.

„Man darf gar nicht daran rühren“, sagte Adele.

Es gefiel ihr eigentlich, daß es in dem glatten, nichtssagenden Leben ihres Mannes eine wunde Stelle gab.

In wortloser Übereinstimmung hatten die Schwestern aus jenem Vorfall das „große Erlebnis“ gestaltet, ohne das vielleicht kein Mann auskam! Aber nun hatte er es. Nun sollte er daran leiden und sich aufrichten ...

So dachten die Schwestern noch heute, nachdem zehn Jahre vergangen waren.

Dr. Alwin Maurer hatte jetzt eine Art kleiner Tonsur in seinem blonden Lockenkopf, und sein Gesicht war blaß und verschwommen. Adele und Luise sahen einander auch heute noch zum Verwechseln ähnlich. Nur wer genauer hinsah, bemerkte weiße Silberfäden in Luisens dunkelblondem Scheitel und kleine Fältchen um Adelens Augen. Sie hatten beide die schmalen Altmannschen Lippen, die geraden dunklen Brauen und zogen in harter Linie die Mundwinkel herab, wenn sie auch nur innerlich etwas ablehnten.

Ihres Bruders Heirat lehnten sie beide ab. Aber sie waren wohlerzogen und höflich. So warteten sie in der Wohnstube, in schwarze Seide gekleidet, auf das Läuten an der Korridortür.

Dr. Alwin Maurer, im Bratenrock, der an den Nähten spannte, ging auf und ab, mit auf dem Rücken verschlungenen Händen.

Der Duft des Kalbsbratens umwehte verheißungsvoll seine empfindsamen Nüstern. Er blickte öfters auf den Regulator. Wenn sie nur zur Zeit kamen, und das Essen nicht verdarb!

Schließlich war das bißchen „Fraß“ doch das einzige, was das Leben lebenswert machte ...

[S. 42]

Die Klingel schrillte durch die Wohnung ... Dr. Maurer stürzte im letzten Augenblick in eine Ecke des Zimmers und warf den hellen Rohrstock, mit dem er am heutigen Vormittag seinen Stammhalter verdroschen, unter das braunrote Plüschsofa.

Verzierung, drei Sterne
K

Karla machte kaum den Mund auf. Sie war gesellschaftlich noch ungewandt, und die frostige Freundlichkeit der fremden Verwandten ließ sie zu Eis erstarren.

Luise Altmann fand, daß sie sich bei Tisch nicht recht benehmen konnte, denn sie schnitt die Kartoffeln mit dem Messer durch und trank, bevor sie den Bissen im Munde heruntergeschluckt hatte!

Auf das verwandtschaftliche „Du“ wurde bei der Zitronenspeise eine Flasche deutschen Sekts geleert. Altmann hatte eine elegante Art, die Serviette um den Flaschenhals zu schlagen und die Gläser nur bis zur Hälfte vollzuschenken.

Karla bewunderte ihn sehr in dieser Tätigkeit, und verträumt versetzte sie sich an ihre Hochzeitstafel zurück in der „Krone“. Schön war das damals gewesen — und lustig! Wie die Kollegen sich gefreut hatten! So viel Liebes hatten sie alle gesagt, und so hübsche Trinksprüche waren gestiegen. Nach dem Kaffee hatte man auch noch ein bißchen gesungen, vorgetragen und sogar getanzt ...

Der Kalbsbraten und die Zitronenspeise waren gewiß gut geraten, aber es wollte ihr nichts so recht durch die Kehle rutschen.

Der Altmannsche Typus in seiner dreifachen Spielart bedrängte sie. Die Vornehmheit und Schönheit ihres[S. 43] Mannes verloren ihren Wert, da sie sie in den beiden Schwestern wiederfand. Diese Gleichheit reizte sie. Sie bekam einen roten Kopf.

„Wie fühlst du dich, Karla, hm?“

Es war klar, daß Altmann den Ausdruck innigsten Entzückens für selbstverständlich hielt. Darum wartete er die Antwort gar nicht erst ab, sondern sprach weiter mit seinen Leuten — über die Kredenz, an die der Vater noch selbst eine Leiste angeklebt und die sich so prachtvoll erhalten, über Luisens Stellung im Hause der englischen Familie, über den voraussichtlichen Beruf von seinem Neffen Fritz.

„Dem Jungen mußte ich heute auf Spanisch Mores lehren,“ sagte Dr. Maurer, „glaubst du es, daß der vierzehnjährige Bengel alte Schulbücher verkloppt hat, um sich Zigaretten zu kaufen?“

Karla lachte plötzlich los.

Altmann sah sie befremdet und zurechtweisend an.

„Was ist denn so Belustigendes daran?“

Dr. Maurer war in seiner Pädagogenwürde leicht verletzt, aber er war nicht unempfänglich für das wundervolle Lachen und die blitzenden Zähne seiner jungen Schwägerin.

„Findest du das etwa in der Ordnung?“

Er lächelte unwillkürlich, beugte sich über den Tisch und bemerkte dabei, daß sie wunderhübsche, junge, braune Augen hatte, unter kaum angedeuteten, hilflos und drollig geschwungenen Brauen.

„Nimm dich zusammen“, flüsterte Altmann streng.

Sie kämpfte noch immer mit dem Lachen, das sie schüttelte, wie ein boshafter Protest gegen all die steife Würde an diesem Tisch.

„Ihr müßt es mir nicht übelnehmen, aber wie der ... der ...“

„Alwin“, soufflierte Dr. Maurer.

„Ja also, wie der Alwin erzählte, daß sein Junge Bücher verkloppt hat für Zigaretten, da mußte ich an meinen Verehrer denken ... weißt du, Ernst, den kleinen Korbach. Der brachte mir wochenlang gefüllte Malz- und Honigbonbons[S. 44] an den Bühneneingang. Ich wußte immer nicht, wo der Junge das viele Geld dafür hernahm. Wußte auch nicht, wie er heißt. Bis er eines Abends — ich hatte gerade Schnupfen und Husten, und der Regisseur ließ das Publikum um Nachsicht bitten — mit Chininpulver in Oblaten anrückte, am nächsten Tage eine Flasche Emser Krähnchen bei meiner Wirtin ablud und am dritten Tage Rizinuspillen brachte ...“

Sie schüttelte sich wieder vor Lachen, und Dr. Alwin Maurer, der strenge Pädagoge, stimmte ein.

„Apothekersohn? Was?“

Karla nickte.

„Ja ... dreizehn Jahre war das Kerlchen! Saß abends, wenn ich sang, auf dem Olymp und klaute, was er konnte, um mir seine Liebe zu zeigen ...“

„Empörend!“ sagte Luise Altmann.

„Schrecklich! ... Ja, das Theater ...“, meinte Adele.

Dr. Maurer fuhr sich mit der sehr vollen, kurzfingerigen Hand (ein Erbteil seines Vaters) durch das Haar.

„Na ... da wird wohl der Junge auch seine Tracht Prügel bekommen haben ...“

„Das hoffe ich“, warf Adele rasch ein. „Du hast doch den Vater aufgeklärt?“

Karla nickte vergnügt.

„Gewiß. Ich habe den Jungen bei der Hand genommen, bin mit ihm zu seinem Vater ’rüber, und wie der von Hauen und so gesprochen, da hab’ ich gebeten, er möchte das lassen, und hab’ ihm dafür was vorgesungen. Er war sehr musikalisch, der Korbach ... nicht wahr, Ernst, du hast doch auch von ihm gehört? ... Fast eine Stunde haben wir zusammen musiziert. Zum Schluß haben wir das Duett aus ‚Carmen‘ gesungen ... der Kleine hat uns begleitet ... famos war das! Von Hieben war natürlich keine Rede mehr. Und zu Weihnachten, da schickte mir Herr Korbach eine Reiseapotheke. Riesig praktisch. Ernst benutzt sie auch sehr gern.“

Karla war losgelassen.

[S. 45]

Die Schwestern wechselten einen Blick.

‚Unmöglich‘, sagte der. Karla war unmöglich. Jedenfalls in ihren bürgerlichen Kreisen. Adele dachte an ihre Bekannten: die Frau Lehrer Wagner, die Frau Oberlehrer Lange, die Frau Rechnungsrat Florian ... Nein, mit dem besten Willen konnte sie Karla nicht bei den Damen einführen.

„Machst du Handarbeiten?“ fragte sie, mit einem letzten Versuch, irgend eine ernste Eigenschaft an der Schwägerin zu entdecken.

„Karla hat wenig Zeit gehabt bisher“, meinte Altmann und dann mit einer jäh erwachten Hoffnung zu seiner Frau gewendet:

„Oder solltest du doch vielleicht ...?“

Es war verzeihlich. Er war ja erst einige Monate verheiratet.

Aber nein. Karla gestand schamlos, daß sie gar keine Handarbeiten machen könne; auch mit dem Nähen hapere es.

„Wenn ich erst Geld verdiene, dann halte ich mir eine Flickschneiderin.“

Adele zog die Mundwinkel ein. Eine verheiratete Frau, die von „Verdienen“ sprach, verletzte alle ihre Begriffe. Wenn nur um Gottes willen der arme Ernst in dieser unseligen Ehe nicht jedes „Gefühl für Anstand und Schicklichkeit verlor!“

Altmann faßte seine Frau unter das Kinn.

„Sie ist noch eine kleine Wilde“, sagte er versöhnlich.

Karla wurde ärgerlich. Was hatten sie hier alle an ihr herumzukritisieren?!

„Warum bin ich eine Wilde?“

Dr. Maurer hob die Tafel auf.

„Na, Kinder, nur immer ruhig. Ärger nach Tisch gibt rote Flecke im Gesicht.“

Es wurde Kaffee in die Wohnstube gebracht, Bier und Zigarren für die Herren.

„Ach ja, richtig — du rauchst ja nicht“, sagte Alwin[S. 46] Maurer zum Schwager und qualmte seine „Imitierte“ genüßlich an.

„Willst du nicht ein bißchen singen, Karla?“ fragte Luise Altmann.

Karla sah zu ihrem Mann herüber. „Bitte nicht“, schienen ihre Augen zu sagen. Sie war, weiß Gott, nicht in der Stimmung! Die steif an die Wand gelehnten braunroten Plüschmöbel, die starren, schwarzen Seidenkleider und die geraden Brauen schienen ihr eine unüberwindliche Feindseligkeit auszuströmen.

„Ja, natürlich, sing’ doch ein bißchen was“, munterte Alwin Maurer auf.

Ein paar nette, warme Töne mußte sie — ihrem Lachen nach zu urteilen — im Leibe haben. Er sang selbst gerne, war eine Zeit lang Mitglied eines Männergesangvereins gewesen und begleitete Luise Altmann oft in die Konzerte, zu denen ihre Herrschaft ihr zeitweilig ihre Plätze überließ.

„Alwin versteht sehr viel“, flüsterte Adele, laut genug, daß Karla es hörte.

„Ich kann heut’ nicht singen ... nein ... wirklich nicht ....“

Man nahm es als übliche Ziererei und beachtete es nicht. Alwin Maurer räumte das Stehalbum und die zwei Vasen mit künstlichen Blumen von dem schwarzen Pianino.

„Soll ich die Kerzen anzünden? ... Nein ... das Gas brennt wohl hell genug ....“

Er blies Karla den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht, ohne es zu merken.

„Ich will doch nicht singen“, murmelte sie.

Wie konnte ihr Mann sie zwingen! Nie hätte sie das von ihm gedacht — nie!

„Komm, komm ....“

Und er schlug leicht gegen das Klavier. Anders hätte er auch einen Hund nicht herangelockt. Alwin Maurer blätterte in den angegrauten Notenheften. Da fehlte die erste — da die letzte Seite.

[S. 47]

„Tja .. ich sehe, unser Bestand ist erneuerungsbedürftig. Aber — da ... Schubert ... Frauenliebe und Leben — hm? Wie wär’s?“

Karla war keine Liedersängerin. Die kleine, geschlossene Form lag ihren breit ausladenden Mitteln nicht.

„Nein ... keine Lieder ... die mag ich nicht.“

„Schubert magst du nicht?“

Luise Altmann hob die Augen zur Decke. Nette Sängerin war das! Armer Ernst ... Was hatte er sich da aufgeladen!

„Habt Ihr nicht etwas von Wagner ... dann ...“

Um Gottes Willen — Wagner! War ja ganz schön im Opernhause. Aber im Zimmer — da zerriß er einem ja die Ohren.

Doch Alwin Maurer wühlte weiter in den Noten. Ja ... doch ... ein Lohengrin-Auszug ... der mußte da sein. Den hatte er vor einigen Jahren gekauft, um eine kleine Lohengrin-Parodie für ein Vereinsfest zu verfassen. Wo war er denn nur ....?

„Da ....“

Eigentlich machte es ihm uneingestandenen Spaß, daß seine Damen sich ärgerten.

„Los, Kinder, los ...“

Altmanns Finger schlugen hart und trocken auf die Tasten.

Karla stand leicht zurückgebeugt mit unter der Brust verschlungenen Händen, wie es ihre Art war beim Singen, am Klavier.

Das Gaslicht fiel grell und schonungslos auf ihr zusammengestecktes Kleid und den unverhältnismäßig breiten Hüftenumfang.

Die Schwestern stießen sich an, und Adele flüsterte:

„Du, ich glaube gar ...“

„Mir scheint auch ...“

Sie waren beide ein bißchen blaß geworden. Das hatte noch gefehlt — ach, du lieber Himmel!

Ein ganz leises Mitgefühl für Karla regte sich in ihnen.[S. 48] Aber ein noch größeres für den Bruder. Nicht einmal eine Wohnung, ein Heim hatten solche Leute. Sie tuschelten leise: Ob schon für das Kind vorgesorgt war? ... Ob es Wäsche vorfand — einen Wagen? ... Adele rechnete nach, was ihr von der Ausstattung ihrer Kleinen übrig geblieben war. ... Acht Windeln, fünf Hemdchen, neun Sabberlätzchen mochten sich noch erhalten haben! ... Dazu der Kinderwagen; nur neue Vorhänge waren nötig — die schnitt man einfach aus den ausgemusterten Gardinen der guten Stube heraus ....

„Wenn sie Pflege braucht, so bitte ich um Urlaub ... Man kann das Wurm doch nicht verkommen lassen ...“

Mit dem Wurm meinte Luise Altmann das Kind, für das die Schwestern jetzt schon eine gewisse Zärtlichkeit empfanden, weil es ihnen den Bruder näher brachte.

In ihrem Getuschel entging es ihnen völlig, daß Karlas Stimme nach dem sechsten Takte umkippte.

„Macht nichts, macht nichts“, beruhigte Dr. Alwin Maurer gutmütig. „Vielleicht hat dich mein Rauch gestört.“

Er legte die Zigarre aufs Fensterbrett.

„Nur keine Gêne ... fang’ ruhig wieder an!“

Altmann war rasend. Sogar das Tuscheln der Schwestern entging ihm vor Arger über Karla.

„So paß doch auf!“

Wie ein ungezogenes, durch zu viel Freiheit verzogenes Kind war sie, das nach den ersten Schulferien kaum noch die Buchstaben erkennen will. Er schlug den Takt mit dem Fuß, Alwin Maurer mit der Hand ...

Karlas Augen füllten sich mit Tränen ohnmächtiger Wut.

„Nein ... so kann ich nicht ... so sing’ ich nicht.“

„Quäl’ sie doch nicht“, rief Luise Altmann herüber.

Altmann warf den Auszug in kalter Wut auf das Notengestell zurück.

„Gut, lassen wir’s bleiben!“

Diese Bockigkeit verzieh er Karla nicht so bald! ...

Alwin Maurer schenkte die Biergläser voll.

[S. 49]

„Mensch, ärgere dich nicht! Erzählen wir uns lieber was. Waren ja lange genug nicht beisammen ... Na, Prost! Karla, gebt euch einen Kuß ...“

„Willst du die Wohnung sehen, Karla?“ fragte Adele.

Die Schwestern erhoben sich, Karla folgte ihnen, froh, aus dem Bereich von Altmanns dunklen Blicken zu kommen. Innerlich frohlockte sie, daß sie nicht hatte singen brauchen und war gern bereit die Küche zu bewundern, in der vom Abendbrot noch alles kunterbunt und ungesäubert durcheinander stand, und die selbstgehäkelten Kanten.

Im Schlafzimmer nahmen die Schwestern sie ins Gebet.

„Ja — merkt man es denn wirklich schon so sehr?“ fragte Karla.

Sie war unbändig stolz. Und gleich darauf wurde sie redselig.

Schrecklich war das Verheiratetsein, ohne ein Kind zu haben! Man kam sich eigentlich gar nicht recht verheiratet vor! Ein bißchen was mußte man doch voraushaben vor denen, die sich zusammentaten, weil sie gerade auf ein paar Jahre an derselben Bühne engagiert waren! Wenn’s nach ihr ging, würde sie ein Dutzend Kinder haben wollen. Aber das ginge wohl nicht, wegen ihrer Stimme. Schreckliche Angst hatte sie, die Stimme zu verlieren! Dann lieber gar kein Kind! Wenn das passierte — dann ... ja, gewiß, dann würde sie ihr Kind nicht mehr ansehen können — na, und liebhaben schon gar nicht! Aber sonst — auffressen würde sie es vor Liebe! Keinen Augenblick würde sie es allein lassen. Sie würde es sich schon so einrichten, daß sie es in ihre Garderobe mitnehmen könnte! Mitten auf den Schminktisch würde sie es legen, und da sollte es ruhig strampeln. Die Ankleidefrau würde schon aufpassen, so lange sie draußen war! ...

„Nun, ich hoffe, Ernst wird so vernünftig sein, daß er diesen Unfug untersagt“, meinte Adele.

Und Luise Altmann fügte hinzu:

„Wir werden mit Ernst sprechen.“

Karlas kurzes Frohgefühl erlosch. Hätte sie doch nichts[S. 50] gesagt! ... Das hatte sie nun davon! Aber schließlich war sie die Mutter. Sie hatte doch allein das Bestimmungsrecht. Ihr Mann ... ja gewiß. Aber was verstand der von kleinen Kindern, von Mutterangst! ...

Mißmutig und mit halbem Ohr hörte sie auf die Aufzählung der Wäschestücke, die zu einer vollständigen Kleinkinderausstattung gehörten.

„Ja ... na, das sagt man uns schon im Geschäft.“

„Nein, Karla. Das mußt du selbst nähen“, erklärte Adele. „Ich habe eine Nähmaschine und will dir gern dabei helfen.“

„Die erforderlichen Spitzen und Stickerei bekommst du von mir“, setzte Luise hinzu.

Karla dankte nicht. Ihre runden, jungen, hübschen Augen blickten ganz starr.

Lieber Gott — warum waren sie nach Berlin gegangen? ...

Luise sagte:

„Du kannst dir ein Beispiel an Adele nehmen. Sie ist eine vorzügliche Mutter und wird dir von gutem Rat sein ...“

„Wo sind denn deine Kinder?“ fragte Karla mit grollendem Unterton.

„Die schlafen, liebe Karla. Wenn ihr das nächste Mal am Tage kommt, werdet ihr sie sehen.“

In Dr. Maurers Haushalt war alles aufs Genaueste ausgerechnet. Der stete Heißhunger der Kinder ließ sich nicht mit teurem Kalbsbraten stillen.

Luise Altmann nickte.

„Kinder gehören abends ins Bett und nicht unter Erwachsene!“

Die Damen kehrten zurück zu den Herren.

„Wir gehen“, sagte Altmann und stand auf.

Er hatte immer noch sein kaltes, beleidigtes Gesicht.

„Nimm meinen Arm“, sagte er auf der Straße.

Aber seine Stimme klang messerscharf. Szenen machte[S. 51] er nicht. Aber es konnte gut sein, daß er acht Tage mit demselben beleidigten Gesicht an ihrer Seite ging.

Karla schluckte ihre Tränen herunter. Ein grauenhafter Abend war das gewesen! Nur gut, daß sie nicht gesungen, daß sie ihre liebe, schöne, jubelnde Stimme diesen Menschen nicht hergegeben hatte!

Morgen ging sie zum Papa! Auf den freute sie sich. Auf ihren zierlichen, eleganten, feinen Papa ...

Altmann mußte ihr die Nadeln aufmachen. Er tat es, als ob er ein gleichgültiges Paket aufschnüre.

„Luft“ war Karla heute für ihn ... Luft! Und nicht heute bloß. Es sollte ihr nicht so bald einfallen, sich derartig widerspenstig zu benehmen. — — —

„Na ... was sagst du?“ fragte Adele im ehelichen Schlafzimmer ihren Mann.

Er zuckte die Achseln:

„Verrückt! Hätte deinen Bruder für keinen solchen Phantasten gehalten. Wenn man ihn hört, so gibt es nächst der Lucca kein solches Genie wie seine Frau! So weit ich urteilen konnte ... ganze hübsche Töne ... aber — es war doch kläglich. Weder Breite noch Schwung, und kaum klettert sie in die Höhe, kippt sie um, kiekst. Wenn sich der gute Ernst nur nicht verrechnet!“

Adele bürstete ihr recht spärlich werdendes blondes Haar.

„Wenn man für Ernst irgend etwas finden könnte ... irgendeine sichere Stellung. Denn jetzt, wo noch Familie kommt ...“

„Au weh! Das ist unter Umständen bitter!“

Er dehnte sich behaglich in seinem Bett. Immerhin — unmittelbare Not hatte er nicht kennengelernt, in der sicheren Umfriedung seiner bürgerlichen Genügsamkeit.

„Wer nimmt denn einen Schauspieler? Wo bringt man den unter?“

Adele schlug mit der Bürste heftig auf ihren kleinen Frisiertisch.

„Wenn ich nur wüßte, was er an der gefressen hat ... wenn ich das nur wüßte ...“

[S. 52]

Dr. Maurer erstickte mit der kaum entfalteten Abendzeitung die Kerzenflamme und drehte sich auf die andere Seite.

„Da fragst du viel ...“, sagte er gähnend.

Aber die Frage ließ ihn doch nicht gleich einschlafen. Sie erweckte ein wunderschönes, junges Lachen in seinem Ohr und zauberte ihm das Blitzen prachtvoller Zähne zwischen frischen, roten Lippen vor die Augen.

Verzierung, drei Sterne
P

Papa hatte einen allerliebsten Teetisch vorbereitet. Über dem weißen Tischtuch lag dämpfend ein bläulicher, silbergestickter Gazeschal. Die ganz feinen Meißener Tassen hatte er aus dem Glasschrank geholt und das schwere Silberkörbchen für das Gebäck von Kranzler: kleine, zuckerbestreute Küchelchen, die auf der Zunge schmolzen.

In einer Kristallflasche schillerte topasfarbiger Wein, der in den Fassetten der geschliffenen Gläser auffunkelte. Die Nachmittagssonne spielte auf den Goldfransen der buntseidenen Kranzschleifen, die zwischen goldgerahmten Photographien hingen. Es waren viele Berühmtheiten darunter: große Sänger, Sängerinnen, Schauspieler, Tänzer und Tänzerinnen. Den Ehrenplatz nahm das Bild des berühmten Schachspielers Anderssen ein, mit einer Widmung in verblaßter Tinte aus dem Jahre 1860.

Vor dem breiten Fenster, umflossen von Sonne, erhoben sich zierlich geschnitzte Figuren auf einem Schachtisch, und auf einem Stehbücherbrett häuften sich gebundene und ungebundene Jahrgänge der Deutschen Schachzeitung sowie einschlägige Werke, wie „Theorie und Praxis der Endspiele“[S. 53] von J. Berger, Cordels „Führer durch die Schachtheorie“, das „Lehrbuch“ von Lange und andere.

Es roch gut bei Papa — nach sehr feinen Zigaretten und irgendeiner Essenz, die Karla noch nicht kannte.

Papa kam ihnen entgegen in einem knappen, grauen Gehrock, zu dem er eine weißseidene Lavallièrekrawatte trug. Er hatte eine gepflegte kleine Hand, deren linken Zeigefinger ein länglicher, von Rauten umgebener Emaillering zierte. Seine Füße staken in tiefausgeschnittenen Lackschuhen, die den hechtgrauen Florstrumpf sehen ließen.

Unter silberweißem gelockten Haar sprühten kluge, runde, braune Augen hervor. Er war ungemein zierlich und behende, und nur ein rasch unterdrücktes Verziehen der Lippen deutete auf zeitweilige Schmerzempfindung.

„Das freut mich, daß ihr endlich da seid ... das freut mich. Willkommen, lieber Schwiegersohn; machen Sie sich’s bequem ... Sie müssen vorlieb nehmen. Ein alter Garçon, da haperts überall.“

Karla war befangen. Die Wohnung war ihr fremd und die Art ihrer Einrichtung. All die von der Mutter kostbar gehüteten und im Glasschrank verwahrten Nippsachen standen offen herum. Die Bezüge waren von den Stühlen entfernt, so daß die ehedem so streng verwahrte Pracht leichtfertig ihren verblaßten Glanz zeigte.

Karla wagte es kaum, sich auf den gelbseidenen Sessel zu setzen.

Aber Papa tätschelte ihren Arm.

„Na ... Kleine ... erkennst du nichts mehr? Das ist doch Adolar ...“

Nun lachte Karla. Richtig, Adolar ... der Sessel, mit dem sie ihre Liebesszenen gespielt, den sie hatte umfangen, vor dem sie hatte knien müssen.

„Adolar ... du Guter!“

Sie hatte ihn nur unter grauem Bezug gesehen und fühlte die Ohrfeige noch heute, die die Mutter ihr verabreicht, als sie in Backfischübermut den Bezug einmal abgenommen, um zu probieren, „wie es sich auf Seide sitzt“.

[S. 54]

Mutters Geist hatte jetzt zu herrschen aufgehört. Das sah sie an dem Gebrauch des kostbaren Teeservices, an der Nutzbarmachung aller einst so geschonten Gegenstände. Aber wie gut auch der Papa da hineinpaßte! ...

Er schenkte den Tee ein, die Sahne, mit anmutig wippenden Bewegungen, reichte das Silberkörbchen herum in schwebendem Gleiten seines gerundeten Armes.

Karla streifte ihren Mann mit einem zagen Seitenblick. Wie ein Denkmal saß er da in seiner steifen Unbeweglichkeit, mit seinem schönen, starren Gesicht.

„Besten Dank, Papa ... bitte bemühen Sie sich nicht ...“

Sie hatten nicht gleich im ersten Augenblick das „Du“ gefunden. Und nun blieb’s beim „Sie“, das ein paar Meter Entfernung zwischen sie legte.

Papa knabberte mit seinen sehr weißen Porzellanzähnen an dem Gebäck und schlürfte den Tee mit leisem Vibrieren seiner feinen Nasenflügel.

„Tja ... meine lieben Kinder ... Ihr wollt also das große Ereignis hier in Berlin abwarten? Charmant, charmant. Ich hätte mich ja noch gern ein Weilchen geduldet mit Großvaterfreuden, denn ... eine noch unsichere Karriere gleich mit Elternsorgen zu beginnen, das ist ... na ja ... Aber natürlich, lieber Schwiegersohn, will ich Ihrer Beurteilung der Sachlage nicht vorgreifen. Meine gute Frau hätte ja am liebsten ein Dutzend solch kleiner Schreihälse und Freßmäuler gehabt ... tja ... Da muß man eben den tauben Mann spielen. Im Interesse des Hauses und ... tja ...“

Papas tenorale Stimme durchdrang den hellen Raum wie eine Kindertrompete. Gleichzeitig klopfte er Karla liebevoll auf die Wange.

„Armes Kind! War es so pressant? ... Tja ... das Temperament ... das verflixte Temperament! ... Das ist ein Erbteil ihrer Mutter. Ein Vulkan war meine gute Frau — ein Vulkan! Hat uns kurz gehalten, deine gute Mutter, wie?“

[S. 55]

Er führte Karlas Fingerspitzen an seine Lippen und knabberte ein neues Küchelchen an.

„Mein lieber Schwiegersohn, als meine gute Frau starb, da blieben wir zurück — Karla und ich — wie zwei Vögel, die Jahre lang im Dunkel gehalten — plötzlich freigegeben worden sind. Wir wagten uns die ersten Tage kaum an den verschlossenen Schrank der Kredenz ... nicht wahr, mein Kind? Erst ganz allmählich und nachdem Karla mich verlassen hatte, erwachte ich aus der Erstarrung, ergriff sozusagen Besitz von dem, was mir gehörte. Der Umzug in diese helle freundliche Wohnung machte ein übriges. Tja ... und nun finde ich auch, daß das Leben recht erfreuliche Seiten hat, wenn man ein bißchen an sich selbst denken darf.“

Altmann wollte einwerfen: Sie hatten aber noch ein Kind, und dieses Kind darbte. Aber er fühlte, daß er dem alten Herrn damit nicht kommen durfte. Vielleicht hätte er in der Jugend alles verpraßt, wenn die Frau ihm sein bißchen Gut nicht mit erbarmungsloser Strenge zusammengehalten hätte. Im Alter war er eben selbstsüchtig und genüßlich geworden.

Karla führte die schöne Tasse mit heimlichem Herzklopfen zum Mund. Wenn die Mutter sähe, wie so das feine Geschirr ...

Indem stieß sie mit Altmanns Hand zusammen, der ihr den Korb mit Gebäck reichte, und in der Angst, ihr Schwarzseidenes könnte einen Fleck abbekommen, lockerten sich ihre Finger, und die Tasse fiel zu Boden.

„O Gott! ...“

Papa winkte mit der Hand.

„Macht nichts, macht ja nichts. Bist eben immer noch das kleine Trampeltier. Aber Scherben bedeuten Glück — also nur kein Drama ... bitte, ja kein Drama!“

Er streckte die Hand aus und läutete mit einer silbernen Klingel. (Die Klingel hatte früher in Karlas Kindheit das Christuskind eingeläutet.) Gleich darauf, so rasch, als hätte[S. 56] sie hinter der Tür gestanden, um zu lauschen, kam die Wirtschafterin herein.

„Bitte, Pauline, ein kleines Malheur ....“

Pauline kehrte gleich darauf mit Tuch und Schaufel zurück und beugte sich über die Tasse. Dabei rauschte ihr gestärkter Unterrock, und die goldene Uhrkette glitzerte auf ihrem Kleid aus gediegenem braunen Wollstoff. Ein für ihre Gestalt fast allzu zierliches Tändelschürzchen deutete ihren dienenden Stand nur flüchtig an.

„Gott, ist mir das unangenehm“, klagte Karla.

„Aber das macht doch nichts, gnädige Frau, das Dutzend ist ohnedies nicht mehr vollständig. Da fehlt ein Henkel, dort ein Eckchen ... Aber der Herr Papa will doch eben nur die guten Sachen benutzen.“

Der Papa klopfte ungeduldig auf die Tischplatte.

„Sind Sie bald fertig, Pauline?“

„Gleich, Herr König, gleich ... ich will der jungen Frau nur noch das Kleid ein bißchen abwaschen, das hat auch einen Spritzer abgekriegt.“

Karla hielt unter den energischen Fingern von Pauline und den mißbilligenden Blicken von ihrem Papa und ihrem Mann still. Es würgte sie etwas am Halse.

Wo war der Papa? Ganz, ganz weit weg war er. Und sie glaubte plötzlich nicht, daß es ein Ischiasanfall gewesen war, der ihn von ihrer Hochzeit ferngehalten hatte. Dem Haar, dem Kleid der Wirtschafterin entströmte der kräftige Duft einer gesunden, gepflegten Frau. Ein hübscher Ring schmückte einen Finger ihrer rechten Hand.

„Na also, Pauline ....“

„Bin schon fertig.“

Ein Lächeln lag um den energischen, aber hübschen Mund. Die kleinen, grauen Augen blitzten lustig auf.

„Bin schon fertig.“

Sie eilte sich gar nicht. Und ihr Rock wippte über dem krachenden Unterrock herausfordernd hin und her.

Es blieb eine Weile still im hellen Zimmer.

„Tja ... eigentlich eine Perle ...“, sagte endlich der[S. 57] Papa und gab seiner weißen Krawatte einen kleinen Stüber. — „Wenn man so verwöhnt war wie ich ... Karla tat ja auch ihr möglichstes ... aber so ein junges Ding, nicht wahr? ... Tja ... da habe ich richtig das große Los gezogen. Sie kam als Pflegerin zu mir, als mich ein scheußlicher Gichtanfall befiel ... tja ... na, und dann blieb sie, Gott sei Dank.“

Er schenkte die Gläser voll.

„Also, alles Gute, meine lieben Kinder ... alles Gute!“

Seine Stimme klang zerstreut. Altmann sah auf die Uhr. „Es wird Zeit!“

Da wurde er wieder lebhaft, wie um den letzten Eindruck zu vertuschen.

„Nein, nein .... warum denn ... Interessieren Sie sich für Schach, lieber Schwiegersohn?“

„Interessieren, ist zu viel gesagt. Ich spiele — als blühender Dilettant.“

„So ... so ...“

„Papa ist ein großer Schachspieler“, fügte Karla ein.

Der Papa zupfte sie am Ohr.

„Großer? Ta ta ... Redensart. Aber vielleicht habe ich meinen Beruf verfehlt — hätte Diplomat werden müssen statt Tänzer. Oder gar Feldherr ... Ich habe da eben jetzt eine Variante der spanischen Partie ausprobiert, ein Gambit im Nachzug ... sehr schade, daß unsere großen Meister sich mit diesem Gambitzug nicht befreunden wollen — sehr schade. Ich habe darüber eine eifrige Diskussion mit Herrn von Bardeleben gehabt beim Kongreß in Breslau. Übrigens habe ich jetzt eine Korrespondenz mit Leipzig — ein Gang — wir sind gerade beim siebenten Zug .... Und wenn alles klappt, dann rutsche ich nächsten Winter nach Wien rüber und messe mich mal mit dem guten Weiß. Steinitz und Tschigorin wollen auch dort sein. Die Baronin Kolisch hat Preise gestiftet. Erster Preis fünftausend Mark! Das zieht auch!“

Er warf die weiße Locke zurück, die ihm immer wieder[S. 58] kokett in die Stirn fiel, und seine Finger streckten sich unwillkürlich nach den Schachfiguren.

Karla hatte gehofft, ihm vorsingen zu können.

„Gibst du noch Unterricht, Papa?“, fragte sie, seltsam verschüchtert durch seine Art.

„Unterricht? ... Ja ... natürlich. Man muß doch leben. Ich habe gerade ein paar recht talentvolle Kerlchen in Arbeit. Aber eigentlich ist die große Zeit des Balletts vorüber. Es wird nichts mehr geschrieben. Und das Verständnis für Technik kommt ebenso abhanden wie für Grazie. Wenn einer nichts kann, nennt er sich Charaktertänzer. Kann er noch weniger, wird er Pantomimist. Traurig, traurig ... Na, und wie geht’s mit dem Gesang? Die Kleine hatte eine hübsche Stimme ... Und ich las, sie singt jetzt Wagner ... bravo, bravo ... Sehen Sie, lieber Schwiegersohn, hier erteile ich Unterricht.“

Es war ein ziemlich großer, kahler Raum, in dem nur ein alter Flügel stand, und an der Wand Stühle und Sessel von verschiedener Form.

„Na, Karla ... kennst du deine Partner wieder? ...“

Sie nickte. Ganz weh wurde ihr zumute. So lustig war der Unterricht gewesen, so ganz aufgehen hatte sie dürfen in allen Leidenschaften! Und dann nach der Stunde waren sie beide in die Küche gelaufen und hatten dort gleich ihr Abendbrot verzehrt, damit sie nicht so viel Mühe hatte. Und den ganzen Abend über hatte Papa mit sich allein Schach gespielt, während sie im Nebenzimmer übte, oder sie waren zusammen ins Theater gegangen und dann ins Café, wo an Schachbrettern bartlose, nervöse Jünglinge, vornehme Aristokraten und bebrillte, klug aussehende Männer saßen.

Das Eintreten von Papa wurde lebhaft begrüßt von den Kiebitzen. Er mußte von dem Stück erzählen, und sein Urteil galt etwas. Er ließ sich aber nie selbst zu einer Partie nieder.

„Es ist spät, ich muß meine Kleine nach Hause bringen!“

Karla hatte wohl oft gemerkt, daß es ihm schwer wurde,[S. 59] abzulehnen. Aber wenn sie ihn bat, er möchte sich von ihr nicht abhalten lassen, dann klopfte er ihr die Wange.

„Ich denk’ nicht dran ... wer weiß, wie lange ich dich noch bei mir habe.“

Nicht zum mindesten aus Rücksicht auf Papa hatte sie das erste kleine Engagement angenommen. Bei der Abfahrt merkte sie es ihm so recht an, wie froh er war, allein zu bleiben. Aber doch schrieb er immer kurze, liebevolle Kärtchen, schickte auch ab und zu ein paar Taler und wiederholte immer wieder:

„Mein Gefühl sagt mir, du wirst noch einmal eine große, berühmte Künstlerin. Halte dich, mein liebes Kind ...“

Sie hatte ihn eigentlich nicht wiedersehen wollen, bevor sie nicht „eine große Künstlerin“ geworden. Aber nun der Zufall es so gefügt, da war sie voll Erwartung gewesen und hatte gemeint, daß der innige Zusammenhang zwischen ihnen geblieben war wie einst.

Und nun war es anders, ganz anders. Dem Schach galt offenbar sein größtes Interesse. Darüber hatte schon die Mutter geschimpft, es aber geduldet, weil es von allen „Leidenschaften“ die wenigst kostspielige war. Die veränderte Lebensweise ... die röckerauschende Pauline mit der goldenen Uhrkette ... Und nun fragte er nicht einmal nach ihrer Stimme, forderte sie nicht auf, ihm vorzusingen!

Sie würgte wieder etwas herunter. Und als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick in den verstellbaren Schaftspiegel, der den Schülern zur Überprüfung ihrer Stellungen diente. Da erschrak sie.

Ja ... so, wie sie jetzt aussah ...!

Sie hätte Papa lieber gar nicht besuchen sollen in diesem Zustand.

„Gehen wir“, sagte sie leise und zupfte Altmann am Ärmel.

Der Papa hielt sie nicht mehr zurück.

„Ihr laßt’s mich gleich wissen, wenn alles vorbei ist“, sagte er und küßte Karla in die Luft.

Es waren noch vier Monate bis dahin.

[S. 60]

Aber Karla sagte eilig:

„Ja gewiß, Papa ... sofort ...“

Sie lief so schnell die Treppe hinunter, daß Altmann sie an ihrem Umhang festhielt.

„Was machst du, Karla ... renn doch nicht so ...“

Die Tränen rollten ihr unaufhörlich über die Wangen.

„Was ist denn? Was hast du denn?“

„Nichts, Ernst ... lieber, guter Ernst?“

Altmann lächelte vor sich hin, mit tief herabgezogenen Mundwinkeln.

Auf Papa war fürs erste nicht zu rechnen. Da blieben wirklich nur seine Leute — — —

Verzierung, drei Sterne
D

Die Sonne brütete.

In dem Berliner Zimmer der Culmstraße rasselte die Nähmaschine unter Adelens energischem Tritt. Karla schlang mit heißen, welken Fingern winzige Ösen. Der Faden verprudelte sich alle Augenblicke, dann gab es Knoten.

„Pfui, wie schludrig“, sagte Adele und trennte alles wieder auf.

Karla starrte auf Adelens geschickte Finger, ohne zu sehen. Ganz elend war ihr; wie gefoltert kam sie sich vor. Das ging nun so tagaus, tagein: linken Ärmel nähen, rechten Ärmel nähen, Seitenteile aneinanderfügen, säumen, Ösen schlingen, Spitzen annähen — winzig schmale, die sich zwischen den Fingern zusammenzwirbelten.

Ihr wurden die Lider schwer dabei. Sie zerstach sich die Finger, und ihr Rücken schmerzte, als hätte man ihn mit dem spanischen Rohr bearbeitet, das drohend in einer Ecke stand.

[S. 61]

Gegen Abend kam Altmann, um sie abzuholen. Er trug jetzt immer seine guten Sachen, denn er war täglich in der Stadt, verhandelte mit Agenten, besuchte das Café, um die Blätter zu lesen.

Die Schwestern hatten erklärt, er müßte unter allen Umständen an derselben Bühne engagiert werden wie Karla.

„Willst du von dem leben, was sie verdient — oder willst du, daß sie sich allein irgendwo herumtreibt? Das ist doch unmöglich!“

Es war so manches „unmöglich“ in den Augen der Schwestern. Aber sie hatten den bürgerlichen Anstand für sich, den sie jedesmal ins Treffen führten und vor dem er sich beugte.

So suchte er denn ein Doppelengagement. Das erschwerte die Lage außerordentlich. Seine persönlichen Gagenansprüche durften natürlich bei weitem nicht an die Gage heranreichen, die er für Karla durchsetzen mußte. Es gab immer ein schreiendes Mißverhältnis, und schließlich wurden beide Gagen noch gedrückt.

Er beherrschte sich, um den Geschwistern seine Verstimmung zu verbergen. Und so trat er meist mit einem Scherzwort ein, einer freundlichen Frage, einem staunenden Ausruf.

„Potz Donner ... das wird ja eine Ausstattung wie für einen Prinzen! ...“

Karla ließ alles stehen und liegen und hing sich an seinen Hals.

„Was hast du gehört? Wie wird es? Sind Aussichten?“

Aber sie sah es seinen Augen an, die finster blieben, während seine Lippen sich lächelnd verzerrten, daß sich noch nichts erfüllt hatte. Die wundervollen Gastspielverträge hatten gelöst werden müssen, und es war noch gar nicht abzusehen, wann sich wieder ähnliche Gelegenheiten bieten würden.

Sie murmelte mit zitternden Lippen:

„Wenn doch das Kind nicht wäre ... das schreckliche Kind!“

[S. 62]

Aber Adele, die es mit ihren scharfen Ohren aufgefangen, schrie sie an:

„Versündige dich nicht! Schäm’ dich, so zu sprechen! Pfui! ... Das arme Kind kann einem ja leid tun, daß es eine solche Mutter bekommt!“

„Sie meint es ja gar nicht so schlimm“, verteidigte Altmann lau. „Na, mach’ dich fertig, Karla ... wir gehen jetzt nach Hause.“

Altmann war hin- und hergezerrt von widerstreitenden Gefühlen. Die Schwestern hatten recht, aber Karla hatte auch recht. Das Kind war unter diesen Umständen wirklich eine „Katastrophe“.

Er wohnte jetzt mit Karla in einem möblierten Zimmer in der Goebenstraße. Sie lebten aus den Körben und Koffern, die in der leerstehenden Mädchenkammer ihrer Wirtin standen. Den Frühstückskaffee brachte sie ihnen gleich in Tassen, aus denen er überschwappte bei ihrem watschelnden Gang. Dazu je eine dünnbestrichene Schrippe. Sie reichte das Tablett zur halboffenen Tür herein, durch die Karla ihren noch bloßen Arm hindurchstreckte.

Karla setzte sich an eine Tischecke und verzehrte ihr Frühstück mit gesunder Lust. Denn viel anders hatte sie all die fünf Jahre am Theater vor ihrer Heirat nicht gefrühstückt. Aber Altmann litt. Ihn ekelte vor dem Essen im unaufgeräumten Zimmer, zwischen herumliegenden Kleidungsstücken, vor dem übervollen Waschtischeimer.

Aber auch da bezwang er sich. Karla konnte schließlich nichts dafür. Das Schicksal hatte es so entschieden, und er selbst war nicht leichtsinnig genug, um augenblicklichem Behagen die letzten Spargroschen zu opfern.

Während sich Karla heißes Wasser aus der Küche holte, um Taschentücher und Strümpfe in der Waschschüssel zu waschen, schrieb er seine Briefe. Er griff nach wie vor seine Lieblingsidee auf, Karla in Amerika anfangen zu lassen, um dann mit dem erworbenen Gelde die Karriere in Deutschland zu beginnen. Verschiedene Operngesellschaften rüsteten sich zu einer großen Gastspielrundreise über[S. 63] das Wasser. Wenn Karla jetzt hätte auftreten können — sie wären aus allen Sorgen heraus! Aber vor Mitte September war selbst im besten Falle nicht darauf zu rechnen ....

Ja ... das Kind! Das schreckliche Kind!

Sie aßen in einem kleinen Gasthaus Mittag, für fünfundsiebzig Pfennige, mit Kaffee oder Käse als Nachtisch. Karla wählte den Käse und leerte den halben Brotkorb, Altmann nahm Kaffee, um den Nachgeschmack der sehr mäßigen Gerichte herunterzuspülen.

Nur Sonntags speisten sie in der Culmstraße gegen einen Beitrag von zwei Mark. Altmann rechnete es trotzdem Adele hoch an, daß sie die vermehrte Arbeit so willig auf sich nahm. Und er war ihr unendlich dankbar, daß sie Karla jeden Nachmittag bei sich behielt, wobei doch wieder eine Tasse Kaffee und ein gestrichenes Brötchen für sie abfiel.

Altmann mußte alles mitberechnen, um über die bösen Tage hinwegzukommen. Luise Altmann, die durch den langjährigen Aufenthalt bei der englischen Familie ein leidliches Englisch sprach, erbot sich, Karla englischen Unterricht zu geben. Zweimal wöchentlich betrat sie auf eine Stunde das Berliner Zimmer der Culmstraße.

Vicki und Fritz Maurer brachten ihre englischen Hefte zur Durchsicht. Dann kam Karla dran. Sie war, wie es sich herausstellte, nicht unbegabt für Sprachen, aber wenn sie Fehler machte, lachte Vicki sie aus. Vicki lachte überhaupt sehr viel, putzte sich gern und hatte Freundinnen, bei denen sie, wie sie sagte, halbe Tage zubrachte. Zu Hause gab es immer Streit zwischen ihr und Fritz. Er beschwerte sich, daß sie ihm seine Bleistifte und Federn nähme, Seiten aus seinen Heften herausrisse. Manchmal kriegten sie einander bei den Haaren. Fritz bearbeitete dann ihren Rücken, sie zerkratzte ihm das Gesicht. Dann griff Adele zum Rohrstock und haute links und rechts um sich, wohin es gerade traf.

Es war nicht erzieherisch, aber wirksam.

[S. 64]

„Ekelhaftes Frauenzimmer“, murrte Fritz und zeigte Vicki noch einmal, aber diesmal aus der Entfernung, die Faust.

„Widerlicher Bengel“, schimpfte Vicki und heulte los.

Es war oft sehr lärmend in der Wohnung, und Karla dröhnte der Kopf.

Auf dem Heimwege, während Altmann mit ihr einiges zum Abendessen einkaufte, fragte er:

„Hast du geübt, Karla?“

Denn Adele hatte in der großmütigsten Weise erklärt, das Klavier stünde Karla jederzeit zum Üben zur Verfügung.

Aber Karla hatte von dem Anerbieten bisher noch keinen Gebrauch gemacht: das Lärmen der Kinder, das Rasseln der Nähmaschine übertönten die Skalen. Und hatte sie zehn Minuten Übungen gesungen, so kam gewiß Adele herein:

„Ach, sing’ doch was Nettes, Karla.“

Oder sie brachte ein Lätzchen, das sie eben fertiggenäht hatte, oder ein Nachtröckchen, das Karla bewundern sollte. Dann hieß es wohl auch:

„Bist du bald fertig, Karla, die Kinder müssen auch üben.“

Oder: „Alwin ist eben gekommen!“, was soviel sagen wollte wie: Alwin will Ruhe haben! Denn Dr. Maurer war immer müde, wenn er aus der Schule kam, und „vertrug keinen Lärm“!

Wenn er auch hereinguckte und murmelte: „Laß dich nicht stören, Karla ...“, so sah sie doch den Stoß Hefte unter seinem Arm und klappte hastig den Klavierdeckel zu.

Nein — zum Üben kam sie wirklich nicht. Aber da sie wußte, daß ihr Mann keine Entschuldigungen gelten ließ, die seine Leute belasteten, so schob sie es auf ihren Zustand. Sie war so matt, fühlte sich so elend.

„Na ja ... mein liebes Kind, du hast einfach keine Energie. Auf die Art wirst du nie etwas erreichen. Auf die Art gewiß nicht! ...“

Es gab immer unangenehme Auseinandersetzungen, Verstimmungen. Karla schwieg und dachte sich ihr Teil. Sonntags, am Familientisch, an dem auch Luise Altmann[S. 65] regelmäßig teilnahm, wurde viel über Karlas Energielosigkeit gesprochen. Nur — der Kinder wegen — sehr schonend in der Form.

Während des schwarzen Kaffees legte man sich keine Zügel mehr an. Die Kinder waren ja auch nicht mehr da. Altmann blickte unzufrieden und nervös drein.

„Ihr fehlt eben der Ernst.“

Und darüber waren sich alle einig, Karla hatte keinen Ernst.

Eines Sonntags mußte Vicki eine Mozartsche Sonate vorspielen, mit der sie gerade „fertig“ geworden war bei ihrer Lehrerin.

„Nett, sehr nett“, sagte Luise Altmann.

Dr. Maurer zupfte Vicki an ihrem dicken blonden Zopf.

„Brav, Vicki ...“

Und dann gab er ihr einen Groschen.

Nun sollte auch Karla singen.

Karlas Augen wurden noch runder, als sie es für gewöhnlich waren, und ihre kaum angedeuteten Brauen rutschten bis zur Mitte der Stirn hinauf.

Ja, waren denn die alle ganz verrückt geworden? Jetzt verlangten sie von ihr, sie sollte vorsingen, wie Vicki vorspielte ... Von ihr verlangten sie das, der die Jugend einer ganzen Stadt zugejubelt, von ihr, die mit Blumen überschüttet worden war, wenn sie nach einer großen Partie sich wieder und immer wieder hatte vor dem Vorhang zeigen müssen?

„Ich denke ja nicht daran, jetzt zu singen.“

Vicki lachte los:

„Du hast wohl alles vergessen, Tante, wie?“

„Du impertinenter Fratz, was fällt dir ein? ...“

Karla hatte wohl selbst nicht geahnt, daß ihr die Hand so locker saß. Vicki brüllte los, empört, aufs tiefste entrüstet.

„Wie darfst du, Tante ... was unterstehst du dich? ...“

Karla stand hochaufgerichtet mitten im Zimmer.

„Eine Rotznase bist du, daß du’s nur weißt!“

Und hochrot im Gesicht, mit funkelnden Augen und bebendem Unterkiefer schrie sie:

[S. 66]

„Bin ich die Tante oder nicht? Hat sie Respekt zu haben vor mir oder nicht? Den Popo hat man ihr versohlt, als ich schon Tausende begeisterte! Schmutzig hat sie sich noch gemacht, als ich mir schon mein Geld verdiente! Und das erlaubt sich ...“

„Oh, Gott nein, wie ordinär ... so ordinär ...“

Vicki schlug die Hände über dem Kopf zusammen und lief aus dem Zimmer.

„Nun ist’s aber genug“, donnerte Altmann und riß Karla an der Hand.

Aber sie war wie aus den Fugen.

„Ihr macht mich ja verrückt, alle ... Verrückt macht ihr mich!!. Ich bin doch kein kleines Kind ... Aber so behandelt ihr mich ja vor den Bälgern hier! Es fehlt nur noch, daß ihr mir Vicki als Vorbild hinstellt! ... Ja, ja ... ich weiß, was ich rede. Gestern sagte Luise: Vickis englisches Heft ist viel sauberer als deines! Bin ich ein Schulmädel? Ich habe den Kopf voll. Meine Stimme ist viel wichtiger als all die dummen Jäckchen und Lätzchen und englischen Vokabeln. Und wenn ich sie verliere, dann seid nur ihr schuld ... jawohl, nur ihr! ...“

Ihre letzten Worte waren kaum noch zu verstehen. Ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Irgend jemand drückte sie in einen Sessel. Luise Altmann stand vor ihr, mit einer Wasserschüssel, in der Eisstücke schwammen. Adele mühte sich, ihr die Taille aufzuhaken.

„Ernst,“ schluchzte Karla, ... „Ernst ...“, und streckte den Arm aus.

Aber Dr. Maurer hatte den Schwager in sein Arbeitszimmer gezogen, auf dessen Ledersofa Fritz nachts schlief.

„Laß nur ... meine Damen werden schon fertig mit ihr ... Ein kleiner hysterischer Anfall. Kommt vor in dem Zustand. Dazu die Hitze. Vicki ist ja auch wirklich frech gewesen und wird daher Karla um Entschuldigung bitten ... Immer ruhig Blut! Vaterfreuden wollen auch erkauft werden.“

„Ich habe mich wahrhaftig nie so gehen lassen“, sagte[S. 67] Adele zu ihrem Mann, als sie allein geblieben waren. „Und furchtbar ordinär war sie ... da hat Vicki nicht so unrecht. Das sind doch keine Redensarten! ...“

„Paß du mal lieber auf das Mädel auf, statt auf Karla herumzuhacken!“

Dr. Maurer schlug mit dem Handrücken unwirsch auf die entfaltete Zeitung.

Vicki hatte gebockt und war nicht zu bewegen gewesen, sich vor Karla zu entschuldigen.

Karla war es, die ihr als erste die Hand gereicht hatte:

„Na, wollen wir uns wieder vertragen, Vicki?“

Und dann hatte sie gesungen. Eigentlich zum erstenmal.

Als wollte sie ihren Mann aussöhnen und alle, die den häßlichen Auftritt mit erlebt hatten.

Und Dr. Maurer hatte plötzlich das Schlagen seines Herzens gefühlt. Die Zigarre war ihm ausgegangen, war seinen Fingern entglitten und irgendwohin gefallen. Die quellende, jubelnde Stimme schlug machtvoll an längst verschlossene Tore. Wie ein schwerer Wein weckte sie sein träges, schläfriges Blut und brachte es zum Rauschen.

„Sing noch etwas, Karla ...“

„Gern ...“

Aber es fand sich nichts Rechtes vor, und Altmann wollte auch nicht, daß sich Karla anstrenge. Auch seine Augen leuchteten. Karlas Stimme hatte bis jetzt noch nichts von ihrer Schönheit eingebüßt, sie war klangvoller, heißer, jubelnder denn je ....

Er riß plötzlich ihre beiden Hände an seine Lippen, ohne der Schwestern zu achten, die seine Art peinlich berührte. Aber was wußten sie, was alles in ihm vorging, während Karla sang, und daß der Klang dieser Stimme ihm wieder die Welt erschloß, die sich hinter schwarzen Nebelwänden verborgen gehalten.

Was wußte auch Adele von dem, was in ihres Mannes Seele vorgegangen war während Karlas Gesang .....

Viel wichtiger war es ihr, daß ihre Schwester Luise[S. 68] erstaunt die grauen Augen aufriß und dann langsam, fast ungläubig meinte:

„Aber sie hat ja wirklich eine sehr schöne Stimme.“

Immerhin — fein war Karla nicht. Und von Alwin war es zum mindesten sehr merkwürdig, daß er sich zu Karlas Anwalt aufwarf.

Am nächsten Tage erklärte er, daß es „mäuschenstill“ zu sein hätte, wenn Karla übte. Oder er würde mit einem Donnerwetter dreinfahren! Er hatte sie sogar gebeten, nicht eher mit dem Üben anzufangen, als bis er nach Hause käme.

Als sich Karla ans Klavier setzte und den Mund öffnete, wurde sie plötzlich weiß wie ihr schmaler Kragen.

Noch einmal setzte sie an. Aber nur ein heiserer, tonloser Laut entrang sich ihren Lippen.

Da stand sie auf, schloß behutsam den Deckel und wartete eine Weile. Wartete, bis das Zittern ihrer Knie nachließ und sie gehen konnte.

Wie ein nasses Linnen legte sich die heiße Zimmerluft an ihre bleichen Wangen. Dr. Maurer öffnete leise die Tür:

„Was ist dir, Karla, warum so still?“

Aber sie gab ihm keine Antwort, machte nur eine hilflose Bewegung mit der Hand und wankte ins Berliner Zimmer hinein, wo Adele zwischen einem Berg von Kinderwäsche über ihrem Wirtschaftsbuch saß.

Verzierung, drei Sterne
E

Endlos dehnten sich die Wochen hin. Immer mehr Zeit brauchte Karla, um die kurze Strecke zurückzulegen, die ihre Wohnung von der ihrer Verwandten trennte. Manchmal sagte sie sich, es wäre das beste, sie bliebe den ganzen Tag im Bett liegen. Aber sie wußte, daß ihr Mann dann auch nicht ausgehen würde, und sie konnte nicht mehr sein nervöses, finsteres Gesicht sehen, ohne Herzklopfen zu bekommen.

[S. 69]

Eines Tages bekam er das Anerbieten, für einen plötzlich erkrankten Fachkollegen im Liegnitzer Sommertheater einzuspringen. Auf drei, vier Wochen höchstens. Er wollte Karla mitnehmen. Aber die Schwestern gaben das nicht zu. Er konnte Karla doch jetzt keine Reise zumuten! Sie mußte sich schonen, pflegen — um des Kindes willen vor allem.

Der jähe Freudenfunke, der in Karlas Augen aufgeblitzt war, erlosch. Aber sie widersprach nicht. Sie ließ wortlos über sich verfügen; wäre nach China gefahren, wenn man sie dorthin geschickt hätte, und würde sich nicht aus ihrem Zimmer gerührt haben, wenn man es für nötig gefunden hätte, sie dort einzuschließen.

Nur als sie Altmanns Kopf in dem Fensterrahmen des abfahrenden Zuges erblickte, da überkam sie etwas wie Verzweiflung. Sie mußte sich auf eine Bank setzen und schluchzte eine ganze Weile still vor sich hin.

Es war abgemacht worden, daß sie nur das erste Morgenfrühstück zu Hause einnehmen sollte, alle anderen Mahlzeiten aber bei Adele. Adele hatte einen durchaus angemessenen Preis bestimmt. Sie wollte sich um Gottes willen nicht bereichern an dem Bruder.

„Seine Leute“ benahmen sich eben „großartig“. Das mußte Karla immer wieder ihrem Manne zugeben. Er verlangte geradezu, daß sie es betonte und es sich immer wieder ins Gedächtnis rief.

Es war nicht seine Schuld, wenn Karla schon beim ersten Aufwachen die Verpflichtung, den Tag in der Culmstraße zu verbringen, als eine drückende Last empfand.

Die Schwestern konnten es sich nicht erklären, warum Karla so schlecht aussah. Sie litt doch wahrhaftig keine Not! Die Stimme? ... Die kam schon wieder ... und wenn nicht — du lieber Gott — da war sie eben keine Sängerin mehr, brauchte sich nicht an allen möglichen Theatern herumzutreiben. Dann hatte sie ihr Kind ... und vielleicht kam das zweite ... Ernst würde sich dann auch um etwas anderes umsehen. Die große Versicherungsgesellschaft, bei der sie versichert waren, hatte im vorigen Monat einen[S. 70] verkrachten Theaterdirektor angestellt, mit vierhundert Mark monatlich ... Hochfeine Stellung. Wenn Ernst die Fühler ein wenig ausstreckte, wenn ...

„Aber mir wurden doch für nur zwei Gastspielabende vierhundert Mark geboten!“

Sie schrie es förmlich heraus, als könnte sie damit den großen Stein wegschieben, den die Schwestern ihr auf die Brust rollten.

Adele zuckte die Achseln.

„Ist ja Unsinn ... Zufall .... Aber nur keine Aufregung, Karla ... das schadet dir.“

Dr. Alwin Maurer verbrachte jetzt fast jeden Abend außer dem Hause.

Er fühlte sich nicht mehr behaglich in seiner Wohnung. Karlas Lage weckte Erinnerungen in ihm aus seinem eigenen Leben.

Er schlief unruhig. Einmal träumte er, Adele und Luise stünden mitten unter einem Schwarm seltener, buntschillernder Vögel. Sie griffen in die Luft, fingen einen Vogel und beschnitten ihm mit einer großen Schere beide Flügel. Dann griffen sie nach einem zweiten, einem dritten und so fort.

Seitdem sah er sie immer wie in seinem Traum. Ihm hatten sie die Flügel beschnitten, jetzt beschnitten sie sie Karla .... Er konnte nicht helfen. Da ging er lieber fort.

Eines Nachmittags gab Karla vor, daß sie sich elend fühle und zu Bett wolle. Adele gab ihr ein paar Stullen mit und allerlei gute Ratschläge. Wenn „ihr etwas wäre“, solle sie gleich zu ihr herüberschicken.

„Hörst du, mach’ ja keine Dummheiten.“

Es war so gut gemeint. Karla hätte sich selbst prügeln mögen, als es ihr zum Bewußtsein kam, daß sie die Wohnung verließ wie ein Gefängnis. Sie sah sich sogar auf der Straße um, ob ihr niemand folgte; denn Adele hatte ihr Vicki mitgeben wollen. Aber nein — sie stand allein auf der Bülowstraße.

Hatte sie diesen Entschluß schon in der Culmstraße gefaßt[S. 71] oder war es plötzlich über sie gekommen wie eine Eingebung — sie hätte es nicht zu sagen vermocht. Sie stieg in die erste Elektrische ein, die gerade stehenblieb, und ließ sich mitnehmen.

Sie sah nicht die belebten Straßen vor sich, sondern ein stilles, helles Zimmer mit seidenen Stühlen, einem Schachtisch vor dem Fenster, einem Glasschrank, mit feinen Meißener Tassen und vielen Schleifen an den Wänden.

Trotz der noch kaum abgekühlten Luft fror sie, und es war ihr, als könnte ihr nur dort — in dieser hellen Stube mit den schönen Sachen und den vielen Erinnerungen warm werden.

Ja, sogar Papas kalte, tenorale Stimme schreckte sie nicht ab. Sie würde den Umhang nicht ablegen, und Papa würde ihr Tee bringen und ganz feine Brotschnittchen. Er würde ihre Hand tätscheln und fragen: „Na, Kleine, wie geht’s?“

Und diese wenigen Worte würden ihr viel, viel mehr bedeuten als alles, was die Schwägerinnen ihr sagten. Denn sie würden sie erinnern an tausend gleiche Fragen aus der Zeit ihrer Kindheit.

Diese Kindheit aber — so wenig freudvoll sie gewesen war — jetzt sah sie sie in einem verklärten Lichte. Sie atmete den Morgenkaffee ein, den die Mutter vor sie hingesetzt hatte, und den Duft der Äpfel in der Ofenröhre. Mutter war hitzig und hatte eine lockere Hand, aber Mutters Hand war auch weich, wenn sie Karlas Haar bürstete oder ihr über die Wangen fuhr, wenn sie mit einer guten Zensur nach Hause kam. Mutters Hand war auch geschickt und willig, all die hundert Risse und Löcher zu stopfen in Schürzen, Röckchen und Strümpfen. Mutters Hand war sparsam im Alltag, war aber auch freigebig zu Weihnachten und an Karlas Geburtstag. Da zählte sie nicht die Äpfel und Pfefferkuchen und geizte nicht mit netten, nützlichen Sachen. Das Schönste freilich war immer von Papa: ein glitzerndes Kettchen etwa, ein silberner Armreif, ein blinkendes Kreuz oder seidenes Tüchelchen. Der Papa tänzelte dann[S. 72] immer so drollig gespannt um den Gabentisch und winkte ab: „Ta ta ta“, wenn sie ihm an den Hals flog.

Es war eigentlich nicht recht, daß sie sich so viel mehr über Papas Kinkerlitzchen freute als über Mutters gediegene Sachen. Aber daran war nun mal wieder nichts zu ändern, und Mutter konnte nichts tun, als mit einem Donnerwetter dazwischenfahren, wenn sie den Papa gar zu stürmisch umhalste und ihn nicht loslassen wollte.

Karla saß in der Elektrischen und merkte es gar nicht, daß ihr die Augen schwer wurden von dicken Tränen. Sie hatte eine solche Sehnsucht nach den paar Zimmern, die „ihr Zuhause“ umschlossen, nach dem Papa, auf dessen Schoß sie einst gesessen, nach dem „Ta ta ta“, mit dem er ihr vielleicht das Wort abschneiden würde, wenn sie ihm ihre Sehnsucht gestand ...

Der Wagen hielt am Lützow-Platz. Sie mußte aussteigen. Sie durchquerte den Platz und bog in die Schillstraße ein. Es war noch hell, aber doch senkten sich schon bläuliche Schatten zwischen die weißen Häuser.

Die Straße machte ihr auch heute einen neuen, lustigen, friedlichen Eindruck. Einzelne Damen blieben mit den Blicken länger an ihr haften, als es allgemein üblich war, und lächelten dann halb gerührt, halb ermutigend.

Ja ... sie war wohl schon sehr stark ... Das Gehen wurde ihr auch schwer, und das zweite Leben in ihr wurde oft ungebärdig. Manchmal mußte sie stehen bleiben, weil sie meinte, es schnüre ihr etwas den Atem ab. So war es eben jetzt ... Doch sie mußte lächeln in all ihrer Not. Und sie murmelte vor sich hin:

„So ein Nichtsnutz ... so einer ...“

Gewiß, es wurde ein Junge. Schon jetzt dachte sie an den künftigen Beschützer. Sie war zu dumm der Welt gegenüber, und Altmann war zu starr. Aber der Sohn — der würde alles verstehen, alles zwingen — und wer seiner Mutter nahekam, na — der sollte sich nur vorsehen! ...

Sehr langsam stieg sie die Treppe hinauf. Der Papa wohnte zwar nur im zweiten Stock, aber die Stufen waren[S. 73] merkwürdig hoch. Sie hätte unten pfeifen sollen, den alten Pfiff, mit dem Papa sie rief ... Sie hatte einen Gegenpfiff darauf erfunden — aber Mutter schimpfte, wenn sie pfiff. So geschah es nur, wenn sie außer Hörweite waren. Und nach ihrem Tode hatte keiner mehr an den Pfiff gedacht. Aber jetzt ... Karla spitzte die Lippen ... Nein, es ging nicht. Der Mund war ihr ganz trocken. Der Papa mußte ihr vor allem etwas zu trinken geben. Herrgott im Himmel: „Nichtsnutz, abscheulicher!“ Sie hielt sich an der Rampe fest.

War das eine Art? Bald wäre sie zusammengebrochen, und jetzt tat ihr das Kreuz weh ... So ein Bengel!

Die Hand zitterte ihr, als sie an der Klingel zog. Gleichzeitig aber schlug sie mit der anderen den Umhang fester zusammen. Papa brauchte nicht gleich zu sehen, wie weit es schon mit ihr stand. Er hatte nie gemocht, was unschön aussah und mit Krankheit zusammenhing. So sehr er die Mutter geliebt, aber als sie krank war, da hatte er kaum ihr Zimmer betreten, immer nur Grüße geschickt und Blumen. Aber die Mutter, energisch bis zu ihrem Tode, hatte gezankt. Er sollte nicht Geld ausgeben für solches Zeug. Und wenn er vorsichtig durch die Türspalte sah, hatte sie selbst ihn immer weggeschickt.

„Es gibt was Schöneres zu sehn als eine Frau, die der Teufel lotweise holt ... geh nur, geh ...“

So war er auch zu ihrem Sterben zu spät gekommen und hatte sie nur gesehen, als sie, mit ihrem schönen braunen Seidenkleid angetan, ein Kruzifix zwischen den bleichen Fingern, in ihren weißen, sauberen Kissen lag.

Da freilich hatte er geweint, daß es einen Stein erweichen konnte. Karla hatte ihm viermal das Taschentuch wechseln müssen in dieser ersten Stunde ... Der arme Papa hatte die Mutter sehr geliebt. — —

Karla klingelte noch einmal. Diesmal anhaltend.

„Wer ...? Ach Gott, die junge Frau ...“

Es war Pauline. Sie hatte eine große Wirtschaftsschürze und um den Kopf ein buntes Tuch gebunden.

[S. 74]

„Grad’ bin ich mit dem Reinmachen fertig, gnäd’ge Frau ... also bitte nur herein. Dem Herrn Papa wird’s leid sein.“

Karla stand im dunklen Korridor. Pauline konnte nicht sehen, daß sie blaß wurde.

„Papa ist nicht zu Hause ...?“

„Zum Schachkongreß ist er gefahren, nach Leipzig. Aber das macht ja nichts. Kommen Sie nur immer ’rein. So zerstreut ist der Herr Papa. Keinen Schüler hat er benachrichtigt. Was da alles los war heute! Zerrissen hätten sie mich fast. Und ich kann doch nichts dafür, nicht wahr? ... Das kommt alles so plötzlich beim Papa. Hat noch wunderschön gefrühstückt, Zeitung gelesen und dann auf einmal: ‚Pauline, Handkoffer ... packen, ein bißchen schnell, ... um 10 geht mein Zug ...‘ Na, ich kenne ihn ja jetzt schon, den Papa. Dagegenreden hat gar keinen Zweck. Hab’ ihm den Koffer gepackt ... auf drei bis vier Tage rechnet er ja ... na und dann: Gott befohlen! Auf der Treppe hat er noch einmal kehrt gemacht. Ist gar kein gutes Zeichen ... aber er war ja nicht zu halten. Die letzte Schachzeitung mußte er noch mitnehmen. Alles hat er durcheinandergeworfen, und wie ich schließlich die Tür zumache hinter ihm und aufräumen will, wo liegt die Schachzeitung? ... Unter seinem Kopfkissen! ... Also ich — Hut aufgesetzt, Regenmantel um und los, mit der Elektrischen! Habe ihm das Blatt noch durchs Coupéfenster gereicht! Das war eine Freude! Ich kann Ihnen sagen ...! Aber nu legen Sie ’n bißchen ab, gnäd’ge Frau. Ich mach’ Ihnen auch was zurecht: Himbeersaft mit Selter oder kalte Milch mit ’nem Schuß Kognak ...“

„Danke, danke ...“

Karla war selbst zum Ablehnen zu schwach. Ganz käsig war sie im Gesicht. Sie saß zusammengesunken auf einem der hübschen Sessel in Papas Wohnstube, und ihr war, als hätte sie eine lange, lange Reise gemacht. Sie konnte doch jetzt nicht gleich zurückfahren ... sicher brach sie dann irgendwo zusammen.

[S. 75]

Das Zimmer roch nach Seife, Luft und Bohnerwachs. Der Schachtisch war mit einer Zeitung zugedeckt. Ein Fußkissen lag noch auf dem Sofa. In den Ecken sammelten sich graue Schatten.

„Wie das nachstaubt, gnäd’ge Frau ... nicht zu glauben. Mit dem Herrn Papa seinem Schlafzimmer bin ich zuerst fertiggeworden. Hier habe ich morgen auch noch zu tun. Aber es eilt nicht. Wo ist denn der Herr Gemahl ... wenn ich fragen darf? ...“

„Mein Mann hat ein Engagement bekommen, da war ich denn allein, und ...“

Pauline kniff die Augen zusammen und band sich das Kopftuch ab, so daß ihre breiten Flechten wieder zum Vorschein kamen.

„Naja, freilich ... So ein junges Frauchen. Wenn ich gewußt hätte, daß ich darf ... aber nicht wahr. Man weiß nicht ... aufdringlich will man nicht sein ...“

„Nein ... gewiß.“

Karla bemerkte im Haar der Wirtschafterin einen dunklen Schildpattkamm, der einst der Mutter gehört hatte. Sie wurde sehr rot und stand auf.

„Nein ... nein, das müssen Sie nicht tun ... so weggehen ... das würde der Herr Papa nicht erlauben! Der Herr Papa hat sehr oft von Ihnen gesprochen, hat immer gesagt: ‚Ach, wenn doch nur alles vorüber wäre, Pauline! Meine arme Tochter!‘ ..“

Karla fiel wieder zurück in den Sessel.

„So ... hat er das?“

Aber ihre Stimme klang ganz matt. Gewiß hätte sie es der Mutter nicht antun dürfen, daß sie hierblieb und sich mit Pauline in ein Gespräch einließ. Es kam ihr so vor, als wenn Pauline unter der Schürze auch ein Kleid trüge, das einst der Mutter gehört hatte.

Pauline hat auch so ziemlich dieselbe Gestalt.

Pauline fing Karlas starren Blick auf. Ein bißchen Farbe huschte über ihre Wangen, verschwand ebenso rasch. Sie machte eine überflüssige Drehung um sich selbst und[S. 76] lief dann hinaus. Karla legte beide Arme auf den Tisch und ließ den Kopf auf die Hände sinken. Sie war müde und sterbenstraurig. Nicht einmal richtiger Zorn wollte in ihr aufschäumen. Als hätte jede Kraft sie verlassen!

Pauline brachte Zwiebäcke herein und kühle Milch in einer hübschen Glaskanne.

„Sie müssen sich erfrischen. Stärken. In dem Zustand ... Wann soll es denn sein, gnäd’ge Frau?“

„In fünf Wochen, denk’ ich ...“

Karla stürzte ein Glas Milch herunter. Pauline schenkte ein zweites ein.

„Aber auch was dazu beißen ... Mutterchen ...“

Karla lächelte. Drollig, wie die Frau sie nannte! „Mutterchen!“ Als ob ... Karla verzog schmerzhaft das Gesicht.

„Na, was denn? ... Wo zwickt’s denn?“

Karla verstand plötzlich den Papa. Wenn sie auch mit ihm so sprach ... Als ob es das wichtigste wäre, zu wissen, „wo es zwickte“! Als gäbe es auf der Welt nur diese eine Frage zu lösen! ... So hatte die Mutter nie zu fragen verstanden und sie selbst erst recht nicht. Aber gut tat es, so gefragt zu werden ...

Pauline tätschelte Karlas Hand, und Karla zog sie nicht zurück.

„Wissen Sie was, gnäd’ge Frau, ich werde Ihnen jetzt ein bißchen Abendbrot zurechtmachen ... Immer tüchtig essen!“

„Danke ... ich habe meine Stullen mit ...“

Pauline löste schon die Verschnürung. Sie klappte die dicken Brotscheiben auseinander.

„Ist man mager. Butter wie abgekratzt, und Wurst — so dünn, zum Durchgucken.“

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Das hätte der Herr Papa doch sagen sollen ... Ich weiß viel, wie die junge Frau lebt.“

„Nein, lassen Sie nur ... ich bin ganz zufrieden.“

„Sie wohl! Aber dann kommt das Kindchen, spindeldürr,[S. 77] und geht Ihnen drauf beim ersten Zahn! Das wär’ so was!“

Wieder lief sie hinaus. Karla lächelte. Sie hatte doch wohl was von der Mutter, diese Pauline. Nur weicher war sie. Zärtlicher. Um den Papa brauchte sie sich nicht zu sorgen. Der war gut aufgehoben!

Die Schatten wallten aus den Ecken, krochen die Wände hinauf, verhüllten die Bilder, sogen die Sessel in sich ein, den Glasschrank. Nur das Zeitungsblatt leuchtete noch auf dem Schachtisch am Fenster.

Aus der Küche her zog ein kräftiger Duft von gerösteten Zwiebeln herein, von warmer guter Butter ...

„So, junge Frau, nun decke ich den Tisch ...“

Die kleine Gaskrone flammte auf; blitzend hob sich das Gedeck vom weißen Tischtuch ab.

„Immer zulangen! Und jetzt schenke ich Ihnen noch ’n Gläschen Rotwein ein. Der Herr Papa darf ihn ohnehin nicht trinken. Wozu haben wir ihn denn dann?“

„Und Sie ... Pauline? ...“

Es machte Karla einige Mühe, ihren Namen zu nennen. Aber nun war es geschehen, und nun schien die letzte Scheu überwunden.

„Ja, wenn ich darf, gnäd’ge Frau ... Wenn der Herr Papa alleine ist, dann esse ich auch immer mit am Tisch. Schon um ihn zu beaufsichtigen. So vernascht ist der Herr Papa! Gar nicht zu sagen! Bringt sich heimlich Gänseleberpastete aus der Stadt mit. Darf er doch nicht essen, nicht wahr? Da gibt’s immer mächtigen Krach, wenn ich ihm die Terrine nach dem ersten Löffel wegnehme!“

Karla lachte jetzt. Ja, vernascht war der gute Papa immer gewesen. Hatte früher immer allerlei Konfekt in den Rocktaschen mit sich herumgetragen.

Aber mitten im Lachen wurde sie plötzlich blaß, und ihre runden jungen Augen weiteten sich.

„Na ... na ... was is denn nun schon wieder?“

Karla faßte sich an die feuchten Schläfen.

[S. 78]

„Ist schon vorüber. Mir war nur auf einmal so merkwürdig ... so ...“

Sie streckte plötzlich beide Arme aus und ergriff Paulinens Hand:

„Sagen Sie ... Liebe ... wie ist das, wenn man ... nicht wahr, es kann doch noch nicht sein ...“

Pauline kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Die junge Frau da würde doch nicht ... Sie stellte ein paar Fragen. Sachlich. Kurz. Sie wußte Bescheid — hatte genug junge Frauen in der Lage gepflegt. „Geprüft“ ... nein, staatlich geprüft war sie nicht. Nur ein verständiges Frauenzimmer, das so viel wußte, wie jede Frau wissen sollte. Und dann ... na ja ... Sie war auch mal Mutter gewesen. Hätte es besser treffen können; aber nun hatte sie den Mann doch liebgehabt ... Waren jetzt beide längst nicht mehr auf der Welt — nicht der Mann, nicht der Junge. Und sie hatte nicht nötig, das auch nur zu erwähnen. Aber als Schande hatte sie es nie angesehn. Nur als Unglück. Und von seinem Unglück mußte man immer mal reden. Auch der Herr Papa wußte es. Freilich, wenn der Junge lebte und sie vielleicht besuchte oder gar an ihren Rockschößen hinge, würde es ihm nicht lieb sein; denn der Herr Papa wollte Ruhe haben in seinem Haus und mochte Kindergequak nicht leiden.

Karla unterbrach. Das waren wenig tröstliche Aussichten für ihr Kind. Sie fuhr sich über die Augen.

„Ta ta“, machte Pauline. „Wenn’s ein Mädchen ist und sechzehn Jahre wird, da sollen Sie den Großpapa sehen! ...“

Nun mußte Karla wieder lachen. Auch über Paulinens „Ta ta“. Das hatte sie doch richtig von Papa angenommen. Wie lange sie denn schon beim Papa wäre?

„Na, an die vier Jährchen werden es sein. Du lieber Himmel, sah das aus beim Herrn Papa! Als wenn er mit allen Gegenständen in der Wohnung Ball gespielt hätte: Im Schlafzimmer fand ich zwei Pfannen und ein Reibeisen, in der Küche die schönen Hemdknöpfe und das Tintenfaß aus[S. 79] Onyx, in der Wohnstube lagen Kissen, Kleider und Küchentücher durcheinander. Bis man da Ordnung machte! Am besten war schon, man zog aus. Erst wollte der Herr Papa nichts davon wissen, hat zwei Wochen kein Wort mit mir gesprochen! Na, aber dann — wie alles hier nett auf dem Platze stand“ ... Da hätte Karla ihn hören sollen! „Jedem, der kam, sagte er, daß es schon längst seine Absicht gewesen wäre, umzuziehen, aber er hätte nur das Richtige nicht gefunden bis jetzt! Dann aber hätte er seiner Pauline anbefohlen, unverzüglich zu packen! Und nun hätte er sich nach seinem Geschmack auch alles gestellt und eingerichtet, und seine Pauline wäre ein ganz brauchbares Frauenzimmer!“

„Ach ja“ — — —

Pauline hatte schon längst zu essen aufgehört und stichelte an einem Nachthemd von Papa, dessen Kragenbund sie erneuerte. Sie hatte ein lachendes und ein nasses Auge, da sie vom Papa sprach, und ein liebes, drolliges Lächeln um den Mund.

„Papa war immer sehr unpraktisch“, sagte Karla. „Ich glaube, ich bin so wie er. Nur äußerlich bin ich Mutter nachgeraten.“

Pauline nickte.

„Das ist so mit Künstlern. Habe ich schon oft gehört. Darum müssen sie jemanden haben, der ihnen das Haus zusammenhält.“

Karla blieb eine Weile wie in Gedanken versunken. Dann fragte sie zaghaft: „Wie hält es denn der Papa mit dem Gelde?“

Pauline schüttelte ärgerlich das Nachthemd aus.

„Da fragen Sie zu viel, junge Frau. Ins Portemonnaie bin ich ihm nicht gekrochen. Wenn ich ihn nicht anhalten würde, daß er mir Wirtschaftsgeld gibt ... ich glaube, ich sähe im Leben keins!“

Karla erschrak. „Aber Ihr Gehalt ...“

„Was, Gehalt? Den ersten Monat hat er mir’s gezahlt. Den zweiten hab’ ich ihn erinnert, den dritten auch noch. Den vierten hab’ ich’s gelassen.“

[S. 80]

Karla sah sie groß an.

„Na ja ...! Rausschmeißen wird er mich nicht, und solange ich da bin, habe ich, was ich brauche.“

Karla dachte, daß es nun doch so war, wie sie es das erstemal vermutet hatte. Die hatte sich ins warme Nest gesetzt und wartete auf Papas Tod. Dann trat sie die Erbschaft an, wie das so üblich war. Was an Geld da war, hatte sie von Hand zu Hand bekommen und die Einrichtung als Andenken! So pflegten sich solche Weiber schadlos zu halten ...

Sie hatte nicht mehr viel über Papa gesprochen mit ihrem Manne seit jenem ersten Besuch. Sie wußte ganz genau, wie er dachte — ganz genau. Und „seinen Leuten“ gegenüber hatte er den Papa auch nicht erwähnt. Kein einziges Mal! Das hatte schon seinen Grund. Und wenn er erfuhr, daß sie sich mit der Person an einen Tisch gesetzt und in Papas Abwesenheit mit ihr gegessen hatte, dann ... ja, die Redensarten kannte sie: ihr fehlten Würde, Takt, Anstand. Und wenn sie früher in solchen Fällen die „Gemütlichkeit“ als Entschuldigung angeführt hatte, dann hieß es: Ungebildete Leute sind immer „gemütlich“, wenn sie was zu kauen und zu schlucken haben! Mit der „Gemütlichkeit“, da rutschte man, ehe man sich’s versah, viele Stufen der gesellschaftlichen Leiter herunter, und noch tiefer — bis es recht sumpfig und glitschrig wurde!

„Sie wollen schon gehn, junge Frau?“

„Ja ... ich muß. Es wird spät.“

Karlas Ton war gezwungen. Pauline tat, als merkte sie es nicht.

„Ich bringe Sie bis nach Hause.“

„Nein ...“

„Nanu ... warum denn nicht?“

„Nein ... ich will nicht.“

Karla wollte nicht, daß die Wirtschafterin von Papa sah, wie sie hauste. Das war nicht gerade nötig. Da gab es mitleidige Worte für sie oder unfreundliche über Papa.[S. 81] Wenn sie den Papa jetzt auch in einem anderen Lichte erblickte als früher — es tat ihr doch weh. Alles brauchte diese Pauline ihr nicht zu entreißen, was sie an Gefühlen in sich barg.

Pauline warf die Lippen auf, nach Art einfacher verletzter Menschen. Stumm suchte sie Karlas Sachen zusammen, den Hut, den Umhang, die Handschuhe.

„Haben Sie denn jemand Verwandtes in der Nähe? ... Wenn was passieren sollte? ...“ fragte sie endlich schroff.

„Wieso passieren? ...“

Karla wurde sehr blaß, und im selben Augenblick krampfte sich ihre Hand um die Stuhllehne. Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Oberlippe wurde wie von einem Krampf heraufgezogen, klebte plötzlich dünn und dürr an den Zähnen:

„... Aber mir ist doch ganz ... gut ... ganz ... gut ...“

Ein Frostschauer durchrüttelte ihre Gestalt; ihre Augen weiteten sich. Das Surren der Gasflammen verstärkte sich in ihrem Gehör zu einem betäubenden, herzbeklemmenden Getöse.

„Gut ... sehr gut ...“

Sie formte die Worte, ohne recht zu wissen, was sie sprach. Nur das Entsetzen starrte, keine Deutung zulassend, aus ihren runden, weit aufgerissenen Augen.

„Warten Sie ... ich hole nur mein Tuch. Unten stehen Wagen ... ich fahre mit ...“

Karla nickte. Sprechen konnte sie nicht — vor Grauen. Wenn das Kind jetzt kam — schon jetzt — dann ... Lieber guter Gott ... nur leben sollte es ... nur leben! ... Wenn alles umsonst gewesen war, wenn ...

Sie wollte in die Knie sinken, die Hände bittend emporheben. Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Weder die Arme, noch die Knie. Ihre Hände lagen noch immer auf der Stuhllehne, ihr Körper krümmte sich. Von der Wand blickten zierliche Ballerinen auf sie herab, mit eingefrorenem[S. 82] Lächeln und gerundeten Armen, schöne Schauspielerköpfe mit dem Ausdruck kühner Welteroberer, ein Bild der Mutter als „Schöne Helena“, massiv und üppig, ganz unkenntlich und fremd unter der blonden Perücke. Aber es war das einzige Bild von ihr, das sich erhalten hatte.

„Mutter,“ stöhnte Karla, „... Mutter ...“

Als wäre sie noch ein kleines Mädchen, das sich eine Beule geschlagen und nun nach ihr schrie. Als hätte sie nicht einen Mann, der sie liebte und sich um sie sorgte, als hätte sie nicht eine Schwägerin, deren Tagesinhalt die Vorbereitungen waren zum Empfang ihres Kindes, eine andere, die sich um sie mühte wie eine ältere Schwester ... Sie wiederholte immer nur: „Mutter! Mutter!“, als läge in diesem einen Wort alle Hoffnung, aller Frieden, alle Sehnsucht und alle Erfüllung ihres gemarterten Weibtums.

„Bin schon da ... bin schon da ... Na, was denn, Kindchen ... bis zum Wagen kommen wir doch noch, wie?“

Pauline Rader, die wußte, was Kindesnot und Angst waren, umfaßte Karla und führte sie in den Korridor. Die Küchenlampe brannte auf dem Tisch. Schlüssel klirrten ...

Karla brach zusammen.

„Ich — kann — nicht ...“

Nur einen kurzen Augenblick war Pauline Rader unschlüssig. Dann blitzten ihre hübschen, lustigen Augen auf. Als gälte es, jemandem ein Schnippchen zu schlagen. So eines, an dem der liebe Herrgott selber seine Freude hätte und sich darob den weißen Bart vor Lachen hielt.

Und weiter überlegte sie nicht lange. Hatte kräftige Pflegerinnenarme und wußte Bescheid. Ganz rasch lief sie hinaus auf den Treppenflur, klingelte an der Wohnungstür drüben und flüsterte dem öffnenden Mädchen etwas zu. Das Mädchen nickte lachend. Es traf sich gut, die Herrschaft war nicht zu Hause, da flitzte sie gleich um die Ecke. Die Hebamme war brav. Ihre „Gnädige“ war sehr zufrieden gewesen, hatte sie „mächtig beschenkt“. Und dann lachte sie wieder.

[S. 83]

Denn es war doch eine lustige Sache, daß wieder so was Kleines, Zappelndes zur Welt kommen sollte! Und es war Frauenart, zu lachen, wenn man davon hörte ...

Karla wußte nicht mehr recht, was mit ihr geschah. Das schwere Werk des Mutterwerdens hatte begonnen.

Nur daß das Bett so wundersam weich und breit war, spürte sie noch, und daß es gut roch in dem Zimmer: nach Sauberkeit und vielen feinen Düften, die aus roten Kristallflaschen vom Waschtisch herüberwehten.

Eine lange, bange Nacht wurde es, und Pauline Rader fuhr sich mehr als einmal mit dem Tuch über das Gesicht, wenn sie an die Verantwortung dachte, die auf ihr lastete. Von Karla war nichts herauszubringen. Nicht, wo ihr Mann war, nicht, wo die Verwandten wohnten.

„Ich will nicht ...“

Es war das einzige, was sie immer wieder hervorstieß. Mit all ihren Kräften, mit all ihrem Wollen half sie der Natur, die hart und unerbittlich das Schwerste von ihr verlangte. Und in allen ihren Schmerzen fühlte sie es deutlich, fühlte es beseligend, daß das ihr Werk war, ihr Schaffen ganz allein.

Eine tiefe, innige Angelegenheit zwischen sich und dem Kinde, dem sie das Leben abrang. Nur manchmal schrie sie auf, und es war wie ein Erbarmen heischender Naturlaut: „Mutter — Mutter!“ Der gleichbleibende Schrei, der Generationen in Ewigkeit verbindet ...

Und jedesmal, wenn dieser Schrei erklang, beugte sich Pauline Rader über das erhitzte, schmerzverzogene Gesicht, legte ihre kühle Hand auf die glühende Stirn und murmelte:

„Ja, Kindchen ... ja ... gleich ist alles gut ... gleich ...“

Als aber die Morgensonne sich durch die Rolläden hereinzwängte mit spielerischen, neugierigen Strahlen, da rief die weise Frau, halb lachend, halb entrüstet:

„Was haben Sie mir denn erzählt? ... Ein ganz ausgewachsenes[S. 84] Kindchen ist es ... Hat sich vielleicht sogar noch ein paar Tage länger geputzt als nötig, das eitle Ding ... Geben Sie nachher mal gleich die Wage her, daß wir sehen, was die Prinzessin wiegt.“

Pauline Rader tropften ein paar Tränen in das Wasser, das sie gerade im Waschzuber hereingebracht hatte.

„Worin wickeln wir es nun ein?“ fragte sie immer wieder und wußte nicht, wohin mit sich. Sie hatte offenbar ganz den Kopf verloren. Denn sie stürzte plötzlich zu Papas Schrank und schnitt aus einem seiner feinsten seidenen Hemden rasch die ersten Hüllen für den roten, kleinen Körper heraus.

Als dann Karla das Kind an ihre Brust legen durfte und in andächtigem Schauer fühlte, wie ihr Leben sich abermals in dieses neue, jetzt so heißgeliebte kleine Wesen ergoß, sagte Pauline Rader:

„Nun müssen wir den Herrn Gemahl benachrichtigen und die Verwandten.“

Aber Karla wandte ihr die dunklen Augen zu, die ganz tief in blauen Höhlen lagen:

„Noch nicht, bitte ... noch nicht gleich.“

Diese eine geheiligte Stunde mit ihrem Kinde wollte sie für sich haben — ganz für sich.

Und Pauline Rader verstand und lehnte sich zurück in den bequemen, altväterlichen Sessel mit einem leisen, behaglichen Lächeln um den vollen, hübschen Mund.

Was der Herr Papa wohl sagen würde zu der freundlichen Überraschung?!

So recht geheuer war ihr bei der Vorstellung eigentlich nicht.

Aber weil sie todmüde war, schlief sie ein, ohne daß auch nur das Lächeln von ihren Lippen geschwunden wäre. Und da war es Karla, als ob es auf der großen, weiten Welt niemanden mehr gäbe als ihr Kind und sie selbst. Versunken war alles um sie herum, alles, was vor diesem Augenblick ihr Leben verschönt, beglückt und bedrängt hatte.

[S. 85]

Und nie hatte selbst das lauteste Beifallstosen einer begeisterten Menge ein so überschwängliches Glücksgefühl in ihr ausgelöst wie die kaum vernehmbaren Atemzüge des kleinen Wesens, dem sie das Leben gegeben.

Verzierung, drei Sterne
E

Es gab viel Wirrwarr und Aufregungen in den nächsten Tagen, die sich noch steigerten, als der Papa ankam.

Pauline wußte nicht, mit welchem Zuge er kommen würde, und konnte ihn nicht abholen. Ihn schriftlich vorzubereiten, hatte sie nicht den Mut gefunden. Sie war auch keine geübte Briefschreiberin. So kam es, daß er plötzlich einem Kinderwagen gegenüberstand und in der höchsten Lage eines Tenors loszeterte: „Pauline! Pauline! ....“

Er schnupperte mit der Nase herum. Pfui Teufel, wonach roch denn das? Dunkle, längst vergessene Bilder aus seinem ersten Ehejahr standen ganz plötzlich vor ihm. Abscheulich war das alles gewesen. So unbequem, so häßlich ...

Pauline nahm ihm den Mantel ab, schnurrte alles Vorgefallene herunter, fast in einem Satz. Er griff sich an den Kopf, stampfte mit dem Fuß auf.

„Sie haben den Verstand verloren! Sie sind verrückt ... Sie können am Ersten gehn ... Was bilden Sie sich denn eigentlich ein? Gehört die Wohnung Ihnen, ja? Wie kommen Sie dazu ...?!“

Die Tür ging auf. Eine Dame trat ein.

„Was ist denn das für ein Lärm hier ... ach so ... wohl Karlas Vater? ... Mein Name ist Frau Doktor Maurer. Ich bin die Schwester von ihrem Schwiegersohn.“

„Sehr angenehm ... sehr ...“

[S. 86]

Aber das Weitere blieb ihm im Halse stecken. Sehr gemütlich sah sie nicht aus, die gute Frau. Daß sein Mädel gerade in so eine Familie hineingeraten mußte! ...

Adele glaubte, nicht viel Umstände machen zu müssen mit einem ehemaligen Ballettänzer. Nette Familie übrigens, aus der Karla stammte! ...

„Ich bedaure sehr, daß Karla gerade hier niederkommen mußte. Sie hat das natürlich nur ihrer eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben und ihrer Heimlichkeit. Aber nun ist sie müde, und ich hoffe, Herr ... Herr ...“

„König ... Adalbert König.“

„Also ich hoffe, Herr König, daß Sie sich jetzt in das Unvermeidliche fügen und daß Karla in Ruhe hier ihre Genesung abwarten kann.“

„Ja ... ja gewiß ... versteht sich ...“

Der Papa verneigte sich ein paarmal kurz hintereinander, aber seine kleine weiße Hand rückte immer auf der Brust hin und her, als suche er das Jabot, an dem er mit spitzen Fingern zwirbeln und zerren könnte.

Pauline stützte ihn leise unter dem Ellbogen.

„Wollen Sie ’rein, Herr König? Gerade ist die junge Frau aufgewacht.“

Der Papa überlegte blitzschnell, daß es sich wohl so gehöre, hineinzugehen. „Sie gestatten, Frau Doktor ...“

Nun mußte er in seiner eigenen Wohnung noch um Erlaubnis bitten, sein Schlafzimmer zu betreten.

„Na, Kleine, was machst du für Geschichten ... was sind das für Sachen ...“

Karla legte den Finger gegen die Lippen:

„Still, Papa ... ich glaube, sie schläft ein.“

„Aha ... sie ... ein kleines Mädchen! ... Na, das geht ja noch.“

Der Papa hatte entschieden eine Vorliebe für das schöne Geschlecht — auch wenn es noch in den Windeln lag.

„Hast dir’s ja recht bequem bei mir gemacht ...“

Es sollte ein Scherz sein. Aber seine helle, krähende Stimme drückte doch nur Ärger aus.

[S. 87]

„Ta ta ta ... nur kein Drama. Was geschehen ist, ist geschehen. Zurückschicken können wir das kleine Fräulein nicht ... Bis auf weiteres ... natürlich ... tja ... Also ... Na, geht’s gut, Kleine? Alles in Ordnung? Wann kommt dein Mann?“

Altmann blieb noch eine Woche in Liegnitz. Erst hatte er telegraphiert, man sollte sein Kommen gleich erwarten, aber Adele hatte gemeint:

„Meine Schwägerin Adele — du kennst sie ja schon, Papa ...“

„Ach so, die Dame draußen? Ja ... eine energische Dame. Die hat also gesagt, dein Mann brauchte nicht zu kommen, wie? Na ja ... sehr vernünftig. Kinderkriegen und ... tja ... also das ist ja wirklich Weiberangelegenheit. Ein Mann stört da nur ... ja, ja ... er stört positiv ...“

Er sah sich im Zimmer um.

Na, das sah schön aus!

Auf den Stuhllehnen hingen Windeln, auf dem Tisch vor dem Ruhebett stand ein großes Teebrett mit allerlei Kännchen und Schälchen darauf. Es roch nach Fencheltee und Lysol; in der Luft schwammen kleine Watteflöckchen.

„Ich bin so glücklich, Papa! Es ist so wundervoll ...“

„So ... tja ...“

Mit spitzen Fingern entfernte er ein Wattebäuschchen von seinem Rockärmel.

Kurios war das mit den Weibern! Nie waren sie so glücklich wie in so einem Kleinkinderzimmer, zwischen Fenchel, Gummipropfen und nassen Windeln.

Aber nun wußte er wahrhaftig nicht mehr, was er noch sagen sollte. Ihm spukte auch noch das letzte Spiel vom Leipziger Turnier im Kopfe herum: eine italienische Partie, die mit einem Remis geendet hatte. Herr von Scheve hatte entschieden keinen guten Tag gehabt, daß er seine Bauern in so üble Lage gebracht. Er wollte die Partie mal nachspielen. Aufgeschrieben hatte er sie ja ...

Adele kam herein, mit einem Teller Suppe. Der Papa[S. 88] machte sich noch schmäler, als er war, und glitt an ihr vorbei durch die Tür.

Auf dem Schachtisch lag ein Haufen Jäckchen, Windeln und Hemdchen, die Adele aus der Culmstraße mitgebracht hatte. Der Papa wurde ordentlich blaß.

„Pauline! ... Pauline! ...“

„Ja, Herr König.“

Wie breit und unverschämt diese Pauline vor ihm stand! Er kannte sich nicht mehr vor Zorn. Er krähte:

„Packen! Ich zieh’ ins Hotel!!“

„Das wird wohl auch das beste sein, Herr König. Das wollte ich Ihnen schon vorschlagen. Nur vergessen Sie nicht, daß von morgen elf Uhr ab die Schüler wiederkommen.“

„Weiß schon ... brauchen Sie mir nicht zu sagen!“

Er kreuzte wütend die Hände hinter dem Rücken und sah mit finsteren Augen zu, wie Pauline die Wäsche vom Schachtisch räumte. Nun wurde er wieder krebsrot im Gesicht.

„Die Schüler können sich zum Kuckuck scheren! Der verdammte Klavierspieler weckt mir noch die Gesellschaft auf, und dann fängt das Kindergeplärre an — ich danke!“

„Schön. Ich werde ihnen sagen, sie sollen nächste Woche kommen.“

Sie unterdrückte kaum noch das Lächeln und ging den Koffer holen ...

Am Abend kamen schöne dunkle Rosen mit einem kleinen Briefchen: „Mein liebes Kind! Laß es Dir recht gut gehn. Ich muß leider wieder verreisen — aber Pauline hat ja meine Instruktionen. Empfehlung an Deine Frau Schwägerin. Dein Dich zärtlich liebender Papa.“

Karla lächelte und seufzte auf. Jetzt kannte sie den Papa ... so gut kannte sie ihn! ... Aber es war kaum Raum in ihrem Herzen für Traurigkeit. Sie wünschte, die stillen Tage in dem weichen Bett, mit den gütig dreinschauenden Frauen, mit dem weichen Geflüster, dem sanften, traumhaften Dahindämmern könnten sich noch lange,[S. 89] lange hinziehen. So stark war die Liebe in ihr zu dem kleinen Wesen an ihrer Seite, daß diese Liebe auf jeden Menschen überströmte, der sich in diesen Tagen ihrem Lager näherte. Sie liebte Pauline, die ihr so warmherzig und mütterlich beigestanden, sie liebte Adele, die mit so geübten Händen ihr kleines Mädchen aufhob, herumtrug und anzog, sie liebte Luise, die ihr Obst brachte und deren strenge Augen milde wurden, wenn sie das Kind betrachteten, sie liebte Alwin Maurer, der eines Tages, ein bißchen verlegen, in der Tür erschien und nicht recht wußte, ob Adele ihm den Eintritt gestatten würde. Aber von weitem schwenkte er ein paar Blumen und warf sie Karla aufs Bett.

„Fang!“

Wie gut sie alle waren!

Karla war noch so schwach, daß sie manchmal vor Rührung eine Träne zerdrückte. Und aus solch einer Stimmung heraus schrieb sie Altmann ihren ersten Brief, mit Bleistift und kaum recht leserlich. Aber er schloß mit den Worten „... nein — nie ... nie vergesse ich, wie lieb Adele, Luise und auch Alwin zu mir sind. Du hast mir manchmal vorgeworfen, daß ich kein Verständnis hätte für Familie. Jetzt habe ich es. Und es ist wundervoll, Familie zu haben. So viele Menschen um sich zu besitzen, die das Wesen, das man am tiefsten liebt, mit liebenden Augen betrachten. Meine Freuden sind ihre Freuden, meine Angst die ihre. Warum konnte Deine Mutter das nicht auch miterleben? Und die meine? Sie beide wären Freundinnen geworden in diesem Augenblick, auch wenn sie sich vorher nicht verstanden hätten. Es ist gut, mein geliebter Ernst, daß Du in diesen Tagen nicht hier warst — ich glaube, Du wärest eifersüchtig geworden auf unser liebes kleines Mädel. Denn Du hättest wohl kaum begreifen können, daß eine Mutter so närrisch verliebt und so ausschließlich vertieft ist in ihr Kind wie ich. Weißt Du noch, liebster Ernst, wie ich mit dem Kätzchen spielte und Du so böse wurdest? Damals schon war ich Mutter, ohne es zu wissen — und weil ich es[S. 90] wohl nicht abwarten konnte, daß ich mein Kind im Arme hielt, nahm ich das kleine Tierchen an mich. Warum warst Du so böse und hast sein Körbchen so weit weggestoßen? Ich werde traurig, wenn ich daran denke. Unser Kindchen wirst Du doch lieben? Das mußt Du mir versprechen. Wie danke ich Dir, daß Du es mir gegeben! Wie liebe ich Dich! Nie werde ich aufhören, Dich zu lieben! Deine Karla.“

Altmann erhielt den Brief nach der Vorstellung. Er war müde und ohne Spannkraft. Denn er hatte in diesen sechs Wochen zehn neue Rollen lernen müssen und war das überhetzte Sommertempo kleiner Provinzbühnen nicht mehr gewöhnt.

Nachdem er sein bescheidenes Abendbrot bestellt hatte, öffnete er den Brief. Er fand sich aus der Bedrücktheit seines persönlichen Lebens nicht gleich in die tönenden Schwingungen von Karlas Seelenleben hinein. Sie waren ihm auch neu an ihr. Und so berührte ihn der in einer ekstatischen Stimmung geschriebene Brief eher frostig und abkühlend. Als wäre es nicht Karla, die ihm schrieb, sondern ein romanhaftes fremdes Wesen. Das kam wohl von der Trennung. Jedenfalls waren solche Exaltationen gefährlich und ließen sich nicht mit dem Weg vereinen, den er ihr vorzeichnete.

Ohne Einschränkung freute ihn nur die Anerkennung „seiner Leute“. Die Erinnerung an die Episode mit der Katze weckte eine peinliche Empfindung in ihm. Jedenfalls war Karla ein bißchen überspannt, und es war gut, sie daran zu erinnern, daß es für sie außer und vielleicht sogar vor dem Kinde — noch einen Beruf gab. Als er sich aber Tinte und Feder reichen ließ und in diesem Sinne schreiben wollte ... da fielen ihm die richtigen Worte nicht ein. Es klang wohl auch brieflich alles so hart und lieblos ... Ihm lag jetzt ja doch nur eine Frage am Herzen: War ihr die Stimme wiedergekommen? Ehe er das nicht wußte — wußte er auch nicht, wie er ihr schreiben sollte ... Durfte er sie in ihrem Muttertraum weiter wiegen, oder ...

[S. 91]

Es war wirklich alles sehr schwer, und er war zum ersten Male befangen. Ganz rasch schrieb er darum nur:

„Ich sehne mich nach meiner lieben, tapferen kleinen Frau und freue mich, unser Kind zu sehen. Schone und pflege Dich. Werde gesund und kräftig. In acht Tagen bin ich wieder bei Dir. Ich zähle die Stunden. Dein Ernst.“

Diese wenigen Zeilen waren ihm unendlich schwer geworden, denn er fühlte, daß sie Karla alles schuldig blieben ...

Er sah sie im Hause seiner Schwester wieder.

Sie kam ihm entgegen in einem hellblauen Schlafrock, den er noch nicht an ihr kannte. Sie hatte ihr reiches dunkles Haar in zwei Zöpfe geflochten, die flach um ihren runden, hübschen Kopf lagen. Sie war noch ein wenig blaß und spitz und hatte ein ihm fremdes, wehes Lächeln um den Mund.

Schluchzend warf sie sich ihm an die Brust.

„Ernst! Lieber guter Ernst!! ...“

Sie küßte ihn, drückte seine Hände, sah ihm immer wieder in das ebenfalls abgemagerte Gesicht.

„Nun bist du da. Nun ist alles gut ... nun bleiben wir zusammen!“

Er war so bewegt, daß er ihr kaum antworten konnte, daß er kaum nach dem Kinde zu fragen wagte. Aber da kam auch schon Adele und brachte es an — in einem Steckkissen mit rosa Schleifen. Das Spitzenhäubchen, zu groß für den kahlen kleinen Kopf, war bis über die winzige Nase gerutscht.

Karla drehte sich um.

Du bringst es ... du? Ich wollte ...“

Aber Adele merkte gar nicht, wie enttäuscht, ja wie verletzt Karla war. Das Kind war eine Familienangelegenheit. Adele zweifelte keinen Augenblick an ihrem guten Recht, es als erste dem Bruder zu bringen. Sie begrüßte ihn nur durch Kopfnicken. Sie waren ja auch beide nicht wichtig. Aber das Kind — — —

[S. 92]

Altmann nahm das Paket behutsam auf. Er kam sich höchst ungeschickt und lächerlich vor dabei; aber er sagte:

„Gut sieht es aus ... wirklich sehr gut.“

Dann gab er es schleunigst in die ihm zunächst ausgestreckten Arme. Zufällig waren es die von Karla.

Das Kind fing an zu quäken. Karla wendete sich ab, setzte sich und legte es an.

„Wie ... Du stillst selbst ...?!“

Karlas Augen leuchteten.

„Na und ob!“

„Sie ist sehr brav“, sagte Adele, als spräche sie von einer leistungsfähigen Amme.

Altmann murmelte:

„Ja, das geht aber doch nicht ... das ist unmöglich.“

Adelens Antwort wurde durch das Eintreten von Luise abgeschnitten. Gleich darauf kamen die Kinder und Dr. Maurer.

„Na, bist du fertig, Karla ... wir können Abendbrot essen ... Nein, Karla, kein Geschaukel, bitte. Vicki, roll’ den Wagen ’ran. So. Reingelegt und nun ’raus ... Nein, Karla, ich verbitte mir ganz entschieden, daß du dem Kinde schlechte Gewohnheiten gibst. Sonst lehne ich jede Verantwortung ab! Hörst du? Jede!“

Karla gab dem Wagen einen kleinen Stoß.

„Bitte. Ihr wißt das ja alle besser.“

Manchmal wünschte sie, sie wäre eine Wilde, die ihr Kind im Busch zur Welt gebracht hätte. Da würde nur sie zu bestimmen haben und dürfte mit dem Kinde tun, was sie wollte, dürfte es in ihr Tuch packen und auf dem Buckel tragen, bis es groß war und selber lief ... Gut hatten es diese Mütter ... und gut die Kinder!

Man setzte sich zu Tisch. Adele hatte für einen Heringssalat gesorgt, den Altmann gerne aß. Karla bekam eine dicke Mehlsuppe.

Altmann entfaltete sein Mundtuch.

„Wie bin ich euch dankbar, daß ihr euch Karlas so angenommen habt. Dir vor allem Adele ...“

[S. 93]

„Na ... aber ... das ist doch selbstverständlich.“

Altmann schüttelte ihr über den Tisch hinweg die Hand.

„Weißt du, was du für eine Prachtfrau hast, Alwin?“

Es klang scherzend und doch bewegt.

Alwin schenkte sich ein Glas Bier ein. Aber über sein Glas hinweg flog sein Blick unbewußt dahin, wo Karla saß. Und beide sahen einander an. Dann zerdrückte Karla ein Mehlklümpchen auf dem Grunde ihres Tellers, und Dr. Maurer sagte:

„Ja ... wir wissen schon, was wir an ihr haben.“

Es war sehr, sehr viel, und es war unendlich wenig!

Dr. Maurer war dafür, daß man eine Flasche Wein trank. Seit er die Weinkneipen mied, hielt er immer auf einen Vorrat von ein paar Flaschen.

Adele war gern bereit. Das Lob des Bruders, wenn sie ihn auch nicht immer für voll nahm, hatte sie doch liebenswürdig gestimmt, und dann hatte Luise eine Apfeltorte mitgebracht. Das heißt, vier Stücke waren schon herausgeschnitten und zum Mittag von der englischen Familie verspeist worden. Den großen Rest aber hatte die Dame der netten Miß Luise aufgedrängt, als sie hörte, daß der Schauspieler-Bruder aus der Provinz zurückgekommen sei.

Es kam öfters vor, daß Luise dies oder jenes von der reichen Tafel für „ihre Leute“ mitbekam, meist sehr gute und oft sogar teure Sachen.

Dr. Maurer schmeckten solche Abfälle bitter. Aber seine ursprünglich laue Ablehnung war von den Schwestern kategorisch als völlig ungerechtfertigt niedergeschrien worden. Warum sollte man nicht annehmen, was so freundlich geboten war? Hatten sie es denn so reichlich in der Culmstraße? Die Kinder wollten auch mal was Gutes essen! Die Kinder wollten sehr! Und wenn sie im voraus wußten, daß bei Stowns ein Diner stattfand, so verlangten sie, wie einen schuldigen Tribut, daß Tante Luise ihnen allerlei mitbrachte. Adele aber sparte an diesen Tagen die Nachspeise und baute von den mitgebrachten Überresten ein leckeres Dessert auf.

[S. 94]

So trank man eine Zeltinger — besseren Jahrgang — aß dazu die Stownsche Apfeltorte, ließ das Kind leben, erörterte die Frage, wann die Taufe stattzufinden hätte und welchen Namen man ihm geben könnte.

„Das weiß ich nicht. Das müßt ihr ausmachen“, sagte Altmann.

Dr. Maurer lachte vor sich hin.

„Lieber Ernst — bei uns hat man mindestens ein halbes Jahr nach Namen gesucht! Und was kam schließlich heraus? Vicki und Fritz. Hochoriginell, was?“

Karla verspeiste ihr zweites Stück Torte und schwieg. Mochten sie ihr Kind doch nennen, wie sie wollten. Für sie hieß und würde es immer nur einen Namen haben: „Schmerzchen“. So hatte sie es im Übermaß ihres allerersten Mutterglücks genannt, in der ersten Ekstase, der selbst heftigstes Leiden zu tiefster Lust wird.

„Ja, Karla — wie fändest du Elsa?“ fragte Altmann. „In Erinnerung an deinen größten Erfolg bisher?“

„Hm ... hm ...“

Karla nickte. Sie war einverstanden. Elsa Altmann. Klang hübsch. Freilich die zwei a’s ...

„Oder Isolde?“ schlug Luise vor, die Wagner nicht so ganz ablehnte.

Denn es war Mode geworden, die Kinder nach den Wagnerschen Opernfiguren zu nennen.

„Ich schlage vor: Senta“, meinte Dr. Maurer.

Aber er wurde der a’s wegen überstimmt, und es blieb bei Isolde.

Abermals klangen die Gläser aneinander. Karla, die den Mund voll Kuchen hatte, verschluckte sich. Mehr vor verhaltenem Lachen als vom Trinken. Sie lief aus dem Zimmer, in Adelens Schlafstube, wo der Wagen stand, riß das schlafende Kind in die Arme, drückte es an ihre Brust und schrie, während sie sich vor Lachen bog:

„Weißt du, wie sie dich genannt haben, mein Schmerzchen? Isolde! Du merk’ dir’s, Schmerzchen, geliebtes — Isolde sollst du heißen!“

[S. 95]

Das Kind brüllte wie am Spieß, während sie es unter Lachen küßte, immer wieder hochwarf und wieder auffing.

„Aber schrei doch nicht, Schmerzchen ... sei doch still ... du ...“

Das ganze Eßzimmer kam angelaufen. Adele riß Karla das strampelnde und schreiende Kind aus den Händen.

„Aber Karla! ... Was machst du denn? ... Ruhig, Isoldchen ... ruhig ... Tssss ...“

Karla hielt sich die Ohren zu. Isoldchen! ... Ihr Lachen wurde krampfhaft.

„Na na ... Kindchen ...“, sagte Altmann und drückte ihr Gesicht an sich. „Du bist ja noch sehr erregt ...“

Luise schüttelte vorwurfsvoll den Kopf:

„Geht lieber ins Eßzimmer ... wir werden Isoldchen schon beruhigen.“

„Ja, Karla, komm ... sei vernünftig. Adele versteht das besser als du.“

Dr. Maurer leerte sein Glas.

„Isold-chen!“

Und er machte eine Bewegung mit dem dritten und dem Zeigefinger und spreizte die Hand in der Luft, als schnitte er etwas durch.

Fritz und Vicki hatten sich über die Kuchenreste hergemacht und aus den Gläsern genascht.

„Marsch ins Bett!“ donnerte er sie an.

Es war ihm heute mal wieder sehr eng in der einst so geliebten und begehrten Wohnung.

Karla ging ins Vorzimmer und schlüpfte in ihren alten langen Regenmantel, der den Schlafrock völlig deckte, setzte den Hut auf und kam zu den Herren zurück.

„Wenn Schmerzchen wieder schläft, wollen wir den Wagen heruntertragen und nach Hause gehen“, sagte sie mit blanker Stimme.

„Wenn wer schläft ... was? ...“

Altmann sah sich erstaunt um.

Dr. Maurer lachte gallig.

[S. 96]

„Du hörst doch: Schmerzchen! Fräulein Isolde Altmann. Nun mach’ was!“

Altmann lächelte nachsichtig. Mochte Karla ihr Kind nennen, wie sie wollte. Über kleine Mutternarreteien mußte man hinwegsehen.

Die Damen kamen wieder herein.

„Wie denn, Karla, schon angezogen?“

„Sowie Schmerzchen fest schläft, wollen wir nach Hause. Nicht wahr, Ernst?“

Altmann nickte, ein wenig verlegen wegen Karlas Ton.

„Sag’ doch nicht immer Schmerzchen“, rügte Adele.

Altmann hatte sich so gefreut auf das Wiedersehen. Aber so ganz gemütlich war es nicht. Und er konnte es auch nicht übersehen, daß Adele sehr abgearbeitet aussah und der Schwager nervöser war als sonst. Er hatte seinen Leuten eben doch zuviel aufgebürdet! ...

Verzierung, drei Sterne
I

In einem mittelgroßen, kühlen Zimmer, dessen Wände bedeckt waren mit gerahmten und ungerahmten Künstlerbildern, und dessen ganze Einrichtung aus einem Pianino mit vergilbten Tasten und einigen Rohrstühlen bestand, saß Karla.

Sie hatte ihr schwarzseidenes Kleid an, das wieder enger gemacht worden war, eine moderne hohe Frisur und kleine Stirnlöckchen, die ihr Gesicht, das sich in diesen letzten Wochen noch ein wenig mehr zugespitzt hatte, wieder runder erscheinen ließen.

Schmerzchen hatte entwöhnt werden müssen. Das hatte ihr viel körperliches Unbehagen und Kummer verursacht. Sie war noch nicht ganz darüber hinweg, daß Schmerzchen wie ein Gegenstand in der Culmstraße eingestellt wurde,[S. 97] während sie von der Gesangstunde zur Schneiderin und von der Schneiderin zu Luise Altmann lief, die ihr englischen Unterricht im Stownschen Hause gab.

Eine große Gesangmeisterin hatte aus Interesse an Karlas ungewöhnlicher Stimme für ein Honorar von ‚nur‘ zehn Mark für die Unterrichtsstunde Karlas „letzten Schliff“ übernommen.

„Es lohnt sich, liebes Kind.“

Und Altmann opferte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, seine letzten Spargroschen für die teuren Stunden und ein paar nette Fähnchen, die Karla nun endlich mal haben mußte.

Und jetzt war es so weit, daß Karla in dem Klavierzimmer des ersten Agenten, des Kommissionsrats Fuchs, einem amerikanischen Impresario vorsingen sollte, der gute Stimmen billig für eine Tournee nach Amerika zu exportieren pflegte.

Von seinem alten guten „Dear friend“ erwartete der Impresario „gute Ware“, stützte sich dabei auch auf sein eigenes Geschick, einen Namen „zu machen“ und zu „managen“.

Er war eigentlich ein guter Deutscher, der es aber für notwendig hielt, im Interesse des Geschäftes den Amerikaner noch zu übertrumpfen. Er hieß Johann Rössel. Schrieb sich aber „John Russel“. Fuchs kannte ihn noch, als er Pferdejunge bei einem Jockei in Hoppegarten war. Er hatte damals ein Rennen geritten und einen kleinen Preis gewonnen, war in die unterste Schicht einer gewissen Lebewelt geraten, hatte sich in eine amerikanische Chansonette vergafft und war ihr als ihr „Sekretär“ nach Chicago gefolgt.

Die Chansonette schrieb zu wenig Briefe, um seine Dienste lange in Anspruch zu nehmen. Bald trieb er sich stellungs- und herrenlos herum, lief erfolglos jedem hübschen Gesicht nach und machte die merkwürdige Entdeckung, daß die kleinsten Hände das meiste Geld raffen. Nach verschiedenen Abenteuern, die seine Verachtung für das[S. 98] weibliche Geschlecht noch steigerten, kam er mit ein paar verwegenen Burschen nach Klondyke, steckte sich einen Clam ab und buddelte Gold. In diesen fünf Jahren seiner Goldgräberexistenz frischte er seine Erinnerung an seine erste Liebe dadurch auf, daß er zur Erheiterung seiner Kameraden und der anderen Goldgräber der umliegenden Clams eine Chansonetten- und Tänzerinnengesellschaft nach Klondyke kommen ließ.

Der ungehobelte Tisch der Kantine war das erste Podium. Es kam auch vor, daß das eine oder andere Dämchen als ehrsame Gattin eines Goldgräbers zurückblieb, wenn John Russel die ganze Gesellschaft abschob und sich eine neue Truppe von da oder dort verschrieb.

Sein Ruf war in jener Zeit nicht besser und nicht schlechter als der der meisten goldgrabenden Abenteurer. Daß er auf Diebe Jagd machte wie auf Hasen und die Burschen nicht zählte, denen seine Revolverkugel das Lebenslicht ausgeblasen, das nahm ihm weiter keiner übel. Selbsthilfe war dort alles.

Als er fand, daß die Zahl seiner Goldsäcke einem Vermögen von etwa zwei Millionen gleichkam, stapelte er sie auf einem langen Tisch auf, stellte sich hinter ihn mit einem geladenen Revolver in jeder Hand und ließ eine Aufnahme machen. Nun war er mit Klondyke fertig.

Als gemachter Mann kam er nach Philadelphia und gründete dort ein Theater. Es machte ihm Spaß, alles, was Namen hatte in Amerika und Europa, in sein Haus herüberzulotsen. Aber weil er gewalttätig war und selbst einen Irrtum niemals einsah, fraß ihm das Unternehmen anderthalb Millionen auf. Ein zweiter Versuch, den er in Klondyke unternahm, schlug fehl. Die Verhältnisse hatten sich auch mittlerweile geändert. Meist waren jetzt große Gesellschaften die Ausbeuter, und der Einzelunternehmer kam schwer auf seine Rechnung.

Gelangweilt trank er seinen Whisky in den prächtigen Varietéhallen, die an Stelle der einstigen einfachen Kantine die holde Weiblichkeit bargen. Und eines schönen Tages[S. 99] tauchte er wieder in Europa auf. In Wien hörte er die Lucca.

Ihre großen, hervorstehenden Augen, in denen etwas nachdenklich Animalisches lag, taten es ihm an. Er mußte an die Pferde denken, denen einst seine besten Gefühle gegolten hatten. Er brachte die Lucca nach Amerika.

Wenn er wenig an ihr verdiente, so lag es eben an dem letzten Rest deutscher Sentimentalität. Sie war, obwohl schon alternd, die erste und letzte Frau, die ihn hatte beglücken können durch das Gewähren eines Handkusses.

Jedenfalls hatte er an ihr gelernt, daß es ein gutes Geschäft war, deutsche Künstler nach Amerika zu bringen. Für ihn blieb auch die Kunst Ware, wie einst die Klondyker Tänzerinnen. Aber um sie mit Gewinn loszuwerden, bedurfte es der Aufmachung. Er engagierte mit Vorliebe unbekannte Leute. Und wenn ihm etwas Spaß machte, so war es „einen zu machen“. Noch größeren vielleicht, den von ihm „Gemachten“ fallen zu lassen, ihn — wie er sagte — „in der Versenkung verschwinden zu lassen“.

Vielleicht war es uneingestandene Angst, daß sein Geschöpf über ihn hinauswuchs — ihn meisterte. Vielleicht aber auch nur ein teuflisches Vergnügen, das er sich manchmal leistete. Wie es ihm als Goldgräber Vergnügen gemacht hatte, einen armen Lumpen, der nachts ein paar Körnchen Gold aus seinem Clam stehlen kam, gerade in dem Augenblick niederzustrecken, wenn er sich schon in Sicherheit gewähnt hatte.

John Russel stand auch dem Leben mit einem geladenen Revolver in jeder Hand gegenüber. Aber es waren immerhin ein paar Jahrzehnte seit jenen harten Anfängen und wilden Abenteuern verstrichen. Die Revolver streckte er heute nicht mehr sichtbar entgegen. Er hatte polierte Nägel, trug Anzüge vom ersten New-Yorker Schneider und seidene Unterwäsche. Das Raubtierartige seiner scharfblickenden, beinahe schwarzen Augen war gemildert durch den silbrigen Glanz seines kurzgeschnittenen Haares.

[S. 100]

Die Frauen blickten sich auf der Straße nach ihm um. Er war eine ungewöhnliche Erscheinung, und der gute Fuchs renommierte mit ihm. Mit seiner Erscheinung, seinem Geld und seiner „Anständigkeit“.

Diese Anständigkeit bestand hauptsächlich darin, daß er niemals die Gagen schuldig blieb und einem Sänger, den er vor Ablauf des Vertrages rausschmiß, ohne zu zögern das Geld für die ganze Zeit nachwarf. Für anderes und mehr hatte Fuchs auch gar kein Interesse. Jedenfalls konnte Altmann sich gratulieren, wenn Karla das Engagement bekam.

„Ich begleite meine Frau selbst“, sagte Altmann und setzte sich ans Klavier.

John Russel warf kaum einen Blick auf Karla. Er hatte einige Briefe in der Hand, die er öffnete und aufmerksam las.

„Fangen Sie nur immer an ....“

Er hatte einen stark amerikanischen Dialekt, den er geflissentlich betonte. Er hielt einen Briefbogen schräg vor seinen Mund und fragte nicht viel leiser, aber vertraulich, zu Fuchs gewendet:

„Wer ist der da? Ihr Korrepetitor, ihr Geliebter? ...“

„Ihr Mann.“

„Aha! Auch Sänger?“

„Nein — Schauspieler.“

Well.

Karla sang. Der Unterricht hatte ihre Stimme veredelt, aber ihr viel Unbefangenheit genommen. Fuchs hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und den schwarzgeränderten Klemmer auf die Nase gedrückt. Er verstand was; in seinen kalten Augen flimmerte es auf. Die Kieler Zeitungen hatten doch nicht übertrieben! Es „war was los“ mit der König. Er schlug mit dem Handrücken gegen John Russels Arm.

„Sie ....“

John Russel lehnte am Fenster und ließ seine Augen nicht von dem Brief.

[S. 101]

Yes ... yes ...

„Aus der machen wir was, Sie.“

John Russel faltete den Brief zusammen, steckte den ganzen Packen in die Innentasche seines mit schwerer Seide gefütterten Rockes. Jetzt warf er einen Blick auf Karla — kurz und abschätzend.

„Armes Luder, wie?“

Er entsann sich aller deutschen Ausdrücke, wenn er wollte.

Fuchs lachte lautlos.

„Verheiratet ... dear friend.“

Ein hoher Ton, den Karla plötzlich hinausschmetterte, aus Zorn über das rücksichtslose Geflüster, ließ John Russel nochmals aufblicken. Über sein gebräuntes, rissiges Gesicht huschte ein Lächeln.

„Bravo ...“

Ihn interessierten nur die hohen Töne. Die brauchte er für die Amerikaner. Sie schnappten danach wie Hunde nach einem Fleischbissen. Ihre Musikliebe nährte sich von den höchsten und den tiefsten Tönen der Sänger. Was dazwischen lag, nahmen sie nur mit in den Kauf. Er hatte einmal eine Mulattin „gemanagt“, häßlich wie die Nacht, dumm und unmusikalisch. Sie sang nur zwei Lieder. Aber ihre Stimme erkletterte die höchsten Geigentöne. Das Publikum raste, und nach drei Jahren hatte sie sich eine Million erpiepst. Ein Glück; denn in Veracruz holte sie sich eine Halskrankheit, und die Stimme sank zum normalen Umfang zurück. Sie war erledigt.

Altmann spielte mit kalten, feuchten Fingern. Er wußte, was Karla konnte, und wußte, daß sie jetzt aus einer ihrer sprunghaften Stimmungen heraus „Schindluder trieb“. Wie ein wildes Füllen, so jagte ihr die Stimme davon. Er hörte zurückgedrängtes krampfhaftes Schluchzen und Lachen aus ihrer Stimme heraus. Er schlug auf die Tasten, hielt zurück, soviel er konnte — sie krampfte ihre Finger in seine Schulter, trieb ihn an ... Er gab nach. Es war keine Musik mehr, es war ein Anhäufen[S. 102] von Tönen, die markerschütternd aus der Tiefe einer zornlodernden, verzweifelten Seele kamen. Mit einem wilden Aufschrei, mitten im Takt brach sie ab.

Kommissionsrat Fuchs blinzelte unruhig mit den Augen. War sie verrückt geworden, die König?! Er empfahl sie einem John Russel und sie schluderte und heulte wie eine Furie. Was war denn das mit ihr?

Karla stand hochatmend, mit roten, heißen Wangen am Klavier. Ihre Hand bebte noch immer auf Altmanns Schulter. Altmann war grau im Gesicht und wagte es nicht, sich umzudrehen. Er hätte sie schlagen können — mit beiden Fäusten auf sie losgehen mögen. War sie wahnsinnig geworden? Sie wußte doch, was für sie beide davon abhing! Wußte, daß er bald am Ende von all seinem Ersparten war! Und was dann? Die Herbstengagements in Deutschland waren abgeschlossen. Hier krochen sie nicht sobald unter! Und dann — unterkriechen! Immer wieder unterkriechen! Von sich wollte er nicht sprechen. Aber Karla war auch schon 24 Jahre alt. Solange hatte sie der Kieler Schlaukopf gehalten .... Was wurde nun aus ihnen beiden — aus dem Kind? Bei Adele sah es knapp genug aus. Die Kinder wurden größer und kosteten von Tag zu Tag mehr. Adele hatte schon ein paar Andeutungen gemacht, die brave, treue Seele ... Der Schweiß perlte in großen Tropfen von Altmanns Schläfen.

„Bravo, bravo ...“, sagte John Russel wieder.

Er hatte wieder dasselbe flüchtige kalte Lächeln.

„Sie sind wie ein Präriepferd ... well, das liebe ich. Sie gefallen mir.“

Karla schämte sich plötzlich und senkte den Kopf. Sie hätte am liebsten gerufen: Aber ich singe doch viel besser! und hätte alles wiederholt. Aber John Russel wendete sich langsam ab.

„Ich will ihr 100 Dollar die Woche geben und freie Reise. Können gleich abmachen, lieber Freund.“

„Reise für zwei Personen“, murmelte Fuchs und zeigte mit dem Kopfe auf Altmann.

[S. 103]

„Wie ... der auch mit? Sie will immer ihren Mann mit sich schleppen? ... God bless me!

Der Kommissionsrat zuckte die Achseln.

„Hören Sie mal, lieber Altmann ... ist das unbedingt notwendig — müssen Sie durchaus mit? Herr Russel möchte nämlich ...“

Jetzt erhob sich auch Altmann. Er hatte seine Haltung wiedergefunden und fuhr sich mit dem seidenen Taschentuch über das glattrasierte Gesicht. Er fürchtete, man würde das Zittern seiner Hand bemerken.

„Ich lasse meine Frau unter keinen Umständen allein fahren ... unter keinen Umständen.“

Er gab seiner Stimme alle Festigkeit, steckte das Tuch in die Tasche und schlug sie mit der flachen Hand glatt. So kämpfte er in einer Rolle auf der Bühne die Erregung nieder. Es half auch im Leben.

Karla zog ihren Arm durch den seinen, stellte sich dicht neben ihn, wie um seine Worte zu bekräftigen. Das war sie ihm schuldig. Sie nickte sogar. Aber ihre Augen blitzten. Sie hatte die Gage überrechnet. Es machte mehr als sechzehnhundert Mark im Monat. Sie hätte John Russel am liebsten umarmt. Ihrem alten Direktor wollte sie das gleich mal schreiben — aber gleich! Und Adele ... tja, meine Liebe — so verdiene ich — Karla König ... jawohl!

Doch sie hielt sich bescheiden zurück, ängstlich nur, daß alles an der Forderung ihres Mannes scheitern könnte. Aber schließlich — puah — bei soviel Geld .... Man konnte ja gottlob selbst alles bezahlen! Lächerlich!

Altmann fuhr fort: „Sie haben vielleicht einen Posten für mich .... Meine Ansprüche sind gering. Es ist nur, daß ich dort eine Beschäftigung habe“ ...

John Russel zuckte die Achseln:

„Lieber Herr — Beschäftigung! Das ist teurer als Geld. Suchen Sie sich welche. Wenn mein Kassierer durchgeht, können Sie an seine Stelle kommen“ ...

Er lächelte wieder, diesmal geringschätzig. Er hatte nie im Leben um „Beschäftigung“ gebeten. Genommen hatte[S. 104] er sich, was sich gerade fand. Er war nicht dazu da, die Männer seiner Sängerinnen zu beschäftigen.

„Die Reisen will ich Ihnen meinetwegen bezahlen“, warf er ihm über die Schulter zu.

Vielleicht war die Kleine abends besser bei Stimme, wenn sie am Tage ihren Mann abgeküßt hatte. Es gab so närrische Weiber. Die Sängerinnen schleppten alle gern einen Mann mit sich herum — Gatten, Geliebten oder Sekretär. Im Grunde kam es ja doch immer auf dasselbe heraus.

„Danke“, sagte Altmann.

Seine Stimme war leicht belegt, und die Mundwinkel hingen tief herab. Es war doch verflucht bitter, dieses „Mitgenommenwerden“!

Dann saß man im Arbeitszimmer des Kommissionsrates. Es war mit aller Behaglichkeit und kitschigen Pracht der achtziger Jahre ausgestattet. Karla wurde ganz beklommen zumute, und sie setzte sich andächtig auf den mit imitiertem roten Leder ausgeschlagenen Sessel. Fuchs nahm ein Formular, das oben die Firma trug: John Russels internationale Gastspielgesellschaft.

„Sie verpflichten sich also für drei Jahre bei Herrn Russel als dramatische Sängerin. Verpflichten sich, überall da zu singen, wo Herr John Russel Sie allein oder mit seiner Gesellschaft hinschickt.“

Karla nickte strahlend.

„Ja, natürlich“ ...

Altmann trat vor.

„Nein ... nicht überall. Deutschland ist ausgenommen.“

Fuchs drehte sich ärgerlich über die Störung auf dem Stuhl herum.

„Aber von Deutschland spricht ja kein Mensch“ ...

„Ja, eben darum. Ich möchte eben, daß Deutschland schwarz auf weiß ausgenommen wird.“

Fuchs blickte John Russel an. Der rauchte schläfrig und völlig interesselos eine Zigarette.

[S. 105]

„Meinetwegen“, fiel es in unterdrücktem Gähnen von seinen Lippenwinkeln herab.

„Schön — Deutschland ausgenommen.“

Der Kommissionsrat kritzelte etwas in das Formular hinein. Dann las er verschiedene Paragraphen vor, trug die Höhe der Gage ein ...

Karlas Herz schlug, wie wenn eine Faust gegen eine Tür donnere.

Abermals trat Altmann vor.

„Die Gage von hundert Dollar die Woche versteht sich natürlich nur für den Fall, daß meine Frau als Mitglied der Gesellschaft auftritt. Wenn Herr Russel meine Frau als Einzelkraft dem oder jenem Theater — in welchem Lande immer — abtritt, dann ist die Gage jedesmal vorher zu bestimmen.“

Fuchs warf den Federhalter wütend auf den Tisch.

„Sie reden hier nicht mit kleinen Kindern, lieber Altmann! Was sind das für Geschichten!“

Altmann beherrschte sich.

„Sehr wichtige Geschichten, Herr Kommissionsrat. Denn wenn Herrn John Russel die Lust anwandelte, meine Frau für zweitausend Mark pro Abend in New York oder London singen zu lassen, mit einer Garantie von achtmal im Monat, so würde Herr John Russel über vierzehntausend Mark in diesem Monat an meiner Frau verdienen. Das ist zuviel.“

John Russel wachte auf. Er warf den Zigarettenstummel in den nächsten Aschbecher und schlug sich mit den dickrippigen, rötlichen Lederhandschuhen auf das Knie.

„Oh ich sehe, Herr ... Herr ... beg your pardon — Herr Altmann — Sie haben Ihre Beschäftigung bereits gefunden.“

Er stand auf, näherte sich lässig dem Tisch und blickte über Fuchsens Schulter in den Vertrag. Um seinen rissigen, schmalen Mund lag ein ironischer Zug.

„Es fragt sich doch noch sehr, Herr ... Herr Altmann, ob ein Präriepferd hohe Schule gehen kann. Nehmen Sie[S. 106] mir den Vergleich nicht übel. Aber mir fällt kein besserer ein. Well — nehmen wir an. Nehmen wir an, Ihre Frau wird eine Patti — wer macht sie dazu? Ich. Solche Stimmen wie Ihre Frau haben nicht sehr viele, nein ... aber immerhin einige. Wenn Sie lange Umstände machen, dann — shakehands und Gott befohlen. Business müssen bei mir schnell erledigt werden, sonst verlier’ ich die Lust. Also: Wenn Ihre Frau als Einzelkraft auftritt, bekommt sie als Gage die Hälfte von dem, was der Direktor des betreffenden Theaters zahlt. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht? Ja oder nein? ... Ja?! Well“ ...

Es hätte gar nicht des verzweifelten Zupfens von Karla bedurft, die bald rot, bald blaß wurde. Altmann hatte seine letzte Spannkraft aufgeboten und wäre auch auf weniger eingegangen.

„Einverstanden“, sagte er mit trockenen Lippen.

„Na ... endlich! Herrschaften, ich habe auch noch andere Leute draußen“ ...

Der Kommissionsrat nuschelte die letzten Paragraphen in seinen weißen Schnurrbart hinein, während John Russel gelangweilt die Bilder an der Wand betrachtete, und schob dann den Bogen Karla zu.

Ihre Unterschrift war ihre erste Tat in dieser ganzen Verhandlung. So gezittert hatte ihre Hand nicht in der Sakristei, wie jetzt, da sie die Feder ansetzte. Fragend blickte sie auf Altmann.

„Unterschreiben Sie: Karla König, verehelichte Altmann“, sagte Fuchs. „So. — Nun Sie als Ehemann. Und zum Schluß, dear friend ...“

Er legte den Federhalter liebevoll zwischen John Russels Finger. Die Buchstaben waren nicht zu entziffern. Der Name sah aus wie ein Firmenzeichen.

Karla schnellte von ihrem Stuhl.

„Sind wir jetzt fertig?“

John Russel nickte.

„Fertig. Das heißt ...“

[S. 107]

Er hielt Karlas feste Hand, die sie ihm entgegengestreckt hatte, einen Augenblick zwischen den Fingern und fegte mit seinem Blick gleichsam über sie hinweg.

„Hände pflegen, Karla König! Das ist sehr wichtig. Und dann a bit of Aufmachung! Nicht so als Großmutter herumlaufen, in schwarzem Seidenkleid! Das lieben wir Amerikaner nicht. Einfache Frisur und schicke Toilette. Keine Stirnlöckchen. Die trägt keine Dame bei uns. Hübsches Schuhwerk, feine Handschuhe — nicht zu eng!“

Er übersah es, daß Karla blutrot vor ihm stand und Altmann mit lebhaft gefärbten Schläfen angelegentlich den Vertrag faltete. John Russel griff in die Brusttasche und holte eine Handvoll Scheine heraus.

„Hier sind zweitausend Mark, Herr Altmann, für ein paar Anschaffungen. Wenn Sie mehr brauchen — bitte. Ich werde Ihnen den Vorschuß ganz langsam abziehen lassen.“

„Danke.“

Zum zweiten Male dankte Ernst Altmann. Er hatte zwei kleine, runde Flecken auf seinem sonst so farblosen Gesicht, und selbst das Weiß der Augen war gerötet. Er drückte ein paar Hände, eine weiche, schlappe und eine harte, rissige — mit Nägeln, die so hart wie Knochen waren. Er stand unten auf der Straße und sah, wie Karla immer vor ihm herlief und wild die Notenmappe schwenkte.

„Wir wollen einen Wagen nehmen ... Drooschke! .. Halt! — Halt!“

Sie schrie aus Leibeskräften, und ein Straßenjunge parodierte: „Drooschke! ... Droooschke!“

Sie lachte und stieg ein. Es war Altmann, als zöge sie ihn gewaltsam nach.

„So komm doch ... Herrgott, bist du langweilig ...“

Das Pferd trottete los. Sie drückte Altmanns Hände. Sie zwickte ihn in den Arm.

„Wach’ doch auf, du! ... Wach’ auf, oder ich küsse dich hier mitten auf der Straße ab!“

[S. 108]

„Karla“ ...

Die starke, aus tausenderlei widerstreitenden Gefühlen gemischte Empfindung fand keine Auslösung bei ihm. Mit einem Federstrich hatte er sein ganzes Leben umgestürzt. Karla war nicht seine Frau. Er war ihr Mann.

Wie sie den Wagen herangerufen ... es war lächerlich, das nur zu bemerken. Aber es war doch anders, als es bisher gewesen .... Und so vieles würde anders sein ... so vieles, was demütigte und verwundete. Und kam es nicht von ihr — so kam es von den anderen ...

„Halt’ dich, Karla“ ...

„Ach was!“

Wie ein wildes Schulmädel hupfte sie auf den hohen Wagenkissen.

„Adele wird Augen machen. Adelens Gesicht, du! Vierhundert Mark als Versicherungsbeamter. Wie kommt dir das vor, sag’, Ernst? ... Wie kommt dir das vor? ... Und Schmerzchen, mein süßes, geliebtes Schmerzchen! Der nehme ich eine Nurse, wie Stowns eine haben. Nu gerade! Eine echte Nurse, mit englischem Häubchen. Und in Amerika soll sie eine Negerin als Wärterin kriegen ... eine richtige, dicke Negerin, du! Das finde ich rasend vornehm!“

Altmann schreckte plötzlich auf.

„Isolde — du denkst doch nicht etwa daran — —?“

Er brach ab. Sie hatte nichts gehört. Sie trieb den Kutscher zur Eile an:

„Los, los, Alterchen ... Sie kriegen auch ein fürstliches Trinkgeld ... fürstlich!“

Lachend plumpste sie wieder in den Wagen zurück.

„Du, Ernst, unter uns: gesungen habe ich wie ein Schwein. Ich dachte, Fuchs schmeißt mich raus! Mir lag auf einmal gar nichts mehr an der ganzen Sache ... gar nichts .... Komisch, was?“

Altmann antwortete nicht. Nur seine Hand legte sich schwer auf die ihre.

Verzierung, drei Sterne

[S. 109]

D

Die Abreise war auf den ersten November festgesetzt.

Karla lief mit rotgeweinten Augen umher. Probierte bei den Schneiderinnen und schluchzte zwischen zwei Angaben auf, las Luisen aus einem englischen Buch vor und barg den Kopf plötzlich, von wildem Weinen durchrüttelt, in den Händen.

Schmerzchen sollte in Berlin bleiben. Das war nicht auszudenken! Das war unmenschlich! Wer durfte sie von ihrem süßen kleinen Kinde trennen?! Sie verdiente so ungeheuer viel Geld — wer konnte ihr da verbieten, das Kind mitzunehmen?! ...

„Es ist gar nicht so viel Geld“, sagte Altmann.

Adele aber rief:

„Und wenn es Millionen wären — kannst du dein Kind den Fährlichkeiten solch einer Reise aussetzen, ja? Ihr werdet ja immerfort unterwegs sein, in der Eisenbahn gerüttelt, auf dem Schiff geschaukelt. Und dann der ständige Klimawechsel! Bedenke, daß die kleinen Kinder schon hier bei jedem Witterungsumschlag dem Brechdurchfall ausgesetzt sind! Dann kommt das Zahnen ... Wenn du Isoldchen verlieren willst, durchaus in den Tod jagen willst — bitte. Aber was ich dann von dir als Mutter zu halten habe, brauche ich dir nicht erst zu sagen!“

„Lächerlich“, sagte sie nur mit Achselzucken.

Luise machte nicht so viele Worte.

Über so etwas „debattierte“ man doch überhaupt nicht! Karla fuhr zu Papa. Sie hatte ihm nur brieflich von dem fabelhaften Engagement nach Amerika Mitteilung gemacht.

Ein Fräulein in entsetzlich rosigen Tripots und einem kaum bis zu den Knien reichenden Faltenröckchen öffnete.

„Herr König gibt gerade Unterricht.“ ...

Karla fuchtelte nervös mit ihrem Täschchen herum.

„Sagen Sie Papa, ich müßte ihn sprechen. Unbedingt. Wenn auch nur fünf Minuten.“

[S. 110]

Das Fräulein hüpfte zur Saaltür, während Karla in die Wohnstube ging.

Auf dem Mitteltisch stand noch unabgeräumt das Morgenfrühstück. Meißner Tasse, Silberkörbchen, so wie Papa es jetzt liebte. Die Schachzeitung lag aufgeschlagen neben der Tasse; am Rande hatte er mit dem Bleistift Notizen gemacht.

Auf der anderen Seite des Tisches stand Paulinens Arbeitskörbchen, angefüllt mit Florstrümpfen in allen Farben.

„Ja — Kleine ... was gibt’s? Du mußt entschuldigen ... ich habe zu tun.“ ...

Der Papa war in kurzen, hellgrauen Kniehosen und Escarpins. Ein blütenweißes, weiches Hemd bauschte sich unter den hellblauseidenen Trägern. Statt eines Kragens umgab ein weißseidenes, weiches Tuch seinen Hals. Die weiße Locke klebte ihm feucht an der Stirn, und seine Finger zwirbelten an einem weißen Batisttuch, von dem ein durchdringender Fliederduft ausging.

„Gratuliere übrigens zu dem Engagement. Scharmant, scharmant! Was kriegst du eigentlich?“

Er warf dabei einen scharfen Blick auf den Tisch, versenkte zwei Finger in die Zuckerdose, tauchte das ergriffene Stückchen in die Sahnenkanne und zerdrückte es mit leise schnalzendem Geräusch am Gaumen.

Karla nannte die Summe und wollte weitersprechen. Aber er schnitt ihr das Wort ab, mit einer kurzen, eleganten Bewegung seiner kleinen Hand.

„Wenig, liebes Kind — sehr wenig. Hoffentlich kommst du aus. Fährt Altmann mit, ja? ... Gut, gut. Dein Mann scheint ein sparsamer Herr zu sein. Einer muß sparen können in der Ehe. Ich hab’s nie gekonnt .... Dafür ... tja ... na ... das sind alte Geschichten. Pauline ist übrigens auch sparsam — aber mit Maß. Habe die Kündigung zurückgenommen ... tja. War immerhin nett gemeint, daß sie dich behielt. Wie geht’s dem kleinen Fräulein, wenn man fragen darf? Gut, ja? Wann fahrt ihr?“

[S. 111]

Er tauchte ein zweites Stück Zucker in das Kännchen, mit zierlich gespreizten Fingern.

Karla sah ihm mit großen Augen zu. Was hatte sie eigentlich erwartet von dem zierlichen, genäschigen alten Herrn? ... Rat? ... Unterstützung ihres Wunsches? Mitleid? Sie wußte jetzt ganz genau, daß er ihr nicht geben konnte, wonach sie verlangte. Nur um es gesagt zu haben, murmelte sie:

„Du warst doch drüben in Amerika. Da wollte ich dich fragen, ob ich nicht Schmerzchen mitnehmen könnte? ...“

„Wen mitnehmen?“

Der Papa blinzelte verständnislos mit den Augen.

„Wen — — —?“

„Nun, mein Kind — Schmerzchen!“

Der Papa pirouettierte auf seinem Absatz, hüpfte dann wie ein Ball in die Luft und machte einen Entrechat.

„Schmerzchen! Entzückend! Also — Schmerzchen soll mit nach Amerika? Sage mal, wie bist du auf den Namen gekommen?“

„Aus meinen Schmerzen heraus ... so.“

Karla warf ihr Täschchen auf den Tisch und fing wieder an zu weinen.

„Ta ta ta ... Nur kein Drama, bitte, Karla ... Du weißt, ich kann Tränen nicht leiden ... ich ...“

Er tupfte ihr ziemlich ratlos mit dem Tuch über die Wangen.

„Ich habe ja nichts gegen den Namen. Originell! Ich liebe, was originell ist. Schmerzchen — scharmant. Ich schicke Schmerzchen heute noch Schokolade. Zu jung — wie? Tja ... schwer, den Geschmack so kleiner Damen zu treffen .... Aber nach Amerika? Wahnsinn! Kunst und Kind — haben nur den ersten Buchstaben gemeinsam. Tja ... liebes Kind ... Künstlerin ... das ist ... das muß ein Wesen sein so zwischen Weib und Göttin. Nichts Irdisches ... sonst wird nichts draus. Haus ... Küche ... Windeln ... sehr ehrenwert, gewiß ... aber puah! Schon der Gatte zuviel ... viel zuviel .... Aber nicht unüberwindlich.[S. 112] Den elendesten Geliebten akzeptiert man eher als den trefflichsten Gatten! Das ist so! Eine Künstlerin ist Allgemeingut! Ein jeder muß glauben können, daß er sie für sich gewinnen kann. Das schafft Konkurrenz um sie herum, das gibt ihr Erfolg. So war es immer, und so wird es bleiben! Und wer’s nicht glaubt, der spürt’s am eigenen Leibe! Für den Anfang ist Altmann ganz gut. Netter, anständiger Kerl. Sieht gut aus. Ein bißchen Holzfigur — macht nichts. Zieh’ nur los mit ihm ... aber nachher — Vorsicht! ... Und Schmerzchen ... die hat ja ein paar Tanten ... vortrefflich. Die sollen sich nur um sie kümmern. Dazu sind Tanten da. Sei froh, daß du meine Einzige bist. Du kommst nicht in Verlegenheit, Tante zu werden! ...“

Er tätschelte ihre Wange und lachte mit seiner harten tenoralen Stimme vor sich hin.

„Jetzt muß ich aber zu meinen Schülern. Also ... pa, Kleine .... Wann fahrt ihr? Laßt mich’s wissen — ich komme dann zur Bahn .... Du, ich höre Pauline, die kommt vom Markt.“

Er tänzelte zur Tür.

„Was bringen Sie mir Schönes, Pauline, he?“

Karla sah durch die offene Tür, wie der Papa neugierig in der Markttasche herumstöberte; aber Pauline schubste ihn beiseite, als sie Karla erblickte.

„Die junge Frau ... das ist aber schön! Was macht denn unser Schmerzchen? ...“

Der Papa verschwand hinter der Saaltür, und gleich darauf ertönte eine Gavotte am Klavier und die scharfen, nasalen Kommandorufe des Papas, der mit einem langen dünnen Stock die Fußstellungen korrigierte, während er sich mit dem Oberkörper graziös hin und her wiegte. — — —

Schmerzchen blieb in Berlin. Selbst Pauline hatte zugeraten. Und sie hatte den Ausschlag gegeben. Altmann nahm einen Hundertmarkschein und drückte ihn Adele „fürs erste“ in die Hand.

[S. 113]

„Wenn du auch sonst etwas brauchst ... ich bitte dich, halte nicht zurück damit. Ich werde dir ohnehin nie vergelten können, was du tust.“

Er kaufte ihr eine Winterjacke, da die ihre alt und recht schäbig geworden war. Luise bekam eine dunkelrote seidene Bluse. Auch für die Kinder fiel etwas ab: ein Tanzstundenkleid für Vicki und für Fritz ein Einsegnungsanzug. Wieder kamen zweihundert Mark zusammen. Karlas Ausstattung, die Anschaffung von Schiffskoffern, etlichen neuen Westen und Krawatten für ihn selbst — seine Anzüge fand er noch tadellos — das alles zusammen, mit einigen Ausgängen und einer Brosche für Pauline aus leichtem Gold, fraß doch ziemlich zwölfhundert Mark auf.

„Ach was,“ sagte Karla, „der Amerikaner hat eine offene Hand. Dem ziehe ich einen neuen Vorschuß wie nichts aus den Händen.“

Sie war, wenn nicht gerade die Verzweiflung über die bevorstehende Trennung von Schmerzchen sie packte, lustig und guter Dinge. Vicki begleitete sie oft zu den Schneiderinnen, und ihre Augen weiteten sich vor Staunen und Neid, wenn es auch nur recht bescheidene Stoffe und Zutaten waren. Aber die leuchtenden Farben, das Gleißen der billigen Seide und das Schillern der glitzernden Überwürfe raubten ihr fast den Verstand, weckten alle ihre schlummernden Begierden.

Karla hatte nicht viel eigenen Geschmack. Aber ihrer molligen Jugend und ihrer jetzt wieder frischen Gesichtsfarbe stand alles gut.

Auf dem Heimwege trat sie mit Vicki in eine Konditorei ein und ließ Vicki „aussuchen“.

„Tante, du bist himmlisch! ...“

Die Zeiten hatten sich geändert. Und Karla durchlebte die neuen mit frohem Genießen, ohne viel nachzugrübeln. Wenn Vicki vor Entzücken zerfloß beim Anblick eines Bandes oder eines Gürtels, dann kaufte Karla es ihr.

„Sei nur recht gut zu Schmerzchen, Vicki, wenn ich nicht da bin.“

[S. 114]

Und Vicki lachte nicht mehr über den Namen, sondern nannte ihn auch. Meist ging Altmann mit Karla aus. Schon, damit sie nicht zuviel „verläpperte“. Aber im Grunde war sie keine Verschwenderin. Jetzt, da ihr bescheidener Luxushunger gestillt war, blieb ihr nur eine kleine Genäschigkeit: Mohrenköpfe und Windbeutel verschwanden in großen Mengen in ihrem Magen, und es kam nicht selten vor, daß sie sich ein viertel Pfund Konfekt oder Schokolade kaufte und heimlich aus der Tüte naschte.

Das hatte sie wohl von ihrem Vater.

Ihre frohe Stimmung hielt selten lange in der Culmstraße an. Immerhin machte sie Adele gern diese oder jene Freude. Mehr um sich der Dankesschuld zu entledigen, als um Dankbarkeit zu beweisen. Wie ein Schulmädchen aber freute sie sich, Luisens strenger Aufsicht zu entfliehen. Mit dem alternden Mädchen verband sie noch weniger Gemeinsames als mit Adele. Vielleicht war es das Antikünstlerische dieser zwei kleinbürgerlichen Frauennaturen, wodurch sie ihr unbewußt immer fremd blieben.

Pauline war die einzige.

Aber Adele hatte erklärt, Pauline wäre ja sehr nett, doch immerhin ein Dienstbote. Wenn „der Papa“ es gestattete, daß sie mit am Tische saß ... so konnte das doch nicht maßgebend für eine Frau Dr. Maurer sein!

Abends sang Karla, und Altmann begleitete sie. Adele hatte noch allerlei in der Wirtschaft zu tun, Dr. Maurer aber saß in einem Sessel und ließ Karlas Stimme über sich hinfluten. Manchmal brannte sie ihn wie Feuer, dann wieder erfrischte sie ihn wie eine kühle Brise.

Wenn sie aufhörte, fragte er: „Willst du nicht weitersingen?“

Sie hörte die Bitte heraus und lächelte. So ein guter Kerl war der Alwin — so ein dummer, guter Kerl!

Ihm zu Liebe sang sie sogar Schubert. Aber dann meinte sie jedesmal:

„Mir ist, als ob ich ein ausgewachsenes Kleid anhätte, wenn ich Lieder singe.“

[S. 115]

Dr. Maurer lächelte ein bißchen traurig. Er hatte jede Kritik verloren.

„Du singst auch Lieder schön!“

Manchmal träumte er sich an Altmanns Stelle.

Wenn Karla seine Frau wäre! Wenn er jetzt mit ihr so in die weite Welt hinausfahren dürfte ...! Er stand auf und legte seine Hände auf ihre Schultern.

„Ihr habt’s gut, ihr zwei!“ ...

Seine weiche, mollige Hand war heiß, und Karla spürte ihr Brennen durch das Kleid. Sie machte sich frei — ein bißchen verlegen und gutmütig.

„Komm auch mit, Alwin ...“

Sie dachte sich gar nichts dabei. Aber ihm floß das schwere Blut langsam aus den Wangen.

„Ja, das wäre was ... mitkommen ... und all den Krempel schießen lassen!“

„Was redest du für dummes Zeug, Karla“, unterbrach Altmann streng.

Er kannte jetzt seinen Schwager. Der war rasch umnebelt! Hatte ihn, wer wollte. Der Augenblick war alles bei ihm.

Dr. Maurer mochte wohl dasselbe denken. Und er spürte wieder den Brodem der Kaffeegemütlichkeit, die ihn eingefangen, den herben Glanz seines kurzen geistigen Aufstieges, den Rausch, den er vom grünen Rasen mitgebracht — alles versunken im trüben Alltag; nichts Helles, Befreiendes war in seinem Leben mehr. Eine abgearbeitete Frau, zwei Kinder, die ihm noch wenig Freude machten, eine enge Häuslichkeit und Stöße von Heften, die er mit Strömen roter Tinte durchzog — ein Jahr ums andere.

Es kam vor, was sonst nie geschehen war, daß er, selbst wenn er den Abend zu Hause verbracht hatte, das Schlafzimmer erst aufsuchte, wenn Adele fest schlief. Er saß in der Wohnstube und las und rauchte.

Wenn aber Karla gesungen hatte, dann ging er leise in sein Zimmer, blendete die Lampe ab, damit sie Fritz nicht[S. 116] wecke, der seinen schweren Jugendschlaf schlief — und setzte sich an den Schreibtisch.

Er tauchte auch die Feder ein und schrieb. Schrieb eine Seite, die zweite. Dann strich er alles wieder durch oder zerriß es ... ganz leise — in heimlicher, verbissener Wut, die keinen Ausweg wußte. — —

Am Vorabend der Reise hatte Adele eine von Altmann gestiftete Ananas zur Bowle aufgesetzt. Die Kinder hatten aufbleiben dürfen, und Karla lief in einem alten Fähnchen herum, denn die neuen Kleider lagen schon in den offenen Koffern, und das Reisekleid aus dunklem Braun, mit hübschen, hellen Lederklappen sollte erst morgen eingeweiht werden.

Schmerzchen schlummerte tief und ahnungslos in ihrem Wagen, die Flasche im Arm. Adele dachte an ihre Nachtruhe und hatte Karla strengstens untersagt, das Kind noch einmal herauszunehmen.

„Nein, nein“, versprach Karla und ballte ihr nasses Taschentuch zusammen.

„Ich tu’ ja nichts ... nur ansehen muß ich es ... ansehen ...“

Luise legte streng mahnend den Arm um sie.

„Man soll Kinder nicht ansehen, wenn sie schlafen ... davon wachen sie auf. Komm — sing’ uns was zu guter Letzt.“

„Ich bin gerade in der Stimmung!“

Dr. Maurer blickte auf die Schwestern, die Kinder und schwieg. Aber Karla sah ihn an in diesem Augenblick — und er tat ihr leid.

Adele brachte die Bowle, das Dienstmädchen folgte mit einem Berg kleiner Kuchen, die Luise mitgebracht hatte.

„Ich bin wie zerschlagen“, sagte Adele und fiel aufs Sofa.

„Du Gute ... Liebe.“

Altmann hätte sich in diesem Augenblick für die Schwester vierteilen lassen. Luise Altmann schenkte die Gläser voll.

[S. 117]

„Könnt ihr nicht warten, bis die Großen genommen haben“, herrschte sie die Kinder an, die ihre Hände verdächtig dem Kuchenteller näherten.

Man stieß an. Alwin Maurer sagte was von froher Reise, glücklicher Wiederkehr — von viel Lorbeeren ...

„Und viel Geld“, flickte Adele ein.

Das war doch wirklich der einzig gültige Grund, um übers Wasser zu gehen. So recht gefallen wollte den Schwestern die Sache überhaupt nicht. Was konnte inzwischen mit dem Kinde passieren? Und dann überhaupt — gab es nicht in Deutschland große Bühnen genug? Wenn schon durchaus Theater gespielt werden mußte! Und als was begleitete eigentlich Ernst seine Frau? Er hatte undeutlich gemurmelt: „Ich werde dem Direktor zur Hand gehen.“

„Also stellvertretender Direktor?“ hatte Luise gefragt.

„Nicht ganz. Mehr gelegentlich ... wenn er meiner gerade bedarf.“

Das Ehrgefühl der Schwestern litt. Und sie fragten nicht mehr. Jetzt stießen sie mit den Gläsern an und dachten sich ihr Teil. Sie hatten etwas gegen Karla. Es kam sie bitter an, daß Karla einem gewissen Glanz entgegenging, während ihr Bruder taten- und ruhmlos im Schatten blieb.

„Na, vertragt euch nur immer“, sagte Luise.

„Und spart“, ergänzte Adele.

Draußen läutete es. Und da es bald halb zehn war, so blickten alle befremdet auf. Das Mädchen meldete, eine Frau wäre draußen und frage nach der jungen Frau Altmann.

Karla schlug in die Hände. Pauline — das war Pauline! Sie zog sie ins Speisezimmer, wo jetzt nur eine kleine Lampe brannte. Pauline brachte was Selbstgebackenes für die erste Reise. Karla umarmte sie.

„Ach, Pauline, wenn ich Schmerzchen bei Ihnen lassen könnte, wenn ....“

Pauline schüttelte kummervoll den Kopf.

[S. 118]

„Tja ... nun ist aber doch der Herr Papa so ...“

„Ja ... das ist er — —“

Aber der Papa hatte Pauline ein kleines Uhrchen zum Anstecken für Karla mitgegeben. Ein entzückendes kleines Uhrchen, mit einem Bajazzo in roter Emaille darauf, der auf einer Perlenstange balancierte. Und auf der Innenseite hatte er eingravieren lassen: „Zur Ausreise meiner Kleinen ins Leben mit der Bitte, das Gleichgewicht zu behalten.“

So klein waren die Buchstaben, daß Karla sie kaum entziffern konnte.

„Der Herr Papa hat Augen wie ein Adler; hat gleich bemerkt, daß ein Komma fehlt.“

Pauline sagte das mit einem gewissen Stolz.

Nun führte Karla sie an Schmerzchens Wagen. Es gab wieder ein paar Tränen, heiße Bitten und feierliche Versprechungen.

„Kommst du nicht, Karla?“ rief Luise.

„Ja ... ja ... gleich!“

Sie hätte Pauline zu gerne ein Glas Bowle angeboten, aber nun waren doch die Schwägerinnen so komisch ...

„Ich schreibe Ihnen, Pauline. Meine erste Karte aus Amerika, die kriegen Sie ...“

„Laß sehen“, sagte Adele, als Karla mit dem hoch in der Hand blinkendem Uhrchen wieder eintrat. „Sehr hübsch. Dein Papa scheint viel Geld zu verdienen.“

„Ich hoffe doch“, entgegnete Karla spitz.

Die Kinder wollten nun auch die Uhr sehen. Sie schrien und lachten.

Altmann mußte sehr laut sprechen, um sich verständlich zu machen.

„Wie? Was ...? Ich verstehe nicht ... Kinder seid doch ruhig ....“

Alwin Maurer stand auf. Sollte das der letzte Abend sein? Würde er an diesen Höllenlärm denken müssen, wenn er sich Karlas Bild zurückrief?

[S. 119]

„Wollen wir nicht doch noch etwas Musik machen?“

Es klang fast bittend.

„Ja .. das ist recht ... ich will Luise inzwischen Karlas Sachen zeigen, die heute noch gekommen sind ....“

„Ich geh’ mit ....“

Vicki schoß als erste durch die Tür. Die Schwestern folgten. Fritz lümmelte sich am Ofen herum.

„Na — und du ... in die Klappe, was?“ ...

„Nöö ... ich bleibe noch.“

Fritz blieb immer, solange es noch etwas auf den Schüsseln gab.

Karla sang — jubelnd und tief ergreifend. So war ihr Abschiednehmen. Sie stand auf der Schwelle eines neuen Lebens, und die Bängnis, der sie sich in manchen Stunden nicht erwehren konnte, gab ihrer Stimme manchmal eine wehe, zarte Süßigkeit.

Als sie endete, kreuzte sie die Hände unter dem Kinn und atmete tief auf.

„Danke, Karla ... von ganzem Herzen danke ich dir ....“

Alwin Maurer schüttelte immer wieder ihre Hand — so krampfhaft, daß sie bald aufgeschrien hätte. Aber das Lächeln blieb wie eingefroren um ihre Lippen. Wie furchtbar mußte das für den guten Alwin sein, daß er ihre Stimme so lange nicht mehr hören würde ... so sehr lange nicht ...! Sie hätte weinen mögen um ihn ... fast so sehr wie um Schmerzchen.

Dr. Maurer schluckte ein paarmal hintereinander. Die Schüler kannten das an ihm, wenn ihn etwas stark erregte. Schluckte, ließ Karlas Hand los und trat zurück. Dabei stolperte er über Fritzens vorgestreckte, unförmige Füße.

„Zum Donnerwetter, Bengel ... paß doch auf ...“

Er brach ab.

Fritz blickte mit glänzenden, starren Augen auf Karla. Als wollte er sie verschlingen, und doch ehrfürchtig, wie auf ein Wunder.

[S. 120]

„Na, was ist los, Junge ... was ist los?“

„Wie die singt ...“

Es klang lächerlich häßlich, wie das so hervorgestoßen wurde in der knabenhaft plumpen Art und mit der zum ersten Male mutierenden Stimme.

Aber Karla lachte nicht. Und Dr. Maurer sagte — weicher, als er sonst zu Fritz sprach:

„Mach’ Schluß, Junge. Was Besseres kommt nicht nach.“

Altmann sammelte das Letzte von Karlas Noten zusammen. — — —

Bildhübsch sah Karla am nächsten Morgen aus, als sie ihren Kopf mit dem langen, braunen Schleier zum Abteilfenster vorbeugte. Ihre Lider waren zwar geschwollen, und ihre Finger spielten aufgeregt mit der Kante ihres Taschentuches. Es traf sich, daß es ein Sonntag war, und die ganze „Culmstraße“ war vollzählig auf der Bahn.

„Küßt mir Schmerzchen.“ Sie brachte es kaum noch über die heißen, roten Lippen. Gleich darauf flatterte ihr Tüchlein.

„Der Papa kommt noch ... der liebe Papa!“ ...

Er kam — elastisch, elegant, in seinem auf Taille gearbeiteten Überzieher. Er hielt ein paar Teerosen in der Hand und vollführte mit ihnen zierliche Figuren in der Luft. Dann warf er sie Karla ins Fenster — graziös und sicher, und begrüßte die Familie mit einem mehrfachen kurzen, höflichen Neigen des Zylinders.

„Du, Kleine ... im Dezember findet in New York ein großes Schachturnier statt. Wenn du gerade da bist, grüße Tschigorin von mir. Nicht vergessen! Schreibe ihm. Er wird schon kommen. Sage, ich erwarte ihn bei mir im April. Tschi—go—rin ... Herrgott, Kleine, den kennt doch jedes Kind! ... Nicht weinen ... ta ta ta ... Unsinn — Paa — Paa!“

Der Papa war ganz allein da. Er sah niemanden und kümmerte sich um niemanden. Hinter ihm flatterten[S. 121] Tücher auf, flogen Hüte in die Luft. Er lachte, er schickte Kußhände.

Altmann stand hinter Karla. Er sah älter aus als sonst. Im übrigen war sein Gesicht unbeweglich wie immer. Vielleicht noch etwas starrer. Er haßte Rührszenen auf offener Straße. Und es ging ihm um mehr als nur um einen Reiseabschied.

Verzierung, drei Sterne
K

Karla packte. Es war gar nicht leicht, die langen Schleppkleider in den schmalen Koffern kunstgerecht zusammenzulegen. Die Nordeni reiste nie anders als mit einer Zofe. Nordeni ... zum Lachen! Das „i“ hatte sie sich angehängt wie einen Similistein. John Russel hätte es gern gesehen, wenn sie selbst sich King statt König genannt hätte. Aber sie dachte nicht daran.

Hochrot im Gesicht, mit offener, weißer Morgenjacke lief sie zur Tür des Nebenraumes: „Schreibst du noch lange?“

„Ich bin gleich fertig. Soll ich etwas Besonderes bestellen?“

„Weiß nichts. Grüße nur.“

Adele zog in eine neue Wohnung. Hauptsächlich Schmerzchens wegen. Natürlich. Und es war nur billig, daß Ernst einen Umzugsbeitrag schickte. Vor drei Monaten war Vicki an verspätetem Scharlach erkrankt. Karla kabelte jeden Tag in die Culmstraße, wie es Schmerzchen ginge. Und immer dieselbe Mahnung: „Nicht sparen. Kind isolieren.“ Vickis Krankheit kostete sie sehr viel Geld — und dann die Erholung an der See! Aber davon hatte dann auch Schmerzchen was gehabt, hatte mit bloßen Füßchen im warmen Dünensand herumgepaddelt. „Das Körperchen wird schon ganz braun“, schrieb Adele.

[S. 122]

„Die Ruhe und die gute Luft tun Adele auch gut“, sagte Altmann.

Karla fragte nicht, was an Geld draufging. Nur, als sie von der Zofe der Nordeni sprach, hatte Altmann gemeint: „Vernünftig sein, Karla ... wir brauchen ohnehin eine Unmenge.“

Sie nickte. Ja ... das mochte wohl stimmen. Bei John Russel war sie mächtig im Vorschuß, und es war ihr beinahe unheimlich, wie leicht er ihr jede verlangte Summe gewährte.

Freilich verlangte er Toiletten. Hatte nur kalt aufgelacht, als sie ihre mitgebrachten Schätze gezeigt hatte, damit er das Kleid für ein Konzert wähle, in dem sie mitwirken sollte. Ganz wütend war sie über die Geringschätzung gewesen. Altmann übernahm es, mit Russel zu sprechen. Karla war ja schließlich nicht als „Salondame“ für französische Ehebruchskomödien engagiert, sondern als dramatische Sängerin. Auf die Stimme kam es an, und wenn sie in großen Linien der Mode folgte, so durfte niemand mehr von ihr verlangen!

„Verlange ich auch nicht, Herr ... Herr ...“

Es wurde John Russel noch immer schwer, sich Altmanns Namen zu merken.

„Siehst Du“, sagte Altmann sehr selbstsicher und zufrieden von dem Ergebnis seiner Unterredung.

Karla freute sich auf das Konzert, das in dem Hause eines Milliardärs stattfinden sollte und zu dem die Spitzen der Gesellschaft ihr Erscheinen zugesagt hatten. Sie konnte kaum essen und schlafen vor Aufregung. Aber als sie John Russel fragte, für welche Stunde sie sich bereithalten sollte, sah er sie kalt an und warf ihr die Antwort hin:

„Sie singen ja gar nicht, sondern die Nordeni.“

„Siehst du ... siehst du“, rief sie zu Hause und trommelte auf den Tisch.

Die Tränen saßen locker bei ihr und überfluteten ihre Wangen.

[S. 123]

Altmann suchte sie zu beruhigen.

„Lächerlich, Karla ... Sei froh, daß du einen Tag Ruhe hast. Wir gehen ins Deutsche Theater und verbringen einen netten, gemütlichen Abend.“

„Ich hätte aber hundert Dollar für das Konzert bekommen“, schluchzte Karla.

Die Nordeni renommierte haarsträubend. Der Hausherr hätte ihr die Hand geküßt, die Damen hätten sich um ihr Taschentuch gerissen, das sie auf dem Flügel hatte liegen lassen ... Karla konnte das alles schwarz auf weiß in einem der amerikanischen Klatschblätter lesen. Und dazu noch, daß die „Künstlerin außer einem fürstlichen Honorar ein Armband, mit Rubinen und Brillanten besetzt, als Geschenk erhalten hatte“. Folgte die Beschreibung der Toilette.

Am nächsten Morgen ging Karla, ohne ihrem Manne etwas zu sagen, in die Office von John Russel.

John Russel saß in Hemdsärmeln vor seiner Schreibmaschine, die er bei Karlas Eintreten durch einen Druck auf einen Knopf in einer Versenkung verschwinden ließ, worauf sich die Tischplatte selbsttätig zusammenschloß.

Well ... Karla König ... what is the matter?“

Karla wußte eigentlich nicht recht, wie sie ihre Bitte um Vorschuß einkleiden sollte. Er hatte schon mehrfach gegeben; aber es waren doch immer kleinere Summen gewesen. Sie druckste ein bißchen herum.

„Sie brauchen Geld — wie? ... Genieren Sie sich doch nicht. Wieviel? ... Tausend Dollar? Lächerlich ... ich gebe Ihnen gern zwei. Da können Sie was anfangen.“

„O nein“, wehrte Karla erschreckt ab. „Mein Mann ..“

„Ihr Mann geht mich gar nichts an. Ich habe nicht Ihren Mann engagiert. Ihr Mann macht eine Glucke aus Ihnen! Hätte ich das gewußt —“

Karla blickte ihn furchtsam an.

„Aber ich bin doch ganz unerfahren. Mein Mann sorgt für mich.“

„Ja, und Sie verdienen für ihn. Das heißt, Sie verdienen[S. 124] nicht. Weil er Sie am Rock festhält, wenn Sie mal losgehen wollen. Vielleicht bitten Sie ihn auch um Erlaubnis, wenn Sie sich ein Paar Handschuhe kaufen wollen? ... Sie laufen herum, angezogen wie eine Gouvernante. Wissen Sie nicht, daß Ihr Beruf Ihnen Pflichten auferlegt? Glauben Sie, die Amerikaner zahlen ihr Geld, um eine kleine governess zu sehen?“

„Und meine Stimme?“

Er zuckte die Achseln.

„Stimme ... Stimme! Die ist doch erst etwas wert, wenn ich was aus ihr mache. Haben Sie das noch nicht verstanden? Nein? Dann können Sie mir leid tun!“

„Mein Mann ...“

„Kommen Sie mir nicht immer mit Ihrem Mann. So ein Mann, der nichts ist als ‚Mann‘ — macht mich nervös. Sagen Sie ihm lieber, er solle sich einen anständigen Frack machen lassen; er sieht auch aus wie ein Schulmeister in seinem Hochzeitsanzug, mit den altmodischen Schößen. Darin passen Sie gut zusammen! Oder, sagen Sie mal ... er ist doch Schauspieler! Ich kenne den Direktor vom Deutschen Theater hier. Wenn ich dem ein paar Worte sage ... bring’ ich ihn dort unter. Da kann er seine ältesten Lumpen auftragen, wenn er will. Überlegen Sie sich’s. Und da sind zweitausend Dollar. Und hier ... die Adresse von einem Modesalon. Zehn Prozent Rabatt, wenn Sie von John Russel kommen. Die wissen dort schon, was ich liebe. Da ist auch noch die Karte von meinem Schneider ... warten Sie ... hier! Da kann Ihr Mann hingehen.“

Karla wechselte immerfort die Farbe. Es war alles so schrecklich demütigend und häßlich.

„Wir haben ein Kind, wir müssen sparen!“

Russel lachte kurz vor sich hin. Sie war eine Gans, diese König. Schade, daß er sich mit ihr beschwert hatte ...

„Sparen heißt verdienen, aber nicht: nichts ausgeben! Wenn Sie nichts ausgeben, kommen Sie auch nicht zum Verdienen. Das ist meine Meinung. Im übrigen machen[S. 125] Sie, was Sie wollen. Aber wenn nichts aus Ihnen wird, dann bedanken Sie sich bei Ihrem Manne. Nur schade um die Stimme! ...“

Karla zupfte an ihren Handschuhen, drehte ihren Schirm wie einen Quirl in der Hand und steckte den Scheck schließlich in ihr Täschchen. Sie unterschrieb mit großen, dicken Buchstaben „Karla König“, ohne „Altmann“.

„Ist nicht nötig“, hatte John Russel gesagt.

Abscheulich war dieser Russel — gemein! Sie hätte ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen.

Und sie war dann immer doppelt zärtlich zu ihrem Manne. Aber diesmal ... ihr schien es, als hätte Russel nicht so unrecht. Sie waren eben beide aus kleinen Verhältnissen — Altmann und sie — und hatten den weiten Blick nicht.

Sie löste den Scheck ein und bestellte ihre Kleider. Sie zitterte vor dem Augenblick, da sie Altmann diesen Vorschuß beichten mußte.

Ganz kalt sah er sie an und sagte mit eingezogenen Mundwinkeln: „Es ist ja dein Geld. Du kannst natürlich damit tun, was du willst.“

Sie wagte es nicht mehr, von einem neuen Frack zu sprechen.

Bevor sie New York verließen, durfte sie auch in einer ihrer neuen Toiletten bei Astrong singen. Entweder die Nordeni hatte haarsträubend gelogen, oder die Milliardäre waren verschieden wie Tag und Nacht. Die Künstler waren von der Gesellschaft durch eine rote Samtschnur mit goldenen Quasten abgegrenzt. Die Damen wandelten um die Schnur herum und musterten die Künstler halb dreist, halb gelangweilt durch ihre edelsteinbesetzten Lorgnetten und tauschten mit ihren befrackten Begleitern Bemerkungen aus. Karla fühlte, wie die Füße ihr brannten in den kleinen Goldschuhen, auf die die Blicke der märchenhaft reich gekleideten Frauen fielen. Die Geigerin flüsterte ihr zu: „Man trägt in diesem Jahr keine Goldschuhe mehr.“

„So“ ...

[S. 126]

Karla setzte sich auf einen kleinen seidenen Hocker und zog die Füße ein. Ihre weißbehandschuhten Hände (man trug in diesem Jahre auch keine weißen, sondern nur schwarze, lange Handschuhe) nestelten aufgeregt an den Notenblättern. Wenn die Leute sie noch lange so anstarrten, dann ... dann riß sie die Handschuhe ab und warf sie ihnen ins Gesicht oder streckte ihnen die Zunge aus! Aber die Gäste verliefen sich allmählich, und nach einigen Minuten begann das Konzert. Die Künstler wurden von einem befrackten Herrn einzeln hinter der Schnur hervorgeholt und nach ihrer Nummer wieder hinter die Schnur zurückgebracht.

Karla zitterte vor Wut. Als sie aber auf das Podium trat, das mit hellblauem Samt ausgeschlagen war, wurde sie ganz blaß, da sie die Pracht erblickte, die sich vor ihr ausbreitete. In der ersten Reihe saß eine blonde Frau in schwarzem Schleiertüll, dessen feines Rankenmuster mit echten kleinen Brillanten eingefaßt war; erbsengroße Diamantknöpfe schlossen die Spangen der schwarzseidenen Schuhe und eine lange Kette flach gefaßter Brillanten fiel in doppelter Reihe von dem schlanken Halse herab bis zu den Knieen. Neben ihr saß eine üppige Brünette, deren lichtblaues, langschleppendes Unterkleid von einem Netz aus Goldfäden überdeckt war, das mit langen Gehängen aus echten Perlen um die Schleppe, die kurzen Ärmel und die Brust verziert war. Hinter den Sesseln dieser zwei Damen standen unbeweglich je zwei Diener, deren Amt es offenbar war, darauf zu achten, daß sich nicht etwa einer der kostbaren Edelsteine von dem Kleide löste und in dem Gefältel fremder Schleppen verlor.

Die in die Wände eingelassenen und mit Gold abgesetzten, geschliffenen Spiegel gaben das Funkeln der Edelsteine, das Gleißen der wundervollen, gold- und silberschimmernden Stoffe hundertfach wieder. Das Licht aus zahlreichen goldenen Blumensträußen, die an der Decke angebracht waren, sprühte über die tief ausgeschnittenen elfenbeinstumpfen und rosig schimmernden Nacken, die scheinbar[S. 127] kunstlosen, in weiten Wellen gesteckten glänzenden roten, braunen und blonden Haare. Da, wo die Reihen der hellblauen Sessel mit geschnörkelten Goldlehnen endeten, erhoben sich in einförmigem Schwarz und Weiß die Gestalten der Männer. Bartlos wie Schauspieler waren sie alle. Hatten scheinbar gutmütige, ein bischen schwammige Züge. Nur das fast allen gemeinsame, vorgeschobene Kinn und der verschleierte schwere Blick gab ihren Gesichtern bei näherem Zusehen einen Zug neronischer Gefühllosigkeit. Ihre Hände konnten trotz aller Pflege nicht immer ihre Herkunft verbergen. Sie protzten weder mit Ringen, noch mit Orden. Die Größe ihres Reichtums zeigten ihre Frauen zur Genüge auf ihren Schultern an; ihre Stellung aber war durch ihre Anwesenheit in einem solchen Hause klargestellt. Zwischendurch gab es auch junge Leute, deren Gesichtszüge der Reichtum des Vaters veredelt hatte. Ihre Stirnen waren breit und nichtssagend, ihre Augen hatten die Schwermut des freudlosen Genießens, aber unter ihren Frackärmeln zeichneten sich die Muskeln von Berufsathleten ab. Sie besuchten diese Salons, in denen sie sich langweilten, um eine französische Prinzessin zu fischen oder einer Tingeltangelöse auszuweichen, die sie überall hin verfolgte, um ihnen zum mindesten ein Eheversprechen abzulisten, das sie zu Geld machen konnte.

All diesen Männern war der Frack die Abenduniform. Wo sie sie spazieren führten, innerhalb ihres Kreises, war ihnen gleichgültig, ebenso wie ihnen gleichgültig war, was sie über sich ergehen lassen mußten. Die Patti, Jean de Reczke hatten den Vätern einige Emotionen bereitet, als sie anfangen durften, an „Kunst“ zu denken — die jungen Leute hatten die Bewunderungen der Väter übernommen und noch nichts Neues entdeckt. Das war dort übrigens Frauensache. Aber auch die Frauen übernahmen gern geprägte Werte und ließen es sich erst sagen, für wen sie sich zu erwärmen hatten.

Der Geigerin ging ein recht guter Ruf voraus. Sie war eine mollige Blondine, und der Salon ihres Mannes, der[S. 128] in Paris ein berühmter Klavierspieler war, vereinigte die beste Gesellschaft. Einige junge Damen aus den upper Vierhundert hatten Geigenunterricht bei ihr in Paris genommen ... sehr nett .... Man hatte ihr lebhaft mit den Fingerspitzen zugeklatscht.

Aber — Karla König? ... Ein unbeschriebenes Blatt.

Man hörte nicht viel hin, unterhielt sich leise — durchaus höflich, legte wohl auch mit mahnendem Lächeln den beringten Finger an den Mund — es war gerade die Mode aufgekommen, die Ringe über den Handschuhen zu tragen — und es sah auch wirklich sehr hübsch aus, wenn die Frauen so dasaßen, die steifen Hände wie glitzernde Blumen im Schoß. Die Tochter eines Multimillionärs hatte es sogar gewagt, sich einen kleinen funkelnden Rubin in den milchweißen Augenzahn einsetzen zu lassen. Sie lächelte sehr viel, weil sie heute zum erstenmal die Wirkung dieser Neuheit ausprobierte. Und eigentlich war der Zahn von Miß Evelin Steafford heute der „Clou!“, gegen den auch die beste Nummer des Konzerts schwer aufkommen konnte. Denn die Wirkung des Rubins mußte bei allen Wendungen von Miß Evelins hübschem Kopf und jeder Art ihres reizenden Lächelns genau beobachtet werden.

Karla sang. Die Noten zitterten in ihren Händen. Sie fühlte, daß sie ins Leere sang. Dann sah sie, wie ein paar Damen wieder ihre Schuhe lorgnettierten. Sie wurde immer unsicherer.

„Was machen Sie denn?“ flüsterte ihr der Begleiter zu.

Sie hatte einen Takt ausgelassen. Wie durch ein Wunder kamen sie nicht auseinander. Als sie zu Ende war, rührte sich keine Hand. Sie griff nach dem Klavier. Tiefe Schatten legten sich unter ihre Augen. Die blonde Dame mit dem goldenen Netz schlug kaum merklich auf die Lehne ihres Sessels und unterdrückte ein Gähnen. Das war nun schon das vierte Hauskonzert in dieser Woche ... es war Zeit, daß man auf etwas anderes kam. Sie würde sich eine Bühne bauen lassen — in der Art wie sie die Patti hatte. Natürlich in ganz anderer Ausführung .... Musik[S. 129] war ja ganz nett, aber man mußte auch was fürs Auge haben ...

Na — was war denn das plötzlich?

Die Dame in Blau und die Dame in Schwarz beugten sich zueinander ... und alle schimmernden Frauenköpfe neigten sich nach rechts und links, wie sturmbewegte Blumen. Eine große Stille lag über dem glitzernden, funkensprühenden, lichtumfluteten Saal .... Was war denn geschehen? ... Die da oben sang ja plötzlich nicht mehr? Ein paar Herren reckten ihre Hälse ... nicht viele. Die meisten waren froh, daß es aus war.

Karla wankte am Arm des Begleiters die paar Stufen des Podiums herunter.

Der Herr, der die Künstler hinter der Schnur hervorholte wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden, sprang auf die Erhöhung und meldete, Miß König wäre plötzlich von einem Unwohlsein befallen worden ... Dann schubste er den Sänger hinauf, den er schon in Bereitschaft gehalten.

Karla mußte in der Umzäunung bleiben, bis das Konzert zu Ende war. Irgend jemand von den Künstlern besorgte ihr ein Glas Wasser. Aber sie hatte die Zähne fest aneinandergepreßt, und die Geigerin nahm schließlich ihr Taschentuch und kühlte ihr den Nacken. Da öffnete Karla die Augen.

„Ich will nach Hause ... nach Hause“, murmelte sie auf Englisch.

Die Geigerin fuhr ihr gutmütig über die Wange:

„Jetzt müssen Sie noch ein bißchen warten — bis das Konzert aus ist. Unsere Wagen sind noch nicht da. Aber ich hoffe, daß Sie noch vor der Abfütterung fortkommen.“

„Wie denn ...“

„Tja ... darling ... wir bekommen noch ein großes supper ... natürlich extra serviert. Und auf dem Teller findet jeder sein Honorar unter Briefumschlag ... manchmal sogar noch ein kleines Geschenk ... nichts sehr Wertvolles ... es ist ja nur ein Andenken ... etwa das verschlungene[S. 130] Monogramm des Hausherrn in Gold oder so ...“

„Aber ich will kein Honorar, kein Monogramm ...“

Der Sänger kam zurück, dicke Schweißperlen auf der Stirn; irgendein Fräulein, das als Baby angezogen war und eine Riesenpuppe im Arm trug, hüpfte an der Hand des Herrn hinaus in den Konzertsaal. Ihre Spezialität waren naive Kinderliedchen, die eine schamlose, doppelsinnige Pointe hatten. Die Damen wollten immer nicht verstehen, warum sich die Herren bei den harmlosen Vorträgen der kleinen Person so gut unterhielten. Jedenfalls verdiente sie sehr viel Geld mit ihren „babysongs“. Der Sänger — er gehörte seit einigen Jahren zu John Russels Gesellschaft — warf seine Noten ärgerlich auf den Tisch.

„Wenn die kleine Kröte noch einmal auf demselben Programm mit mir figuriert, dann sage ich ab. Aber daß Sie, kleine Frau, sich derartig würden ins Bockshorn jagen lassen von der Gesellschaft, das hätte ich nicht geglaubt.“

Karla biß in ihr Taschentuch hinein.

„Sie müssen sich doch nur immer vergegenwärtigen, vor wem Sie stehen. Die Dame in Blau und Gold ist die Frau des Hauses; ihr Schwiegervater hat noch ein Schlächtergeschäft betrieben in New York, und die Dame in Schwarz, mit den Brillanten, ist die Tochter eines Weizenexporteurs en gros und Enkelin eines Auswanderers ... Zwischendeckpassagiers — tjawoll! Wenn die Herrschaften unter sich bleiben wollen, dann müssen sie wirklich die rote Schnur ziehen!“

Ungeduldig, mit brennenden, trockenen Augen und zerbissenen Lippen stand Karla König auf. Sie war wie im Fieber. Um keinen Preis durfte jemand aus der Gesellschaft sie noch sehen. Noch einmal ertrug sie die spöttischen oder kalten Blicke dieser Menschen nicht.

„Nun ... wie war’s?“

Altmann verstummte, als er ihr blasses, gleichsam zerknittertes Gesicht erblickte. Das kostbare Kleid schleifte über[S. 131] den Boden, der Umhang glitt von den wie eingeschrumpften Schultern.

„Was ist denn geschehen, Karla? ... So rede doch!“

„Blamiert habe ich mich — weiter ist nichts geschehen.“

„Du siehst, Karla, ich wollte dich selbst begleiten.“

Aber sie zuckte die Achseln:

„Ach, du ...!“

Es gab ihm einen Stich. So wenig bedeutete er ihr? So völlig gleichmütig ging sie über ihn hinweg?

„Ja ... warum hast du dich nicht zusammengenommen?“

Seine Stimme klang härter, als er wollte.

Aber dann sah er ihren Umhang auf dem Boden liegen, die Schleppe war am Ende eingerissen, als wäre sie beim hastigen Aussteigen am Wagentritt hängen geblieben.

„Die guten Sachen! ... So paß doch auf! ...“

Karla warf sich in den nächsten Sessel.

„Die guten Sachen? ... Meinetwegen sollen sie in Fetzen gehn. Es sind ja doch nur Lumpen. Jawohl! Lumpen! Ach, du glaubst vielleicht, weil das Kleid fünfhundert Mark kostet, bin ich gut angezogen? Gott bewahre! ... Ich hatte ja Goldschuhe an und weiße, lange Handschuhe! Denke doch — mein Verbrechen! Ausgelacht haben sie mich! Erst ausgestellt, wie in einem Panoptikum, und dann ausgelacht!“

Sie schlug die Hände vors Gesicht und blieb regungslos sitzen. Sie wartete. Jetzt mußte ihr Mann kommen, mußte den Arm um sie legen, sie trösten und sagen, daß sie heimfahren wollten. Lange saß sie ganz still, begriff nicht, daß es so lange währte, bis das geschah, worauf sie wartete.

Altmanns Schritte schlugen an ihr Ohr, langsam, gewichtig. Er räusperte sich, blieb stehen.

„Ja ... na und dann?“

„Dann? ... Dann bin ich stecken geblieben und habe[S. 132] getan, als ob ich ohnmächtig wurde ... das war dann!“

Sie riß ihr kleines Taschentuch aus dem Ausschnitt, ballte es zusammen und warf es zornig auf den Tisch.

„Stecken geblieben ...? Wenn ich dich begleitet hätte, wäre das nicht geschehen, sage ich ...“

„So? Warum wäre das nicht geschehen?“

„Weil du dich nicht so verlassen gefühlt hättest, weil ...“

„So, glaubst du wirklich? ... Und ich sage dir, es wäre noch schlimmer geworden. Sie hätten dich mit mir zusammengesperrt und hätten über deinen Frack gelacht! Ja ... das hätten sie ... denn du siehst wie ein Schulmeister aus, meint Russel, in deinem Hochzeitsfrack!“

„So? Meint er das? ... Nun, da ich nicht mit war, konnte mein Frack nicht an deinem Durchfall schuld sein.“

Karla fühlte, daß sich etwas Häßliches zwischen ihnen erhob. Ein unsichtbares schwarzes Ungetüm, das mit Tatzen nach ihnen schlug, sie aufeinanderhetzte. Sie brach aus, ohne Zusammenhang, leidenschaftlich:

„Ich bleibe hier nicht — um keinen Preis bleibe ich! Geh zu Russel ... er soll den Vertrag lösen. Es kann ihm ja auch nichts an mir liegen ... er wird froh sein ...“

„So? ... Und die Vorschüsse ...?“

Altmann stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor ihr. Sein Gesicht drückte leise Genugtuung und Überlegenheit aus.

„Also du willst mir nicht helfen ... willst nicht ...“

Ihre Augen sprühten, ihre Lippen bebten.

Du hast mich nach Amerika geschleppt ... Du! ... Ich wollte nicht ... Ich wollte bei meinem Kinde bleiben. Aber das war dir ganz egal, was mit dem Kinde geschah! Du hattest ja deine Schwestern ... Deine Schwestern sind dazu da, sich um das Kind zu kümmern ... Ich muß Geld ...“

Sie brach plötzlich ab, denn Altmann hatte sich über sie gebeugt, sehr bleich im Gesicht, und hatte mit heftigem Druck ihre Hand ergriffen.

[S. 133]

„Sprich nur zu Ende ... bitte ... lege dir keinen Zwang auf. Wer da alles aus dir herausredet, das weiß ich nicht. Aber zu so etwas kommt es wohl, wenn der Mann seine Frau über sich hinauswachsen läßt. Das heißt — du bist noch nicht hinausgewachsen ... lange nicht. Denn das ‚viele Geld‘, das du verdienst — ist weniger wert als meine kleinen Gagen in den letzten Jahren. Von denen sparte ich mir noch etwas — ja, das tat ich — sonst hätte ich dich ja gar nicht heiraten können. Was besitzen wir, seitdem du verdienst? — — Schulden. So ist es. Glaubst du, Russel läßt dich gehen, solange du ihm noch einen Dollar abzusingen hast? Eher läßt er dich zehnmal durchfallen, als daß er dich gehen läßt! Ein Durchfall ist unter Umständen auch eine Sensation, wenn man ihn geschickt ausnutzt. Denn was du in der Kehle hast, weiß er so gut wie ich! Aber du bist unbeherrscht — und darauf rechnet er. Ich bin ihm unbequem, und er möchte mich los sein! Darum sucht er mich klein zu machen in deinen Augen! Tu ihm nur den Gefallen und falle ihm drauf rein — bitte. Mir brauchst du ein einziges Wort zusagen — mit dem nächsten Schiff bin ich wieder in Europa. Dann balge du dich mit ihm herum! Versuche es, von ihm loszukommen. Er wird dich schon zu halten verstehn. Ich weiß jetzt Bescheid über ihn! Du bist nicht die einzige. Wenn du nicht den Stoff in dir hast, eine allererste zu werden, wertvoll genug bist du, daß er dich bis aufs Letzte auspumpt! Geh morgen zu ihm hin und verlange dreitausend Dollar Vorschuß. Er wird sie dir geben. Auch fünftausend. Je mehr, desto besser! Desto sicherer bist du ihm. Oder willst du durchbrennen — willst du steckbrieflich verfolgt werden? ... Mein liebes Kind ... zieh dir einen Leinwandrock an, braune Stiefel und grüne Handschuhe — und diese selbe Gesellschaft, die dich heute ausgelacht hat, brüllt dir zu — wenn du einen Namen hast! Den Namen aber geben dir nicht deine Kleider, sondern den gibt dir deine Selbständigkeit Russel gegenüber. Zeige ihm, daß du ihn nicht brauchst, dann wird er Angst haben,[S. 134] dich zu verlieren. So. Und nun wirtschafte weiter nach eigenem Ermessen. Meine Sachen sind rasch gepackt ...“

„Ernst!“

Sie hielt ihn am Arm zurück. Sie küßte den alten graukarierten Stoff, sie streichelte ihm das Gesicht mit ihrer tränenfeuchten Hand. Sie murmelte:

„Nicht böse sein ... ich bin so dumm ... so schrecklich nervös bin ich ... Pass’ auf, wenn ich ruhiger werde ... es ist wahr, du mußt immer mit mir gehen ... immer ... dann kann ich dir gleich alles sagen ... Du bist immer so gut zu mir gewesen ... Du wirst mir raten ... Gewiß wäre das heute nicht passiert, wenn du dagewesen wärst ... gewiß nicht ... Und nie nehme ich mehr einen Vorschuß ... nie! ... Überhaupt will ich das Geld gar nicht mehr sehn ... Du gibst mir ein Taschengeld wie früher ... ich brauche ja nichts ... nicht wahr? Ein paar Handschuhe vielleicht ... Schleier trage ich ja nicht ... und mal was Süßes ... oder eine Kleinigkeit für Schmerzchen ... so wonnige Babysachen haben sie hier ...“

Altmann drückte ihren hübschen, dunklen Kopf an sich. Wie ein ungebärdiges Kind war sie. Wild und zügellos, und im Handumdrehen wieder gut und lenksam. Er wollte ja auch wirklich nur ihr Bestes — in ihrem gemeinsamen Interesse! Sie dachte an ein Röckchen für das Kind, er dachte an des Kindes Zukunft.

Es war zwei Uhr nachts, als Karla wie gerädert ihr Bett aufsuchte. Ihr Mann hatte ihr versprochen, über den gestrigen Abend mit Russel zu sprechen.

„Lieber, guter Ernst“, flüsterte sie und schlief, seine Hand gegen die Brust gedrückt, ein — sorglos wie ein Kind, dem man seine Unart verziehen hat.

**
*

John Russel machte nicht viele Worte.

„Ich weiß ... ich weiß ... Sie hat keine Routine für Amerika ... macht nichts! Die will ich ihr schon geben. Wenn sie in drei Jahren wieder bei Astrongs singt, wird[S. 135] das anders gehen. Schade, so frisch wird die Stimme dann nicht mehr sein. Well, es gibt Leute, die das Obst erst dann essen, wenn es überreif ist.“

„Na, erlauben Sie ... in drei Jahren wird meine Frau nicht ...“

John Russel kniff seine glänzenden Raubvogelaugen zusammen:

„Wissen Sie, was eine Tournee heißt von San Franzisko nach Montevideo?“

Es erging Altmann wie vor wenigen Wochen Karla: der Boden des hellen Zimmers schien unter ihm zu wanken. Aber er verstand es, sich zu beherrschen. Schließlich hatte er diesem Manne Gewalt über Karla gegeben. Daran, eine Tournee einzuteilen, hatte er nicht gedacht.

„Es wird eine ganz interessante Reise für Sie werden, Mister ... Herr ... Altmann. Übrigens hier sind die fünfzig Dollars von gestern abend ... wie ... ich soll sie auf Ihr Konto buchen? ... Es eilt mir nicht ... Sie wünschen es ausdrücklich? ... Well ...“

Verzierung, drei Sterne
D

Die Zofe der Nordeni war Pariserin. Ihre Vergangenheit war einfach. Als kleine „Grisette“ hatte sie tagsüber die großen Hutschachteln von Reboux ausgetragen und am Abend die lärmenden Vergnügungen der Künstlerkolonie von Montmartre geteilt. Ihre Sprache hatte sich an den feingespitzten Dialogen der Kunstjünger geformt. Sie schrieb Kärtchen, die stilistisch einer Gräfin Beausac zur Ehre gereicht hätten, wenn auch in der Rechtschreibung einer Wäscherin.

Munter lächelnd packte sie mit ihren zugespitzten feinen Händen die kostbaren Roben ihrer Gebieterin ein und aus,[S. 136] hütete den mit Similisteinen untermischten Schmuck, badete, salbte, strählte die überreifen Reize der Nordeni und wußte bestimmt, daß sie selbst einst noch weit kostbarere Kleider, noch weit strahlenderen Schmuck ihr eigen nennen würde.

Diese Gewißheit aber behielt sie für sich. War bescheiden, aufmerksam und lieh ihrer Herrin außer dem Geschick ihrer Hände auch die belustigenden Wendungen ihres Geistes und einen sicheren, nie versagenden Geschmack.

Eines Tages fragte Karla, ob Mariette ihr während der langen Fahrten im Pullmann-Car französischen Unterricht geben wollte?

Madame Nordeni gestattete es gnädigst. Sie war überhaupt so liebenswürdig, wie es ihr Bewußtsein, der „Star“ der Gesellschaft zu sein, nur immer zuließ. Ihre anfängliche Bängnis, Karla könnte ihr als ernste Konkurrentin an die Seite gesetzt werden, verlor sich nach dem Konzert bei Astrongs völlig. So beschloß sie, in Karla nicht mehr zu sehen als eine junge „Aushilfe“, die dann zu singen hatte, wenn sie selbst müde war, nicht disponiert oder aber John Russel ärgern wollte. Zu Altmann war sie freundlich.

Altmann, an die unverwickelte Psychologie seiner deutschen Provinzkolleginnen gewöhnt, war der überlegenen Art der Nordeni nicht gewachsen.

Bald zeigte er sich beflissen höflich, ja zuvorkommend, bald schroff und abweisend. Sie schien das erstere nicht zu bemerken, das zweite mit sanftem Lächeln zu übergehen. Sie sagte gern: „Was macht unsere Kleine?“ und erteilte Karla öfters gute Ratschläge — durch ihren Mann.

Es kam vor, daß Altmann sagte: „Du, Kind, die Nordeni behauptet ...“

Karla hielt sich die Ohren zu.

„Ach du, mit deiner Nordeni ...“

Sie meinte nichts damit. Aber ihm war etwas unangenehm dabei.

Nach der sechsten Stunde drückte Altmann der kleinen Pariserin einen Dollar in die Hand. Er war dabei ein[S. 137] bißchen verlegen, denn — ein Honorar war es nicht, und der Lehrerin seiner Frau ein Trinkgeld geben ...

Noch verlegener wurde er, als sie es nicht annahm. Sie schüttelte lächelnd den Kopf mit dem hochtoupierten, rötlichen Haar und sagte etwas von „grand plaisir“. Aber weil er in seinem Ungeschick nicht nachgeben wollte, fuhr sie mit ihrem hübschen Zeigefinger streichelnd über seine Hand und lächelte ihn bittend an.

Ihm stieg das Blut in die Schläfen. Immer noch hielt er den Dollar vor sich hin, und obwohl gerade der Kellner durchkam und es ein leichtes gewesen wäre, ihm den Dollar zuzuwerfen, so konnte er sich doch nicht dazu entschließen, drehte das Geldstück hin und her und versenkte es schließlich doch in die Westentasche.

Die Gesellschaft reiste lange, lange Tage zusammen. Aber trotzdem sie scheinbar ganz aufeinander angewiesen war, kam es zu keinem rechten Zusammenschluß. Die Nordeni legte gern große Entfernungen zwischen sich und die anderen, weil es die einzige Möglichkeit für sie war, ihre erste Stellung zu betonen. Der erste Tenor war ein fetter Amerikaner, dem eine Partien-Presse einige Rollen eingepaukt hatte, die er in deutscher Sprache singen mußte. Er kannte keine Indisposition, keine Angst und keine Stimmung. Wenn er den Mund auftat, rollten die Töne aus seiner Kehle, seelenlos und vollendet. Er hatte keinen Ehrgeiz und war nie müde. John Russel schätzte ihn sehr. Seine einzige Leidenschaft war — essen. Er verfraß sein ganzes, nicht unbedeutendes Gehalt. Es hieß, daß er seinen Magen einem medizinischen Institut in Boston vermacht hatte. Er bildete sich viel mehr auf seinen Magen als auf seine Stimme ein. John Russel dachte daran, ihn für eine Varietébühne zu verwenden, wenn er einmal die Stimme verlor ... John Russel war immer weitblickend.

Der genialste der Gesellschaft war zweifellos der erste Kapellmeister, ein Mann, der irgendeiner dunklen Geschichte wegen ausgewandert war. John Russel hatte ihn zufällig in einer Hafenkneipe entdeckt. Er besaß die[S. 138] grenzenlose Überhebung derer, die nichts zu verlieren haben, und behandelte die „Stars“ der Operngesellschaft nicht anders als ehedem seine Kneipenmusiker. Das Orchester vergötterte, der Chor fürchtete, die Solisten haßten ihn. Er war unverwundbar und unbestechlich, auch dann, wenn er sich den Bestechungsversuch selbst gefallen ließ.

Was und wen er in Europa zurückgelassen, erfuhr nie jemand, und sein Besitztum bestand auch nach zweijähriger Tätigkeit bei John Russel nur in einem gefüllten Handkoffer. So gänzlich er in seinem Beruf auch aufging — körperlich schien er immer auf dem Sprunge zu sein. Nicht einmal einen schriftlichen Vertrag hatte er machen wollen. Handschlag — und „so lange es ihm paßte!“ Das gab ihm seine Machtstellung auch John Russel gegenüber. Auf äußerliche Distanz hielt er nichts. Während der Reisen setzte er sich am liebsten unter die Choristinnen und riß boshafte, derbe Witze. An spielfreien Abenden saß er bis tief in die Nacht vor stets erneuten Strohhalmen, durch die er die stärksten und gewagtesten eiskalten Mischungen einsog. Seinen wirklichen Namen kannte niemand, und den angenommenen hatte sich kaum jemand gemerkt.

Nicht mal John Russel. Er war einfach der Kapellmeister, und als die Nordeni ihn einmal halb anulkend „Kapelle“ nannte, blieb ihm der Spitzname. Der ihm unterstellte zweite Dirigent war der „Herr Kapellmeister“ — er war: „Kapelle“. Für das Orchester, die Solisten und den Chor. Ein neu engagierter Sänger sagte, als er das erstemal von ihm sprach: „Herr Kapellmeister Kapelle ...“ Auch auf dem Theaterzettel blieb seine Anonymität gewahrt: „Am Pult: der erste Dirigent“. John Russel hatte was übrig für eine gewisse Romantik. Sie ließ sich meist mehr oder minder umsetzen ...

Kapelle haßte übrigens die Nordeni, weil sie ihm immer ihre hochnäsigsten Blicke herunterwarf, wenn sie zu spät einsetzte. Immerhin mußte er sie ihrer auf solchen Reisen schätzenswerten Routine wegen schonen. Er begnügte sich damit, ein paar Taktstöcke beim Schlagen gegen das Pult[S. 139] zu zerbrechen. Im Zwischenakt aber stürzte er in die Garderobe: „Ich erwürge dich ...“ Er schimpfte unflätig, während sie noch Puder auflegte oder Lippenrot.

Um ihn zu versöhnen, schickte sie ihm am nächsten Morgen ein paar Flaschen Wein. Er kam dann torkelnd, mit verglasten Augen, zur Probe, und sie höhnte lachend: „Einen feinen Kapellmeister haben wir!“ Saß er aber erst auf seinem Hocker und hob er den Taktstock — dann verging ihr das Lachen. Nicht die leiseste Schwankung! Wie aus Eisen war sein Arm! Er machte keinen Unterschied zwischen Vorstellung und Probe. Er gab sich immer ganz. Restlos.

„Wenn er das Saufen lassen wollte, würde ich ihn zum ersten Dirigenten der Welt machen“, sagte John Russel.

Aber diese Worte machten auf Kapelle wenig Eindruck. Vielleicht sogar einen entgegengesetzten, als sie sollten.

Kapelle fand Besseres auf dem Grunde seines Glases, als ihm ein Weltruhm geben konnte — er fand Vergessen. Denn selbst um den Preis eines Weltruhmes hätte er europäischen Boden nicht mehr betreten. Aber das brauchte er den Leuten nicht auf die Nase zu binden ... Das ging sie nichts an ... gar nichts ging sie das an ...!

Karla zitterte vor dem Augenblick, da sie auf der ersten Probe seinem Taktstock gegenüberstehen würde. Mariette hatte ihr pantomimisch die erschreckendsten Dinge mitgeteilt.

Monsieur Kapelle war un homme terrible! Er hatte gewiß einen Mord auf dem Gewissen ... hatte sicher une pauvre femme erwürgt! Und hatte fliehen müssen vor dem Gesetz ... „Oh le méchant homme ...!

Das war immer der Schluß. Karla hatte ihren Mann gebeten, er möchte sich mit ihm ein bißchen anbiedern. Aber Altmann hatte gesagt:

„Da müßte ich stundenlang mit ihm trinken, liebes Kind ... Du weißt, das vertrage ich nicht. Im Übrigen halte ich ihn für sachlich. Sachliche Menschen brauchst Du nicht zu fürchten ...“

[S. 140]

Niemals war es Karla so aufgefallen wie jetzt, daß Altmann nüchtern war ... so schrecklich nüchtern.

„Hast du dir denn niemals einen Spitz angetrunken, Ernst?“

Alle Schelmerei lag in ihrem Blick, alle Teufelchen einer jungen Frauenseele, die in ihrem Manne einen Gespielen wecken will.

„Nein, Karla — nie!“

„Ja, aber ... warum denn? ... Es ist doch so nett einmal ...“

„Es ist vieles nett, was man nachher abzubüßen hat. Und nichts ist gefährlicher, als wenn man die Herrschaft über sich verliert ...“

„Und du hast nie die Herrschaft über dich verloren, Ernst ... nie?“

Es klang beinahe etwas wie Bedauern aus ihrer Stimme. — — —

In San Franzisko hatte sie ihre erste Probe mit Orchester, als Agathe. Nach ihrer Arie klopfte Kapelle ab.

„Hören Sie mal ... wollen Sie das ... ich meine, für mich ... wollen Sie das nochmal singen ... mir vorsingen ...?“

Die knorrige, heisere Stimme klang fast scheu und bittend.

Sie nickte. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse. Nie hatte ihr jemand so zugehört. Nie ... Alwin Maurer vielleicht ... aber was verstand der? Sie sang schöner, weihevoller noch als das erste Mal, in flutendem, gleitendem Wohllaut. Als sie geendet hatte, klopfte er ein zweites Mal ab und legte den Taktstock hin.

„So, Herrschaften, das andere übernimmt dann wohl für heute Kollege Schädlowski.“

„Aber ja, gewiß ... selbstverständlich ... bitt’ schön.“

Herr Kapellmeister Schädlowski — ein hocheleganter Österreicher, mit schrägem Scheitel und engen Offiziersärmeln,[S. 141] schwang sich über die Rampe ins Orchester hinunter. Er war außerordentlich gewandt, dirigierte mit kokettem Heben des kleinen Fingers und betrachtete die Soubrette jedes Theaters als sein ihm nicht zu bestreitendes Eigentum. Er brachte künstlerisch nie ernstzunehmende Vorstellungen heraus — alles war nur halb studiert und das meiste geschludert. Doch hatte er Schwung und verstand es, einen Walzer zu bringen. Seine Lieblingsoper war der Gounod’sche Faust.

Karla stand mitten auf der Riesenbühne und schlang die Hände ineinander. Es fiel ihr ein, wie Alwin gesagt hatte: „Mach’ Schluß, Junge ... was Besseres kommt nicht nach ...“

Ob der Mann da unten, mit den verkniffenen Zügen und dem struppigen, grauen Haar um den Riesenschädel, es auch so gemeint hatte? ... Sie lächelte verträumt, hätte dem Gefürchteten gern ein gutes Wort hinuntergerufen, denn gar zu eilig, gar zu ungeschickt balgte er sich mit seinem Mantel herum, der ihm nicht auf den Schultern halten wollte ... Seine großen Füße in den klobigen Stiefeln blieben an den Pultbeinen hängen.

Er schimpfte was vor sich hin, stolperte die erste Stufe hinunter.

In dem kurzen Gang, der das Orchester mit dem Stimmzimmer verband, stieß er auf Altmann.

Kapelle blieb stehen und rückte an seinem Hut.

„Sie ... ist das Ihre Frau, die da oben die Agathe singt, ja? ... Na, dann packen Sie sie ein und fahren Sie dahin zurück, wo Sie hergekommen sind. Was soll die Frau hier? Die Ochsen verstehen ja doch nichts ... Passen Sie auf ... das Klima dort unten ... passen Sie auf, sage ich Ihnen!“

Wieder rückte er an seinem Hut und stolperte weiter.

Abends saß er, verkniffener denn je, an seinem Dirigentenpult. Die „Agathe“ bot den Amerikanern keine Gelegenheit zu lärmenden Huldigungen, aber die große Arie verlangten[S. 142] sie zweimal. Es war noch nie vorgekommen, daß Kapelle sich zu einer Wiederholung verstanden hatte. Diesmal gab er selbst das Zeichen dazu. Aber er dirigierte kaum noch. Nur seine linke Hand gab dem Orchester leisen Halt.

So wundervoll war Karla noch nie begleitet, nie so liebevoll gestützt worden. Ein heißes Dankgefühl quoll in ihrem Herzen für den Mann auf, der ihr so viel Freude gab an ihrem Singen, der ihrer Stimme Flügel lieh.

Als der Beifall auf sie herabtoste und sie aus dem ersten Rausch erwachte, zeigte sie wieder und immer wieder hinunter ins Orchester. Das Publikum legte es als eine in Amerika ungewohnte Bescheidenheit aus und verstärkte seinen Beifall.

Karla gefiel ungemein. Sie war so ganz anders als all die Divas, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte vorgestellt hatten. Ihre herbe Frische, ihre Einfachheit, der warme, natürliche Fluß ihrer schönen Stimme übten einen nicht wiederzugebenden Zauber auf diese Virtuosenmätzchen gewöhnten Arbeitsmenschen aus. Es geschah das Unerhörte, nie Dagewesene, daß das Publikum nach Schluß der Vorstellung auf seinen Sitzen blieb und abermals die Agathenarie verlangte.

Diese deutscheste Musik, die je auf einer Opernbühne gesungen wurde, hatte in diesem Publikum, das zumeist aus Deutschen oder deutschen Abkömmlingen bestand, ein machtvolles Erinnern an die erste, halb vergessene Heimat geweckt.

Vor dem herabgelassenen Vorhang, in weißem Gewand, sang Karla die süße, schlichte Weise, und das Publikum hörte stehend zu, wie es in der alten Heimat der Volkshymne zu lauschen pflegte.

Altmann lehnte an einer Logenwand, nahe am Ausgang. Auch er war ergriffen.

Eine ihm neue, tiefe Sehnsucht erfüllte ihn, Karla in seine Arme zu schließen, sie vor den Blicken der Menge zu[S. 143] verbergen, die Herrenrecht hatte über sie von dem Augenblick an, da sie sich ihr gegenüberstellte. Etwas unsagbar Rührendes ging von ihr aus.

Wenn er jetzt könnte — wie diese so neue erregte Stimmung es von ihm verlangte und wie der verkniffene, häßliche Kapellmeister es ihm zugerufen — wenn er sie aufpacken und mit ihr zurückreisen könnte in die Heimat ...! Ein ganz kurzer, stummer Applaus riß ihn zur Wirklichkeit zurück. Karla stand regungslos vor dem roten Samtvorhang. Irgendeine Hand zog sie zurück in das Dunkel der halb abgeräumten Bühne. Die Nordeni, gelblich blaß unter dem aufdringlichen Glanz ihres prahlerischen Schmuckes, schlug mit dem Fächer gegen seinen Arm:

„Nett ... unsere Kleine, nicht wahr? Gar nicht zu glauben, wie sentimental die Yankees manchmal sind. Na ... allerdings im Süden verlangen sie andere Kost. Grüßen Sie die Kleine ... geben Sie ihr einen Kuß von mir ...“

Karla stand noch immer auf der Bühne, als Kapelle in Mantel und Hut heraufkam. Sie ging auf ihn zu, hob die gefalteten Hände, ihre Augen strahlten wie große Sterne aus ihrem bewegten, blassen Gesicht.

„Lieber ... lieber ...“

Sie wollte ihm danken, aber vor seinem unwirschen Gesichtsausdruck versagten ihr die Worte.

„Ja ... schon gut ... ich weiß ... wir werden uns einarbeiten ... Aber lassen Sie das, dieses ... Herunterzeigen auf mich. Kann ich nicht ausstehn. Widerlich. An den Dirigenten darf man nicht erinnern ... Das Werk ... nicht wahr ... immer nur das Werk! Wenn man Sie beklatscht ... dann müssen Sie ja leider auf der Bühne danken ... das ist nicht anders ... schlimm genug. In Bayreuth ...“

Er brach unvermittelt ab. Seine Augen blickten starr. Er rückte an seinem Hut und stolperte mit Füßen, die einander zu überschlagen schienen, hastig an ihr vorbei.

Verzierung, drei Sterne

[S. 144]

I

In Los Angeles kam Altmann dazu, wie John Russel in Hemdärmeln im Maschinenraum die Schrauben der Versenkungsmaschinerien nachprüfte und ölte.

Ohne Altmann zu beachten, fuhr er in seiner Beschäftigung fort, ergriff dann eine Axt und zimmerte aus einem kurzen Holzstamme eine Stufe zurecht, die er mit großer Sachkenntnis dem letzten allzu hohen Treppenabsatz angliederte.

Well, Mister Altmann ... Sie wünschen?“ ...

Doch ließ er sich nicht stören, und obwohl ihm der Schweiß in den Kragen lief und sein feines Batisthemd von Öl- und Rußflecken strotzte, zwängte er ruhig mit der umgekehrten Axt das Brett zwischen die Seitenteile der Treppe.

„Ich wollte nur melden, daß meine Frau heute unpäßlich ist und nicht singen kann.“

John Russel schlug gleichmütig einen Nagel ein.

„Soll ich einen Doktor schicken?“

„Nein ... sie braucht nur Ruhe ... Einen, zwei Tage Ruhe.“

John Russel verzog den Mund.

„Ich brauche auch Ruhe ... habe noch nichts im Magen. Sitze seit sechs Uhr früh in dem Kasten ...“

„Wo sind denn Ihre Leute?“

„Meine Leute? Ich hab’ keine. Meine Leute sind meine zehn Finger, die streiken wenigstens nicht. Vor zwei Jahren habe ich hier einem verdammten Nigger meine Faust in den Magen gejagt, weil er angesoffen auf die Bühne kam zur letzten Vorstellung. Heute wollen sich die Kerls rächen! Verlangen den doppelten Lohn. Da kennen sie John Russel und seine zehn Finger aber schlecht!“

Altmann sah auf seinen Rock, auf seine gepflegten, arbeitsentwöhnten Finger.

[S. 145]

„Wenn ich Ihnen helfen kann“, brabbelte er lau.

Well ... lassen Sie mal die Dekorationen vom Schnürboden herunter. Wir wollen sie nachher feucht abreiben ...“

„Ja ...“

Noch einen Augenblick zögerte Altmann. Dann warf er entschlossen seinen Rock ab.

„Ja, aber nun, Herr Russel ... wie ist es denn mit meiner Frau?“

„Kann sie wirklich nicht singen?“

„Nein.“

Well. Dann wird die Wegler sie vertreten. Sie hat die Partie studiert.“

„Die Wegler? Das ist doch nicht Ihr Ernst?“

„Doch ... doch ...“

Die Wegler war eine bessere Choristin, eine hübsche, braunhaarige junge Frau, die von weitem sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Karla hatte.

„Aber ... das geht doch nicht ...“

John Russel zuckte die Achseln und rührte eine graue Farbe an.

„Alles geht ... Das sehen Sie doch an mir.“

„Wer wird denn die Anzeige machen? Am besten, ich fahre zu den Zeitungen ...“

John Russel holte aus der Westentasche ein Stück Kaugummi und schob es unter die Kinnlade.

Well, Mister Altmann, wenn die Zeitungen ein Wort darüber bringen, ziehe ich Ihnen die gesamte Einnahme des bereits ausverkauften Hauses von der Gage ab.“

Kein Muskel in seinem Gesicht bewegte sich; langsam und sehr aufmerksam führte er den Pinsel mit der grauen Farbe über das helle Holz der Stufe.

„Sie können doch nicht die Stimme meiner Frau diskredieren wollen?“

God bless me, Herr Altmann ... Das glauben Sie doch selbst nicht! Die Wegler ist sehr brav, und die Leute hier verstehen nichts. Wenn ich ein Känguruh abrichte[S. 146] und es ihnen vorsetze ... glauben sie, das Känguruh ist die Karla König. Alles Suggestion, mein Lieber ... Das einzige, was keine Suggestion ist — sind die Dollars!“

Altmann kam erst spät am Nachmittag ins Hotel, mit notdürftig gewaschenen Händen, verstaubt, verschwitzt, einen Riß in der Bügelfalte seines Beinkleides.

Karla lag mit wütendem Kopfschmerz auf dem Bett.

„Wo warst du denn so lange?“

Altmann gab ihr in kurzen Worten seine Unterredung mit Russel wieder.

Karla sprang auf die Beine.

„Das geht nicht, Ernst ... ich werde singen.“

„Du wirst nicht singen ... Soll der Kerl nur seinen Blödsinn durchsetzen. Du wirst nicht singen. Ich erlaube es nicht. Unter keinen Umständen.“

Karla ging aufgeregt im Zimmer hin und her.

„Aber mir ist doch schon viel besser ... viel, viel besser ...“

Sie konnte und wollte es nicht glauben, daß sie so leicht zu ersetzen war, hatte anfänglich ihr körperliches Unbehagen aufgebauscht — Altmann sollte sehen, eine wie große „Nummer“ sie jetzt war, und was Russel angeben würde, wenn es hieß, daß sie nicht auftreten könnte ... Aber mittlerweile waren die Kopfschmerzen wirklich ärger — aus dem halben Spiel war Ernst geworden.

Er wußte sich keinen Rat. Lief auf den breiten Hotelgang hinaus, klopfte bei der Nordeni an.

Sie lag in einer rosa Wolke auf dem Ruhebett und polierte ihre Nägel, während Mariette mit geschickten Fingern eine der wundervollen Theaterperrücken der Nordeni auf einem Stock auffrischte.

„Wie nett, lieber Altmann ... daß Sie mich besuchen! Wollen Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?“

Altmann dankte kurz. Er nahm die Hände der Nordeni in die seinen. Er sprach erregt und dringlich.

„Liebste, Beste — meine Frau ist sehr elend heute ... wollen Sie nicht an ihrer Stelle singen ...?“

[S. 147]

Er hätte diese Zumutung in New York oder Chicago gewiß nicht an sie gerichtet. Aber in Los Angeles ...!

„Denken Sie, Russel will die Wegler singen lassen ... das geht doch nicht ... das müssen Sie als Künstlerin zugeben ... das geht nicht!“

Madame Nordeni lächelte liebenswürdig.

„Aber wieso denn, lieber Freund? ... Die Wegler ist sehr nett ... ich meine, natürlich nicht für Chicago oder New York ... aber für hier? Sie übernahm einmal von heute auf morgen die Gräfin im Figaro ... reizend ... reizend, sage ich Ihnen! Seien Sie nur ganz ruhig .. sie wird das schon ganz nett machen! Ich freue mich nur auf das Gesicht von Kapelle, wenn statt Ihrer Frau die Wegler da oben steht!“

„Verzeihen Sie, meine Frau ist krank ...“

Altmann fühlte, wie der Ärger ihn übermannte. Aber sie sah ihm nach, mit kokettem Augenaufschlag.

Eigentlich gefiel er ihr. Sie hatte etwas übrig für „tragische Masken“. Und es war nett, daß er sich so für seine Frau einsetzte. Die König war doch gut dran. Brauchte nur zu singen, überließ alles andere ihrem Mann! Führte eigentlich immer so „ein Stückchen zu Hause“ mit sich herum, hatte immer eine Veste, an der sie sich ausweinen und auslachen konnte.

Die Nordeni verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte durch das Fenster in den grauen Himmel.

Manchmal versuchte sie an ihre Kindheit zurückzudenken, an ihre Jugend ... aber es war alles so lange her ... und ihr Leben war so wild bewegt gewesen. Männer hatten es gelenkt nach dem Ermessen ihrer flüchtigen Laune. Schlug es gut für sie aus, waren sie nicht mehr da, um sich daran zu erfreuen, — nicht gut, so kehrten sie ihr den Rücken, noch ehe sie verantwortlich gemacht werden konnten.

Bezahlte Dienerinnen waren ihre Vertrauten. Die Vertrauten ihrer absterbenden Jugend, ihrer kurzen Abenteuer. Wenn die Tür sich hinter ihnen schloß, verrieten sie sie an die besser Zahlende oder nahmen ihr den Mann weg, der[S. 148] ihr gehörte. Auch das hatte sie erlebt. Und hatte immer nur neue Länder zwischen ihre Leidensstationen zu setzen gewußt, hatte sich immer nur durch ihren prahlerischen Schmuck und das hochnasige Lächeln, durch ein paar spitze, helle Töne und eine dreiste Routine auf ihrer Höhe zu halten verstanden. Wie lange noch ...? Und was dann ...?

„Mariette,“ rief sie, wie ein Kind, das sich plötzlich im Dunkel fürchtet, „Mariette.“ ...

Aber sie war allein in dem großen, kahlen, weiß angestrichenen Hotelzimmer. Sie überhörte das Klopfen an der Tür und schrie auf, als sie plötzlich einen Neger vor sich sah. Der Neger zeigte lachend seine gelbe Zahntastatur und stellte ein hübsches Lackbrett mit dem Nachmittagstee auf den kleinen Bambustisch neben dem Ruhebett.

— — — Altmann fand Mariette um Karla beschäftigt. Zierlich, unhörbar huschte sie durchs Zimmer, rang das Wasser aus den Tüchern, senkte kleine Eisstücke in die bereitete Limonade. Altmann suchte sein bißchen Schul- und Bühnenfranzösisch zusammen, um ihr zu danken. Sie wurde rot und lächelte. Karla lag im Bett mit geschlossenen Augen und roten Wangen.

Altmann streichelte Karlas Hand. Er merkte es kaum, daß Mariette klingelte, Tee bestellte und ein Tischchen deckte. Aber als sie ihn mit einem stillen Zeichen rief, da sah er, daß Eier und ein kaltes Huhn mit angerichtet waren, und so merkte er es auch erst, daß er seit dem ersten Frühstück nichts zu sich genommen hatte.

„Das wußte ich doch“, sagte Mariette.

Sie bediente ihn mit feiner, lautloser Grazie. Er war ja doch der einzige „Herr“ von der ganzen Gesellschaft, und er hatte so viel „charme“, wenn er lächelte. Sie war es gewöhnt, den Männern dienstbar zu sein, die sich ihres Gefallens erfreuten. Es war nichts Besonderes dabei für sie. Aber er wurde fast verlegen, und wenn ihre Händchen wie kleine weiße Vögel über die Gegenstände huschten, dann blickte er geflissentlich zum Fenster hinaus, als wollte er[S. 149] das bunte Treiben der Straße heraufziehen in den stillen Dämmer des Zimmers und es zwischen sich und die so aufdringlich emsigen kleinen Hände schieben ...

Um sechs kam der Theaterdiener. Ob denn Frau König wirklich nicht singen würde? Karla war gerade eingeschlafen; Altmann kämpfte mit sich, ob er sie wecken sollte. Aber es war ihm etwas Peinliches daran. Wenn er nichts anderes tun konnte in dieser Zeit, so mußte er wenigstens auf ihre Gesundheit bedacht sein.

„Sagen Sie, meine Frau ist nicht imstande.“

Mochte die Wegler singen ... es würden sich schon Mittel und Wege finden lassen, das Publikum zu verständigen, wenn sie die falsche Karla König auspfiffen.

Aber sie pfiffen sie gar nicht aus. Nur sehr lau war der Abend. Nach den Aktschlüssen gab es immerhin zwei, drei Hervorrufe, die der Gesamtleistung galten. Als aber Karla König am übernächsten Tage auftrat, da empfing sie ohrenbetäubendes Johlen und Pfeifen. Schlüssel, Papierknäuel flogen um ihren Kopf ... Sie stand da — zitternd, bleich, mit großen erschreckten Augen. Das Orchester brach ab. Kapelle schrie zu ihr hinauf:

„Nicht abgehen ... nicht abgehen!“ ...

John Russel hielt die Vorhangschnur.

„Vorhang herunter“, rief Altmann, der bis in die Lippen weiß war. „So lassen Sie doch den Vorhang herunter ...“

„Jawohl, damit mir die Kerls die Bühne in Klump schlagen?!“ ...

Die Mitglieder waren zusammengelaufen und scharten sich bleich und erregt um John Russel.

„Weg von da ... Bühne frei!“ schrie er.

Das Tosen draußen schien noch zuzunehmen, harte Gegenstände fielen polternd und klirrend auf das Rampenblech. Altmann stürzte vor, fand, geblendet von dem Licht, nicht gleich Karlas Hand, packte sie bei den Schultern, riß sie zurück. In diesem selben Augenblick fühlte er einen kurzen, heftigen Stoß am Arm; Karla schrie auf[S. 150] und schlug zur Seite. In ihrem weiten, weißen Ärmel war ein kleines, kreisrundes Loch eingesengt.

Der Vorhang fiel krachend herunter.

Kapelle war mit einem Satz auf seinen Dirigentenstuhl gesprungen. Seine krächzende, häßliche Stimme schleuderte einige nicht wiederzugebende englische Schimpfworte zu den oberen Rängen hinauf.

Es wurde totenstill im Haus. Die Luft schien wie erstarrt. Altmann trug seine Frau in die Kulissen. Seine linke Hand blutete, und das Blut rötete in großen Flecken Karlas weißes Kleid.

„Es ist mir nichts geschehen ... gar nichts“, beruhigte er.

Die Wegler stand hinter einer Kulisse in der letzten Gasse. Wie im Fieber schlugen ihre Zähne aneinander. Der Skandal hatte eigentlich ihr gegolten. Und die Kugel? Gewiß hatten die draußen den Altmann für John Russel gehalten.

Vor der Rampe hielt jetzt John Russel eine Ansprache. Er sprach ruhig, ironisch, warf ein paar verwegenen Jungens, die ihn von oben mit ihren schwarzen Gesichtern angrinsten, eine Herausforderung zu. Er wohne da und da ... Straße ... Hotel ... Zimmernummer. Sie sollten mit einem Unparteiischen zu ihm kommen, wenn es sie gelüstete. Er würde schon Rede und Antwort stehen! Er fürchtete sich nicht ... da!

Und mit einem Ruck schob er den Ärmel seines Rockes hoch, riß den Hemdärmel auf und zeigte seinen tätowierten Arm. Nur Muskeln und Narben sah man. Narben von Biß-, Stich- und Schnittwunden.

„Kommt immer ran ... wenn ihr euch traut! Aber euch an einer Frau vergreifen ... eine Frau in Angst jagen ... der Dirigent hier hat recht ... eine ... seid ihr ... beg your pardon, ladies!“

Beifallssturm unterbrach ihn. Aber er winkte ab, gelangweilt und gleichgültig.

„Sollen wir spielen ... ja oder nein? Ich sage gleich,[S. 151] es wird langsam gehn ... denn die schwarzen Fellows haben mich im Stich gelassen und wir müssen alles selbst machen ... also ...?“

„Spielen ... spielen ...!!“

Wieder brüllte das Haus.

Well ... einen Augenblick!“

John Russel drehte sich langsam um, sehr langsam, ging sehr langsam, den Rücken dem Publikum zugewendet, bis zum Vorhang. Es war die Probe aufs Exempel. Wenn sich jetzt noch jemand mit dem Revolver vergnügen wollte — dann gab er ihm die Zeit dazu, ohne seine Leute auszusetzen. Nein. Es blieb alles still — — — Da wendete er sich mit einem kalten Lächeln noch einmal um:

I will hope we are friends now“, sagte er mit seiner schärfsten und eisigsten Stimme, schlug den roten Samt zurück und verschwand.

Auf der Bühne, zwischen den verängstigten, geschminkten Frauen, inmitten der Sänger in der Tracht ihrer Partien, drängten sich schlankgewachsene Neger.

„Die Arbeiter haben sich wieder gemeldet“, rief Altmann.

„So ... well ... dann kann’s losgehn ... das heißt, wenn Ihre Frau noch singen kann, Mister Altmann.“

Karla trat vor. Sie war sehr blaß, trotz des nachträglich noch aufgelegten Rots; die Chordamen hatten ihr die Flecke aus dem Kleid gewaschen, und das leichte Gewebe klebte stellenweise naß an ihren Gliedern.

„Ich kann“, sagte sie fest.

Und zur Verwunderung aller Umstehenden zog sie die verbundene Hand ihres Mannes an die Lippen.

Well, Karla König ... Sie werden einen sehr großen Erfolg haben heute abend ... und den wollen wir feiern. Nach der Vorstellung im Hotel, meine Herrschaften ... auch der Chor ... Sie sind meine Gäste!“

In dieser Nacht erfuhr Karla König, was das hieß, wenn einer Künstlerin die Pferde ausgespannt wurden. Es war sehr unbequem. Sie kam sehr langsam vorwärts[S. 152] und hatte große Angst. Denn sie war allein, da ihr Mann sich noch auf der Bühne zu schaffen gemacht hatte.

John Russel hatte ein Abendessen bestellt, als erwarte er den Präsidenten der Republik. Es gab nur Heidsieck Monopol — auch für den Chor. Die Nordeni thronte an der einen Schmalseite des Tisches zwischen dem Tenor und Schädlowski. Sie langweilte sich, weil diese Art Feste nur etwas für sie war, wenn sie selbst deren Mittelpunkt bildete. Durch die weitgeöffneten Türen zum Nebensaal, in dem an kleinen Tischen mit buntverhängten Lampen gespeist wurde, sah sie Mariette zwischen zwei bräunlich angehauchten Herren. Mariette hatte ein einfaches helles Seidenfähnchen an, das sie sich aus einem abgelegten Abendkleid der Nordeni zurechtgeschneidert, und sah naiv und pikant aus. Sie schlürfte die Austern mit einer Virtuosität, die sehr vielsagend war. Die Nordeni beneidete sie und wurde melancholisch.

Karla saß zwischen John Russel und Kapelle, ihrem Manne gegenüber. Noch zitterten ihr die Knie von all den Aufregungen, aber sie war über alle Maßen glücklich und drückte alle paar Minuten ihren hübschen Fuß auf Altmanns Stiefel. Seine jetzt kunstgerecht verbundene Hand, die übrigens nur einen Streifschuß abbekommen hatte, stempelte ihn in ihren Augen zu einem Helden ... Gott, hatte sie ihn lieb!

Warum nur Schmerzchen noch so ein kleines Dummchen war! Wenn sie ihr das alles hätte schreiben können ... „Dein Papa ...“ „Dein Papa ...“ Gar nichts wußte Schmerzchen von ihrem Papa ... gar nicht, wie stolz sie sein durfte auf so einen Papa ...!

John Russel ließ den Sektkühler, der ihm zunächst stand, leeren und goß den Inhalt dreier Flaschen Heidsieck hinein.

„Passen Sie auf ... jetzt steigt die Primadonnentaufe!“

Es waren die einzigen Worte, die Kapelle während des ganzen Abends an Karla richtete. Er hatte auch mit keinem anderen gesprochen. Hatte kaum die Speisen berührt und[S. 153] sich statt des Sektes eine seiner beliebten Mischungen nach der anderen geben lassen.

Er saß ganz in sich und sein Glas versunken, kaute an den Strohhalmen und warf sie über die Schulter zu Boden.

John Russel erhob sich, hielt den gefüllten Sektkühler mit gestreckten Armen vor sich und sagte:

„Auf das Wohl der neuen Primadonna Karla König!“

Er tat einen Schluck, wollte den Kühler Karla reichen — besann sich — gab ihn Altmann. Auch Altmann erhob sich:

„Kannst du halten?“ fragte er lächelnd, nachdem er getrunken.

„Ob ich kann!“

Karla fühlte Riesenkräfte in sich ... Während sie trank, brachte John Russel ein Hoch auf sie aus, in das der ganze Saal laut einstimmte.

Noch während das Lachen und Rufen um sie herum lärmte, Altmann und Russel einander die Hände schüttelten, gab Karla den Kühler an Kapelle weiter.

„Wollen Sie ...“

Ihre Augen sahen ihn bittend an. Er nickte.

„Ich will trinken ... aber darauf, daß Sie keine ‚Primadonna‘ werden. Auf Ihr Singen trinke ich ...“

Er nahm einen langen Schluck, reichte den Kühler seiner Nachbarin und sank wieder in sich zusammen.

Verzierung, drei Sterne
I

In Lima erkrankte der Inspizient. Altmann sprang für ihn ein. Die Mitglieder sahen darin nur eine selbstverständliche Kollegialität, und in den ersten Tagen regnete es Scherze aller Art, wobei ihm jeder sein Amt nach Tunlichkeit erleichterte. Als aber die Krankheit des Inspizienten sich verschlimmerte, mußte Altmann auf dem freiwillig übernommenen Posten bleiben.

[S. 154]

Karla, die erst gelacht und ihm aus Jux vor allen augenfällig einen Dollar in die Hand gedrückt hatte, mit der Bitte, „sie ja zur Zeit ’rauszuschicken“, ärgerte sich jetzt.

Je länger „die Maskerade“, wie sie das nannte, währte, desto mehr gewöhnten sich die Mitglieder daran, in Altmann wirklich nur den Inspizienten zu sehen. Wofür sie anfänglich übertrieben gedankt hatten, das verlangten sie jetzt mit aller Rücksichtslosigkeit.

Er merkte das nicht gleich. In ihm überwog die Freude an Tätigkeit, die er so lange entbehrt hatte. Seine Ordnungsliebe und Gründlichkeit fanden plötzlich ein weites Arbeitsfeld, und da er die eingerissenen Unarten als Inspizient nicht ahnden durfte, verlangte er von Russel die Machtstellung eines „zweiten Regisseurs“.

„Die Macht können Sie sich nur selbst geben, Mister Altmann. Aber wenn Ihnen mit dem Titel gedient ist — bitte sehr.“

Altmann führte Klingelzeichen ein, denen unbedingt Folge zu leisten war, und Strafzettel.

Es gab eine Revolution. Karla konnte sich nirgends sehen lassen. Die einen kamen mit Bitten, die anderen mit Beschwerden; die Nordeni drohte, alles im Stich zu lassen. Der Tenor sagte gar nichts, aber kehrte sich auch an nichts.

In einigen südamerikanischen Städten hatte sich die Sitte eingebürgert, daß die Stammgäste des Theaters in den Zwischenakten auf die Bühne kamen. Einige von ihnen brachten ihre farbigen Diener mit und ließen Eis, Konfekt und allerlei drinks servieren. Altmann konnte es bei John Russel nicht durchsetzen, daß er „diesem Unfug“ ein Ende machte. Mit finster zusammengezogenen Brauen sah er, wie selbst Karla lachend die Aufmerksamkeiten dieser Herren annahm.

Eines Abends fand er sie, wie sie in der einen Hand eine riesige Konfektschachtel, in der anderen ein Glas Sekt hielt. Er trat näher — in seinem alten Arbeitsjackett und der glühenden Hitze wegen ohne Kragen. Er mochte nicht ganz nahe herangehen, aber er hörte, wie Karla sich in französischer[S. 155] Sprache unterhielt. Neben ihr stand Mariette, gleichsam, um an ihrem Kostüm etwas zu stecken, in Wirklichkeit aber, um Karla auszuhelfen, wenn sie mit ihren jungen Kenntnissen nicht weiter wußte. Es dauerte nicht lange, so hielt auch Mariette ein Sektglas in der Hand, und die Herren teilten ihre Aufmerksamkeit zwischen ihr und Karla.

Altmann schoß das Blut zu Kopf. Wie benahm sich Karla? ...

Er stelzte über die Bühne, klatschte in die Hände, warf den Arbeitern die englischen Brocken zu, die er kannte. Es wurde lärmend, die Kulissen wurden heruntergelassen, die Versatzstücke geschoben. Die Herren blickten auf die Uhr ... Sie dachten nicht daran, sich ihr Recht verkürzen zu lassen. Einer von ihnen rief den Arbeitern etwas zu, worauf sie sofort ihre Tätigkeit einstellten.

„Karla,“ rief Altmann, „Karla ... augenblicklich kommst du her!“ ..

Sie sah sich nach ihm um, das Glas wäre ihr vor Schreck fast aus der Hand gefallen.

„Aber Ernst ... was ist denn?“ ...

„Ich verbiete dir ... hörst du! Ich verbiete dir ...“

So sprach er doch sonst nicht zu ihr ... was fiel ihm nur ein? ...

„Sind diese Laffen die Herren hier — oder habe ich zu befehlen ... ich verbiete dir, daß du mit ihnen hier herumstehst! Geh’ in deine Garderobe ... sofort ... augenblicklich!“

„Ja, aber ...“

Er schob sie leicht nach vorn. Die Schachtel entglitt ihren Händen, der Deckel ging auf, und mit den Pralinees rollte etwas Rundes, Glänzendes über den Boden. Altmann bückte sich und hob es auf. Es war ein schwerer goldener Armreif, mit einer Schließe aus Rubinen.

„Was soll das ... wie kommt das in die Schachtel?“ ...

Karla klatschte in die Hände.

„Du ... das ist ja ein Geschenk! Das ist ...“

[S. 156]

„Heimlich? In einer Konfektschachtel versteckt, nicht wahr? ... Wer gab dir die Schachtel?“

Er folgte ihrem Blick, der verängstigt und ratlos auf dem Gesicht eines eleganten Herrn mit schwarzem Spitzbart hängen blieb.

„Ach so ... der! ... Augenblicklich gehst du in die Garderobe. Sofort.“

Sie kannte diese Stimme: kalt, leidenschaftslos, mit einem Unterton tiefen Gekränktseins. Wie ein gescholtenes Kind wendete sie sich ab und verließ die Bühne. Altmann ging mit dem Armband auf den bezeichneten Herrn zu.

„Hier, mein Herr ... solche Huldigungen sind einer Dame vom Varieté gegenüber vielleicht am Platz ... nicht hier. Meine Frau dankt und schickt Ihnen das zurück.“

Der Herr blinzelte Altmann, der unbekümmert darum, ob er verstanden wurde oder nicht, Deutsch gesprochen, vertattert an. Mariette, die Deutsch verstehen konnte, übersetzte. Sie hatte feuerrote kleine Ohren, und fuhr sich mit ihrem spitzen Zünglein über die Lippen, als schlecke sie eine besondere, letzte Süßigkeit auf.

Altmann hatte eine knappe Verbeugung gemacht und sich entfernt. Der Armreif baumelte über drei Fingern des spitzbärtigen Herrn, während Mariette ihren Dolmetscherdienst versah. Als sie fertig war, sahen die Herren einander an — und prusteten vor sich hin.

Pour votre peine“, sagte der mit dem Spitzbart, und legte den Reif um Mariettes schlanken, weißen Arm. In diesem Augenblick stob aber auch schon die Gruppe auseinander, weil von oben ein Prospekt mit rasender Geschwindigkeit herabgelassen wurde.

Mariette blieb allein. Sie sah um sich, spähte nach Altmann aus.

Nie hatte er ihr so gut gefallen wie eben jetzt. Weiß der Himmel ... schön hatte er nicht ausgesehen in dem alten Röckchen und ohne Kragen ... aber wie er das Armband zurückgegeben hatte ... da lag etwas über ihm ... etwas Nobles, Männliches ... Keiner von der Gesellschaft hätte[S. 157] das getan! Es war eben doch der einzige „Herr“ ... Sie nahm den Reifen ab und verwahrte ihn in ihrer Tasche. Altmann brauchte ihn nicht an ihrem Arm zu sehen — —

Verzierung, drei Sterne
S

Schmerzchen war zwei Jahre alt geworden. Sie lief in den Zimmern umher und warf die Spielsachen, die sie bekommen hatte, vor sich her.

Tante Adele kam und gab Schmerzchen einen Klaps. Und als Schmerzchen nicht verstand — einen zweiten. Der brannte mächtig, und Schmerzchens Hand wurde ganz rot. Aber Schmerzchen weinte nicht. Schmerzchen hatte Charakter.

Sie hatte die Altmannschen geraden Brauen, was man von Fritz und Vicki nicht behaupten konnte. Adele fettete Schmerzchens Brauen jeden Abend mit Lanolin ein, damit sie recht dicht und glänzend würden. Schmerzchen aber rieb das Lanolin in ihrem Bettchen wieder ab und lutschte dann an den Fingern. Lanolin schmeckte sehr gut.

Wenn Schmerzchen ihre Weltanschauung durchaus nicht mit der ihrer Tante vereinbaren wollte, dann hieß es: „Was wird Mama sagen, wenn du so unartig bist? Gleich wird Mama kommen und hauen.“

Aber Mama kam nicht. Kam auch nicht, als Schmerzchen es einige Male geradezu darauf anlegte, die Mama mit einer Rute herzuzaubern. Tante Adele konnte es wohl nicht abwarten, bis Mama kam, denn sie selbst griff zur Rute. Schmerzchen protestierte so energisch gegen diesen Übergriff, daß Dr. Maurer aus seinem Zimmer trat. Die Rute sehen, sie zum Fenster hinauswerfen und Schmerzchen auf seinen Arm nehmen, war das Werk eines Augenblicks.

Es gab an diesem Tage großes Geschrei zwischen Tante[S. 158] Adel und Onkel Al, aber die Rute zierte nun nicht mehr den Spiegel in Schmerzchens kleinem, neben der großen Schlafstube gelegenem Zimmer.

Heute hieß es nun, Mama schicke ihrem Mädelchen viele, viele Küsse.

„Und was noch?“ fragte Schmerzchen, die Realpolitik trieb.

Adele versuchte ihr klar zu machen, daß Mama sehr, sehr weit wäre und daher nichts schicken könnte.

„Mama ist tot“, sagte Schmerzchen entschieden und gleichmütig.

Da steckte das Dienstmädchen dahinter! Alwin Maurer lief selbst in die Küche und machte „Krach“.

Vicki meinte, es wäre geradezu fürchterlich, wie Papa sich mit dem Kinde „hätte“ ...

Vicki besuchte jetzt das Lyzeum und schwankte noch, ob sie Ärztin oder Schauspielerin werden sollte. Sie hatte ihre „ernsten“ und ihre „Theatertage“, war aber vorläufig noch schnippisch und unausstehlich an beiden.

Fritz machte ernstere Sorgen. Er war nicht von dem Gedanken abzubringen, als Offizier, mit glänzenden Epauletten, einherzustolzieren.

Adele und Luise, denen alles Glänzende ins Auge stach, bestärkten ihn in seinem Wunsche. Wenn Alwin Maurer von beschränkten Verhältnissen sprach, dann hieß es immer: „Kommt Zeit, kommt Rat!“ bis Adele es eines Tages gerade heraussagte:

„Unter uns, lieber Alwin ... Karla kann ruhig etwas für uns tun. Das ist nicht mehr als billig.“

„Nein ... nein ... das will ich nicht. Auf keinen Fall will ich das ...“

Nichts war Alwin Maurer peinlicher, als wenn sich „seine Weiber“ an Karla wendeten. Er wollte es kaum noch wissen, wie oft Altmann Geldanweisungen an die Deutsche Bank geschickt hatte — ganz abgesehen von dem reichlich bemessenen Kostgeld für Schmerzchen.

Einmal fragte er:

[S. 159]

„Ja, weiß denn Karla überhaupt, was Altmann schickt?“

Adele zuckte die Achseln. — —

— — Wunderhübsch war die neue Wohnung in der Motzstraße — hell, geräumig ... und doch fühlte sich Dr. Maurer fast noch unbehaglicher hier, als das letzte Jahr in der Culmstraße. Auch das Essen, das jetzt immer so reichlich auf den Tisch kam, schmeckte ihm weniger.

Ihm war nur wohl, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer einschloß, in das er nicht die geringste Neuanschaffung zugelassen hatte.

Manchmal, mitten im Verbessern seiner Hefte, hielt er ein, legte die Feder nieder und lehnte sich in den Sessel zurück.

War er nicht doch ein fleißiger Arbeiter gewesen all die Jahre — hatte er es nicht mit seinem Wissen und der Mühe seiner Tage vermocht, die Familie zu erhalten, die Kinder aufzuziehen? War es denn gar so gering, was er den Seinen bot, daß es ihnen nicht mehr genügte, daß sie über sein ehrliches Verdienen hinweg nach Almosen schnappten?

Am Vorabend von Schmerzchens zweitem Geburtstag brachte Adele ihm einen Brief von Altmann ins Zimmer.

Immer und immer wieder hatte er ihn lesen müssen, und war doch am Ende so klug wie zu Beginn ... hatte es doch nicht zu ergründen vermocht, wieviel von Karlas eigenem Willen in diesen Worten lag, die so brüderlich waren und ihn doch schmerzten wie eine Demütigung. Gleich heute sollte er dem Schwager antworten. So verlangte es Adele. Mit Worten, die ihn wie scharfe Messer schnitten.

„Das wenigstens kannst du doch für Fritz tun ...“

„Das wenigstens“ ... Was denn mehr? Was konnte um des Himmels willen ein armer Schulmeister mehr tun, als Ströme roter Tinte über Schülerhefte ausgießen und die Seinen schuldenfrei zwischen den Sandbänken des Lebens hindurchlotsen?

[S. 160]

Er saß vor seiner Briefmappe. Der Brief des Schwagers lag vor ihm:

„An Bord, 34 Grad südl. Breite.

Meine Lieben!

Euren oder vielmehr Adelens Brief erhielten wir noch in Montevideo, zwei Stunden vor unserer Abfahrt. Karla, die in der letzten Zeit fast über Gebühr angestrengt war, liegt ein bißchen angegriffen auf Deck. Nicht überall war das Klima ihr günstig, aber ihre urgesunde Natur überwindet schließlich doch alle Strapazen, um so mehr, als sie sich ihrer wohlverdienten Erfolge freuen darf. In Städten, die eine größere deutsche Kolonie haben, wird sie buchstäblich auf Händen getragen, und ich habe alle Mühe, ihr die ihr so dringend notwendige Ruhe zu erkämpfen. Leider ist sie unvernünftig und verschwendet ihre Stimme. Sie schöpft eben noch aus dem Vollen, und die Huldigungen machen ihrer Kindlichkeit Spaß. Wenn sie zu einem Hauskonzert gebeten wird, so singt sie nicht die zwei ausgemachten Arien, sondern womöglich ihr ganzes Repertoire. Die Leute sind natürlich begeistert, und es regnet mehr Einladungen als Geld. Immerhin verdient sie weit mehr, als wir bei unserer Ausreise annehmen durften, und so ist es uns möglich, Euch einen Beweis unserer Freundschaft zu geben. So laßt denn Fritz Offizier werden, wenn er durchaus daran hängt. Macht Euch keine Sorge um spätere Zulage und anderes. Was wir tun können, wird geschehen. Es wäre nur gut, wenn Fritz in Unkenntnis darüber gelassen würde, von wem ihm die Möglichkeit kommt, seinen Lieblingswunsch zu erfüllen. Es ist nicht gerade nötig, daß er allzu sehr auf Karla baut. Das würde nur seinen Leichtsinn wecken. Sollte es aber durchsickern, dann hat er sich immer nur an mich und nicht an Karla zu halten. Karla ist zu gutmütig und hat keine Ahnung vom Wert des Geldes. Hätte ich ihre Einnahmen nicht verwaltet, so wäre das meiste völlig sinnlos und unzweckmäßig verläppert worden, während sie jetzt selbst froh[S. 161] ist, daß sie Euch dienlich sein kann. Ja, sie sagte sogar: ‚Wenn du gleich zusagst, dann haben sie alle eine Freude an Schmerzchens Geburtstag‘. Ich lege dem Brief fünfzig Dollar bei. Isolde wird wohl einiges benötigen, und was übrig bleibt, kannst du für dich verwenden. Euer letztes Bild hat mich sehr erfreut. Nur finde ich, daß Luise sehr schmal geworden ist. Da sie schrieb, daß sie sich jetzt auch um die Wirtschaft bei Stown’n kümmert, so führe ich ihr Aussehen auf die ungewohnte körperliche Anstrengung zurück. Sie soll sich nur nicht zuviel zumuten! ... Der Brief ist in mehreren Abständen geschrieben. Karla hat mich sehr in Anspruch genommen, da sie merkwürdigerweise die Seefahrt diesmal nicht gut verträgt. Ich muß schließen — in einer Stunde wird die Post an Land gebracht. Karla läßt grüßen. Euch alles Liebe und Gute wünschend, verbleibe ich Euer treuer Bruder, Schwager und Onkel

Ernst Altmann.“

Ja ... und nun sollte Alwin Maurer danken. Er sah immer Karlas Gesicht, blaß und verzerrt, und er hatte ihre Stimme im Ohr ... diese Stimme, die er so liebte, die sie von Land zu Land schleifte und die sie in Geld umsetzen mußte, fern von ihrem Kinde. Sie alle aber rafften ihr Geld an sich, und dieses Geld, das zu ihnen strömte, war das einzige, was ihm blieb von ihrer Stimme! ...

Was er geliebt und angebetet hatte, was so schmerzend fern von ihm lebte und klang, das kehrte zu ihm zurück, in Geld verwandelt, das Adele ihren Zwecken nutzbar machte ..

Er sprang auf, öffnete die Tür zum Eßzimmer. Schmerzchen saß mit rotgeklapsten Händchen vor ihrer Negerpuppe, die sich so herrlich herumwerfen ließ. Warum haute Tante Adel eigentlich, wenns der Puppe selbst recht war?

„Komm, Schmerzchen ... du sollst deiner Mama schreiben.“

Alwin Maurer hob Schmerzchen auf den Arm, ging mit ihr in sein Zimmer und setzte sich, mit ihr auf dem Schoß, an den Schreibtisch.

[S. 162]

Schmerzchen war einverstanden mit der veränderten Tätigkeit; aber wie Onkel Al ihre kleine Hand um den Federhalter drückte ...! Nein ... so war das gar nicht nett. Das tat ja fast noch mehr weh, als Tante Adel’s Klapse!

Immerhin — sie mochte den Onkel gut leiden und wollte ihm den Gefallen tun. Ohne Tintenklexe ging es nicht. Aber die waren das hübscheste an der ganzen Sache.

Also: „Ich habe Dich sehr lieb, mein gutes Mamachen, und schicke Dir tausend Küsse. Dein Schmerzchen.“

Dr. Alwin Maurer las Schmerzchen ihr Geschriebenes ordnungsgemäß vor. Sie fuhr sich mit der kleinen, gemarterten Hand über das hellbraune Haar, das die eigensinnige kleine Stirn so hübsch einfaßte.

„Nicht Mama küssen! Papa küssen!“ ...

Alwin Maurer blickte auf.

„Warum denn, Papa?“

Schmerzchen wußte noch nicht genau, warum. Ganz langsam und verworren reiften in ihrem kleinen Hirn folgende Erkenntnisse: Wenn Mama käme, würde sie „hauen“, wie Tante Adel sagte. Alle Mamas und Tanten hauten ... auch von Vicki gab es Klapse. „Fitz“ und Onkel Al hauten nicht. Auch der „Gooßpapa“ nicht. Papa somit auch nicht. Papa verdiente viel mehr Küsse als Mama ... viel mehr ...

„Papa schreiben“, verlangte sie nun mit aller Entschiedenheit ihrer zwei Jahre.

Alwin Maurer ließ Schmerzchen von seinen Knien herabgleiten.

„Später ... jetzt hat Onkel keine Zeit ... Onkel muß arbeiten ...“

Schmerzchen nickte ernsthaft. „Abeiten“ — das Wort kannte sie. Wenn es fiel, mußte sie immer ganz still sein, ganz leise mit ihren Puppen spielen. Und eigentlich hatten sie alle den ganzen Tag zu „arbeiten“ — der Onkel und der „Fitz“ und die Vicki ... Nur vormittags ... Aber da hatte Tante Adel Kopfwehweh ... und da durfte sie auch keinen Lärm machen ...

[S. 163]

Als Schmerzchen von ihrem Nachmittagsschlaf erwachte, rosig und weltfreundlicher gestimmt als vor einigen Stunden, wartete Pauline bereits an ihrem Bett, um sie zum Großpapa zu bringen.

Vor dem Hause der Schillstraße traf Pauline den Briefträger. Er händigte ihr einen dicken Brief ein mit vielen ausländischen Marken.

„Von deiner Mama ... was sagst du, Schmerzchen ... von deiner lieben Mama! ...“

Es roch schon auf dem Flur so wunderschön. Schmerzchen knixte sehr flüchtig und auf unsicheren Beinchen nach links geneigt — wie der Großpapa es sie gelehrt hatte.

„Ei ... du kleines Fräulein ... wie niedlich wir sind ... wie charmant ... aber der Knix ... Nein ... der war nicht schön ... noch einmal ... Keine Grimasse ... ta ta ta ... hübsch graziös, kleines Fräulein ... soo ...“

Vor dem Mitteltisch stand ein großer Puppenwagen, am Stuhl hing eine rote Pferdeleine mit kleinen Glöckchen, ein gehäkeltes wollenes Unterkleidchen, mit rosa Schleifchen, lag neben der Tasse ... und mitten auf dem Tische erhob sich ein Napfkuchen, ganz weiß von Zucker, und zwei große Kerzen flammten auf dem Tellerrand ... und jetzt kam das Schönste: Pauline, mit einer großen Kanne, aus der ein duftender Dampf aufstieg ... so stark, als ob sich über das ganze helle Zimmer Schokolade ergossen hätte ... so daß Schmerzchen immer wieder ihre Zunge herausstreckte und mit großen Augen die Kanne, den Kuchen, die Tasse und Pauline selbst verschlang. Den Großpapa hatte sie ganz vergessen ...

Er saß ja auch weitab an seinem Schachtisch beim Fenster, faltete mit seinen kleinen, weißen Händen die feinen überseeischen Briefbogen auseinander, rückte an seiner weißseidenen, baumelnden Krawatte, räusperte sich und vertiefte sich in Karlas teils wie nach einer Vorlage geschriebenen, teils krakeligen Schriftzüge. Kein Datum. Nicht ein einziges Mal die Stadt, der Breitengrad oder der Name des Schiffes. Sie hatte Wichtigeres aufzuzeichnen.

[S. 164]

Mein lieber Papa!

Ich weiß nicht, ob überhaupt und wann ich mit dem Briefe fertig werde. Vielleicht schicke ich ihn noch heute, vielleicht zu Schmerzchens Geburtstag, vielleicht gar nicht.

Es ist sehr schlimm, daß ich so viel allein bin. Ernst sieht es nicht gern, wenn ich mit den anderen „intim“ werde. Es geht auch nicht gut, seitdem er sich so eine komische Stellung bei uns ausgeklügelt hat. Er kommt mir vor wie der „schwarze Mann“, vor dem ich mich als Kind so gefürchtet habe. Oder aber wie unser altes Dienstmädchen. Erinnerst Du Dich? Die ging nie ohne Staubtuch herum und rückte immer alles an seinen Platz, kaum daß man es benützt hatte.

Aber Ernst sagt, er müßte auf Ordnung dringen — es wäre alles furchtbar verwahrlost gewesen. Ich glaube, die Kollegen mögen ihn nicht, und sie lassen es mich oft ausbaden, wenn sie von Ernst einen Verweis erhalten haben. Natürlich hat Ernst im Grunde recht, aber die Leute sind doch nun mal das gewohnt, was sie „ihre“ Ordnung nennen. Die Herren sind hier sehr galant, sehr großartig. Einer hat mir einmal ein wunderschönes Armband mit Rubinen in einer Konfektschachtel geschenkt. Leider durfte ich es nicht behalten. Es war ja sehr richtig von Ernst, daß er es dem Herrn zurückgab, aber ich habe es doch lange nicht verschmerzen können. Denn so sehr viel Schmuck habe ich doch nicht, und mir falsche Steine anhängen wie die Nordeni — das mag ich nicht ... Denke Dir, mein lieber Papa, was geschehen ist ... mir zittern noch alle Glieder, obwohl wir schon wieder gemütlich im Zuge sitzen und weiterrattern, wie Du es an meiner Schrift sehen kannst. In unserer Lokomotive brach Feuer aus, und wir blieben auf freiem Felde stehn. John Russel reiste ausnahmsweise mit uns — Gott sei Dank! Plötzlich, während wir uns draußen ein wenig ergehen, hören wir ein schreckliches Geschrei und sind, ehe wir es uns versehen, von einem Haufen Indianer umringt. Die einen stürmen[S. 165] den Zug, die anderen stürzen sich auf uns, werfen uns Tücher über die Köpfe, fesseln uns. Ich höre Schreien, Schüsse ... ich dachte nur an Schmerzchen in diesen entsetzlichen Minuten. Dann wurde ich, glaube ich, ohnmächtig. Als ich aufwachte, war ich wieder in meinem Abteil. Aber nicht Ernst, sondern Kapelle, unser erster Kapellmeister, stand vor mir. Er ließ mich an etwas sehr Scharfem riechen und schimpfte entsetzlich. Ich fragte, wo mein Mann sei. „Ach lassen Sie nur, der ist gut aufgehoben“, sagte er. Ich schrie auf, weil ich glaubte, die Indianer hätten ihn erschossen. Aber Kapelle beruhigte mich und sagte, ich solle jetzt nur schlafen. Kaum war er draußen, so sprang ich auf die Bank, um meine Tasche herunter zu holen, und mich herzurichten, denn ich sah wie eine Wilde aus — die Haare aufgelöst und verwirrt — und die Bluse, na ... Ich suche und gucke überall herum — keine Tasche! Schön. Also gehe ich heraus so, wie ich bin, um meinen Mann zu suchen. Wo finde ich ihn? Im Nebenabteil. Er liegt auf der Bank, mit verbundenem Kopf. Mariette kühlt ihm die Stirn mit Kompressen. (Du weißt doch, die Zofe der Nordeni, bei der ich französischen Unterricht habe.) Ernst, rufe ich. Ernst! Er streckt mir die Hand entgegen ... er kann sich nicht rühren. Er behauptet, die Indianer hätten ihn mehrfach in die Luft geschleudert und auf die Erde fallen lassen. Mariette hat Tränen in den Augen. Das fand ich nun ganz überflüssig; schließlich braucht sie um meinen Mann nicht zu weinen! Das kann ich allein besorgen, wenn ich will ... Ich bedanke mich also bei ihr und schubse sie mit aller Liebenswürdigkeit aus dem Abteil. Kaum bin ich allein mit Ernst, als der Zug sich wieder in Bewegung setzt und John Russel zu uns hereinkommt. Ob mir nichts von meinem Gepäck fehle? Ja, sage ich, die Tasche.

Well — das war ein Raubüberfall. Die Kerls wollten Ihnen Ihre Brillanten stehlen ...“ Da mußte ich lachen und meinte: „Well, da werden sie aber nichts anderes finden als ein paar Zahnbürsten, Kämme und Seife ...“[S. 166] „Macht nichts,“ sagte John Russel ... „es war doch ein Brillantendiebstahl! ...“

In unserem Zug fuhren ein paar Reporter, die sich unsere nächste Vorstellung ansehen sollten, um darüber zu berichten. Na, die hatten nun zu tun, das alles zu schildern .... Mein lieber Papa! Ich sitze nun schon eine halbe Stunde in meinem Hotelzimmer und komme vor Lachen um. Weißt Du, was mir gestohlen worden ist? Ein Diadem von der Königin von Griechenland im Werte von sechzigtausend Dollar, ein Brillanthalsband im Werte von vierhunderttausend Dollar vom Kaiser von Rußland, vierzehn Ringe im Gesamtwert von zwanzigtausend Dollar, eine Gürtelschnalle aus Smaragden und Perlen — ein Geschenk der Astrongs, zwei Uhren, mit Edelsteinen besetzt, eine Kette aus Platina mit Brillanten und — die Tugendrose vom Papst! ... Das Theater ist umlagert von Menschen, die noch Billette zu erhalten hoffen! Es heißt, daß man in der Stadt eine Sammlung plant, um mir „einen Teil des tragischen Verlustes“ zu ersetzen! Steht alles schwarz auf weiß in der Zeitung. Ernst geht auf einen Stock gestützt. Er ist augenblicklich nicht in rosigster Laune und spricht nicht viel mehr als das Nötigste mit mir. Ich glaube, er ärgert sich über den Humbug ... Weißt Du, was mir scheint? Mariette fängt an, mit Ernst zu kokettieren. Ich neckte ihn ein bißchen mit ihr, da verbat er es sich. Man kann eigentlich nie recht Spaß machen mit ihm. Meinen französischen Unterricht habe ich auch aufgegeben. Ich kann genug .... Also denke, der ganze Indianerüberfall war von John Russel „inszeniert“. Choristen von uns hatten sich verkleidet. Der Fundus von „Afrikanerin“ und „Aida“ hat herhalten müssen! So genau hat ja niemand hingesehen und die Gelegenheit haben sich einige zunutze gemacht, um Ernst — nein, es ist zu schändlich! Ich glaube, er ahnt die ganze Sache und mag darum nicht mit mir über die Geschichte sprechen. Er ist auch lange nicht mehr so streng seitdem gegen die anderen. Aber ich glaube, es muß ihn doch furchtbar demütigen — Tue nur nie, als[S. 167] ob Du etwas davon wüßtest —, um Gottes willen nicht! Ich dachte, die Nordeni hätte Schreikrämpfe gehabt aus Angst vor den Indianern — Gott bewahre ... die war ja mit im Komplott! (hat das selbst einmal durchgemacht im Beginn ihrer amerikanischen Karriere.) Sie hatte nur Angst, daß die Leute meinen armen Mann noch totschlagen, oder daß er in dem Sack, den man ihm über den Kopf geworfen hat, erstickt! ... Sie ist furchtbar ängstlich, die Nordeni. Gestern fragte mich mein armer Ernst, ob wir seinem Neffen, dem Fritz Maurer, nicht helfen wollten, die Offizierskarriere einzuschlagen. Ich sagte selbstverständlich ja. Ich finde es so rührend, daß Ernst sich seiner Leute in allem annimmt. Wäre mir aber auch sonst gar nicht möglich, ihm etwas abzuschlagen. Denn es ist mir oft geradezu peinlich, daß ich eine so ganz andere Stellung einnehme als er. Nur wegen meines bißchen Stimme ... Und dann muß ich mir auch immer wieder vorhalten, wie glücklich ich sein darf, daß mein geliebtes Schmerzchen so gut gepflegt und betreut wird ... So viel Liebe kann ihr ja freilich niemand geben wie ich ... obwohl ich doch ein bißchen auf den guten Alwin rechne und viel auf Deine Pauline. Ach mein lieber Papa, wie sehne ich mich danach, Dein ta ta ta wieder mal zu hören! Hier unter den braunen Affen wird einem alles so unsagbar teuer aus der Heimat! Kapelle fragte mich mal: „Sagen Sie, was wollen Sie eigentlich hier unter uns? Machen Sie, daß Sie bald fortkommen. Denn wer sich hierher verschlagen läßt, ist ja doch nur Verbrecher oder Abenteurer ...“ Armer Kapelle! Er ist mir entschieden der liebste von allen — trotz seiner Drinks und seines Slangs! Der Bariton ist auch ganz nett. Aber eigentlich singe ich nicht gern mit ihm. Wenn ich mich auf der Bühne in seine Arme stürzen muß, dann hält er mich gewiß ein paar Sekunden länger an sich gedrückt, als nötig ist. Mir wird dann immer übel, und ich möchte ihm am liebsten eine Ohrfeige geben. Aber da ich ihm nichts beweisen kann, muß ich tun, als merkte ich nichts. Schon meines Mannes wegen ... Ach, mein lieber Papa, wie[S. 168] gut, wie himmlisch wird das sein, wenn ich erst an Schmerzchens weißem Bettchen sitzen und ihren süßen Kinderatem auf meinem Gesicht spüren werde ... Eben heißt es, die Post würde in einer Stunde an Land gebracht. So will ich schließen. Wenn ich Glück habe, kommt der Brief gerade zu Schmerzchens Geburtstag an. Pauline, die Gute, schrieb, sie würde das Kind über den Nachmittag zu Dir holen ... Wie beneide ich Dich! Könnte ich für diesen Tag all meine Liebe und Sehnsucht in Deine Augen legen, mit denen Du Schmerzchen ansiehst, in Deine Hände, die sie berühren, in Deine Arme, die sie umfangen ... so, jetzt heule nicht ... Lebt wohl, Papa, Pauline ... mein liebes kleines Mädelchen ... lebt wohl! Karla.

— — „Gute Nachrichten, Herr König?“

„Ach ja, Pauline, danke. Altmann ist verkeilt worden.“

Dem Papa hatte diese Stelle in Karlas Brief eine unerklärliche, aber sehr aufrichtige Freude bereitet. Dann aber eingedenk der letzten Worte, ging er schwungvoll und graziös auf Schmerzchen zu, die augenblicklich einen etwas negerhaften Eindruck machte, küßte sie vorsichtig auf das hellbraune Härchen und fragte mit aller Zärtlichkeit, die er in seine tenorale Krähstimme zu legen vermochte:

„Nun, mein kleines Fräulein, wie schmeckt denn die Schokolade?“

Verzierung, drei Sterne
K

Karla war nervös. So richtig nervös. Der Regen, den die Wolken über die Straßen ausschütteten, bis das Wasser fußhoch zwischen den Häusern stand, dröhnte über dem Dach des Hotels ... Es wurde zeitig dunkel, und die Luft war erfüllt mit unheimlichen Lauten. Manchmal knackte das Holz der Veranda, die um das Hotel lief und auf die alle Zimmertüren mündeten.

[S. 169]

John Russel hatte der Gesellschaft acht spielfreie Tage geschenkt. Inzwischen zimmerten farbige Arbeiter eine Scheune mit einer Bühne. Die Scheune war schon — als die ersten Latten genagelt wurden, zehnmal zu nie dagewesenen Preisen ausverkauft, und seitdem pilgerten, sowohl die Ansiedler der deutschen Kolonie wie Portugiesen aus der Umgegend zur Baustelle. Sie kamen in wundervollen Wagen, mit Pferden bespannt, über die leuchtende blaue, rote und gelbe Netze geworfen waren. Sie kamen hoch zu Roß, den Tropenhelm im Nacken. Sie kamen zu Fuß. Da waren Damen in extravaganter europäischer Kleidung — der verkannten Mode des vergangenen Jahres —; andere in Toiletten von Worth und Doucet; blonde Kolonistenfrauen in fußfreiem Rock und weißer Bluse, einen Schleier um den Kopf gebunden, den roten oder weißen Sonnenschirm in der Hand; da standen mit weitgeöffnetem Mund ganze Indianerfamilien — die Eltern mit seltsam vornehmem Anstand und doch bescheiden, als wollten sie ihren leuchtenden braunen Körper unter all dem Blendwerk von duftigen Spitzen, Seidengefälle und Schleiergeweben vertuschen ...

Ein geschäftskluger Deutscher hatte ein Zelt aufgeschlagen; darin brauten seine Frau und seine Tochter schwarzen Kaffee; ein paar Neger in weißen Leinwandanzügen schlängelten sich geschickt zwischen den leichten Bambusstühlen und Tischchen herum, die wie ausgestreut schienen zwischen den Palmen, und brachten den Gästen Limonade, Absinth und Whisky.

Wenn die zwei Regenstunden vorüber waren, dann belebte sich die Straße, die zum „Theater“ führte, wie zu einem Korso. John Russel sah es gern, wenn die Herren seiner Gesellschaft das „Theatercafé“ besuchten. Von den Damen durften sich nur die Choristinnen dort sehen lassen.

„Wenn man eine Künstlerin täglich umsonst auf der Straße sehen kann, wird keiner so närrisch sein, für dasselbe Vergnügen am Abend fünfzig oder hundert Dollar zu bezahlen.“

Mariette brauchte sich an das Verbot nicht zu kehren —[S. 170] sie war ja keine Künstlerin. Ihr reizendes Figürchen wurde sehr bemerkt, und mancher Kunstschwärmer versuchte es, sich ihr zu nähern. Ihre auffällig zur Schau getragene Sprödigkeit mehrte ihre Erfolge. Viele hielten sie für Altmanns Frau, weil man sie oft an seiner Seite sah, wenn er mit den Arbeitern sprach und das Ausladen der Dekorationen beaufsichtigte.

Altmann merkte es kaum, wie eifrig sie sich an seine Fersen heftete. Er gab ihrer nimmermüden Bereitwilligkeit allerlei kleine Aufträge. Bald galt es, Vorhänge zuzuschneiden, bald Damenkostümen durch kleine Abänderungen eine gefälligere Form zu geben.

„Sie haben so viel Geschmack“, sagte er mit einem schwachen Versuch, ihr etwas Angenehmes zu sagen.

Bei einbrechender Dunkelheit gingen sie heim. Die Nacht kam wie ein heimlicher Dieb; sie war da, ehe man sichs versah.

J’ai peur“, murmelte sie und hing sich in seinen Arm ein.

„Aber wovor denn? ...“

Er lachte nachsichtig, aber beim nächsten Laternenpfahl machte er seinen Arm frei. Es war nicht gerade nötig, daß ...

Er mochte den Gedanken nicht einmal zu Ende denken. Aber die feuchte Wärme durchdrang seine Kleider, und die Schwüle erschlaffte ihn.

„Sind Sie bös gegen mir?“

Sie sprach ein drolliges Kauderwelsch und legte eine süße Kindlichkeit in den Ton ihrer Stimme. Ihr Augenaufschlag, ihre halbgeöffneten Lippen mit den perlenden weißen Mausezähnchen ...

Altmann machte so große Schritte, daß sie kaum nachkam mit ihrem Getrippel.

„Unsinn ... wie kommen Sie darauf ...“

Aber er fühlte, die Frage war schon zuviel. Er hätte sie am Schopf, an ihrem so wunderhübsch leuchtenden roten Schopf packen mögen und sie beuteln. Kleine Kröte ... er durchschaute sie. Ganz genau. Aber ... o nein ...[S. 171] mein Fräulein ... o nein! Schließlich war er doch etwas anderes als der Herr Schädlowski oder der Bariton oder einer der bräunlichen Herren, mit denen sie Austern schlürfte. Er hatte eine Frau zum Donnerwetter! Eine liebe, prächtige Frau, die ... die ...

Auch in seinen Gedanken kam er nicht weiter. Lieb hatte er Karla wie niemanden sonst auf der Welt. Aber diesen prickelnden Reiz, den hatte sie nie für ihn gehabt. Gott sei Dank nicht. Den hatten eben nur solch kleine Dirnchen wie diese Mariette ... und die schüttelte man einfach ab, ohne viel Getue ... ganz rücksichtslos!

Er lief beinahe. In Schweiß gebadet kam er ins Hotel. Über das Holzgitter des Vorgartens sah er einen schmalen Lichtstreifen unter Karlas Balkonfenster. Dieser Lichtstreifen rührte ihn mehr als eine Klage. Sie saß in dieser wundervollen Nacht allein im abgeschlossenen Zimmer, wagte es nicht einmal, die Hitze des Tages herauszulassen.

Er ging um das Hotel herum. Mariette war verschwunden; er atmete erleichtert auf, nahm eilig die wenigen Stufen, die zu den Zimmern führten.

Karlas Tür war abgeschlossen.

Auf sein Pochen und Rufen drehte sie den Schlüssel um. Sie hatte ihr Morgenkleid aus Rohseide an, und ihre Augen brannten in dem runden, bleichen Gesicht.

Er wollte sie in seine Arme ziehen, sie trat zurück, als merkte sie es nicht, ging zum Tisch und schloß ihre Schreibmappe ab.

„Hast du nach Hause geschrieben?“ fragte er und suchte seiner Stimme Festigkeit zu geben.

„Nach Hause? ... Meinst du, Papa? Meinst du die Motzstraße? Ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin ...“

Sie wendete sich ab und trat zum Fenster, als wollte sie hinaussehen. Aber das konnte sie nicht, denn der Rolladen war herabgelassen.

Er stellte sich hinter sie und streichelte ihre Arme.

„Wir wollen morgen nach dem Regen eine Ausfahrt machen, Karla ...“

[S. 172]

Sie sah in der dunklen Scheibe das Gesicht ihres Mannes. Sah es zum erstenmal unsicher und gleichsam schuldbewußt. Da war es ihr, als stünde sie plötzlich ganz allein in dem fremden Land, ganz allein im Leben ... so allein wie die Nordeni ... Und sie schlug die Hand vors Gesicht und drückte die heiße Stirn gegen das kühle Glas.

Am nächsten Tage aber nach dem Regen fuhren sie aus. Die Nacht hatte stumm und feindlich zwischen ihnen gelegen, und sie hatte nicht geglaubt, daß Altmann noch an die Ausfahrt dachte. Aber dann kam er und sagte, sie möchte sich nett anziehen. John Russel hätte gegen die Korsofahrt nichts einzuwenden, nur möchte sie einen recht dichten, aber kleidsamen Schleier vornehmen.

Karla lachte jetzt.

„Wir sollen also Reklame fahren für Russel?“

„Aber nein. Nur, wenn wir schon fahren, dann ...“

Karla hörte nicht mehr zu. Sie riß die Schränke auf, warf ihre Kleider durcheinander. Was sie anziehen sollte, müßte er ihr sagen! Das weiße, mit den schwarzen Spitzen, oder das blaue, mit der schönen Stickerei? Herrgott, er sollte doch kein so dummes Gesicht machen! Er wüßte ganz genau, was hübsch sei und ihr zu Gesicht stünde. Und helfen durfte er ihr auch. Vor den Niggermädeln im Hotel hatte sie geradezu Angst.

Ihre Röcke lagen auf dem Boden, ihre Schuhe flogen in die Ecken. Von Kopf zu Fuß mußte alles frisch, blütenweiß und so elegant wie nur irgend möglich sein. Tja ... Warum hatte sie eigentlich Trübsal geblasen all die Tage? Zu dumm war sie gewesen! Und hatte sich Gedanken gemacht ... so unsinnige Gedanken ... einfach lächerlich! Wo er doch ein so lieber, tüchtiger, fleißiger Mann war, ohne den selbst Russel gewiß nicht mehr auskommen würde ... Konnte er die dumme Gans, die Mariette, verhindern, hinzugehen, wohin sie gerade wollte?! Und wenn sie sich an seine Rockschöße hing ... was konnte er dafür? Eigentlich war es sogar nett, mit einem Mann verheiratet zu sein, der anderen Frauen gefiel ...

[S. 173]

„Laß dich mal ansehen, du ...“

Sie faßte nach seinem Gesicht, küßte ihn ... drückte sich an ihn.

„Du, Karla, der Wagen kommt gleich.“

Ach was, der Wagen! Wenn er gar nicht käme, wäre es noch besser. Dann wären sie eben allein in ihren Zimmern geblieben, hätten abgeschlossen, die Rolläden heruntergelassen ... hätten ... Alle Wonnen ihrer beseligenden jungen Mutterschaft erwachten plötzlich in ihr. Eine flammende Röte schoß über ihren Nacken, ihre Brust, ihre Arme. Wie mit Blut übergossen stand sie mitten im Zimmer und nestelte an den langen Senkeln ihres Mieders.

„Was ist denn Karla ... was hast du denn ...?“

Sie schüttelte den Kopf, wendete sich ab, lachte vor sich hin. „Nein ... nichts ...“

„Doch, Karla, ich will wissen ... Du mußt es mir sagen ...“

Auch er lachte, umspannte ihre Taille mit den Händen, zog sie an sich. Der gesunde, frische Duft ihres jungen Körpers wehte ihn an ... In dem Bettnetz eingefangene Moskitos summten aufreizend und einschläfernd zugleich.

„Was denn, Karla ...?“

Er hauchte es ihr ins Ohr.

Sie drückte ihren runden, hübschen Kopf an sein Gesicht.

„Ich dachte mir ... du wirst mich auslachen ... an so ein winzig kleines Kindchen dachte ich ... Wenn man das wieder so haben könnte ... wenn ich das wieder spüren könnte ... in meinen Armen halten dürfte ... Wenn sie so satt getrunken sind und die kleinen Bläschen heraussabbern ... und man die kleinen Fingerchen wie Schmetterlinge auf der Brust fühlt ... so etwas Wonniges gibt es ja ... nein, auf der ganzen Welt gibt es so etwas nicht ...“

Er fühlte eine heiße Träne in seinen Kragen sickern. Angst und ein leichter Ärger streckten und steiften seine Glieder. Was war denn das wieder mit Karla? ... Dachte sie denn gar nicht an ihren Beruf, ihre Laufbahn?

[S. 174]

Gottlob behielt er seine fünf Sinne zusammen. „Närrchen!“ sagte er und küßte Karla flüchtig auf das Haar.

Sie führte rasch ein Taschentuch an die Augen, die Nasenspitze und lächelte versonnen.

„Hier ist die Luft so ... wie soll ich sagen ... so warm und brütend ... und man kann nicht den Fuß wohin setzen, ohne auf etwas Lebendes zu stoßen ... Ich glaube Ernst, die Natur hat mich gewiß zu was ganz anderem bestimmt als zu einer Primadonna.“

Altmann versuchte zu lachen.

„Etwa zu einer kleinen Bruthenne ... wie?“

„Vielleicht ...“

Peitschenknallen schlug hart in die Stille des Zimmers, durchschnitt die drohend aufsteigende Mißstimmung.

„Jetzt wollen wir aber vergnügt sein, Karla, wie? ...“

„Ja! ...“, klang es gedrückt zurück.

Als sie die luftige Steinhalle durchschritten, nickte ihnen die Nordeni zu. Sie saß mit Mariette in den Korbstühlen, und zwei schwarzhaarige Herren, offenbar Portugiesen, bewirteten sie mit Eis und Gebäck. So offensichtlich hatte die Nordeni ihre Zofe noch nicht zu ihrer Gesellschaft gezogen. Vermutlich schleppte sie die hübsche kleine Pariserin als Angelhaken mit.

Als Altmann und Karla vorüberkamen, löffelte Mariette sehr angelegentlich ihr Eis. Karla blickte über sie hinweg, hing sich nur wieder sehr augenfällig in den Arm ihres Mannes.

Die Fahrt machte Karla ein ungeheures Vergnügen. Das „Theater“ war fertig und sollte morgen nur noch mit Blumen und Teppichen ausgeschmückt werden. John Russel begrüßte Karla am Wagen und brachte ihr dann selbst ein Glas Sekt aus dem Café, denn es war nicht schicklich für Damen, die im Wagen kamen, auszusteigen und sich unter die Fußgänger zu mischen. Das gefiel Karla. Sie fand das nach langer Zeit wieder sehr „vornehm“ und hatte eigentlich das erstemal so etwas wie „Primadonnengefühle“. Sogar das ziemlich schamlose Anstarren von den[S. 175] Herren machte ihr Spaß. Du lieber Gott, sie war eben wer ... Sollte sie das nicht freuen?

Als der Wagen umkehrte, entdeckten Karlas trunkene Augen unter den Fußgängern einen großen struppigen Schädel.

„Kapelle!“ rief sie. „Kapelle! ...“ und winkte mit dem Tuch.

Kapelle grüßte mit dem verbeulten, angestaubten braunen Hut, den er in der Hand trug, ohne die glimmende Zigarre aus dem Mundwinkel zu nehmen. Aber Karla hieß den Kutscher anhalten und winkte mit beiden Händen.

„Kapelle, Kapelle! ...“

Er kam zögernd, widerwillig näher. Altmann bot ihm seinen Platz an.

„Nö ... nö! ...“

Er wollte gleich wieder fort, aber Karla hielt ihn am Ärmel fest. „Bitte, Kapelle, mir zuliebe! ...“

Er warf die Zigarre in weitem Bogen zur Seite und drückte sich in den Rücksitz. Brummig und unzufrieden sah er vor sich hin.

„Hat man Sie richtig nicht verschont mit der Promenadenschau?“ brummelte er und zupfte giftig an seinem Bart. „Schlagen Sie doch wenigstens den Schleier zurück. Wenn die Neugierde nicht mehr zu bezähmen ist, reißt Ihnen der eine oder andere den Schleier einfach vom Hut runter.“

Und gleichzeitig schlug er mit seinem Stock auf einen Mestizen, der sich auf ein Hinterrad geschwungen hatte und nun mit vorgestrecktem Arm und schlanken, braunen Fingern den Knoten von Karlas Schleier zu lösen versuchte.

Karla stieß einen Schrei aus; der Mestize sprang vom Rad und tauchte in der lachenden, laut durcheinanderschreienden Menge unter.

„Du brauchst doch keine Angst zu haben, Karla ... ich bin ja da! ...“

Altmann legte den Arm um sie, und sie drückte sich an ihn wie ein verängstigtes Kind.

[S. 176]

Kapelle stieß die Luft durch die Nase, und seine fünf Finger hakten sich in seinen grauen Bart ein.

„Kein leichtes Brot — der Mann einer Primadonna sein ... wie, Altmann? Schlimmer noch, als Geldsäcke hüten wie John Russel ... Ein Revolver in jeder Hand — das langt oft nicht mal ...“

Karla beugte sich vor. Ihr Gesicht war ganz weiß geworden.

„Lieber Kapelle ... ich glaube ...“

Sie hielt ihm die Hand hin, voll unausgesprochenen Mitgefühls ...

Er sah ihre Hand nicht oder wollte sie nicht sehen.

„Glauben Sie nur ja nichts ... Alles falsch, alles Einbildung! ... Der Kutscher soll mal ein bißchen zufahren ... Von den Bergen weht es nachts kalt herunter, und wenn Sie morgen heiser sind, dann ist’s mit Ihrem Primadonnentum aus. Eine Primadonna ist hier eine Gottheit. Eine Gottheit mit einem Schnupfen — das gibt’s nicht.“

Es lag gutmütiger Hohn in seiner Stimme. Gleich darauf rief er dem Kutscher noch etwas zu und gab ihm einen leichten Stoß in den Rücken. Dann glitt er von seinem Sitz und verschwand in der Dunkelheit hinter einem Kakteenzaun, vor dem ein paar Indianer rasteten.

Ein Frösteln lief über Karlas Rücken.

„Ist dir kalt, Karla?“

Sie schüttelte den Kopf. Kalt war ihr nicht. Nur unheimlich. Sie sehnte sich nach dem Hotel, mit seinem weißgetünchten Speisesaal und den rotverhängten Lämpchen auf den Tischen, nach ihrem Zimmer, mit dem warmen, goldgelben Licht, nach Schmerzchens Bild in dem roten Lederreiserahmen, nach den Stimmen der Kollegen, nach deutschen Lauten und nach den Armen ihres Mannes, in denen sie alles vergessen wollte, was nicht Mann und Kind war ...

— — — Die Luft hatte sie müde gemacht. Die schwarzen Kellner reichten erst die übliche Poularde mit Salat herum, als ihre Augen sich schon zu schließen begannen.

[S. 177]

In einer Ecke des Saales saß die Nordeni, in tiefausgeschnittenem Kleid, geschmückt wie ein Götzenbild, mit Mariette, die wie eine kokette Unschuld in einem weißen Kleidchen die Huldigungen ihrer zwei Tischherren entgegennahm.

Die Nordeni trank mehr als sonst. Als müßte sie einen Ärger herunterspülen oder eine Unruhe. Sie hatte sehr auf Don Pedro de Santos gerechnet, einen reichen Diamantenhändler, der ihr schon vor sechs Jahren freundliche Anerbietungen gemacht hatte. Er war ihr damals zu jung gewesen, zu abhängig von seinem Vater. Indessen war der Vater gestorben, Don Pedro wohl älter, aber sie selbst nicht jünger geworden. Sechs Jahre waren gar nichts für eine Karla König, eine Mariette — für sie eine Ewigkeit. Die Grenzlinie, hinter der sie ihre Jugend zurückließ. Ein Funken Romantik hatte bei der ersten Ankündigung von der Wiederkehr der Nordeni Don Pedros Schritte sofort zu ihr gelenkt. Er war da, er liebte sie, er legte ihr sein Vermögen und all seine geschliffenen und ungeschliffenen Brillanten zu Füßen. Aber er blieb mitten im Satz stecken, als er Mariette erblickte.

Don Pedro de Santos hatte Freunde, denen er oft genug gefällig gewesen war, um ihnen die Aufgabe zuzumuten, sich einer erstorbenen Flamme von ihm anzunehmen, wenn sie ihm dadurch die Möglichkeit boten, einer neuen „Entdeckung“ zu huldigen.

Die Nordeni durchschaute diese Kriegslist. Sie litt. Ihr hochmütiges Lächeln verbarg nur sehr unvollkommen ihre schmerzliche Enttäuschung. Aber sie hielt sich.

Mariette tat, als merkte sie nichts. Nein ... wirklich gar nichts. Sie sprang auf und bückte sich nach dem Taschentuch, das die Nordeni öfter als nötig fallen ließ, sie stand von Tisch auf und brachte ihr das absichtlich von ihr vergessene goldene Handtäschchen, sie steckte der Nordeni eine gelockerte blitzende Nadel fester in das verschlungene Haargebäude ... sie tat das alles liebenswürdig, mit[S. 178] heiterem Lächeln um die blutroten Lippen, mit stets gleichbleibender Geduld und mit unnachahmlicher Anmut.

Ein Geschenk, das Don Pedro ihr eines Tages heimlich hatte zustecken wollen, wies sie entschieden zurück. Sie trug keinen noch so bescheidenen Ring, keinen Armreif, keine Nadel ... Ihre schlanken, weißen Arme entstiegen wie unschuldige Lilien dem feinen Spitzengefältel ihrer halblangen Ärmel. Keine Kette, kein Band unterbrach die bezaubernde Linie ihres Halses ...

Die Nordeni fühlte die Durchtriebenheit ihrer Koketterie — und war machtlos. Um so machtloser, als sie niemals einen Grund zu einer Rüge finden konnte. Es war einfach unmöglich, sich tadelloser zu benehmen als Mariette.

Mariette zerlegte ihren Poulardenflügel und blickte zu Altmann hinüber, mit unschuldig dreisten Blicken, die ihm das Blut durcheinanderwirbelten.

„Wenn du müde bist, Karla ... ich bringe dich hinauf ...“

„Ach ja ...“

Sie lächelte wie ein verschlafenes Kind.

„Und du ziehst mich aus ...“

„Ja ...“

Sie mußten an dem Tisch der Nordeni vorüber. Karla ging mit flüchtigem Kopfnicken und halbgeschlossenen Augen weiter.

„Schon? Was ist denn los?“

„Meine Frau ist müde, und da sie morgen singt ...“

„Ja, natürlich ... immer ein bißchen schonen. Aber Sie kommen doch wieder herunter, lieber Altmann ... Sie kommen doch?“

Es war etwas Dringliches, fast Verzweifeltes in ihrer Bitte — als suche sie eine Stütze, Hilfe ...

Mariette sagte gar nichts. Ihre weißen Finger mit den wie Perlmutter glänzenden Nägeln schoben das Messerbänkchen hin und her.

„Ich werde sehen ... ich kann nichts versprechen.“

„Doch, doch ... übrigens, ich vergaß, bekannt zu machen:[S. 179] Don Pedro de Santos, unser erster Mäcen hier ... Don Despero — Herr Altmann, der Gatte unserer jungen Primadonna Karla König ...“

Sie warf ihren Ruhm hin, ihre Stellung, ihre Jahre. Die Herren verneigten sich stumm voreinander.

„Also Sie kommen? Wir stellen noch ein paar Flaschen kalt.“

Altmann dachte an Karla ... Wie ihr oft unheimlich war, und wie sie sich nach Menschen sehnte aus der Heimat ... Vielleicht gab es solche Augenblicke auch im Leben der Nordeni ... Er war ganz ehrlich. Er sah Mariette mit keinem Blick an. Er spürte nur etwas wie Mitleid in sich.

„Gut, ich komme“, sagte er.

Karla war schon auf der Treppe, als er sie einholte.

„Wo bleibst du denn ...“

Sie brachte kaum noch die Worte heraus, und streckte ihre Hand ins Leere.

„Du Schlafliese ...“

Er lachte und trug sie fast bis in ihr Zimmer. Er zog sie aus und deckte sie mit der leichten weißen Decke zu. Er wollte ihr sagen: die Nordeni hat mich noch auf einen Augenblick hinuntergebeten. Aber Karla schlief schon. Er wartete eine Weile an ihrem Bett, sah nach, ob auch kein Moskito mehr im Netz war, zog die Vorhänge zusammen, löschte das Licht und ging auf leisen Sohlen hinaus.

Die Nordeni konnte diesmal kein Ende finden. Und sie sprach ... sprach ohne Aufhören — Deutsch, Französisch, Englisch ... Don Pedro antwortete zerstreut, Don Despero rauchte schläfrig eine Zigarre und sorgte dafür, daß die Gläser immer nachgefüllt wurden. Mariette flüsterte Altmann kurze, abgerissene Worte zu.

Sie war so unglücklich jetzt ... es stürmte soviel auf sie ein ... sie hatte keinen, mit dem sie sich beraten konnte ... Wenn Monsieur Altmann ihr Freund wäre, wenn ... Sie legte ihre beweglichen kleinen Hände auf seinen Arm, sah ihm in die Augen mit Blicken, die um Vergebung, um Schonung, um Verständnis und um Liebe bettelten.

Die Nordeni erzählte von ihrer Kindheit.

[S. 180]

„Mein Vater war Direktor einer Stadtpfeiferei in einem sächsischen Nest. Wir wurden mit Prügel und Musik großgezogen, mein Bruder und ich. Als ich meine ersten zwanzig Mark verdient hatte, ging ich durch. Wenn ich zurückgekommen wäre, hätte mich mein Vater totgeschlagen. So blieb ich draußen ... ich war ein hübsches Mädel damals ... Aber leicht war’s nicht! Ich brachte es bis zum Leipziger Stadttheater ... erste Partien ... höchste Gage ... konnte zufrieden sein. Da sah ich meinen Vater in der ersten Orchesterreihe sitzen. Ganz alt war er geworden und hatte noch immer den weiten, schäbigen Rock, wie ich es nie anders an ihm gekannt hatte. Wie ich den Akt zu Ende gesungen, das weiß ich heute nicht mehr! Ich schickte ihm einen Zettel im Zwischenakt: ‚Lieber Vater, komm auf die Bühne oder zu mir in die Wohnung ... ich wohne da und da ...‘ Als der Vorhang wieder aufging, saß mein Vater nicht mehr auf seinem Platz. Ob er überhaupt im Theater geblieben ist, weiß ich nicht. Ich wartete auf der Bühne ... ich wartete zu Hause ... die ganze Nacht und den ganzen Tag durch ... und noch eine Nacht und noch einen Tag ... Er kam nicht. Ich schrieb nach Hause. Der Brief kam zurück mit dem Postvermerk: ‚Adressat verzogen. Unbekannt wohin.‘ Da freute mich Leipzig nicht mehr ... und Deutschland nicht ... Ich löste meinen Vertrag, verkaufte meine Möbel und setzte übers Wasser ... auf eigenes Risiko ... ja ... so mutig war ich damals! Vor zehn Jahren kam ich zu John Russel ... Der schleppt mich nun kreuz und quer durch Amerika ... Wenn ich nochmal nach Europa komme, dann will ich nach Hause fahren ... Vielleicht hat jetzt mein Bruder die Stadtpfeiferei ... oder ein ganz Fremder ... Auf die Menschen kommt’s mir nicht an ... aber ob das Häuschen noch steht, mit dem großen Garten rundherum und den vielen Apfelbäumen ... Die Apfelbäume möcht’ ich wiedersehen ... die! ...“

Ihr Kopf fiel auf die linke Schulter, ihre Augen blickten verschwommen geradeaus ...

[S. 181]

Sie trank ein bißchen viel in der letzten Zeit, die Nordeni — —

„Madame Nordeni trinkt nicht mehr“, sagte Altmann zu Don Despero, als er dem Neger ein Zeichen machte, einzuschenken.

Mariette stieß plötzlich einen kleinen Schrei aus, warf ihr Glas zu Boden, sprang auf und lief zur Tür.

Die Nordeni hatte Mühe, sich zurechtzufinden aus dem heimatlichen Apfelgarten ...

Don Pedros dunkelgefärbte Wangen hatten einen heißen, geröteten Unterton. Er blickte verlegen und erstaunt.

„Bitte, lieber Altmann ... gehen Sie Mariette nach ... ich bin so unruhig ... ich verstehe nicht ... bitte ...“

Ein einziges Mal wollte die Nordeni mit Don Pedro allein bleiben ... ein einziges Mal nur sich aussprechen ... Wenn Altmann die Kleine festhielt, ausfragte ...

Altmann erhob sich widerstrebend. In der Schwüle des Saales hatte er nicht gemerkt, wieviel eiskalten Sekt er heruntergegossen hatte. Ganz ausgedörrt war ihm der Hals gewesen von der Fahrt, der Hitze ... Er mußte sich zusammennehmen, um ganz aufrecht und sicher durch den Saal zu gehen. Altmann ging die Treppe hinauf — Mariette war nirgends zu finden. Er ging in sein Zimmer. Die Tür zu Karlas Stube war weit offen. Leise schloß er sie, um sie nicht zu wecken. Dann tastete er sich zurück, zu seinem Bett.

Ihm war es, als preßten zwei glühende Metallplatten seinen Kopf zusammen. Die Luft erschien ihm wie ein dicker Kleister. Er erhob sich, tastete sich zum Balkon, zog den Rolladen herauf.

Er hatte Mariette und seinen Auftrag völlig vergessen. Nur eine weiche, mitleidige Regung war ihm geblieben, eine Bereitschaft zu trösten, zu helfen ... Dazu war er ja auch da ... er, der Mann, der Stärkere ...

Ganz leises Weinen schlug an sein Ohr.

Er wendete den Kopf zur Seite. An derselben Rampe[S. 182] wie er, in milchiges Licht getaucht wie er ... nur tief herabgebeugt über ihre weißen, schlanken Arme, stand Mariette.

„Na ... na ... was ist denn, Mariette ... was ist denn?“

Er ging auf sie zu. Er mußte ihr ja helfen ... er, der Stärkere —

Mit einer sanften, fast demütigen Gebärde ergriff sie seine Hand, legte sie an ihre feuchte — nicht allzu feuchte Wange.

Wie gut war es von ihm, daß er zu ihr kam ... daß sie gerade an dem Wendepunkt ihres Lebens nicht allein war ... So ein armes kleines Mädelchen war sie ... und haßte diese braunen Affen, die ihr nichts zu bieten hatten als Gold und Steine ... Denn ihre Liebe ... Was wußten die von Liebe ...!?

Ihre Wange lag jetzt an seinem Rock, die feine Puderschicht auf ihrem blassen Gesichtchen entwickelte in der frischen, kühlen Nacht einen süßen, sinnverwirrenden Duft ...

Altmann streichelte ihre Wange, und wieder fühlte er den Druck glühender Metallplatten an seinen Schläfen.

Er verlor den Boden der Wirklichkeit ... Was wollte denn das kleine Mädchen, das seine Arme um ihn warf? ... Unten saßen Männer, die ihr ein Vermögen boten; sie aber lief davon und wartete hier auf ihn ... weinte um ihn! ... Wenn er ihr nur in ihrer Sprache sagen könnte, wie dumm das von ihr war, wie strafbar ... ja — strafbar ...

„Mariette ... Mariette!“ ...

Das Blut lief ihm aus dem Gesicht, sein Herz schlug hörbar ...

Je vous aime!“ ...

Sie war verrückt ... Er legte ihr die Hand auf den Mund. Wenn Karla das hörte ...

„Gehen Sie in Ihr Zimmer, Mariette ... Sie sind ... folle ... folle ...!“

[S. 183]

Mariette lächelte still und sicher. Ein Mann, der Antwort gab, war halb bezwungen. Sie strich ihm mit den Fingern über die geraden Brauen:

Er hob sie mit beiden Armen in die Luft, er schüttelte sie, wütend. „Kleine, infame Kröte!“ ...

Er wollte sie in ihr Zimmer werfen wie einen Gegenstand. Da lagen aber auch schon ihre beiden Arme um seinen Hals, und ihre schlanken Bachstelzenbeinchen in den weißseidenen Strümpfen strampelten in der Luft. Sie lachte ... ganz lautlos lachte sie ... Bog den Kopf zurück, mit dem roten Schöpfchen; fein und weiß, vom Mondlicht umflossen, leuchtete ihr Pariser Grisettengesichtchen. Die Nadeln fielen aus ihrem Haar, und immer mit gleichem unhörbarem Lachen schlang sie es um seinen Nacken. Betäubend stieg eine Duftwolke auf, leicht wie Schmetterlingsflügel streiften warme, weiche Lippen sein Gesicht ...

Eine Nachtigall schluchzte auf; im Dunkel des Zimmers schwebten Leuchtkäfer wie blinkende Sterne ...

Die Stimme der Nordeni erklang leise, gedämpft:

„Mariette, Mariette ...“

Ein Rolladen ratterte herab. Die Nordeni läutete dem schwarzen Hotelmädchen, daß sie ihr beim Auskleiden helfen solle. Aber sie zuckte zusammen, als die schwarzen Finger ihre Schultern streiften. Im Spiegel sah sie die Augen des Mädchens: starr, glänzend, begehrlich auf den Schmuck gerichtet. Ein Frösteln lief ihr über die Arme .. Nur das Kleid ließ sie sich aufhaken, dann befahl sie dem Mädchen zu gehen und legte ihre Hand über das Geschmeide, als bange ihr, die starren, begehrlichen Blicke könnten die Steine aus ihrer goldenen Fassung reißen — Die echten und die falschen — — —

Gegen vier Uhr früh erwachte Karla. Sie war ausgeschlafen und munter, gähnte und streckte sich wohlig unter der weißen Decke und dachte an den heutigen Abend. Sie freute sich. Und weil die Freude sie nicht mehr einschlafen ließ, drehte sie das Licht an, schlüpfte in ihre Morgenschuhe und ging aufs Nebenzimmer zu. An der Tür stutzte sie.[S. 184] Warum hatte ihr Mann sie zugemacht? Es war doch sonst nicht seine Gewohnheit. Leise drückte sie die Klinke nieder. Flüsterte leise: „Ernst ...?“

Sie blieb wie erstarrt auf der Schwelle stehen: der Rolladen war hochgezogen — das Zimmer leer, das Bett unberührt. Kühl wehte der Morgenwind von den Bergen herein.

Sie riß die Decke vom Bett, wickelte sich ein und lief auf den Balkon. Die Rolläden vor den Zimmern waren alle herabgelassen. Das Zimmer neben dem ihres Mannes bewohnte die Koloratursängerin. Anschließend war ein Schrank- und Kofferzimmer, ohne Rolladen, dann kam die breite Balkontür der Nordeni — sie beanspruchte für sich stets den schönsten Raum — und nebenan als letztes das Zimmerchen von Mariette.

Auch hier war der Rolladen herabgelassen.

Karlas Zähne schlugen aneinander. Immer kälter fegte der Wind über die Dächer, immer dichter jagte er die grauen Wolken aneinander. Einzelne Tropfen schlugen schwer, in langen Abständen an die Rampe der Veranda, auf deren Eckpfeilern Geranienbüschel ihre roten Blüten über die bunten Steingutschalen neigten.

Plötzlich bückte sich Karla, und ihre bläulich angehauchten Lippen wurden weiß. Sie hielt die kleine, goldene Schlipsnadel ihres Mannes in der Hand — einen Anker, mit einer kleinen Perle — die sie ihm zu seinem Geburtstage geschenkt hatte.

Hier, vor der Tür dieser Person! Karla hob die geballten Hände, als wollte sie die Scheibe einschlagen. Dann fielen ihre Hände herab, fast gegen ihren Willen. Krampfhaft hielt sie die Nadel in der Hand, ohne zu merken, daß ihre Spitze sich so tief einbohrte, daß ein Blutströpfchen an ihr hängen blieb. Sie legte die Nadel auf Altmanns Nachttisch und sank auf sein Bett; ohne recht zu wissen, was sie tat, nahm sie ihren Schuh in die Hand. Aber als sie ihn hielt, da wußte sie, daß, wenn ihr Mann über die Schwelle trat, sie ihm den Schuh ins Gesicht schleuderte, mitten ins[S. 185] Gesicht ... Und dann würde er wissen, daß es aus war zwischen ihnen — für immer aus ..

Regungslos wie eine Puppe saß sie da ... Sie fühlte keine Kälte, keine Erschöpfung, hatte keinen Gedanken im Hirn und keine Überlegung.

Schneller folgten die Tropfen aufeinander, lauter schlugen sie auf, bis es ein Prasseln wurde ...

Ein Rolladen wurde hochgezogen.

Karla schnellte auf. Ihr Herz schlug nicht mehr. Sie hörte Schritte ... sie glaubte, sie zu hören, denn der Regen überlärmte alles ...

Karla lief in ihr Zimmer zurück, riegelte die Tür ab und warf sich schluchzend auf ihr Bett.

Als Altmann seine Stube betrat, sah er nur eine weiße Decke auf der Erde und auf dem Nachttisch die von ihm bereits vermißte Nadel ...

— — — — Um zehn Uhr erst ging Karla hinunter zum Frühstück. Sie war zum Ausgehen angekleidet und hatte gerötete Augenlider. Da es spät war, war sie die einzige im Frühstücksraum. Als sie ihr Ei aufgeklopft hatte, kam Altmann, mit hochgeklapptem Mantelkragen.

„Rasch, Karla, ich bin mit dem Wagen draußen ... wenn du die Probe noch mitmachen willst ...“

„Gewiß ... ja.“

Sie sah ihn nicht an. In ihrem Leben hatte sie sich nicht so geschämt. Der Klang seiner Stimme, die ungewohnt rasche Art seines Sprechens — alles war gemacht, unnatürlich. Sie war bereit gewesen, alles zu verzeihen — jetzt stieg der Zorn wieder wie eine heiße, lodernde Flamme in ihr auf, aber es mischte sich ihm etwas bei, was ihr neu war an ihr selbst: Überlegenheit — beinahe Verachtung.

„Ich bin fertig, wir können fahren.“

Auch ihre Stimme klang anders als sonst. Gemacht höflich, kühl ...

Sie erkannte ihn nicht und sich nicht. Und sie wußte, das würde nun so fortgehen ... lange, lange Zeit ... daß[S. 186] sie miteinander sprechen würden, mit falschen, fremden Stimmen ...

In diesem Augenblick kam Mariette herein. Offenbar hatte sie geglaubt, Karla wäre nicht mehr im Hotel, denn sie blieb erst betroffen stehen und wollte dann mit einem kurzen: „Bonjour, Madame!“ wieder zurücklaufen.

„Ach bitte, einen Augenblick.“

Karlas Augen funkelten; ihr hübsches, rundes Gesicht war wieder rosig überhaucht, wie vor einem großen Vergnügen.

Arglos trat Mariette näher, liebenswürdig lächelten ihre blutroten Lippen.

Karlas Hände aber fielen blitzschnell auf die rechte und die linke Wange der kleinen Pariserin, die, wie erstarrt über die ihr widerfahrene Züchtigung, Karla mit ihren Augen nur so durchbohrte. Ihre Lippen zuckten, ihr Unterkiefer bebte.

Altmann riß Karla mit sich fort:

„Was fällt dir ein? ... Wie benimmst du dich? ... Man muß sich ja schämen .. in meiner Gegenwart ..“

Karla befreite ihre Hand. Sie hatte ihr Mütchen gekühlt und war gleich wieder mal bereit gewesen, alles zu verzeihen, sich im Wagen mit ihrem Mann zu versöhnen. Seine Worte löschten alle ihre guten Vorsätze aus.

„In deiner Gegenwart nur? Schade ... ich wollte eigentlich vor dem versammelten Personal ...“

Sie stieg in den Wagen. Altmann schlug heftig die Tür hinter ihr zu. Sie sah, wie er mit aufgespanntem Regenschirm und hochgekrempelten Beinkleidern neben dem langsam fahrenden Wagen herging, und wie das Wasser bei jedem seiner Schritte patschend aufspritzte. —  —

Der Abend brachte Karla ihren bisher größten Erfolg. Sie war noch nie so gut bei Stimme gewesen, hatte noch nie ein so alles überragendes, leidenschaftliches Spiel gezeigt. Es war für Karla ein ungeahnter Triumph, daß ihre Senta den fliegenden Holländer selbst in den Schatten stellte. Man hörte, man sah nur Karla König. Keinem[S. 187] Stierkämpfer waren je begeistertere Huldigungen dargebracht worden! Blumen, Fächer, Taschentücher, ja sogar Ringe, Armbänder und Halsketten flogen auf die Bühne. Die Frauen jubelten Karla fast noch mehr zu als die Männer. Sie waren bereit, sich vor ihr niederzuwerfen, mit ihren kostbaren Kleidern und mit ihren Leibern einen Teppich zu bilden, auf dem sie bis in ihr Hotel schreiten könnte. Karla König hatte ihnen ihr Frauenschicksal gesungen ...

Die Polizei mußte einschreiten, um Karla zu schützen, denn hundert gierige, fanatische Hände streckten sich nach ihr aus, um eine Spitze ihres Kleides, eine Strähne ihres Haares an sich zu reißen.

Zitternd und blaß kam Karla, von John Russel und Kapelle geleitet, im Hotel an.

Eine Zeitlang hielt Russel einen Platz für die Nordeni frei, aber Schädlowski sagte etwas von einer Einladung und „großen Geschichte“, die im Nebensaal gefeiert werden sollte.

„Vielleicht verlobt sie sich“, meinte Kapelle laut und gallig. „Ich wünsche es ihr und mir!“

Er war jedesmal schlechter Laune am Vorabend ihres Auftretens.

Kapelle neigte sich zu Karla, er hätte etwas gehört von großartigen Beziehungen, die die Nordeni hier hätte ... vielleicht ... bei Gott und in Brasilien war kein Ding unmöglich ... vielleicht blühte ihm noch die Aussicht, ihr einmal in ehrlicher Freude die Hand schütteln zu können ...

„Sie sind boshaft, Kapelle! Ich stoße heute nicht mit Ihnen an.“

„Schön. Und wenn Sie verständig sind, dann trinken Sie überhaupt nicht soviel Schaumwein. Selterwasser mit Zucker und einem Gläschen Kognak tut’s auch. Russel ist ein Esel — er glaubt, wunder wie nobel er ist, wenn er Ihnen Magen und Stimme ruiniert! Was geht’s ihn auch an? Sind Sie erst fertig, findet er eine andere!“

Nie war er so gesprächig gewesen. Es war, als wollte[S. 188] er verhindern, daß Karla sich noch weiter im Erfolge des heutigen Abends sonnte.

„Wo ist denn Ihr Mann?“

Karla wurde rot. Sie hatte gar nicht gedacht an ihn den ganzen Abend und seine Abwesenheit nicht bemerkt. So ausschließlich war sie mit sich beschäftigt gewesen. Jetzt kam ihr das Erinnern zurück. Einige Augenblicke später kam Altmann an, mit einem kleinen zusammengebundenen Tuch. Er warf es vor Karla auf den Tisch.

„Da ... das haben die Arbeiter noch zusammengefegt.“

Im Bündel lagen Schmuckstücke, kostbare Spitzentücher, Fächer.

Karla sah, wie die Blicke der Kolleginnen lüstern, neugierig und neidisch an den glitzernden Gegenständen hingen. Und sie waren ihr plötzlich verleidet.

Sie warf jeder Kollegin etwas über den Tisch zu, ohne auszusuchen: eine Nadel, einen Ring, ein Armband. Es waren Kostbarkeiten darunter, wie sie keine von ihnen allen besaß.

„Was machen Sie, Karla ... aber das geht doch nicht .. das können wir nicht annehmen! ...“

Karla lachte laut.

„Warum nicht? Habt ihr alle, ja? ...“

Sie schüttelte das Tuch aus.

Was sollte ihr das? Sie hatte mehr hergeben müssen als ein paar blitzende Steine und ein bißchen Gold! ... Das konnte sie immer wieder mal haben ... Aber das andere ... das felsenfeste Vertrauen ... das ...

Altmann rüttelte an ihrer Stuhllehne.

„Was machst du? Du verdienst Prügel ...“

Sie lachte. Ebenso hätte sie Gärten und Häuser verschenkt! Mochte er hinter ihrem Stuhl nur sehen, wie gleichgültig ihr das Zeug alles war ... „Wurscht“ war es ihr! ... Ganz wurscht! ... Ihr, die einem goldenen Reif mit Rubinschloß nachgeweint hatte! ...

John Russel führte seine Tasse mit Schildkrötensuppe an die Lippen und lächelte. Die war aus gutem Stoff,[S. 189] die König ... anders als die Nordeni. Die ließ er nicht sobald los! Aus der ließ sich wirklich mal was machen! Nicht bloß bei den Wilden!

Kapelle legte seine Hand auf Karlas Arm.

„Ihre Suppe wird kalt.“

„Ja ...“

Sie wurde plötzlich ganz still.

Um das, was sie verschenkt hatte, war ihr nicht leid. Aber sie fühlte, daß sie zu weit gegangen war. Denn Altmann setzte sich, grau vor Ärger, weit weg von ihr, an das äußerste Ende der Tafel. Als das Eis herumgereicht wurde, erklangen aus dem Nebensaal laute Hochrufe.

„Was ist denn dort los?“ fragte Russel den Hotelleiter, der nach altem Herkommen immer um diese Zeit seine zweite Runde um die Tische machte.

„Don Pedro de Santos feiert seine Verlobung mit dem französischen Fräulein ...“

„Mit Mariette?“ schrie der ganze Tisch auf.

In dem Lärmen und Lachen, das jetzt einsetzte, blickte Karla zu ihrem Manne hinüber. Er hatte noch immer dieselbe graue Farbe, aber er nahm sehr ruhig von dem Ananaseis, das ihm angeboten wurde, und nur der Löffel fiel schneller herab, als er gedacht hatte, denn der feine Teller zersprang klirrend mitten durch ...

Und gleich darauf kam die Nordeni. Ihr eiergelbes Brokatkleid rauschte über das Parkett, ihre Juwelen funkelten, bereichert um einen Brillantschmetterling, den ihr Don Pedro als „Trostpreis“ verehrt hatte.

Sie war sehr blaß unter der stärker als sonst aufgetragenen Schminke und schien sehr erschöpft.

Russel machte ihr Platz neben sich — aus alter Gewohnheit, und schenkte ihr ein Glas Sekt ein. Der ganze Tisch bestürmte sie mit Fragen.

„Ja ... ja ... es kam sehr plötzlich ... obwohl ... ja, ich muß sagen ... ich habe mir gleich so etwas gedacht. Die de Santos sind sehr impulsive Menschen ... sehr impulsiv und leidenschaftlich. Ich habe Mariette zugeredet![S. 190] Das kann ich wohl behaupten, sehr zugeredet! Der Mann ist vielfacher Millionär ... Die Kleine macht ihr Glück! Sie ist ehrlich ... ganz ehrlich, und läßt ihn fühlen, daß er ihre Liebe erst erringen muß ... Merkwürdig, wie so ein kleines Ding den Instinkt mitbekommt für das, was wirkt ... Für mich ist es ein großer Verlust ... ich liebte sie ... wie eine Tochter ... das kann ich wohl sagen ... Sie wird mir sehr fehlen! Sehr! ... In vierzehn Tagen soll die Hochzeit sein.“

Sie atmete schwer auf, erhob sich und reichte Karla über den Tisch die Hand.

„Ich habe Sie noch gar nicht beglückwünscht, liebe Kollegin .. man spricht nur von Ihnen ... Sie haben sich selbst übertroffen ... es wird morgen schwer sein für mich ... sehr schwer! ... Wo ist Ihr lieber Mann? Ich wollte ihn fragen, ob er nicht ein bißchen zu uns herüberkommen will ...“

Karla blickte mit den anderen zum Platz hin, an dem Altmann gesessen. Er war leer.

Die Nordeni lächelte mühsam.

„Macht nichts. Ein andermal ... wir bleiben ja noch zusammen... auf Wiedersehen, Kinder! ...“

Langsam, majestätisch schritt sie wieder hinaus.

Am Tisch war es still geworden. In den Augen der Frauen lag Trauer und Sehnen.

— — — Altmann hatte sein beleidigtes Gesicht. Das Gesicht, an dem Karlas beste Laune zerschellte. Das Gesicht, das sie an die trostlosesten Tage von Kiel und Berlin erinnerte.

Und die Erinnerung an sie spannte einen eisernen Reifen um ihr Herz.

Die Zeit, da sie ihm in bedingungslosem Verzeihen an den Hals geflogen wäre, war verpaßt. Er aber besaß nicht Geschmeidigkeit genug, eine Aussprache herbeizuführen.

Ihre erste Andeutung schnitt er mit den Worten ab:

„Du bist albern, liebes Kind, und recht geschmacklos.[S. 191] Es gibt Dinge, die eine Frau, die Herz und Geschmack hat, nie mehr berührt.“

In seinem Innern war er aufs tiefste empört über Mariettes Verlobung. Seine Eigenliebe hatte die böseste Schlappe davongetragen. Er hatte sich von ihr nasführen lassen, war ins Garn gegangen wie ein dummer Gimpel.

Karla mußte doch fühlen, zum Donnerwetter, daß sie nie mehr daran rühren durfte, daß sie ihm nicht zu verzeihen, sondern ihn zu schonen hatte. Das wenigstens hatte er doch um sie verdient! Weil eine Aussprache von Tag zu Tag unmöglicher wurde zwischen ihnen, wurde die Kälte immer größer.

Karla hatte gerade jetzt und gerade hier so große Erfolge, wurde so dringend überall eingeladen, daß ihr zum Glück nicht viel Zeit blieb, sich das Gesicht ihres Mannes immer genau anzusehen. Nur die anderen empfanden den immer verschlossen und gleichsam beleidigt dreinblickenden Mann, dem sie als dem Gatten der gefeierten Primadonna die Hand drücken, den sie an ihrem Tisch sehen mußten, als eine nicht sehr willkommene Beigabe.

Die göttliche Frau mußte steinunglücklich an der Seite dieses Menschen sein! Einzelne Damen suchten sie zu einer vertraulichen Aussprache zu bewegen. Aber Karla hätte sich eher der letzten deutschen Choristin offenbart als den übereleganten, leichtfertigen, vergnügungssüchtigen Kreolinnen. Überall, wo sie hinkam, erzählte sie von Schmerzchen. Aber da sie so wenig von ihrem Kinde wußte, sprach sie nur von ihrer Sehnsucht und von ihrem Zukunftstraum, das Kind zu sich zu nehmen und nie mehr von sich zu lassen.

Die Damen hatten sich bald ihre fertige Meinung über Karla gebildet. Sie war eine große Künstlerin. Aber dumm — dumm! ... Es war unmöglich, mit ihr über etwas Vernünftiges zu sprechen. Die Nordeni war entschieden unterhaltsamer.

Und diese selben Frauen, die ihr an dem ersten Opernabend ihren Schmuck zugeworfen, ihre Herzen ihr unter[S. 192] die Füße gelegt hatten, weil ihre herrliche Stimme die leidenschaftlichsten Gefühle in ihnen erregt hatte, wußten mit dem Menschen in ihr nichts anzufangen.

Sie stellten Karla ans Klavier und ließen sie singen. Dafür bezahlten sie sie fürstlich. Und abends trugen sie ihre Begeisterung für die Künstlerin zur Schau, bezahlten sie mit dem Zerreißen ihrer Handschuhe und dem Wehen ihrer Taschentücher.

Mit der Nordeni plauderten sie. Und wenn sie sang, plauderten sie auch. Die Braut des Don Pedro de Santos aber erwarteten sie in ihrer Mitte mit der bewegten Neugierde, die einer geborenen Pariserin und der Vertrauten einer Primadonna gebührte.

Die Hochzeit war ein Ereignis für die Stadt.

De Santos lud alle ersten Mitglieder der Russelschen Gesellschaft zur Trauung ein, die nach Art der eleganten Trauungen jener Zeit um Mitternacht stattfinden sollte.

Der größte Teil der Gesellschaft wohnte an dem Hochzeitsabend der Opernvorstellung bei. Die Damen, in tief ausgeschnittenen Kleidern, mit all ihren Juwelen behangen. In einer der Mittellogen prangte die Nordeni, blaß, effektvoll, glitzernder als alle Millionärinnen ringsherum. Gegen zehn erschien de Santos in ihrer Loge, im Frack und weißer Binde wie alle Herren. Aber mit einer weißen Orangenblüte im Knopfloch.

War die Aufmerksamkeit an jenem Abend — trotz Karlas wundervoller, von jeder Schablone abweichenden Leistung als Leonore im Troubadour — sehr geteilt, so wendete sich das Publikum beim Erscheinen de Santos’ fast wie auf Verabredung der Loge der Nordeni zu.

Karla sang ins Leere, wie sie vor bald drei Jahren bei Astrongs ins Leere gesungen hatte.

Ihre Gottheit war entthront, eine andere, wenigstens für die Dauer von ein paar Stunden, an ihre Stelle erhoben. Diese Gottheit war — Mariette. Ihr weißer Brautschleier wallte unsichtbar über dem stets nach neuen Aufregungen dürstendem Publikum.

[S. 193]

Als de Santos die Loge verließ, war es mit der Ruhe im Hause zu Ende. Karlas große Sterbeszene ging unter im Klappern der Sitze, im Zuschlagen der Türen, im Zischen der billigeren Plätze, die ihr teures Geld nicht umsonst geopfert haben wollten. Eine kleine Balgerei am Ausgang, wobei einigen Herren die Zylinder eingeschlagen wurden und eine Dame laute Schreie ausstieß, steigerte die Flucht des Publikums zu einer panikartigen.

Kapelle klopfte ab, drückte auf den elektrischen Knopf am Pult, und mitten in einem unaufgelösten Akkord hörte das Orchester zu spielen auf, fiel der Vorhang herab.

Bleich, mit zornfunkelnden Augen, in ihrem schwarzen Samtkostüm, stand Karla vor John Russel.

„Was ist das? ... Wollen Sie mir nicht sagen, was das ist?“

Well ... das ist Brasilien, weiter nichts, und die Hochzeit von Mademoiselle Mariette ...“

„Diese Person ... diese abscheuliche Person ... auch das noch ... auch das!“

Sie lief in ihre Garderobe, fiel vor ihrem Schminktisch auf den Stuhl und ließ ihre kalten, zornigen Tränen über die geschminkten Wangen laufen.

Altmann kam herein. Seine Blicke schweiften unsicher über Karla.

„Das nützt nichts ... schmink dich ab, und machen wir, daß wir nach Hause kommen ...“

Sie schlug mit beiden geballten Händen auf den Tisch.

„Wegen einer solchen Person ... einer solchen Person ... Mir das! Mir ... Erst den Mann und dann ... Und gerade mir! Warum gerade mir ...?“

„Ich bitte dich, Karla ... ich bitte dich ...“

Ihm war gar nicht wohl zu Mute bei der ganzen Sache.

„Sei vernünftig, Karla ... ich werde dir helfen.“

Aber sie kannte sich nicht mehr, stieß ihn zurück. „Laß mich ... rühr’ mich nicht an ... komm mir nicht nahe ...“

Sie stürzte zur Tür.

[S. 194]

„So schmink dich doch wenigstens ab ... so kannst du doch nicht herauslaufen.“

„Ja ... ja ... aber komm mir nicht nah’ ...“

Ihre Zähne schlugen aneinander wie im Fieber, ihre Hände bebten. Sie fuhr sich mit dem Tuch zwei-, dreimal übers Gesicht.

„So ... so ... so. Nun ist’s gut. Gut genug.“

Sie schlang ihren schwarzen Spitzenschal um den Kopf und zerrte ein Ende über ihr gerötetes, verweintes Gesicht.

„Du willst mit dem Kostüm auf die Straße?“

„Ja, mit dem Kostüm! Ich habe nicht Lust, jetzt den Hochzeitsgästen zu begegnen ...“

Sie riß Altmann ihren Umhang aus der Hand und warf ihn über den schwarzen Samt. Sie lief an ihm vorbei aus der Tür. Er folgte ihr, rasch, entschieden — besorgt, daß sie Unheil anrichten könnte in ihrer Aufregung. Vor dem Ausgang standen mehrere Wagen. Nur nach Hause in ihr Zimmer ...! Sie sprang aus dem Wagen, noch bevor er vor dem Hotel recht gehalten hatte. Ihre Füße traten weich. Ein purpurroter, breiter Teppichstreifen führte aus der offenen Halle durch den taghell erleuchteten Vorgarten bis zur Bordschwelle.

Sie lief neben dem Teppich her, nur um nicht etwa die Stelle zu berühren, über die der Fuß „dieser Person“ schreiten würde. Eine Reihe eleganter Wagen hielt in einiger Entfernung von dem Gitter; in der blendend erleuchteten Halle standen mehrere Herren im Frack. Sie eilte an ihnen vorbei, um, so rasch sie ihre Füße trugen, ihr Zimmer zu gewinnen. Aber als sie schon auf der zweiten Treppenstufe stand, mußte sie wieder zurücktreten. Denn ihr entgegen kamen vier junge Mädchen in weißen Spitzenkleidern mit blauen Schärpen, und hinter ihnen schritt de Santos, sehr ernst, sehr feierlich, und an seinem Arm Mariette, in schwerem, weißem Atlas, ein Orangenblütenkrönchen, das Symbol der Unschuld, auf dem hochfrisierten Haar, dessen brennendes Rot von den weichen, duftigen Falten eines kostbaren Brautschleiers umflossen war. Vier kleine Knaben,[S. 195] in weißseidenen Matrosenanzügen, trugen die mit Orangenblüten besäte breite und endlos lange Schleppe. Die Nordeni mit ihrem funkelnden Geschmeide, ein fast unwahrscheinlich blitzendes Diadem im schwarzen Haar, die Schultern kaum bedeckt von einem neuen, kurzen Hermelinkragen, beschloß den Zug.

Die Herren in der Halle nahmen beim Nahen der Braut die Zylinder ab, und Karla sah, daß auch ihr Mann seinen Hut zog. Wie gleichgültig und kalt er es tat, wie ausschließlich nur, um einer äußeren Form zu genügen, deren Nichterfüllung aufgefallen wäre — das sah sie nicht.

Sie lief in ihr Zimmer und riegelte sich von beiden Seiten ein.

Außer Kapelle und Altmann war heute niemand in dem weißen Speisesaal. Sie saßen an dem langen, sonst so belebten Tisch einander gegenüber und aßen, ohne zu reden.

Erst beim Obst knurrte Kapelle:

„Daß die kleine Kanaille hier bleibt, ist immerhin auch was.“

„Ja“, sagte Altmann trocken.

Er haßte sie jetzt nicht so sehr, weil sie ihn zur Untreue gegen Karla, sondern zur Untreue gegen sich selbst verleitet hatte. Die Unfehlbarkeit, auf die er zeitlebens so stolz gewesen, war hinfällig. Um seinen Mund zuckte es bitter.

Kapelle tat einen kräftigen Zug aus seinem Strohhalm.

„Geschehnisse, welcher Art sie immer sein mögen, sind hier mit einem besonderen Maße zu messen. Wie man europäischen Ballast nicht mit herübernehmen darf, so von hier aus nichts nach Hause. Überhaupt ... das mit dem einen einzigen Leben, das wir haben, ist ja Unsinn. Hundert Leben hätten wir, wenn wir nur wollten! Aber wir kleben fest — äußerlich oder innerlich, gleich Schnecken, die überall ihr Gehäuse mit sich schleppen. Wir haben uns nicht zum Vergessen erzogen, zum willkürlichen bewußten Vergessen, obwohl es das größte Gnadengeschenk des Himmels ist!“

[S. 196]

„Lieber Freund ... wenn wir als Kinder etwas vergaßen, dann setzte es Prügel: Du hast nichts zu vergessen!“

„Das beweist, daß die Kinder für die Eltern und die Lehrer erzogen werden, aber nicht für das Leben. Sie haben ein Kind, Altmann, denken Sie manchmal dran!“

„Ein Mädchen ... ich bitte Sie —“

„Eben. Gerade. Frauen haben ein mordendes Gedächtnis. Ihr Gedächtnis ist ihre Moral. Und nur im Vergessen liegt Güte ... Ein gütiger Mensch hat viele Leben! Denn immer wieder muß er von vorn anfangen ... das erhält ihn jung. Optimisten sind immer vergeßlich. Frauen sind selten optimistisch ... weil sie aus ihrem Erinnern schöpfen.“

Kapelle sprach hastig, wie aufgepeitscht von einer Welle eigenen Erinnerns.

„Ich möchte noch an die Luft — vor vier regnet es ja doch nicht ... halten Sie mit, Kapelle?“

Schweigend gingen die Männer durch die Nacht.

Endlich sagte Kapelle: „Ich weiß hier in der Nähe eine kleine Kneipe ... die ist die ganze Nacht offen ...“

Sie nahmen Platz an einem der wenigen Bambustischchen, die auf der offenen Veranda unter bunten Papierlampions verteilt waren.

Kaum hundert Schritte vor der Rampe lag die breite Straße, die die innere Stadt mit dem Villenviertel verband.

Es mochte gegen halb zwei sein, als das Aufschlagen von Pferdehufen sich vernehmen ließ. Zwei große Acetylenlaternen starrten wie kalte, weiße Augen aus der Finsternis heraus — wurden größer, immer größer, bis der Wagen selbst, vor dem sie hingen, erkennbar wurde in ihrem Licht.

„Das sind die Gäule von de Santos ... die haben alle denselben Hufschlag. Schädlowski sollte vom Stallmeister de Santos’ — Gefühl für Rhythmus lernen ...“

„Wer mag denn schon so festmüde sein?“

Kapelle stocherte mit seinem Löffelstiel in der Räucherschale herum und zuckte die Achseln.

„Die Nordeni vielleicht ... Die sah mir ganz danach[S. 197] aus ... Die hat’s satt, sage ich Ihnen ... bis zum Halse ...“

Er schlug mit dem Löffel auf den Tisch.

„Lassen Sie’s nicht so weit kommen mit Ihrer Frau ... Ruck, ein ander Bild, ein neues Leben ... taugt hier nichts ... wär’ schade ... schade ...“

Kapelle hatte recht gehabt. Es war die Nordeni.

Ganz heimlich hatte sie sich fortgeschlichen, als die ersten Paare sich zur Polonaise anstellten, die den Ball eröffnen sollte.

De Santos fing sie noch ab, als sie sich gerade den Hermelinkragen umgeben ließ. Er befahl dem Diener, daß sein Wagen vorfahre und ein Diener sie bis zum Hotel brächte. Er küßte ihr die Hände und dankte ihr. Er brachte sie die Marmorstufen hinunter bis zum Wagen. Barhäuptig, sehr respektvoll, aber doch froh, daß sie nun nicht immer als dritte da sein würde, zwischen ihm und Mariette.

„Ich werde alles tun, um sie glücklich zu machen.“

Die Nordeni nickte müde. Wie naiv diese Männer doch waren ... Die Besten waren naiv ... die anderen ...

Elegant und sicher trugen sie die schönen, schwarzen Pferde ihrem Hotel zu. Sie fror in ihrem prächtigen Hermelinkragen. In diesem Wagen würde Mariette fortan fahren ... Oder nicht? ... Mariette hatte schon von einem Auto gesprochen. Sie wollte die erste sein, die es hier einführte ...

Ein feuchter, kalter Schweiß trat der Nordeni auf die Schläfen, als sie daran dachte, daß sie in drei Tagen würde packen müssen ... allein ... und dann wieder auspacken ... und abermals packen ... ihre Kleider, ihre Wäsche, ihre Schuhe, ihre Haare, ihr Geschmeide ... Reisen ... Singen ... Singen ... und die Grobheiten von Kapelle ...! Immer schwerer wurde es ihr, das hochnäsige Lächeln festzuhalten ... immer schwerer, die Höhe zu erklimmen ... So viel Staub lag in ihrer Kehle, so viel Müdigkeit in ihren Gliedern ...

Der Wagen hielt. Der Diener sprang vom Bock, öffnete[S. 198] den Schlag, die Finger an der Hutkokarde. Sie nickte herablassend — ihr Diadem funkelte auf in dem behende angedrehten Licht der Hotelhalle. Aalgleich wand sich ein Neger an ihr vorbei, drehte überall das Licht an. Auch in ihrem Zimmer.

Es war nur flüchtig geordnet — von fremden, lieblosen, ungeschickten Händen. Jetzt war sie wenigstens allein ... Um keinen Preis rief sie das schwarze Mädchen ... Und wenn sie die ganze Nacht angekleidet bleiben sollte! ... Eine der Kolleginnen würde ihr schon helfen, wenn sie von der Hochzeitsfeier zurückkämen ...

Die Tür zum kleinen Zimmer nebenan stand noch auf. Wenn sie Licht darin machte, dann konnte sie sich allenfalls einbilden, Mariette wäre noch da, bürste ihr rotes Haar und ordne es unter dem hübschen Netz, mit den blauen Schleifen, das sie über Nacht immer trug ...

Langsam ging sie auf das Zimmer zu. Ihre Schleppe rauschte hinter ihr drein, ihre Steine funkelten auf, wie Strahlen einer scheidenden Sonne. Aber kaum hatte sie den Fuß über die Schwelle gesetzt, als das Licht in ihrer eigenen großen Stube erlosch. Etwas Weiches, Glattes, gleich zwei nackten Frauenarmen, umklammerte ihren Hals — gleichzeitig fühlte sie einen Schlag gegen die Stirn und schrie auf — kurz und hoch und klar. Stieß in ihrem Todesschrei noch zum letztenmal den Ton aus, auf dem ihr ganzes Leben aufgebaut gewesen war — das hohe C ...

— — — Die Vorstellung am nächsten Abend fiel aus.

Den ganzen Tag standen Schutzleute vor dem Hotel, um die andrängende Menge zurückzuhalten. Schließlich mußte die Straße abgesperrt werden, da es allen Anschein nahm, als ob sich eine Korsofahrt vor dem Hause entwickeln sollte ...

Eine Kommission hatte den ganzen Morgen über den Tatbestand des Mordes aufgenommen. Von der schwarzen Dienerschaft waren ein Neger und seine Liebste, die Stubenmädchen war, verschwunden. Sie hatten reiche Beute gemacht und mußten Helfershelfer gefunden haben außerhalb[S. 199] des Hotels ... Als alles vorüber war, ließ Russel die Nordeni feierlich aufbahren. Die Stirn mit der klaffenden Wunde war mit einem Spitzenschleier umwunden.

Bis in die Lippen bleich, mit verstörten großen Augen schlich sich Karla zu ihr herein. Sie faltete die Hände, als wollte sie beten, aber ihre Lippen vermochten keine Silbe zu formen.

„Primadonnentod“, murmelte jemand neben ihr.

Es war Kapelle.

Sie schrak zusammen, als hätte sie jemand am Genick gepackt, und da Altmann, der gerade einen riesengroßen Kranz zu Füßen der Toten niedergelegt hatte, sich aufrichtete — warf Karla aufschluchzend ihre beiden Arme um seinen Hals ...

„Mein Mann ... mein lieber Mann! ...“

Verzierung, drei Sterne
K

Karla König konnte sich lange nicht von ihrer Erschütterung erholen. Sie litt an Weinkrämpfen, war krankhaft ängstlich geworden, und nicht selten mußte ein im Theater anwesender Arzt, mit Beruhigungsmitteln aller Art ausgerüstet, die Zwischenakte in ihrer Garderobe verbringen.

Nachts konnte sie oft stundenlang nicht schlafen, sah immer Mariette vor sich, wie sie in einem langschleppenden schwarzen Kleide vor der Bahre der Nordeni niedergekniet war und sich die Tränen mit einem kostbaren Spitzentüchlein getrocknet hatte.

De Santos hatte hinter ihr gestanden, wieder sehr bewegt und sehr feierlich. Ein Diener brachte einen Kranz, groß wie ein Wagenrad.

Mariette und die Nordeni mit ihrem tragischen Ende schienen Karla unlöslich mit ihrem Manne verknüpft. An[S. 200] dieser Vorstellung litt sie mit tausend Schmerzen. Ihre Erfolge freuten sie nicht mehr. Wenn Altmann im Theater zurückgehalten war und sie längere Zeit allein blieb, dann ging sie auf die Suche nach Kapelle.

Das erstemal hatte sie an seiner Zimmertür angeklopft.

„Sie? Was ist? Was wollen Sie?“

Es war kein sehr freundlicher Empfang gewesen.

„Darf ich ein bißchen bei Ihnen bleiben?“

Er stieß die Balkontür auf, klappte die Notenblätter zusammen, die auf seinem Tisch ausgestreut lagen.

„Was schreiben Sie, Kapelle?“

„Schreiben? Ich? ... Ich schreibe überhaupt nichts. Stimmen ziehe ich ein. Wann zum Deubel ist denn endlich Ihr Vertrag mit Russel zu Ende?“

„Weiß nicht. Ich bin im Vorschuß ... gehen läßt er mich nicht so bald ...“

„Läßt er nicht ... ja ... glaub’s gern ... Wär ja auch eine Eselei von seinem Standpunkt ... Aber Ihr Mann ... ich meine: Haben Sie denn nichts? ... Gar nichts? ...“

„Geld meinen Sie? Nein, Kapelle ... Geld haben wir nicht ... so viel nicht. Auf der Reise geht doch eine Menge drauf ... Russel sagte letzthin ... so eine erste Rundreise wäre nie lohnend. Erst die zweite brächte auch wirklich was ein.“

„Ja, das sagt er immer“, schnitt Kapelle trocken ab.

„Aber ich möchte nicht, Kapelle ... Noch einmal da herunter ... noch einmal dieselben Hotels, dasselbe Publikum ... Unterdes wächst mein Kind heran. Weiß nicht mal, wie ich aussehe ...“

„Und Ihre Stimme geht flöten ... ja ... oder Sie verschlampen ... Gestern ... glauben Sie, es war schön, wie Sie gesungen haben? Für die Idioten hier noch zehnmal zu gut — aber für uns zwei ... war es schön?“

Karla schoß das Wasser in die Augen.

„Ich weiß nicht ... ich hör’ mich nicht mehr ... ich hab’ keine Freude an mir.“

[S. 201]

Sie hatte keine Freude an sich mehr. Das war es. Es konnte ihr auf die Dauer nicht gleichgültig sein, vor wem sie sang und was. Immer dieselben fünf, sechs Partien. Das machte sie krank.

„Glaubst du, es macht mir Vergnügen, den Inspizienten zu spielen?“, meinte dann Altmann, „immer dasselbe zu sagen und zu tun? ... Das Leben ist eben keine Freuden-, sondern eine Pflichtenkette.“

Seit Karla ihm an der Bahre der Nordeni so triebhaft um den Hals gefallen war, hatte er seine Autorität ihr gegenüber langsam wieder zurückzuerobern versucht. Es fiel ihm nicht schwer. Karla war weicher, fügsamer denn je in dieser ersten schweren Zeit ihrer Niedergeschlagenheit. Sie klammerte sich an ihn mit aller Kraft ihrer verängstigten Seele, ordnete sich ihm unter, mit aller Dankbarkeit für das Schicksal, das ihr in ihm einen Beschützer und Beschirmer gegeben. Er aber erstarkte an ihrer Schwäche und fand, daß die einzige Möglichkeit für ihn, über die demütigende Erinnerung an sein Verfehlen hinwegzukommen, in einem fortab noch lebhafteren Betonen ehrbar bürgerlicher Grundsätze lag.

Einmal brach sie in Tränen aus.

„Sag’ Ernst ... kannst du ihn denn nicht bewegen, mich frei zu lassen? Ist es denn gar nicht möglich?“

Altmann zerbiß sich die Lippe, wußte nicht recht, was er ihr antworten sollte. Schließlich gestand er ihr, daß er den Vorschuß wohl allenfalls zurückzahlen könnte von dem, was er bei Seite gelegt hätte, aber Russel spräche bereits von einer Verlängerung des Vertrages auf ein Jahr ...! Karla sollte das Doppelte der Gage haben und nicht über das nördliche Amerika hinauskommen. Russel ließ sogar durchblicken, daß er allenfalls auch den Vorschuß streichen wollte. Hielt nur mit einem bestimmten Versprechen zurück, um nicht einen letzten guten Schachzug frühzeitig aus der Hand zu geben. Er, Altmann, war sehr geneigt, mit Russel einig zu werden, denn ob Karla nun das Kind wiedersah, wenn es drei oder vier Jahre alt war, das[S. 202] konnte doch wirklich in einer so ernsten Frage nicht mitspielen. Aber es war wirklich nicht gleichgültig, ob sie zwanzigtausend mehr oder weniger heimbrächten.

„Das ist mir aber völlig gleichgültig“, meinte Karla mit zuckenden Lippen.

Altmann wurde ungeduldig.

„Ja, liebes Kind, du sorgst dich ja auch nicht um das Weitere, überläßt alles hübsch mir.“

„Wir werden nicht verhungern ... Schließlich nimmt mich jetzt jede Bühne ...“

Es war ihr erster ernster Widerstand.

Er traf ihn doppelt fühlbar nach den langen Wochen bedingungsloser Unterwürfigkeit. Kalter Zorn erfüllte ihn, versteinerte seine Züge. Das Geld, das er Monat auf Monat zurückgelegt hatte, das gab er keinesfalls heraus — nur um eine Laune, eine kindische Sehnsucht zu befriedigen!

„Glaubst du, ich möchte nicht auch mein Kind sehen? Meine Geschwister? Ich beherrsche mich eben.“

Sie schüttelte den Kopf, müde, erschöpft von all den Gegenreden, die sie wortlos innerlich gehalten hatte.

„Nicht bloß des Kindes wegen ... aber auch meine Stimme ... Ich müßte wieder ein paar Stunden nehmen, neue Partien studieren ... Ich verkomme ja hier ... fühlst du denn das nicht — ich verkomme ...“

„Unsinn, Karla. Das redest du dir nur ein. Du verkommst gar nicht, wenn du ein Jahr länger bleibst.“

Sie sprang vom Sessel auf.

„Ein Jahr ... und wieder ein Jahr ... und noch ein Jahr ... wie er es mit der Nordeni gemacht hat ... ich weiß schon!“

Altmann fing nicht mehr davon an.

Russel hatte gesagt: „Ihre Frau will jetzt nicht? Well, warten wir bis New York. Ich lasse sie dreimal in der Metropolitan singen ... Das wird sie mit Amerika wieder aussöhnen ...“

[S. 203]

Es begab sich eines Abends, in einer der letzten Gastspielstädte, daß Kapelle dreimal laut hörbar mit dem Taktstock aufschlagen mußte, um Karla von irgendwoher, wo ihre Gedanken gerade weilten, zurückzuholen.

„Schweinerei, verdammte!“

Sie hörte es von der Bühne herab und wurde blaß unter der Schminke.

Im Zwischenakt versuchte sie überall, seiner habhaft zu werden; schickte Ankleidefrau, Theaterarbeiter und einen Statisten, ihn zu suchen. Er ließ sich jedoch nicht finden.

Nun war er gewiß wütend auf sie. Sie hatte ihren besten Freund verloren. Sie fühlte sich schwer unglücklich. Auch während der folgenden Wochen war es ihr nicht möglich, mehr als einen flüchtigen Gruß mit ihm zu wechseln. Er sah es nie, daß sie auf ihn zueilen wollte, rückte nur kaum merklich an seinem Hut und ging, ohne sie weiter anzusehen, vorüber. Seine Mahlzeiten nahm er nicht mehr gemeinsam mit der Gesellschaft, wohnte auch nicht mehr in demselben Hotel.

— — Die letzten Stunden vor der Ankunft in New York verbrachte der größte Teil der Gesellschaft, mit Russel an der Spitze, im Speisewagen. Es wurde nach alter Gewohnheit viel Sekt getrunken, Russel sprach einige Worte, dankte den Mitgliedern für „ihre Arbeit“ und gedachte eines seiner treuesten, erfolgreichsten Mitglieder, der „unvergeßlichen“ Nordeni. Alle standen auf und blieben einige Augenblicke stumm.

Nachdem alle wieder ihre Plätze eingenommen hatten, erhob sich der Bariton mit einigen Dankesworten im Namen der Mitglieder. Aufs neue klangen die Gläser zusammen als bekräftigender, heiterer Abschluß. Aber zum Staunen aller sprach Russel noch einmal: Er hätte immer mit viel Vergnügen die Kunstfahrten seiner Mitglieder geleitet und hätte manch neuen Stern dabei entdeckt, den er weiter auf seiner glänzenden Bahn verfolgte. Diesmal hätte er außer Freuden, Mühen und unvermuteter Trauer noch etwas gefunden: Beistand. Dieser Beistand wäre ihm von Mister Altmann gekommen, den er schätzen gelernt[S. 204] hätte. Und darum hoffte er, sein dear friend Altmann würde ihn auch weiter auf eine Reihe von Jahren entlasten wollen. Keinem übergebe er lieber einen Teil der Leitung als ihm, der sich in allen schwierigen Lagen so trefflich bewährt hatte.

Er schüttelte Altmann die Hand, andauernd und fast übertrieben herzlich.

Karlas Augen starrten die beiden groß an. Vor einem Jahr, vor zwei, wäre sie stolz gewesen über diese Worte, hätte gejubelt und wäre ihrem Manne an den Hals geflogen .... Aber jetzt ... heute ... heute, wo alles vorbei sein mußte? ...

Sie glaubte nicht an Russels Bewunderung für ihren Mann. Es lag Russel auch gar nichts an ihrem Manne. Was der geleistet hatte, konnte jeder bessere Inspizient, Regisseur oder Inspektor leisten. Darum brauchte Russel ihm nicht einen Teil der „Leitung“ zu übergeben, ihn zu seinem Stellvertreter zu machen ... Das galt nicht ihrem Mann ... das galt ihr. Um sie zu halten, war das alles! ... Um sie zu knebeln, ihr die Hände zu fesseln ...

Altmann suchte sie mit den Blicken, aber sie war verschwunden. Sie war in ihr Abteil geflüchtet.

Sie schrak zusammen, als die Tür des Abteils zurückgeschoben wurde. Sie wollte ihren Mann jetzt nicht sehen ... jetzt nicht ...

„’Tag“, sagte Kapelle und rückte an seinem Hut.

Sie sprang auf, streckte ihm beide Hände entgegen.

„Endlich! ... Sind Sie mir nicht mehr böse?“

„Böse? Wieso? Hab’ nie daran gedacht ... Setzen Sie sich nur. Wir haben nicht viel Zeit.“

Er schob die Tür wieder energisch hinter sich zu und ließ sich am Fensterplatz, Karla gegenüber, nieder.

Sie wollte was sagen von schlechtem Singen, von verspäteten Einsätzen — er schnitt ihr mit einer kurzen, hastigen Bewegung das Wort ab.

„Jetzt handelt es sich um etwas anderes. Ich wollte es[S. 205] mir bis New York aufsparen ... Aber jetzt ist jedenfalls Gefahr im Verzuge ... Also kurz und gut: ich hab’ was für Sie.“

„Für mich? ... Was haben Sie für mich?“

„Eine Depesche, weiter nichts. Halt ... nicht aus der Hand reißen — zuhören! Es ist nichts Böses. Also: Berlin, wohlverstanden — Berlin kabelt, ob Karla König für drei Jahre mit steigender Gage von fünfzehn-, achtzehn- und zwanzigtausend Mark und freiem Gastspielmonat einverstanden .... Unterschrift geht Sie nichts an. So.“

Karlas Kopf war gegen das Kissen zurückgefallen. Sie murmelte erst etwas kaum Verständliches — ihre Hand schlug in der Luft hin und her.

„Kapelle ... lieber Kapelle ...“

Er faltete das Telegramm zusammen und steckte es in die Seitentasche seines stets verknitterten Anzuges.

„Na ja ... na ja ... Das Ei des Kolumbus ... War ganz einfach. Ich hab’ noch ein paar Beziehungen ... das ist alles. Hab’ sie nie gebraucht für mich ... Aber diesmal .... Also geht Sie alles nichts an. Ich frage nur: Ja oder nein?“

Karla suchte ihr Taschentuch; sie preßte es gegen die Augen, schneuzte sich, lachte, brachte ein paar ganz sinnlose, unzusammenhängende Worte vor und stockte plötzlich.

„Na, was ist denn nun wieder?“

„Nicht böse sein, Kapelle ... liebster, bester Kapelle ... nicht böse sein ... Aber wenn Russel ... wenn der Mensch mich nicht losläßt, und wenn mein Mann ...“

„Ach was, Russel ... Ihr Mann ... Vielleicht der Herr Präsident der Vereinigten Staaten und der Schutzmann von der nächsten Ecke! ... Kommt man über den Kopf, so kommt man über den Schwanz ... Ich hab’ was auf der Bank ... brauche ja nichts, nicht wahr? Und den Russel ... dem hab’ ich immer fest Daumenschrauben angelegt ... Hat immer alles gezahlt und wird[S. 206] weiter zahlen! ... Also wenn’s das ist ... Das Geld für Sie, um von ihm loszukommen, liegt bereit.“ ...

Er kramte in der Seitentasche, holte ein schmales Büchlein heraus, kritzelte seinen Namen unter eine Seite, riß sie heraus und steckte sie Karla in die Hand.

„Ein Scheck. In blanco.“

Er stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, weil Karla ihn mit ihren großen, braunen Augen ganz verständnislos ansah.

„Herrgott, wissen Sie denn nicht, was ein Scheck in blanco ist? Also Sie brauchen hier bloß auszufüllen ... die Höhe des Betrages ... dreitausend Dollar ... oder viertausend ... oder fünftausend ... wie viel es gerade macht. Zehne sind’s doch nicht?“, schrie er sie an, weil sie noch immer so regungslos dastand. „Na also, bis zehn langt es ... verstanden? ... Damit gehen Sie zur Bank und holen sich das Geld und legen es Russel in seiner Office auf den Schreibtisch. Quittung nicht vergessen! Sie sind imstande! ... Obwohl Russel ... Handschlag genügt bei ihm. Ein kleiner Schuft ist er nicht. Damit käme er hier nicht weiter. Haben Sie nun verstanden, ja? Zeit war’s. Und morgen in Ihrem Boardinghouse hinterlassen Sie mir ein Wort, bevor Sie ausgehen. Ja oder nein. Damit ich nach Berlin kabeln kann. Verlieren Sie den Scheck nicht ... sonst holt sich irgendein Nigger das Geld ab ... Wär’ schade ... Wiedersehen, Karla König ... Ich sehe Sie noch, bei Ihrer Abreise. Und in Berlin gleich zum Halsarzt! Und Stunden nehmen! Von vorne anfangen ... verstanden? Und das Geld ... wenn Sie mal sehr viel verdienen ... dann schicken Sie mir’s zurück. Brauchen kann man’s immer.“ ...

Er drückte ihr die Hand, kurz und hart, rückte an seinem Hut, schob die Tür auf und wieder hinter sich zu.

Er sah sich nicht mehr um, sah nicht, wie Karla in die Knie sank, mitten auf den staubigen, schmalen Boden ihres Pullman Cars, wie sie die Hände über dem Blatt Papier[S. 207] aneinanderfaltete und mit lauter, zitternder Stimme zu den Gepäcknetzen hinaufschrie:

„Solch einen Menschen hast du geschaffen, lieber Gott ... solch einen Menschen ...!“

Verzierung, drei Sterne
I

Im Boardinghouse fanden sie Post vor.

In dem großen Brief an Altmann war ein kleines Briefchen von Vicki beigelegt. Sie schrieb über Schmerzchen hauptsächlich. Schmerzchen sei „süß“ und frage jeden Tag nach der Mama. Die Nachschrift war bedeutend länger und handelte von einem jungen Manne, den sie auf dem Architektenball kennen gelernt hätte. Er hieße Bodo Völkel und arbeite bei einem großen Baumeister. Er tanze „wundervoll“ und sei sehr klug. Sie habe sich „himmlisch“ mit ihm auf dem Ball unterhalten und ihn einige Male heimlich getroffen. Karla dürfe es nur beileibe nicht der Mama sagen. Denn von ihrer heimlichen Verlobung sollte noch keiner etwas wissen. Bodo sei übrigens auch ganz entzückt von Schmerzchen, das sie immer mit auf ihren Spaziergang nehme. Sie gingen nämlich meist im Tiergarten spazieren, weil dort die beste Luft für Schmerzchen sei. Und wenn Karla erst in Berlin wäre, dann würde Bodo ihr sofort seinen Besuch machen ... „denn Du kannst Dir denken, Mama würde große Augen machen, wenn er so plötzlich käme ...“

Karla lächelte und steckte den Brief in die Tasche. Kindereien! Sie hatte jetzt Wichtigeres vor.

Altmann las noch immer. Es waren acht engbeschriebene Seiten. Sein Gesicht war ernst, ja sorgenvoll. Karla beobachtete das Zucken seiner Brauen, die nervöse Bewegung, mit der er sich um das bartlose Kinn fuhr.

[S. 208]

„Was schreibt Adele?“

Altmann überhörte scheinbar die Frage, faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Dann ging er im Zimmer auf und ab. Ein grübelnder Ausdruck lag auf seinen Zügen.

Karla setzte sich auf das Sofa und umschlang die Knie mit den Armen.

„Ich hätte wichtig mit dir zu sprechen, Ernst ...“

„Ja ... was ist ... was soll’s?“

Ein leiser Ärger stieg in ihr hoch. Was sie ihm zu sagen hatte, war doch mindestens so wichtig wie alles, was man ihm von dort schreiben konnte! Oder ...

Sie solle ihn jetzt nicht mit Fragen quälen. Er müsse Ruhe haben, überlegen können. Das Anerbieten, das ihm Russel gemacht habe, sei so verlockend, daß ...

Karla unterbrach. Es handelte sich nicht um Russel ... Was immer er anbieten mochte — sie blieb nicht.

Und weil sie das kalte, ironische Staunen in ihres Mannes Augen reizte, bullerte sie heraus, was sie langsam, bedeutsam hatte vorbringen wollen. Berlin bot ihr einen dreijährigen Vertrag, und Kapelle streckte ihr das Geld vor, um den Vorschuß an Russel zurückzuzahlen.

Altmann verfärbte sich. Alles in ihm empörte sich dagegen, daß ein Fremder, ein Dritter sich in Karlas Schicksal mengte, das er allein bisher geleitet hatte. Wie kam er dazu?

„Kapelle hat Beziehungen in Berlin ... welche, hat er mir nicht gesagt. Aber er hat diese Beziehungen angerufen, weil er sich für meine Stimme interessiert ... als Musiker interessiert ... Du bist kein Musiker .. Du weißt nicht, was das für mich heißt, noch ein Jahr unter diesen Verhältnissen zu singen ... keine Ahnung hast du! ...“

Karla fing an zu schluchzen. „Ich will so nicht weiter leben ... will nicht künstlerisch verkommen ... Durch Kapelle bietet sich mir das große Los ...“

Altmann atmete schwer. Er zernagte seine Unterlippe.[S. 209] Er stand plötzlich vor Entscheidungen und Verhältnissen, denen er sich kaum noch gewachsen fühlte. Über seinen Kopf hinweg hatte ein Dritter über sein und Karlas Leben verfügt. Wo blieb er? ... Würde es ihm möglich sein, in Berlin auch für sich eine Stellung zu finden? Hier — hatte er sie, wähnte, sie sich erkämpft zu haben durch Fleiß und peinliche Erfüllung freiwillig übernommener Pflichten. Er war stolz darauf. Soviel hatte er in Europa nie verdient, wie Russel ihm hier anbot. Zehntausend Dollar jährlich und — kleine Beteiligung! Dazu Direktortitel! So etwas schlug man doch nicht in den Wind ... Freilich ... Berlin! Seine Leute ... Luise ... Luise vor allen. Wohin mit ihr? Die Stowns kehrten im Herbst nach England zurück, hatten Luise freundschaftlich nahegelegt, sich nach einer anderen Stellung umzusehen! Darüber schrieb Adele eben einen acht Seiten langen Brief. Luise war zermürbt. Sollte sie wirklich in ihrem Alter noch bei fremden Menschen ihr Brot suchen? Wäre es nicht das Beste, Richtigste, sie würde Schmerzchen erziehen und Karlas Haushalt führen? Denn es war doch anzunehmen, daß sie beide nach Ablauf ihres Vertrages nach Deutschland zurückkehrten. Luisens Platz war in ihrem Hause. Karla konnte Gott danken, daß das Schicksal es so gefügt hatte.

Er war aufs tiefste bewegt gewesen von diesem Anruf seiner brüderlichen Pflicht. Flüchtig hatte er bereits daran gedacht, eine Wohnung für Luise und das Kind zu mieten, ihnen eine kleine Wirtschaft einzurichten ...

Nun kam Karla mit dem Berliner Antrag ... Glückselig wäre er gewesen — noch gestern! Aber heute? ...

„Und wie kommt Kapelle dazu, den Vorschuß zu bezahlen“, stieß er heftig hervor. „Wie soll ich das auffassen ...?“

„So einfach — wie er es angeboten hat. Statt dem Russel sind wir ihm das Geld schuldig — weiter nichts.“

Altmann preßte die Lippen aneinander. Es wurde ihm schwer, immer unter einer Schuldenlast einherzugehen — noch schwerer aber war es ihm, mühsam Erspartes auf[S. 210] einen Ruck herzugeben! Es stand ja noch die Einrichtung bevor ... Wenn Karla an der Oper war, konnten sie nicht in möblierten Zimmern hausen! Außerdem Luise ... das Kind ... ein Mädchen ...

Ihm wurden die Schläfen feucht.

„Wo hast du den Scheck?“ fragte er kurz.

Sie lief ins Nebenzimmer, holte ihr Täschchen, gab ihm das gefaltete Blatt. Er versuchte, die Unterschrift zu entziffern — es gelang ihm nicht.

„Den Scheck nehme ich an mich. Du verlierst ihn noch.“

Sie sah, wie seine schlanken, jetzt ein wenig hageren Hände langsam und bedächtig den falschen Kniff glätteten und den Scheck pedantisch falteten. Sie mußte an die kurze, breite Hand denken, die ihn ihr so achtlos zugesteckt hatte.

„Ich soll ihm schreiben: ja oder nein“, sagte sie leise und blickte von unten herauf zu ihrem Manne herüber.

Er wich ihrem Blick aus, kam aber langsam auf sie zu, legte den Arm um sie.

„Denk an diese Stunde, Karla ... vergiß sie nicht. Ich bringe dir ein Opfer ... ein großes Opfer. Ich schlage eine Stellung aus ... wie sie mir vielleicht nicht zum zweitenmal geboten wird ... Ich tue es um deinetwillen, ordne meine Laufbahn der deinigen unter ... mehr kann ein Mann für seine Frau nicht tun; und es mag sein, daß mich andere Männer darum weniger schätzen werden. Aber ich will jetzt nicht daran denken. Will nur an dich denken! Glaube mir ... so gut wie ein anderer, und sei es auch Kapelle, so gut meine ich es mindestens mit dir!“

Seine Stimme hatte den gedämpften, überzeugenden Klang, den Karla einst so geliebt hatte an ihm. Es war die Stimme aus der Zeit, da sie widerspruchslos zu ihm aufgeblickt hatte wie ein scheues, kleines Mädchen, da sie von ihm allein Glück und alles Heil der Welt erwartet hatte.

Sie zog seine Hand über ihre Schulter und lehnte ihre Wange an.

[S. 211]

„Lieber Ernst ... lieber, lieber Ernst ...“

„Schreibe also deinem Freunde Kapelle — ja.“

„Lieber ... Guter ...“

Er fuhr ihr streichelnd über das braune Haar und drückte gleich darauf beschwichtigend seine Hand auf ihren Kopf.

„Ja ...“, wiederholte er. „Aber ich knüpfe eine Bedingung daran —“

„Eine Bedingung ... Welche?“

Ihre Augen blickten ihn schreckhaft an. Würde er verlangen, daß Schmerzchen, ihr süßes Schmerzchen bei Adele blieb? ... So hart konnte er nicht sein ... das war doch unmöglich!

„Sage .. welche? ...“, drängte sie, während alles Blut ihr zum Herzen lief.

Er sagte es ihr in wenigen Worten: Luise sollte ihrem Haushalt vorstehen, sollte Schmerzchens Erziehung leiten ...

Da sprang Karla König mit beiden Füßen auf das Sofa, wie ein Gummiball, packte den Kopf ihres Mannes zwischen beide Hände und rief jubelnd, lachend, kreischend fast, wie ein Kind:

„Aber ja ... ja ... ja ... tausendmal ja!“

**
*

Im September verließ ein Schiff des Norddeutschen Lloyd, mit Karla König und Altmann an Bord, den Hafen von New York.

Einzelne Mitglieder waren zum Abschiednehmen erschienen, Russel und Kapelle.

Well, Karla König, Sie haben einen klugen Mann. Aber seien Sie noch klüger! Wir sehen uns wieder. Und hier ... ein kleines Andenken ...“

Er händigte ihr eine Schmuckschachtel ein. Sie trug den Namen des ersten New Yorker Juweliers und enthielt ein Anhängsel aus großen, lupenreinen Brillanten. Es war seine fünftausend Dollar wert.

[S. 212]

Kapelle drückte ihr nur die Hand.

„Machen Sie’s gut, Karla König!“

Sie betrat, die Augen von Tränen verdunkelt, die Schiffsbrücke, als Altmann auf Kapelle zuging, ihn beiseite zog und ihm seinen Scheck zurückgab.

„Danke, Kapelle ... es war nicht nötig. Ich konnte es schaffen und habe noch was übrig fürs erste dort drüben.“

Kapelle nickte.

„Na ja ... dann ist’s gut. Wenn’s nur mehr ist, als was Sie mitbrachten!“

Karla stand lange, lange an der Reling — und das letzte, was sie aus Amerika mitnahm, waren die Umrisse einer ungewöhnlich großen Gestalt mit einem winkenden Panama und eines großen Schädels auf gedrungenen Schultern, mit struppigem, im Winde flatterndem Haar.

Verzierung, drei Sterne
A

Auch nach vielen, vielen Jahren vergaß Karla König nicht, wie der Zug in die Halle des Lehrter Bahnhofs in Berlin einfuhr, und noch immer bebte ihr das Herz, wenn sie an den Augenblick zurückdachte, da sie Schmerzchen als weißen Punkt zwischen Adele und Alwin Maurer zuerst erblickte.

Sie wußte auch damals nicht, wie sie aus dem Abteil gesprungen war, wie sie das kleine Mädchen in dem weißen Jäckchen und dem weißen Seidenhütchen in die Luft gehoben und es an sich gedrückt hatte.

Schmerzchen fing an vor Schreck zu weinen. Aber Karla weinte selbst, schaukelte das Kind in ihren Armen hin und her, unbekümmert um die Reisenden, die Träger, die Taschen, Handkoffer und Schirmspitzen, die sie anstießen, quetschten und sich in ihren Rücken einbohrten.

[S. 213]

Altmann begrüßte die Geschwister mit verhaltener Bewegung, ging dann auf Karla zu:

„Willst du mir gar nichts lassen ...?“

Und er nahm ihr das jetzt schluchzende Kind aus den Armen.

„Wie wild sie noch immer ist“, flüsterte Adele ihrem Manne zu. Aber dann umarmte sie Karla, nicht ohne Wärme, und schob ihren Mann vor.

„Willkommen, Karla ... willkommen!“

Karla tupfte noch die Augen ab. Schüttelte Alwin Maurer lachend und weinend die Hand.

Eine große, stille Freude leuchtete aus Alwin Maurers Augen. „Jetzt glaube ich’s, daß du da bist, Karla ...“

Endlich saßen sie im Wagen. Wieder riß Karla das Kind an sich.

Aber Schmerzchen strebte auf Altmanns Schoß hinüber. Die Mama war schrecklich wild. Die Mama hatte ihr das neue Hütchen zerdrückt und das Haar zerrauft. Schmerzchen fühlte sich als großes Fräulein, ging und setzte sich selbständig, kroch auch mal dem oder jenem auf den Schoß — aber nur, wenn’s ihr paßte. Mama glaubte wohl, sie wäre ein Ball und könnte in die Luft geworfen werden? Das war sehr unangenehm ...

Papa war viel ruhiger. Papa hatte sie auf beide Backen geküßt, wie alle Onkels es taten! Und er hatte sie auf seinem Arm sitzen lassen, wie auf einem Stuhl! Das war ganz etwas anderes ... Und als sie „runtergehen“ gesagt hatte, da hatte er sie gleich auf die Erde gestellt und hatte mit ihr spazierengehen wollen! Mama aber hatte sie gleich wieder am Arm gepackt und hatte zu laufen angefangen. „Karla ... Karla! ... So paß doch auf!“, hatte der Papa gerufen.

Also Karla hieß die Mama ... Aber sie war gar nicht, wie Mamas sind ... gar nicht ein bißchen ...

Schmerzchen kroch also zu Papa auf den Schoß und beguckte sich die Mama mit großen, ein wenig feindlichen Augen.

Mama hatte ein schrecklich braunes Gesicht und sehr[S. 214] große Augen und weiße Zähne. Mama hatte einen großen Pelzkragen um, obwohl es doch heiß war. Und schöne glitzernde Ringe hatte Mama an den Händen. Und eine sehr starke, laute Stimme hatte sie und sprach so viel ... und die Hände waren immer in Bewegung ... als wollten sie immer nach ihr greifen.

Schmerzchen schmiegte sich an den Papa. Papa streichelte ganz sanft ihr Haar und ließ sie ruhig an seiner Uhrkette spielen.

Karla streifte Schmerzchens Röckchen hoch und drückte ihre Lippen auf die weiße kleine Wade.

„Hast du Mama lieb, Schmerzchen ... sag, hast du Mama lieb?“

„Mama auch lieb“, antwortete Schmerzchen, ohne sich stören zu lassen.

Schmerzchen sah ihre Freiheit zunächst wesentlich unterbunden und war von der neuen Ordnung der Dinge noch nicht sehr erbaut. Jedenfalls wollte sie sich hauptsächlich an den Papa halten.

„Wie ernsthaft Schmerzchen ist“, meinte Karla, und im plötzlich gedämpften Ton ihrer Stimme lag etwas wie Bangigkeit.

Vor der Haustür in der Motzstraße standen Vicki und Fritz als Kadett. Fritz benahm sich als vollendeter Kavalier, half ihr aussteigen, küßte ihr die Hand, begrüßte Altmann mit einem respektvoll dankbaren Händedruck. Vicki flog Karla um den Hals. Karla zupfte sie am Ohr. Vicki legte die Finger an die Lippen.

Oben wartete Luise. Sie war noch hagerer geworden, und ihr Gesicht, mit den grauen Augen unter den dichten, geraden Brauen, hob sich noch strenger als früher von dem schmalen, weißen Umlegekragen ab, der die klösterliche Einfachheit ihres schwarzen Kleides spärlich aufhellte.

Sie drückte Karlas Wangen mit der mageren Hand näher an ihre schmalen Lippen. „Alles Glück in der Heimat!“

Dann umarmte sie den Bruder. „Hab Dank, du Guter, du ... hab Dank.“

[S. 215]

Zwei kleine, kalte Tränen sickerten ihr aus den Augenwinkeln längs der feingeschnittenen, jetzt so spitzen Nase herab. Altmann war sehr bewegt und drückte immer wieder ihre Hand.

„Aber Luise, ich bitte dich ... wir haben zu danken ... daß du das übernehmen willst ... Du tust uns ja den größten Gefallen ... den größten Gefallen — du — uns.“

Karla war abgespannt. Im Grunde hatte sie nur einen Gedanken: Schmerzchen. Aber es war gar nicht so einfach, das Kind festzuhalten. Fünf Menschen standen vorläufig zwischen ihr und dem Kinde — fünf Menschen, mit denen es vertraut, an die es gewöhnt war. Schmerzchen hatte seine Gewohnheiten und Pflichten, von denen Karla keine Ahnung hatte. Umziehen, Händewaschen, Kämmen ... Mundtuch umbinden lassen, Händchen auf den Tischrand legen ... Schweigen ... anständig essen ... nicht den Kopf hin und her drehen ... Suppe auslöffeln „bis aufs letzte Tröpfchen“, nicht mit der Gabel spielen, ordentlich kauen, Gemüse nicht auf den Tellerrand schieben, Tischtuch nicht schmutzig machen, nicht mit dem Finger nachhelfen.

Die Mama wußte gar nicht, wie schwer das alles war! Schmerzchen hatte nicht ein bißchen Zeit übrig, an etwas anderes zu denken, als an das Mittagessen mit all seinem erschwerenden Zeremoniell. Und dazu sollte sie noch ganz besonders „artig bei Tisch“ sein, sich ganz besonders auszeichnen ... Das hatten Tante Adel und Tante Lis mit schrecklich rollenden Augen tagelang vorher von ihr verlangt.

„Wie ernst das Kind ist!“ wiederholte Karla.

Der Bissen blieb ihr manchmal im Halse stecken, wenn sie zu ihrem Kinde hinübersah, das mit einem so merkwürdig gesammelten Ausdruck ihr schräg gegenüber am Tisch saß.

Altmann war gerade dabei, zu erzählen, welches Angebot John Russel ihm gemacht hatte.

„... Leicht ist es mir nicht gefallen, nein zu sagen, das könnt ihr euch denken! Aber sagt ... hätte ich Karla allein nach Europa zurückschicken können? Wäre das gegangen?“

[S. 216]

„Ausgeschlossen“, kam es wie aus einem Munde von den Lippen der Schwestern. „Ausgeschlossen!“

Dr. Alwin Maurer sagte gar nichts.

Er schenkte den Willkommensekt ein, wie er vor drei Jahren den Abschiedssekt eingeschenkt hatte: mit einem wehen Gefühl.

„Auf deine Heimkehr, liebe Karla ... und daß dir die Heimat nicht zu eng werden möchte!“

Adele schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Wie kannst du nur so reden, Alwin — was soll das heißen?“

Aber Karla nickte dem Schwager zu.

Verzierung, drei Sterne
D

Der Erfolg ihrer Gastspielabende war so groß, daß Karla keinen Augenblick das Gefühl haben konnte, nur durch eine wenn auch unsichtbare so doch gewichtige Gönnerschaft dem Verband der Königlichen Oper einverleibt worden zu sein. Immerhin vermochte sie sich nicht gleich an die wesentlich kühlere und objektivere Art der Beurteilung und Beifallsäußerung zu gewöhnen.

Nach ihrem ersten Gastspiel heulte sie die ganze Nacht in ihrem Bett. Selbst Altmann wurde unsicher. Gegen sieben Uhr früh ging er in ein Café der Potsdamer Straße, wo sie in einer Pension abgestiegen waren, um die Blätter zu lesen. Gleich die ersten Zeitungen entspannten seine Erregung. Er drückte dem Pikkolo einen Groschen in die Hand. Was er nur da hatte an Morgenblättern, sollte er ihm anschleppen. In einer entgegengesetzten dunklen Ecke des Cafés saß noch ein Herr, mit dem Rücken gegen ihn. Auch er hatte einen Stapel Zeitungen vor sich auf einem[S. 217] Stuhle liegen. Der Pikkolo lief von einem zum anderen, um die Blätter auszutauschen. Um dreiviertel acht hatte Altmann die hauptsächlichsten Zeitungen gelesen; er war ganz beruhigt. Die Urteile waren durchweg sehr anerkennend. Karla war berechtigt, eine allererste Stelle am königlichen Institut einzunehmen und „es war anzunehmen, daß sie dereinst eine Zierde der Königlichen Oper sein würde, wenn sie sich erst die auf längeren Gastspielreisen angeeigneten virtuosenhaften Mätzchen abgewöhnte“.

Ohne Hieb und Stich ging es nicht ab — das wußte Altmann. Es kam nur auf die Grundstimmung an, und die konnte nicht besser sein. Er lehnte sich zurück an den roten Samt des Sofas und atmete erleichtert auf. Mehr durften weder Karla noch er verlangen. Sie brauchten ihre Heimkehr nicht zu bereuen — nein, gewiß nicht. In diesem Augenblick erhob sich der Herr in der Ecke, ließ sich in den Mantel helfen und griff nach seinem Hut. Jetzt erst stand er im Licht.

„Du, Alwin? ... Was machst du?“

Dr. Alwin Maurer blinzelte den Schwager mit seinen tiefliegenden, fettumpolsterten Augen ein bißchen verlegen an.

„Ich habe wissen wollen, was die Zeitungen sagen ... Unsereins ... nicht wahr ... ob’s uns gefällt oder nicht ... darauf kommt es nicht an .... Und Karla schien mir verstimmt ... Adele konnte es gar nicht verstehen ... Die meint ja natürlich, daß es schon eine große Ehre ist, daß Karla überhaupt da oben auf der königlichen Bühne stehen und den Mund auftun durfte. Nun, ihr könnt zufrieden sein ... sehr zufrieden ...“

„Selbstredend ... ist es ein großer Erfolg. Das sind so Primadonnenlaunen, die Karla sich da unten angewöhnt hat. Ganz verrückt kann sie einen machen. Ich werde ihr mal gleich den Kopf zurechtsetzen ... Es ist ja lächerlich.“

Altmann sprach wieder bedeutsam und selbstbewußt. Dr. Alwin Maurer drückte den Hut in die Stirn. Er hatte Eile. In zehn Minuten mußte er in der Klasse sein. Adele[S. 218] hatte ohnehin ein komisches Gesicht gemacht, weil er, ohne gefrühstückt zu haben, davongelaufen war.

„Grüße sie ...“

Alle Herzlichkeit legte er in das Wort, mit Blick und Händedruck. Dann ging er. — — —

Zwei Wochen später trat Karlas Vertrag in kraft. Sie kabelte an John Russel für Kapelle: „Alles in Ordnung. Bin glücklich. Ewig dankbar. Karla König.“

Als das Telegramm hinter dem Postschalter verschwand, stand Karla noch eine Weile im Gedränge des überfüllten Postraumes herum, als hätte sie etwas verloren oder vergessen und könne sich nicht besinnen, was es sei.

Draußen nieselte es, und der kalte Oktoberwind riß die letzten Blätter von den Bäumen. Die Wolken jagten in kaltem Grau über den Himmel, Karla schauerte zusammen und zog den Pelzkragen fester über die Schulter.

Rasch schritt sie aus, um die Motzstraße zu erreichen. Sie wollte Schmerzchen mit sich herüber nehmen in die Pension. Einmal allein mit dem Kind sein! All die Tage war es ihr nicht möglich gewesen — auch hatte ihre Aufregung sie ganz beherrscht. Sie mochte nicht daran denken, was wohl geschehen wäre, wenn ihr Gastspiel zu einem anderen Ergebnis geführt hätte! ... Am meisten beruhigt hatte sie der Papa, obwohl — —

„Charmant, Kleine ... charmant! Du bist ein Temperament! Du lebst! Du bist was Neues. Vielleicht eine Spielerei, vielleicht eine ersehnte Notwendigkeit — so genau läßt sich das jetzt noch nicht sagen. Laß die Leute nur nicht einschlafen — verstanden? Es brauchen keine Indianerüberfälle zu sein ... aber so was ähnliches — John Russel ist mein Mann! Der hat mir gefehlt, Kleine! Der hätte mich zum ersten Tänzer von Europa gemacht! Aber Deine liebe Mutter — die bürgerlichen Instinkte — verstehst Du — Du hast auch bürgerliche Instinkte — leider! Hast dir einen Mann zugelegt, ein Kind ... jetzt kommt die Wohnung dran — nicht wahr? Regelmäßige Tischzeit, Marktpreise, Einladungen zu Kaffee und Kuchen ... tja[S. 219] ... sehr nett, sehr nett ... Nur nicht zu viel davon. Bleibe ‚Göttin‘ ... tja ... Primadonna ... muß das sein. Na und dein Mann? Immer der alte, ja? ... Ach was? So so ... eine Stellung hat ihm Russel angeboten? ... Sieh mal an! Potz tausend! ... Hättest ihn dortlassen sollen, liebes Kind! Sehr dumm, Kleine, sehr dumm! ... Na — vorläufig sonnt er sich in deinem Erfolg ... ganz schön. Am Schauspielhaus ist wohl nichts frei für ihn, wie? ... Wird schwer halten, Kleine ... sehr schwer. Man spielt nicht ungestraft zwanzig Jahre an kleinen Provinzbühnen ... Das haftet an. Wie ein Geruch, weißt du. Habe ich kennen gelernt — die Herren Intendanten mit der Hauptmannsuniform! Famose Kerle auf dem Kasernenhof, bei der Parade — von Kunst keinen Dunst! ‚Strammstehen‘ — das ist alles, was sie verlangen, und sparen ... ja ... sparen — alles, was sie können. Hier blüht der Weizen deines Mannes nicht. Macht nichts. Du verdienst für zwei ... bist überhaupt eine Nummer für Berlin ... mal was anderes ... Ruf’ mich, wenn du eingerichtet bist. Will mal sehen, wie meine berühmte Tochter wohnt ...“

Gerade heute schloß Altmann den Mietvertrag ab in der Landgrafenstraße. Adele und Luise hatten sich der Wohnungsfrage mit all der ihnen eigenen Energie angenommen. Karla wurde kaum gefragt.

Luise und Adele teilten die Zimmer ein. Schmerzchen sollte mit Luise in einem Zimmer des hinteren Ganges schlafen, mit Aussicht auf die rückwärts liegenden Gärten. Die Schlafstube der Eltern war vorn bei der Eingangstür, durch eine Tapetentür mit dem Speisezimmer verbunden. Vorne heraus anschließend an den Speisesaal lagen das große Musikzimmer, ein schmales, einfensteriges Empfangsstübchen und Altmanns „Studierzimmer“.

Es war der schönste Raum der Wohnung — neben der Eingangstür gelegen und daher selbstverständlich nur so zu verwenden. Luise sagte:

„Das werden wir dir schon gemütlich einrichten, Ernst.“

[S. 220]

Karla sah mit großen Augen zu, wie die Schwägerinnen alles untereinander besprachen und, ohne sie eigentlich zu fragen, die Wohnung instand setzten.

„Du brauchst dich gottlob um gar nichts zu kümmern, Karla,“ sagte Luise, „dafür bin ich da!“

„Ich weiß gar nicht, wie wir Luise das je danken können“, meinte Altmann.

Karla dankte ihr, indem sie sich wirklich um nichts kümmerte. All ihre freie Zeit wollte sie Schmerzchen widmen. Aber Schmerzchen machte sich gar nichts daraus, mit der Mama in den Straßen herumzustapfen. Schmerzchen verlangte nach ihrem Sandhaufen im Tiergarten, und Vicki mußte sie beide hinführen. Karla setzte sich auf den Holzrand der Sandgrube und ließ sich von Schmerzchen belehren, wie Kuchen geformt und ausgelegt wurden, wie das Eimerchen mit Sand zu füllen und wo es auszuleeren sei.

Karla war nahe daran, Schmerzchens Gunst zu erobern, als Vicki sie am Ärmel zupfte.

„Tante — Herr Baumeister Bodo Völkel möchte dir vorgestellt werden.“

Bodo Völkel war sauber und sparsam angezogen. Er hatte ein schmales, blasses Gesicht und eine niedrige, eigensinnige Stirn. Seine Augen blickten ein wenig unstet. Er schien sehr nervös und ein bißchen gallig.

„Sie haben sich meines kleinen Mädchens so sehr lieb angenommen, schrieb mir Vicki ...“

„Aber bitte, gnädige Frau, es war mir ein Vergnügen.“

„Wie siehst du aus, Tante ...“

Vicki hatte besondere Ehre mit Karla einlegen, dem Bodo imponieren wollen, und nun stand die Tante da, über und über mit Sand bestreut, den Hut zur Seite geschoben, ohne Handschuhe, ohne einen einzigen Ring ...

Schmerzchen war es gewöhnt, daß man sie allein ließ beim Spielen. Sie guckte gar nicht auf, als die Mama aufstand und ein bißchen zur Seite trat .... Aus dem fremden Onkel machte sie sich erst recht nichts.

[S. 221]

Karla mußte mit Vicki und ihrem heimlich Verlobten auf- und abgehen, mußte Rede und Antwort stehen. Sie hatte gleich herausgebracht, daß Bodo Völkel sie noch gar nicht gehört hatte; aber er sagte ihr Schmeicheleien, sprach die Hoffnung aus, daß sie es ihm ermöglichen würde, in verwandtschaftliche Beziehungen zu ihr zu treten.

Karla fand das sonderbar. Warum wendete er sich nicht erst an Vickis Eltern? Die waren doch die Nächsten. Er sprach etwas von dem großen Einfluß, den Karla hatte, und dessen er sich erst hatte zu seinen Gunsten versichern wollen. Karla wurde einsilbig, schließlich meinte sie:

„Es wird kühl. Schmerzchen muß nach Hause.“

Herr Bodo Völkel empfahl sich. Vicki begleitete ihn bis zur nächsten Biegung. Karla sah, wie sie lebhaft auf ihn einsprach, ihre Hand auf seinen Arm legte, ihn zur Umkehr zu bewegen suchte — wie er den Kopf schüttelte und sich ohne viele Umstände losriß.

„Wie gefällt er dir?“ fragte Vicki, als sie zurückkam.

„Gar nicht“, antwortete Karla trocken.

Vicki schoß das Blut zu Kopf.

„Das verstehe ich nicht ... er ist ganz entzückt von dir, Tante ... du hättest so etwas wundervoll Offenes und Gerades ...“

„So ... da kann er sich wohl denken, daß mir eure heimlichen Stelldicheine nicht gefallen ... nein, gar nicht!“

Karla und Vicki führten die Kleine an der Hand und schlugen, leicht gegeneinander verstimmt, den Heimweg ein. Als sie die Reitallee überqueren wollten, kam ihnen ein Reiter entgegen, Schmerzchen stolperte, ließ ihr Eimerchen fallen, der mitgenommene Ball rollte dem Pferde vor die Hufe; es scheute, bäumte sich auf. Karla riß das Kind zurück.

„So halten Sie doch gefälligst Ihren Gaul“, fuhr sie zornig den Herrn im Sattel an.

Abermals flammte Vicki auf. Wie grob die Tante war ...

[S. 222]

„Du, das ist doch Graf Gaudlitz!“

„Na — und? ... Er soll auf sein Pferd aufpassen.“

Graf Gaudlitz faßte mit der einen Hand die Zügel kurz an, zog mit der anderen den Hut.

„Verzeihung, Frau Karla König ... hoffentlich hat der Schreck der Kleinen nicht geschadet — und Ihrer wunderschönen Stimme auch nicht ...“

Karla sah auf. Ein breites, blondes, lachendes Gesicht blickte auf sie herunter. Sie wurde jetzt rot, wie Vicki vorhin.

„Woher kennen Sie mich?“

„Haben Sie mich denn nie gesehen, gnädige Frau? Erster Eckplatz links. War jedesmal da, wenn Sie gesungen haben. Habe pöbelhaft geklatscht! Hatte mal so einen Renner wie Ihre Stimme ... ein Sturmwind und so folgsam dabei ... Schön singen Sie! ...“

Karla wollte lachen. Sie lachte leicht, wenn man ihr etwas Schmeichelhaftes sagte; nur so dumm mußte es nicht sein, wie vorhin von Bodo Völkel — aber sie spürte plötzlich eine Verlegenheit über sich kommen, als wäre sie ein kleines Mädchen.

„Ich singe so gern.“

„Habe ich gemerkt, gnädige Frau. Das war keine Dressur ... Verzeihung — dressieren sagt man wohl nicht ... ich meine, das war ... Wie ein Sturmvogel singen Sie.“

Er hatte es mit dem „Sturm“. Vicki kicherte in ihr Taschentuch hinein; Karlas Mundwinkel zuckten mutwillig. Sie brach ab.

„Komm, Schmerzchen ...“

„Verzeihung, gnädigste Frau ... Graf Gaudlitz ist mein Name ... Noch einmal mein ehrlichstes Bedauern, daß ich Ihr ... wie sagten doch gnädige Frau? ... daß ich Ihr ‚Schmerzchen‘ erschreckt habe ...“

„Mein Ball“, unterbrach Schmerzchen und blickte finster auf das Stück rotgrünen Gummi, das in den Sand eingestampft war.

[S. 223]

„Richtig ... und Schmerzchens Ball ist auch durch meine Schuld —“

„Das macht nichts ... Guten Abend.“

Sie nickte kurz, lächelte flüchtig und zog das Kind mit sich fort.

Er sah ihr nach, wie sie mit sicheren Schritten geradeaus ging. Sah ihre mittelgroße, mollig schlanke Gestalt, den hübschen Umriß ihres runden Kopfes unter dem einfachen Hut, den hohen Rüst ihres derb und doch nicht unelegant bekleideten Fußes — —

„Nette Frau“, murmelte er und drückte den Hut auf seinen blonden schrägen Scheitel. Dann ritt er weiter.

Karla ging eine Weile schweigend; dann fragte sie Vicki: „Woher kennst du den Herrn?“

„Ich traf ihn schon vor einer halben Stunde, als ich mit Bodo auf- und abging. Bodo kennt ihn, weil sein Baumeister eine Villa für ihn am Wannsee gebaut hat. Klotziges Geld soll der Mensch haben — eine Segeljacht und einen Rennstall und Automobile und weiß Gott was!“

Karla ging rascher. Der frische Wind färbte ihre Wangen rosig — —

Als Altmann drei Tage später in Karlas Garderobe kam, erblickte er ein großes Blumenkissen, in dessen Vertiefung ein bunter Kinderball lag.

„Nanu? ... Von wem ist denn das?“

Karla zeichnete sehr angelegentlich ihre zu hoch geratenen Brauen nach.

„Von einem Grafen Gaudlitz.“

Sie erzählte sehr schnell die kleine Begegnung im Tiergarten, und daß Gaudlitz seinen Stammplatz in der Oper hätte — erster Rang, Eckplatz links. Auf dem Schminktisch lag seine Visitenkarte.

„Für Schmerzchen“, stand unter seinem Namen.

Altmann steckte die Karte ein.

„Dabei bleibt’s hoffentlich“, sagte er trocken.

Dann ging er in den Zuschauerraum und richtete sein Opernglas auf den ersten Rang.

[S. 224]

Gaudlitz saß im Rauchjackett, mit schwarzem, breitem Schlips, auf seinem Platz. Als Karla die Bühne betrat, beugte er sich nicht vor. Nur ein breites Lächeln erhellte sein junges, blondes Gesicht.

Verzierung, drei Sterne
D

Der letzte Nagel war in Karlas Wohnung eingeschlagen. Es sah alles ordentlich, entsetzlich neu und fertig aus.

Luise erklärte, man müßte die Geschwister mit Vicki zum Abendbrot laden, ebenso den Papa. Der Papa hatte mit an Ansehen gewonnen, seitdem Karla an der „Königlichen“ war. Und dann — er hatte den Bechstein geschickt für das Musikzimmer!

Pauline hatte Spitzen für die Schlaf- und Kinderzimmer gehäkelt, soo — — breit! Sie meinte, „sie hätte ja Zeit gehabt in den drei Jahren!“

So brannten denn eines Abends überall die schwerfälligen Gaskronen. Das grelle Licht tat eigentlich den Augen weh, aber Adele war der Meinung, an diesem ersten Empfangsabend sollte nicht gespart werden. Der Papa konnte sich auf die Art auch besser von der Gediegenheit der Einrichtung überzeugen. Das war was anderes als sein Sammelsurium in der Schillstraße, mit den Staubfängern, in Form von Kränzen, Schleifen und Kinkerlitzchen. Das waren Möbel, von denen noch Isoldchens Kinder ihren Nutzen haben konnten! Die waren eben nicht in irgend einer der neumodischen Einrichtungsausstellungen gekauft, sondern in einem soliden, bewährten Geschäft in der alten Jakobstraße, wo man sicher war, daß die Holzarten echt waren und die Stoffe Ewigkeitsdauer hatten.

Mit Rücksicht auf Fritz hatte man den Sonnabend zu[S. 225] der Einweihungsfeier gewählt. Er und Vicki brachten Blumen. Adele schleppte eine Palme an, die neben dem Bechstein ihren Platz finden sollte, Alwin Maurer brachte eine Radierung von einem Beethovenkopf, die er nach vieler Mühe irgendwo aufgestöbert hatte. Adele lächelte nachsichtig.

„Der Bechstein und die Radierung sind mir das Liebste in der Wohnung“, sagte Karla und drückte dem Schwager warm die Hand.

Luise und Adele fingen gerade an, ungeduldig zu werden, als der Papa erschien — in Frack und weißer Binde — sehr feierlich, aber zierlich und behende selbst in diesem Aufzug. Er hielt eine einzige langstielige Rose in der Hand. Seine Nüstern schnupperten in der Luft herum, die nach frischer Politur und neuen Stoffen roch.

Aber er sagte gar nichts. Nur seine lebhaften blauen Augen umschatteten sich melancholisch. Er war froh, den Frack angelegt zu haben — so würde Karla es ihm glauben, daß er noch etwas vorhatte, wenn er früher aufbrach.

Immerhin — das Essen war vorzüglich. Darauf verstanden sich die Altmannschen Damen! Altmann selbst war ein würdevoller, liebenswürdiger Wirt. Man sah ihm die Freude an, die es ihm machte, Gäste an seinem Tische zu haben. Das versöhnte den Papa fast. Karla saß zwischen dem Papa und Alwin Maurer wie an einem Hoteltisch — ohne jedes Verantwortungsgefühl. Aber sie freute sich, den Papa so elegant und jugendlich an ihrer Seite zu haben, und freute sich auch über den warmen Glanz in Alwin Maurers Augen.

Ein seit einiger Zeit recht quälendes Magenleiden zwang ihn, mäßig und mit Auswahl zu essen — der Papa wiederum durfte nur nippen an dem Wein.

„Ihr Zwei zusammen macht nur einen Tischgast aus“, sagte Karla.

Sie sah wunderhübsch aus in einem ihrer hellen amerikanischen[S. 226] Kleider. Fritz verschlang sie mit den Augen. Vicki stieß ihn einmal an.

„Stier nicht so dämlich ...“

Fritz hätte ihr gern eine ’runtergehauen. Ekelhaft, diese Mädels! Nächstes Jahr war er Fähnrich — in zwei Jahren Leutnant. Dann zählte er mit! Überhaupt kamen nur verheiratete Frauen für ihn in Betracht! In die verheiratete Schwester eines seiner Kameraden war er gerade „zum Totschießen“ verliebt! Aber Karla gefiel ihm noch besser ... vor allem, weil sie Künstlerin war ...

Man war noch bei Tisch, als es draußen klingelte und das Mädchen eine reichlich mit rotem Seidenpapier verzierte Azalee hereinbrachte. „Bodo Völkel, Architekt“, stand auf der Visitenkarte.

„Wer ist denn das schon wieder?“ fragte Altmann.

Karla wurde fast ebenso rot wie Vicki. Aber Vicki fand sich gleich zurecht. Als sie mit der Tante und Schmerzchen im Tiergarten gewesen, hätten sie den Herrn Völkel getroffen.

„Du weißt doch, Mama — vom Architektenball .... Ich habe ihn der Tante vorgestellt ... Er hat Tante sehr gefallen ... nicht wahr?“

„Ja, ja“, schnitt Karla ab. „... Ich erinnere mich — Bodo Völkel — sehr netter Mensch — ja ...“

Nach Tisch stöberte der Papa in der Visitenkartenschale herum. Sie war noch fast leer. Obenauf lag die Karte vom Grafen Gaudlitz.

„Wie kommt ihr zu dem?“ fragte er und klopfte mit dem Kärtchen auf den Daumennagel. „Wohl Schmerzchens Spezialfreund, wie ich sehe? ... Sie soll ihn sich warm halten, das kleine Fräulein .... Kein schlechter Geschmack! Ein scharmanter Kerl ... scharmant. Einer unserer ersten Sportsleute ... hat Preise über Preise, als Segler, Herrenreiter. Zudem Stammgast in der Oper ... die letzte Hoffnung unserer sich nicht verjüngenden Prima ballerina![S. 227] Kommt manchmal zu uns in den Schachklub ... spielt ... nicht gerade berühmt. Aber selbst Lasker hat sich mal mit ihm hingesetzt ... was tut man nicht für seinen Klub? ...“

Es klang alles ein bißchen ironisch, wie der Papa das so vorbrachte, mit seiner harten, tenoralen Stimme. Aber dabei hüpften seine stahlblauen Augen mit innigem Vergnügen über Altmanns große, sehr aufrechte Gestalt und streichelten Karla, mit einem stummen „ta ta ta, Kleine ... laß ihn nur ein bißchen zerspringen, deinen Mann ... schadet ihm garnichts ...!“

Luise hielt die Zuckerdose. Ihre Augen brannten unter den geraden Brauen. Der Bruder hätte die Karte des Grafen nicht aufzulegen brauchen — das war ungeschickt. Aber daß Karla gar so stumm blieb, das erfüllte sie mit Unruhe. Schrecklich war doch das Theater! Wie auf dem Präsentierbrett stand Karla immerzu! Jeder, der nur wollte, durfte an sie heran und sein Heil versuchen, wenn’s ihn danach gelüstete ...

Adele griff mit spitzen Fingern in die Papierschleifen des Azaleentopfes. Aber es blieb immer nur die Karte „Bodo Völkel“, um ihre mütterliche Neugierde zu befriedigen. Architekt ... das klang nicht übel. Aber von einem Titel konnte man nicht leben. Sie winkte Vicki heran.

„Was ist das mit diesem Herrn? ...“

Vicki legte ihre Wange an den Arm der Mutter.

„Bodo will um mich anhalten, Mama ... und bat Tante, seine Fürsprecherin zu sein ... Tante wird uns helfen ... Tante ...“

„Dummes Zeug ... laß das Papa nicht hören!“

„Ich werde mit der Tante sprechen“, fügte sie hinzu und legte mit einem Blick auf ihren Mann den Finger an den Mund.

Adele war erregt, zu sehr mit sich und der nicht unmöglichen Veränderung ihrer Verhältnisse beschäftigt, um noch[S. 228] viel Anteil an dem allgemeinen Gespräch zu nehmen. Luise war ihrerseits in nicht sehr heitere Betrachtungen versunken, der Papa suchte nur nach einer schicklichen Minute, um das Weite zu suchen. Alwin Maurer paffte gedankenvoll an seiner Zigarre ... Der Arzt hatte ihm von der Möglichkeit einer kleinen Operation gesprochen ... immerhin Narkose. Dr. Maurers Herz war nicht sehr widerstandsfähig ... eine Gefahr war immer vorhanden. Es war schon besser, er schleppte sich mit seinem Leiden weiter, solange es ging, als daß er Frau und Kinder unversorgt zurückließ. Um Fritz brauchte er sich zwar keine Gedanken zu machen, aber Vicki — — Adele — —! Sollten sie, wenn es schief ging, auch wieder Karla zur Last fallen? ...

Er hatte Karla beobachtet in diesen letzten Wochen ... So unbekümmert war sie nicht wie früher, so urgesund. Um ihre Lippen zuckte es manchmal ganz eigen — sie fuhr zusammen, wenn man unvermutet das Wort an sie richtete, und in ihren Augen blitzte es manchmal schreckhaft auf, wenn von Brasilien die Rede war ... Er hatte auch ihr Gesicht gesehen, während der Papa vom Grafen Gaudlitz erzählte ... ein ganz anderes Gesicht war es gewesen, als er es sonst an ihr kannte ... Und es hatte ihn wehmütig gestimmt. Mochten die Altmannschen Damen auch das Bollwerk von Familienleben, Dauermöbeln und bürgerlicher Gemeinsamkeit um sie herum aufrichten — ihr Leben stand ihr noch bevor, jenseits dieses Bollwerks, und dieses Leben durfte nicht noch mehr beschwert werden, als es schon war ...

Sanft plätschernd ebbte das allgemeine Gespräch ab. Mit dem Papa gingen auch alle anderen — er brauchte keinen Vorwand zu erfinden.

Schon auf der Treppe sagte Alwin Maurer, indem er Karlas Hand festhielt:

„Weißt du, daß du heute, am Einweihungstage deiner Wohnung, — nicht gesungen hast?“

„Ja ... richtig ...“

[S. 229]

Sie blickte ein bißchen wehmütig vor sich hin.

„Schmerzchen habe ich heute auch kaum gesehen ...“

Der Papa krähte von unten herauf:

„Soll ich Gaudlitz grüßen? Ich sehe ihn vielleicht noch im Schachklub!“

Er dachte gar nicht daran, zu grüßen. Hatte es nur gerufen, um Altmann zu ärgern. Das war ihm „Hochgenuß“ ... auch so eine Art von „Indianerüberfall“.

„Dein Papa ist manchmal reichlich geschmacklos“, sagte Altmann und warf die Tür ins Schloß.

Luise räumte mit Hilfe des Mädchens die Tassen und die Likörgläser ab.

Karla wäre gern an Schmerzchens Bett gegangen. Aber Luise hatte sie ein für allemal gebeten, das zu lassen. Isoldchen wäre ein schrecklich nervöses Kind — beim leisesten Geräusch erwache sie und wäre dann nicht zur Ruhe zu bringen! An Tante Lis’ hatte sie sich endlich gewöhnt, aber wenn jetzt Karla ...

Karla wußte nicht, was sie machen sollte. Singen konnte sie um elf Uhr abends, wenn alles schlief, doch auch nicht ...!

„Bleibst du hier? Sonst lösche ich aus —“

„Laß nur, Luise ... ich tue es selbst ... Gute Nacht, und ... vielen Dank ...“

Im Hotel hatte sie wenigstens nicht danken brauchen.

„Vergiß nicht, das Fenster zu schließen, und erkälte dich nicht! Gute Nacht ...“

Als Karla allein war, nahm sie die Visitenkarte des Grafen Gaudlitz, riß sie in kleine Stücke und streute sie auf die Straße hinaus.

Wie weiße Schneeflocken wirbelte der Wind sie durcheinander, bis sie auf die nassen Steine herabfielen und ein Auto über sie hinwegfuhr, sie mit dem trüben Wasser der Lachen überspritzte.

Nun sah Karla nichts mehr von ihnen und atmete erleichtert auf.

Verzierung, drei Sterne

[S. 230]

D

Der Papa sollte recht behalten — Altmanns Weizen blühte nicht in Berlin. Selbst Kommissionsrat Fuchs vermochte es nicht, Berliner Theaterleiter für Altmann zu gewinnen. Um seinen guten Willen zu zeigen, und sich „der König“, durch die er noch viel zu verdienen hoffte, angenehm zu machen, verschaffte Fuchs ihm ein paar Gastspiele an kleinen Provinzbühnen. Altmann sah bald, daß das alles keinen Zweck hatte und fühlte sich merkwürdigerweise der Bühne als Schauspieler entwachsen. Wie ein Kleinkinderspiel kam ihm das Theater vor, die Anweisungen des Spielleiters reizten ihn zu Widersprüchen, den Bitten seiner Mitspieler begegnete er mit einem Aufgebot von Gegengründen, die das Belangloseste zu einer Bedeutsamkeit stempelten, die die Bitten gar nicht gehabt hatten. Die jüngeren Leute verbesserte er gern, hielt ihnen Vorträge über die Sprechkunst, die seit den letzten Jahren so „schmählich“ vernachlässigt wurde — den älteren Kollegen trat er mit dem Besserwissertum seiner „langjährigen leitenden Stellung“ entgegen.

Die Gastspielmöglichkeiten wurden immer seltener — hörten schließlich ganz auf.

Luise schmerzte das sehr.

Bei Tisch kam der Groll manchmal zur Entladung, wenn Karla sich erkundigte, ob Fuchs „etwas gefunden“ hätte.

„Ich bin gar nicht so versessen darauf“, sagte Altmann. „Es ist ja doch nichts los ... wer schreibt denn heute noch eine anständige Rolle?“

„Liebe Karla — wenn Ernst Stimme hätte, dann brauchte er nicht auf eine Stellung zu warten. Dann brauchte er weder Talent zu haben noch die Erscheinung — dann würden ihm alle das Haus einrennen! Es ist wirklich nicht schwer, mit einer Stimme, wie du sie hast und wofür du doch gar nicht kannst, an einer Königlichen Bühne zu sein ...“

[S. 231]

„Das sage ich ja gar nicht — aber ... vielleicht dürfte Ernst keine so hohen Ansprüche machen.“

Luise lachte kurz und bitter auf.

„Keine Ansprüche ...! Sehr feinfühlend!“

Karla zerknitterte ihre Serviette.

„Ihr müßt mir meine Worte nicht absichtlich anders auslegen. Im Schauspiel gibt’s eben keine so großen Gagen wie in der Oper ... das ist doch nun mal so.“

„Ja, ja, Karla ... das wissen wir, daß du mehr verdienst, wenn es auch nicht gerade nötig ist, daß du vor dem Kind ...“

Karla sprang vom Stuhl auf.

„Was hab’ ich vor dem Kinde ... — was? ... So sag doch gefälligst ... unerträglich ist das! Verrückt könnt ihr einen machen, verrückt.“

Sie schob den Stuhl zurück und lief ins Schlafzimmer.

Schmerzchen machte große Augen.

Die Mama war doch sehr wild! Warum lief sie davon und ließ das gute Essen stehen? Es hatte sie doch keiner fortgeschickt ... Tante Lis’ hatte so leise gesprochen ... die Mama aber, die schrie gleich los. Der Papa sah ganz traurig aus ...

Nun stand auch Altmann auf. Tief herabgezogen waren seine Mundwinkel. „Tja ... so geht es, Lis’! Wenn ich denke, daß ich Karla beigebracht habe, ‚Habt Dank‘ zu sagen ... das Elementarste! Sie stolperte über die Worte wie ein junges Füllen ... Stimme ... ja, gewiß, Stimme hatte sie immer ... köstlich jung, frischer als heute ... aber wer krähte nach ihr? ... Wer? ... Bitte, sage es mir ...“

„Das wissen wir ja, mein guter Ernst ... weiß sie auch, sie ist nur so unbeherrscht. Das mußt du ihr nicht übelnehmen. Es ist deiner ja auch gar nicht mehr würdig, dem Publikum was vorzumachen. Du kannst mehr, weit mehr! Du kannst Talente bilden. Karla ist der lebendige Beweis. Wir haben wohl das Lehrtalent gemeinsam, — nur, daß[S. 232] meine Begabung stets im Verborgenen geblüht hat, während du ... Wer wird nicht glücklich sein, beim Lehrer von Karla König Unterricht zu haben? ...“

Altmann blieb stehen und sah die Schwester betroffen an. Es war ganz still zwischen ihnen geworden — nur das Gaslicht surrte leise, und Schmerzchen kratzte mit dem Löffel das letzte Überbleibsel des Puddings auf.

„Unterricht? Hm ... ja ... du meinst? Das wäre allerdings eine Idee ... darüber müssen wir noch sprechen ... das ließe sich machen ... Was wohl Karla dazu sagt?“

Luise lächelte nachsichtig.

„Ja ... ja, natürlich ... Jedenfalls danke ich dir, Lis’, für die Anregung. Es geht nichts über eine kluge Frau ... wirklich ... nichts.“

Er hob Schmerzchen sacht an seine glattrasierte, bläulich schimmernde Wange und faßte Luise mit dankbarem Druck um die Schulter.

„Jetzt geht unsere kleine Isolde wohl schlafen, he?“

Er wußte nie recht was anzufangen mit dem Kinde — fast ebenso wenig wie der Großpapa, aber er verlangte nichts und hatte eine behutsame Art, es aufzuheben, auf den Schoß und auf die Erde zu setzen.

Schmerzchen liebte den Papa sehr. — —

Am Abend entwickelte Altmann seinen neuen Plan vor Karla. Sie saß in seinem Zimmer, in einem der bequemen, weichen Sessel, häkelte mühsam an einer roten Bettdecke für Schmerzchen und zählte nun schon zum fünften Male die Maschen. Sie mußte ihrem Kinde etwas arbeiten. Luise und Adele taten sich gar zu viel darauf zugute, daß Schmerzchen Höschen und Röckchen und Jäckchen von ihrer Hände Arbeit trug. Da hatte ihr Pauline eines Tages ein ganz einfaches Muster angefangen.

„Immer lang, junge Frau, einmal hin und einmal zurück. Daran können Sie ein Jahr häkeln. Je größer die Decke wird, um so besser. Und immer an was Freundliches[S. 233] denken dabei, damit’s dem Mädelchen Glück und Wärme bringt.“

Karla arbeitete sehr eifrig in den freien Abendstunden. Und immer dachte sie an etwas „Freundliches“: an ihr erstes Auftreten als Elsa, an wundersüße Teerosen, die sie in einer Vase aus Kopenhagener Porzellan bekommen hatte — ohne Karte, so daß sie gar nicht zu wissen brauchte, von wem sie kamen; an einen himmelblauen Sonntagmorgen, da sie mit Schmerzchen und Alwin Maurer nach Wannsee hinausgefahren war, um sich Bewegung in frischer Luft zu machen; an einen lebhaften Gruß aus einem vorbeisausenden Auto ... An eine Begegnung dachte sie im Tiergarten und an eine zweite bei Schulte, wohin Alwin Maurer sie geführt hatte; wie die Vorstellung gewesen war: Graf Gaudlitz — Dr. Alwin Maurer, und wie Alwin sie fast angstvoll unter den Arm genommen und sie dann weitergegangen waren zu dreien ... an den besten Bildern vorbei ... in hastigem, immerzu stockendem, immer wieder aufflackerndem Geplauder, bis Alwin sagte: „Du wirst wohl nach Hause müssen, Karla“, und Gaudlitz ihre Hand an die Lippen zog — ihren dummen weißen Handschuh küßte ...

Karlas Häkelnadel blieb in der Luft hängen ... nein, daran durfte sie wohl nicht denken, daran nicht ...

„Hörst du zu, Karla?“ fragte Altmann ein bißchen ungeduldig, weil sie so stumm blieb. „Dramatischen Unterricht will ich geben ... hier, bei mir ...“

„Ja ...,“ fiel Karla verwirrt ein, „... ja ... das ist sehr schön, Ernst ... ich freue mich sehr ...“

Altmann zuckte die Achseln und wendete sich ernüchtert ab. Mit Karla war nicht ernsthaft zu reden. Es war nur gut, daß er Luise hatte! Adele würde sicher auch einverstanden sein!

Altmann setzte Ankündigungen in der Zeitung auf. Ein Konservatoriumsleiter, der wußte, daß Karla König Altmanns Frau war, und der sich für seine Gesangschülerinnen[S. 234] einen Vorteil von der Verbindung versprach, meldete sich als erster und verpflichtete ihn für seine Lehranstalt. Allmählich kamen auch Privatschüler. Die Honorarsätze reichten bei weitem nicht an das heran, was Altmann erwartet hatte — immerhin, er verdiente. Und um Karla nicht bei ihrem Partienstudium und ihren Übungen zu stören sowie selbst nicht gestört zu werden, ließ er an alle Türen dicke Vorhänge anbringen, die jeden Schall dämpften.

Leise, fast unhörbar glitt Luise in der Wohnung umher. Ihr Klopfen wurde durch die Vorhänge wirkungslos, und sie stand oftmals wie ein Gespenst, ganz unvermutet, im Musikzimmer.

Karla fuhr zusammen.

„Ja ... was ist ... was wünschest du?“

Es war immer ganz Nebensächliches, Unwichtiges — Karla aber klopfte das Herz bis in den Hals, und sie dachte manchmal daran, sich einzuschließen. Aber das wagte sie doch nicht.

Ihr Verkehr brauchte wahrlich nicht unter Aufsicht zu stehen. Wer kam denn zu ihr? Der kleine Goldbeck allenfalls — ihr Korrepetitor, der von irgendwo an der russischen Grenze eingewandert war, sich durchgehungert, durchgebettelt hatte, voll Musik in Kopf und Fingern steckte, sich scheu an der Hochschule hatte vorbeidrücken müssen, weil er weder Geld noch Zeit noch Freunde gehabt hatte; der, was er konnte, gleichsam mit der Luft eingesogen hatte, die ihm aus den Toren zuströmte, hinter denen Musik gemacht wurde.

Kam noch Vicki, mit ihrem Bodo Völkel in jedem ihrer Seufzer, jedem Augenaufschlag, oder Fritz mit seinem Kadettenüberschwang oder Alwin Maurer ...

Der kam freilich öfter, als sie je geglaubt hätte, der liebe, gute Alwin, nahm sich ihrer „gottssträflichen Unbildung“ an, wie Luise sagte. Was ihr nicht angeflogen war, das wußte sie nicht, und von dem bißchen Schulbildung hatte sie auch mehr vergessen, als behalten.

[S. 235]

Es war Alwin Maurer eine innige Freude, sie mit Büchern zu versorgen, deren bedachtsam und liebevoll gewählte Reihenfolge Karlas Wissen erweiterten.

Noch dämmerhaft zwar, aber doch mit starkem Instinkt begann sie den Zusammenhang zu fühlen, der alle Künste als die Ausstrahlung eines einzigen großen, schöpferischen Gedankens vereinigte, und ein ihr noch ganz neues Gefühl für das Schöne in jeder Art und äußeren Gestalt regte sich lichtstrebend aus dem Dunkel ihres unentwickelten Geistes.

Dr. Alwin Maurer aber vermeinte, so einen Teil der Dankesschuld abzutragen, die das rücksichtslose Fordern seiner Frau auf ihn gehäuft hatte. — — —

Verzierung, drei Sterne
K

Karla feierte Weihnachten mit ihrem Kinde.

Hatte es feiern wollen — aber so ein kleines Wurm verschwand ja unter den vielen Großen. So sah sie nur einen kerzenstrahlenden Baum, eine lange, weiß gedeckte Tafel, auf der mit Tannenzweigen die Geschenkplätze abgegrenzt waren, sah Haufen zerdrückten Seidenpapiers, die erhitzten hageren Wangen von Luise, das gemessene Hin- und Herschreiten Altmanns, Adelens neugieriges Herumschnüffeln, hörte Lärmen und Lachen, das Hackenzusammenschlagen von Fritz und fühlte das unablässige Umarmen von Vicki.

Irgendwo auf dem Teppich aber krabbelte Schmerzchen — ernsthaft, gesammelt, sehr bedacht, daß niemand ihr etwas von ihrem Spielzeug nahm oder sie mit lästigen Fragen störte. Lautes Lachen, Kreischen und Jubeln, wie Karla es erhofft hatte, hörte sie auch jetzt nicht.

„War das Christkindel nicht gut, Schmerzchen .... sag’, war es nicht ein liebes Christkindel?“

Schmerzchen nickte. Schmerzchen hatte in ihrem kurzen,[S. 236] aber mit tiefgründigen Betrachtungen erfülltem Leben bemerkt, daß die Großen immer nur fragten, wenn sie eine Zustimmung erwarteten. Von Zeit zu Zeit blickte Schmerzchen auf die Mama. Die Mama hatte ein weißes Kleid an, mit vielen großen, schönen Löchern, unter denen es blau und grün und rosa schillerte. Schmerzchen hätte gar zu gern ihre Finger in die Löcher gesteckt — immer so drei auf einmal ... Aber sie wußte, daß es dafür Klapse gab. So beschloß sie, lieber der Mama den Rücken zu kehren, um der Versuchung auszuweichen — — —

„Das ‚Liebesleben in der Natur‘ von Bölsche ... von wem hast du denn das, Karla?“ fragte Adele und hob drei grau gebundene Bücher mit leisem Ekel um die Mundwinkel in die Luft.

„Von Alwin ... warum?“

„Nichts ... ich meinte nur ...“

Und Karla hatte dem Schwager eine „großartige“ Büste von Nietzsche geschenkt, als „dankbare Schülerin“ ...! Ein bißchen faxig war es zum mindesten ...

Jedesmal, wenn Alwin an der Büste, die auf einem schwarzen Sockel stand, vorbeikam, glitten seine Finger wie streichelnd über den weißen Gips.

Der Papa war nicht zu bewegen gewesen, das Fest mitzufeiern.

„Weihnachten ... Stollen, Kerzen ... kenn’ ich, kenn’ ich ... Bin große Familienfeste nicht mehr gewöhnt ... ta, ta, Kleine ... ein andermal ..! Pauline macht mir einen polnischen Karpfen ... delikat — Bei Borchardt nicht besser ... dazu einen feinen Mosel ... Werde auf dein Wohl trinken, Kleine ... um zehn kommt ein Klubfreund ... da spielen wir noch eine, zwei Partien ... Pauline liest in ihrem neuen Andachtsbuch — weiß Elfenbein, bitte — raschelt mit ihren gestärkten Röcken ... mag ich gern hören, klingt so propper ... bringt uns was zu knabbern — ein Gläschen Grog ... ganz leicht ... einmal ist keinmal ... Vor dem Schlafengehen eine Patience ... zanke mich noch ’n bißchen mit Pauline ’rum ... und dann[S. 237] in die Klappe. Tja ... und wenn ich dann träume, daß meine Tochter eine große Primadonna ist ... dann war’s das schönste Weihnachten, das ich mir wünschen kann! ...“

Und während des Lärmens um den feierlich strahlenden Baum, während der Fragen und Ausrufe der Schwägerinnen, der geschwisterlichen Anrempeleien von Fritz und Vicki, der tönenden Weisungen und Ansprachen Altmanns — sehnte sich Karla plötzlich in das stille, helle Zimmer des Papa, an den runden Tisch unter der friedlich brennenden Lampe, um den herum das „proppre“ Röckerauschen von Pauline einen altbackenen Duft traulicher Gemütlichkeit verbreitete ...

Und doch sollte Karla an diesem ersten Weihnachtsabend in ihrem Hause eine erste große Freude erleben.

Ein Wattebäuschchen, das als Schnee auf einem Tannenzweig lag, hatte unbemerkt Feuer gefangen, während Karla „Stille Nacht, heilige Nacht“ am Klavier sang. Ein trockener Zweig flammte auf — ein zweiter ... Fritz bemerkte es als erster und stürzte an den Fernsprecher in Altmanns Zimmer, um die Feuerwehr herbeizurufen, während alle sich, so gut es ging, mit dem Löschen befaßten.

Karla riß vor allem Schmerzchen aus ihrem neuen hübschen Rohrsessel auf, von dem sie wie aus einer Loge dem immer mehr um sich greifenden Brand mit großen, glänzenden Augen hochbeglückt zugesehen hatte, ohne auch nur im entferntesten daran zu denken, die Großen zu rufen, die ja doch nur Störenfriede waren.

Als die Feuerwehr kam, war es höchste Zeit. Die Herren hatten die Tafel und alle Möbel zur Seite gerückt, das weiße Laken fortgerissen, das das Tannenkreuz zudeckte. Das Mädchen hatte Wassereimer angeschleppt, und die Damen tauchten alles, was an Besen und Lappen vorhanden war, ein, um den Baum zu nässen. Als der schwelende Rauch das Löschen kaum noch möglich machte, ratterte die Feuerwehr heran.

Karla kümmerte sich um nichts. Sie hatte Schmerzchen ausgezogen und streifte ihr unter tausend kleinen Neckereien[S. 238] und Küssen das Nachthemdchen über den frisch abgeriebenen Körper. Schmerzchen hatte selbst die abendliche Abreibung verlangt, hatte selbst Schwamm und Seife angebracht, mit allerlei drolligen Belehrungen der Mama gezeigt, wie sie es zu machen hätte. Und dann hatte Schmerzchen gelacht, richtig gelacht wie andere Kinder, wenn das kalte Wasser ihr über das zierliche Körperchen lief. Denn es war zum ersten Male lustig, dieses „Abreiben“ — nicht nur gesund, wie Tante Lis’ immer sagte. Und Karla lachte mit, in aller Herzensseligkeit. Was scherte sie das Poltern am Ende des Ganges, das Läuten der Feuerwehr ... das Schreien und Türzuschlagen, was scherte sie der Brandgeruch, der sich leise bis ins Hinterzimmer schlängelte — mochte doch alles verbrennen dort drüben — die großartigen Speisezimmermöbel und die Vorhänge und ... das ganze Zeug, an dem sie mit keiner Faser ihres Herzens hing! Sie hatte ihr Schmerzchen im Arm ... und Schmerzchen lachte ihr zu und warf die Ärmchen um sie ... und wenn die ganze Wohnung in Flammen aufging, dann packte sie ihr Kind in die Decke ein und lief mit ihm hinunter auf die Straße — — und zum Papa in das helle, stille Zimmer, legte es unter die Bilder und Kränze und Schleifen und hütete seinen Schlaf eine lange, wunderschöne Christnacht durch ...

So gut aber sollte es ihr nicht werden. Luise kam herein, abgehetzt, noch zitternd an allen Gliedern.

„Wie das Eßzimmer aussieht ... Ernst muß morgen gleich zur Feuerversicherung! ... Du hast das Kind zu Bett gebracht, Karla? Gut ... aber nun das Licht gelöscht ... raus, raus ...“

Und da Schmerzchen zum ersten Male ihr Recht an die Mama geltend machen wollte, fuhr Luise sie an:

„Nicht unartig sein, Isoldchen ... gleich kommt der Weihnachtsmann und holt sich alle deine Spielsachen. Na ... also ... Jetzt geh aber, Karla ... Du bist gerade so unvernünftig wie das Kind ...“

Am nächsten Morgen stand in einem viel gelesenen Blatte ein längerer Aufsatz über den Brand im Hause der gefeierten[S. 239] Opernsängerin Karla König, der nicht ohne Lebensgefahr gewesen wäre für die Primadonna und ihre zahlreichen Gäste, die sich übrigens lebhaft an der Löscharbeit beteiligt hätten und denen es, unterstützt von der herbeigeeilten Feuerwehr, gelungen wäre, die Kostbarkeiten und wertvollen Einrichtungsgegenstände den Flammen zu entreißen.

Am Nachmittag aber kam der Papa, sehr aufgekratzt. Karla öffnete ihm selbst.

„Na, Kleine ... ist glücklich alles verbrannt?“

„Wie meinst du ...?“

Er griff mit komischer Verzweiflung an seinen silberweißen Kopf, als er von Karlas Musikzimmer aus durch die offenen Türen die Wohnung überblickte.

„Aber es steht ja noch alles da, Kleine ... um Gottes willen!“

Er fiel auf einen Stuhl nieder und tupfte sich mit dem weißseidenen Tüchlein die Stirn ab.

„Da hatte ich alter Esel gehofft ... na ... Die Feuerwehr hätte ruhig ein bißchen später kommen können.“

„Es wäre schade gewesen um den Bechstein“, sagte Karla, mit einem Versuch zu lächeln ...

„Ja, um den allenfalls. — — Also ich sehe, es ist wieder alles beim alten ... da kann ich gehen. Immerhin: Brand am Weihnachtsabend bei Karla König ... machte sich ganz nett ... Das lesen mehr Leute, als wenn was über deine Sieglinde drinsteht ... Wo ist übrigens Altmann? Bei der Feuerversicherung ... ja ... natürlich. Pauline sagt, ich müßte auch ... Sie nimmt sich ein bißchen viel heraus, die gute Pauline .. Bin mein Lebtag ohne alle Versicherungen ausgekommen ... Was hätte ich auch zu versichern? ... Ein bißchen Geschmack vielleicht ... der ist nicht zu substanzieren. Also pa, Kleine ... halt’ die Fenster auf ... es riecht noch eklig säuerlich in den Zimmern. Paß’ auf, daß der Geruch nicht bleibt. Es gibt so Wohnungen ... Menschen auch ... und es ist ansteckend — paß’ auf ...!“

[S. 240]

Es war merkwürdig: Karlas sehr ernste künstlerische Erfolge hatten ihren Namen in Berlin weniger bekannt gemacht als die paar Löcher, die ein flammender Tannenzweig in den Teppich gebrannt hatte. Ihr Name wurde auch jenen geläufig, die das Opernhaus nur alle drei Jahre wie zu einem Weihfestspiel betraten. Damen der großen Wohltätigkeit wurden auf sie aufmerksam, baten sie um ihre Mitwirkung bei ihren Veranstaltungen.

Eines Tages brachte das Mädchen ihr eine Karte herein, bei deren Anblick Karla alles Blut zu Kopf schoß. Sie wollte sich erst verleugnen lassen, aber dann lief sie selbst auf die kurze, in einen Gang auslaufende Diele hinaus. Es war lächerlich und unpassend. Aber das fiel ihr erst viel später ein — als sie schon mit Gaudlitz in ihrem kleinen, kahlen Empfangszimmer saß und die seidenen Fransen der ockergelben Tischdecke unruhig zusammenflocht.

Gaudlitz war gekommen, um sich ihrer Mitwirkung in einem großen Fest in der Philharmonie zu versichern.

„Ich gehöre nun einmal zum Komitee — und da konnte ich mir die Freude nicht versagen, selbst zu Ihnen zu kommen und Sie sehr inständig zu bitten ...“

Er brach ab, sah sie lachend an und wußte, daß er gar nicht viel zu bitten brauchte.

Sie hatte keine Spur von Koketterie. Ganz offen leuchtete ihr die Freude aus den Augen, ihm „ja“ sagen zu dürfen. Und nur, als er ihre Hand dankend an die Lippen zog, da flammten ihre Wangen auf.

„Ach, lassen Sie das, Graf Gaudlitz, Sie haben gar nicht zu danken — ich komme ja so gerne. Was wollen Sie, daß ich singe?“

„Am liebsten — alles, was Sie können ... am liebsten hörte ich Sie ganz allein ... den ganzen Abend. Ich werde gar nicht müde, Ihnen zuzuhören. Ich habe schon meiner Schwester nach Wien von Ihnen geschrieben. Meine Schwester ist dort an einen Fürsten Reichenberg verheiratet. Er hat was zu sagen in der Wiener Hofopernintendanz. Geben Sie acht — es dauert nicht lange, und Sie bekommen[S. 241] einen Gastspielantrag dorthin. Man will die Primadonna dort nämlich ein bißchen kaltstellen und wird ihre erste Absage dazu benutzen, Sie kommen zu lassen ... Also — bereit sein, ist alles.“

„Wie ein Geschenk ist das wieder ... wie ein Geschenk“, murmelte sie ganz ergriffen.

„Ein anderes darf ich Ihnen ja leider nicht machen ...“

Ihre Augen irrten, wie Beistand suchend, im Zimmer umher. Aber nichts war ihr darin vertraut, nichts lieb — nichts stützte oder hielt sie gefangen. Wie in der Luft schwebte sie.

„Mein Mann gibt gerade Unterricht — sonst ...“

Es war ihr letzter Rettungsanker.

Aber er stand auf. Gar nichts lag ihm daran, den Mann kennenzulernen. Er konnte sich schon denken ... das Zimmer genügte: kahl, nüchtern, bürgerlich sauber und solide. In diese spießbürgerliche Atmosphäre wollte er sich nicht einspinnen lassen. Wollte auch sie nicht darin sehen, deren Stimme ihm die reinsten und edelsten Freuden gegeben hatte.

„Empfehlen Sie mich bitte, gnädige Frau ... meine Zeit ist leider beschränkt ...“

Sie verstand und hielt ihn nicht zurück.

Er verneigte sich kurz und tief. Sie blieb auf dem Fleck stehen, mit herabhängenden Armen, neigte nur den Kopf zum Abschied und stand noch so da, als die Eingangstür hinter ihm ins Schloß fiel.

Altmann aber war während des Unterrichts zufällig ans Fenster getreten und warf gerade einen Blick hinaus, als Gaudlitz aus der Tür trat und auf seinen Kraftwagen zuschritt. Seine Brauen zogen sich zusammen, wie unter der Einwirkung eines plötzlichen kurzen Schmerzes. Der Schüler säuselte gerade Romeos Liebeswerben ... Hundertmal hatte Altmann ihn vorhin gerade an dieser Stelle unterbrochen — jetzt sagte er gar nichts, nickte nur, mit abwesendem Ausdruck in den Augen.

„Ja ... weiter ... weiter ...“

[S. 242]

Als Luise wenige Minuten später mit Schmerzchen vom Spaziergang heimkehrte und das Mädchen fragte, ob „was los gewesen wäre“, hörte sie vom Besuch des Grafen Gaudlitz. Auch ihre Brauen zogen sich zusammen, ähnlich wie die ihres Bruders.

Das Mittagessen verlief noch stiller als sonst, und Schmerzchen konnte es nicht verstehen, warum die Mama manchmal so vor sich hinlächelte.

Denn Karla sagte kein Sterbenswörtchen — weder vom Fest in der Philharmonie noch von Wien. Einmal, ein einziges Mal wollte sie etwas für sich allein haben, etwas, worauf sie sich ganz allein freuen, an das sie ganz allein denken durfte.

Verzierung, drei Sterne
A

Adele hatte darauf bestanden, daß die Geschwister jeden zweiten Sonntag in der Motzstraße speisten. Den nächsten Sonntag waren sie selbst in der Landgrafenstraße.

„Man darf den Familienzusammenhang nicht verlieren.“

Vickis Seelenzustand jagte Adele die größten Besorgnisse ein. Vicki hatte ihre frischen Farben verloren, Vicki war still geworden und hatte oft rotgesäumte Augenlider.

Bodo Völkel hatte noch immer keinen Besuch in der Motzstraße gemacht. Adele machte Karla eigentlich dafür verantwortlich. Karla hätte den jungen Mann „ermutigen“ sollen. Es war heutzutage gar nicht leicht, ein mitgiftloses Mädchen zu verheiraten!

Adele hatte Erkundigungen eingezogen. Völkel hatte einen reichen, sehr klapprigen Onkel, einen Geizkragen, der sein Geld zusammenhielt. Aber mitnehmen konnte er es doch nicht! Wenn er starb, war Bodo Völkel sein einziger Erbe!

[S. 243]

„Ekelhaft“, fuhr es Karla heraus.

„Was meinst du? Was findest du ekelhaft?“

„Auf den Tod eines Menschen zu spekulieren.“

„Du willst wohl sagen: damit rechnen?“ warf Luise scharf ein. „Das muß man wohl, wenn man vernünftig ist.“

„Ja ... was wollt ihr eigentlich von mir?“

„Du hättest den jungen Leuten Gelegenheit geben können, sich zu treffen, ganz unverbindlich für ihn natürlich, aber doch ... Du siehst doch, er wagt es nicht, sich an die Eltern zu wenden! Da muß man eben ein bißchen nachhelfen.“

Karla wollte sagen: Das brauche ich nicht, das besorgt Vicki schon allein — aber es kam ihr vor wie häßliche Angeberei. Es war ihr zudem aufgefallen, daß der junge Architekt sich plötzlich zurückgezogen hatte. Ein kurzer Neujahrsbesuch war alles gewesen, was der Sendung seines Azaleentopfes gefolgt war. Vielleicht hatte er sich auch erkundigt, vielleicht hatte er in Erfahrung gebracht, daß die große Primadonna gar keine reiche Frau war, wie Vickis Wunsch es ihm dargestellt hatte? ...

Adele aber schürte den Schmerz im Herzen ihrer Tochter, wußte längst von den heimlichen Verabredungen, die sie noch vor kurzem gehabt hatte, und den tiefen Enttäuschungen, wenn er einmal nicht gekommen war.

„Nur nicht tun, als ob ich wirklich etwas wüßte, Kind ... Erst, wenn du seiner ganz sicher bist ... Es darf nicht aussehen, als ob du ihn einfangen wolltest ... ja nicht! Die jungen Leute haben heutzutage einen so entsetzlichen Freiheitsdrang! Die Verliebtesten wollen zart und unmerkbar geführt werden ... aber es muß auch der Augenblick kommen, da sie sich überzeugen, daß wir ihnen über alles gut sind. Das wirkt dann und schläfert alle Bedenken ein.“

Frau Dr. Adele Maurer wäre aufs tiefste entrüstet gewesen, wenn man sie schamloser Kuppelei bezichtigt hätte. Es war in ihren Augen nur mütterliche Politik, die aus ihr sprach, Vorsorge, Angst um die Zukunft der Tochter. Auch wie ein unbewußtes letztes Sehnen nach einer neuen[S. 244] würdevollen Mutterschaft, die im Gebären der Tochter ein Wiederaufleben längst vergangener Mutterfreuden feiert ...

Bodo Völkel hatte sich wirklich erkundigt, hatte wirklich die Zwecklosigkeit seiner Werbung eingesehen. Sein flüchtiges Gefallen an Vicki wäre schmerzlos verebbt, hätte sie nicht mit einer Leidenschaftlichkeit, die er dem blonden jungen Ding kaum zugetraut hätte, immer wieder den abreißenden Faden geknüpft.

Er brauchte nicht gleich anzuhalten, er brauchte die Tante nicht zu besuchen — er sollte ihr nur gut bleiben, sollte seine kleine, dumme Vicki nicht fortschicken. Und er schickte sie nicht fort — schon weil er niemand hatte, der ihre Stelle einnehmen konnte. Er ließ sich lieben, launisch, rücksichtslos, immer erfüllter von der Bedeutung seiner angebeteten Männlichkeit. Er brachte es, ohne es eigentlich zu wollen und mit den abgebrauchtesten Mitteln, dahin, daß Vicki wie Wachs in seiner Hand wurde, sich willenlos fügte, beglückt von einem freundlichen Wort, einer flüchtigen Liebkosung. Sie war — das freilich hatte sie der Mutter nicht gesagt — mehrfach auf seinem Zimmer gewesen, hatte wie eine kleine Hausfrau bei ihm Ordnung gemacht, Staub gewischt, seine Schlipse gewendet, seine Wäsche geflickt. Alles mit einem verschämt lachenden: „Aber, Bodo, das ist doch mein Amt ...“

Es kam vor, daß er ausgegangen war, gerade wenn sie ihm ihren Besuch für eine bestimmte Stunde in Aussicht gestellt hatte, und er war oft grob, wenn er zu Hause blieb und ihrem Treiben zusah. Aber dann fehlte sie ihm wieder, wenn sie aus irgendeinem rein äußerlichen Grunde hatte fernbleiben müssen, und er küßte sie fast leidenschaftlich bei der nächsten Zusammenkunft. Sie war so frisch und jung wie eine Knospe, er war von Ehrgeiz zerwühlt, vor Wut auf seinen Onkel erbittert, der ihn alle Dürftigkeiten des Lebens auskosten ließ, von Gier nach Prunk und Aufwand zerfressen.

Eines Nachmittags — Vicki war seit Tagen blaß und stumm umhergegangen — fand Adele einen Brief, mit[S. 245] „Bodo“ unterzeichnet. Sie wurde sehr bleich, als sie ihn gelesen hatte. Es war von Beziehungen die Rede, die aufhören mußten, ehe etwas geschah, was er nicht gutmachen könnte. Sie sollte tapfer und klug sein — sie würde gewiß einen Mann finden, der sie glücklich machte. Er könnte es nur aufs tiefste beklagen, daß die äußeren Umstände usw. ...

Die Knie zitterten Adele Maurer. Dennoch fand sie die Kraft, ihrer Vicki, die eben ins Zimmer trat, zwei schallende Ohrfeigen zu geben.

„Du ehrvergessenes Ding! Schande über dich ... pfui ...“

Vicki weinte nicht einmal. Sie warf sich auf ihr Bett und vergrub ihren Kopf in den Kissen. Aber die Mutter ließ nicht locker. Wie mit eisernen Zangen entriß sie der Tochter ihr tiefstes Geheimnis. Sie schreckte vor keiner noch so brutalen Frage zurück. Sie fühlte als Mutter nur die „heilige Pflicht“, alles zu wissen — alles — bis aufs letzte. Und als sie es erfahren hatte, da wendete sie sich ab und atmete leise und erleichtert auf. Sie hatte eine Waffe in der Hand. Der Mann entging ihr nicht. Sie selbst hatte einst ihre Arme um den Studiosus Alwin Maurer geworfen, ihre Tochter war nur weiter gegangen. Das war gewiß empörend, aber wen ging das was an, wenn Vicki erst Frau Völkel war? Und sie mußte es werden, mußte ...

Sie wollte erst zu ihrem Manne. Dann besann sie sich. Nein — an dem hatte sie keine Stütze in der Frage, an dem nicht. Das mußte in der Landgrafenstraße durchgefochten werden. Karla war ja mit schuld an der ganzen Sache! Hatte Blumen von dem Manne angenommen, hatte es gelitten, daß Vicki mit ihm im Tiergarten herumspazierte vor ihrer Nase ...

Es war bereits sieben Uhr, als sie an der Klingel in der Landgrafenstraße zog.

Karla saß im Schlafzimmer vor ihrem Ankleidespiegel und summte leise ein paar Töne vor sich hin. Sie war so froh, in so seeliger Stimmung. Heute war das große[S. 246] Fest in der Philharmonie — Gaudlitz hatte drei wundervolle Teerosen geschickt, „zum Anstecken“, in einem schlanken, schillernden Tiffanyglas. Ihr süßer Duft erfüllte das ganze Zimmer wie mit einem Vorahnen allerhand schönen Erlebens.

Karla hatte eben ihr neues Konzertkleid bekommen — weiß mit gold. Sie hatte kaum die Rechnung angesehen.

Für den heutigen Abend war ihr nichts zu schön, zu kostbar. Und ein jäh aufsteigendes Erschrecken über ihren Leichtsinn beschwichtigte sie mit einem: Für Wien brauche ich es ja doch ...

„Bildschön sehen gnädige Frau darin aus“, hatte ihr die große Schneiderin gesagt.

Daran mußte sie jetzt denken, und wie ein hüpfendes helles Licht, so spukte ein immer wieder auftauchendes Lächeln über ihr noch immer junges, hübsches Gesicht, vertiefte die schelmischen Grübchen in Kinn und Wangen, die ihm so leicht etwas Kindliches gaben ...

Oh, wie sie sich freute! — — —

Da stürzte fast ohne Anklopfen Adele in ihr Zimmer, hinter ihr Luise. Und Luise rief:

„Ernst ... so komm doch, Ernst ... es ist etwas Wichtiges ...“

Da standen nun die drei Altmannschen Geschwister — Adele in der Mitte, trotz ihrer Rundlichkeit wie Schutz suchend zwischen dem Bruder und Luise.

„Hättest du mir doch gleich gesagt, Karla ... Es war deine Pflicht ... aber du zogst es vor, Heimlichkeiten mit Vicki zu haben ...“

So waren Adelens erste Worte. Nicht überlegt, ganz triebhaft entlastete sie sich selbst durch die unsinnigste Beschuldigung anderer.

Karla verstand nichts ... nur auf ihre Freude senkte sich plötzlich eine schwere, schwarze Wolke ...

„Beruhige dich, Adele ... beruhige dich, meine Liebe ...“, sagte Altmann und hielt schon Bodo Völkels Brief in der Hand; Luise las über seine Schulter hinweg[S. 247] mit. Adele schluchzte und fiel auf das Ruhebett, so nahe dem wundervollen weißen Kleid, daß ihr alter Mantel es bei jeder Bewegung streifte, seine Spitzen verknitterte. Aber wer achtete noch darauf ...

Hier wurde über zwei Menschenleben zu Gericht gesessen.

„Er ist ein Schuft, aber Vicki muß seine Frau werden ...“

Adele wiederholte es wieder und immer wieder.

Karla zog ihre feine, weiße Frisierjacke enger um die Schultern. Es war ihr, als würde sie in Eiswasser getaucht. Wie schrecklich war das alles ... Wenn er ein Schuft war, durfte Vicki ihn doch nicht heiraten! ...

„Sprich keinen Unsinn“, schnitt Altmann erregt ab.

Luise sagte gar nichts. Sie biß an der Unterlippe. Ihre lange, hagere Gestalt drückte tiefsten Widerwillen aus, um ihren Mund lagen Ekel und Empörung. Ihre starre, nie bedrohte Tugend faßte es nicht, daß das Kind ihrer leiblichen Schwester sich so weit hatte vergessen können. Aber schließlich sagte auch sie, wenn auch stockend und mit tiefem Abscheu: „Er muß Vicki heiraten — er muß!“

„Den Kerl knöpf ich mir vor“, erklärte Altmann.

Adele griff nach seiner Hand.

„Ich wußte ja ... du bist der einzige ...!“

„Aber wenn Vicki jetzt nicht mehr will ...?“ kam es scheu von Karlas Lippen.

Adele sprang mit einer Behendigkeit auf, die in grellstem Gegensatz stand zu ihrem sonst so würdevollen Wesen.

„Was heißt das: nicht will?“

„Ruhig, Adele ... ruhig. Auf Wollen oder Nichtwollen kommt es jetzt nicht an, mein liebes Kind“, wendete er sich gleich darauf an Karla. „Sie muß. Sie hat jedes Recht auf eigenes Wollen verwirkt!“

Karla nahm die Tiffanyvase vom Frisiertisch und drückte ihr Gesicht an die Blumen.

Nun sprachen alle drei auf einmal ... die Schwestern machten Vorschläge ... Altmann sollte Bodo Völkel aufsuchen[S. 248] ... sofort ... Er war Leutnant der Reserve ... man könnte ihn vielleicht beim Regiment ...

„Nein“, sagte Altmann. „Hat er nicht so einen Erbonkel, sagtest du nicht, Adele? Ja? Also zu dem gehe ich!“

Adele schlug in die Hände, lachte beinahe. Es war wie Schadenfreude.

„Ja ... zu dem ...“

„Selbstverständlich ... nur zu dem“, bestätigte Luise.

Und wieder sprachen sie durcheinander — bis Altmann mit einer Bewegung Ruhe gebot.

„Seid unbesorgt ... ich bringe die Sache in Ordnung. In vier Wochen ist Vicki verheiratet. Wenn der Onkel sich sperrt — so viel kratzen wir noch zusammen, um ihnen ein paar Zimmer einzurichten!“

„Selbstverständlich“, sagte Luise. „Wenn man sich zum Beispiel ein paar Kleider weniger machen läßt, dann bleibt genug übrig. Für einen Fetzen fünfhundert Mark auszugeben, das ist meiner Ansicht nach ein bißchen übertrieben ... Ich meine nur, Karla ... man kann sich’s auch billiger einrichten ... Daran darf doch das Lebensglück unserer Nächsten nicht scheitern.“

Das Tiffanyglas fiel hart gegen den Teppich und zersprang in Scherben, das Wasser leckte in breitem Bächlein an Karlas weißseidenen Schuhen.

„Nein — daran scheitert es nicht ... daran nicht — aber —“

Ein Zorn, wie er kaum je in ihr aufgelodert war, erstickte ihre Stimme. Sie streckte den Arm aus.

„Geht! ... Im Guten sag ich euch, geht! ... Ich muß singen heute abend ... Wißt ihr, was das heißt? Singen! Verdienen! ... Ja! Verdienen! ... Damit etwas abfällt für ...“

„Karla ... hast du den Verstand verloren?“

Altmann warf beide Hände auf ihre Schultern und schüttelte sie leicht, als wollte er sie zur Besinnung bringen.

Sie entwand sich ihm heftig.

„Ach laß ... laß mich ... seit du hier bist ...“

[S. 249]

„Was, bitte? Sage gefälligst, was ... ‚seit ich hier bin?‘ Verdiene ich zu wenig, ja? ... So sag’s doch gerade heraus! Bitte! Hast eben eine schlechte Partie gemacht! Hättest dir’s überlegen sollen ... Vorläufig genügt’s, um mich zu erhalten. Meine Pension hier bezahle ich redlich! ..“

Adele überkam die Angst, daß das, was ihr am Herzen lag, in Vergessenheit geraten könnte über das Neue, Böse, das sich plötzlich zeigte. Eine Kluft hatte sich aufgetan zwischen dem Bruder und Karla ... eine Kluft ... Nicht erst von heute.

Luise wechselte die Farbe.

„Was redest du, Ernst ... Karla dachte doch nicht daran ... nicht wahr, Karla?“

Karla hatte sich abgewendet. Tränen hatte sie nicht mehr für das, was von „denen“ kam, und ihrem Manne hatte sie nicht weh tun wollen. Aber wahr blieb es ... Immer neigte er sich dahin, von wo man ihn anrief. Sie hatte ihn lange nicht angerufen ... und so war er ihr entrückt ... ganz weit weg, auf ein anderes Ufer — —

Ganz lange ging man zusammen einher und merkte es nicht, und dann — plötzlich — war es da, das ferne Fremde.

Nur so war es möglich, daß er ihr vorhielt, woran sie nie gedacht hatte. Ob sie mehr verdiente als er, ob weniger — keinen Augenblick war ihr das ins Bewußtsein getreten. Nur die anderen sprachen immer davon ... Luise ... er selber ...

Es sollte alles nach ihrem Wollen, nach ihren „Anschauungen“ gehen. Auch Vicki mußte heiraten, ob sie noch wollte oder nicht! Was galt ihnen inneres Leben? Sie sahen es nicht. Hatten es nie gesehen —

„Verzeih, Karla, ich war erregt ... ich hatte unrecht.“

Es war selten, daß Altmann ein Unrecht zugab. Karla sah ihn groß an. Aber in ihren Augen lag mehr Staunen als Freude — —

Luise schob sie an ihn heran.

„Vertragt euch, Kinder ... Einig muß man sein — einig. Dann trägt sich alles leichter.“

[S. 250]

„Na ja ... eben. Ich werde jetzt also ... das heißt, jetzt um diese Zeit? Ein bißchen spät für einen Besuch bei dem Herrn Onkel ...“

Adele schüttelte den Kopf.

„Nein, nein ... gerade ... daraus sieht er die Dringlichkeit, das Wichtige ...“

„Ich glaube auch“, unterstützte Luise.

Die Schwestern drängten ihn zur Tür, als es draußen klingelte.

„Geht ... so geht doch ... ich werde abgeholt ... und ich bin nicht fertig ...“

Im Speisezimmer nahm Luise dem Mädchen die Karte von Gaudlitz ab.

„Schon wieder der? ... Karla hätte wahrhaftig auch allein fahren können —“

Adele winkte ab. Wie ungeschickt Luise war ... was ging sie jetzt Karla an und ein Herr, der sie abholte —? Um ihre Tochter, um Vicki handelte es sich!

Durch die Glastür des Empfangszimmers sah man Licht brennen und den schlanken, großen Schatten eines Mannes. Es kostete Altmann Überwindung, jetzt nicht hineinzugehen ... Aber Adele drängte. Alwin — dieser „Waschlappen“, war zu nichts zu gebrauchen! Er selbst mußte eben ... und wenn das Haus zusammenstürzte — er mußte ...!

Luise blieb eine Weile am Treppengeländer stehen und blickte den Geschwistern nach. Ihre Lippen lagen hart aneinander, und ihre Gestalt steifte sich wie in Abwehr gegen das Leben, das ihr erschien wie ein großes Ungeheuer mit langen Pranken. Mit diesen Pranken griff es ein in das stillste, verschlossenste Haus, mit diesen Pranken riß es die Nächsten auseinander und zerfleischte ihnen das Herz. Adele hatte nichts gesehen ... der Bruder sah nichts ... Spielerisch gaukelte ihnen das Ungeheuer Freundliches vor — um sie desto sicherer zu umgarnen, zu vernichten! Aber sie wenigstens wollte sehen, wissen, wen das Ungeheuer sich hier ausersehen hatte, sein Vernichtungswerk einzuleiten ...

Da drückte sie die Klinke des erleuchteten Zimmers[S. 251] nieder. Und sie sah einen hochgewachsenen Mann im Frack und weißer, seidener Weste, mit einer weißen Nelke im Knopfloch, einem schrägen, blonden Scheitel und einem kurzgehaltenen blonden Schnurrbart. Er verneigte sich und blickte ihr mit schönen, offenen blauen Augen entgegen.

„Meine Schwägerin läßt Sie bitten, sich noch ein wenig zu gedulden ...“

„Bitte sehr, Gnädigste.“

Einen Augenblick zögerte sie, dann fügte sie schroff hinzu: „Meine Schwägerin hat sich sehr verspätet ... Es ist vielleicht besser, Sie warten nicht ... meine Schwägerin fährt dann allein.“

„Ich habe keine Eile Gnädigste ... Ich werde warten.“ Sehr hart konnten die hübschen blauen Augen plötzlich blicken.

„Wie Sie wünschen ...“

Die Tür schloß sich hinter ihrer hageren Gestalt, noch ehe Gaudlitz die grüßend geneigten Schultern erhoben hatte.

Karla vollendete hastig ihr Ankleiden. Die kleine Wasserlache stand noch immer auf dem Teppich, umgeben von Glasscherben, und die schönen sanften Teerosen lagen von Schritten verschleppt und zertreten herum ...

„Nicht angesteckt die Rosen?“ war Gaudlitz’ erste Frage, während er ihre Hand an die Lippen zog.

„Bitte nicht fragen ... ich war so ungeschickt ... oder vielmehr nein ... so wütend war ich ... bitte, bitte, nicht davon sprechen.“

Er fühlte ihre Erregtheit heraus, und sie tat ihm plötzlich so leid, als hätte er alles aus ihrem Munde vernommen, was er sich ganz allmählich zusammenreimte.

„Nein, nein ... liebe gnädige Frau ... nicht fragen und nicht reden. Sie sind da und sehen wunderschön aus ... mehr will ich gar nicht wissen.“

Vor dem Hause stand sein Auto. Auf dem Rücksitz lag ein großer Strauß glutroter Rosen, mit breiter Schleife.

„Vom Komitee ...“

Stumm saßen sie nebeneinander. Gaudlitz wußte, daß man Sängerinnen vor ihrem Auftreten Ruhe gönnen muß.[S. 252] Aber plötzlich brach Karla das Schweigen, wie aus einem langen Gedankengang heraus: „... und die wunderbare kleine Vase habe ich auch auf den Boden geworfen ... Scherben sind alles, was geblieben ist ... Ich könnte mich — ja wirklich, ich verdiene Ohrfeigen ... aber ich war immer so ... Wenn mich der Zorn packt, dann — Wissen Sie, Graf, ich glaube, das ist eben, wenn man zu früh aus dem Elternhause kommt ... So, was man Erziehung nennt ... das habe ich eigentlich nie recht gehabt. Erst später ... da haben sie alle an mir herumerzogen ... aber das nützt dann wohl nicht mehr viel ... Darum darf ich ja auch mein eigenes Kind nicht erziehen ... vielleicht kann ich’s auch wirklich nicht ... es ist doch furchtbar schwer, scheint es ... Selbst die besten Mütter ... wissen Sie, so die bürgerlichsten, meine ich ... selbst denen gelingt’s nicht immer ...“

„Sie haben Ihr — Schmerzchen heißt es doch? — das haben Sie wohl sehr lieb?“

„Ob ich das liebhabe!“

Ihre Augen waren plötzlich wieder feucht. Er sah sie von der Seite an und sagte: „Sie sind so wie Ihre Stimme. Alles Empfinden quillt so natürlich aus Ihnen heraus. Meine Schwester wird vernarrt in Sie sein. Wenn sie nicht den Reichenberg geheiratet hätte, sie wäre gewiß auch zur Bühne gegangen. Sie hat lange Jahre bei der Marchesi in Paris studiert ... ist durch und durch Künstlerin. Alles, was Ruf und Namen in Wien hat, verkehrt bei ihr.“

Er brach ab und fragte unvermittelt: „Wird von Ihrer Familie jemand in der Philharmonie sein?“

„Mein Mann sollte kommen und mein Schwager mit Frau und Tochter ... ich habe ihnen die Freikarten gegeben. Aber — heute kommen sie gewiß nicht ...“

Als Karla, von warmem Beifallsrauschen empfangen, das Podium betrat und ihre Augen über das Publikum flogen, setzte ihr Herz plötzlich im Schlagen aus. In der sechsten Reihe hatte sie Alwin Maurer und Vicki erblickt. Vicki war sehr blaß und hatte dick geschwollene Lider. Ihre Augen jagten unstet die Reihen entlang; sehr oft[S. 253] wendete sie den Kopf, um hinter sich zu sehen. Alwin Maurer hatte die Hände mit dem Programm übereinandergelegt. Sein Gesicht war ruhig und drückte nur ein freudiges Vorgenießen aus. Unter den Herren, die sich seitwärts an den Logen drängten, stand Bodo Völkel. Er war kaum zu erkennen, weil er sich den spitzen, dünnen Schnurrbart hatte abnehmen lassen. Jetzt trat die harte, verbissene Linie seiner Lippen erst recht hervor, aber das Gewöhnliche, vor dem Karla eine starke, unbewußte Abneigung hatte, war verschwunden.

Karla hatte an diesem Abend ihren größten Erfolg in Berlin. Immer und immer wieder rief man sie heraus, brüllte ihren Namen.

Gaudlitz, umringt von einigen seiner Freunde aus dem Automobilklub, fachte das Feuer der Begeisterung immer aufs neue durch dröhnendes Klatschen an. Sie sollte mal eine recht große Freude haben, die Karla König!

Und wie sie herauskam — nichts Gemachtes, nichts Hoheitsvolles — auch nichts Herausforderndes war an ihr. Ein einfach lieber Mensch kam daher, der dankbar war für die Begeisterung, die man ihm entgegenbrachte ...

So empfand es auch Alwin Maurer und konnte es doch nicht über sich gewinnen, ihr zuzuklatschen wie ein Fremder.

Vicki stand abgewendet vom Podium — ihre Augen suchten in all dem Lärm und Rufen und Klatschen nur einen. Mochte die Mutter — wenn sie erfuhr, daß sie mit dem Vater zum Konzert gegangen war — sie schelten, sie schlagen, diese eine letzte Gelegenheit, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen, mußte sie ergreifen. Ein letztes, einziges Mal mußte sie sich an ihn klammern, ihn an ihre Liebe erinnern ... Was wußte sie auch mit ihren achtzehn Jahren von Männern, die für den Hund des Nachbarn mehr Gefühl haben als für die Frau, die ein abgeschlossenes Kapitel in ihrem Leben bedeutet!

Sie stieß und ruderte sich hindurch zwischen den vielen Menschen, wie geschützt durch den Aufruhr der Begeisterung, durch den tosenden Lärm.

[S. 254]

Und nun stand sie vor ihm.

„Bodo ...“

Flammender Zorn brach aus seinen dunklen Augen.

„Was wünschen Sie ...?“

Sollte das nie aufhören — nie? Sollte sie immer das Recht haben, ihn aufzuspüren? — War das der Dank für die Schonung ... den letzten liebevollen Brief? — Was wollte, was hoffte, was glaubte sie? Hatte er ihr nicht hundertmal das Einmaleins des Lebens vorgerechnet, hatte er ihren Zärtlichkeiten nicht gewehrt bis zur äußersten Möglichkeit — mußte er eine Ballbekanntschaft, ein paar Stelldicheine, ein paar leichtsinnige Liebesworte büßen bis an sein Lebensende? — —

„Was wollen Sie noch?“ fragte er rauher, roher noch als das erstemal.

Da senkte sie den Kopf und faltete stumm die Hände, lieferte sich ihm aus, seinem Zorn, seiner Rache — ergeben, bedingungslos.

Ein Zittern überflog seine Gestalt, seine Nägel krallten sich in seinen Handrücken ein. Keine schamlose Maitresse, keine aufdringliche Liebeswerberin stand da vor ihm — ein junges, keusches Geschöpf, ein kleines, hilfloses Mädchen, das ihm noch einmal sein Herz hinhielt, sein zuckendes, blutendes Herz ...

„Du wolltest meine Briefe nicht mehr öffnen — darum mußte ich dir’s sagen: meine Mutter hat deinen letzten Brief gefunden ... Ich weiß nicht, was jetzt werden soll ...“

Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und einen Augenblick war es ihm, als müßte er sich hier, mitten unter den Menschen, auf sie stürzen.

„Du solltest doch ... keinen Brief solltest du nach Hause mitnehmen ... Ich habe es dir doch verboten ... verboten ...“

Er schrie es fast laut heraus. Er hätte sie geschlagen, wenn sie irgendwo allein einander gegenübergestanden hätten.

[S. 255]

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich konnte es nicht ... ich hab’ sie alle ... deine Briefe ... deine lieben Briefe ... Keiner fehlt ... Jetzt werden sie verlangen, daß du mich heiratest ... aber ich werde ...“

Er packte sie am Handgelenk, sah ihr in die Augen, haßerfüllt.

„Ich werde ‚nein‘ sagen,“ kam es mühsam über ihre Lippen, „das verspreche ich dir ... nein ... du sollst wissen, daß ich dich wirklich liebhabe ... wirklich ...“

„Pssst ..!“

Ein paar Leute drehten sich nach ihnen um.

„Rücksichtslosigkeit ...!“

Vicki blieb wie erstarrt, mit halbgeöffnetem Munde stehen. Nichts, was das Leben ihr auch bieten oder versagen würde, konnte der Tragik und Größe dieses Augenblicks gleichkommen. Mit achtzehn Jahren hatte sie den Gipfel all dessen überstiegen, was es für ein Frauenleben an Heldentum und Demut gab!

Oben auf dem Podium sang Karla König ein süßes Wiegenlied. Sie hatte gelernt, Lieder singen — den Frauen wurden die Augen dabei feucht.

Vicki war es, als hielte sie dort oben ihr Herz in ihren Händen, als wiege sie es ein: „Schlaf, mein Kind, schlaf ...“

Als sie aufblickte, war Bodo Völkel verschwunden. Da fiel sie hin, zwischen die Stühle und Menschen — ganz lautlos und bescheiden. Der Vorhang hatte sich über dem größten Akt ihres Lebens gesenkt. — —

Karla war durch kein Toben mehr zum Wiedererscheinen zu bewegen. Vom Podium aus hatte sie das Zusammensein Vickis mit Bodo Völkel und ihr Umsinken bemerkt.

„Die Tochter meines Schwagers ist ohnmächtig geworden ... mein Schwager ... ja, dort in der sechsten Reihe ... der Herr im Gehrock mit dem kurzen, blonden Bart und dem welligen Haar ... kleine Glatze, ja ... Das junge Mädchen liegt dort auf den Treppenstufen ... ich fahre gleich mit ihnen nach Hause.“

[S. 256]

Gaudlitz lief zu Alwin Maurer, setzte ihn mit wenigen Worten von dem „kleinen Unfall“ in Kenntnis, lief zu Vicki, die mit gelösten Zöpfen, totenblaß, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, um sich blickte, und führte sie aus dem Saal.

In seinem Wagen fuhren Alwin Maurer, Karla König und Vicki nach der Motzstraße. Karla hatte den Arm um Vicki gelegt und ließ die jungen, heißen Tränen auf ihre Spitzen, auf den prächtigen Goldbesatz ihres weißseidenen Kleides tropfen.

„Was ist denn geschehen ... was ist denn los mit dem Mädel?“ fragte Alwin Maurer.

Karla winkte ab — und so bittend war der Ausdruck ihrer schönen braunen Augen, daß er verstand. Nur um einen Schatten blasser wurde er. Und er dachte, wie seltsam es doch war, daß alles bei ihm zu Hause an ihm vorbeilebte, daß sich Schicksale wendeten, ohne daß er auch nur ahnte, wie viel seine Nächsten der Vorsehung ins Handwerk pfuschten ...

Adele stand drohend wie ein Strafgericht im Vorzimmer. Zornbebend, hämisch brach sie aus:

„So ... das Fräulein amüsiert sich noch an einem Tage wie heute? ... Das ist ja ...“

Sie stockte, als sie Vickis Gesicht sah.

„Na ... na ...“

„Sei gut zu ihr ... Adele ...“

Alwin Maurer brachte Karla zurück an den Wagen.

„Willst du mir nicht sagen ...“

Karla schüttelte den Kopf; auch sie sah blaß und zu Tode erschöpft aus.

„Was ist da zu sagen, mein guter Alwin ... Die eine trifft’s früher, die andere später — Kummer und Tränen hängen wohl immer an so was, und wer es gut meint, der rührt nicht daran!“

Alwin Maurer war hellhörig geworden in der letzten Zeit. Erschreckt blickten seine fettumpolsterten Augen aus dem grauweißen Gesicht.

[S. 257]

„Karla!“ ...

Sie hüllte sich fester in ihren Pelz und warf sich zurück in das Dunkel des Wagens. Sehr langsam, mit tief gebeugtem Haupt, stieg er die Treppe wieder hinauf.

Da fuhr sie nun, die große Karla König, der Tausende eben zugejubelt hatten, die große Primadonna, der die Pferde ausgespannt worden waren und auf die ein Regen von Gold und Edelsteinen niedergerieselt war ... fuhr nach Hause, einsam, mit schmerzlichen Gedanken, in ihre kleinbürgerliche Wohnung, in der sie sich nie heimisch fühlte, zu einem ewig schulmeisternden Mann, zu einem Kinde, das eifernde Herrschsucht ihr fernhielt, zu Sorgen aller Art, die sein — Alwin Maurers — Haus ihr noch aufgebürdet hatte ... saß in dem Wagen eines fremden Mannes, der ...

Alwin Maurer fuhr sich erregt durch sein stellenweise schon graublondes Haar. Er hatte den Blick des Mannes aufgefangen, als er Karla in den Wagen geholfen hatte ... und ihren Blick ... so vertrauend und dankbar und lichterfüllt ... Nein, nein ... wer es gut meinte, der rührte nicht daran ... nie ...

Und jetzt erst fiel ihm Vicki ein — Aber die war ja noch so jung ... und sie war Adelens Tochter ...! Ernstlich um sie bangen, das — brauchte er wohl nicht ... ein kleiner Liebeskummer.

Er zog die Wohnungstür hinter sich zu — ganz leise. Wenn Adele heftig zu dem Mädel wurde, dann ... dann war er auch noch da ... Aber es war still im Gang. Er lauschte an Vickis Zimmertür, hörte leises, ersticktes Schluchzen und die Stimme seiner Frau:

„... So sei doch vernünftig ... es wird ja alles gut ... wozu bin ich denn da? ... Alles wird gut ... das mach’ ich schon!“

Da huschte ein blasses Lächeln über sein Gesicht. So ähnlich hatte wohl auch Adelens Mutter einst gesprochen. Es blieb immer dasselbe Lied ...

Um Vicki brauchte er sich keine Sorge zu machen!

Verzierung, drei Sterne

[S. 258]

S

Sechs Wochen nach diesem Abend sollte Vicki Bodo Völkels Frau werden. Sie hatte nicht viel gefragt, wie dieser Umschwung gekommen war — vielleicht hatte sie im tiefsten Grunde ihres Herzens nie einen anderen Ausgang erwartet ... Sie war drei Tage so krank gewesen — das hatte er wohl erfahren und war gekommen, sein Unrecht gutzumachen. Vicki glaubte noch an die Romantik der Krankheit! Bodo Völkel widersprach nicht, und die Mutter ließ sie bei ihrem Wahn. Alwin Maurer zeigte einen Nachhilfekursus für Reifeprüfung an, ließ sich Privatschüler empfehlen. Adele war bereit, zwei Knaben als Pensionäre bei sich aufzunehmen. Aus dem Alleinbleiben mit ihrem Mann wurde nun nichts, und die Arbeit im Hause vermehrte sich — aber mit Hilfe des Bruders ließ sich die neue Wirtschaft einrichten und stützen.

Karla hatte den Erlös eines viermaligen Gastspiels in Leipzig und eines zweimaligen in Hamburg ihrem Manne eingehändigt — für Vicki. Ihre Sommererholung, deren sie dringend bedurfte, wollte sie auf drei Wochen in einem kleinen Ostseebad beschränken.

„So wird es schon gehen“, meinte sie.

Altmann war sehr bewegt.

„Meine liebe Karla ... mein liebes Kind ... glaube mir, wenn es nicht so ernst wäre, nie hätte ich gestattet — nie, daß neue Ansprüche an dich herantreten. Aber, nicht wahr ... wenn es die eigenen Leute betrifft — einer für alle, alle für einen ... daran habe ich immer festgehalten, und das wollen wir auch weiter so befolgen.“

Sie nickte hastig, wurde rot, winkte ab.

„Ja ... ja, natürlich ... sagt es nur Alwin nicht ... dem ist es peinlich.“

Luise bestand darauf, daß man das Brautpaar mit den Eltern zu Tisch lüde.

[S. 259]

„Wenn du meinst ...“, sagte Karla.

Ihr war auch manches peinlich, aber sie wagte sich nicht vor damit. Es ging alles leichter, als sie gedacht hatte. Vicki war glücklich und ungewohnt still. Selbst Fritz traute sich mit seinen kleinen Anrempeleien nicht an sie heran. Völkel war höflich, beschränkte seine Worte auf das Nötigste und zuckte kaum merklich mit den Brauen, wenn Vicki nach seiner Hand griff. Er träumte von Palästen und mußte aufmerksam zuhören, wenn die Schwiegermutter ihm die Vorteile der von ihr gemieteten Dreizimmerwohnung pries.

Fritz fand den Schwager „schneidig“. Der hatte Haare auf den Zähnen! Die „Weiberwirtschaft“ zu Hause hatte ihm schon lange nicht gefallen. Vicki würde er „Kandare reiten“ ...

Einige Tage vor der Hochzeit kam Adele, die telephonisch erfahren hatte, daß Karla noch auf der Probe war, an den Bühneneingang. Sie sah sehr geschäftig und geheimnisvoll aus.

„Ach, höre mal, Karla, ich habe eine kleine Bitte an dich.“

Karla war abgespannt und lächelte müde. „Ja ... also, Adele, was soll es ...?“

Sie schritt, trotz Müdigkeit, ihrer Gewohnheit nach rasch aus in dem sandfarbenen Schneiderkleid, unter dessen Jacke eine weiße Batistbluse hervorquoll. Ein flotter, einfacher Frühlingshut saß schräg auf ihrem dunklen Haar. Wenn sie ging, raschelte das seidene Futter, und ihr goldenes Täschchen mit den vielerlei Anhängseln, das Geschenk einer in Brasilien ansässigen deutschen Kolonie, glitzerte in dem warmen Gefunkel der Sonne. Wie sich die rausgemacht hat, dachte Adele. Ein klein wenig Neid lag stets auf dem Grunde ihres Wesens gegen alles, was sie überflügelte.

„Ja also, folgendes. Aber — dein Wort darauf, es bleibt unter uns zweien — dein Wort?“ ...

„Gewiß ... gern ... mein Wort.“

Karla mußte jetzt lächeln über das ehrenwörtlich gehütete[S. 260] Geheimnis zwischen sich und Adele ... Aber als Adele ihre Bitte nannte, kurz fordernd, da verfärbte sich Karla. Es war wirklich eine Zumutung! Sie sollte Gaudlitz — „du kennst ihn doch so gut“ — sollte ihm Bodo Völkel als „selbständigen Baumeister“ empfehlen. Gaudlitz hatte ein Grundstück gekauft in den westlichen Ausläufen Berlins; ob ein Haus da erstehen sollte, ob ein Sportplatz — das wußte noch niemand, aber die Gelegenheit war gegeben, und Karla durfte nicht zögern.

„Du kannst dir denken ... da warten alle möglichen Leute darauf ... Bodos Chef glaubt natürlich, es kann ihm nicht entgehen. Aber er ist ein widerlicher Ausbeuter ... wenn Graf Gaudlitz den mit den Plänen beauftragt ... Herrgott, Karla, so mach’ doch kein Gesicht, als wenn du vom Mond herunterfielest! ... Bei euch ist es doch gerade so — einer empfiehlt den anderen. Du säßest doch auch nicht hier an der Königlichen, wenn ...“

Adelens Stimme wurde weinerlich. Das war etwas Neues an ihr. Da spielten ihr die Nerven mit, oder es hing wirklich ihre letzte Hoffnung daran. Adele sprach von ihrem Alter, von Alwins Gesundheit.

... Da hatte sie gehofft, ein bißchen ausruhen zu können — und nun prasselten wieder neue Sorge, neue Arbeit auf sie herab! Karla hatte es gut gehabt, hatte Isoldchen zu ihnen gegeben und war dann frei gewesen wie ein Vogel in der Luft, hatte ganz sich selbst leben, hatte tun können, was ihr gefiel .. Alwin und sie aber — sie schleppten an der Karre jahraus, jahrein ... Fritz ... ja, gewiß ... es war damals sehr gut und lieb gewesen vom Bruder und ihr. Aber wenn sie nicht gewesen wären, dann hätte der Junge sich eben doch bescheiden müssen und wäre nicht daran gestorben! Mit Vicki aber war es etwas anderes! Da handelte es sich um Schicksal! Sie beneidete das arme Kind nicht, wenn ihr Mann nicht vorwärtskam! Ihr würde er alle Schuld aufbürden, sie als eine „Kugel an seinem Bein“ betrachten! Und wenn sie es nicht mehr tragen konnte — was dann? ... Dann flüchtete sie zurück ins[S. 261] Elternhaus, mit einem Kind oder zweien! Und dann waren die Sorgen wieder da — größer, schrecklicher denn je! ... War es denn gar so schwer, einen Freund um etwas zu bitten, wenn davon das Schicksal der nächsten Angehörigen abhing?

„Du brauchst ihm doch nur einen Brief zu schreiben, Karla, ich begreife dich nicht ...“

Karla blickte geradeaus, und ihr Herz schlug plötzlich wieder in kleinen, trockenen Schlägen.

„Was Ernst ... was Luise dazu sagen werden ...“

Adele hakte sich ein, hielt Karlas raschen, gleichsam fliehenden Gang zurück. Sie sprach leise und vertraulich.

„Ich sagte doch schon, Karla ... das bleibt unter uns zweien. Denk, wie peinlich wäre es für Bodo, wenn alle darum wüßten! Er hat so entsetzlich viel Ehrgeiz und Eigenliebe — er ist ein so schwieriger Charakter!“

Schwer hing Adele an Karlas Arm. Wie ein Sinnbild war es.

Kraftwagen sausten an ihnen vorüber, Menschen stießen und schoben sich an ihnen vorbei. Die Bäume knospten hell unter dem blaßblauen Himmel, zwischen den hellen Häusern. Karla blieb stehen und atmete die kühle, leicht durchsonnte Luft ein, wie einen Labetrunk.

Wie hatte sie sich dort drüben nach dem ersten deutschen Frühling gesehnt — eintrinken hatte sie ihn wollen, in jauchzender Freude, wie die gesegneten Jung’ Frauen ihn eintranken in fröhlichem Reigen auf dem Bilde des Botticelli ...

„So denk doch ein bißchen an uns, Karla ... haben wir es nicht um dich verdient?“

„Doch, ja ... ich ... werde schreiben ... ich verspreche dir’s.“

Es kam ausdruckslos, matt von Karlas Lippen.

Sie standen vor einem großen Café, dessen breite Fensterscheiben schon sommermäßig herabgelassen waren. Adele drängte Karla in den Eingang, an einen der runden weißen Tische.

[S. 262]

„Am besten, du schreibst jetzt gleich ... dann ist es abgemacht, und niemand weiß etwas außer dir und mir.“

Sie bestellte etwas zu trinken, eine Mappe und Schreibzeug.

„Auf dem Briefbogen? ... Das geht doch nicht ...“

Es war ein letzter schwacher Einwand. Adele nahm aus ihrem Täschchen einen bereits gefalteten Briefbogen im Umschlag. Sie hatte an alles gedacht! Karla schrieb, zögernd, förmlich und kindlich in ihren unausgeschriebenen, naiven Schriftzügen.

Die Nachschrift fehlte nicht, die den ganzen Brief umwarf, in dem sie Bodo Völkel als einen der talentvollsten jungen Baumeister empfahl, für dessen Empfehlung er ihr noch dankbar sein würde: „... ach bitte, lieber Graf Gaudlitz — lassen Sie ihn kommen und geben Sie ihm etwas zu tun, er heiratet meine Nichte, und sie sind beide ganz arm. Wo die Krippe leer ist, da beißen sich die Pferde ... Ich habe große Sorge um meine kleine Nichte ... wissen Sie noch, das hübsche blonde Mädchen, das in der Philharmonie ohnmächtig geworden ist? ...“

Karla las von ihr Geschriebenes nie nochmals durch. Hastig schob sie den Bogen in den Umschlag ...

„Ja ... aber die Adresse ...“

Adele wußte sie auswendig. — — —

— — — An Vickis Hochzeitstafel in einem bescheidenen Weinlokal der Potsdamer Straße wurde auf das Wohl des Grafen Gaudlitz getrunken, der Bodo Völkel mit den Plänen für ein stilisiertes kleines Bauernhaus betraut hatte. Der Onkel des Bräutigams brachte das Hoch aus. Und er sagte:

„Am Talent meines Neffen habe ich nie gezweifelt — es mußte sich nur mal durchsetzen!“

Die neue Nichte gefiel ihm gut. Es kostete ihn nichts. Aber er fühlte sich als der Begründer eines jungen Glückes — denn er hatte auf Altmanns Veranlassung seinem Neffen geschrieben, daß er ihn enterben würde, falls er nicht augenblicklich und in aller Form um Fräulein Viktoria Maurer[S. 263] anhielte. „Nicht acht und nicht drei Tage Bedenkzeit — nur vierundzwanzig Stunden.“

Das hatte gewirkt. Dafür konnte er sich schon das Vergnügen leisten, Vicki, sooft es anging, zu tätscheln und unters Kinn zu fassen. Das kostete auch nichts.

Vicki hatte Karlas prachtvolle weiße Konzerttoilette als Brautkleid bekommen. Der Goldbesatz war entfernt, und es schmiegte sich in keuschen Falten an Vickis füllige Formen.

Karla mochte es nicht mehr tragen. Zu lieblos waren die Blicke der Schwägerinnen darauf gefallen an jenem Abend, zu entsetzt war sie über die Ferne gewesen, die sie an jenem Abend zwischen sich und ihrem Manne gefühlt hatte, zu heiß hatte auch ihr Herz geschlagen, als Gaudlitz in flüchtig zarter Liebkosung mit den Fingern über den gleißenden Stoff gestrichen.

Vickis Augen leuchteten wie blaue Feldblumen nach einem Gußregen. Bodo Völkel sah gut aus in Frack und weißer Binde. Er sprach wenig und trank fast gar nicht. Aber wenn er lächelte, dann galt es Vicki.

Und das war doch etwas.

Verzierung, drei Sterne
K

Karlas Bitten, ihr doch Schmerzchen an die See mitzugeben, hatten nichts gefruchtet.

„Du sollst dich erholen,“ sagte Altmann, „und es darf auch nicht viel kosten. Wenn ich dir das Kind mitgebe, erholst du dich nicht, und wenn Luise mitfährt, wird es zu teuer.“

Karla schlich bald um Schmerzchen herum wie eine Missetäterin, bald wich sie ihm aus, weil ihr das Herz zu wehe tat, wenn sie an die Trennung dachte und daran, daß sie dem Kinde nicht einmal ein bißchen Seeluft geben[S. 264] konnte. Nun, nächstes Jahr verdiente sie mehr ... Vicki brauchte sie dann vielleicht auch nicht ... Gastspiele waren in Aussicht ... vielleicht — Wien ...

Sie hob das Kind zu sich herauf:

„Mein Herzschmerz, du ...“

Luise liebte Karlas leidenschaftliche Ausbrüche nicht. Ein Kind mußte mit ruhiger Strenge und gleichbleibender Freundlichkeit behandelt werden — zumal ein so nervöses Kind wie Isolde.

Eines Morgens, zwei Tage vor ihrer Abreise, wurde für Frau Karla König ein großer, kunstlos gebundener Blumenstrauß abgegeben, mit einem Briefe. Der Brief war unterzeichnet: „Ihre Sie hochschätzende Alice Fürstin Reichenberg“. Karla wurden die Wangen rot und heiß. Es war doch schrecklich, daß sie sich nicht mal für die Dauer weniger Minuten abschließen konnte. In fliegender Eile las sie:

„Verehrteste Frau! Verzeihen Sie meine unbescheidene, nicht ganz übliche Bitte — aber eine kleine Verstauchung, die ich mir beim Aussteigen aus dem Zuge geholt habe, fesselt mich an das Haus. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, und Ihnen meinen Besuch zugedacht. Würden Sie nun über äußere Förmlichkeit hinweg einer armen Kranken ein halbes Stündchen Gesellschaft leisten? Ich habe so viel Schönes von Ihrer lieben, herrlichen Stimme gehört und glaube, daß Sie auch ein lieber, einfacher Mensch sind, der eine erzwungene Formlosigkeit nicht übelnimmt. Wenn Sie kommen, dann nennen Sie dem Überbringer die Stunde, damit ich Ihnen den Wagen schicke, der Sie zu mir nach Wannsee herausbringt, wo ich abgestiegen bin. Darf ich mich bestimmt auf Sie freuen?

Ihre Sie hochschätzende

........“

Draußen wartete ein Diener.

„Sagen Sie ... Sagen Sie ... eine Empfehlung .. Wenn der Wagen heute nachmittag um vier Uhr hier sein kann, dann wird es mir ein Vergnügen sein ...“

[S. 265]

Sie sprach abgerissen, wie nach eiligem Lauf.

Luise strich im Gang umher.

„Wer ist denn das?“

„Die Fürstin Reichenberg ... aus Wien ... mein Gott ... die Schwester vom Grafen Gaudlitz ...“

Sie hatte es eigentlich nicht sagen wollen, aber nun war es ihr herausgerutscht. Auch kein Unglück.

Luise ging zum Bruder ins Zimmer:

„Findest du das richtig, Ernst, eine Schwester vom Grafen Gaudlitz schickt nach Karla ... kennt sie gar nicht und schickt ihren Wagen, sie zu holen?“ ...

Altmann bemühte sich, ruhig zu scheinen.

„Ich werde nachher fragen, was das für eine Bewandtnis damit hat ... Laß nur — ich werde nachher fragen. Kannst du mir die Kleine ein bißchen mitgeben, ich will eine halbe Stunde an die Luft ...?“

„Ja ... gleich.“

Luise war nicht ruhig. Schmerzchen fühlte es, wie kurz und hart Tante Lis’ Bewegungen waren. Tante Lis war böse ... es war gut, daß sie mit dem Papa ausging!

Altmann war dieser Ausgang nur ein Vorwand; er mußte die üble Laune niederdrücken, die Luisens Worte in ihm erweckt. Luise war zu schroff in ihren Ansichten. Er sah Karla gewiß nichts durch die Finger, aber eine gewisse Bewegungsfreiheit mußte er ihr lassen. Das verlangte ihr Beruf. Ihm lag auch nichts daran, überallhin mitzulaufen und im Schatten ihrer Erfolge zu stehen. Es kam vor, daß man „Herr König“ zu ihm sagte — das paßte ihm nicht. Und er konnte auch nicht jeden anpöbeln, der in der Eile seinen Namen überhört oder vergessen hatte!

Die Schwestern hatten darum schon mehrfach darauf gedrungen, daß sie sich Karla Altmann nannte und auch so auf dem Zettel stand. Er wollte die Angelegenheit endlich mal ordnen. Erst schriftlich mit Karla und dann im Theater ... Schon des Kindes wegen.

Aber was den Besuch betraf ... so war es besser, er sagte[S. 266] vorläufig nichts. Es war noch immer Zeit, einzuschreiten, wenn sich die Dinge nicht nach seinem Wunsche entwickelten.

Altmann wurde vorsichtig. Das Behagen des eigenen Heims hielt ihn umsponnen. Er setzte eine gewisse Fülle an, war noch gemessener in seinen Bewegungen geworden, breiter in den Schultern. Wer ihn mit Schmerzchen an der Hand traf, mochte denken — ein älterer Onkel. Auch seine Art war so. Er verargte es Luise eigentlich, daß sie den Finger auf wunde Stellen drückte. Er wollte gern in Frieden mit Karla leben, wollte das späte Glück, das das Schicksal ihm geschenkt hatte, nicht leichtsinnig untergraben.

Er kam nach Hause, als es höchste Zeit zum Essen war. Er sagte leichthin: „Ich hörte, du bist eingeladen .. bei einer Fürstin Reichenberg aus Wien? Sehr schön — komm nur zum Abendbrot nach Hause ... nicht wahr ...“

„Aber selbstverständlich — es ist ja nur ein kurzer Besuch. Die Fürstin wird mir vielleicht ein Gastspiel in Wien verschaffen ... das wäre doch was!“

Pünktlich um vier Uhr meldete die Hupe das Eintreffen des Wagens. Schmerzchen war mit Luise im Tiergarten. Karla ging zu ihrem Manne hinüber.

„Potztausend, hast du dich schön gemacht ...“

Es klang ein wenig ironisch. Sie wurde rot.

„Die Wiener Damen sollen ja so schrecklich elegant sein ...“

„Schon gut, liebes Kind, es war kein Vorwurf. Unterhalt’ dich gut. Um acht bist du dann wieder da.“

Anders wäre ein kleines Mädchen, das zu einer Freundin ginge, auch nicht entlassen worden. Aber Karla überhörte alles und verglich nichts. Sie hielt ihrem Manne die Wange hin, küßte ihn flüchtig auf die Stirn und lief beinahe hinaus. Ihr malvenfarbenes leichtes Seidenkleid bauschte sich im Zugwind, ließ das weiche Gefältel eines weißseidenen Unterrocks und den hohen Rüst ihrer hellbeschuhten Füße sehen. Eine Handvoll Nelken, die an ihrem Gürtel befestigt waren, strömten ihren starken, herben Duft aus.

[S. 267]

Und der Duft blieb noch lange in dem Zimmer zurück — so lange, daß Altmann sich umsah und es nicht begreifen konnte. Da erblickte er eine der dunkleren Nelken, ohne Stiel — flach ausgebreitet mitten auf dem Teppich. Wie Blut sah es aus, das geronnen wäre.

Er hob die Blume auf, damit kein Fleck entstehe, wenn jemand darauf träte, und weil er nichts so haßte wie Unordnung. Er wollte sie in den Papierkorb werfen. Aber im letzten Augenblick besann er sich, zog das Schreibtischfach heraus und warf sie hinein — hastig und verlegen.

Die Fürstin Reichenberg kam Karla im Garten entgegen, leicht gestützt auf einen weißen Stock mit kleinem Goldknauf. Sie trug ein ganz einfaches weißes Leinwandkleid mit einem großen, handgestickten Umlegekragen aus blauem Batist, der den Ansatz eines schlanken, sehr weißen Halses sehen ließ.

Sie hatte wundervolles mattblondes Haar, das in großen natürlichen Wellen tief über ihre hohe Stirn und die Ohren fiel. Ihr Gesicht war nicht eigentlich hübsch, aber aus den blauen Augen sprachen Güte und Klugheit. Sie streckte Karla von weitem eine sehr weiße, nervige Hand entgegen, deren vierten Finger nur ein einziger großer Perlenring zierte.

„Das ist aber lieb!“

Ihre Sprache hatte einen ganz leichten österreichischen Tonfall. Ihre Bewegungen waren rasch, zwanglos und von vollendeter Anmut.

Karla wollte sich über ihre Hand beugen. Die Fürstin entzog sie ihr lachend.

„Seh’ ich schon so alt aus? Nein, nein — das wollen wir nicht einführen. Erlauben Sie, daß ich mich ein wenig auf Sie stütze — mein Fuß will noch nicht recht ...“

„Stützen Sie sich, gnä .. Durchlaucht ... stimmt’s, Frau Fürstin?“

„Lassen wir’s bei ‚Fürstin‘ — der Kürze wegen. Vielleicht kürzen wir das Verfahren noch mehr ab mit der Zeit ... wenn wir Sie erst in Wien haben, wie?“

[S. 268]

Karlas Herz flog dieser blonden Frau im Sturm zu.

„Sie sind ein lieber Mensch, Frau Fürstin!“

Alice Reichenberg lachte leise.

„Das sagte mein Bruder auch oft. Brüder brauchen manchmal einen lieben Menschen als Schwester. Aber er ist selbst ein lieber Kerl. Hat er Ihnen nicht erzählt, daß ich durchaus zum Theater wollte? Sie können sich denken, was das für eine Empörung hier unter meinen Verwandten auslöste — dabei ist ein Vetter von uns Intendant. Aber das ist etwas ganz anderes.“

Es klang noch eine leise, nachzitternde Erregung aus ihrer Stimme. Aber dann warf sie den Kopf zurück, und wieder trat das gewinnende, offene Lächeln auf ihre schmalen und doch kühn geschwungenen Lippen.

„Das liegt nun alles bald zehn Jahre zurück. Ich hab’ es wirklich verwunden und bin sehr glücklich mit meinem lieben Mann. Er ist zum Glück gerade so ein Kunstnarr wie ich, und wenn was Besonderes am Kunsthimmel auftaucht, dann kann man sicher sein, daß die Reichenbergs alles daransetzen, es nach Wien zu kriegen.“

Karla fühlte sich jetzt ganz wohl und frei mit der Durchlaucht. Nur das Herz schlug ihr immer noch ein bißchen unruhig, wenn sie plötzlich eine Ähnlichkeit in ihren Zügen, ihrem Lächeln, ihren Bewegungen mit Gaudlitz erkannte. Als erriete sie, was in Karla vorging, fragte sie gleich darauf, ganz unvermittelt: „Ja, finden Sie, daß wir uns ähnlich sehen, mein Bruder und ich? Dieselben Passionen haben wir jedenfalls. Art läßt nicht von Art ...

Bin ich Ihnen auch nicht zu schwer, nein? Ich dachte nur, daß es Ihnen lieb sein würde, den hübschen Garten zu sehen. Mein Bruder, zu dem ich mich auf acht Tage eingeladen habe, liebt diese Besitzung sehr, die sich seit nahezu hundert Jahren immer auf die mütterliche Linie vererbt hat. Wir erinnern uns noch, daß unsere Großmutter, wie eine Bäuerin gekleidet, jedes Jahr ein paar Wochen hier zubrachte. Unter diesen Bäumen habe ich meine ersten[S. 269] Kinderlieder gesungen ... Aber das langweilt Sie, liebe Frau König ...“

Das langweilte Karla garnicht. So vertraut wurde ihr auf einmal die große blonde Frau, und durch sie der Bruder.

Schön mußte es sein, den Fuß auf einen Boden zu setzen, der schon durch die Erinnerung geheiligt war, an teuere Verstorbene! Wenn der Papa ... es war schrecklich, auch nur daran zu denken ... aber wenn er starb — was behielt sie von ihm? Ein paar welke Kränze und einen — Schachtisch!

Unter einer blühenden Linde war der Tee gerichtet. Schwere weiße Spitzen fielen von dem runden Tisch herab. Altes, wundervoll gearbeitetes Silber glitzerte zwischen den Altberliner Tassen. Es waren nur zwei. Karla wurde rot über die Enttäuschung, die sie empfand, dann aber richteten ihre Augen sich wieder um so klarer und vertrauender auf die junge Frau. Alice verzichtete auf ihren Bruder nur, damit es nicht einmal den Anschein hätte, als wollte sie ihm Gelegenheit geben, Karla zu treffen ... Unbefangen und lebhaft plauderten die jungen Frauen.

Alice Reichenberg tippte da und dort vorsichtig an, bangend, Karla könnte sich eine Blöße geben. Wohl spürte sie das junge, unsichere Wissen, aber nirgends fand sie eine Geschmacklosigkeit oder oberflächliche Anmaßung. Die Fürstin nannte ein paar gute Bücher von jungen Dichtern, die einer neuen Richtung ihren Stempel aufdrückten. Karla hatte sie gelesen.

„Daß Sie dazu Zeit finden —!“

„Mein Schwager nimmt sich meiner an, und Zeit — ach, Zeit habe ich mehr, als ich verwenden kann. Proben — zwei- bis dreimal die Woche, Vorstellung, ein paar Wohltätigkeitskonzerte ...“

„Und gesellschaftlich?“

Karla lachte.

„Das ist nicht der Rede wert. Man muß wohl eingeführt sein, um sich gesellschaftlich zur Geltung zu bringen.[S. 270] Wer sollte das wohl tun, Frau Fürstin, in einer Stadt, wo man ... zu Hause ist!?“

Alice Reichenberg dachte sich, daß die Sängerin Karla König in Berlin eigentlich das Leben einer kleinen Beamtin führte. Probe — Amt. Vorstellung — Amt. Schluß. Pension. Wenn sich die Intendanz nicht durch vorzeitige Kündigung darum drückte! ...

Ob Karla sich das Haus ansehen wollte? Ihr Bruder hatte es im vorigen Jahr umbauen lassen.

Alice Reichenberg stützte sich kaum noch auf ihren Stock und gar nicht auf Karlas Arm. Die kleine Komödie war überflüssig. Karla war jetzt schon genug gezogen, um zu tun, als merke sie es nicht. Aber es fiel ihr schwer, ihr Entzücken über die Einrichtung in schicklichen Grenzen zu halten.

Im Musikzimmer standen zwei große Bechsteinflügel einander gegenüber. Statt der Stühle waren hier zwanglos bequeme Korbsessel aufgestellt, mit kleinen roten Rückenkissen. In den Ecken des großen Saales standen prachtvolle Marmorbüsten von Beethoven, Weber, Wagner und Brahms.

„Wenn ich im Winter herkomme, gibt’s hier immer ein paar nette Musikabende.“

Karlas Atem ging schwer.

„Schön muß es sich hier singen“, murmelte sie.

Alice Reichenberg lächelte.

„Wollen Sie versuchen? Ich begleite Sie ... was soll es sein?“

Alice Reichenberg begleitete sonst besser. Aber Karlas Stimme bewegte sie so tief, wühlte so sehr alles auf, was sie an Jugendträumen und Sehnsucht längst erstickt wähnte, daß sie Mühe hatte, ihr zu folgen. Sie hätte mit geschlossenen Augen in einem der Korbstühle sitzen und sich von den machtvollen und doch so innigen Tönen in das ferne Traumland tragen lassen mögen, das Geburt und Stellung mit eisernen Toren vor ihr abgeschlossen hatten ...

Es lag eine süße, geheimnisvolle Urgewalt in dieser Stimme, die wie der kunstlos hinfließende Sang einer[S. 271] klaren Seele war. Hier in Berlin mochten sie Karla König anerkennen, ja sogar bewundern — in Wien würden sie sie lieben! Nicht, weil sie dort mehr von Kunst verstanden — dafür hatte auch Alice Reichenberg nur ein leises, ironisches Lächeln — aber weil sie dort naiver waren, große Kinder, bereit, sich jedem Aufruhr ihrer leicht bewegten Sinne restlos hinzugeben. In Wien würden sie Karla König anbeten.

Der Türflügel zum Nebenraum hatte sich leise geöffnet und wieder geschlossen. Weder Karla noch Alice Reichenberg hatten es gemerkt.

Sehr ergriffen sahen sie einander in die Augen.

„Ich danke Ihnen“, sagte die junge Fürstin einfach.

„Wenn’s gut klingt, dann möchte ich immer die Luft küssen, die meine Stimme weiterträgt“, meinte Karla.

Und darauf lachten sie beide, und der Bann war gebrochen. In der offenen Halle standen einige Erfrischungen auf der Ecke eines sehr langen Bauerntisches. Karla schlug die Hände zusammen.

„Von dem Tisch werde ich träumen“, sagte sie und blinzelte mit den Augen.

„Warum?“ fragte Alice Reichenberg belustigt und mischte ihren Himbeersaft mit Soda.

Karla nickte sehr ernsthaft.

„Ja ... wenn ich einen langen Tisch sehe, dann stelle ich mir immer vor, wie schön das wäre, wenn ich da oben an der Schmalseite säße und an beiden langen Enden meine Kinder ... In Südamerika habe ich manchmal so geträumt, und heute nacht ... ja, ganz sicher, träume ich erst recht so ... aber ich glaube doch, das wäre bei diesem Tisch des Guten etwas zu viel“, schloß sie mit verlegenem Lachen.

„Sie haben nur ein kleines Mädchen?“

„Ja ... und Sie, Frau Fürstin?“

„Ich habe einen Sohn — ein Angstkind!“

Ihre Hand, mit der sie Karla das Glas reichte, zitterte leise ...

[S. 272]

Erst als Karla im Wagen saß, kam von irgendwoher Graf Gaudlitz an.

„Ich habe aber doch gehört, wie Sie gesungen haben“, und seine Augen lachten spitzbübisch.

„Wenn Ihre Frau Schwester keine gar so große Dame wäre — wir könnten, glaube ich, Freundinnen werden“ — sagte Karla.

„Die ‚große Dame‘ ist kein Hindernis, Karla König“, meinte Alice Reichenberg lächelnd.

„Nein? Wirklich nicht?“

Und ohne sich zu besinnen, beugte sie sich aus dem Wagen und küßte die Fürstin herzhaft auf beide Wangen.

„So. Das hat gut getan. Einmal einer lieben Frau einen Kuß geben!“

Alice Reichenberg winkte ihr nach.

„Auf Wiedersehen in Wien ...“

Gaudlitz sagte gar nichts. Nur den Strohhut hielt er weit ab von sich in der Hand — solange er noch einen Zipfel ihres wehenden weißen Autoschleiers erblicken konnte. —

Der Himmel spannte sein flammendes Gold um sie herum, und goldener Schein brach zwischen den dunklen Föhren hindurch, die ihren Weg säumten wie eine stolze Ehrenwache ...

War das eine Heimfahrt! ...

Verzierung, drei Sterne
E

Es gab ein Wiedersehen noch früher.

Eines Tages stand Gaudlitz vor ihr, während sie am Strande des kleinen Badeortes in ihrer selbstgeschaufelten Burg lag und die Lider ihr schläfrig über die Augen sanken.

Er beugte sich über sie, hob das Buch auf, das ihr aus der Hand geglitten war, flüsterte leise: „Karla König!“

[S. 273]

Sie blinzelte ihn erst an, als könnte sie nicht glauben, daß er es sei, aber dann streckte sie ihm beide braungebrannten Hände entgegen.

„Wie kommen Sie hierher ... nein, wie kommen Sie her?“

Das war ganz einfach: er hatte ganz nahe von hier mit seiner Jacht gekreuzt, wollte rüber nach Kopenhagen und von da weiter hinauf bis nach Norwegen. Vorher hatte er sie noch einmal sehen, ein bißchen was von ihr und ihrer Stimme mitnehmen wollen.

Sie schüttelte den feinen Dünensand aus dem Haar, aus den Kleidern, ihre weißen Zähne blitzten aus dem frischen, wie mit einer braunen Patina bezogenen Gesicht hervor. Ihre Augen leuchteten. Ein tiefes, glückliches Lachen warf ihre Worte auseinander.

„Ist Ihre Frau Schwester mit? Nein ... das ist schade! So eine wunderliebe Frau ... Ich habe so viel an sie gedacht ... nein — ich meine an Ihre Frau Schwester ... An Sie auch .. ja — freilich — ach Gott, nein, ist das herrlich, daß Sie da sind!“

Sie stapfte in ihrem kurzen Leinenrock an seiner Seite einher, zupfte die kleinen Mädchen, die ihr in den Weg liefen, an den Zöpfen, packte die Jungens am Schopf, lachte übermütig.

„Eben habe ich noch Trübsal geblasen, weil mein Schmerzchen nicht da ist, und jetzt ... Wissen Sie, Graf, wenn Sie da sind ... dann fällt plötzlich alles Schwere und Drückende von mir ab. Als brauchten Sie nur mit Ihrem Spazierstock so eins—zwei—drei durch die Luft zu streichen, und es käme mir alles angeflogen, was ich wünschte ...“

„Ich wollte, ich könnte Ihnen Ihr kleines Mädelchen herzaubern, liebe gnädige Frau ... aber leider konnte ich nichts anderes, als mich selbst plump vor Ihnen aufstellen und Sie vielleicht aus einem freundlichen Traum wecken ...“

Sie winkte ab.

„Nein, nein ... die Wirklichkeit ist schon ganz schön ... ganz ...“

[S. 274]

Sie brach plötzlich ab, blieb stehen, sah sich schuldbewußt um.

„Nein, wie dumm ... jetzt sind wir ganz verkehrt gegangen ... ich wollte Sie doch zu mir führen. Sie sind mein Tischgast ... ja .. ja ... das verlange ich. Ich habe nie einen Tischgast gehabt — so für mich, mein’ ich ... das lass’ ich mir nicht entgehen! Haben Sie keine Angst ... ich koche nicht selbst. Einfach ist es bei meiner Wirtin ... ganz lächerlich einfach, aber wir speisen in einer Laube, rund herum stehen Sonnenblumen, und statt eines Kellners bedient uns ein süßes Mädelchen, das Töchterchen meiner Wirtin.“

Gaudlitz hatte es wohl selten irgendwo so gut gemundet. Ein leichter Weißwein gab der Stimmung eine festliche Freudigkeit.

„Den Kaffee trinken wir bei mir an Bord. Wollen Sie? Ich rudere Sie hinüber. Oder fürchten Sie sich?“

„Ob ich mich fürchte? Mit Ihnen? Ich denke nicht daran! Ich fürchte nur die Einsamkeit oder Menschen, unter denen ich mich einsam fühle — —“

Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Sie mußte an Brasilien denken, an die Nordeni, mit ihrer fliegenden Angst ... mit ihrem grauenvollen Tod.

„Was ist Ihnen, Frau Karla?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Zu dumm ... mitten aus allem Schönen, allem Hellen und Freudigen heraus muß man manchmal an das Trübste und Schaurigste des Lebens denken ...“

Er nahm ihre Hand, in fast brüderlicher Anteilnahme.

„Was ist Ihnen das Trübste, darf ich es wissen?“

„Mir? ... Mir ist’s die Einsamkeit, das Alleinsein. Das Trübste und Schaurigste.“

Er zog ihre Hand an seine Lippen mit kurzem, festem Druck.

„Sie sind nicht allein und werden nie allein sein, liebste Frau Karla, nie — solange ich ...“

Ihre Augen trafen sich, und der Satz blieb unvollendet.[S. 275] Karla stieg das Blut heiß in die Schläfen, und hastig entzog sie ihm ihre Hand.

Er sah auf die Uhr.

„In einer Stunde hole ich Sie ab, liebe gnädige Frau, darf ich?“

Sie nickte. Der Hals war ihr wie zugeschnürt. Wie gut war es von ihm, jetzt fortzugehen ... Sie hätte nicht gewußt, was sie ihm weiter hätte sagen sollen. Unheimlich war das, wie da plötzlich ein wildfremder Mensch einem innerlich so nahe rückte, daß man es kaum noch merkte, wenn die Hände einander berührten — —!

Aber eine Stunde später hatte alle Spannung nachgelassen. Sie hatte ein Jackenkleid aus weißem Tuch an und eine rote Strohkappe, die ihr Haar fest umschloß.

Und sie sprachen auch nur noch von heiteren, harmlosen Dingen, von freundlichen Zukunftsplänen.

Es machte ihr Spaß, ihm zuzusehen, wie kräftig er mit den Rudern auslegte. Im grellen Sonnenlicht sah er nicht so jung aus wie damals bei der ersten Begegnung im Dämmer des Tiergartens oder im Abendlicht des Konzertsaales. Sie sagte es ihm. Da lachte er, und wieder blitzte es wie erste Jugend über sein jetzt gebräuntes Gesicht.

„Jugend ist Ausdruck“, sagt meine kluge Schwester Alice. „Sie, zum Beispiel, liebe Frau Karla, sehen manchmal aus, als wären Sie zwanzig Jahre alt, und das kaum!“

„Dabei bin ich bald dreißig ...“

„Das sagt man doch nicht! Hat ein Mensch je einen solchen Unverstand erlebt: eine Primadonna, die ihr Alter sagt?! Lassen Sie das nur in Wien nicht hören, Sie schrecklich aufrichtige Frau!“

Sie lachten nun beide, und er meinte:

„Ich freue mich, daß wir wenigstens in Einem recht nahe nebeneinanderstehen: ich bin dreiunddreißig.“

Ihr fiel ein, daß Altmann im Juni seinen fünfundvierzigsten[S. 276] Geburtstag gefeiert hatte. Sie lebte überhaupt unter viel älteren Menschen — Luise war an die fünfzig, Adele siebenundvierzig ... der gute liebe Alwin schien noch weit älter, als er war ... Es tat gut, einmal mit jemand Gleichalterigem zusammenzusein!

Die Jacht erfüllte Karla mit staunendem Entzücken. Gaudlitz führte sie überall umher, von der Küche bis zu seiner Schlafkabine, die mit der ziemlich großen Salonkabine verbunden war. Fünf hübsche Gastkabinen, von denen zwei für Damen eingerichtet waren, lagen dicht nebeneinander. Die größte war in hellem Holz gehalten, mit Feldern aus altrosa Brokat. In gleicher Farbe und mit gleichem Stoff waren die Sessel und das Bett überzogen.

„Hier wohnt meine Schwester, wenn sie mitfährt. Ich hole sie übrigens mit Mann und Kind in Kopenhagen ab. Mein Schwager und der Junge erfreuen sich nicht der besten Gesundheit. Der Arzt besteht auf Höhen- und Seeluft in lieblicher Abwechslung. Der Junge ist immer todkrank auf dem Wasser, mein Schwager kann Feuchtigkeit nicht vertragen und leidet an der Bergkrankheit. Aber sonst ist alles in Ordnung. Meine arme Schwester hat’s auch nicht immer leicht ...“

Es sollte wie ein Trost klingen. Aber Karla merkte, daß ihm selbst die Jachtreisen auch nicht immer die reinste Freude bedeuteten.

Auf Deck stand der Kaffeetisch bereit.

„Ich habe den Kapitän dazu gebeten — Sie haben doch nichts dagegen? .. Ein prachtvoller Kerl, der vielfach Schiffbruch gelitten hat und sich jetzt mir zur Verfügung stellt — solange es ihm paßt.“

Karla mußte an Kapelle denken. Das war auch so einer gewesen.

„Das sind die Besten“, sagte sie mit tiefer Überzeugung.

Er blickte sie überrascht an.

[S. 277]

„Ja ... wissen Sie das auch?“

Was war sie doch für ein liebes, vernünftiges Menschenkind, diese Karla König ... Wenn die frei wäre ... so ganz frei .. Donner .. ja ... „Du bist nicht recht gescheit“, hatte ihm seine Schwester schon einmal gesagt — —

Nein, nein ... er war gewiß nicht „recht gescheit“! Aber wen ging das was an? Auf wen brauchte er Rücksicht zu nehmen?

Alice hatte ihm von dem Traum Karlas erzählt: dem langen Tisch mit den Kindern ringsherum ... Da war es über ihn gekommen wie eine Erleuchtung. Das war es wohl, was ihn so hinzog zu ihr — dieses Mutterhafte. Auch in ihrer Stimme lag es ...

Nicht um ihr den Hof zu machen, hatte er sie in dem verlorenen kleinen mecklenburgischen Nest aufgesucht, sondern weil die Sehnsucht nach ihr ihn so stark gefaßt hatte, wie nach einem Trunk Quellwasser bei brennender Hitze. Er hatte schöne Frauen in allen Ländern gekannt, hatte geliebt und war geliebt worden, ohne eigentlich ein Fraueneroberer zu sein. Der Knoten seiner Liebeserlebnisse hatte sich stets ohne Anstrengung geschürzt, ohne Schmerz gelöst. Seine Schwester hatte sich mehrfach Mühe gegeben, ihn zu verheiraten — immer vergebens. Die Frau war ihm bisher nie mehr gewesen als ein kurzes Begehren oder dankbares Erwidern.

Es war das erstemal, daß in ihm das Bedürfnis nach einer Ergänzung seines Ichs erwachte. So ließ er sich treiben von seinem Empfinden, wie er sein Fahrzeug vom Winde treiben ließ ...

Das große Wasser schluckte den flammenden Sonnenball, als Gaudlitz und der Kapitän Karla heimruderten. Karla empfand es dankbar, daß Gaudlitz weiter kein Alleinsein mit ihr herbeigeführt hatte. Das gab ihrem Wesen fröhliche Sicherheit, ihrer Seele freien Schwung.

„Nun noch etwas zum Mitnehmen“, sagte sie und sang als Abschied ein einfaches, schönes Lied. Glockenrein erhob[S. 278] sich ihre Stimme über dem Wasser, wie ein Gebet. Die Männer zogen die Ruder ein und nahmen die Mützen ab. Leise schlugen die Wellen ihre plätschernde Begleitung gegen den Kahn — — —

Verzierung, drei Sterne
A

Als Karla König in die Halle des Stettiner Bahnhofs in Berlin einfuhr, überkam sie etwas wie Schuldbewußtsein. Um ganze acht Tage hatte sie ihren Aufenthalt an der See verlängert — weil sie nach einem schönen Erlebnis nicht sobald zurückfand in den Alltag ihres Berliner Lebens. Nun hatte sie vier wundervoll friedliche Wochen verbracht in der schönsten Luft, während ihr Mann den Staub der Stadt eingeatmet und seine Stunden gegeben hatte. Sie wollte sehr sanft und sehr gut sein zu Hause. Luise und ihr Mann sollten es empfinden, daß sie das Opfer, das sie beide ihrem Wohlergehen gebracht hatten, zu schätzen wußte.

Altmann empfing sie am Zug. Sie war erstaunt, wie wohl er aussah. Kaum mehr schlank — ein sehr stattlicher, nicht mehr junger Herr, der behaglich seines Lebens frühen Herbst genoß und nur leidend die Lippen herabzog, wenn etwas sein Behagen störte.

„Na, das ist schön, daß du wieder da bist, Karla ... Es war ja ein bißchen gegen die Abrede, aber wir haben dir die paar Tage gegönnt — von Herzen gegönnt.“

Ähnlich sprach Luise.

Schmerzchen stand in einem langen, wollenen Morgenröckchen im Speisezimmer, ein weißes Tüchelchen um den Hals. Sie war sehr gewachsen, war sehr blaß und hatte große braune Augen, die ernst und abwartend blickten.

„Was ist ... was ist denn mit Schmerzchen?“

Karla hatte das Kind zu sich auf den Schoß gezogen und[S. 279] bedeckte das feine, nußbraune Haar mit leidenschaftlichen Küssen. Die Geschwister wechselten einen Blick.

„Ich war krank“, sagte Schmerzchen, mit einer gewissen Genugtuung im Ausdruck.

Karla blickte von Mann zu Schwägerin. Ihr Herz schlug zum Zerspringen, sie konnte kaum atmen.

„Wie denn ... krank ... und ich habe nichts erfahren?“

Der Papa erklärte alles. „Du mußt begreifen, liebes Kind ... eine Diphtheritis, wenn sie auch sehr leicht aufgetreten ist, bleibt ansteckend und gefährlich! Du hättest ja doch nicht in der Wohnung sein und das Kind pflegen dürfen. So zogen wir es vor, dir gar nichts darüber zu schreiben. Luise hat sich geradezu aufgeopfert ...“

Karla nickte. Ja, sie konnte sich schon denken ... Und das Kind hing mehr denn je am Papa, an Tante Lis’ ... mehr denn je — —

„Ich danke dir, Luise ...“

Ihre Hand, mit der sie die Finger der Schwägerin umschloß, war eiskalt.

Als das Mädchen die Suppe hereinbrachte, sagte Luise:

„Du bist mir nicht böse, Karla — ich habe dem Kind den Platz zwischen Ernst und mir gegeben; es hat jetzt seine kleinen Gewohnheiten ...“

„Nein ... bitte, Luise ... Warum sollte ich böse sein?“

Sie mühte sich, sehr sanft, sehr ruhig zu bleiben. Luise hatte sich ja „aufgeopfert“! Aber der Bissen blieb ihr im Halse stecken, wenn sie sah, wie das Kind manchmal lächelte. So erwachsen. So bewußt. Und wie es in dem Lächeln die beiden einte, die in ihrer Krankheit um es gewesen waren.

Wie es in der Motzstraße ginge?

Luise machte ein leidendes Gesicht. Sie sah in diesem Augenblick Altmann zum Verwechseln ähnlich.

„Alwin arbeitet sich zuschanden, und Adele hat Vickis Zimmer an einen Herrn vermietet. Das macht weniger Arbeit als Jungens. So kräftig ist Adele nicht mehr — die hat sich verbraucht im Hause. Wenn man für alles aufkommen muß ...“

[S. 280]

„Alwin hat doch immer verdient“, unterbrach Karla und hatte Mühe, ihren aufsteigenden Ärger zu unterdrücken.

„Ja, ja, gewiß ... das ist selbstverständlich. Aber knapp war’s. Und einteilen und auskommen, das ist zum mindesten so aufreibend wie verdienen. Das hast du ja gottlob nicht nötig gehabt. Das hat dir unser guter Ernst immer abgenommen. Aber es ist nicht leicht, glaube mir ...“

Was das junge Paar machte? Karla war froh, wenn sie etwas fand, was ablenkte von ihr.

Das junge Paar ließ sich fast gar nicht sehen. Zweimal war Vicki im ganzen bei der Mutter gewesen in diesen vier Wochen. Eigentlich nur, um sich ein paar Zwanzigmarkstücke zu holen. Sie sparte, soviel sie konnte, aber Bodo brauchte sehr viel außer dem Hause. Anzüge und Geld fürs Café und Restaurants. Er machte viel neue Bekanntschaften, behauptete, die würden sich schon eines Tages rentieren. Im übrigen ließ er sich bei den Schwiegereltern nicht sehen.

Einmal, ganz im Anfang von Karlas Abwesenheit, waren sie alle in einem Biergarten zusammengewesen.

„Aber nicht wahr, Ernst, gemütlich war es eigentlich nicht?“

Altmann lehnte sich zurück und versenkte die Hände in den Hosentaschen.

„Gott ... Du weißt, Lis, was man so gemeinhin ‚gemütlich‘ nennt — davon halte ich nicht viel. Aber Zugehörigkeit — die vermißte ich. Wir saßen da alle wie ... ja wie soll ich nur sagen ... wie zusammengewürfelt, ohne Kitt.“

„Und Vicki?“

„Vicki ...! Vicki trinkt seine Worte — wenn er welche spricht! Sie ist in der Furcht des Herrn erzogen. Mir unbegreiflich, dieses Mädel ...“

Altmann sprach mit großer Überzeugung.

Karla zerrte ihr Mundtuch glatt.

„Ich werde jetzt auspacken“, sagte sie.

[S. 281]

„Ich will Dir gerne helfen, so wie Isoldchen im Bett ist ...“, erbot sich Luise.

„Nein, nein ... danke ... ich werde gut allein fertig.“

Karla hatte nur ein Gefühl: Luise sollte sich nicht auch noch für sie aufopfern! Es war undankbar von ihr, häßlich — aber sie konnte nicht an dagegen.

Frostig starrte ihr das Schlafzimmer entgegen, in dem grauen Dämmerlicht der Berliner Hofbeleuchtung. Sie dachte an den warmen Sommertag unter gelben Sonnenblumen — da mußte sie ihre Handflächen an die Augen drücken. So brannten ihre Lider — — —

Während des Abendessens fragte Karla sich, was sie nachher wohl tun könnte. Zum Singen war sie zu abgespannt. Im Zimmer ihres Mannes sitzen — nur um bequemer zu sitzen als anderswo ...?

Altmann ging unentschlossen hin und her, während das Mädchen abräumte und Luise das Obst in die Kredenz einschloß. Er fuhr sich ein paarmal über das Kinn und blieb dann stehen.

„Ich weiß nicht, liebes Kind, wie du dich dazu stellst, aber Lis’ und mir war es ein großer Genuß all die Zeit. Ich ... hm ... ich lese ihr jetzt allabendlich ein Stück vor, von einem unserer großen Klassiker. Es ist katastrophal, wie man sie vernachlässigt! Augenblicklich lese ich ‚Coriolan‘.“

„Wundervoll,“ sagte Luise, während ihr Schlüsselbund klirrte, „aber entsetzlich anstrengend!“

„Gewiß, meine gute Lis’, aber das spricht nicht mit ... Es ist mir, wie gesagt, selbst ein Genuß. In Berlin ist der ganze Stil für die Klassiker verlorengegangen. Schiller drehte sich im Grabe um, wenn er das sähe!“

Luise trank die Worte des Bruders. Sie hatten sich auf einander eingestellt in diesen vier Wochen, mit einer lückenlosen Genauigkeit. Karla war ein Fremdkörper geworden, dem man Platz schaffen mußte; es ging nicht ohne Sprünge und Risse.

„Also, wie meinst du, Karla? Ich will dich selbstverständlich nicht zwingen — aber an freien Abenden ...“

[S. 282]

„Ja ... gewiß ... gern.“

Altmann fuhr ihr liebkosend über die Schulter.

„Das freut mich, Karla, freut mich ehrlich. Das ist meine Auffassung von Gemütlichkeit. Jeder hat die seine, nicht wahr? ... Wir bleiben hier sitzen, des Kindes wegen, falls es ruft, der Schlaf ist noch zeitweise unruhig. Luise nimmt eine Handarbeit ... du vielleicht auch, wie?“

Karla entsann sich der roten Decke, an der sie häkelte.

„Die liegt längst fertig in der Kommode. Die bekommt Isoldchen zu Weihnachten“, sagte Luise, und ein etwas spöttisches Lächeln verzog ihre Lippen.

„Warum denn ... warum hast du meine Arbeit ...?“

„Aber sie wäre ja doch nie fertig geworden, Karla“, schnitt die Schwägerin ab.

Nein ... Karla wäre nicht fertig geworden mit ihrem Träumen und Denken ... und die Arbeit wäre nicht fertig geworden. Es war richtig. Aber es tat weh. Und eigentlich gehörte es sich nicht.

Sie setzte sich wieder auf ihren Platz und kreuzte die braunen, sonnenverbrannten Hände über der Tischdecke — ergeben, geduldig, sanft.

Altmann las. Mit vollem Organ und viel Ausdruck. Mit schrecklich viel Ausdruck und aufreizender Deutlichkeit. Jedes „und“ und jedes „aber“ hatten die Bedeutsamkeit eines Gedankens, jeder Gedanke ertrank in dem Gleichmaß der Bedeutung. Luisens Augen glänzten. Nie war sie so durchdrungen davon, daß dem Bruder Unrecht geschah von den Bühnenleitern, wie an den Vorleseabenden. Sie und Adele hatten ihn unterschätzt ... sie hätte weinen können darüber. Er war ein großer, ganz großer Künstler. Er hatte seine Karriere und seinen Ruhm seiner Frau geopfert — aus Liebe, aus Großmut. Nie konnte Karla ihm das genug danken — nie! Luisens Blicke ließen nicht ab von seinem schönen Gesicht, das so tragisch aussah bei pathetischen, dramatischen Stellen, und ihre Blicke zogen die seinen zu ihr herüber, zogen seine Stimme, seine Worte an[S. 283] — daß sie bald nur ihr galten und über Karla hinwegfluteten wie über den Stuhl, auf dem sie saß.

Karla krampfte die Finger ineinander. Etwas bohrte an ihrem Herzen. Erst leise, dann immer stärker. Die Nacht fiel ihr ein auf der Veranda des Hotels in Brasilien, und wie sie gewartet und wie sie es nicht für möglich gehalten hatte, was doch geschehen war ... Und das war nur ein Kinderspiel gewesen gegen das, was jetzt geschah.

Eine Mariette hatte ihr nichts nehmen können — nichts, als allenfalls eine Stimmung.

Luise nahm ihr alles — das Kind, den Mann ... löschte sie selbst aus ... ganz sachte; ohne es zu wollen vielleicht, nein, gewiß; ohne es zu wollen — aber jeden Tag mehr, immer mehr, machte sie überflüssig — ließ sie nur gelten, weil sie die Stimme hatte, die Mann und Kind ein leichtes, sorgenfreies Leben gewährte ... Aber auch das mochte kaum bewußt sein ... es war nur so und drängte sie, die Mutter, die Frau, sanft aus dem Bereich ihres häuslichen Wirkens, ihrer Frauenrechte ...

Seltsam, wie diese Erkenntnis wirkte. Es war kein Schmerz und kein lodernder Zorn, wie damals in Brasilien ... nur wie ein kalter Hauch zog es durch ihre Seele, vereiste ihr sonst so heißes Empfinden ...

Sie stand auf.

„Laßt euch nicht stören,“ sagte sie freundlich, „— ich bin müde und will mich niederlegen.“

Altmann blickte auf.

„Verzeih’ .. ja .. ich hatte vergessen .. selbstverständlich ... wir können übrigens auch morgen —“

Aber Karla wiederholte, ebenso freundlich, nur mit einer an ihr fremden Bestimmtheit:

„Nein, bitte ... laßt euch nicht stören ... gute Nacht, Luise.“

Leise schloß sie die Tür des Schlafzimmers hinter sich zu.

Altmann strich ein paarmal nervös über die Seiten des Buches. „Schade ...“

„Wie meinst du, Ernst ...?“

[S. 284]

„Sie hat so gar keine geistigen Interessen ... schade!“

„Findet man das nicht häufig bei Sängerinnen?“

„Möglich ... ja ... aber Karla ist doch auch meine Frau!“

Luise strich mit ihrer hageren Hand über den Ärmel des Bruders.

„Ärgere dich nicht. Wir haben uns hier so eingesponnen, und sie kommt von draußen — sie ist noch wie ein verspieltes Kind. Das gibt sich. Lies weiter — es ist mir eine solche Freude ...“

„Gute Lis’!“

Er nickte ihr zu. Von der Bewunderung der Welt, die er erträumt hatte, war ihm nur die Bewunderung der Schwester geblieben. — — Aber auch die tat wohl!

Verzierung, drei Sterne
E

Einen Tag vor ihrem Wiederauftreten sagte Altmann:

„Du hast doch nichts dagegen, liebes Kind, ich habe gebeten, daß man dich als Karla König-Altmann auf den Zettel setzen möchte.“

„Als König-Altmann ...?“, wiederholte Karla. „Ja ... warum denn?“

Ihr Name war ihr lieb geworden, sie war in ihn hineingewachsen wie in eine Haut. Der angehängte Name ihres Mannes wirkte auf sie wie etwas Fremdes, gar nicht zu ihr Passendes. In ihren Schläfen pochte es.

„Wenn ich nur wüßte — warum?“

Altmann reckte sich hoch, seine Mundwinkel vertieften sich.

„Liebe Karla, du tust gerade so, als wäre es eine Unehre für dich, deinen gesetzlichen Namen zu tragen — eine Schande.“

„Warum hast du es mir nicht vorher gesagt — wir hätten es überlegen können — —“

[S. 285]

„Ich glaube, liebes Kind, daß es da nichts zu überlegen gibt. Du hast ein Kind, eine Tochter. Ich meine, wenn nicht aus Rücksicht auf mich, so doch aus Rücksicht auf dein Kind ... Die Gemeinsamkeit des Namens ist, scheint mir, doch das allererste und wichtigste Bindeglied zwischen Eltern und Kind ...“

Die Tür zu Altmanns Zimmer ging auf, und Schmerzchen trippelte herein, in einem blauen Herbstmäntelchen und blauem Matrosenhütchen.

Karla hatte Schmerzchen bisher nur in weichen Kappen oder unter dem Gefältel weißer Stickereihüte gesehen, die Matrosenform gab dem zarten Gesicht etwas Hartes, Strenges. Das feine nußbraune Haar ringelte sich in Locken über den Nacken.

„Komm mal her, Isolde ...“

Gehorsam ging Schmerzchen auf den Papa zu, mit einer gewissen Spannung im Blick. In Papas Ton lag immer etwas, worauf sie gespannt war.

Karla fielen die Arme, die sie dem Kinde entgegengestreckt hatte, in den Schoß zurück.

„Sag’ mal, wie heißt du?“

„Isolde Altmann“, sagte Schmerzchen sehr deutlich und gewichtig.

„Gut. Und wie heiße ich?“

„Ernst Altmann, Landgrafenstraße siebzehn.“

„Ja, ja ...“, unterbrach er. „Und Mama? Wie heißt Mama?“

„Karla König-Altmann, Königliche Hofopernsängerin.“

„Brav.“

Er wendete sich an Karla:

„Na — klingt das gar so schlimm?“

Karla antwortete nicht. Sie hielt Schmerzchens Hände und drückte sie an die Lippen.

Schmerzchen blickte unruhig nach der Tür.

„Ich gehe mit Tante Lis Haare abschneiden.“

„Wieso Haare abschneiden ... wessen Haare?“

„Meine Haare ... ritz—ratz, sagt Tante Lis ...“

[S. 286]

Karla war ganz erschüttert. Das feine braune Härchen ringelte sich so weich über ihre Hand, und nun sollte es abgeschnitten werden, sollte ...

Luise trat, ebenfalls zum Ausgehen angekleidet, über die Schwelle.

„Komm, Isoldchen ...“

Karla hatte Schmerzchen den Matrosenhut abgenommen, bedeckte das braune Haar mit Küssen.

Luise lächelte nachsichtig.

„Du hast dich aber auch gleich, Karla! ... Das Kind bekommt nie starkes, dichtes Haar, wenn es nicht geschoren wird. Jawohl, Isoldchen, wie ein Schäfchen wirst du geschoren und wirst aussehen wie ein kleiner Junge.“

Schmerzchen nickte. Die bevorstehende Verwandlung hatte etwas ungemein Geheimnisvolles für sie. Das Leben war überhaupt voller Reize und Schauer. Die Mama schien das zu verstehen — die Mama weinte sogar! Und das wäre natürlich sehr erschreckend gewesen, wenn Papa und Lis nicht gelacht hätten. Die wußten es doch immer besser.

„Warte, Schmerzchen ... halt’ still ... es tut nicht weh.“

Karla ergriff die Papierschere auf Altmanns Tisch. Eine Locke wollte sie für sich abschneiden. Wenigstens eine greifbare Erinnerung haben an das seidenweiche, nußbraune Haar ihres Kindes.

Schmerzchens Gesicht wurde ganz rot vor Anstrengung, stillzuhalten. Am liebsten wäre sie ja davongelaufen, aber ihr war noch vom Weihnachtsabend erinnerlich, daß die Mama ihr nicht weh tat. Nur begriff sie nicht, warum die Mama weinte. Tante Lis begriff es auch nicht. Papa aber ging ärgerlich im Zimmer auf und ab und sagte:

„Karla ist immer noch der reine Backfisch.“

Karla fuhr in die Stadt und kaufte sich eine dünne Kette und ein goldenes Medaillon für Schmerzchens Locke.

Der Juwelier hatte nur zweiseitige Medaillons vorrätig und fragte, ob sie nicht ein Bild für die zweite Seite habe. Aber Schmerzchens letztes Bild war vor mehr als einem Jahre aufgenommen, und jetzt sah das Kind noch[S. 287] immer so elend aus, daß sie es nicht photographieren lassen mochte. Später.

Als sie nach Hause kam, erschrak sie, weil sie Schmerzchen mit dem runden Jungenskopf nicht gleich erkannte.

Schmerzchen sah dem Vater sprechend ähnlich.

Luise und Altmann sprachen an diesem Abend viel von dieser Ähnlichkeit, so daß Karla darüber sogar ihre Namensveränderung vergaß.

Erst am nächsten Abend wurde sie wieder daran erinnert. Gegen seine Gewohnheit kam der Papa zu ihr in die Garderobe.

„War gespannt, liebes Kind, zu hören, wie — Frau König-Altmann singt — erwartete eine bedeutsame Veränderung, aber ich muß gestehen ... daß ich nur eine kleine Mattigkeit bemerkt habe ... vielleicht von der Bürde solcher zwei Namen ... Warum läßt du ‚König‘ nicht ganz fort ... eigentlich überflüssig, wie?“

Der Papa war sehr gallig. Aber in einem hatte er recht: Karla war an diesem Abend wirklich nicht ganz auf der Höhe.

Und auf dem Eckplatz des ersten Ranges saß ein wildfremder, dicker Herr mit einem breiten, schwarzen Klemmer auf der Nase. — — —

— — In der Motzstraße war die Familie um den Abendbrottisch versammelt. Karla war in Potsdam zu einem Hofkonzert, das am Spätnachmittag stattfand. Sie hatte versprochen, geradeswegs in die Motzstraße zu kommen, wenn sie fertig wäre. Adele war rasend neugierig, wie es „bei Kaisers“ zuging. Übermorgen fand ihr Kaffeekränzchen statt — das gab dann Gesprächsstoff, und ein bißchen von dem Glanz, der sich um Karlas Namen verdichtete, fiel dann auch auf sie ab und ihr Haus. Sie brauchte sich dann von den Damen auch nicht so viel über Vicki ausfragen zu lassen.

Adele hatte es schwer. Immer mußte sie entschuldigen, bemänteln. Auch ihrem Manne gegenüber. Harte Worte[S. 288] lagen ihm nicht. Aber Bitterkeit legte sich auch um seine Mundwinkel, wenn er sich nach Vicki erkundigte. Er zählte manchmal an den Fingern die Wochen ab, die sie sich nicht hatte sehen lassen, als wüßte sie nicht, welche Arbeitslast der Vater auf sich genommen, um den jungen Hausstand zu stützen. Ein Teil der Möbel hatte auf Abzahlung genommen werden müssen, weil Bodo Völkel erklärt hatte, daß er die Spießereinrichtung, die Luise für ihn in Aussicht genommen, nicht über seine Schwelle ließe. Er wollte sich seine Umgebung selbst zusammenstellen. Wenn es auch ein bißchen teurer würde, so hätte er doch Verbindungen, die eine bequeme Abzahlung ermöglichten.

Adele war aufs Tiefste verletzt von diesem „auf Borg“ gestellten Haushalt; aber diesmal unterstützte Dr. Maurer seinen Schwiegersohn und beschwichtigte seine Frau.

„Bodo ist nicht wie Karla — er läßt sich nicht in seinen Entschlüssen vergewaltigen. Mag der Mann sich seine sieben Sachen aussuchen, in denen Vicki mit ihm glücklich sein soll — wir schaffen’s schon.“ Daß es ohne Karlas Hülfe doch nicht so einfach gewesen wäre, ahnte er nicht.

Es sah immerhin recht eigenartig und hübsch aus bei Völkels, obwohl Vicki selbst wenig hineinpaßte in den verstiegenen, neuartigen und noch nicht geklärten Stil ihrer Wohnung. Ja, sie gestand sogar, daß ihr die schwarzen, geraden Fenstervorhänge im Schlafzimmer gruselig und die kaum zu bewegenden drei Sessel im Wohnzimmer unbequem seien. Immerhin — Bodo hätte es so ausgesucht, und was Bodo beschloß, war geheiligt.

Nur wenn er nicht zu Hause war, schleppte Vicki einen Rohrstuhl aus der kleinen Stube neben dem Schlafzimmer überall mit sich herum oder setzte sich in die der Sparsamkeit wegen ungeheizte Kammer, wo sie wenigstens in aller Bequemlichkeit und ohne befürchten zu müssen, die stilvollen Möbel zu verderben, ihre häuslichen Angelegenheiten erledigte: das Gemüse putzte, Kinderwäsche zuschnitt, flickte und ihre Ausgaben einschrieb.

Das Ausgabenbuch machte ihr viel Kummer. Bodo aber[S. 289] hörte kaum zu, wenn sie ihm von teuren Zeiten oder gar von Marktpreisen sprach.

„Ja ... ja ... na, das wird ja mal anders werden. Sieh doch zu, daß die Eltern ein bißchen aushelfen ...“

Es war ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, auszuhelfen. Sie hatten den Salat angerührt — bitte! Dieses „Hundeleben“ war nur erträglich, weil Vicki ein im Grunde liebes, vernünftiges Ding war, das die Schwierigkeiten seiner Lage einsah und ihm kleinweise auf ihre Art half.

Selbst dem Onkel hatte sie im Laufe der Monate an dreihundert Mark abgeluchst, das Schlauchen, mit ihren hübschen blauen Augen und ihrem molligen Gehabe. Wenig genug! Aber immerhin etwas.

Die Zärtlichkeiten des Onkels waren nicht immer nach Vickis Geschmack. So bitter es ihr ankam — lieber noch holte sie Aushilfe bei der Mutter.

Adele schlug die Hände zusammen: „Schon wieder? ... Noch? ... Worauf geht denn das viele Geld bloß?“ ...

Sie rechnete der Tochter vor, wieviel ihr eigener junger Haushalt gekostet hatte. Nicht die Hälfte!

„Und Vater hatte immer ein paar Silberstücke in der Tasche zum Ausgehen!“

Das war jetzt anders. Die Silberstücke bekam Vicki. Und wenn’s in den letzten Tagen des Monats nicht langte für Fleisch, dann aß sie eben ein paar Eier oder einen Grießbrei, während er auswärts speiste, bei Bekannten oder auf Borg in einem guten Gasthaus, wo man ihn kannte! Und der Kellner rief sogar beim Weitergeben der Bestellung zur Küche: „Für den Herrn Baumeister!“, woraufhin Bodo Völkel das Essen besonders reichlich zugemessen wurde.

Der Bodo kannte sich eben aus. Der Bodo war nicht so wie Vater! Der Bodo verstand es, sich in der schwierigsten Lage zu helfen! Sie würden noch alle staunen, wie weit der Bodo es brächte! Das stilisierte Bauernhaus hatte er dem Grafen Gaudlitz ausgeredet und einen Plan für ein prachtvolles vierstöckiges Miethaus entworfen. Die Zukunft[S. 290] Berlins läge in der Gegend! Palast an Palast würde sich da erheben. Graf Gaudlitz sollte den Anfang machen.

„Und der Graf ist darauf eingegangen. Nur ist es mittlerweile zu spät geworden, und so kann der Bau erst im Frühjahr beginnen.“

„Das Bauernhaus jetzt wäre mir lieber gewesen als der Palast in der Zukunft!“

Adele seufzte schwerbedrückt auf; immerhin, sie gab die heiß verlangten Goldstücke.

Eine stürmische, rasche Umarmung, und Vicki verschwand bis zur nächsten Geldklemme.

Adele aber sah, wie ihr Mann immer grauer wurde in der stickigen Luft des verqualmten Zimmers und der überfüllten Schulstube. Ja, es kam vor, daß er mit warmen Flanelltüchern über dem Magen zum Unterricht ging, oder daß sie ihm rasch Pfeffermünztee mit Baldrian hereinbringen mußte, wenn er mit einem Privatschüler an seinem Tisch saß.

Sie sagte dann: „Du mußt zum Arzt. Ich verlange es, Alwin ...“

Und er nickte: „Ich war ja bei ihm ... es ist nichts. Ein nervöses Magenleiden ... ich sollte das Rauchen aufstecken. Aber die zwei Zigarren täglich ... wenn man darauf auch verzichten soll ...“

Das gab ihr jedesmal einen Stich. „Darauf auch!“ Das andere war Karla. Mit seinen regelmäßigen Besuchen in der Landgrafenstraße war es vorbei. Die Zeit dazu brachte er nicht mehr auf. Und abends war er wie abgeschlagen, hielt sich kaum noch beim Abendbrot aufrecht und schlief mit der Zeitung in der Hand in der Sofaecke ein.

Dann sah sie es recht deutlich, beim weißen Schein der Gaskrone, wie schlecht er aussah, wie tief seine Augen eingesunken waren, wie schlaff die Haut ihm um die Wangen hing. Auch sein Haar hatte sich bedenklich gelichtet, das wellige, blonde Haar, das es ihr einst angetan hatte! An[S. 291] den Schläfen ringelten sich graue Büschel, und auch der kurze blonde Bart war mit Silberfäden durchsetzt.

Es kam vor, daß Adelens Augen sich feuchteten und eine bange, stumme Frage ihr aus dem Herzen stieg: Warum war er ihnen so schwer geworden, der Kampf mit dem Leben, warum hatte ihr armer Mann seine Tage in Arbeit und Mittelmäßigkeit verbringen müssen, während so manch anderer über seinen Kopf hinweg höher gestiegen war?

Was hatte die Tatkraft ihres armen Mannes so gelähmt, daß er nie über seine erste Stellung hinausgewachsen war?

Adele sprach darüber mit Luise, mit dem Bruder. Sie wußten keine Antwort darauf, alle drei nicht! Adele hatte in allem ihre Pflicht getan. Mehr als ihre Pflicht. Sie hatte keine Ansprüche gestellt, hatte ihre Kleider länger getragen als es ihre Dienstmädchen taten, hatte Stoffe gewendet, geflickt, die Kinder gewartet. Hatte die Schwester zum Verlassen des Hauses gedrängt, um ihrem Manne mehr Bewegungsfreiheit einzuräumen, hatte stundenlang darüber nachgedacht, was sie wohl kochen könnte, und ihm dann das Beste vorgesetzt, was ihre Kunst und ihr Wirtschaftsgeld hergaben, hatte durch Betteleien beim Bruder, bei Karla die Sorge um die Kinder fast zur Hälfte auf sie abgewälzt, hatte die Tochter verheiratet — in stetig wachsender Angst um ihre Zukunft und in Sehnsucht nach einem friedlichen Alter, hatte, ohne ihn mehr als nötig davon zu unterrichten, gerechnet und gespart ... und dennoch — — trotz allem und allem hatte ihr Wohlstand sich nicht vergrößert, waren seine Kräfte verbraucht, seine Gesundheit untergraben, seine Lebensenergie erschlafft! — —

So saß denn Dr. Alwin Maurer auch an diesem Sonntag mit müdem, grauem Gesicht am Abendtisch und kaute an seiner Zigarre. So recht schmecken wollte der Glimmstengel nicht mehr! An den zwei Pfennigen, die er jetzt weniger bezahlte, konnte es doch nicht liegen!

Wie früher so darauf lospaffen konnte er ohnedies nicht mehr, seit Fritz wie ein Schlot rauchte. Und unter einer[S. 292] Fünfpfennigzigarette tat der’s nicht! Konnte er den Häusern, in denen er verkehrte, gar nicht zumuten! Überhaupt, was der Junge verbrauchte an Handschuhen, an Blumen! Er fühlte sich schon ganz als Leutnant, machte Hausbälle mit bei den Eltern seiner Kameraden, hielt sich für verpflichtet, Aufmerksamkeiten zu erweisen.

„Die paar Blumen ... Bitte dich, Papa ... Ist doch selbstverständlich!“

Es war vieles „selbstverständlich“ für Fritz, und Adele unterstützte ihn, fand nie etwas zu viel für ihn. Es war ja auch nicht viel; aber es mußte da sein.

Die Sorgen hatten sich jedenfalls nicht verringert durch das Fernsein der Kinder.

Und während Dr. Alwin Maurer träge an seiner Zigarre zog, dachte er, daß es eigentlich schon ein Alteleutetisch war, an dem er jetzt mit Frau und Geschwistern saß. Wie schnell die jungen Jahre doch vergangen waren! Und wie wenig Jugendlust in ihnen gewesen war ... wie wenig Freudigkeit und Vorwärtskommen!

Draußen klingelte es, Adele ging öffnen — es war Karla.

„Endlich ... Na ...? Wie war’s? ...“

Karla brachte eine Welle frischen Duftes mit in ihrem Pelz, ihrem Spitzentuch; sie lachte, war ganz freudige Bewegung, ihr langes Schleppkleid rauschte über die Läufer.

„Habt ihr was zu essen für mich? Ich sterbe vor Hunger ...“

Sie hielt ihre Wangen hin, drückte die ausgestreckten Hände.

„Ja ... es war wunderschön! Eine Menge Prinzen und Prinzessinnen waren da — ein Großherzog. Uniformen ... auch ein paar Fracks. Der Kaiser erschien später ... aber gerade, bevor ich drankam ... Er war so guter Laune ... hat mir die Hand gereicht: ‚Na, Frau König ... was singen Sie uns Schönes?‘ Ich konnte meinen Knix kaum zur Hälfte machen, da sprach er schon auf mich ein! ... Ich weiß gar nicht, was ich geantwortet habe! ... Na ja — im[S. 293] ersten Augenblick, nicht wahr? ... Und die Kaiserin — so liebenswürdig hat sie gelächelt, und ein Kleid aus hellblauem Samt hat sie angehabt und eine lange weiße Boa aus Straußfedern.“

Die Jettperlen ihres schwarzen Spitzenkleides glitzerten und klirrten aneinander bei jeder ihrer Bewegungen. Ihr dunkles Haar bauschte sich in großen Wellen um ihr froh belebtes Gesicht.

„Weißt du noch, Ernst ... mein erstes Hauskonzert bei Astrongs ... wie man da eine Schnur um uns gezogen hat? Jetzt kann ich’s verstehen. So eine Schnur braucht wohl jeder Mensch — nur daß sie bei dem einen zu sehen, bei dem anderen zu fühlen ist. Man muß nur innerlich spüren, wo sie anfängt. Ein bißchen Tastsinn muß man haben, denke ich mir, nicht wahr? Und darum bin ich so froh ... weil ich mich heute gar nicht an ihr gestoßen habe ... keinen Augenblick. Ich durfte singen und reden, wie mir der Schnabel gewachsen war, mit all den großen Herrschaften, und wenn’s wirklich einmal nicht ganz nach der Etikette ging, so habe ich doch gleich gesehen, daß mir keiner darum böse war. Nur zum Essen bin ich nicht gekommen — und es waren doch so herrliche Brötchen und Kuchen und alles mögliche da. Aber ich glaube, ich habe fünf Tassen Tee nacheinander in die Hand gekriegt und kaum einen Schluck zu mir genommen aus jeder Tasse ...“

Altmann streckte sich und weitete die Brust. Er empfand Genugtuung, ehrliche Befriedigung. So weit war die kleine König aus Kiel doch gekommen! Ob auch ohne ihn ...?

Allen schwebte es in diesem Augenblick auf den Lippen, dieses „die kleine König“. Nicht neidlos bei Adele, tief dankbar für den Bruder bei Luise.

Nur Alwin Maurer erkannte mit leiser Freude all die Einflüsse und Strömungen, aus denen dieser prächtige, frische Mensch, diese wundervolle Künstlerin, ihre Lebenskraft geschöpft hatte. Altmann ... ja gewiß. Er hatte die erste grobe Arbeit getan, das Gold von den Schlacken gereinigt — aber war es dann nicht dieser Sonderling[S. 294] Kapelle, der Karlas gefahrvolle Laufbahn in ehrenvolle Bahnen geleitet hatte? War er selbst es nicht gewesen, der ihr inneres Leben zu feinerem Bewußtsein geweckt hatte, und war dann nicht noch einer gekommen, der ihrer Kunst die tiefste Innigkeit gegeben, durch das Erwecken einer starken, keuschen Empfindung — —?

Sie alle zusammen hatten der Welt dieses köstliche Geschenk gegeben, das den Namen Karla König führte, und sie alle mußten es ertragen, daß sie keinem von ihnen, sondern eben der Welt angehörte, für die sie sie geformt hatten ...

„Warum siehst du mich so an?“ fragte Karla plötzlich den Schwager, und ihre Gabel, mit der sie ein Stück Schinken aufspießte, blieb in der Luft stecken.

„Du bist des Ansehens und Nachdenkens wert, Karla“, sagte Alwin Maurer, mit einem Versuch, zu scherzen.

Aber ihre Augen blieben hängen an ihm.

„Wie müde du aussiehst, Alwin .... Nicht wahr, Adele, nicht wahr, Ernst, er sieht elend aus ... er muß etwas für sich tun.“

„Ja ... das müßte er“, sagten die Schwestern wie aus einem Munde, mit dem gleichen, dumpfen Klang der Stimmen.

„Du hast heute Besseres zu denken, als dir über mich Sorgen zu machen“, meinte Dr. Maurer.

„Nein, warum ...? Gerade heute ... ja, gerade heute, neben dem Zimmer, wo sich die Majestäten befanden, habe ich über dich gesprochen ...“

„Über Alwin? Wie das?“ Altmann trat wieder nahe an den Tisch heran — auch die Schwestern rückten näher.

„Ja, das kam so ... Nachdem ich gesungen und die hohen Herrschaften mir Freundlichkeiten gesagt hatten, stand ich plötzlich — ich weiß nicht wie — im Nebenzimmer. Wie ich nun dastehe — eine ganze Menge Herren um mich herum, und der eine sehr nett — Orden von da bis da ... na, also dieser Herr spricht nun ganz besonders viel mit mir. Wo ich studiert hätte und wo ich geboren wäre,[S. 295] wo ich wohnte, und ob ich viel in Gesellschaften herumkäme, ob ich eine große Familie hätte, Kinder und so weiter. Schließlich wurde ich ärgerlich und platzte heraus: Ich habe ein kleines Mädchen, namens Isolde, eine Schwägerin Luise, noch eine Schwägerin Adele, einen Schwager Dr. Alwin Maurer, Oberlehrer am ... und da unterbrach er mich! ‚So ... so ... das ist ihr Schwager? Ach was!‘ Und weil ich ihn ganz dumm ansehe, erzählt er, daß er vor soundsoviel Jahren Dezernent im Kultusministerium gewesen wäre. Und damals sei ihm dein Name aufgefallen. Du hättest, sagte er, einen so famosen Aufsatz geschrieben über ... Herrgott, wie war das doch ... über den Unterricht alter Sprachen oder so was Ähnliches ... stimmt doch, nicht? Also diesen Aufsatz hatte er gelesen, und er hätte damals jedes Wort unterschreiben mögen. Und es wäre sehr mutig von dir gewesen in deiner Stellung, so etwas auszusprechen, und er hätte gleich Erkundigungen über dich eingezogen und hatte schon große Dinge mit dir im Sinn, aber dann hättest du alles zurückgenommen ... sagte er ... oder ... also ich weiß nicht mehr genau, wie das war; jedenfalls ..“

Karla fiel das Besteck aus der Hand.

„Um Gotteswillen, Alwin ... was ist dir ... was ist euch ...?“

Sie sprang vom Stuhl auf, starrte entsetzt auf den Schwager. Die graue Farbe seines Gesichtes war bleiern geworden; aber auch ihr Mann und die Schwägerinnen hatten sich verfärbt. Blicke, die sie nicht begriff, flogen von einem zum andern. Adelens Lippen zitterten, Luisens Hand krampfte sich in das Taschentuch ein.

Alwin Maurer stierte immer geradeaus.

„So sagt doch ... was ist Euch ... was ist geschehen?“

Karla war dem Weinen nahe.

„Nichts“, sagte Altmann. „Nichts jetzt ... das ist lange her ...“

Adele hatte beide Arme auf den Tisch geworfen und das Gesicht vergraben. Ihre Schultern zuckten. Luise rieselten die Tränen, klein, kalt und schnell der Nase entlang.

[S. 296]

Karla lief auf den Schwager zu, schlang ihren Arm um seine Schultern. Der frische Duft ihres jungen Körpers rüttelte alles in ihm wach: die eigene Jugend, die frischen, starken Gedanken, das heiße Sehnen ...

„So rede doch, Alwin ... lieber guter Alwin!“

„Da gibt’s nichts zu reden ... Karla ... Ernst kann es dir später erzählen ... später ... jetzt nicht ... Es gibt eben Irrtümer ... mein Leben war ein Irrtum ... für mich und ... für die da.“

Er zeigte mit dem Kopf auf Frau und Schwägerin.

„Solange man jung ist ... kann man’s gutmachen ... aber jetzt ... da bleibt nur ein Trost: die gute Absicht. Sie meinten es ja alle gut ...“

Und er fügte hinzu:

„Dein Mann erfuhr es übrigens später. Da war es geschehen ... da hatte ich ... da hatte ich es schon getan ...“

„Wie konnten wir ahnen, daß es so aufgefaßt werden würde ... der Direktor selbst ...“

Adele schluchzte fassungslos vor sich hin. Alles war aufgewühlt in ihr. Eine Welt stürzte in ihr zusammen.

Alles, was ihr eingedrillt worden war von Jugend auf: Gehorsam gegen den Vorgesetzten, Bescheidenheit, stilles Dulden, nicht herumdeuteln an dem, was Größere aufgebaut hatten, stillschweigende Pflichterfüllung ...

War denn das alles nichts, großer Gott — war das so garnichts?

„Wir wußten es nicht anders ... nicht wahr, Luise ... anders wußten wir es nicht ...“

Alwin Maurer wollte seine Hand auf Adelens Arm legen, aber er reichte nicht bis hin; und so blieb sie liegen auf dem bläulich-weißen Tischtuch — grau, schlaff, kraftlos und wohlgepflegt — das Sinnbild seines Lebens.

Altmann legte beide Arme um die Schwestern.

„Alwin hat recht ... laßt das jetzt ... es ist müßige Spielerei, sich vorzustellen, wie es hätte sein können ... Es war nicht — weil der Geist der Auflehnung nicht in euch[S. 297] lag, weil ihr im Grunde Wertvolleres könnt als Umstürzen: Ihr erhaltet! Ihr seid nicht der Pflug, der den Boden aufreißt, ihr seid der Speicher, der unser Korn birgt für unser tägliches Brot. Habt Dank, ihr Lieben, auch dafür! Meinst du nicht auch, Alwin?“

Alwin Maurer nickte matt.

„Ja ... auch dafür.“

Seine Hand kroch langsam vom Tischtuch herab. Es war vielleicht gut, daß es tönende Worte gab. Die Frauen trockneten ihre Tränen.

Knapp vor zehn Uhr klingelte es von draußen. Es war Vicki. So spät am Sonntag — da hatte sie es wieder einmal „dringend“!

Vicki hatte schon den schweren Tritt gesegneter Frauen. Sie begrüßte alle flüchtig und ein bißchen verlegen. Sie begann zu erzählen.

„Der Bau“ sollte bereits im März begonnen werden. Dann klappte auch alles mit dem Geld — das würde Bodo schon einrichten. Nur die paar Monate noch ... Bodo wollte sich mit einem Kapitalisten vereinigen ... irgendeinem reichen Kerl vom Bau, der nicht viel konnte und nach Aufträgen lechzte. Es liefen so viele in Berlin herum. Bodo sagte, bald bräche die goldene Zeit für die Baumeister an. Man müsse sich nur ranhalten und endlich mal den alten Kram über den Haufen werfen. Die Leute würden wohl im Anfang schimpfen, aber das war ja immer so! Nur nicht nachgeben, ihnen das Verrückteste vorsetzen, alle alten Gesetze auf den Kopf stellen — verblüfft mußten sie werden! Und pompös mußte es sein — die Pracht müßte ihnen den Atem rauben! Dann zögen sie in die neuen Häuser ein. Vor allem die Fassade ... die Fassaden wären die Hauptsache!

„Und die Wohnungen?“ fragte Alwin Maurer.

„Bodo ist der Meinung, der Schwerpunkt der Pracht und Raumverschwendung müßte jetzt nach außen verlegt werden. Das lockt an. Die Wohnungen bedürften keiner solchen räumlichen Ausdehnung, und in einem[S. 298] Zimmer dürften nie mehr als drei, vier Sessel stehen und überhaupt sehr wenige Gegenstände. Unsere Zimmer sollen eine Andeutung über uns geben, keinen Roman erzählen ...“

Dr. Maurer streifte die Asche seiner Zigarre ab.

„Sehr nett — Andeutung. Nur leider stapelt sich im Laufe des Lebens allerlei Kram an, der einem wertvoller ist, als eure Andeutung. Das Leben, liebes Kind, weiß mit Andeutungen verflucht wenig anzufangen. Das sind so eure jungen Hirngespinste —“

Alwin Maurer brach ab. Ihm war es, als sähen Karlas Augen traurig zu ihm herüber.

Ja so ... nun sprach er wirklich wie ein alter Mann, wie einer, der am Rande des Lebens stand und nur zusah, mißtrauisch und übellaunig, wie die Jungen drüben ihre neue, junge Zeit zurechtzimmerten ...

„Ja .. ja .. Vicki, mag schon sein ... alles Gute deinem Mann ... alles Gute.“

Vicki küßte die Hand des Vaters, die graue, schlappe Hand. Aber ihre Augen irrten immer wieder zur Mutter — fragend, bittend.

Und die Mutter verstand.

Sie erhob sich und machte Vicki ein Zeichen, ihr zu folgen.

Sie kam zurück mit brennend roten Flecken auf den Wangen. Vicki folgte ihr, ein breites Lächeln um den Mund. Sie war wieder einmal ruhig, brauchte ihrem Bodo nicht den Kopf warm zu machen mit den teuren Marktpreisen und ihrer leeren Geldbörse. Die Mutter zankte und maulte, aber schließlich „rückte sie doch heraus“.

Vicki machte die Runde, hielt jedem ihre frische Wange zum Kuß hin.

„Das war nun alles?“ fragte Alwin Maurer und hielt sie am Kinn fest.

Er griff in die Tasche und holte einen Taler heraus.

„Für die Fahrt ... kosten soll’s dich nichts.“

„Dank schön, Papa.“

[S. 299]

Vicki nahm alles. Zwanzig Mark von der Mutter, drei vom Vater ... es war ja für ihren Bodo, damit er einen freien Kopf hatte.

Und Karla fühlte, daß Alwin das eine wußte und das andere.

Sie saßen noch eine Weile beisammen, nachdem Vicki das Haus verlassen hatte. Alle Frohstimmung war von Karla gewichen, aber sie brachte es nicht über sich, Alwin jetzt schon allein zu lassen mit Adele ... es mußte erst alles verklingen, der Schlaf sich auf seine Augen senken, ihm Lust und Kraft nehmen, noch einmal von dem „Irrtum“ zu sprechen.

„Ja, die Abende sind jetzt still zwischen Adele und mir“, hub Alwin Maurer plötzlich an „und wenn erst Karla nach Wien geht, wird’s —“, er wollte sagen: tot — „dann wird’s noch stiller werden.“

„Ist es denn nun sicher mit Wien?“ fragte Adele.

„Vorläufig habe ich nur einen Gastspielantrag auf drei Abende für Ende Februar ...“

Karlas Augen blitzten unwillkürlich auf, aber sie wagte es jetzt nicht zu sagen, wie sehr sie sich freute.

Der Drücker wurde draußen im Vorzimmer in das Schloß gestoßen, einmal, zweimal ... die Kette klirrte.

„Das ist der Mieter“, sagte Adele auf Karlas fragenden Blick.

„Ach so ... ja ... ich vergaß.“

Alwin Maurers Mundwinkel zuckten nervös.

„Ein unausstehlicher Mensch ... als ob’s gerade der hätte sein müssen!“

„Na, na ... er zahlt sehr anständig“, begütigte Adele.

Aber gleichzeitig horchte sie auf, und mit ihr die anderen am Tisch.

Unsichere, schwere Schritte trappsten über den dünnen Läufer ... es klirrte etwas, es schlug etwas gegen einen Stuhl ... die Schritte kamen näher, die Klinke wurde von außen hart und heftig niedergedrückt — ein Mann trat über[S. 300] die Schwelle. Groß, breit, mit klobigen Zügen und trüben, hervortretenden Augen ...

„’n Abend ... was ist denn das, zum Deuwel nochmal, kost’ det Wasser so ville Jeld ... wie? ... Verdammte Wirtschaft ...“

Er war betrunken, schwenkte immerfort die kleine Wasserflasche vor sich her, aus der ein letzter Rest über den Estrich herausplantschte.

Adele stürzte ihm entgegen, ehe sie jemand daran hindern konnte.

Er torkelte bei der leisen Berührung ihrer Hand zurück. Altmann und Alwin Maurer sprangen zu, schoben Adele zur Seite.

„Sie sind betrunken, Mann, gehen Sie in Ihr Zimmer“, befahl Alwin Maurer.

Aber jetzt torkelte er nicht mehr, stand kerzengerade, breit und unbeweglich wie eine Mauer da.

„Betrunken? Sie sind woll ...?“

Er tippte sich an die Stirn.

„Na, und wenn? ... Sekt haben wir jesoffen, verstehn Se ... de Flasche zu zwölf Mark, und Rotwein und denn wieder Sekt ... tjawoll! ’n bisken anders, als Sie hier ...“

„Sie gehen jetzt auf Ihr Zimmer — hier sind Damen“, herrschte Altmann ihn an.

„Ick jehe ... selbstverständlich ... ick jehe, aber bloß, wenn’s mir paßt, verstehn Se ... Da haben Sie mir jar nischt zu sagen ... Wer sind Sie denn ieberhaupt? Ick kenne Sie jar nich! Ick habe nischt mit Ihnen zu tun, Sie ... Und wenn ick durch’s Speisezimmer jehe — det is mein gutes Recht hier ... allemal! Wenn ick mein’ Kopp im Badezimmer unter’n Wasserhahn stecken will, denn ... verstehn Se ... denn ...“

Altmann schob die Frauen in den ungeheizten „Salon“ hinein.

„Ihr seht doch, der Mann weiß nicht mehr, was er spricht ... Morgen muß der Kerl raus ... aber heute — —“

Adele rang die Hände.

[S. 301]

„Fünfzig Mark zahlt er monatlich ... denke doch, Karla, fünfzig Mark ...!“

Karla sah durch die angelehnte Tür, wie der Mann drohend das Eßzimmer durchquerte, sich plötzlich an einer Stuhllehne festhielt, zusammenbrach und von einem heftigen Unwohlsein gepackt wurde.

„Das auch noch ...!“ stöhnte Adele auf. „Das auch noch ...“

Das Mädchen war nicht da, stand wohl noch vor dem Haustor. Adele holte selbst Eimer und Scheuertuch. Ihre guten Sachen mußte sie retten — die vor allem.

Aber der Ekel schüttelte sie.

Als sie wieder ins Speisezimmer kam, hatten Altmann und Dr. Maurer den Mieter in seine Stube gebracht. Er war wohl noch leichenblaß, aber sehr nüchtern. Er stammelte etwas von „infamer Kneiperei“ mit „Jeschäftsfreunden“, bat um „Verzeihung“, faselte etwas von „revanchieren“.

Im Eßzimmer war das Fenster weit auf und ließ die kalte Winterluft herein. Adele stand immer noch kurzgeschürzt in der Stube und schrubberte und schrubberte.

Alwin Maurer nahm ihr den Schrubber aus der Hand und schloß das Fenster.

„Erkälte dich nicht ... das ist wichtiger ... Über die fünfzig Mark kommen wir noch hinweg ... Aber vermietet wird nicht mehr! Zwei Stuben und Küche, meinetwegen; Fremde ... nie mehr ... hörst du, nie — ich verbiete es!“

Und wie um die Härte seiner Worte zu mildern — dieses erste Verbot in seiner langen, dumpfen Ehe — strich er immer wieder mit zitternder Hand über Adelens eisig kalten Arme.

Als er den Kopf hob, sah er Karla, begegnete dem kummervollen Blick ihrer braunen Augen. Er versuchte zu lächeln.

Karla aber wendete sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. — — —

Verzierung, drei Sterne

[S. 302]

K

Karla zählte Tage und Stunden, die sie vom Wiener Gastspiel trennten. Aber es gab noch endlose Auseinandersetzungen darüber, ob ihr Mann sie begleiten sollte oder nicht.

Luise blickte trübe in die Zukunft. Wenn Karla Erfolg hatte in Wien, würde sie nur daran denken, dorthin zu übersiedeln! Sie alle nach Wien? Das war Wahnsinn! Luise fühlte sich nicht mehr jung genug dazu. Sie sah auch für den Bruder nichts Gutes. Was sollte er in Wien? Sein streng norddeutsches Wesen war ihnen drüben fremd. Sollte er dort nur als der Mann seiner Frau herumlaufen oder sich in der Einsamkeit vergraben? Luise verwünschte das Wiener Gastspiel.

Karla aber traf auf dem Heimwege von den Proben — zu oft, als daß es Zufall sein konnte — Gaudlitz.

Er tat immer sehr überrascht, aber die spitzbübische Freude, sie abgefaßt zu haben, leuchtete ihm aus den Augen.

Manchmal gingen sie noch eine Stunde im Tiergarten spazieren, ehe sie sich trennten, und Karla bestieg dann das erstbeste Auto, um die Tischzeit nicht zu versäumen.

Aber es kam doch vor, daß das Mädchen mit dem Auftragen warten mußte, und dann stand Luise am Fenster des Musikzimmers und spähte mit zusammengezogenen Brauen auf die Straße hinaus.

„Die Probe hat heute mal wieder lange gedauert“, sagte Altmann.

Er war arglos. Aber Luise ließ Karla nicht aus den Augen. Und Karla fühlte, wie unter diesem bohrenden, stechenden Blick jedes Wort und jede Bewegung von ihr alle Unbefangenheit verloren.

Die erste, wie sie selbst erst dachte, zufällige Begegnung mit Gaudlitz hatte sie erzählt. Luisens Gesicht war nicht angetan, sie in ihrer Offenheit zu bestärken, und so erwähnte sie seinen Namen nicht mehr. Aber ihr Schweigen wurde[S. 303] der Schwägerin noch verdächtiger, und Karla merkte, wie die Röte ihr oft ins Gesicht stieg während der mittäglichen Stille am Eßtisch.

Der Druck, der zu Hause auf ihr lastete, verlangte nach einer Auslösung, und da sie keine Freundschaft verband mit einer Kollegin, so gewöhnte sie sich daran, alles, was sie bedrückte, Gaudlitz anzuvertrauen.

Einmal sagte er:

„So lassen Sie doch den ganzen Krempel und ...“

„Und was?“

Karla richtete erschrocken ihre Augen auf ihn. Wie konnte sie das alles lassen? Was wurde aus ihnen allen ohne sie? Wie konnte er nur so etwas aussprechen!

„Sie müssen nicht etwa denken ... nein ... es sind lauter ausgezeichnete Menschen ...“

Gaudlitz nickte.

„Selbstverständlich ... habe ich auch nie bezweifelt. Aber diese ausgezeichneten Menschen haben nicht die Gabe, Sie glücklich zu machen. Und das ist sehr schade.“

Mehr durfte er nicht sagen, das wußte er.

Gaudlitz war jetzt oft übler Stimmung. Je teurer ihm Karla wurde, desto weniger wußte er den Weg, den er ihr gegenüber einzuschlagen hatte. Sie war entwaffnend und aufreizend zugleich.

Im Schachklub, den er jetzt öfters besuchte, traf er manchmal ihren Papa, den ehemaligen Tänzer. Über zehn Worte war er früher nie mit ihm hinausgekommen — jetzt suchte er Anknüpfungspunkte.

Aber er wurde auch aus dem zierlichen kleinen Herrn mit dem silberweißen Kopf und der altfränkischen Baletteleganz nicht immer klug. Lobte Gaudlitz eine Leistung Karlas, sprach er begeistert von ihrer Stimme, dann warf der Papa eine Kußhand in die Luft.

„Superb ... die Kleine ist superb ... überraschend ... Müßte mehr aus sich machen ... viel mehr. Aber das kommt noch. Wenn sie erst die Angst kriegt ... wenn sie erst in die Jahre kommt ... Dann kriegen sie alle das[S. 304] Fieber, wollen alle das Rennen machen! So lange sie jung sind, hüpfen sie herum wie kleine Mädchen — pflücken Blumen, flechten Kränze — spielen ...“

Gar so viel lag Gaudlitz garnicht an einem neuen, großen Aufstieg Karlas. Sogar das Gastspiel in Wien, für das seine Schwester sich so eingesetzt hatte, reute ihn. Er kannte seine Schwester. Entweder ernstmachen — oder weit weg vom Schuß bleiben. Wenn es ihm einfiele, in Wien zu hocken, Karlas wegen, würde Alice ihn mit ihren großen blauen Augen ernsthaft ansehen und ihn fragen: „Soll mein Haus euer Treffpunkt sein — oder was meinst du?“ ... Und wenn er dennoch blieb, dann fand Karla verschlossene Türen im Palais der Fürstin Reichenberg. Ohne ihre Schuld. Dann schadete er ihr — in den Augen der Gesellschaft, der Schwester ...

Die Sache war gar nicht so einfach. Ja, hätte er Alice nicht gleich reinen Wein eingeschenkt ...! Aber da war es eben mit ihm durchgegangen, und auch, wenn er nichts gesagt hätte — gemerkt hätte sie es.

Karlas Papa wurde einsilbig, wenn Gaudlitz auf ihr Privatleben zu sprechen kam.

„Ja — so — hm — möglich — weiß ich nicht — kümmere mich nicht — ihre Sache ...“

Der Papa hatte auch blaue Augen. Aber die konnten verflucht hart blicken, wie geschliffener Stahl. Und er hatte auch seine Mucken, der alte Herr. Merkte es doch genau, wie brennend gern er von ihm mehr und Näheres über Karla erfahren hätte — tat aber gar nichts dergleichen, spielte nur um so eifriger Schach, wenn Gaudlitz um ihn herumstrich.

Weiß der Teufel, was der Alte sich dachte. Aber er, Gaudlitz, konnte doch nicht erst in aller Form um Karla anhalten, da sie verheiratet war.

Und wie verheiratet! Das hing alles mit tausend Ketten an ihr — und sie schleppte alles mit durch.

Aus Liebe? Aus Pflichtgefühl?

[S. 305]

Er dachte daran, seinen Rennstall aufzulösen und wieder auf Reisen zu gehen.

Alice schrieb ihm, sie könnte ihm den Posten eines Gesandtschaftsattachés in Peking verschaffen. Er telegraphierte zurück: „Geht’s nicht noch weiter?“

Es fehlte nicht viel daran, daß er ihr die Freundschaft gekündigt hätte. Sie ging diesmal zu weit in ihrer schwesterlichen Fürsorge!

Er wollte irgendwo auf einem schönen Flecken Erde seinen „Kohl bauen“, wollte Kinder haben mit einer Frau, die er liebte, wollte allenfalls aus dem umfriedeten Gehege seines persönlichen Glückes heraus erkennen lernen, was not tat im eigenen Lande. Diplomat — nein, das lag ihm nicht. Er hatte wohl den Mut, eine Ansicht vor der Öffentlichkeit zu vertreten, aber nicht die Geschicklichkeit, sie zu verbergen.

Seine üble Laune hatte den Höhepunkt erklommen.

„Ich will mal bißchen zu den Pyramiden, meinen Schnupfen auskurieren“, sagte er in seinen Klubs.

Seine Bekannten lachten, wie über einen Scherz. Aber drei Tage später war er wirklich abgereist. —

Karla ging sehr langsam von den Proben nach Hause, hielt sich in verschiedenen Geschäften Unter den Linden auf, schrak zusammen, wenn ein Hut, ein Mantel, eine Größe ihr von weitem eine Ähnlichkeit vorspiegelten.

Ihm begegnete sie nicht mehr.

Sie wurde stiller. Als hätte sich grauer Nebel auf alle Freudigkeit und Spannkraft ihrer Seele gelegt.

Es kam vor, daß, wenn Schmerzchen ihr ein Spiel vorschlug, sie sich mit einem Kuß loskaufte ...

Der Tag von Karlas Abreise war angebrochen. Karla hatte fast ihre frischen Farben verloren — beinahe wäre Altmann doch mit ihr gefahren, weil er ihr stilles und gedrücktes Wesen der Angst vor dem Wiener Auftreten zuschrieb.

Auch jetzt noch, am frühen Nachmittag, sagte er:

„Du weißt, Karla ... wenn du mich brauchst, wenn es[S. 306] dir eine Beruhigung ist ... meine paar Sachen sind gleich gepackt ...“

Vielleicht hoffte er, sie würde sagen: „ja, ich brauch dich.“ Aber es wäre eine Lüge gewesen, und sie sagte es nicht.

Sie dankte nur ein bißchen matt. Die Fürstin würde sich ihrer annehmen in Wien.

„Ja ... das ist auch mir eine Beruhigung“, gab Luise zu. „Das scheint ja eine ganz reizende Dame zu sein ....“

Luise hatte gar nichts mehr gegen die Fürstin Reichenberg, seit Karla ihr den letzten Brief zu lesen gegeben. Die Fürstin hatte für den Vorabend ihres Auftretens einen großen musikalischen Abend bei sich anberaumt, Karla sollte singen und sich gleich Publikum schaffen.

„... alle unsere Freunde sind schon sehr gespannt auf Sie und freuen sich. Von meinem Bruder erhielt ich Nachricht aus Kairo, wo er einen Bronchialkatarrh auskuriert. Mein Mann küßt Ihnen die Hand ....“

Luise war ganz ruhig. Und es war sehr überflüssig, daß der Bruder die Unbequemlichkeit einer Reise auf sich nahm. Karla war erwachsen genug ...

Maurers hatten sich am Bahnhof Zoologischer Garten eingefunden. Adele erzählte von ihrem im April bevorstehenden Umzug. Drei Zimmer und Nebengelaß, mit Gartenbenutzung! Ganz neues Haus, Warmwasserheizung und wunderschöne Tapeten. Den ganz alten Kram wollten sie verkaufen, das gab dann Geld für ein paar Anschaffungen. Auch mit dem Dienstmädchen hatten sie sich’s überlegt. Sie brauchten nur eine Bedienungsfrau.

... Vielleicht klopfte man auf diese Art eine Reise nach Karlsbad für Alwin zusammen. Der Arzt hatte gesagt ...

Alwin drückte den Arm seiner Frau herunter und unterbrach:

„Das hat ihm Adele in den Mund gelegt .... Badereise — lächerlich!“ Er reichte Karla noch einmal die Hand durch das Fenster ihres Abteils.

„Mit hellen Augen wiederkommen, Karla ..“

[S. 307]

Karla lächelte mit einem wehen Zug um den Mund.

Es war nicht mehr das erstemal, daß sie allein zu einem Gastspiel reiste, aber doch schien es ihr, als wäre es diesmal etwas ganz anderes, etwas viel Bedeutsameres .... „Telegraphiere gleich, wie du angekommen bist“, sagte Altmann.

Er hatte sich von „seinen Leuten“ entfernt und stand einen kurzen Augenblick allein vor Karlas Fenster. Es überkam ihn etwas, was ihm die Augenlider rötete. Wie eine heiße, zärtliche Welle war es, wie ein ganz plötzlicher Schmerz, eine unerklärliche Sehnsucht. Wenn sie ihm jetzt sagte: „Steig ein, Ernst, fahren wir zusammen —“, er hätte sich nicht besonnen. So wie er da stand, wäre er gefahren. Und es riß ihn, es zu tun, ohne ihre Worte abzuwarten.

„Du, Karla ...“

Sein Körper wendete sich, als suche er die Wagenstufen, in seinen Augen glomm es auf.

„Du, Karla ...“

Aber die letzte Tür wurde zugeschlagen, die Schwestern drängten sich mit ihren weißen Tüchern an seine Seite.

„Zurück! ... Platz da! ...“ rief der Schaffner.

Altmann griff nach seinem Hut. Und während der Zug langsam aus der Halle glitt, die weißen Tücher neben ihm wehten, erstand vor seinem inneren Auge jener Tag, da er neben Karla an dem offenen Wagenfenster gestanden und sie beide vereint die Fahrt ins Ungewisse, in die weite Welt angetreten hatten — — — — —

— — — Karla war traurig. Traurig darüber, daß die Trennung ihr so leicht geworden war, daß sie beinahe aufgeatmet hatte, als sich der Zug in Bewegung setzte. Als wenn eine Last von ihr abgefallen wäre —

Und wie aus weiter Ferne drangen die Worte des alten Kieler Direktors an ihr Ohr: „Schleppen wirst du an ihm, denk dran, Kleine ... Du wirst schleppen!“

Nur vierzehn Tage heraus aus dem allen ... vierzehn Tage an sich denken dürfen, nur an sich und was sie tief in ihrem innersten Empfinden barg ... Wenn Gaudlitz auch[S. 308] weit weg war, in einem anderen Weltteil, ohne Abschied und Gruß in der Ferne blieb ... sie bebte dem Augenblick entgegen, da sie in seiner Schwester etwas von ihm wiederzufinden hoffte.

Langsam rollte der Zug über die Gleise der inneren Stadt.

Karla stellte sich an das breite Fenster des Ganges. In dem flirrenden Licht der Bogenlampen liefen und drängten die Menschen durcheinander. Plötzlich zuckte sie zusammen.

Ihre Arme wurden von rückwärts leicht umschlossen, süßer Rosenduft schlug über ihr zusammen.

„Frau Karla ...“

Sie schrie leicht auf, wurde blaß und rot.

„Graf Gaudlitz ... Sie hier ... jetzt ... reisen Sie nach Wien ... mit mir zusammen nach Wien?“

„Nach Wien nicht, Frau Karla ... aber bis zum Schlesischen Bahnhof — wenn ich darf ...“

Ob er durfte. Sie zog ihn in ihr Abteil, die Blumen im Arm. Sie lachte wieder ihr altes frohes Lachen.

„Erzählen Sie ... sagen Sie mir ... seit wann sind Sie da ... woher wußten Sie, daß ich im Zuge bin ...?“

„Das war nicht schwer, Frau Karla. Wozu hat man eine Schwester, die mit der Mitwirkung einer gewissen Karla König an ihrem Musikabend renommiert? Sie konnte es ruhig tun, denn ich hatte mich im Wüstensand vergraben. Ich war ungefährlich. So kriegte ich alles von Ihnen zu wissen, sogar die Stunde Ihrer Ankunft in Wien, und da ich nicht nach Wien kommen darf, so verließ ich Ägypten, um Sie von der Friedrichstraße nach dem Schlesischen Bahnhof zu begleiten ...“

Sein Gesicht war gebräunt, er sah so froh, so stark und jung aus, wie an jenem ersten Dämmerabend im Tiergarten.

Sie war unendlich glücklich. Sie hielt die Rosen vor ihre Augen, vor ihr Gesicht, damit er nicht sehen sollte, wie feucht ihre Augen glänzten. Und sie fand auch keine Worte mehr, solange sie zusammenblieben, und keine Bewegung.

[S. 309]

Wie erstarrt war sie in diesem neuen, jubelnden Glücksgefühl, das weder Begehren noch Reue, weder ein Gestern noch ein Morgen kannte.

Unter dem Rattern der Räder aber und dem gelben Licht der halbverhängten Deckenlampe sagte Graf Gaudlitz:

„Ich hab’ Sie lieb, Karla, und will warten, bis Sie die Kraft finden, allem zu entsagen, was Sie jetzt beglückt und auch bedrückt. Dann, Karla — sollen Sie meine Frau werden.“

Er zog ihre Hand an seine Lippen und fügte leiser und nahe zu ihr geneigt hinzu:

„Ich sage Ihnen das schon heute, weil Sie wissen sollen, Karla, wie ich es meine. Ich verlange jetzt keine Zustimmung und kein Versprechen, denn ich weiß, daß Sie Zeit brauchen für das, was Sie tun müssen. Nur — lassen Sie mich nicht zu lange warten.“

Karla entzog ihm ihre Hand, die er mit warmem Druck umschlossen hielt. Sie war sehr blaß, und ihre Lippen bebten.

„Ich habe ein Kind, Graf Gaudlitz ... mein Kind lasse ich nicht —“

„Ihr Kind wird das meinige sein, Karla ...“, sagte er fest.

Sie schüttelte heftig den Kopf, ihre Augen brannten in ihrem erblaßten Gesicht.

„Er gibt es nicht her .. nie .. das tut er nicht.“ ...

„Dann müssen Sie mich eben mehr liebhaben als Ihr Kind.“ ...

Er stand auf und griff nach seinem Hut. Sie klammerte sich an seinen Mantel.

„Gehen Sie nicht fort ... gehen Sie jetzt nicht fort, ...“ stammelte sie.

Schonend, sanft löste er ihre Finger.

„Wir müssen ruhig bleiben, Karla ... ganz ruhig. Unserer Zukunft zuliebe! .. Und wo immer ich fortab sein mag — ich werde warten, Karla.“

Sie erhob sich, taumelte, fiel in die Polsterung des Wagens zurück. Feurige Räder tanzten vor ihren Augen.

[S. 310]

Sie fühlte nicht mehr den Druck seiner Hand, sah nicht mehr, wie er sich neigte unter der schmalen Tür, hörte seine raschen Schritte nicht im Gang ...

Als sie zu sich kam aus der Erstarrung ihres tiefsten Schmerzes und ihres höchsten Glückes, sauste der Zug zwischen vereisten Wassertümpeln und verschneiten Feldern in die dunkle Nacht hinein ....

Graf Gaudlitz schritt aufrecht und entschlossen durch den Menschenknäuel des Bahnsteiges. Er bemerkte nicht, daß ein kleiner, eleganter Herr, in kurzem Gehpelz, einen Zylinder auf dem weißen Lockenkopf, sich rasch an ihm vorbeidrückte.

Nun war der Papa bis nach dem Schlesischen Bahnhof hinausgegondelt, um der Kleinen einen guten Wunsch mit auf den Weg zu geben — ohne jemand von ihrem Anhang zu begegnen ... und mußte gerade den verteufelten Kerl, den Gaudlitz, erblicken, wie er aus dem Zuge stieg —!

Der Papa steckt ärgerlich seine zwei langstieligen Rosen in die Manteltasche und machte kehrt.

Dem Gaudlitz lief er den Rang ja doch nicht ab.

Verzierung, drei Sterne
F

Fürstin Alice Reichenberg schickte einen langen Brief an ihren Bruder. Es war viel darin die Rede von Karla „... Alles ist in Wien auf Karla König gestimmt. Sie hat einen beispiellosen Erfolg gehabt und ihr Gastspiel auf weitere vierzehn Tage verlängern müssen. Kein Modegeschäft, das nicht seine ältesten Ladenhüter unter der Patenschaft ihres Namens wieder in Schwung bringt. Die Schrammeln singen ein G’stanzl auf sie bei Brady. Ronacher hat einen Karla-König-Schampus als neue Hausmarke eingeführt.[S. 311] Die Fiaker vor ihrem Hotel in der Weihburggasse reißen sich um die Ehre, sie fahren zu dürfen. Bösendorfer hat ihr einen herrlichen Flügel zum Geschenk gemacht, die Erzherzoginnen geben Soireen, in denen Karla die ‚große Attraktion‘ bedeutet. Die ersten Blätter bringen Abhandlungen über sie, — heute von einem ersten Musikschriftsteller, morgen von einem Laryngologen, übermorgen von einem Ästheten. Sie ist berühmt, sie ist populär, sie wird bewundert, umworben, geliebt. Und sie tut gar nichts dafür: sie singt, sagt ein paar liebe Worte — nicht übermäßig bedeutend und nicht übermäßig originell; aber wie sie sie sagt — das gewinnt jedes Menschen Herz. Sie steht immer da wie eine, der von allen Seiten Blumen zugeworfen werden, und die sie alle auffangen, keine zu Boden gleiten, keine zertreten lassen will. Das spürt ein jeder, und das ist ihr großer Reiz. Man muß ihr gut sein, muß es ihr immer und immer wieder zeigen, denn ihre Freude hat etwas Erwärmendes und Beglückendes. Selbst mein großer und mein kleiner Rudi sind unter ihrem Bann. Der kleine Graf Doczy aber hat ganz den Kopf verloren. Seine Mama kam vorgestern zu mir und fragte recht naiv, ob man denn die König nit ausweisen lassen könnt’ — ihr Bub wäre toll geworden, hätte die Komtesse Löwenstein von heute auf morgen plantiert, wo er doch wüßte, daß die Ausstattung schon bei Braun bestellt worden sei. Gestern sah ich die Komtesse mit den Doczys in der Oper — sie hat Karla ihr Brustbukett zugeworfen! Ich glaube, sie würfe ihr den kleinen Doczy am liebsten nach, trotz seiner Millionenbesitzung im Böhmischen und der Aussicht, Sternkreuzdame zu werden .... Andeutungen, die Du machtest, mein lieber Junge, erfüllen mich mit großer Sorge. Wenn Du auch stark genug wärest, die Schwierigkeiten zu besiegen, die innerer Art sind und in ihren Familienverhältnissen ihren Ursprung haben — aber wie willst Du es fertig bringen, Karla aus ihren jetzigen Triumphen zu reißen? Dein Vermögen dürfte sie kaum bestechen — sie hat ein Vermögen in ihrer Kehle. Dein[S. 312] Name? Es hat viele nette Gräfinnen Gaudlitz gegeben, aber nicht viele Karla Königs! .. Zudem: Du hast eine Stadt gegen Dich, mein lieber Hans Jochen! Wien würde in seinem augenblicklichen Karla-König-Rausch den Mann steinigen, der sie ihm entführte. Es sind sehr ernste Verhandlungen zwischen der Wiener und der Berliner Hofopernbühne im Gang, um Karla jetzt schon an Wien zu fesseln. Karla unterstützt diese Verhandlungen aufs lebhafteste durch ein großes Aufgebot von persönlichen Beziehungen. Es liegt ihr offenbar alles daran, hierzubleiben. Was Dich betrifft — so wirst Du begreifen, daß ich jede Vermittlung ablehnen muß, solange die Verhältnisse ungeklärt sind. Dein Name fällt nie zwischen uns — darf nie fallen, bis Karla nicht innerlich zu einem Entschluß gekommen ist.“

Gaudlitz lächelte, als er diesen Brief las. Sein Name „fiel nicht“ zwischen den zwei Frauen .... Er hätte Karla soviel Zurückhaltung kaum zugetraut. Und die sagte mehr, als wenn sie ihn nach ihrer offen-kindlichen Art immer auf den Lippen gehabt hätte.

Und noch mehr bedeutete es für ihn, daß sie in Wien bleiben wollte, daß sie sich zu einer Trennung von ihren Angehörigen entschloß ....

Als er das im Schachklub, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, als ein „Wiener Gerücht“ ihrem Papa erzählte, blitzten die blauen Augen des alten Herrn zum ersten Male freundlich auf:

„So ... Sie glauben? Das wäre wirklich möglich? Hm ... Ausgezeichnet ... sehr vernünftig ... endlich mal ... endlich“ ...

Der Papa hatte ganz heiße Wangen und verlor die Partie nach wenigen Zügen.

Gönnerhaft ließ er sich von Gaudlitz durch ein paar Straßen begleiten. Plötzlich blieb er stehen:

„Ich hörte, Sie lösen Ihren Rennstall auf, Graf Gaudlitz ... übersiedeln Sie etwa nach Wien?“

Da war er wieder, der harte Blick, den der Alte haben konnte.

[S. 313]

Gaudlitz schüttelte lachend den Kopf.

„Ich — nach Wien? Nö ... ich übersiedle im Frühjahr auf mein Gut in Pommern, baue meinen Kohl.“

„So ... so“ ...

Sehr freundschaftlich schüttelte der Papa ihm die Hand. Gaudlitz war doch ein famoser Kerl .... Er stellte sich vor ihn hin und faßte ihn am Knopf seines Mantels.

„Unter uns, Graf .... Alles ist nur Sprungbrett im Leben. Wer’s zu benutzen weiß! Meine Tochter wird’s jetzt hoffentlich lernen. Keine Fesseln — weder Ketten, noch seidene Bänder ... Eine Künstlerin muß frei sein ... ganz frei ... ein blinkender Stern dort oben ... für alle. Meine Tochter kann größer werden als die Patti. Gute Nacht, Graf.“

Er drückte ihm flüchtig die Hand und bog mit kleinen, federnden Schritten in eine Seitenstraße.

Gaudlitz rückte an seinem Hut und starrte dem zierlichen kleinen Herrn ein bißchen verblüfft nach. Donnerwetter ja .... Wenn man das so bedachte: ein Gaudlitz, mit einem Millionenvermögen — und der ehemalige Tänzer war imstande und sah es als eine Mesalliance für seine Tochter an, wenn sie ihn heiratete ... Gaudlitz drehte sich ärgerlich auf seinem Absatz um.

Eines war ihm jedenfalls klar, und nicht von heute: mit seinem leeren, müßigen Leben durfte er zu Karla nicht kommen. Er wußte, was er zu tun hatte, und würde es schon mit der ihm eigenen raschen Entschlossenheit ausführen. Der alte Verwalter auf seinem Gute Pinnow würde ihm der beste Lehrmeister werden! Inzwischen besuchte er noch land- und volkswirtschaftliche Vorlesungen, ackerte die einschlägige Literatur durch. Dann machte er die Runde bei den alten Herren, den Freunden seines Vaters, die alle auf ihrer Scholle saßen. Seinen Wandertrieb hatten sie immer mißbilligt. Seine neuen ernsten Pläne würden sie erfreuen. Er stand gerade vor dem Telegraphenamt. Und seiner Eingebung folgend, die froh[S. 314] und stark war, schickte er als erstes Lebenszeichen seit langen Wochen die Depesche an Karla:

„Wie und wo immer — ich werde warten.“

Ohne Unterschrift, ohne Gruß, ohne Bitte um Antwort.

Verzierung, drei Sterne
S

Schmerzchen war die Erste in ihrer Klasse. Ihre Hefte waren am besten gehalten, ihre Aufgaben wußte sie am sichersten. Sie hatte eine Art, die Lehrerin anzusehen, die wie ein Zwang wirkte, nur zu ihr zu sprechen.

Denn Schmerzchen, die es von Hause aus gewöhnt war, Hauptperson zu sein, wollte in der Schule nichts von ihrem Rang einbüßen.

Schmerzchen hatte hochentwickeltes Ehrgefühl und war unbeschreiblich eifersüchtig, aber sie war auch verschlossen und schwer zu gewinnen.

Sie hatte keine Freundin und litt darunter. Aber sie konnte sich nicht entschließen, ihren Arm um ein Mädchen zu schlingen, das sie nicht wirklich liebhatte. Zum Liebhaben kam es aber nicht, weil sie für hochmütig galt und als „Musterschülerin“ verschrien war.

Ihren Versuch, einen häuslichen Verkehr anzubahnen, gab sie bald auf, obwohl Tante Lies für die besten Kuchen und die herrlichste Schokolade gesorgt hatte.

Die Mädchen waren zu neugierig und albern mit ihren Fragen; sie wollten es gar nicht begreifen, daß ihre Mama nicht bei ihr war, sondern im Ausland lebte. Und überhaupt — eine Mama, die am Theater war ... Schauspielerin ....

„Sängerin ist meine Mama, nicht Schauspielerin“, sagte Schmerzchen mit stolzem Zurückwerfen ihres Köpfchens.

„Ach, das ist doch egal“ ...

[S. 315]

Alle bürgerlichen Instinkte dieser kleinen Dinger krochen an die Oberfläche. Abgeschmackte und aufgeschnappte Redensarten sprudelten über ihre unschuldigen Kinderlippen, machten sie welk und alt.

Die einen fanden das interessant, himmlisch, suchten Schmerzchen zu kicherndem Gespräch in einen Winkel zu locken; die andern rümpften die Nasen, renommierten:

„Mein Papa ist Hauptmann“, oder: „Mein Vater ist Geheimrat“, oder: „Meine Mama nimmt mich immer mit, wenn sie im Sommer reist!“

Es kam danach vor, daß Schmerzchen sich die Bilder ihrer Mama ansah, eines nach dem anderen. Sie fand ihre Mama wunderschön. Besonders mit dem langen, wallenden Haar auf dem Rücken. Schmerzchen begriff nur nicht, warum das Haar so viel heller war.

Tante Lis sagte, das sei eine Perücke, und zeigte ihr so eine Perücke im Schaufenster eines großen Friseurs.

Seitdem wendete Schmerzchen ihre Vorliebe dem Bilde von Mama zu, das auf Papas Schreibtisch stand. Da war sie nicht so schön, aber sie lachte so nett und hatte so gute Augen und ...

„Warum fahren wir nicht nach Wien? Zu Mama?“ fragte sie einmal, mit jener ernsthaften Plötzlichkeit, die die Erwachsenen im ersten Augenblick immer in Verlegenheit um die Antwort brachte.

Altmann zog sein kleines Mädchen auf den Schoß.

Warum nicht? ....

Vor einigen Monaten war er dort gewesen. Die sehr elegante Dreizimmerwohnung in der Kärntner Straße hatte keinen Platz für ihn gehabt. Er hatte im Hotel absteigen müssen.

Karla hatte tausend Entschuldigungen gestammelt, hatte ihm die Hand gedrückt — aber es war doch so geblieben, und er hatte die acht Tage auf drei verkürzt.

Es war etwas ganz Neues und Fremdes zwischen Karla und ihm. Wenn er „liebes Kind“ sagte, so schien es ihm oft, als wäre er wirklich nur ihr alter Freund, nicht[S. 316] ihr Mann mehr. Jeder Zärtlichkeit wich sie aus. Und war doch gut und lieb.

Sie brachte einen Apfelstrudel auf den Tisch, den „sie selbst“ gebacken hatte, wie sie mit Stolz erklärte. Ihr kleines Hauswesen ging am Schnürchen.

„Wie du dich herausgemacht hast ...“

Sie wurde rot, nickte.

„Ja ... das mußte ich wohl lernen. Ich habe viel Besuch, und die Leute sind hier verwöhnt. Ab und zu muß ich einladen ...“

Altmann schlug das Herz bis in den Hals hinauf:

„Wer kommt denn alles zu dir? ...“

Wie ein hinterlistiges Ausfragen kam es ihm vor. Aber sie antwortete harmlos, ohne sich zu besinnen, nannte die Namen.

Er fragte weiter:

„Und deine Gönnerin ... die Fürstin Reichenberg? ...“

Da färbte sich ihr Antlitz mit dunkler Glut.

„Ja ... die kommt auch zuweilen — sehr selten. Du kannst dir denken ... eine so große Dame ...“

Er zerschnitt den Apfelstrudel in immer kleinere Stücke, vergaß zu essen.

„Ist ihr Bruder hier ... der ... wie hieß er doch ... Graf Gaudlitz, glaube ich ...?“

Nie war ihm das Komödiespielen so schwer geworden, und er wagte es nicht, ihr ins Gesicht zu blicken. Er hörte nur ihre Stimme, eine merkwürdig dunkel gefärbte, warme Stimme.

„Ich habe ihn nicht gesehen seit Berlin ... aber die Fürstin sagte mir, er sei auf seinem Gut in Pommern ...“

Er wollte es noch einmal hören, dieses „ich habe ihn nicht gesehen seit Berlin“ — aber wie sollte er es anfangen, daß sie es sagte?

Die Hände wurden ihm kalt und feucht dabei.

Sie klingelte dem Mädchen, daß es den Mokka brächte. Sie selbst holte den Kognak aus der Kredenz.

Er sah, wie ihre Hand leicht zitterte, als sie einschenkte.

[S. 317]

Und er wagte keine weitere Frage.

Später ließ sie ihn kaum zur Besinnung kommen, schleppte ihn durch die Museen und Theater, auf den Kahlenberg und nach Schönbrunn.

Sie war unermüdlich, gesprächig, heiter, aufmerksam.

Aber dann sprach sie von dem Kinde, mit dem zitternden Unterton heißer Sehnsucht.

„Wenn du mir Schmerzchen geben wolltest, auf ein paar Monate ... auf ein paar Wochen ...“

Sie hing sich dabei in seinen Arm ein. Ihr blühendes, frisches Gesicht streifte seine Wange, der Duft ihres braunen Haares stieg zu ihm auf. Und sie wurde bleich vor Erregung, während ihre Augen flehend auf ihn gerichtet blieben.

Da strafften sich seine Glieder, und seine Mundwinkel zogen sich herab wie im Krampf.

„Auf das Kind mußt du verzichten, solange du hier bist — es ist zart und starken, neuen Eindrücken nicht gewachsen.“

Er sah es ihr an, wie sie losschreien wollte. „Das ist nicht wahr ... es ist nur ein Vorwand!“ ...

Und er wartete darauf. Denn er wollte es zugeben. Ja, es war ein Vorwand! Das Kind gab er nicht her ... Das sollte sie ihm zurückbringen — sollte sie halten an seiner Seite für alle Zeit!

Oder aber sollte ihn mit herführen zu ihr! Er war in diesem Augenblick bereit, Berlin und „seine Leute“ zu lassen — wenn sie nur ein Wort sagte! Nur ein Wort. Luise sollte wieder zu Adele ziehen, sollte sehen, wie sie fertig wurde — er gehörte zu Karla, wie Karla zu ihm gehörte. Sie war die Mutter seines Kindes. Und das Kind mußte sie ihm wieder zuführen — hier oder dort!

Karla löste ihren Arm aus dem seinen. Über der Gloriette mit den lichtumwobenen Säulen funkelte die Herbstsonne. Gelbe Blätter rieselten von den Bäumen, und der Himmel wölbte sich blaßblau, mit violetten Schatten über der fernen Stadt.

Von irgendwo klang übermütiges Lachen. Eine junge[S. 318] Männerstimme rief: „... ich werde warten ... war—ten ...!“

Karla fuhr zusammen. Es war nur ein Wort — ein Klang — ein Bild. — Dort oben im Pommerschen saß auch einer, der wartete ... wartete auf sie.

Und sie liebte ihn.

Nie hatte sie es so gefühlt wie jetzt. Und dabei stammelte sie: „Du kannst mir doch mein Kind nicht vorenthalten ... mein Kind!“

Hart antwortete er — und wußte nicht, woher die Kraft ihm kam zu dieser Härte:

„Der Platz des Kindes ist im Elternhause. Wir erhoffen nichts sehnlicher, als daß du kommst.“

„Ich bin doch gebunden ... das weißt du ...“

„Es gibt Urlaub — Ferien ... Das Kind wartet auf dich.“

Da taumelte sie zurück, stieß mit dem Kopf gegen einen Baumstamm, wendete sich ab und weinte.

Er schritt hin und her auf dem weichen Moosgrund, bohrte seinen Stock in das lockere Erdreich. Seine Lippen zuckten, seine Brauen ...

„Wir wollen jetzt heimgehen, denke ich ...“

Er lächelte bitter. „Heimgehen!“ Er — in sein Hotelzimmer, sie — in ihre Wohnung. Sie drückte ihr Taschentuch gegen die Augen, ihre Lippen glühten heiß.

Kalter, grauer Dämmerschein senkte sich nieder. Lautlos still war es ringsum — die Stadt lag schmutzig grau und tot hinter Rauch und Nebel. Karlas Röcke rauschten seidig unter dem einfachen Loden, die Feuchtigkeit löste den Duft von ihrem Spitzenbäffchen, daß sie einherschritt wie in einer wohlriechenden Wolke.

„Gehen wir“, murmelte sie tonlos.

Und der Abstieg begann. Langsam, dann immer rascher wurden ihre Schritte, als wollten sie dem Dunkel entfliehen, das aus dem Walde auf sie zukroch. Sie sprachen kein Wort. Als wären sie voll Angst, Worte zu hören und zu[S. 319] sagen, die alles zerschnitten zwischen ihnen. Erst im Wagen brach Altmann das Schweigen.

„Ich fahre morgen früh zurück, nach Hause. Soll ich etwas bestellen?“

Er konnte es nicht sehen, wie das Blut ihr aus den Wangen lief, und er hörte das Zittern ihrer Stimme nicht beim Wagengerassel, als sie fragte:

„Morgen früh schon?“

Aber sie unterdrückte ein Aufatmen.

„Morgen singe ich ...“

„Ja ... ich weiß.“

Das brachte er nicht über sich. Sie als eine Fremde da oben zu sehen. Er brachte auch die Freude nicht auf an ihrem Erfolg. Zu gut ahnte er, was dieser Erfolg ihn kostete.

Aber sie bat ihn, mit zu ihr heraufzukommen. Sie hatte allerlei gekauft — für die Schwägerinnen, für Vicki, für Schmerzchen vor allem.

Er wehrte ab mit düster zusammengezogenen Brauen: „Das ist alles viel zu kostbar ... Du hast die Verhältnisse vergessen. Für Vicki allenfalls ...“

Vicki Völkel rauschte in Seide und Samt, seit ihr Bodo Aufträge hatte. Sein erstes Haus hatte verblüfft. Man fing sogar schon an, von einem Völkelschen Stil zu sprechen. Er machte Schule, seit er einen reichen Teilhaber gefunden hatte. Es hieß, er sollte ein Theater bauen. Vicki sprach von nichts anderem. Völkels wohnten jetzt in dem erst neuerbauten Hause am Kurfürstendamm draußen ...

Sie hielten zwei Mädchen und eine Nurse. Trotzdem kam es noch vor, daß Vicki die Mutter um einige Goldstücke anpumpte. Aufgeschrieben und eingeteilt wurde nichts. Die „Kasse“ waren die Brief- und die Hosentaschen Bodo Völkels! Vicki hatte keine Ahnung von seinen Einnahmen. Aber da er ihr die Hunderter über den Tisch zuwarf, so wirtschaftete sie darauf los, bis es alle war. Es kam aber vor, daß er, ohne sie vorher zu benachrichtigen, plötzlich auf eine Woche und mehr verreiste[S. 320] — mit der „Kasse“ natürlich. Langte es nicht bis zu seiner Rückkehr, wurden die Eltern angepumpt. Ohne Bedenken und aus dem sicheren Gefühl des Vollen heraus. Aber zurückgezahlt hatte Vicki kaum je etwas.

Jedenfalls würde sie sich über den hübschen Schlafrock freuen. Altmann hatte sie eines Morgens in einem alten Rock und vertragener Bluse überrascht und daraus geschlossen, daß es vorläufig noch nicht für alles „langte“, sondern das Geld hauptsächlich nach außen hin angelegt wurde.

Und dabei saß Altmann doch wieder am Abendbrottisch in Karlas Wohnung. Sie hatte ihn nicht fortgelassen. Als müßte sie ihm noch diese letzte Herzlichkeit erweisen, ehe er abfuhr. Sie sagte stockend und die Farbe wechselnd:

„Mich kostet mein Leben so wenig — ich habe immer so viel Geld übrig. Du brauchst mir nur zu sagen, wenn ihr mehr zu Hause braucht. Auch wegen Fritz ... So ein junger Leutnant gibt mal was aus.“

Altmann brachte kaum einen Bissen herunter. Er fragte sich, warum er denn nur hergekommen, warum er sich dieser Qual ausgesetzt hatte. Warum er nicht abgeschlossen hatte mit ihr — schon damals, als sie ihm die Depesche schickte: „Vertrag mit Berlin gütlich gelöst, bleibe Wien.“

Wie ein dumpfer Schlag vor die Stirn war ihm die Depesche gewesen, und er hatte nicht gewußt, was er tun sollte. Dann hat er sich entschlossen, abzuwarten, was weiter noch von ihr kam. Aber es kam nichts. Nur alle paar Wochen die Bitte: „Gib mir Schmerzchen!“ Und von Zeit zu Zeit Karten an Luise, an Alwin — an ihn selbst. Zeitungsausschnitte — Geld, Geschenke ... und so selten ein Brief. Ein Brief, der nichts erklärte, nur nackte Tatsachen brachte oder einen leidenschaftlichen Ruf nach dem Kind.

Und jetzt wieder nur die Frage: Was braucht ihr? Habt ihr genug? ... Als wollte sie sich loskaufen von ihm mit all dem.

Er strich mit der flachen Hand heftig über das Tischtuch.

[S. 321]

„So ein junger Leutnant hat sich zu bescheiden. Das habe ich ihm geschrieben. Ein für alle Mal. Wir leben einfach. Ich könnte es aus eigenem bestreiten, wenn nicht Fritz ... und die Wohnung ...“

Es würgte ihm am Halse und er fuhr hastig fort: „Die Wohnung möchte ich behalten ... Ich habe jetzt eine Schauspielschule und brauche Platz.“

Er dachte: „Und schließlich findest du heim ...“

Aber er sagte es nicht. Die Bewegung schnürte ihm den Hals vollends zu. Sie aber starrte auf den Tisch herab und krampfte die Hände ineinander.

Es waren Minuten, die sich zu Ewigkeiten dehnten.

„Selbstverständlich führe ich Buch über alles, was du schickst. Was übrigbleibt am Ende des Monats, geht zum Teil an die Sparkasse auf Isoldens Namen, zum Teil an eine Versicherung. Wenn sie zwanzig Jahre alt ist, wird ihr eine nette Summe ausgezahlt. Sie kann dann etwas anfangen oder heiraten ... kurz, sie kann sich ihr Leben schaffen ...“

Karla sah ihn mit großen, feuchten Augen an.

„Das ist schön von dir, Ernst ...“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Das ist selbstverständlich. Dazu sind die Eltern da ... Das ist Notwehr gegen das Leben. Das lernt man an Beispielen.“

Sein Ton wurde wieder lehrhaft, ohne daß er es wollte. Und dieser Ton gab sie der Wirklichkeit zurück.

„Nächsten Sommer singe ich in Bayreuth — weißt du das schon?“

Sie sagte es sehr feierlich. Was gab es denn auch Größeres für sie als ihr Kind, ihre Liebe und Bayreuth?!

Es waren die Gipfelpunkte ihres Lebens, um die all ihre Sehnsucht, alle ihre Gedanken kreisten. Bayreuth — das hatte sie noch erleben wollen — bevor sie dem Warten Erfüllung gab.

[S. 322]

Bayreuth sollte ein Abschied und ein Wiedersehen sein — ein glanzvolles Ende und ein seliges Beginnen!

Aber sie brachte nichts von alledem über ihre Lippen.

Er sah ihre Bewegung. Deutete er sie richtig oder falsch —? Er ergriff ihre beiden Hände, drückte sie an die Lippen und ging.

Sie rührte sich nicht, lehnte totenbleich an der Wand. Hatte er verstanden? Oder hatte er Hoffnung geschöpft — eine Hoffnung, die sie nicht erfüllen konnte ...?

Die ganze folgende Nacht war er aufgeblieben. Hatte sich zu Ronacher gesetzt und hatte den König-Schampus getrunken, war zu den Schrammeln gefahren und dann von Café zu Café bis zum frühen Morgen. Hatte sich in seinem Hotelzimmer aufs Bett geworfen und war dann abends in die Oper gegangen ... ganz oben, „aufs Paradies“ hinauf, wo die Enthusiasten sich aneinanderdrängten.

Und die verwöhnte Wiener Jugend raste, wie einst die Kieler Jugend, wie die Neger und die Brasilianer gerast hatten.

Aber damals war er es gewesen, der ihre Schritte leitete, sie schützte; jetzt bedurfte sie seines Schutzes nicht mehr, war ihm entwachsen, entflohen ...

Der Vorhang fiel ein zweites Mal herab. Brausende, tosende Rufe erfüllten die heiße Luft.

Karla erschien wieder und immer wieder. Durch sein großes Opernglas konnte er jeden Zug in ihrem Gesicht erkennen. Er sah auch, wie sie plötzlich stutzte, wie durch die Schminke hindurch ein heißes Rot ihr in die Schläfen stieg und ihre Augen sich starr auf eine Loge richteten. Er beugte sich vor, hob sein Glas bis zur Höhe des ersten Ranges. Da schoß auch ihm das Blut zu Kopf, und seine geraden, dichten Brauen zogen sich heftig zusammen.

In einem nilgrünen, tief ausgeschnittenen Samtkleid, Brillanten und Perlen um den blendend weißen, schlanken Hals, zwei flimmernde Brillantsterne im tiefgewellten, leuchtend roten Haar saß Mariette de Santos. Neben ihr[S. 323] John Russel, in Frack und weißer Binde, den kühnen Abenteurerkopf vorgebeugt über die Brüstung, die Hände mit den krallenartigen Nägeln zu lautem Klatschen vorgestreckt. Hinter dem Stuhl seiner Frau stand Don Pedro de Santos. Sein Bart lag jetzt lang und breit wie ein Fächer auf dem bläulichweißen Frackhemd. Er stand da, regungslos, feierlich, wie es seine Art war, mit dicken, müden Lidern und sattem Besitzerlächeln.

Elegant und temperamentvoll schlug Madame de Santos ihren Spitzenfächer gegen den Rücken ihrer Hand, auf die Gefahr hin, ihn zu zerbrechen, ergriff dann einen Teerosenstrauß, der vor ihr auf dem roten Samt der Logenbrüstung lag, und warf ihn mit graziösem Schwung auf die Bühne.

Er flog Karla zu Füßen. Sie bückte sich nicht nach ihm und übersah es, daß ein Kollege ihr ihn reichte. Mit einer letzten Verneigung ging sie ab und kam trotz allen Rufens und Tobens nicht wieder.

Die Luft wurde Altmann eng und schwül. Er glaubte ersticken zu müssen. Mit den Ellbogen bahnte er sich einen Weg aus dem Menschenknäuel heraus und stürzte die endlosen steinernen Treppen hinunter.

Auf der stillen, frostig kalten Ringstraße aber blieb er stehen und schöpfte tief Atem.

Hatte er das nicht schon einmal empfunden? Hatte er das alles nicht schon einmal erlebt ...? Wo nur? ... Wann? ...

Und plötzlich wußte er es.

An jenem Abend war es, da die Nordeni von ihrem Elternhause sprach, von ihrem Vater, der gekommen war, sie zu hören, und dann davongegangen war auf Nimmerwiederkehr ... an jenem Abend, da auf einer mondbeglänzten Terrasse Brasiliens ein rotes Schöpfchen vor ihm hergegaukelt war, ihn um all seine Besonnenheit gebracht hatte ...

Kaum je war ihm der Abend noch eingefallen. Nie hatte er mehr dieses kurzen Abenteuers gedacht, und nie anders, als mit heimlichem Ärger über sich, mit kalter Verachtung gegen das kokette Pariser Grisettchen.

[S. 324]

Er hatte Karla albern und geschmacklos gescholten, als sie einst darauf zurückgekommen war, hatte es nicht mal der Mühe wert gefunden, sich ihre Verzeihung zu erbitten — und nun hatte er gesehen, wie auch jetzt noch alles harte Abwehr in ihr war gegen die Frau, um die er ihrer nur auf kurze Stunden vergessen? War er denn selbst an allem schuld, an der Entfremdung, der Ferne zwischen ihnen? ... Hatte diese Entfremdung nicht schon damals begonnen in Brasilien, und hätte er den Weg noch finden können zu ihr, als sie aus bangem Schauer heraus ihm an den Hals geflogen war am Totenbett der Nordeni?

Altmanns Schritte hallten in den menschenleeren engen Gassen der fremden Stadt, die ihn dünkte wie ein unentwirrbares Labyrinth. Nun stand er zum fünften oder sechsten Male vor der Stefanskirche. Aber er mochte nicht fragen, ließ sich die Richtung nicht gerne weisen. Und so war er immer denselben Weg gegangen, und es war immer der falsche gewesen!

In Wien! Im Leben! In seiner Ehe!

Hatte sich im Kreise herumgedreht und war zum Ausgangspunkte zurückgekehrt — in der Sackgasse stecken geblieben — bei „seinen Leuten“.

Da fiel ihm das Kind ein.

Und wie ein Sonnenstrahl durchbrach es das dunkle Gewölk um ihn herum.

Mochte sein Leben verpfuscht, vernichtet sein — das Kind hielt ihn aufrecht. Die Liebe seines Kindes sollte die Nacht erhellen, die sich um ihn zusammenballte. — — —

Und jetzt, nach so langen Wochen, saß Schmerzchen auf seinen Knien und fragte, wie Kinder fragen, die lächelnd auf Wunden treten:

„Warum fahren wir nicht nach Wien?“

„Du dummes, dummes Schmerzchen du ...“

So gab auch er ihr, aus verbissenem Weh heraus, den Namen, den die Mutter ihr gegeben, aus schmerzerfüllter Seligkeit.

Verzierung, drei Sterne

[S. 325]

D

Diese letzten Wiener Herbsttage — Karla vergaß sie nicht so bald. Auch ihre Empfindungen nicht, an jenem Opernabend, da sie Mariette de Santos in der Loge erblickt hatte.

Der Theaterdiener brachte ihr die Teerosen in ihre Garderobe, wo bereits ein großer Korb mit Riesenorchideen von John Russel stand.

Sie warf die Rosen der Ankleidefrau zu.

Die zornige Erregung über die Dreistigkeit der in all ihrer Millionenpracht immer noch grisettenhaften kleinen Pariserin überwog fast die Freude über die Anwesenheit John Russels.

Doch er kam zu ihr am nächsten Tage. Halb Freund, halb Geschäftsmann, in alter brutaler Offenheit.

Well, Karla König ... ich hätte nicht geglaubt, daß Sie noch immer in Gefühl machen, wie man in Berlin sagt. Ich habe die de Santos’ in Paris getroffen, und wir sind zusammen hergereist. Von Paris aus hatten wir telegraphisch die Loge bestellt. Dear me, die kleine Frau hat vor Wut über Sie einen Weinkrampf bekommen im Zwischenakt — sonst wäre ich schon gestern in Ihre Garderobe gekommen. Ich wußte, daß Ihr ... daß Mister Altmann in Berlin geblieben ist. So nahm ich an ... well, wir wollen nicht davon sprechen. Man häutet sich alle sieben Jahre — schöne Frauen sollen sich sogar öfter häuten.“

Karla lächelte und legte ihre Hand in seine Pranke.

„Sie haben es immer nur gut mit mir gemeint. ... Aber das muß ich Ihnen sagen, mit dem Häuten ist es nichts bei mir.“

„Hat auch was Gutes, Karla König ... das macht dickfellig mit den Jahren ... unverwundbar ... Und dann geht’s einem erst recht gut!“

Sie schüttelte leise den Kopf.

[S. 326]

Aber John Russel war nicht gekommen, um zu philosophieren. Er kam mit sehr bestimmten Vorschlägen. Wie lange lief der Vertrag mit der Wiener Oper? Bis zum übernächsten Jahr vorläufig? Schön. Dann sollte sie nicht verlängern, nicht anschließend jedenfalls. Ein Jahr sollte sie sich frei halten für die Metropolitan in New York. Im Juni acht Vorstellungen in London. Wenn sie vernünftig wäre, konnte er für das darauffolgende Jahr mit St. Petersburg abschließen. Er bot ihr ein Vermögen.

Aber sie schüttelte wieder den Kopf. Sie war nicht „vernünftig“ in seinem Sinne.

Er lehnte sich zurück in den Sessel und legte die Beine übereinander. Es schwante ihm — das gab eine lange Sitzung.

„Ich muß Ihnen was sagen, Karla König, es ist ja diesmal gut ausgegangen — aber dem Kapelle hab’ ich eins ’reingewürgt. War ja Unsinn mit Berlin. Berlin ist Ende, nicht Anfang. Das eine Mal hat man Sie gehen lassen, ein zweites Mal nicht. Hofoper ist eine Lebensversicherung! Der Tod für den Künstler. Dazu sind Sie zu jung. Ein Name muß rollen. Rauf und runter. Muß Spektakel machen, anwachsen, groß werden von allem, was er angesammelt hat, was an ihm hängen geblieben ist! Sie sagen Bayreuth. Kapelle besauft sich vor Entzücken. Aber ich sage: Bayreuth ist wie ein Orden. Ich biete Ihnen mehr! Ich biete Ihnen Gold. Millionen. Weltruf.“

Karla saß vor ihm in einem einfachen hellgrauen Kleid und hatte die Hände über dem Knie verschlungen. Sie hielt ihre sprechenden braunen Augen unter den kaum angedeuteten, hochgezogenen Brauen beharrlich gesenkt. Nur ihre Wangen brannten und verrieten ihre innere Bewegung.

Sie dachte an Schmerzchen. Dachte daran, daß es ihre Pflicht war, für sie zu sorgen. „Ihr Kind soll das meine sein“, hatte Gaudlitz gesagt .... Wenn aber Altmann die Sorge des fremden Mannes um das Kind, das ja auch das seine war, zurückwies? Welchen Leiden ging sie entgegen,[S. 327] wenn ihr Schmerzchen, ihr erstes, angebetetes Kind, in kümmerlichen Verhältnissen groß wurde, während ihre künftigen Kinder in Reichtum aufwuchsen, auf den Höhen des Lebens wandelten ...?

John Russel kniff seine scharfblickenden Habichtaugen zusammen. Holla ... war da wieder ein Mann im Spiel? Wieder einer, den er mitzerren, durchfuttern mußte? Wieder ein Sekretär, Begleiter, Geliebter oder künftiger Gatte?

Well, Karla König, überlegen Sie nicht lange. Freie Reise für Sie und Zofe und — für noch eine Person, wenn Sie wollen ...“

Da mußte sie lachen.

Und das Lachen gab ihr den Selbsterhaltungstrieb zurück, das stärkste Gefühl für ihr ureigenstes Recht als Frau. Wie kleinmütig sie nur gewesen war. Sie schlug die Hände zusammen und lachte wieder, hell, froh und im tiefsten Innern beglückt über ihr befreiendes Lachen.

„Also abgemacht?“ John Russel hielt ihr die Hand hin.

Sie aber sagte, noch immer vergeblich mit dem Lachen kämpfend: „Abgemacht ist, daß Sie jetzt bei mir speisen werden. Sonst nichts. Nicht New York, nicht St. Petersburg — nicht einmal Wien. Ich verlängere den Vertrag nicht und schließe keinen anderen.“

Sie legte ihren Arm in den des zum erstenmal vor Verblüffung sprachlosen John Russel und zog ihn mit sich fort in das kleine Eßzimmer.

An diesem Nachmittag aber schickte auch sie ihr erstes Lebenszeichen an Gaudlitz:

„Warten bis nach Bayreuth.“ — — —

— — — Lang und still dehnten sich die Tage in Adelens neuer, kleiner Wohnung. Wenn sie mit Hilfe der Bedienungsfrau ihre drei Stuben instand gesetzt, ihren Marktbesuch erledigt und das Mittagessen gekocht hatte, setzte sie sich auf den hohen Tritt vor dem Fenster und spähte nach ihrem Manne aus. Eines Tages ließ sie sich sogar den unter altem Gerümpel gefundenen „Spion“ am Fenster[S. 328] anbringen. Der brachte ihr die größte Zerstreuung, indem er ihr das Bild der Straße in ihre stille Stube warf. Und auch während ihr Mann seinen Nachmittagsschlaf hielt oder seine Privatstunden gab, saß sie vor dem stummen Berichterstatter des Straßentreibens und flickte und stickte. Es war ihr kaum bewußt, daß sie dasselbe tat, was ihr einst in jungen Mädchenjahren als der Gipfel des Stumpfsinns an ihrer Mutter erschienen war.

Es waren seltene Festblicke, wenn Vickis „Nurse“ an ihrer Tür läutete und den eigenwilligen, stets opponierenden Robbi hereinzerrte. Robbis Gunst war nur von Gassenjungen zu erringen. Großmamas Kuchen und Schokolade machten ihm nicht den mindesten Eindruck. Von dem Zeug bekam er zu Hause so viel er wollte. Er greinte und war so lange unausstehlich, bis er wieder draußen war.

Der Enkel war ein Ruppsack, Vicki in ihrer Fahrigkeit kaum noch für ein ernstes Gespräch zu brauchen. Sie hatte nie Zeit. Nicht in, nicht außer dem Hause. Kein gemütliches Fleckchen gab es bei ihr, wo sich Adele zum Geplauder hätte niederlassen wollen, und wenn es klingelte, zuckte Vicki zusammen — ob es am Telephon oder an der Wohnungstür war. Es gab immer Plötzlichkeiten: Besuche, die kamen oder gemacht werden mußten, ein Auftrag ihres Bodo, der keinen Aufschub erduldete, ein Brief, der jetzt in dieser Stunde aufzugeben war. Vicki war immer auf dem Sprung, immer unruhig, zerstreut, auf Meilen entfernt mit allen Gedanken ...

Und wenn gar der Schwiegersohn nach Hause kam: „... die Mama ist da? ... So ... ja ... ’Tag, aber ... auf mich bitte zu verzichten ... ich hab’ zu arbeiten ... ich habe Geschäftsbesuch ... ich muß verreisen ...“ Dann klappten Türen — zwei — drei, als wollte er sich verstecken! Vicki lief wie ein Irrwisch umher, von ihm zu ihr — von ihr zu ihm, rote Flecke auf den Wangen ....

Adele kannte diese heißen roten Flecken! Wußte, was an Hast und Erregung hinter ihnen steckte ... Nein — Vickis Haus war nichts für sie. Das war ähnlich, wie wenn[S. 329] man zwischen zwei elektrischen Straßenbahnen und einem Automobil eingeklemmt war und nicht ’raus wußte! Diese Aufregung genoß sie zehn Mal am Tage an anderen — wenn sie in ihren „Spion“ blickte ... Dafür dankte sie.

Blieb Fritz.

Adele’s Augen leuchteten und feuchteten sich zugleich, wenn sie an ihn dachte.

Alle Frauen sahen sich nach ihm um auf der Straße, so ein hübscher, flotter Leutnant war er. Flott ... ja ... zu sehr. Unbekümmert, liebenswürdig dreist.

„Kram’ in deinem Strumpf, alte Dame ... da findest du noch ein paar Goldfüchse, wie?“

„Heute nehme ich meine alte Dame mit ins Schauspielhaus ... he? Kabale und Liebe! Was zum Weinen ... entzückend!“

Er brachte ihr ein Veilchensträußchen für einen Groschen, eine Schachtel Pralinés für fünf Mark, bestand auf einem Wagen, dem er die „Tour“ bei ihrem Einsteigen bezahlte, und holte sich am nächsten Morgen „was aus ihrem Strumpf“.

Sie schüttelte den Kopf, sie weinte sogar. Er aber lachte.

Lachte sorglos beruhigend.

„Meine alte Dame“ — „Mein alter Herr“ — es klang feudal. Es brachte einen Hauch von Vornehmheit in die bürgerliche Dreizimmerwohnung. Adele bestand darauf, daß ihr Mann den Zylinder aufsetzte, wenn er mit seinem Sohne ausging. Und sie sah, wie auch seine Augen aufleuchteten, wenn er den frischen blonden Jungen mit den strammen, schlanken Gliedern vor sich stehen sah.

Selbst Vicki fand Zeit, mit dem Bruder auszugehen, wenn er aus Küstrin über Sonntag Berliner Luft schnappen kam. Völkels waren überhaupt „patente Menschen“, erklärte Fritz zur großen Beruhigung der Mutter, die sich über die neue geschwisterliche Zusammengehörigkeit freute.

Manchmal frühstückte er mit dem Schwager, beim[S. 330] Austermeyer. Es waren Bodo Völkels beste Stunden, und er war dann einem kleinen Pump sehr zugänglich. Selbst einem Pump, der nie zurückgezahlt wurde.

Schwieriger wurde Fritz sein Verhalten zu Altmann und Luise. Er wußte mit diesen zwei starren, ernsten Menschen, deren Leben so streng geregelt war, nichts anzufangen.

Wenn auch Luise ihm noch manchmal mit der hageren Hand über das blonde gescheitelte Haar strich, Altmanns Hand legte sich nur schwer auf seine Schulter, um der Frage Nachdruck zu geben:

„Keine Dummheiten gemacht, wie? Alles in Ordnung? Ich möcht’ es mir auch ausbitten!“

Das war kein Ton, der ihm eine Beichte erleichtert hätte.

Bei Tisch saß er strammer, als wenn er der Kommandeuse seine Aufwartung machte.

Er wußte nicht, wohin mit seinen Beinen und seinen Worten — so ernst blickten der Onkel, die Tante und selbst das kleine Bäschen mit den braunen Zöpfen.

Selbst nach der „Tante Karla“ wagte er kaum zu fragen, seit die Antworten so merkwürdig einsilbig gelautet hatten und Vicki ihm unter dem Siegel des Vertrauens einmal zugeraunt hatte:

„Weißt du ... da ist was mulmig ... Daran würde ich in der Landgrafenstraße lieber gar nicht tippen. Bodo sagt, sie wäre jetzt eine ganz große Nummer in Wien — da kann man sich ja denken, nicht wahr? Mir tut nur das Kind leid. Herrgott, hat sie sich mit ihrem ‚Schmerzchen‘ gehabt! Es war wirklich nicht mehr schön — na, und was steckt hinter allen ihren Worten? ... Gar nichts. Das ist eben so am Theater. Mama hat schon ganz recht, wenn sie sagt, daß Onkel Ernst im kleinen Finger wertvoller ist als sie. Ja ... er hat eben der Bühne entsagt und sich ganz der Erziehung seines Kindes gewidmet. Das ist doch gewiß hochachtbar ... da bin ich ganz Mamas Meinung.“

Einmal, zwischen zwei Zigaretten, im Zimmer des Vaters,[S. 331] brachte Fritz das Gespräch auf Karla — schnodderig, ein bischen überlegen.

„Amüsiert sich wohl in Wien, die gute Tante, wie? ...“

Aber er brach ab, als er sah, wie der Vater erblaßte.

„Untersteh’ Dich nicht ... hörst Du ... untersteh’ Dich nicht, in diesem Ton von ihr zu sprechen! Noch ein Mal — und Du kriegst es mit mir zu tun!“

Das junge Blut huschte Fritz über die Stirn. Er stand auf, zupfte an seinem Kragen.

„Bitte gehorsamst um Verzeihung ... es lag mir fern ... es lag mir wirklich ganz fern.“

Innerlich dachte er: Sieh Einer meinen alten Herrn an! Hätt’ ich ihm gar nicht zugetraut! ...

Es war anerkennend; aber ihm war nicht mehr ganz behaglich in der einfachen Studierstube, mit dem alten bequemen Sessel, den gestrichenen Bücherregalen und der großen Nietzschebüste auf dem Sockel hinter dem Schreibtisch.

An den Weihnachtsabend erinnerte er sich genau, da der Vater sie zum Geschenk erhalten, und erinnerte sich auch noch, wie die Mutter mit spitzen Fingern die Bücher hochgehoben, die der Vater geschenkt hatte.

Donnerwetter ja ... sein alter Herr mochte wohl was übrig haben für die hübsche, lustige Schwägerin mit der schönen Stimme ... Er selber war ja auch verknallt in sie gewesen. Eigentlich nett von seinem alten Herrn ... Da fiel plötzlich all der dicke, klebrige Schulstaub ab, und es kam der Mann zum Vorschein, der Kamerad, der Geschlechtsgenosse zum mindesten, der sich ritterlich vor der Frau aufpflanzte, der seine Verehrung galt ...

„Ehrenwort, Papa ... war ganz harmlos, die Frage ... ganz harmlos ...“

Alwin Maurer löschte in der Erregung seine halbgerauchte Zigarre.

„Na ja, mein Junge ... das will ich auch annehmen. Denn Du ... gerade Du ...“

Er dachte an das Schweigen, zu dem er sich Altmann[S. 332] gegenüber verpflichtet hatte, als er Karlas Hilfe angenommen hatte, und winkte mit der Hand ab.

„Na ja ... also ... Kein Wort weiter.“

Fritz ruhte nicht eher, als bis der Vater mit ihm ausging, Versöhnung feiern und ein Glas leeren auf das Wohl der Tante.

„Wir zwei allein, alter Herr ... in einem gemütlichen Eckchen — is’ recht?“

Dr. Maurer sah ihn an, und ein blasses Lächeln überflog sein graues Gesicht. Was aus dem Rüpel doch geworden war! Aus dem „verdammten Bengel“, den er bis zu seinem vierzehnten Jahr in der Furcht des Stockes gehalten hatte. Bis zu dem Tage, da Karla gekommen war und von dem Apothekerssohn erzählt hatte — mit ihrer jungen, warmen Stimme.

Diese Stimme hatte ihm den Stock aus der Hand gewunden ... hatte vielleicht in letzter Stunde den neuen Weg gezeigt, den er als Vater zu gehen hatte. Hatte ihn Milde, Nachsicht, Verständnis gelehrt, hatte ihm einen Kameraden geschenkt in seinem Sohn!

„Gehen wir, Junge.“

Und heimlich, auf Zehenspitzen, damit Adele sich nicht an sie hinge mit Fragen und Einwänden, schlichen sie ins Vorzimmer, holten ihre Mäntel vom Riegel und zogen die Tür leise hinter sich ins Schloß.

Eine Stunde später ging eine Karte ab nach Wien, Kärntner Straße: „Meine liebe Karla! Sitze hier mit meinem Jungen und trinke mit ihm auf Dein Wohl, Deinen Erfolg und Dein Glück. Alwin.“ Und darunter in eleganter, flüchtiger Schrift: „Handkuß von Deinem gehorsamen Neffen und Bewunderer Fritz.“

Als sie heimkehrten, Fritz bereichert um einen blauen Lappen, Dr. Maurer in gehobener Stimmung, sagte er:

„Wollen wir doch wiederholen, die kleine Kneiperei — was, mein Junge?“

„Selbstredend, alter Herr! Wird mir ein Hochgenuß sein ...!“

[S. 333]

Und er trug Grüße für Mama auf und verabschiedete sich mit herzlichem Händedruck vor dem Haustor — weil er „nach Küstrin zurückmußte“! ...

In Wirklichkeit hatte er eine Verabredung mit Kameraden bei Hiller. — — —

— — Zum Frühjahr ließ Alwin Maurers Gesundheitszustand wieder viel zu wünschen übrig. Es stellten sich ernstere Beschwerden und schließlich Anfälle von Gallenkolik ein. Der Arzt warnte vor Aufregungen und Überarbeitung.

Adele lief jetzt wieder alle Tage zu Luise, klagte ihr Leid.

Luise erbot sich, mit dem Bruder zu sprechen. Alwin mußte diesmal nach Karlsbad — unweigerlich! Adele nickte und trocknete die Augen.

Gewiß. Das Geld dafür war ja auch zusammen. Aber die Ferien mußten abgewartet werden. Und bis dahin ...

Wieder fing sie an zu weinen.

Luise legte ihre hageren Arme um die vollen Schultern der Schwester.

„Na, was ist denn noch?“

Adele wickelte ihr feuchtes Taschentuch um die Hand. Leicht gesagt, keine Aufregungen! Fritz dachte nicht daran, sie ihnen zu ersparen! Er „aaste“ mit dem Gelde! Alle paar Wochen kam er mit einem Schuldenzettel an. Sie hatte zusammengerechnet: sechshundert Mark waren in den letzten acht Wochen zusammengekommen.

Luise schlug entsetzt die Hände zusammen:

„Was habt ihr denn gemacht?“

„Gezahlt natürlich. Erst hat Alwin gelacht. Ich sollte dem Jungen sein bißchen Leben nicht vergällen mit meinen Predigten! Dann ging er wieder mal ein Glas Wein trinken mit ihm, um ihm den Kopf zurechtzusetzen — aber zum Schluß war er nur wieder einen Hunderter los oder sechzig, siebzig Mark ... Und das reißt nicht ab ... Wenn er sich anmeldet, dann schlägt mir immer das Herz bis hier oben herauf ...“

[S. 334]

Adele schluchzte auf, empfand plötzlich die Tragik ihres Lebens. Alles war falsch gewesen. Alles, was sie je getan, geraten, gefordert, erbettelt! Nun stand sie da, verängstigt von der Erfolglosigkeit ihres Tuns, verprügelt vom Leben, wollte schützen, wollte retten. Konnte nicht das eine — nicht das andere.

Blieb wieder nur der Bruder.

Doch er war härter geworden in diesen letzten Jahren, verschlossener als früher.

Luise hatte einmal gesagt:

„Weißt du, Adele, manchmal kommt es mir vor, als gäbe er uns schuld an Karlas unverantwortlichem Benehmen!“

Und Adele hatte verständnislos ihre Augen aufgerissen:

„Uns?! Ja ... was können denn wir dafür? Wir, die wir uns immer nur für sie aufgeopfert haben?“

Mit Mühe hatte Luise sie davon abgehalten, eine Auseinandersetzung zwischen dem Bruder und ihnen beiden herbeizuführen.

„Tu das nicht ... glaube mir ... Er ist wie eine allzu straff gespannte Saite. Empfindlich war er immer — jetzt aber verträgt er kaum eine leise Berührung! Man muß ihn schonen.“

Und auch jetzt sagte Luise:

„Man muß ihn schonen. Wenn er erfährt, daß Fritz ...“

Sie hatte lauter gesprochen, als sie beabsichtigt, und sie beide hatten es nicht gemerkt, daß er ins Eßzimmer gekommen war.

„Ist schon wieder was mit dem Jungen los?“

Die Schwestern schraken zusammen. Adele wollte alles vertuschen, abstreiten. Altmann aber runzelte die Stirn.

„Ich verbitte mir die Geheimniskrämerei. Ich muß wissen. Wenn wir nicht im Einverständnis handeln, dann ist alles zwecklos. Ihr habt keine Ahnung, wie man mit solchem Burschen umgeht! Alwins Art ist ein Verderb für den Jungen! Nicht einen Pfennig darf er über seinen Zuschuß hinaus kriegen, nicht einen halben Pfennig! Er[S. 335] muß es lernen, auszukommen, muß es lernen, sich etwas zu versagen!“

Er schlug gegen seine Gewohnheit heftig auf den Tisch.

Fühlte denn Adele nicht, daß es noch immer Karlas Geld war, das der Junge bekam? Fühlte sie nicht, daß es vielleicht eine Zeit geben würde, da er keinen Pfennig mehr von Karla würde annehmen dürfen, für sich oder einen der Seinen —?

„Kann ich Isoldchen noch sehen?“, fragte Adele im Aufstehen.

Altmann machte die Korridortür auf. Er rief:

„Schmerzchen! ... Tante Adele ist da!“

Die Schwestern tauschten einen Blick. Luise nickte dabei: Ja ... ja ... so nannte er das Kind jetzt oft ...

Adele seufzte auf.

Schmerzchen kam herein; nicht sehr eilig. Ein weißes Schürzchen mit gestickter Krause deckte fast vollständig das dunkelblaue, an den Ellbogen geflickte Kleidchen. Ihr Haar war in zwei ordentliche Zöpfe geflochten, die eine schwarze Schleife zusammenhielt. Ihr Gesichtchen war länglich und zart, die Brauen gerade und dunkel. Kurze, dichte Wimpern umschatteten die großen braunen Augen, die rund waren, wie die ihrer Mutter. Sie knixte, sagte guten Abend. Ihr Lächeln hatte einen wehmütigen Zug. Ihre Augen blickten meist vorbei an dem, der mit ihr sprach — blickten geradeaus durchs Fenster oder zur Tür, als müßte in der Luft draußen etwas Ersehntes vorüberschweben oder zur Tür irgendwas Erwartetes eintreten.

Das war ihr nicht abzugewöhnen. Es lag darin eine große, fast unheimliche Gleichgültigkeit für ihre Umgebung. Nur ihrem Papa und Pauline, die sie ganz selten einmal besuchte oder zum Großpapa abholte, sah sie lange und mit heiterer oder ernster Aufmerksamkeit ins Gesicht. Und auf dem Grunde ihres Ernstes, ihrer Heiterkeit lag es immer wie eine stumme Frage.

Denn die Erwachsenen hatten ihr verboten, zu fragen —[S. 336] so oft zu fragen, wann die Mama käme. „Im Sommer“, sagte Papa ausweichend.

Schmerzchen bekam wunderschöne Ansichtskarten von der Mama, mit so vielen, vielen Küssen darauf, daß sie sie gar nicht zählen konnte. Schmerzchen las Mamas Schrift wie Gedrucktes und war sehr stolz darauf. Mama schrieb so zärtlich, hatte so viele, gute, schöne Wörtchen für sie. Die Mamas der anderen Kinder hatte sie nie so zärtliche Worte sagen hören!

Ja ... aber die anderen Mamas blieben bei ihren Kindern, gingen nie fort von ihnen ... nie. Sie hatte es manchmal aufgeschnappt, wenn Damen unter sich sprachen: „Ich könnte mich von meinem Kinde nicht trennen —“, „Ohne mein Kind — nein, dazu habe ich es viel zu lieb“. Das gab Schmerzchen jedesmal einen bösen, heftigen Stich.

Seit nun aber der Papa gesagt hatte: „Im Sommer“, hatten Schmerzchens Zukunftsvorstellungen einen gewissen Umriß erhalten. Sie würde weiße Kleider tragen und mit Mama spazieren gehen wie andere Kinder. Mama würde sie von der Schule abholen, und sie würde sagen: „Ich habe keine Zeit, mich mit euch herumzubalgen, meine Mama wartet unten.“ Ganz laut würde sie sagen „meine Mama“, daß die ganze Klasse es hörte! Und auf der Straße würde sie sich von ihrer Mama küssen lassen ... da konnten die anderen sehen, wie die Mama sie lieb hatte.

Die Aprilsonne brannte bereits durch die Fensterscheiben. Aber wen sie auch fragte — noch war es nicht Sommer. — — —

Das Fenster stand weit auf, und die warme Abendluft kroch über die Weinranken und Geranientöpfe der kleinen Loggia in Adelens Eß- und Wohnstube. Auf dem Tisch lag die Wäsche ihres Mannes. Auf den Stuhllehnen hingen die Röcke, auf dem Boden standen Stiefel, braune Schuhe, Pantoffeln. Adele zählte alles durch, trug es auf zwei weiße Blätter ein, unter die Überschrift: „Verzeichnis“. Sie holte noch eine Flasche Kölner Wasser, drei Seifenstücke[S. 337] und eine Schachtel Zahnpulver aus dem Schlafzimmer. Dann stand sie noch einmal auf und holte den Schwamm, den Waschhandschuh. Zu dumm, wie ihr Gedächtnis nachgelassen hatte. Bald hatte sie dies, bald das vergessen und jenes übersehen. Seit Wochen hatte sie nichts getan, als geplättet, geflickt, geputzt, gekauft. Sie war wie zerschlagen! Der Mann verreiste auf kaum einen Monat, und es machte ihr fast ebensoviel zu schaffen, wie Vickis Hochzeit. Wie hatten doch ihre Kräfte nachgelassen in den paar Jahren! Im Grunde war sie es zufrieden, daß sie allein blieb. Ganz allein. Daß sie nur sich selbst leben konnte, nicht kochen, nicht räumen brauchte. Ausruhen durfte. Endlich mal ausruhen! Auch die Bedienungsfrau durfte ihr nicht ins Haus.

Alwin Maurer kam herein, blinzelte mit den Augen im grellen Weißlicht der Gaskrone. Er fuhr streichelnd mit der Hand über Adelens Rücken.

„So viele Mühe machst du dir ...“

„Ach was ... komme du nur gesund zurück. Ja und dann bitte ich dich Alwin ... gib Acht auf deine Sachen. Sieh mal her ...“

Dr. Maurer nickte zerstreut.

„Ja ... ja, gewiß ... danke schön .. Sag’ mal, hat Fritz nichts geschrieben? Noch immer nicht?“

Sie neigte den Kopf tiefer, drückte das Kinn an die Brust. Daß ihr Mann gerade jetzt ...

Alwin Maurer baute die Seifenstücke aufeinander. Tiefe Schatten lagen um seine Augen. Die heftigen Schmerzen, die er in der letzten Zeit ertragen mußte, hatten eine scharfe Leidenslinie um seinen Mund eingegraben, die der kurze, rötliche, grauuntermischte Bart kaum verdeckte.

„Der Junge gefällt mir nicht ... schon eine ganze Weile nicht. Paß auf.“

„Ich soll aufpassen ... ich! Ich kann mich nicht zwischen ihn und meinen Bruder stellen. Das weißt du. Du kennst Ernst genau so gut wie ich. Früher war er anders, aber jetzt ... Er hat Worte, die wie scharfe Messer sind. Wenn[S. 338] er so mit Fritz gesprochen hat ... Fritz ist kein kleiner Junge mehr ... Fritz ist Offizier. Er selbst hat es ihn ja werden lassen. Er konnte sich denken, daß ein Leutnant anders auftreten muß als ein kleiner Schauspieler, ein Lehrer.“

Zum ersten Male in ihrem ganzen Leben gab Adele den heißgeliebten Bruder der Kritik ihres Mannes preis. Zum ersten Male klagte sie ihn an, verurteilte ihn.

Jetzt wußte sie erst, wie er war, wie er sein konnte. Jetzt klammerte sie sich an ihren Mann, erwartete von ihm Trost, Beruhigung, Abhilfe.

„Du mußt noch vor deiner Reise mit Ernst sprechen. Mußt ihm sagen ...“

Aber Alwin Maurer schüttelte den Kopf, und sein Gesicht wurde noch grauer.

„Wir haben freiwillig auf unser Elternrecht verzichtet, Adele, an dem Tage, da wir das Anerbieten deines Bruders annahmen. Unsere Sorge um unsere Kinder gibt uns ein Recht auf sie — nicht der Umstand, daß wir sie in die Welt gesetzt haben.“

Adele führte die grobe, dunkle Schürze an die Augen.

„Darum ist er aber doch immer unser Kind ...“

„Ja ... wie Vicki unser Kind ist, seitdem ihr Mann für sie sorgt. Genau so. — Zum Packen ist auch noch morgen Zeit. Komm, Adele, laß uns einen Abschiedsschoppen irgendwo trinken.“

„Ach ja, Alwin ... das wollen wir.“

Sie kleidete sich um, tupfte ein Stückchen Watte in Reismehl und suchte so die Spuren ihrer Tränen und die heißen Flecken auf den Wangen zu verwischen.

„So, Alwin ... nun wollen wir vergnügt sein.“

Denn es blieb ja doch das Beste in ihrer langen Ehe, diese Ausgänge zu zweien, an Sommerabenden, wenn der Flieder blühte oder die Linden ihren starken Duft ausströmten und sie in der verschwiegenen Stille eines entlegenen Gartenlokals, beim flackernden Schein einer einsamen Laterne einander zutranken, und wenn sie sich zurückversetzte[S. 339] in jene längst vergangene Zeit, da solche Abende, durchduftet von Sommer und Hoffen, zu den schönsten Augenblicken ihrer einst so schwer erkämpften Brautzeit gehörten. — — —

Die Familie brachte Alwin Maurer zur Bahn, wie einst Karla. Sogar Vicki erschien mit einem Körbchen, das sie sich mit hastig zusammengekaufter Backware hatte füllen lassen.

Schmerzchen blickte mit gespanntem Ausdruck auf Onkel Alwin.

„Fährst du nach Wien, Onkel?“ fragte sie.

Alwin Maurer beugte sich über ihr zartes, ernstes Gesicht. Er wurde ganz rot dabei. „Vielleicht“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Aber das wissen nur du und ich!“

„Ja“, nickte Schmerzchen.

Und nun wurde auch sie rot. Denn es war ein wichtiges Geheimnis, das der Onkel ihr anvertraut hatte, und ihr kleines Herz schlug ganz schrecklich schnell vor Freude darüber.

Alwin Maurer drückte noch ein letztes Mal die ausgestreckten Hände.

„Fritz ist richtig nicht gekommen!“ sagte er.

Altmann überhörte es. Alwin war unverzeihlich in seiner Schwäche. Es war nur gut, daß er dem Jungen letzthin mal eine ordentliche Standpauke über seinen „katastrophalen“ Leichtsinn gehalten hatte. Wenn er noch ein einziges Mal Dummheiten machte, dann würde die Zulage auf die Hälfte herabgesetzt! Dann sollte er sehen, wie er fertig wurde. Natürlich — jetzt maulte er. Spielte den Beleidigten!

„Mach’ dir keine Sorgen, Alwin ... denk’ an dich und nur an dich. Hast dir’s verdient!“

Altmann schüttelte ihm kräftig die Hand. Ging noch eine Strecke mit dem langsam abfahrenden Zuge.

„Du ... sie wird wohl jetzt in Bayreuth sein ... Vielleicht ..“

Das „Vielleicht“ war das letzte, was Alwin Maurer noch hörte. Und er sah die Frauen mit ihren wehenden Tüchern nicht mehr.

[S. 340]

Wie aus einem tiefen Schacht heraus brach das Bewußtsein hervor, daß er mit diesem ratternden Zuge nicht nur der Heilung entgegenfuhr — sondern auch Karla. Und dies Bewußtsein weckte aufs neue jenes Sehnen in ihm, das wie ein wildes, wärmendes Licht die traurigsten und ödesten Strecken seines ereignisarmen Lebens verklärt hatte.

„Vielleicht ...“

Ein letztes, banges Hoffen sprach aus diesem Wort — aus dem Blick, der es begleitet hatte ...

Alwin Maurer ließ die Luft um sein Gesicht streichen. Wie wohl das tat ... wie das erfrischte! Anderes Land, andere Menschen ...

Nur gesund werden ... stark ... lebensfroh ...

Und dann ...

Vielleicht brachte er sie wirklich heim — dem Manne, dem Kinde ... und sich.

Vielleicht ...

Verzierung, drei Sterne
I

Im kleinen Speisesaal des Reichenbergschen Palais am Schwarzenbergplatz wurde von zwei Lakaien das Obst um den ovalen Tisch gereicht.

„Befehlen Durchlaucht den Mokka im Wintergarten?“ fragte der alte Haushofmeister.

„Hast du noch Zeit?“

Alice Reichenberg sah ihren Bruder an.

Gaudlitz blickte auf die Uhr, nickte.

„Reichlich.“

Fürst Reichenberg, unnachahmlich vornehm und elegant, mit seiner müden, vornübergebeugten, hageren Gestalt, tauchte die Fingerspitzen in die silberne Wasserschale.

[S. 341]

„Eine furchtbare norddeutsche Gewohnheit, dieses ewige Auf-die-Uhr-schauen“, meinte er. „Habt ihr den Rhythmus der Zeit nicht im Blut — aus der Westentasche seine Tagesbefehle holen ... nehmt’s mir nicht übel, aber das find’ ich schrecklich! Das könnt’ mir das Leben verleiden. Oder brauchens auch immer den Metronom, gnä’ Frau?“

Er küßte Karla die Hand — ein bißchen lässig, wie er alles tat, aber mit einem in seiner Weichheit fast zärtlichen Blick in den gleichsam ausgewaschenen, hellen, länglichen Augen.

Karla lachte.

„Ich komme immer zu spät — trotz all meiner Uhren, denn ich sehe nie hin.“

Gaudlitz faßte ihre beiden Hände, umschloß sie mit den seinen.

„Ich seh’ schon — jetzt muß ich dir eine Uhr schenken. Die wirst du doch ansehen ... oder etwa nicht?“

Er sagte es flüsternd, daß nur sie allein das „Du“ hören konnte. Aber sie wurde doch rot. Zu rasch war alles gekommen. Noch war ihr diese äußere Nähe zu ungewohnt. Keine Werbung war vorangegangen, kaum eine Frage.

Während sie mit Reichenbergs am Morgen nach ihrem letzten Auftreten in Bayreuth im Hotelgarten frühstückte, war er plötzlich die kurze Allee heruntergekommen, hatte seinen Strohhut geschwenkt, war an den Tisch getreten.

„So. Nun habe ich lange genug gewartet!“

Schob mit lachendem Gesicht einen Stuhl zwischen seine Schwester und Karla, reichte dem Schwager über den Tisch die Hand.

„Jetzt wollen wir wenigstens Vorverlobung feiern — bei einem Glase Milch und Butter, mit Honig. Das soll das Symbol unserer Ehe werden, Karla.“

Sogar Alice Reichenbergs Gesicht wurde flammend rot.

„Du bist unmöglich, Hans Jochen. Ein Wilder.“

Aber Reichenberg meinte:

„Warum denn, Alice? Ich find’ das sehr fesch. Grüß dich Gott, Hansel! Schad’, daß du die gnä’ Frau gestern[S. 342] nit g’hört hast! ... Also weißt, wenn Wagner noch lebte ... Heut’ sind wir zum Tee in Wahnfried. Wenn du willst, führ’ ich dich ein ...“

Gaudlitz schüttelte lachend den Kopf.

„Danke verbindlichst. Das könnt’ uns passen, heute ... Karla, wie? Sagen Sie selbst?“

Sie widersprach eifrig.

„Doch, Graf Gaudlitz ... ich muß hingehen.“

Gaudlitz gab ihr einen Klaps auf die Hand.

„Erstens: nicht Graf Gaudlitz, sondern Hans Jochen. Nur nicht Hansel! Mein Schwager hält mich scheint’s für einen Kanarienvogel. Ich möchte mir’s verbeten haben. So. Und zweitens müssen Sie nichts anderes tun, als was Sie wollen. Von heute ab ist es so. Verstanden? Und was Sie wollen, das muß genau dasselbe sein, was ich will.“

Karla faßte lachend und nicht ohne Verlegenheit die Hand der Fürstin.

„Alice, schützen Sie mich — vor diesem Manne.“

Es nahm Karla den Atem. Sie war wirklich nicht vorbereitet auf diesen Zwiespalt, nicht vorbereitet auf das Kommen von Gaudlitz. Sie hatte an einen Telegrammwechsel gedacht; an lange Briefe, an ein sich langsames Gewöhnen — nun war er da. Lachte sie mit seinen blauen Augen an, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß er da war, sie „Karla“ nannte vor seiner Schwester, von der Ehe mit ihr sprach, ihr seinen Willen aufzwang ...

Und wenn das Herz ihr auch vor Seligkeit schlug — da war doch noch anderes. Viel anderes ... ihr Leben bisher, ihr Erfolg hier ... Ehren, die ihr — ganz allein galten ... Verpflichtungen, die sie allein erfüllen mußte, als selbständiger, freier Mensch — als Künstlerin ...

Aber nein — sie mußte richtig absagen in der Villa Wahnfried. Mußte Alice Reichenberg bitten, sie mit Migräne zu entschuldigen. Durfte keine Zeitung ansehen, die doch alle Depeschen gebracht hatten, alle ihren Ruhm verkündeten![S. 343] Mußte einen Boten zu dem berühmten Maler schicken, der sie gebeten hatte, ihm zu einer Skizze eine halbstündige Sitzung zu gewähren; konnte kaum die Karten durchsehen, die für sie während des Vormittags abgegeben worden waren, die Briefe und Depeschen lesen, die sich auf dem Schreibtisch ihres kleinen Hotelsalons stapelten, — ja, es blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als in einem weiten Staubmantel, einen dicken Schleier vor dem Gesicht, in ein Auto zu steigen und sich von Gaudlitz ganz weit weg von allen abgeklapperten Ausflugsorten entführen zu lassen, nur damit er seinen Willen hatte und sie ganz für sich behielt an diesem ersten Tage.

Als sie dann am späten Nachmittag heimkehrte, da wußte ihr Mädchen nicht recht, was mit ihrer „gnä’ Frau“ geschehen war. So glückstrahlend und geistesabwesend hatte sie sie nie gesehen.

Am selben Abend noch wurde gepackt. Und auch die Rückreise mit Reichenbergs nach Wien war wie eine Entführung.

Aber Gaudlitz erklärte, er müsse gleich wieder zurück aufs Gut. Das könnte ihn jetzt nicht entbehren. Die neuen Maschinen wären gerade eingetroffen, von denen der alte Verwalter nichts hatte wissen wollen. Da gälte es, seinen Willen durchzusetzen. Die Maschinen müßten in seiner Gegenwart zusammengesetzt und aufgestellt werden ... Aber vorher wollte er mit Karla am Tisch und im Hause seiner Schwester ein Glas Sekt trinken.

Das sollte die Weihe sein.

Fürst Reichenberg lächelte sein müdes, ein bißchen ironisches Lächeln. „Sozusagen — die zweite Vorverlobung. Sag’s lieber gleich, Hansel, wie oft du dich noch mit der gnä’ Frau zu verloben gedenkst ...“

Gaudlitz lachte. „So oft ich wiederkomme: im Herbst und im Winter und nächstes Frühjahr ... und so weiter — bis es ans Heiraten geht! Und darauf, daß es bald ist, wollen wir zusammen anstoßen. Denn viel Zeit zu[S. 344] verlieren haben wir nicht mehr. Jeder Augenblick muß ausgenutzt werden!“

Im Wintergarten des Reichenbergschen Palais sagte er ihr noch einmal:

„Keine Minute dürfen wir versäumen. Darum sollst du die Uhr von mir haben. Mir darfst du nicht zu spät kommen — hörst du, mir nicht!“

Es flackerte plötzlich wie eine Unruhe, wie eine Angst in seinen lachenden, blauen Augen auf.

Jetzt, da Karla vor ihm stand, im Hause seiner Schwester, im einfachen Sommerkleid, war sie ihm so nahe, so vertraut. Als hätte er nicht bloß in Sehnsucht an sie gedacht diese endlos lange Zeit, sondern als hätte sie bereits sein Leben geteilt, als wäre sie bereits wirklich durch die großen hellen Räume des großen weißen Hauses geschritten, des Grafenhauses, wie die auf Pinnow sagten. Als hätte nicht nur in seinen wachen Träumen ihre wundervolle Stimme die Halle durchbraust, in der noch ein alter, verstimmter, langer Klapperkasten stand.

Aus dem Holze wollte Gaudlitz eine Wiege zimmern lassen ... Das gab es her. Und an dieser Wiege würde Karla sitzen; ihre Stimme würde über sie fluten, aus dem Schnitzwerk würde es widerklingen. So sollte jedes seiner Kinder von Vergangenheit und Gegenwart träumen in seinem ersten Schlaf, Vergangenheit und Gegenwart einen, durch das Singen der Mutter, das Singen der Wiege ...

Auch ein langer Tisch sollte in der Halle des Grafenhauses stehen ... so ein Tisch, von dem Karla manchmal geträumt hatte ...

Ein hastiger, herzlicher Abschied. Ein Winken vom Fenster, ein Winken zurück aus dem Auto. Ein kurzes Ankurbeln, Fauchen und Rattern, und in stolzem Bogen glitt der dunkelgrüne Wagen mit den zwei Schwägern die Auffahrt hinab. Wie betäubt blieb Karla noch eine Weile stehen, dann warf sie sich Alice Reichenberg an die Brust.

— — — Es war heiß in Wien. Es war unerträglich.[S. 345] Und trotz der Hitze erhob sich von Zeit zu Zeit ein kurzer heftiger Windstoß, jagte den Straßengängern den Kalkstaub in die Augen.

Reichenbergs waren wieder abgereist, auf ihre Besitzung. Karla sollte sie besuchen, wenn „das“ überstanden war.

„Das“ ... Die Aussprache mit Altmann.

Karla wollte nicht sprechen. Wollte schreiben. Aber sie hatte schon zwanzig Briefe begonnen und wieder zerrissen. Es gab ja zu viel zu sagen! Ihre Feder kam ihren Empfindungen nicht nach.

Auch mit Gaudlitz war es mehr ein Depeschenwechsel. Es war keine Seltenheit, daß sie drei, vier Telegramme täglich von ihm bekam. War es nur eines, zitterte sie vor Unruhe. Er ritt Gäule ein, stellte sich selbst an die Dreschmaschine, um sie auszuprobieren ... kam ein anderes Mal wieder den ganzen Tag nicht aus dem Sattel und warf sich dann zur Abkühlung in den kleinen See, wo er eine Stunde lang herumschwamm. Sie lernte die Angst kennen um einen geliebten Menschen, hatte die plötzlichen Besorgnisse einer allzu ängstlichen Mutter. Telegraphierte: „Beschwöre, vorsichtig zu sein. Andern Gaul reiten“ oder „Kaltes Baden nach Reiten Wahnsinn. Bin außer mir“. Depeschen kamen zurück, aus denen sein Lachen ihr entgegenschallte: „Liege in Watte gepackt auf Ruhebett, beginne ungefährliche Stickerei“ oder „gleich um Verzeihung bitten wegen Feigheit. Pfui.“

Sie lachte, sie weinte, sie stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf und drückte sein Bild an die Lippen.

Sie liebte, wie sie mit zwanzig Jahren nicht zu lieben gewußt hätte — auch wenn sie ihm begegnet wäre.

Er schickte ihr Blumen: „aus unserm Garten“, Perlen, die „seiner Mutter gehört hatten“, Bücher, die „er gelesen hatte“.

Die Blumen kamen welk an, und sie legte sie in ihren Wäscheschrank. Vor den Perlen der Gräfin Gaudlitz hatte sie eine heilige Scheu und hätte sie nicht eher angelegt, als[S. 346] bis sie den gleichen Namen führte. Die Bücher legte sie auf ihren Nachttisch, las abends und morgens darin und wußte doch nichts von ihrem Inhalt, weil ihre Gedanken nach allen Richtungen hin flatterten.

Ihr Bayreuther Erfolg hatte ihr eine vertrauliche „ganz private“ Anfrage von einer der Berliner Generalintendanz nahestehenden Seite gebracht, ob sie nicht ....

Russel hatte in einem hundert Worte langen Telegramm sein Angebot erneuert, die Hofmarschälle zweier regierenden Fürsten luden sie zu einem Hofkonzert ein. Fast jede Post brachte Gastspielanträge aus allen großen Städten Deutschlands und Österreichs.

Auch Liebesbriefe liefen ein, schamlos kalte, mit Versprechungen, die sich in fünfstelligen Zahlen äußerten, überschwänglich leidenschaftliche, von Narren und Spekulanten; schüchterne von kaum dem Kindesalter entwachsenen Jünglingen; flammende von hysterischen, unverstandenen Frauen, denen sie den Weg weisen sollte „aus ihrem großen, alles verstehenden Künstlertum heraus“. Bettelbriefe kamen: mit Kronen in der linken Ecke und andere mit Fettflecken am Rand; anonyme Anträge und Schmähungen, Rechnungen über Gegenstände, die sie nie gekauft, und Schmuck mit beigelegter Quittung.

Sie dachte an die Zeit, da Altmann ihr alles so klug und bedacht ferngehalten, was ihr nicht nähertreten durfte, da sie ihn beratend, oft bestimmend an ihrer Seite gehabt hatte, keinen Finger zu rühren brauchte, da alles ihr aus dem Wege geräumt war, sie vor keiner Besudelung, keinem Irrtum Angst zu haben brauchte, da ihr Haus wie eine Festung gewesen war, unter deren Schutz sie ihrer Kunst gelebt hatte ...

Und wieder würde solch eine Festung sie umschließen, schirmender, schützender als die erste. Würde auch ihre Kunst mit einschließen — —

Manchmal durchfuhr es sie dann wie ein leiser Schrecken — mit eigentümlichem Prickeln in der Haut und dem Aussetzen eines Herzschlages.

[S. 347]

Und sie telegraphierte: „Ich liebe Dich und sehne mich nach Dir.“

Sie brauchte die Gegenwärtigkeit. Brauchte seine blauen Augen, seine eigensinnige blonde Stirn, seinen lachenden Willen, seine heiße Liebe, den Ton seiner Stimme ... Alles das brauchte sie, um das andere lösen zu können .... das viele, unsagbar viele „andere“, das ihr Leben war!

Und mit schauerndem Erbeben ließ sie noch einmal die Welle der Begeisterung über sich zusammenschlagen, badete sich in allem Köstlichen und allem Schlamm, womit diese Welle sie überschüttete, faltete die Hände wie ein frommes, unschuldiges Kind und betete leidenschaftlich:

„Lieber Gott, ich danke Dir, daß ich ihm so viel opfern darf ... so viel! ...“

Dieses Opfer sollte die Heiligung ihrer Liebe sein.

Die Einladung nach Baden zu einer Dame der ersten Gesellschaft gab ihr bald wieder ihre alte Zuversicht zurück.

Der Kreis hochgebildeter und abgeklärter Menschen, die ihre Bewunderung für Karla mit einem zarten Hauch erlesener Geistigkeit umkleideten, wirkte wie eine Erlösung auf sie nach all dem Schwülen, Traumhaften, Überreizten, kaum Faßbaren der letzten Wochen.

Vielleicht waren es die glücklichsten Stunden ihres ganzen Lebens, die in diesen zwei Badener Tagen sich zusammendrängten, Stunden, in denen sich gleichsam alle Höhepunkte ihres Daseins in ihrer feinsten Wesenheit zu einer leuchtenden Kette zusammenschlossen.

Ruhig, stolz und strahlend kehrte sie nach Wien zurück. Das Mädchen nahm ihr die Sachen ab, berichtete, was sich ereignet hatte in den zwei Tagen.

Ein Herr von einer Zeitung wäre dagewesen. Der Schneider hätte das Lodenkostüm zum Aufbügeln g’holt. Der Hauswirt hatte eine Kollekte herunterg’schickt für blinde Kinder. Noch eine Masse Leit’ — und dann wär’ heute mittag noch ein Herr dag’wesen, ein ganz fremder — keiner von Wien ... ein älterer Herr ...

[S. 348]

Sie holte die Karte vom Schreibtisch — er tät wiederkommen, hätt’ er g’sagt.

Karla stand vor dem Spiegel und bauschte ihr vom Hut zusammengedrücktes Haar auf, stand da in einem knappen weißen Rock, mit duftiger weißer Batistbluse, einen schmalen goldenen Gürtel um die Mitte, mit ihren, wie es immer hieß, „statuenhaft schönen“ Armen, die rosig unter dem durchsichtigen Gewebe hervorschimmerten.

Dabei hatte sie ganz vergessen, daß sie noch immer die Visitenkarte zwischen den Fingern hielt. Ja .... richtig ... wer war denn das gewesen? Sie las den Namen und hörte gleichzeitig Läuten von draußen hereinschallen.

Alwin! ...

„Alwin ... mein guter, lieber Alwin ...“

Alwin Maurer blinzelte sie aus seinen tiefliegenden Augen verwirrt und sprachlos an.

„Du, Karla ... du ...“

„Ja, wer denn, Alwin ... bin ich so alt geworden, daß du mich nicht erkennst? ...“

‚So schön ...‘ hätte er beinahe geantwortet. Aber er schwieg noch immer, starrte sie nur an und merkte es kaum, wie sie ihn hereinzog.

„So zieh’ dich doch aus, Alwin ... Nein, wie bist du nur auf den herrlichen Gedanken gekommen .... Wie ... wo kommst du her ... geradeswegs aus Berlin? ....“

„Ja ... das heißt, nein ... aus Karlsbad ... vielmehr aus Bayreuth .... aber du warst schon fort, und da ....“

Jetzt stand er in ihrem Zimmer, in dem weichen warmen Licht der ockerfarbigen Seidenschirme, im betäubenden Duft der Rosen.

„So wohnst du ... so ...?“

An den Wänden hingen Bilder, von schmalen Goldleisten gerahmt, zwei hohe, schlank gebaute Schränke zeigten ihren reichen Inhalt an Noten und Büchern in[S. 349] einfachen Lederbänden. Über dem Schreibtisch mit einem großen Bild von Schmerzchen in silbernem Rahmen hing die Radierung des Beethovenkopfes. Auf dem Flügel, der aus der Ecke des großen Zimmers schräg hereinragte, standen zwischen zwei großen, blumengefüllten Schalen Bilder in Rahmen, die eine geschlossene Krone zierte, und mit kurzen, verschnörkelten Unterschriften.

Keine Kränze. Keine Schleifen. Nur einzelne kostbare Gegenstände.

Er sah sie an, in ihrer voll erblühten Frauenschönheit, mit ihrem alten Kinderlächeln um die roten Lippen. Und er vergaß alles, was er hatte sagen, alles, womit er zerrissene Fäden wieder hatte zusammenknüpfen wollen.

Eine große Traurigkeit befiel ihn, ein trostloses Fremdgefühl. Als wäre sein Körper zu grob und schwer für diesen Raum.

„Stör’ ich dich auch nicht, Karla — nein? Sag’s mir ruhig ... ich kann gut morgen wiederkommen, zu einer gelegeneren Zeit ...“

Hundetreu blickten seine Augen sie an, bereit, sofort sich zu entfernen, wenn sie ihn fortschickte, und doch voll Bangen, sie könnte es tun.

„Was fällt dir denn ein, Alwin ...? Ich bin ja froh, daß du da bist ... so froh ...“

Und während sie seine Hand drückte, ihm ins Gesicht sah, das grau war und abgemagert, da mischte sich in ihre Freude tiefe Bekümmernis.

Gleichzeitig aber, so seltsam es sein mochte, auch die Hoffnung, daß ihr in ihm, der ihr so treu ergeben war, der Helfer gekommen war für ihr Vorhaben, das allein zu vollbringen ihr bis jetzt die Kraft gefehlt hatte. Ihr lachendes Gesicht wurde plötzlich und ohne daß es ihr bewußt war, ernst.

„Erzähle mir, wie es dir gegangen ist, Karla .... Denke — all die Zeit ohne dich ... und so wenig, woran man sich halten kann. Zeitungsnachrichten zumeist ...“

Sie fühlte in diesem Augenblick, daß auch das, was[S. 350] er zu hören begehrte, bereits der Vergangenheit angehörte, daß sie selbst kaum mehr darüber zu sagen vermochte, als was die Öffentlichkeit berichtet hatte.

Das Mädchen kam herein und fragte, ob sie ein zweites Gedeck auflegen sollte.

Alwin Maurer erhob sich. Er wollte nicht stören: „Nein. Keinesfalls.“

Sie mußte Gewalt anwenden. Sie hielt seinen Hut hinter ihrem Rücken versteckt. „Ich bin böse, wenn du gehst ....“ Und sie sah ihm an, daß es ihm eine Erleichterung war, bleiben zu dürfen. Er nahm ihre Hand.

„Du darfst nicht böse sein ... mußt immer daran denken, daß unsereins dich anders sieht. Was kennt meine Philisterweisheit vom Leben einer Künstlerin? Es mag gewiß anders in Wirklichkeit aussehen, als die Phantasie es uns vorspiegelt.“

Und Karla dachte mit Wehmut daran, wie fremd sie ihm wohl geworden war, daß er sich so gar keinen Begriff mehr von der Wirklichkeit machte.

Sie nahm seinen Arm, ging mit ihm in ihr kleines Speisezimmer und sagte:

„Die Abende, an denen ich hier ganz allein vor meinen Tellern sitze, sind häufiger als die anderen. Viel häufiger! Und wenn mir’s dann zu einsam wird, stelle ich oft Schmerzchens Bild vor mir auf oder ...“

Sie brach ab.

„Hier, Alwin ... mir gegenüber. Es tut wohl, ein lebendiges, liebes Gesicht an seinem Tisch zu sehen ...“

Karla ließ Wein aufstellen. Nach dem zweiten Glase fragte sie: „Und wie geht es deinen ... wie geht es in Berlin?“

Er antwortete:

„Durch deinen ... Durch Ernst wirst du wohl das meiste wissen — —“

Sagte es, obwohl er wußte, daß die Briefe selten waren,[S. 351] die hin und her gingen. Sie nickte, spielte mit dem Messerbänkchen.

„Ja ... es scheint dort alles beim alten zu sein ...“

„So weit. Man wird nicht jünger.“

Nein — das hatte er nicht sagen wollen. Das war ganz verkehrt. Aber je länger er Karla ansah, desto mehr fühlte er die Last der freudlosen Jahre auf seinem Rücken. Dem Schwager konnte es nicht gut anders gehen. Wie durfte er nur hoffen ... was mochte er denn erwarten ...? Er nahm sich zusammen.

„Die Kinder ... bleiben die größte Freude.“

Und ein zweites Mal biß er sich auf die Lippe.

„Ja ...“, murmelte Karla und legte auf.

Angst packte sie — es könnte zu schnell das Wichtige gesagt, zu schnell der letzte Schleier reißen. Sie lenkte ab und fragte nach Vicki.

„Ein gutes Kind, gewiß — ein Juwel für ihren Mann. Aber ihr Leben führt andere Wege.“ Da gab’s nur selten ein Treffen. Wenn auch der Wille nicht fehlte, so doch die Möglichkeit ... Der Mann vor allen — das mußte ja auch so sein! Nun, er durfte sich nicht beklagen — da war ja noch Fritz, der Stolz seines Alters, ein Prachtjunge! Seine ganze Freude war der Bengel!

„Da sitzen wir so in irgendeinem verräucherten Winkel, eine Flasche Mosel zwischen uns oder zwei — und dann geht’s ans Erzählen. Was ich hatte werden wollen und was ich wurde, sage ich dann ... und von der Zeit, da Du zuerst ins Haus kamst, erzähle ich ... dann vertraut er mir an, daß er in dich verschossen war — und wir sprechen von deiner Stimme, von deinen Erfolgen. Über diese Stunden mit dem Jungen geht mir eben nichts. Auf die freue ich mich lange Wochen vorher, die entschädigen mich für so manches ... so manches recht schwer entbehrte ...“

Karla beugte den Kopf tiefer auf das Tischtuch herab. „Sage mal, Alwin ... kommt er denn auch aus mit[S. 352] dem, was ihm Ernst gibt? ... Ernst ist so starr in seinen Ansichten, er versteht vielleicht nicht ...“

Ein fahles Rot huschte über Alwin Maurers Wangen, und er machte eine heftig abwehrende Bewegung.

„Er hat genug ... mehr als genug ... überreichlich.“

Das fehlte gerade noch, daß sie ihm Geld anbot für Fritz ... das wäre was!

„Bitte ... laß das ... ein für allemal ... laß das ... Ich wollte dich sogar bitten ... Ernst kein Geld mehr für Fritz zu schicken ... ja! Ich verdiene genügend — mehr, viel mehr, als wir verbrauchen können. Die Zulage wird er fortab von mir bekommen. Ich bitte dich, Karla, ... nicht mehr darauf zurückkommen ... keinesfalls. Du hast so viel getan ... immerfort getan ... für alle gesorgt ... für alle anderen zuerst ... jetzt laß es genug sein! Jetzt denk’ an dich ... nur an dich! ...“

Er stand auf, ergriff ihre beiden Hände.

„Denk’ an dich, Karla ...“

Ein kurzer, schriller Klingelzug — gleich darauf trat das Mädchen ein.

„Ein Telegramm, gnä’ Frau.“

Heiß stieg Karla das Blut zu Kopf.

„Doch nichts Böses?“

Alwin Maurer konnte sich schwer andere Depeschen vorstellen.

„Nein, Alwin ... nichts Böses ... nur Gutes, nur Glückliches.“

Ihre Augen strahlten, ihre Finger rissen hastig das Siegel auf. Sie stutzte — das Blut lief ihr aus den Wangen. Sie las einmal, zweimal.

„Also doch Böses, Karla?“ ...

Ängstlich blickten seine Augen sie an. Sie faßte sich, faltete das Blatt zusammen, schob es unter ihren Teller.

„Nein ... nichts von Bedeutung.“

Die Worte fielen trocken und kurz von ihren Lippen, aber sie reichte ihm die Kristallschüssel mit roten Johannisbeeren,[S. 353] den Streuzucker, lächelte mühsam, schien etwas zu überlegen.

„Du sagtest vorhin, Alwin, ich sollte an mich denken?“

„Ja, Karla, ... das sollst du.“

„Und willst du mir einen Dienst leisten, Alwin? Einen großen Freundschaftsdienst?“

Alwin Maurer schob den Teller zurück, beugte sich über den Tisch.

Sie atmete schwer und reichte ihm die Hand über den Tisch.

„Du weißt, Karla, daß du in allem über mich verfügen darfst — in allem und jedem.“

„Ich danke dir, Alwin. Und wenn es so ist — dann fahre morgen ... morgen früh zurück nach Berlin und sage Ernst ... sage ihm, daß ich nicht mehr zurückkomme.“

Die Erregung hatte ihr den Mut gegeben. Alwin mußte fort, mußte abreisen. Und da es heute zu spät war — morgen mit dem Frühzug. Er durfte den Sohn nicht treffen — seinen Fritz, der von Mutter und Schwester geschickt wurde zu ihr — damit sie ihn aus „einer verzweifelten Lage errette“. Sie wollte ihm sein einziges Glück erhalten — seine einzige Freude ... Das war sie ihm schuldig ... Schuldig auch, daß er es nie erfuhr, daß ihn nicht eine neue Last, ein drückendes Schamgefühl noch tiefer beugte, als es das Leben schon ohnehin getan.

Alwin Maurer aber wiederholte:

„Du kommst nicht mehr zurück ... nie mehr?“

Und obwohl er es längst geahnt, obwohl er es nicht einmal anders für sie gewünscht, so legte sich doch fahle Blässe auf seine Wangen.

„Ja ... Karla ... ja, gewiß ... ich kann’s verstehn ... und bedacht wirst du es haben ...“

Er sprang vom Stuhl auf, suchte nach seinem großen weißen Taschentuch in der Hintertasche seines Rockes.

„Nicht, Alwin ... nicht!“

Karla legte ihren Arm um Alwin Maurers Schulter. Auch sie war blaß, und ihre Lippen zuckten.

[S. 354]

„Mach mir’s nicht schwer ... nicht schwerer als nötig. ... Gewiß hab’ ich’s bedacht ... nicht seit heute und nicht seit gestern ... zwei volle Jahre habe ich gewartet, und nur der Mut hat mir gefehlt ... der Mut, es zu sagen ...“

Alwin Maurer legte seine Hände um Karlas Wangen. Wie ein Vater, der seinem Mädel eine Beichte abnimmt.

„Ich kenne dich, Karla .... Du bist keine, die allein durchs Leben geht, die einsam bleiben kann — ohne Mann, ohne Kind ...“

Sie sah ihn an, offen, vertrauend.

„Ich bleibe nicht allein“, sagte sie leise.

Er strich ihr über die Wange, behutsam, scheu und zärtlich.

„Gaudlitz?“ fragte er leise.

„Ja.“ ...

Sie hob bittend die Hände.

„Sag’s ihm nicht — nicht gleich .... Dir mag’s ja eine Beruhigung sein — ihm ...“

„Ihm auch“, sagte Alwin Maurer ernst. „Er liebt dich doch mehr, als du glaubst.“

Da fiel ihr Kopf auf seine Schulter, und ihre Tränen tropften heiß und schwer auf seinen schwarzen Rock.

„Und was wird dann aus deiner Kunst, Karla?“

Sie hob den Kopf, und ein Lächeln flog über ihr tränenfeuchtes Gesicht.

„Die wiege ich in den Schlaf Alwin — wie die Kinder, die mir Gott bescheren wird.“

Und Alwin Maurer fühlte es deutlich, daß, so lieb sie auch ihr Schmerzchen hatte, so tief ihre Sehnsucht war, die Allmacht der Natur einen Trost für sie bereit hielt, der den Verlust des einen Kindes aufzuwiegen vermochte.

„Du kannst auf mich zählen, Karla .... Gleich nach meiner Ankunft spreche ich mit Ernst.“

Er drückte ihre Hand. Ihre Augen sagten ihm Dank.

„Was immer geschieht, Alwin — wir bleiben die alten ... willst du?“

[S. 355]

Da drückte er in einer letzten, starken Bewegung ihre Hand an seine Lippen. „Leb’ wohl, Karla ...“

Sie lächelte ihm noch zu über die Rampe der Treppe. „Vergiß nicht, Alwin — daß du mir immer über Schmerzchen Nachricht geben mußt!“

Er nickte noch einmal zu ihr herauf und dachte, wie wunderlich die Frauen doch waren. Schlugen ein Leben entzwei und konnten lächelnd mit den Scherben spielen! Wie weit war Karla doch schon entfernt von ihnen allen ... ja selbst von ihrem — ersten Kind! — —

— — — — Ganz zeitig wachte Karla am nächsten Morgen auf. Ihr war, als hätte sie schon alles getan, was von ihr abhing, als hätte sie sich ihr Glück schon verdient durch die Aussprache mit Alwin Maurer. Als wäre eine große, schwere Last ihr vom Herzen genommen worden. Es waren ein paar Briefe zu durchfliegen, während Resi den Tee auf das Tischchen am Fenster stellte und die Semmeln mit Butter bestrich. Eine Einladung nach Reichenau — ein paar Zeitungsausschnitte, die Bitte eines Photographen um eine Sitzung — und dann ... der dickste von allen Briefen, schwer wie ein Stein .... Die Schrift kannte sie doch, ... die hatte sie doch oft gesehen ... wo denn nur? ... In ... in Kiel, ja ... und in Amerika .... Altmann hatte Briefe erhalten, die diese Schrift trugen .... Adele! ... Richtig! Das betraf Fritz! Karla las:

„Liebe Karla! So peinlich es mir ist, aber ich muß Dich herzlich bitten, mir in einer Angelegenheit zu helfen, da Dein Mann sich leider so zu Fritz gestellt hat, daß es ihm unmöglich ist, sich an ihn zu wenden. Aber da ja schließlich Du es warst, die ihm zu seiner Laufbahn verhalf, so bist auch Du die Nächste. Mir zittern noch die Glieder, wenn ich an das Entsetzliche denke, das ich erlebte. Du mußt wissen, liebe Karla, daß es einem jungen Offizier, der in der Nähe Berlins steht, einfach unmöglich ist, mit der kleinen Zulage auszukommen, die Dein Mann für Fritz ausgeworfen hat. Ich brauche Dir wohl nicht zu sagen, daß[S. 356] wir unser Möglichstes getan haben, Fritz zu unterstützen. Aber leider hat der arme, dumme Junge immer nur einen Teil seiner Schulden gebeichtet und ist so immer tiefer ins Verderben geraten. Vor drei Tagen kam er in heller Verzweiflung zu Völkels, um sich von Bodo Hilfe zu holen. Aber Bodo war verreist und, wie Vicki ihm sagte, augenblicklich selbst nicht bei Kasse. Er sagte, das machte nichts, und ging fort. Aber Vicki war sein verstörtes Gesicht aufgefallen. Und sie setzte sich noch an demselben Nachmittag auf und fuhr nach Küstrin. Er wohnt dort in der Kaserne, und Vicki suchte ihn auf seinem Zimmer. Aber sie traf ihn nicht an. Der Bursche sagte, er wäre seit frühem Morgen auf Urlaub und wollte erst abends wiederkommen. Vicki schlug die Mappe auf Fritzens Schreibtisch auf, um ihm ein paar Zeilen zu hinterlassen. Da findet sie einen Brief von ihm, der an mich adressiert war. Sie öffnete den Brief und erfährt aus ihm alles.

Fritz ist in Wuchererhände geraten. Um seine erst kleinen Schulden zu decken, hat er geborgt, wieder geborgt, Wechsel unterschrieben — an fünftausend Mark werden es sein! Wenn er keine Deckung findet, müsse er sich das Leben nehmen! Ich hatte das so oft in Romanen gelesen. Ich hatte immer dabei gedacht: Soll sich der Lump nur erschießen — er verdient keine Träne. Aber jetzt ... da es mich trifft — meinen Jungen ... Alwins Stolz und Freude ... da ... Liebe Karla, Du kannst Dir denken, was da in mir vorging!

Nur so viel noch: Vicki spazierte zwei Stunden vor dem Tor der Kaserne auf und ab, bis die Füße sie kaum noch tragen konnten. Endlich kam er. Ganz blaß und entstellt — gewiß schon zum Letzten, zum Äußersten entschlossen. Sie sagte ihm: ‚Ich habe deinen Brief an Mutter gelesen. Du bist ein schlechter Kerl. Aber das Leben brauchst du dir nicht zu nehmen. Die Deckung ist da.‘ Da soll er losgeweint haben wie ein kleiner Junge, soll ihr die Hände geküßt haben. Er hat sie dann zur Bahn gebracht, und gestern früh traf er mit Vicki bei mir[S. 357] zusammen. Die arme Vicki war ganz fassungslos. Deckung — woher? Sie hatte nur Zeit gewinnen wollen. Diesmal weinte Fritz nicht. Er ließ mich reden und Vicki reden und machte ein Gesicht dazu, daß wir genau wußten — er ließ nicht ab von dem, was er beschlossen hatte zu tun. Vicki klingelte Deinen Mann an. Ein glattes Nein! Er hätte nichts. Was auf Isoldens Namen eingezahlt sei, könnte er nicht abheben. Wenn der Junge geschaßt würde, dann geschähe es ihm recht ... Oh, er fand so harte Worte ... so schrecklich harte Worte ... Luise kam angelaufen, mit Isolde, die sie von der Schule abgeholt hatte. Und in der Aufregung wurde alles vor dem Kinde wieder durchgesprochen.

Und wie ich schließlich fast zusammenbrach und aufschrie: Ja, wo nehme ich denn nur das Geld her ... wer gibt es mir nur? da kam Isoldchen auf mich zu und sagte mit ihrem feinen Stimmchen: ‚Schreibe doch nach Wien an die Mama. Mama schickt immer Geld.‘ — — So war es, wie ich es Dir hier schreibe! Und Luise und ich, wir dachten, daß ein Engel durch das Kind zu uns gesprochen hätte, und da sagten wir Fritz, daß eigentlich Du es gewesen bist, die für ihn bis jetzt gesorgt hat. Und daß Du ihn nicht zugrunde gehen lassen würdest, wenn er zu Dir käme und Dich bäte ... Wir sagten das alles! Verzeih, liebe Karla, wenn ich mein Versprechen nicht gehalten habe, das ich Deinem Mann gegeben ... aber Dein Mann weiß eben nicht, wie eine Mutter leiden kann um ihr Kind. Luise aber sagte mir, daß Du so viel Geld verdienst ... so schrecklich viel Geld ... und wir wissen, daß Du gut bist und uns nicht im Stiche läßt. Es sind im ganzen — mit den fünftausend Mark auf den Wechsel — vielleicht siebentausend. Nicht ein Pfennig mehr! Fritz hat sein Ehrenwort gegeben. Er hat auch noch etwas anderes gesagt, aber das will ich nicht glauben. Darüber würde er zu unglücklich sein — an dieses Wort dürfen wir ihn nicht binden ... Er wird nun um Urlaub bitten und um Erlaubnis, nach Wien zu fahren auf vierundzwanzig[S. 358] Stunden. O könnte er doch gute Nachricht bringen, daß nur mein armer, guter Mann nichts davon erfährt! Es wäre ein so furchtbarer Schlag für ihn ... er darf es nicht erfahren. Nie! Hab’ Dank für alles, was Du Gutes getan und jetzt noch tun wirst. Luise und meine liebe Vicki bitten mit mir.

Deine alte unglückliche Adele.

Nachschrift: Wenn es Dir schwer fallen sollte, ihm zu helfen — denk an Dein Schmerzchen, die uns den Gedanken an Dich gab und der nichts unmöglich scheint bei Dir.

A. M.“

Es war ein bittres Lächeln, das Karlas Lippen herunterzog, als sie den Brief aus der Hand legte. Solche Briefe mochte Adele an ihren Bruder geschrieben haben, so mochte sie ihn eingekreist haben mit allem, was das Arsenal weiblicher Schlauheit und weiblichen Gemütes hergab.

Siebentausend Mark .... Es war eine Summe auch für sie. Der vierte Teil von dem, was sie sich erspart hatte. Ihr Taschengeld wenigstens wollte sie in die neue Ehe einbringen, wenn sie alles abzog, was sie noch anzuschaffen, nach Berlin abzuführen hatte ....

Dieser abscheuliche, nichtsnutzige Bengel!

Es war mittlerweile elf Uhr geworden, und sie hatte kaum Zeit gefunden, die ersten Tonleitern zu singen, als es läutete, und das Mädchen Herrn Leutnant Maurer meldete.

„Bitte ...“

Aber er stand schon da — mit einem großen Rosenstrauß in der Hand, der Strolch — —

„Die Blumen hättest du dir schenken können unter den Umständen“, sagte sie als Begrüßung.

Er stotterte.

„Verzeihung ... aber ... Donnerwetter ja ...“

Bildhübsch sah er aus in seinem dunklen, flott geschnittenen Zivilanzug.

[S. 359]

Fatale Situation war das ... Eine Tante anpumpen — machten alle. Waren dazu da, die Erbtanten. Aber — das war ja keine „Tante“ ... das war eine entzückende, junge, berauschende Person, eine ... Nein, wie hatten ihn nur die Weiber zu Hause rumgekriegt. Hundertmal lieber ein Kugel, als vor dem Weib dastehn wie ’n dummer Junge, sich seine Schulden von ihr bezahlen lassen und nicht mal ’n paar Rosen bringen dürfen ....!

Er streckte sich. Immer wieder flackerte ein junges, helles Rot auf seiner Stirn auf.

Sie nahm ihm die Rosen aus der Hand, legte sie ein bißchen ärgerlich und doch behutsam auf den Flügel.

„Ist schon gut, Fritz, die Angelegenheit wäre erledigt ... Mir scheint, dich führt etwas Ernstes hierher, und es wäre an der Zeit ....“

Er streckte bittend die Hände vor. Nein, nur nicht gleich von dem verdammten Gelde .... nicht gleich im ersten Augenblick! Am liebsten überhaupt nicht mit einer schönen jungen Frau von Geld sprechen ... Gut, daß er die Uniform nicht anhatte. Auf und davon gelaufen wäre er ... im Hotel totgeschossen hätte er sich auf der Stelle!

Karla sah ihn von der Seite an, und er tat ihr leid, der große dumme Junge, mit den verworrenen Begriffen.

„Nun ist’s aber genug, Fritz, mit all dem Unsinn. Deine Mutter hat mir geschrieben. Du hast siebentausend Mark Schulden ....“

Fritz sprang vom Sessel, auf den sie ihn gedrückt hatte.

„Was — siebentausend Mark?! Ist ja gar nicht wahr! Fünftausenddreihundert sind es .. keinen Pfennig drüber! Fünftausend in zwei Wechseln ... bekommen habe ich nur dreitausend in Wirklichkeit .... aber das kostet ja was, das verdammte Geld .... das kostet was ....“

So hatte also Adele vorsorglich die Summe vergrößert. Karla sah ihm in die Augen, gütig und ernst.

„Kann ich dir glauben, Fritz?“

[S. 360]

Sie erschrak, weil er plötzlich vor ihr niederfiel und ihre Hand ergriff.

„Liebe, schöne, gute Frau ... Du ...“

Seine Schultern zuckten.

„Fritz, was soll der Unfug ... Fritz! ...“

Aber es war gar kein Unfug. Daß die Tante ihm helfen würde, hatte er im letzten Grunde selbst gehofft, aber daß sie, die so jung und schön und gefeiert war, ihn fragte, wie eine Mutter fragt: Kann ich Dir glauben, Fritz? — das hatte ihn überwältigt.

„Du kannst mir glauben ... Auch daß ich keinen Wechsel mehr unterschreibe, kannst du mir glauben. Eher ziehe ich den bunten Rock aus ... ja ... Wenn’s sein muß — ziehe ich ihn aus ... arbeite ...“

Sie strich ihm sanft über den hellen, blonden Scheitel. Was wurde aus ihm, wenn er den bunten Rock auszog?

Sie saß jetzt auf dem Sessel. Er hatte sich ihr zu Füßen auf dem Teppich niedergelassen, spielte mit ihrer langen Kette, an der ein goldenes Börschen hing, und küßte von Zeit zu Zeit ihre Hand, die ihm über die Haare strich. Aber nun fragte sie, was er denn arbeiten wollte. Das war eine ganz knifflige, ganz unbequeme Frage ... und wieder stotterte er.

„Ja ... ich arbeite eben ...“

Sie neigte sich über ihn.

„Würdest du Lehrer werden wollen, wie dein Vater?“

Aber sie deckte gleich die Hand über seine Augen, da sie das Grauen sah, das ihr entgegenblickte.

„Nein .... das wäre wohl nichts für dich .... Bankbeamter?“

Sie hatte Verbindungen. Wenn er wollte — er könnte gleich eintreten. Und wenn er tüchtig war. — Mit den Jahren, als Prokurist, könnte er es auf zwanzig-, auf dreißigtausend Gulden bringen!

Er zerrte an der Kette.

„Muß es denn sein ....?“

Sie schüttelte lachend den Kopf.

[S. 361]

„‚Muß?‘ Nein, Fritz, ich weiß schon, das alles ist nichts für dich. Du mußt eben bleiben, was du bist — da hilft nichts. Mußt die Zähne zusammenbeißen und durchhalten, bis ein Glücksfall dir in den Schoß fällt. Nur Schulden machen darfst du nicht mehr ...“

„Ich laß mich versetzen“, sagte er kurz. „Zur Schutztruppe ... da kriegt man doch was zu tun! Da weiß man doch, wozu man den Degen an der Seite hat ...“

Er stand erregt auf.

„Seit einem Jahr halten mich die Schulden fest. Hundertmal, wenn ich zu spielen anfing, sagte ich mir: Wenn ich heute Glück habe, dann Schluß mit allem hier — dann raus. Ich spüre doch Kräfte in mir, Kräfte, die ich anders umsetzen möchte als nur im Drillen der Kerls und im Herumhopsen in reichen Häusern. Ich könnte doch was leisten ....“

„Das wirst du auch, Fritz ... hier meine Hand.“

Seine jungen Augen leuchteten auf, und stürmisch riß er Karlas Hand an seine Lippen.

„Papa hat Recht ... Du bist der beste, der vornehmste Mensch ...“

Sie unterbrach ihn lächelnd.

„Schon gut, Fritz ... mach’ ihm nur Freude, mehr verlange ich nicht. Er kann’s brauchen!“

Sie nahm die Blumen vom Klavier. Drohend erhob sie den Finger: „Aber ein andermal ....“

Sie stockte, weil sie sein Gesicht sah, das ganz verlegen und rot geworden war.

„Na ....? Etwa noch nicht bezahlt?“

Er nickte hastig.

„Doch ... ja ... gewiß bezahlt ... aber nicht von mir — Herrgott nochmal — das ist ein ganzer Roman ... das ist ... Und die Kleine sitzt im Café und wartet auf mich ... Donnerwetter ja ...“

Karla machte entsetzte Augen.

„Was für eine ‚Kleine‘ .... Was ist denn das schon wieder? Was fällt dir denn ein, Junge ....“

[S. 362]

„Mir ... mir ist eben gar nichts eingefallen ... oder doch, ja ... Mir ist eingefallen, daß sie warten sollte, bis ich fertig war ... bis meine Angelegenheit erledigt war ... Das ist doch wichtiger ... nicht wahr ... als wenn du ihr sagst: Sie können Sängerin werden oder nicht!“

„Wer soll Sängerin werden? ... Was hat das mit dir zu tun? ... Höre, Fritz, ganz ernsthaft, wenn du wieder eine Dummheit gemacht hast .... Ich mische mich da nicht hinein .. bitte, mich dabei aus dem Spiel zu lassen!“ Nun riß ihr doch der Geduldsfaden.

Aber Fritz streichelte ihre Hände. „Laß mich doch nur erzählen ... hör doch nur zu ...“

Eine Geschichte war das — die konnte natürlich nur wieder ihm passieren! Gestern im Zuge ... schubst da der Schaffner eine junge Dame in sein Nichtraucherabteil. Ein junges Mädchen mit nur einem kleinen Reisetäschchen. Sie schläft nicht — er schläft nicht. Er faßt ab und zu nach seinem Revolver — sie stößt ab und zu zitternde Seufzer aus. Ein paar Worte werden ausgetauscht. Dann schlägt er die Hälfte des blauen Vorhanges von der Deckenlampe zurück. Große Überraschung. Sie kennen sich von ein paar Bällen her. Famose Tänzerin. Vater preußischer Kommerzienrat, großes Tier in der Industrie — nur zwei Kinder. Einen Sohn und diese Tochter .. Margot Laurin. „Wohin, Herr Leutnant?“ .. „Nach Wien. Und Sie, gnädiges Fräulein?“ ... „Auch nach Wien.“ ... „Zu Verwandten?“ ... „Nein.“ .. „Zu Bekannten?“ ... „Nein.“ Bittende Augen, erschrecktes Umsichblicken. Endlich beichtete sie: sie ist durchgebrannt — heimlich. Niemand zu Hause weiß, wohin! Sie will zur Bühne — verrückt. Aber sie will durchaus. Träumt davon, Opernsängerin zu werden. Wird es durchsetzen — ganz bestimmt. Dabei laufen ihr jetzt schon die Tränen über die Wangen. Hat einfach Bammel! Höllischen Bammel! — „Und Sie, Herr Leutnant?“ ... „Ich auch sozusagen — durchgebrannt, nur mit Wissen und[S. 363] Erlaubnis meiner Vorgesetzten!“ ... „Warum?“ ... „Schulden“ ... „Viel?“ ... „Schauderhaft: fünftausenddreihundert Mark!“ Sie lacht sich tot. Er beleidigt, zieht sich in seine Ecke zurück. Wie er hinüberblickt — wieder Heulerei. Und hübsch ist sie! — — Wangen ... zum Reinbeißen, und blondes Wuschelhaar, das in tausend Löckchen um sie herumflattert. Und angezogen ... totschick! Und Füßchen hat sie ... lächerlich, einfach! „Also, gnädiges Fräulein — Bühne, Blödsinn für Sie! Gar nicht zu machen!“ Sie will ihm fast ins Gesicht springen vor Zorn. „Ich werde mich prüfen lassen!“ ... „Von wem denn, bitte?“ ... „Von Karla König“ ... „Das ist meine Tante — zu der fahre ich gerade!“ ... „Ihre Tante?? Ach, lieber Herr Leutnant .... dann werden Sie mir helfen. Vielleicht empfängt sie mich gar nicht, wenn ich so einfach heraufgehe ... aber wenn Sie ...“

„So haben wir uns dann die ganze Nacht von dir unterhalten. Ich versprach ihr alles, was sie wollte. Sie sollte mich nur vorgehen lassen ... ‚Ach so‘, meinte sie. ‚Ihre Tante soll wohl Ihre Schulden bezahlen?‘ ... Das war frech. Aber — schlagen kann ich mich doch nicht mit ihr, nicht? Sie stürzte bei der Ankunft gleich in einen Blumenladen und kaufte einen Strauß für dich. Den sollte ich dir bringen, um dich günstig zu stimmen ... Was sich so ein kleines Mädel einbildet — nicht wahr? Ich denke auch nicht daran, dich günstig zu stimmen. Sie hat keine Spur von Talent — mein Wort — ich kenne mich aus! Und sie singt ... wie’n Vogel in der Mauser, sage ich dir .... Rede ihr das nur aus mit der Bühne ... es ist Quatsch. Heiraten soll sie! ...“

Karla unterbrach lachend.

„Dich — was, mein Junge? Mit deinem geladenen Revolver und deinen Schulden?“

Er sah sie von unten herauf an, während wieder ein helles Rot über seine Stirn huschte.

„Wenn du mir die Schulden abnimmst — den Revolver lege ich dazu ....“

[S. 364]

„Kindskopf. Und das will ein Herr Leutnant sein. Lauf’ ... hol’ mir das Mädel herauf ... wir telegraphieren dann gleich an ihre Eltern.“

Und während Fritz Maurer Hals über Kopf aus der Wohnung lief, die Treppe hinunter und ins Café, wo eine blonde, junge Berlinerin sich mit bangem Herzklopfen die Folgen ihres tollen Streiches ausmalte, lachte Karla ihr warmes junges Lachen.

Und dann brachte der Fritz ihr seine hübsche Reisegefährtin. Ganz verschüchtert stand sie plötzlich vor der großen Künstlerin und ließ sich sagen, daß ein hübsches Gesicht und eine niedliche Stimme noch keine Künstlerin ausmachen.

„Eine Handlangerin allenfalls, die ein Handwerk erlernen kann mit sehr viel Fleiß ...“

Wollte sie es darauf ankommen lassen?

Margot Laurin schüttelte den Kopf. Nein ... Dann wollte sie verzichten ... so bitter es sein mochte ... so sehr sie sich auch schämte — vor den ihrigen daheim ...

Fritz Maurer stellte sich breitbeinig auf, sehr selbstsicher.

„Ach was, gnädiges Fräulein ... sich mal recht von Grund aus schämen ... das ist ganz gesund! Das nimmt einem die Lust, wieder Dummheiten zu machen ...“

Und Karla sah, wie die beiden jungen Menschenkinder einander ansahen mit einem Blick, in dem schon mehr lag als nur flüchtiges gegenseitiges Gefallen.

„Donnerwetter ja ... gnädiges Fräulein ... wir zwei haben was durchgemacht in diesen vierundzwanzig Stunden ... das verbindet, wie?“

Ein Frechdachs war er. Die Welt gehört ihm — seit er die Schulden los war.

Karla setzte die Depesche auf an den Kommerzienrat: „Ihre Tochter war bei mir zur Prüfung ihrer Stimme. Öffentliche Laufbahn ausgeschlossen. Trifft morgen Frühzug Berlin ein. Karla König“.

[S. 365]

„Füge hinzu: ‚Unter dem Schutze meines Neffen, des Leutnants Fritz Maurer‘“, sagte Fritz, über ihre Schulter blickend.

Das Kommerzienratstöchterlein lachte jetzt fröhlich auf.

„Nicht nötig ... das erzähle ich schon selbst, und Sonntag machen Sie Besuch und holen sich den Dank.“

Karla lehnte sich zurück in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und lächelte. Wie einfach das alles war in dem Alter ...

Dann hob sie den Blick zum Bilde ihres Kindes. Schmerzchen guckte aus ihrem silbernen Rahmen auf die Mama herab mit großen, ernsten Augen — —

Armes, kleines Schmerzchen — der „nichts unmöglich schien“ bei der Mama! Was würde sie sagen? Heute, wenn der Vater ihr mitteilte, daß die Mama nicht mehr zurückkehrte zu ihnen ... nie mehr! ...

Die jungen glücklichen Stimmen hinter ihrem Stuhl taten Karla plötzlich weh .....

So vielen durfte sie Glück geben ... so vielen ... nur ihrem Kinde nicht ....!

Blaß und still saß sie an ihrem Tisch zwischen den jungen Leuten, die ein Zufall zusammengeführt — enger vielleicht, als sie selbst es noch ahnten.

Blaß und still blieb sie den ganzen Tag über — bis Fritz bat: „Gib uns deine Stimme mit auf den Weg, willst du?“

Da sah sie den jungen, eleganten Herrn plötzlich als mutierenden Gymnasiasten am Ofen der elterlichen Wohnung lehnen und ihr zuhören mit offenem Munde und glänzenden Augen. Hörte seine rauhe Knabenstimme, als er dem Vater zurief: „Wie die singt ...“

Es war ein Abschied gewesen damals — für lange.

So sollte es heute ein Abschied sein — für immer.

Sie setzte sich an den Flügel. Weiches Dämmerlicht erfüllte den Raum. Die Rosen dufteten.

Karla sang.

[S. 366]

Und ihre Stimme spann seidig schimmernde, glitzernde Fäden um zwei junge Menschenkinder, denen das Zimmer sich zu einem Dom wölbte, in dem sie andächtig und staunend dem Schlagen ihrer erregten Herzen lauschten.

Verzierung, drei Sterne
S

Schmerzchen hatte an diesem Sonntag allein essen müssen. Luise wartete auf den Bruder, der sich seit zwei Stunden mit Alwin im Studierzimmer eingeschlossen hatte.

„Wir wollen ungestört bleiben“, hatte der Bruder gesagt.

Als es Essenszeit war und das Mädchen zum dritten Male gefragt hatte, ob sie auftragen sollte, hatte Luise leise an die Tür gepocht. Da hatte der Bruder aufgeschlossen und gefragt: „Was ist denn? Kann man denn nicht seine Ruhe haben?“

Und weiß wie Papier war er gewesen, mit Augen, die starr und kalt unter den dicht zusammengezogenen Brauen glitzerten.

Da hatte sie Schmerzchen essen lassen und hatte daneben gesessen, mit klopfendem Herzen und gespitzten Ohren. Schmerzchen, die sich sonst ruhig und selbstgenügsam zu beschäftigen pflegte, war von ihrer Unruhe wie angesteckt. Sie hatte hundert Fragen, ließ sich nicht abfertigen mit kurzen Antworten und sagte schließlich:

„Gewiß wird Mama jetzt kommen. Anna hat gesagt, der Sommer ist bald vorbei ....“

Mit feuchten Fingern strich Luise über ihren glatten, dunklen Scheitel und ging leise ins Musikzimmer.

Sie beugte den Oberkörper zum Fenster hinaus, starrte auf die Menschen, die in der letzten Augustzeit nur spärlich um diese Stunde vorbeischlichen. Da erblickte sie die volle, ein bißchen schwerfällige Gestalt der Schwester, winkte mit der Hand, legte den Finger an die Lippen.

[S. 367]

Adele wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch aus ihren Augen sprachen Angst und Unruhe.

Leise schritt Luise durch den Gang, öffnete die Tür zum Treppenhaus. Sie hörte Adelens kurzen, schon ein wenig asthmatischen Atem.

„Leise .. still, Adele .. sie wollen nicht gestört sein.“

Adele flüsterte:

„Weißt du denn noch nichts?“

„Ja, was denn eigentlich?“

„Die Frau läßt ihn sitzen! Es ist empörend! Das hat er nun davon.“

Luise schauerte zusammen, als wäre ein kalter Windstoß ihr in den Rücken gefahren.

Adele stöhnte: „Mein Gott ... die Schwüle ... ich hab’ mich kaum schleppen können ... Also, was sagst du, Luise ... was sagst du? Das ist der Dank für alles, was Ernst getan hat? Und mein armer Alwin ... Hast du sein Gesicht gesehn? Hübscher Kurabschluß, wie? Hat es nötig gehabt, nach Wien zu fahren! Ihr kam das natürlich wie gerufen! Eins, zwei, drei hat sie ihm alles aufgehalst. Und er ... so gutmütig ... so dumm — geht ihr richtig auf den Leim und übernimmt den schönen Auftrag!“

Adele band die breiten schwarzen Schleifen ihres Hutes auf.

„Leg doch ganz ab“, sagte Luise rauh.

Adele aber machte die Erregung mitteilsam, riß die Schleusen ihrer verborgensten Empfindungen auf.

„Wenn man es richtig nimmt, Luise — gepaßt hat sie ja nie zu uns. Wie nur Ernst sich so täuschen konnte! Wir zwei waren uns doch gleich nach ihrem ersten Besuch klar über sie. Ich jedenfalls! Was habe ich mir für Mühe mit ihr gegeben — weißt du, Luise? Als sie noch möbliert in der Göbenstraße wohnte! Sie hat mir ja auch leid getan damals, und ich bildete mir ein, wir könnten sie sittlich heben, ihr Pflichtgefühl einimpfen ... da kam ja leider das dumme Amerika dazwischen. Das[S. 368] war Ernstens Unglück! Da hat er jede Autorität über sie aus der Hand gegeben! Du erinnerst dich doch, Luise, wie sehr ich immer dagegen war, daß sie allein in ein Engagement geht? Ich hab immer gesagt: das führt zu nichts Gutem! Das entfremdet! Aber ich redete natürlich in den Wind hinein. Damals, als die Depesche kam aus Wien, daß sie dort blieb — damals hätte Ernst sich scheiden lassen sollen. Vielleicht hätte sie sich damals besonnen.“

Luise schüttelte den Kopf. Sie sah sich in dem Gang stehen an jenem Abend, da sich der Schatten eines großen Mannes hinter der Glasscheibe hin und her bewegte ... Damals hatte es angefangen ... damals — an dem Abend, da Karla im Schlafzimmer das Blumenglas auf den Boden geworfen hatte und in ihren Augen etwas aufgeblitzt war, das wie Haß aussah gegen sie alle ...

„Damals war es wohl auch schon zu spät“, sagte sie, und ihre Mundwinkel zogen sich tief herab.

Sie saßen nebeneinander auf dem großen Umbausofa, und die Falten ihrer schwarzen Kleider lagen übereinander, daß es aussah, als wüchsen zwei Oberkörper hervor aus einem dunklen, breiten Stamm.

„Und jetzt ist Fritz bei ihr ...“, sagte Luise.

Adele senkte den Kopf tief auf die Brust herab.

„So schlecht kann sie doch nicht sein“, murmelte sie.

Luise streifte die Schwester mit einem Blick, aus dem zum erstenmal in ihrem Leben Härte sprach. Als wäre ihr zum erstenmal die Binde vor den Augen gefallen, als hätte sie zum erstenmal die grenzenlose Selbstsucht dieser Frau erkannt.

Noch enger zog Adele den Kreis ihrer Sorge, als sie oder der Bruder es je getan. Für sie gab es nur noch Mann und Kinder; sogar die Geschwister nur soweit, wie sie sich ausnützen ließen.

Luise stand auf und legte die Hand an ihren weißgesäumten Kragen, als fehlte ihr die Luft.

[S. 369]

„Laß es nur Alwin und Ernst nicht wissen, das rate ich dir“, sagte sie und wendete sich ab.

Adele blieb auf dem Sofa sitzen. Was war denn das mit Luise? Waren sie denn nicht immer eines Sinnes gewesen? „Wir sollten doch wenigstens einig bleiben, Luise ....“

Luise nickte. Aber sie fand kein Wort — weder der Anklage noch der Beruhigung.

Es kam wohl bei allen vor, daß sie plötzlich sehend wurden .... Da gab’s nur eines: Augen schließen und nicht sehen wollen!

Schweigend saßen sie da und warteten auf die Männer.

Altmann kam zuerst herein.

„Da bist du ja auch, Adele ...“

Er blieb stehen, räusperte sich. Seine Augen suchten Luise. Sie war ihm die nächste jetzt. Er hätte allein sein wollen mit ihr. Aber es war zu verstehen, daß Maurers blieben ... Adele hielt es auch wohl für ihre Pflicht. Sie tat immer ihre Pflicht ..... immer.

Drückend war die Luft — drückend von Schweigen, drückend von der brütenden Hitze ...

„Ich werde den Rolladen herunterlassen“, sagte Luise.

„Warte, ich helf dir ...“

Alwin Maurer nahm ihr die Schnur aus der Hand. Klappernd schossen die Brettchen auf den Fenstersims herab.

„Nun wird’s wohl zu dunkel sein“, meinte Adele.

„Nein ... so ist es gut ... eine Wohltat ...“

Altmann ließ sich schwer auf seinen Platz am Eßtisch nieder. Eine Wohltat, daß sie alle sein Gesicht nicht sahen im tiefen Dämmer des Zimmers ... eine Wohltat ...!

„Setzt euch doch ... So setzt euch doch endlich!“

Jeder Schritt dröhnte in seinem Kopfe wider — wie Drahtpuppen, so tanzten sie alle vor seinen Augen. Als hätte man ihm die Haut vom Kopfe gerissen, so war ihm zumute ... alles schmerzte.

Aber das brauchten sie nicht zu sehen ... Nacht hätte es sein sollen ... dunkle Nacht! ...

[S. 370]

Luise schöpfte die Suppe auf.

„Ihr müßt vorliebnehmen ....“

„Wir haben gar keinen Hunger .. nicht wahr, Alwin?“ sagte Adele.

Aber sie wartete nicht ab, bis alle bedient waren, führte den Löffel in nervöser Hast zum Munde.

Immer war es so gewesen — ihr Hunger wuchs mit der Aufregung. Und nicht ihr allein ging es so. Die vier Löffel klapperten in raschem Takt. Niemand sprach ein Wort. Das Tier im Menschen verlangte sein Recht.

Die Rühreier wurden hereingebracht, später der Braten.

„Das ist ja viel zu viel“, raunte Adele der Schwester zu.

Außer ihr bemerkte es niemand, ob es viel oder wenig war.

Beim dritten Fleischbissen aber fiel Altmanns Besteck zurück auf den Teller. Luise legte die Hand auf seinen Arm.

„Das ist alles?“

„Ich kann nicht ... ich kann nicht mehr ...“

Er lehnte sich zurück in seinen Stuhl und preßte mit beiden Händen die Brust zusammen.

Niemand konnte mehr essen.

Alwin Maurer murmelte:

„Sprich dich aus ... Oder soll ich sagen? ... Adele weiß übrigens schon ...“

Adele suchte ihr Taschentuch; ihre Knie zitterten, ihre Stimme.

„Mein armer Ernst ... ich weiß ... Es ist ... abscheulich ist es — ich sagte es schon zu Alwin und Luise ... Abscheulich! Undankbar! ...“

Altmann riß die Augen weit auf.

War das alles, was sie zu sagen wußte? ... Undankbar? Abscheulich? Heftig, in kaum noch beherrschtem Zorn schob er den Teller zurück.

„Laß die Worte bitte! Die sind hier nicht am Platz!“

So sprach man von einem Dienstboten, der nach Jahren grundlos kündigte ... aber von seiner Frau? ... Von Karla — — —

[S. 371]

Alwin fuhr auf.

„Gerade wir, Adele ...“

Adele atmete rasch und kurz. „Gerade wir ...“ — das traf sie. Traf sie wie ein Messerstich. Und wenn Alwin noch wüßte, daß vielleicht in diesem Augenblick Fritz ... Was wurde aus ihr, wenn sie es erfuhren! Was für Demütigungen war sie ausgesetzt!

Alwin Maurer blickte trübe auf die weinende, zitternde Frau. Ein Irrtum war sein Leben gewesen — ein Irrtum, in allem und von Anbeginn an. Ihr durfte er keine Schuld geben.

„Komm, Adele, Ernst wird Ruhe haben wollen ...“

Altmann hielt sie nicht zurück. Überwand sich aber, stand auf, gab ihnen das Geleit bis zur Tür, ging in sein Zimmer, stellte sich ans Fenster, sah sie beide über die Straße gehen — langsam, mit gesenktem Kopfe. Sah noch, wie Adele ihren Arm in den ihres Mannes schob, ihm ihr verweintes Gesicht zuwandte, ihm etwas sagte — und wie sie dann, enger aneinandergepreßt, schleppenden Schrittes um die Ecke bogen, untrennbar trotz allem, was sie voneinander schied.

Da trat er vom Fenster zurück, fiel in den Sessel, der auf dem großen angegrauten Fell stand ... den Sessel, in dem sie immer gesessen, wenn sie ihn in seinem Zimmer aufsuchte, wenn sie gehäkelt und vor sich hin geträumt hatte — weit weg von ihm — schon damals vielleicht.

Er hatte sein Gesicht mit den Händen bedeckt, und seine Schultern zuckten.

Luise ließ ihn allein. Wußte, wie wenig sie ihm war in diesem Augenblick.

Aber als der Abend sich durch das offene Fenster hereinstahl, der Straßenlärm abklang und die Stille sich um Altmann legte — eine Stille, die nicht Ohnmacht und die nicht Schlaf war, eine Stille, die wie ein Vorbote war seines neuen, stillen Lebens, die wie eine Auflösung war des schreienden, vernichtenden Schmerzes, da klopfte es an seine Tür.

[S. 372]

Er rief nicht herein. Und dennoch ging die Tür auf.

„Schmerzchen“, murmelte er, und streckte die Hand aus.

„Schmerzchen“, — der Name war alles, was ihm von Karla bleiben sollte. Denn das Kind nahm er ihr fort.

„Ich soll gute Nacht sagen, Papa.“

Geflüstert kam es ihr von den Lippen, und sie trat auf den Fußspitzen näher, als säße ein Kranker in dem Sessel.

Er stellte sie zwischen seine Knie, legte den Arm um sie.

„Weißt du ... daß ... deine Mama nicht kommt in diesem Sommer?“

Schmerzchen senkte den feinen Kopf und zupfte an dem Gürtel, der ihr weißes Sonntagskleidchen zusammenhielt — das Kleidchen, in dem sie mit der Mama hatte spazierengehen wollen.

„Ja ...“, hauchte sie leise.

„Hat Tante Lis es dir gesagt?“

Sie nickte stumm.

„Und daß die Mama auch nächsten Sommer nicht wiederkommt .... und übernächsten nicht .... daß sie nie mehr zurückkommt?“

Schmerzchens braune, ernste Augen wurden weit und groß.

Ein kurzer, zitternder Seufzer flog über ihre Lippen in die Stille des Zimmers hinein.

„Ist Mama tot?“

Ihr Stimmchen, das fein und zart war, kippte um. Nur wenn eine Mutter tot war, sahen die Kinder sie nie wieder. Das wußte sie von der Schule her. Dann kamen die Kinder in schwarzen Kleidern an und flüsterten leise: Mutter ist tot! Weinten, und die Lehrerin streichelte ihnen Wangen und Haar. Furchtbar traurig war das! Aber auch schön! Die Kinder sagten, die Mutter wäre jetzt ein Engel und schwebte ihnen zur Seite, sie zu beschützen. Das war auch traurig, aber sehr schön!

Altmann drückte das feine Köpfchen an seine Brust. Tot ... nein. Nicht einmal die fromme Lüge konnte er dem Kinde als Trost geben. Ein Bild von Karla in einer[S. 373] Zeitschrift ... ein Wort, das das Kind auffing ... jetzt oder später ...

„Nein, Kind ... deine Mama lebt.“

Schmerzchen kroch zum Vater auf den Schoß; sie sagte: „Dann kommt sie ... die Mama ...! Ich weiß es ... ich habe ihr einen Brief geschrieben: Liebe, liebe Mama, komm doch zu deinem Schmerzchen. — Du wirst sehen, Papa, sie kommt ...“

Ruhig, sicher, sehr überzeugt sprach Schmerzchen. Das gab es doch gar nicht — eine Mama, die nicht kam, wenn ihr kleines Mädchen sie rief.

„Deine Mama wird ein anderes kleines Mädchen haben, andere Kinder ...“

„Andere Kinder? ....“

So wie sie andere Puppen bekam? Neue, schönere? Sie warf dann die alten fort. So warf die Mama ihr Schmerzchen fort. Spielte nur mehr mit ihren neuen schönen Kindern? ...

Schmerzchen weinte nicht. Nur ihre kleinen, feingliedrigen Hände ballten sich zornig zusammen.

„Dann werfe ich Mama aber auch fort ...“

Es war das Ende einer langen, langen Gedankenkette. Mehr sagte sie nicht. Um keinen Preis hätte sie geweint. Um keinen Preis gesagt, wie das Herz ihr schlug .... wie die Füße ihr kalt wurden, und ihre Zähne sich aneinanderpreßten.

„So mußt du nicht ... hörst du, Schmerzchen ... so darfst du nie, nie von der Mama sprechen! Das verbiete ich dir ...“

Ihr feines Kinderohr hörte etwas heraus aus der Stimme des Vaters, was sie mit einem neuen heftigen Schreck erfüllte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, drückte sich an ihn mit aller Kraft ihres kleinen, zarten Körpers. Nun war es ganz dunkel im Zimmer, und sie hielten sich umschlungen — ganz eng, ganz fest, der alternde Mann und sein kleines Mädchen.

— — — Eingeriegelt in seinem Zimmer, beim Schein[S. 374] der grün beschirmten Lampe, saß Alwin Maurer und schrieb ein letztes Mal nach Wien.

„Meine liebe Karla! Ich habe mit Ernst gesprochen. Dein Wille soll geschehen — mit aller Beschleunigung und allem Nachdruck, die Du wünschen magst. Nur eines läßt er dir sagen: Alle Brücken müssen abgebrochen sein, die von uns zu Dir, von Dir zu uns führen — bis die Wunden geheilt und vernarbt sind. Das Kind darf in keinen Zwiespalt gebracht werden.

Dem mußt Du Dich fügen.

Ich freilich kann es kaum glauben, daß Du eine Fremde werden sollst für uns. Aber nur so allein wird es möglich sein, daß er seinen Frieden und Du ein neues Glück wiederfindest.

Da bleibt mir denn nichts übrig, als Dir zu danken für die Stunden, die ich in Deiner Nähe verleben durfte.

Die Erinnerung an sie soll hell und tröstend durch das Dunkel der kommenden Jahre leuchten.

Alwin.“

Verzierung, drei Sterne
A

Alice Reichenberg saß mit Karla und Gaudlitz um das Bett ihres „kleinen Rudi“, der sich langsam vom Scharlach erholte, der ihn fast das Leben gekostet hätte.

Durchsichtig blaß war das blonde Knabengesicht und so zart, daß es schien, als hätten seine blaugeäderten Lider Mühe, sich unter ihrer Last zu heben. Kraftlos lagen die dünnen, langfingerigen Hände auf der roten Seidendecke. Die pflegende Schwester machte eine bittende Bewegung.

„Ja, wir gehen schon“, sagte die Mutter, neigte sich über die Stirn des Kindes und machte den anderen ein Zeichen, ihr zu folgen.

[S. 375]

In ihrem kleinen Salon war der Teetisch gedeckt. Im Kamin prasselten noch ein paar große Baumscheite, obwohl von draußen die Sonne der letzten Apriltage an den breiten Spiegelscheiben der Fenster brannte.

Gaudlitz klemmte eine Zigarette zwischen seine starken weißen Zähne.

„Wenn wir verheiratet sind, nehmen wir dir den Jungen auf ein Jahr ab. Paß auf Alice ... wie der sich auf Pinnow herausmachen wird! Den ganzen Tag draußen — Bücher zum Fenster ’raus ... Luft und Licht! Er kann dann auch gleich mit Karla einen Reitkursus bei mir nehmen. Skandal, daß der Bengel noch nie auf ’nem Gaul gesessen hat ...“

Fürst Reichenberg schlenderte herein, mit den kurzsichtigen Augen blinzelnd wie ein Spaziergänger.

„Ah, das ist g’scheit ... Da kriegt man ja noch eine Schale Tee ... Küß’ die Hand, Karla .... Na — wie steht’s mit dem Buben? ... Die Schwester hat mich nicht reinlassen wollen ... er schläft, sagt sie.“

„Er schläft sich gesund!“

„Aber ja ... die Alic’ braucht gar keine solche Angst zu haben. Wir Reichenberg’schen Buben haben alle nit anders ausg’schaut in dem Alter ... waren lauter Krischperln! Das ist Familientradition. Der Professor, den wir konsultiert haben, der hat auch g’sagt: Wenn der Bub erst über’s zwölfte Jahr hinaus ist, dann ist überhaupt keine Gefahr mehr ....“

Reichenberg stellte sich an den Kamin, klopfte eine Zigarette auf den Daumennagel auf, lächelte ein bißchen ironisch. „Will’s gern glauben, der Hansel und die Karla — das gibt schon ein anderes G’schlecht. Mordsbuben werden das sein.“

Vor vier Wochen war Karlas Ehe gerichtlich geschieden worden. Die Blätter hatten sich der Nachricht bemächtigt. Eine große, dichte Staubwolke war um sie herum aufgeflogen.

Wieder prangten Karlas Bilder auf der ersten Seite[S. 376] aller illustrierten Blätter. Einige hatten in ihren Archiven noch ein Bild von Gaudlitz, von seiner Sportzeit her. In Medaillenform, sinnig von einer Zeichnung umrankt und geeint, wanderten nun ihre beiden Bilder in Cafés und Gasthäusern, in Lesezirkeln und an Zeitungsständern von Hand zu Hand.

Trotz der Geheimnummer stand die Telephonklingel weder bei Reichenbergs noch bei Karla still. Anfragen, Glückwünsche, Blumen, Depeschen, Briefe prasselten in Sturzwellen auf Karla herab. Der ihr geltende Applaus in der Oper steigerte sich jedesmal zu nicht enden wollenden Huldigungen. „Hierbleiben! ...“, „Hierbleiben!“, brauste es vom „Paradies“ herunter bis zum zweiten Rang. Vor dem Bühneneingang hielten Schutzleute die Ordnung aufrecht. Deutsche Höfe, an denen sie gesungen, sandten Orden, goldene Medaillen, in manchmal verspäteter Anerkennung der Verdienste. Russel kabelte: „Verstehe und gratuliere!“ Kapelle kabelte: „In Größe und Schönheit abgehen das Beste. Hätte nur gern noch einmal Ihre Stimme gehört.“

Nur der Papa aus der Schillstraße krähte zornig herüber: „Also doch! Meinetwegen — Glückwunsch!“

Der eigensinnige alte Papa! Dem mußten sie beide noch mal richtig den Kopf zurechtsetzen!

Über die Trauung wurde jetzt wieder gesprochen. Wo sie stattfinden sollte vor allem. Reichenberg war für Wien, Gaudlitz für Pinnow. Alice Reichenberg bestand auf Wannsee.

„Im Musiksaal, da wo ich Karla zuerst singen hörte, da wo ich sie liebgewann und es mir zuerst denken konnte, daß ....“

„So?“, unterbrach Gaudlitz. „Dann müßte die Trauung im Tiergarten sein ... da hab ich mir’s zuerst gedacht ... und ich bin doch der Maßgebende!“

Karla lehnte ihren hübschen runden Kopf an Gaudlitz’ Schulter, ihre großen, leuchtenden Augen starrten in die Kaminglut. Gaudlitz’ Herz schlug ruhig und stark, im[S. 377] gleichen Rhythmus mit dem ihren, und ihr beider Blut sang das gleiche Lied einer reinen, frohen Liebe.

„Wannsee wäre schön“, sagte sie verträumt ...

Ganz schattenhaft drängte sich ihres Kindes zartes Gesicht in die jubelnde Seligkeit ihres Empfindens ... aber nur wie aus weiter, nebelhafter Ferne. Sie preßte ihren Kopf fester an Gaudlitz’ Schulter ...

Hier war die Gegenwart ... Hier war ihr Leben ... ihre Zukunft. Das andere mußte vorbei sein .... für immer ... „bis die Wunde vernarbte.“

„Also Wannsee. Einmal muß ich auch nachgeben.“ —

Alice war immer glücklich, wenn der Bruder im Frühjahr nach Wien kam. Dann ergriff sie jedesmal die Gelegenheit zu langen Wanderungen über die Berge. Es traf sich gut, daß Karla acht Tage nicht beschäftigt war. In kurzen Lodenröcken, den Mantel über den Rucksack gerollt, den Bergstock in der Hand, mit nägelbeschlagenen Schuhen, so traten Alice Reichenberg und Karla in Begleitung von Gaudlitz ihre Wanderschaft an. Die vielen Zufälle, Beschwerden, Überraschungen und Unbequemlichkeiten, die ständige Nähe und das Aufeinanderangewiesensein, die eine solche Wanderschaft bedingte, hatte Alice immer Einblick gewährt auch in die verschlossenste Seele. Wenn nicht für den Bruder, so doch für sie selbst waren diese Tage gleichsam ein letztes Überprüfen.

Sie zerstörten ihre letzten heimlichen Bedenken. Und als sie zurückkehrte, sagte sie zu ihrem Mann: „Die zwei Menschen hat der liebe Herrgott in seiner schönsten Laune für einander erschaffen!“

In Karla aber hatten diese Tage ein neues, starkes Zusammengehörigkeitsgefühl geweckt, ihrem Glücksempfinden ein tiefes, bewußtes Rechtsgefühl gegeben.

War es noch vorgekommen, daß sie manchmal mit leisem, uneingestandenem Schreck daran dachte, ihrer Kunst für immer zu entsagen, so hatten diese Tage alles gleichsam gelöscht, was sich nicht auf Gaudlitz beziehen konnte, und mit jedem Tage wuchs in ihr das Bedürfnis, auch äußerlich,[S. 378] und zwar so rasch wie möglich alles zu beseitigen, was trennend zwischen ihr und ihm lag — wäre es auch nur die Trennung eines Gedankens.

— — Karlas erster Weg, als sie nach Wien zurückkehrte, war der zum Intendanten der Oper. Sie bat ihn, auf ihre letzten Auftrittsabende zu verzichten. So gewogen er ihr war — davon wollte er nichts wissen. Am selben Tage noch fuhr Karla nach Baden. Und — was ihr auf dem geraden Wege nicht gelungen war, erreichte sie durch Fürsprache der hohen Frau, die ihre Gründe würdigte und verstand.

An diesem Nachmittag kutschierte Fürst Reichenberg seinen berühmten Viererzug nach der Kreau hinaus. Im Wagen saßen Karla und seine Frau. Neben dem Wagen, auf einem feurigen Hengst, den Reichenberg wohl in seinem Stall hielt, aber nie bestiegen hatte, ritt Gaudlitz.

„Donnerwetter ... der Gaul macht einem was zu schaffen ... der muß mal tüchtig in Arbeit genommen werden!“

Die Frauen sahen ihm die Freude an, an dem Kampf mit dem edlen Tier.

„Ist er nicht doch zu wild?“ fragte Alice Reichenberg.

„Der? Den reite ich noch für Karla zu, wenn’s drauf ankommt!“

Er sprengte lachend davon, ein Bild der Gesundheit, Kraft und Kühnheit. Karlas Blicke folgten ihm in strahlender Bewunderung.

„Wann dir der Bleß so g’fallt — wegen mir kannst ihn mitnehmen. G’schenkt“, sagte Reichenberg, als sie in der Glasveranda bei der „Jause“ saßen.

„Sehr freundlich. Aber wenn du ihn verkaufen kannst —“

Reichenberg machte eine Grimasse.

„Bin ich ein Pferdehändler?“

Es gehörte zu den Familientraditionen der Reichenbergs, nichts zu verkaufen, was ihnen einmal gehörte — weder ein Haus, noch ein Pferd, noch ein Grundstück.

[S. 379]

„Na .... schön — des Menschen Wille .... Angenommen. Danke. Paß auf, Karla ... wie ich dir den ... Bleß zureite ... lammfromm wird er ....“

Sie lächelte ihn an, mit ihren strahlenden Augen, ihren blitzenden Zähnen.

Und als Gaudlitz abgereist war, zur letzten Trennung vor dem ewigen Bund, da sah sie ihn immer vor sich, wie er auf dem wilden Hengst einhersprengte, ihm seinen Willen aufzwang mit ruhiger Kraft und lachendem Blick. —

— — — — Der Mai neigte sich dem Ende zu.

Die Wände in Karlas Wohnung waren kahl — alle Bilder und Kunstgegenstände in Kisten gepackt, ebenso die Bücher und Noten. Die Möbel waren bereits an einen Händler aus der Vorstadt verkauft worden, standen nur noch bis zu Karlas Abreise an ihren alten Plätzen. Nur der Bösendorfer Flügel sollte mit den Kisten zugleich nach Pinnow geschickt werden. So nahm Karla nichts mit hinüber in ihr neues Leben als ihre allerpersönlichsten Erinnerungen.

Karla zerriß summend ein paar Visitenkarten, die sich noch auf einer Schale vorgefunden hatten. Da klingelte es. Heftig. Zweimal, dann zum dritten und vierten Male.

„Herrgott ... ist das eine Art!“

Ärgerlich ging Karla selbst öffnen.

Draußen stand Reichenberg.

„Sie ... Rudi? Und Sturmläuten ... was ist denn los?“

Reichenberg stand, entsetzlich lang, schmal und vornübergebeugt mit dem Rücken gegen die der Hitze wegen halbverhängten Fenster. Sie konnte sein Gesicht nicht gut erkennen, aber es fiel ihr auf, daß er vor ihr dastand nicht lässig, wie es sonst wohl seine Gewohnheit war, sondern gleichsam erdrückt.

„Was ist denn, Rudi? Ist zu Hause bei Ihnen was geschehen? Was ist Ihnen?“

[S. 380]

Er sprach noch immer nicht. Hob nur die lange, magere Hand und ließ sie wieder fallen, als könne er ihr Gewicht nicht halten ...

„Der Junge ....“

Es kam flüsternd, zögernd von Karlas Lippen.

Er schüttelte den Kopf. Sie schrie auf.

„Alice!“

Streckte die Hände von sich, packte ihn am Arm, zog sich an ihn heran, weil die Füße ihr den Dienst fast versagten, bohrte ihre Augen in sein — wie sie jetzt erst sah — leichenfahles Gesicht.

„So reden Sie doch ... reden Sie ... was ist mit ihr ... was? ...“

„Alice .. ist es .. auch nicht .. Der Bruder .. der Gaudlitz .. Ja, um Gottes willen .. schauen’s mich nit so an .. Er ist .. ich hab ein .. ein Telegramm ... vor einer Stunde .. Herzschlag .. beim Baden .. nach dem Reiten ... Den Bleß hat er g’ritten ... Ich habs g’wußt ... erschießen lassen hätt ich das Vieh sollen ... hat ihn abg’worfen ... Da ist er halt voll Wut losg’schwommen ... wollt’ sich abkühlen, und dann — — dann haben’s ihn eben noch im letzten Augenblick mit’m Boot g’holt ... Aber im Boot gleich ... ist er dann — ja — also gleich darauf im Boot ... Das Telegramm ist aus Wannsee .. vom Baron von Rahn unterzeichnet .. ein Bekannter aus dem Automobilklub. Der war wohl gerade dort ... wie das g’schehn ist — —“

Reichenberg hätte noch lange sprechen können ... sehr lange ... Daß er’s tat, wußte er kaum ... Die Worte sickerten ihm über die Lippen wie Blutstropfen .. schwer, heiß ... Er wußte viel, auf wen sie herabfielen. Er stierte vor sich hin, ohne zu sehen. Wußte wohl auch kaum mehr, daß er zu Karla sprach ... Nur wie er vortreten wollte, weil er doch nicht ewig so vor sich herreden konnte — da stieß sein Fuß an etwas, das ihm im Wege lag — —

[S. 381]

Ohne einen Laut — wie gefällt von einem Streich — war Karla umgesunken. Sie lag besinnungslos auf dem halbzusammengerollten Teppich, inmitten von offenen Kisten und halbgefüllten Koffern, von zerrissenen Briefen, Karten und alten Theaterzetteln. — —

Verzierung, drei Sterne
I

Im Spätnachmittag, in seinem Schachklub — den grauen Zylinder auf dem weißen Lockenkopf, den dünnen Stock mit dem Goldknauf unterm Arm, blätterte der Papa noch rasch die Abendzeitung durch.

„Wie denn ... was denn ...?“

Er rieb sich die Augen ... die konnten auch früher Licht machen in der Bude! ... die Buchstaben waren ja kaum noch zu unterscheiden. Er trat ans Fenster, setzte sich an das Ende der langen weißen, mit Schachbrettern bedeckten Tischreihe, den Stock zwischen den Knien .... straffte das Blatt auseinander, als hinderte ihn der Bug der Zeitung am Lesen.

Und dann spürte er ein Kribbeln in den Armen, einen infamen Hustenreiz im Halse .... schnappte nach Luft, ließ das Blatt auf den Tisch fallen, zündete ganz grundlos ein Streichholz am Ständer an, blies es wieder aus.

„... Tja ... meine Herren ... es wird Sie interessieren ... Graf Gaudlitz ... jawohl ... unser Mitglied ... das heißt, ich weiß nicht ... ist er noch Mitglied bei uns ... tja ... so ...“

Er suchte Zeit zu gewinnen ... die Stimme wollte nicht recht parieren ... Zum Kuckuck noch mal ... war er ein altes Weib? ... Er räusperte sich.

„Tja ... also ... ein Unfall beim Baden ... Zuvor geritten — heiß — naß — ins kalte Wasser ... tja ... Herzschlag — tot ...“

[S. 382]

Sie standen alle von ihren Schachbrettern auf.

Der Papa stopfte das Blatt in seine Rocktasche, als ob es nicht auch zu Hause auf ihn wartete neben seinem Teller. Aber er wußte offenbar nicht recht, was er tat.

Das Gemurmel rings um ihn herum weckte ihn gleichsam wieder auf.

„Tja ... meine Herren ... ein Mitglied ... er hat viel getan für den Klub ... Ich denke, meine Herren .. ich denke, wir heben die Sitzung heute auf — sein Andenken zu ehren ... tja ... Ich erbiete mich ... als Delegierter ... den Kranz zu besorgen — und bei der Beerdigung ... tja ... Ich glaube doch ... ich bin der Nächste dazu ... Hier als ältestes Mitglied ... ja — und dann .... auch so, meine ich .... ’n Abend, meine Herren ....“

Er hatte Haltung. Hatte es gelernt, sich mit Grazie und Anstand allen Lagen des Lebens gegenüber zu behaupten. Er ging gerade, den Arm mit dem Stöckchen zierlich gespreizt. Ging schnell und immer schneller ... wand sich zwischen den Fußgängern hindurch wie ein Aal, ohne wen anzustoßen, ohne gestoßen zu werden, den kleinen goldenen Knauf wie in Abwehr von sich gestreckt.

Am Brandenburger Tor erst bestieg er einen Wagen, fuhr nach Hause.

Der Abendbrottisch war gedeckt. Er stellte seinen grauen Zylinder heftig auf den Schachtisch, legte das Stöckchen daneben, warf die verdrückte Zeitung vor Pauline hin. „Lesen Sie. Zweite Spalte links. Personalnachrichten. Links, zum Kuckuck nochmal ...“

Pauline las. Alles fing an zu zittern an ihr.

„Du lieber Gott ... Du lieber Herr im Himmel ... die arme .. die arme junge Frau! Die arme Frau! ..“

Kürzer als sonst und schweigsam war die Mahlzeit. Pauline goß dem Tee ihres Herrn unaufgefordert zwei Löffel Arrak bei. Da konnte der Doktor reden, was er wollte. „Trinken Sie, Herr König, trinken Sie tüchtig ...“

[S. 383]

Und der Papa trank. Und in sein weißes, rosiges Gesicht unter den weißen Locken stieg das Blut erwärmend und belebend auf. Seine blauen Augen, die ganz tot und leer geblickt hatten, hatten wieder ihren alten stählernen Glanz. Und schließlich holte er eine feine Zigarette aus seinem fast damenhaft kleinen Döschen und stieß behaglich ringelnde blaue Wolken vor sich hin.

Und während er den schwebenden Kringeln folgte, die sich aus der Helle stahlen und sich im Dunkel auflösten, sagte er:

„Ich will Ihnen was sagen, Pauline, Sie müssen nur nicht gleich wieder losheulen. Sie wissen doch, daß ich das in den Tod nicht leiden kann! Also ich meine so: Fragt sich noch, ob der Tod dieses Mannes ... wirklich so ein großes Unglück für meine Tochter ist. Fragt sich noch! ....“

„Aber Herr König ....“

„Ta ta ta ... Pauline. Was wissen Sie von uns Künstlern! Nicht das wissen Sie!“

Er knipste seinen Nagel.

„Sie sehen nur Kritiken, Schleifen, Blumen, Geld ... Ehren ... Und wenn’s viel davon gab, dann glauben Sie, nun wär’s genug. Falsch, Pauline ... ganz falsch. Unsereins hat nie genug — nie. Bis zum Ende nicht. Sie glauben vielleicht, daß ich zu bedauern bin, weil ich Geld verdiene damit ... nö ... nö ... Aber — weil es doch ein bißchen was ist von früher! Weil ich mich jung fühle, wenn ich noch in Stuhlhöhe aufspringen kann, verstehn Sie? Weil ich mich leben fühle, wenn ich sehe, wie die jungen Grasaffen mir nacheifern, weil alles, was von mir auf sie übergeht, wieder auf mich zurückstrahlt ... tja ... gewissermaßen ... weil, wenn ich einen zwischen die Hände kriege, der was lernt von mir, ich mir einbilde, daß seine Grazie meine Grazie, sein Können mein Können, sein Glück mein Glück ist. Meine Tochter ist ja noch jung. Die braucht noch nicht in ihren Schülern aufzuleben ... die kann noch selbst ... die hat das Glück[S. 384] noch ganz allein ... aus sich heraus ... Na, was ist denn, Pauline — was glotzen Sie mich an?“

Und weil Pauline nicht antwortete, sondern nur ihre hübschen verweinten Augen zur Decke hob, als wollte sie ihren lieben Herrgott zum Zeugen anrufen gegen die lästerlichen Reden ihres Herrn — da warf der Papa, obwohl er wußte, daß Pauline ihrerseits das „in den Tod nicht leiden konnte“, seine Zigarette in das halbgeleerte Teeglas, rollte seinen Schachtisch in den Lichtkreis der Hängelampe und stellte mit ärgerlichem Nachdruck die Figuren auf. — — —

— — — Karla wankte zwischen Alice und Fürst Reichenberg hinter dem Geistlichen her, der die sterbliche Hülle des Grafen Hans Joachim Gaudlitz der Erde übergab.

Hinter den Dreien, als erster der langen Kette der Trauergäste, schritt der ehemalige Tänzer.

Er hielt mit Würde und Anmut einen großen Kranz, auf dessen schwarzen Schleifen in Gold aufgedruckt war: „Der Berliner Schachklub seinem treuen Mitglied“. Aber dem Ordner hatte er zugeraunt, daß er der künftige Schwiegervater des Verstorbenen wäre und ein Recht hätte, als erster hinter den nächsten Leidtragenden zu gehen.

Daß die Vertreter der vornehmen Klubs ihm mit ihren Kränzen folgen mußten, weckte nur in den ersten Sekunden eine kleine boshafte Freude in seinem Herzen.

Aber „das Mädel“, die Karla, wollte er nicht aus dem Auge verlieren. Zum Donnerwetter ja ... er war doch schließlich der einzige, der wirklich zu ihr gehörte! Sehr nett .... die Reichenbergs .... aber verwandt .... nee ... verwandt war sie nicht mehr mit ihnen. Die kehrten zurück nach Wien in ihr fabelhaftes Palais ... Karla hatte dort nichts mehr zu suchen .. Das wußte sie auch ebensogut wie er. Mit der „Fast-Verwandtschaft“ renommierte sie nicht. Die Welten waren wieder geschieden ... reinlich getrennt durch diesen Tod.

Armes Mädel! Pauline hatte recht. Aber ... na[S. 385] ja ... wie alt war sie denn eigentlich? Noch nicht fünfunddreißig. Da fingen andere erst an, die ersten großen Lorbeeren einzuheimsen. Und sie .... Nur die Hand brauchte sie auszustrecken ... nur einen Ton zu sagen brauchte sie, und zwei Weltteile stritten sich um sie ... Das würde sie schon einsehen ... mit der Zeit ... Wenn nur die Reichenbergs ihr nichts einredeten! Sicher war man nie mit diesen Leuten.

Karla weinte während der Beerdigung nicht. Nur ihr Körper schauerte zusammen, wie im Fieber.

Die Erde kollerte dumpf aus unzähligen Händen in das offene Grab.

„Komm mit uns, Karla“, sagte Alice Reichenberg.

Karla schüttelte den Kopf.

„Laßt mich ... ich kann nicht ... Nach Wien fahren, jetzt ... ihn allein lassen, hier unter der modernden Erde ... Fahrt nur, Ihr zwei ... fahrt, Ihr Guten ...“

Sie lehnte an einen Baum, faltete die Hände. Ihre Augen baten: Laßt mich allein mit ihm .... einmal allein.

Alice drückte sie an sich, in einem letzten fassungslosen Aufschluchzen.

Reichenberg murmelte: „Sie wissen, Karla ... unser Haus gehört Ihnen — immer ....“

Sie antwortete nicht. Rührte sich nicht. Erduldete die Umarmung der Freundin, den Handkuß Reichenbergs.

Ein feiner, warmer Sommerregen spritzte aus dem Hellgrau des Himmels herab durch die Zweige der Bäume.

Wie durch einen beweglichen Schleier getrennt, standen die drei Menschen am offenen Grabe, wie durch einen Schleier sah Karla ihre Gestalten den Bäumen entlang gleiten — gebeugt, mit schleppenden, unsicheren Schritten.

Als nichts mehr von ihnen sichtbar, das letzte Ende des schwarzen Trauerschleiers zwischen den Sträuchern wie ein dunkler Hauch verweht war, fiel Karla mit[S. 386] dem Gesicht auf die Erde, krallte ihre Hände in den nassen Sand, erstickte die Schreie ihrer verzweifelten Seele in den Blumen und Kränzen, die ihr bis zum heutigen Tage nur ein Sinnbild frohen Lebens gewesen ....

Vor dem Friedhoftor pendelte der kleine Tänzer auf und ab.

„Ich bitte Sie, lassen Sie sie nicht allein ... auch im Hotel nicht ... bitte, Herr König ...“

Der Papa verneigte sich tief vor der schluchzenden Fürstin, geleitete sie bis zum Trauerwagen, half ihr einsteigen, mit höflicher Grandezza.

„Ich bitt’ Sie, Herr König, ... geben’s acht auf die Karla. Wir hab’n sie ja alle so gern g’habt.“

„Ge—habt“, wiederholte innerlich der Papa, drückte aber auch Reichenberg sehr mitfühlend die Hand. Er nahm den Zylinder ab, und der Regen näßte seine silberigen Locken. Er lächelte fast, als der schwarze Kasten sich langsam in Bewegung setzte.

Dann hieß er einen Gärtner ein Auto holen und schickte den zweiten, noch wartenden Trauerwagen fort. Er mochte nicht darin sitzen. Das war ihm unbehaglich.

... Nicht ohne Mühe gelang es ihm, Karla aufzuhelfen. So peinlich es ihm war, aber er mußte einen Vorübergehenden um Hilfe bitten.

„Schillstraße!“ rief er dem Führer zu.

Immer rascher, immer heftiger folgten die Schauer aufeinander, rüttelten an Karlas Körper. So — nun hatte sie sich erkältet! Das auch noch ... Wurde am Ende krank ... Das fehlte gerade! ...

Mit dem Torwart zusammen schleppte er sie die Treppe herauf, klingelte.

Im Schlafzimmer riß Pauline Karla die Kleider vom Leib, wie schon einmal, und steckte sie in das große, schöne Bett vom Papa — wie schon einmal.

Nur daß diesmal der Papa in seiner Wohnung blieb, auf einem kurzen, harten Ruhebett diese Nacht und noch[S. 387] viele andere Nächte verbrachte und selbst seine Schachfiguren nicht eher anrührte, als bis der Arzt erklärt hatte: An der Lungenentzündung wäre man wieder mal knapp vorbeigekommen.

Verzierung, drei Sterne
A

August war es geworden.

Der Papa saß an seinem Schreibtisch im hellen, stillen Zimmer und ordnete die Briefe, die an Karla gekommen waren.

Die Welt rief nach ihr, verlangte sie wieder, seit sie wußte, daß kein anderer mehr Rechte an sie hatte.

Wien schrieb zuerst.

Der Papa mußte abtelegraphieren. Eher ging sie nach Kiel zurück, in ihr erstes Engagement, als nach Wien! Die Straßen, die Menschen wiedersehen, zwischen denen sie ihr Glück herumgetragen mit lachendem Stolz — das brachte sie nicht über sich! ... In Berlin konnte sie noch weniger bleiben.

Kaum genesen von ihrer Krankheit, hatte sie Pauline nach der Landgrafenstraße geschickt. Luise hatte sie nicht über die Schwelle gelassen. Mit freundlichen, aber bestimmten Worten hatte sie gebeten, das Kind nicht aus seiner Ruhe zu scheuchen. Als Pauline etwas von Karla hatte sagen wollen, schnitt Luise ab mit einem entschiedenen: „Es ist erledigt, Pauline. Stören Sie unseren Frieden nicht.“

Viel sanfter, viel wortreicher hatte Pauline es wiedergegeben; aber aus ihren zornfunkelnden Augen erriet Karla die Wahrheit.

Einige Wochen darauf hatte sie selbst dem Kinde aufgelauert, nach Schulschluß. Sie hatte gehofft, es allein zu treffen, wollte es einmal noch in ihre Arme schließen, einen kurzen, armseligen Trost schöpfen aus dieser Umarmung.

[S. 388]

Da sah sie Luise aus dem Schulhof treten. Ihr dunkler Scheitel war grau geworden, aber sie hielt sich gerade und aufrecht wie immer.

Schmerzchen, schlank und groß für ihr Alter, schritt an ihrer Seite, ebenso gerade wie sie, den Ranzen ordentlich auf der Mitte des Rückens, die feinen Hände um den Lederriemen an den Achseln geschlungen. Karla löste sich los von dem Mauervorsprung, hinter dem sie sich verborgen.

„Schmerzchen! ... Schmerzchen!“ schrie sie auf.

Das Kind fuhr zusammen, blieb stehen, blickte geradeaus. Luise faßte sie bei der Hand, ihre schmalen Augen unter den geraden Brauen sahen kalt und feindlich über Karla hinweg. Kalt und fremd blickten die Augen des Kindes.

So gingen sie vorüber — um keinen Schritt rascher als vorher, nur enger aneinandergepreßt, wie in Abwehr einer gemeinsamen Gefahr.

Karla mußte sich an die Anschlagsäule lehnen. Da sie die Augen schloß, sah sie auch nicht, wie kurz vor der Straßenbiegung das Kind den Kopf nach ihr umwendete — hastig und heimlich.

Sie sah es nicht und wußte nur, daß alles, was sie versuchen mochte, um sich dem Kinde zu nähern, auf unbesiegbaren Widerstand stoßen würde.

„Was haben wir schon wieder angestellt? Schon wieder am Grabe gewesen?“ krähte der Papa sie an, so zornig er konnte.

„Ja,“ sagte Karla und dachte: An einem zweiten Grabe.

Der Papa drängte sie ans Klavier — an den Bechstein, den Altmann nach der Scheidung an ihn hatte zurückgehen lassen.

Karla setzte sich davor, legte die Hände auf die Tasten und saß so stundenlang, ohne einen Ton von sich zu geben, ohne eine Taste niederzudrücken.

Der Papa schrieb an die Bühnen, sprach von der „Möglichkeit, Karla der Bühne wieder zurückzugewinnen“.

Aber so viele Anträge auch kamen — Karla hörte kaum[S. 389] hin. Der Papa krähte und zeterte, verlor all seine lächelnde Grazie, all seine Würde. Pauline hatte ihre liebe Not mit ihm. Eines Tages meldete Pauline John Russel.

Der Papa krähte: „Wie ... was ... Russel, der Impresario, der — —“

Er lief zur Tür, flink wie ein Wiesel, mit blitzenden Augen, mit Locken, die wild um seine Stirne flatterten.

„Mister Russel — Sie? Das ist — das ist — die großartigste Eingebung, die Sie je gehabt haben! Ich bin der Vater — König ist mein Name, Solotänzer von der Königlichen Oper — Karla! — Karla! — Mädel! — Du!“

Karla stand am Schachtisch. Sie schien größer als früher, so schlank war sie geworden. Ihr rundes Gesicht war gleichsam in die Länge gezogen — es sah edler und bedeutungsvoller aus als früher. Die Augen loderten aus den umschatteten Höhlen.

Russel bot ihr nicht die Hand zum Gruße, er umschloß ihre beiden Arme mit seinen großen Pranken und schüttelte sie, wie man ein lange entbehrtes, geliebtes Kind schüttelt.

Um Karlas Lippen flog das erste blasse Lächeln.

„Ach ja, Russel ... die Zeiten ändern sich.“

Er lachte.

Never mind — wir auch.“

Er dachte gar nicht daran, auf ihren Schmerz einzugehen oder ihn zu schonen. War ja alles Unsinn.

Well, Karla König — ein jeder von uns hat etwas, worüber er hinwegkommen muß in seinem Leben — einen Kummer, eine Schweinerei, ein Verbrechen. Das vergißt sich aber nur, wenn man mit beiden Füßen in die Arbeit springt — you know. Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß er es gut mit Ihnen gemeint und Ihnen so schöne Arbeit gegeben hat! Arbeit und Freunde — Freunde in allen Gegenden der Welt. Glauben Sie, ich bin aus Amerika gekommen, um Ihnen einen Kondolenzbesuch zu machen? God bless me! Ich bin gekommen, business zu reden. Das ist die beste Medizin — für Sie und für mich. — Well,[S. 390] Karla König, ich mache jetzt zum dritten Male mein gleiches Angebot. Und diesmal sagt sogar der alte Säufer von Kapelle, Sie sollen kommen. Ohne alles Wenn und Aber kommen. Er verspricht dann auch, nicht mehr zu trinken und sich an die Metropolitan engagieren zu lassen. — Also, rekapitulieren wir: New York, Frisco, zurück Washington, London, Petersburg–Paris. — Karla König ... nun stecken Sie Ihre großen Heimatsgefühle zurück. Ihre Heimat ist die Welt. Ihr Thron steht in allen Hauptstädten der zwei Kontinente — und Ihre Untertanen sind alle Menschen, die einmal drei Töne von Ihnen gehört haben. Ready.

Der Papa zappelte vor Entzücken.

John Russel — das war sein Mann! Der Mann war einzig, wundervoll! Wenn Karla nicht annahm, dann — war sie nichts wert — nichts war sie wert.

Karla aber fühlte, wie bei John Russels Worten der Rausch längst vergangener Tage mit seinen heißen, prickelnden Nebeln wieder aufstieg, und wußte, daß nur er all das Wunde und Wehe, das in ihr schrie, einlullen — zum Schweigen bringen konnte.

John Russel sprach weiter auf sie ein — freundschaftlich, eindringlich, zäh ... spürte als alter Goldgräber der Ader nach, die ihm ihre Schätze ausliefern sollte.

Und Karla setzte ein zweitesmal ihre zitternde Unterschrift unter den Vertrag, der sie ins Ungewisse hinaustrieb.

In fieberhafter innerer Unruhe traf Karla ihre Vorbereitungen. Denn schon in vierzehn Tagen sollte sie sich, zugleich mit John Russel, nach Amerika einschiffen.

Drei Tage vor der Abreise schrieb sie an Altmann. Bat ihn, ihr das Kind zu schicken. Nur für eine Stunde. Nur damit sie Abschied nehmen könnte vor ihrer langen Fahrt. Am nächsten Morgen lag die Antwort neben ihrem Frühstücksteller. Die vertraute, gleichmäßige und pedantische Schrift Altmanns ließ ihr Blut aufwallen, daß es mit schmerzenden Hammerschlägen an ihre Schläfen pochte. Sie riß den Umschlag auf — ihre eigene Schrift war es, die[S. 391] ihr entgegenstarrte — das unbeholfene, kindlich dankbare, heiße Gestammel, die sie von ihrem Wochenbett aus an ihren Mann gerichtet hatte: „... Unser Kindchen wirst Du doch lieben? Das mußt Du mir versprechen. Wie danke ich Dir, daß Du es mir gegeben! Wie liebe ich Dich! Nie werde ich aufhören, Dich zu lieben. Deine Karla.“ Darunter mit rotem Bleistift: „Ich habe mein Versprechen gehalten. Du aber —!!“

Zwei Ausrufungszeichen, wie mit zischendem Peitschenhieb hingehauen. Alles Blut lief ihr aus den Wangen und Lippen.

Langsam zerriß sie den Brief in winzig kleine Stücke, warf das Häufchen Papier in die Aschenschale und brannte es mit einem Streichholz an.

Am nächsten Morgen verließ Karla König Berlin.

Verzierung, drei Sterne
J

Jahre zogen dahin.

Gleichartig in ihren brausenden Triumphen für Karla draußen in der Fremde. Gleichartig in ihrer Stille für Altmann in der Landgrafenstraße.

Schmerzchen — der Name blieb ihr wie eine wehmütige Liebkosung, wie ein letztes Erinnern an die Mutter — wuchs heran, ruhig, ernst, in uneingestandener, unklarer Sehnsucht, in bedachter Fügsamkeit.

Manchmal, in ihren Träumen nachts, legte sich ein schmerzliches, über ihre Jahre hinaus reifes Lächeln um ihre Lippen — und ein Stöhnen: halb Weinen, halb Lachen, drang aus ihrer Brust.

Dann stand Luise leise auf, trat an ihr Bett, leuchtete ihr ins Gesicht, richtete die Decken, legte ihre kalte, hagere Hand auf die schlafglühenden Wangen.

„Ich bin ja da, Kind ... ängstige dich nicht.“

[S. 392]

Schmerzchen schlug die Augen auf, lächelte ... erkannte die große Gestalt, die streng und sorgend an ihrem Bett stand und schloß die Augen wieder, wie um die Wirklichkeit nicht zu sehen, die so grau und dürftig war.

Schweigsam und ernst war auch der Vater, verhalten im Lob, gemessen im Tadel. Ganz weiß war sein Haar an den Schläfen, und rings um die Augen zogen viele kleine Falten strahlenförmig ihre Furchen. Karlas altes Bild stand unverrückt auf seinem Schreibtisch. Vielleicht sah er es nie mehr an, sah es überhaupt nicht.

Nur als Luise es einmal fortgenommen hatte, weil sie sich dachte, daß es besser für ihn sei, wenn er ihr Gesicht nicht immer vor sich sähe, — da hatte er durch das ganze Haus gerufen: „Was soll das? ... Luise! ... Wer geht mir an meinen Schreibtisch ....? Wer macht da Unordnung? ... Das verbitte ich mir ...!“

Und obwohl Luise ganz erschreckt das Bild sofort wieder aufgestellt hatte, dauerte es Tage, bis er das Wort wieder an sie richtete.

Karlas Bild aus der ersten Zeit ihrer Ehe — das war seine Vergangenheit.

An der durfte nicht gerüttelt werden. Auch wenn er nie von ihr sprach.

Selbst Schmerzchen gegenüber scheute er sich, von ihr zu reden. Wie ein Haushalten war es, ein ängstliches Sparen. So rasch zerflatterte alles, wenn es in Worten ausgegeben wurde ...

Schmerzchen aber dachte manchmal, daß sie so oft von der Mama träume, weil sie jetzt in ihrem Bett schlief, das man in ihr Zimmer gestellt hatte. Aber das sagte sie niemand. Nicht einmal Onkel Alwin, der sie zum Spazierengehen abholte und ihr dabei so viel von der Mama erzählte.

Manchmal holte der Onkel eine Zeitung aus der Tasche; las ihr vor, aus Kunstberichten in fernen Städten. Oder er zeigte Bilder von ihr, die neuesten Aufnahmen — in[S. 393] Bühnenkostümen oder in wundervollen Kleidern, reichen Schmuck um den Hals.

Jung und schön sah die Mama immer noch aus — schöner gewiß als auf Papas Schreibtisch. Aber kein Lachen lag mehr in den dunklen Augen, um den lieben Mund.

In stiller Versonnenheit kehrte Schmerzchen von ihren Spaziergängen mit Onkel Alwin heim — dem Professor, wie er jetzt genannt wurde.

An Schmerzchens vierzehntem Geburtstage kam wieder nach langer Zeit die ganze Familie in der Landgrafenstraße zusammen. Nur Adele fehlte. Ihr langersehnter Wunsch, „Frau Professor“ zu heißen, war ihr erst geworden, als Alwin Maurer seinen Abschied nahm und ihm der Titel als eine letzte Ehrung nachgeworfen wurde. Es war um die Zeit, als Fritz von der Schutztruppe zurückkehrte und Margot Laurin heiratete.

„Jetzt braucht Ihr Euch um nichts zu sorgen, alte Herrschaften“, hatte er da gesagt.

Adele aber, die allen Sorgen, allen Aufregungen und Entbehrungen standgehalten hatte, erlag der ungewohnten Ruhe satter Beschaulichkeit.

So kam es, daß Alwin Maurer seine Schritte öfter noch nach der Landgrafenstraße lenkte, als zu Karlas Zeiten — denn durch ihn sollte Schmerzchen es begreifen lernen, daß es Eltern geben konnte, die beide schuldlos waren, auch wenn sie auseinandergingen.

„Das sind eben Schicksale, mein gutes Kind ... Ein jeder trägt das Seine mit sich herum — und wenn zweie aneinandergeraten — dann gibt’s einen guten oder bösen Klang — Glück oder Unglück.“

So war denn das Schicksal wie eine große Wunderglocke für Schmerzchen, und wenn sie einherschritt, mit ihrem zarten Gesicht, den Kopf leicht zur Seite geneigt — so war es, als lausche sie einem fernen Klang .....

Vielleicht war es dieser selbe, über Wasser und Erde weithinschwebende Klang, der Karla so oft mitten in ihrem[S. 394] rastlosen Wandern, in schmerzhaftem Sehnen ans Herz griff. Wer von den Tausenden, die ihr zujubelten, hatte wohl ein Ahnen von dem Leid und Jammer, die ihrer herrlichen Stimme den süßen wehen Schmelz gegeben, der alle Herzen rührte, — ihren schönen dunklen Augen den berauschenden feuchten Glanz?

Wie ein flirrender Stern leuchtete ihr Name in den Weltstädten zweier Weltteile auf. Wie eine Herrscherin zog sie die breite Straße ihres Ruhmes entlang — umworben, umschwärmt, umringt und bejubelt — nie allein, immer einsam.

So kam es vor, daß im größten Taumel der Begeisterung, die sie umbrandete, an fröhlicher Tafelrunde, auf lärmendem Feste, die Einsamkeit mit ihren großen, lustlosen Augen sie anstarrte. Dann durchbebte es sie mit einem kalten Schauer, wie die Nordeni ihn einst gekannt haben mochte, in der Stille der unablässig wechselnden fremden Zimmer, unter Negern und Abenteurern, die vom Menschen nur das äußere Gebilde zeigten.

Wenn aber Karla die Schätze überzählte, die sie sammelte — nur um eines Kindes Willen, das weit drüben, unter blaßdeutschem Himmel aufwuchs, wenn sie das fremde, schwere Gold sich häufen sah, dann dachte sie an ein Haus mit großem, rundem Musiksaal, an einen See in märkischer Erde ... an einen wunderschönen Garten und einen langen, langen Tisch in einer großen Halle. An das Haus am Wannsee dachte sie, wo an den zwei Tagen, da sie es betreten — ihr heißes Glück geboren und eingesargt worden.

Seit Jahren gehörte es ihr — ein letztes Geschenk der Fürstin Alice Reichenberg, die mit ihrem Sohn von Bad zu Bad reiste, ihren Mann nur noch in Heilstätten besuchen durfte und die Trauer nicht ablegte um den einen, den blinder Zufall oder ein tückisches Geschick wie zum Hohn in strotzender Lebensfülle dahingerafft.

Immer dachte Karla an das Haus — wie an eine warme, schmerzlich beglückende Zuflucht.

[S. 395]

Jetzt wohnte der Papa in den weiten Räumen, und Pauline rasselte mit den Schlüsseln, die ihr Macht gaben über Gesinde, Küche und Keller.

Bald ... in drei ... in fünf Jahren ..! Durfte Karla die Jahre zählen — sie, die Ewigkeiten verschwendet hatte? ... Aber eines Tages würde auch sie dort einziehen — Heimat und Ruhe finden.

Und dann ... dann wurde ihr vielleicht doch noch die Krone des Lebens beschieden — ihr Kind.

Schlussvignette

Romane von Olga Wohlbrück

ROMANTIK

Kulturroman.

Geheftet 75 M. / Halbleinen 110 M. / Halbleder 275 M.

Ein lebensprühender Roman, der in einem Wirbel von Erlebnissen russisches Aristokratentum, ungarisches Zigeunerblut und deutsche Kleinbürgerlichkeit miteinander verknüpft und zur Harmonie zwingt.

*

DIE „GOLDENE KRONE“

Gasthausroman.

Geheftet 60 M. / Gebunden 95 M.

Die Schicksale der „Goldenen Krone“, des guten alten, seit Generationen in der Familie vererbten Gasthauses, und der mit ihm eng verbundenen Menschen sind hier mit reifer Kunst geschildert.

*

DER GROSSE RACHEN

Großstadtroman.

Geheftet 75 M. / Halbleinenband 110 M.

Das Buch predigt die immer wieder in Vergessenheit geratene Lehre, daß die Großstadt ein Moloch ist, der hart und unbarmherzig seine Opfer fordert. Fein durchdacht und interessant in der Problemstellung fesselt die kraftvoll entwickelte Handlung unser Interesse bis zum Schluß.

AUGUST SCHERL G. M. B. H. / BERLIN SW68


Romane von Ida Boy-Ed

DAS ABC DES LEBENS

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Halblederband 275 M. / Batikband 275 M.

Ein meisterhaft aufgebauter Roman, der die ewig wiederkehrenden Probleme der menschlichen Gesellschaft, Liebe u. Ehe, ebenso spannend wie feinsinnig behandelt.

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GLANZ

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Geheftet 60 M. / Halbleinenband 95 M.
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Mit tiefem Empfinden enthüllt die Verfasserin an den Schicksalen einer schönen, geistvollen Frau den tragischen Widerspruch äußeren Glanzes und seelischer Not.

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DIE OPFERSCHALE

Frauenroman.

Geheftet 50 M. / Halbleinenband 85 M.

Dieser echte Frauenroman schildert die schweren Opfer, die der Weltkrieg namentlich den Frauen auferlegt hat.

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DIE STIMME DER HEIMAT

Baltenroman.

Geheftet 50 M. / Halbleinenband 85 M.

Ein junger Deutsch-Balte entzieht sich der Teilnahme am Weltkriege auf russischer Seite durch waghalsige Flucht zu Verwandten in Hamburg, wo er in das deutsche Heer eintritt, um für seine Heimat zu kämpfen und den Heldentod im Felde zu sterben.

AUGUST SCHERL G. M. B. H. / BERLIN SW68


Romane von Nanny Lambrecht

DIE KINDER KAINS

Kolonialroman.

Geheftet 40 M. / Halbleinenband 75 M.

Mit darstellerischer Kraft und glühender Phantasie werden die Kämpfe des Kulturmenschen mit dem Urmenschen um den Besitz der Erde geschildert.

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DER GEFANGENE VON BELLE-JEANNETTE

Kriegsroman.

Geheftet 20 M. / Gebunden 45 M.

Mit knappen Strichen wird ein überzeugendes Bild von der Verlogenheit und Frivolität des Franzosentums hinter der Front im Weltkriege entworfen.

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DAS LÄCHELN DER SUSANNA

Roman eines Kindes.

Geheftet 35 M. / Gebunden 65 M.

Ganz meisterhaft ist das Erwachen der Liebe, das Werden des Kindes zur Jungfrau und der Jungfrau zum Weibe in der jugendlichen Heldin des Romans getroffen.

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VOR DEM ERWACHEN

Roman aus dem besetzten Rheinland.

Geheftet 35 M. / Gebunden 65 M.

Die reife und starke Erzählergabe der Verfasserin formt Zeitgeschehen und Menschenschicksale zu einer Handlung, die im bunten Wechsel farbensprühender Bilder das Leben im besetzten Gebiet schildert.

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DER HEIMLICHE GAST

Pazifistenroman aus dem Paris Napoleons III.

Geheftet 40 M. / Gebunden 70 M.

Hinter dem unerhörten Prunk des höfischen Getriebes verbergen sich politische Intrigen und keimende Revolten, die aber durch den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges vernichtet werden.

AUGUST SCHERL G. M. B. H. / BERLIN SW68


Romane von Sophie Kloerss

IM NERVENPAVILLON

Roman einer Krankenschwester.

Geheftet 35 M. / Halbleinenband 70 M.

Fürstinnen und Dirnen, Bürgerfrauen und Ladenmädchen hat die Flut des grausamen Lebens hier zusammengeführt. Wundervoll sind die Fäden der einzelnen Frauenschicksale miteinander verknüpft.

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MUTTER SEIN

Niedersächsischer Roman.

Geheftet 35 M. / Gebunden 70 M.

Die Typen aus einer mecklenburgischen Kleinstadt und das Hamburger Leben sind liebevoll und mit erfrischendem und herzlichem Humor geschildert.

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DIE DAS LEBEN ZWINGEN

Zwei Erzählungen.

Geheftet 35 M. / Gebunden 65 M.

Die kleinere Erzählung bietet ein Stück Romantik, die größere eine dem Leben abgelauschte Bauerngeschichte. Beide atmen eine Gemütstiefe, die der in Fritz Reuters Werken sehr nahe verwandt ist.

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HARTE ART

Zwei Erzählungen.

Geheftet 35 M. / Gebunden 65 M.

Herbes wurzelechtes Volkstum der Wasserkante ohne jede Sentimentalität und doch voll frauenhaft tiefem Empfinden spricht aus beiden Erzählungen.

AUGUST SCHERL G. M. B. H. / BERLIN SW68


Zwei humorsprühende Bücher

MEINE STREICHE BEIM THEATER

Lebenserinnerungen

von

Richard Alexander

Mit 15 Vollbildern nach Original-Photographien

Geheftet 45 M. / Halbleinenband 75 M.

Am 28. April 1873 unternahm der Verfasser den kühnen Sprung vom Ladentisch auf die weltbedeutenden Bretter. Nach nahezu 40 Jahren, am 1. Juli 1912, nahm er als gefeierter Charakterdarsteller und Theaterdirektor von der Bühne Abschied. Die freudigen und schmerzlichen Ereignisse in seinem erfolgreichen Bühnenleben hat Richard Alexander mit ganz prächtigem Humor in diesem Buche geschildert.

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ABENTEUER UND TRÄUME

Plaudereien eines lachenden Philosophen

von

Max Kleinschmidt

Geheftet 50 M. / Halbleinenband 85 M.

INHALTSÜBERSICHT:

Buch der Abenteuer: 1. Das Geheimnis der Doggerbank. 2. Das zweite Gesicht. 3. Der irreale Bedingungssatz. 4. Die Pflege der Kameradschaft. 5. Der schwarze Passagier. 6. Der Doppelgänger. 7. Der Beutel des Glücks.

Buch der Träume: 1. Der Schleier der Maja. 2. Von der Vorsehung. 3. Einstein und Ich. 4. Spiritistisches. 5. Der siebente Tag. 6. Die drei großen Verführer. 7. Runenzauber. 8. Runen und Sprachwissenschaft. 9. Burgunderträume. 10. Die Ur-Nibelungen.

AUGUST SCHERL G. M. B. H. / BERLIN SW68


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE PRIMADONNA ***